Die Geschichte liest sich seltsam bekannt. Ein angesehenes Mitglied der britischen Gesellschaft gerät plötzlich mit einem dunklen Geheimnis in die Schlagzeilen. Es stellt sich heraus, dass derjenige ein Doppelleben geführt hat, als Pädophiler.
Bis zum letzten Monat war Lord Greville Janner eine solche Respektsperson der britischen Oberschicht. Der frühere Rechtsanwalt war als Mitglied der Labour Party ins britische Parlament gekommen. Er hatte über Kriegsverbrechen im besetzten Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg geforscht und mit Holocaust-Überlebenden zusammengearbeitet. Bis 1997 saß der heute 86-Jährige im Oberhaus.
Doch im Zuge der neuen Ermittlungen zu den erschütternden Missbrauchstaten der BBC-Moderatoren Jimmy Savile, Stuart Hall und Rolf Harris, und dem früheren Abgeordneten Sir Cyril Smith, wird nun auch Janner des schweren sexuellen Missbrauchs in 22 Fällen beschuldigt.
„Kein Risiko“ als Wiederholungstäter
Eine Strafe wird wohl nicht auf ihn zukommen. Janner, verheiratet und Vater von drei Kindern, leidet seit 2009 an Alzheimer und ist rund um die Uhr auf Pflege angewiesen. Nach Einschätzung von Englands Chefankläger lässt sein Gesundheitszustand keinen Prozess zu.
In der Mitteilung der Staatsanwaltschaft heißt es, die Anschuldigungen gegen Janner beträfen einige der schlimmsten vorstellbaren Sexualverbrechen. Man sei aber zu der Entscheidung gekommen, wegen der Schwere seiner Demenz von einer Strafverfolgung abzusehen. Es hieß darin: „Es gibt keine Heilung für ihn, es besteht kein Risiko, dass er solche Taten wieder begeht.“
Nicht nur die Opfer sind entsetzt über die Entscheidung, auch die Polizei hat sie für „falsch“ erklärt. Janners Familie bestreitet alle Anschuldigungen und bezeichnet ihn als „vollständig unschuldig“. Die Taten sollen unter anderem in einem Kinderheim in Leicestershire zwischen 1970 und 1980 stattgefunden haben. Janner war befreundet mit dem Heimleiter Frank Beck, der später wegen Kindesmissbrauchs zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.
Ermittler wurden bedrängt, die Nachforschungen eingestellt
Wie auch die Opfer von Jimmy Savile und Sir Cyril Smith hatten Janners Opfer versucht, den Behörden den Missbrauch zu melden, aber keiner hörte ihnen zu. Eine weitere Gemeinsamkeit ist der Umstand, dass auch frühere polizeiliche Ermittlungen, in Janners Fall in den Jahren 1991, 2002 und 2006, zu keiner Anklage geführt haben.
Im September 2014 berichtete die „Times“, dass der Polizeipräsident Mike Creedon schon 1989 als Ermittler in Leicestershire von älteren Beamten gedrängt wurde, seine Nachforschungen einzustellen, trotz ernstzunehmender Beweise gegen Janner.
Im Prozess gegen Heimleiter Frank Beck fiel 1991 Janners Name. Er habe einen Jungen im Teenageralter sexuell missbraucht, hieß es. Janner wurde von der Polizei befragt. Er sagte: „Kein Kommentar.“ Später bezeichnete er die Aussagen im Parlament als „Lügen“, andere profilierte Abgeordnete sprangen ihm zur Seite.
Dabei war das Innenministerium schon 1991 gewarnt worden, dass sich Janner an kleinen Jungs verging. Unternommen wurde nichts. Ein Abgeordneter hatte dem Ministerium ein Dossier über Janners mutmaßliches Verhalten zukommen lassen. Bis es 2013 der Polizei übergeben wurde, blieb es unter Verschluss. Die Ermittler geben heute zu, sie hätten drei Chancen vertan, Janner hinter Gittern zu bringen. Seinen Opfern bringt das keinen Trost.
Ist Janner gar nicht so krank, wie er behauptet?
Einer von ihnen, Hamish Baillie, heute 47, gab seine Anonymität auf und ging an die Öffentlichkeit. Baillie sagt, Janner habe ihn, als er 15 war, während eines Versteckspiels im Park bedrängt und missbraucht. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, Janner nicht den Prozess zu machen, nennt er eine „völlige Farce“.
Offenbar versteht niemand außer der Polizei und den Opfern, wie pervers ein Mann wie Lord Janner ist
„Offenbar versteht niemand außer der Polizei und den Opfern, wie pervers ein Mann wie Lord Janner ist. Wie kann man behaupten, es sei nicht im öffentlichen Interesse, ihn zu bestrafen? Was ist mit dem Interesse der Opfer?“ Was es nicht besser macht: Es gibt den Verdacht, dass Janner gar nicht so krank ist, wie nun behauptet wird.
Laut einem Zeitungsbericht war Janner noch sechs Tage, bevor er als zu krank für einen Prozess begutachtet wurde, als Geschäftsführer seiner eigenen Firma aktiv. Auf dem Höhepunkt der Ermittlungen soll er sein Haus in London im Wert von umgerechnet 2,7 Millionen Euro an seine Kinder überschrieben haben.
Kann das also das Ende der Geschichte sein? Wohl nicht. Der Oberste Richter Lowell Goddard ahnt, welch schädlichen Folgen der Vorgang für die Glaubwürdigkeit des englischen Rechtssystems haben wird, und hat bei der Staatsanwaltschaft alle Akten angefordert, um „gründlich und ausdauernd zu untersuchen“, ob die Straftaten Prominenter, wie auch Janner einer ist, bewusst vertuscht worden sind.
Die traurige Ironie der Geschichte
Es könnte sein, dass auch Janner, unabhängig von seinem Zustand, zur Befragung einbestellt wird. Auch die Polizei von Leicestershire kündigte an, man werde nach Wegen suchen, wie man die Entscheidung gegen eine Strafverfolgung noch anfechten könne.
Wenn die Anwälte der Opfer mit ihrer offiziellen Anfrage, die Entscheidung zu überdenken, nicht durchkommen, werden sie möglicherweise eine Untersuchung einberufen, bei der Beweise vorgetragen werden können, auch wenn der Beschuldigte wegen Verhandlungsunfähigkeit nicht daran teilnehmen kann.
Vielleicht die größte Ironie an der Sache: Lord Janner selbst hat einmal gesagt, dass Alter kein Grund sein sollte, nicht für seine abscheulichen Taten Verantwortung zu übernehmen. 1997 kritisierte Janner die britische Justiz scharf, als der 86-jährige Szymon Serafinowicz, ein Kriegsverbrecher unter den Nazis, für verhandlungsunfähig aufgrund von Demenz erklärt worden war.
„Es ist bedauerlich, dass er nicht verurteilt wurde, als er noch in guter Verfassung war“, sagte er damals. „Kriegsverbrecher haben es unter unserem Rechtssystem geschafft, jahrzehntelang der Strafverfolgung zu entgehen.“ Noch 2012 sagt er dem „Jewish Cronicle“: „Das verdammte Alter ist mir egal.“