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Wall Street Journal Sozialleistungen

47 Millionen US-Bürger leben von Essensmarken

Eine Supermarktkasse in New York: Viele Menschen kaufen nur noch auf Lebensmittelkarten Eine Supermarktkasse in New York: Viele Menschen kaufen nur noch auf Lebensmittelkarten
Eine Supermarktkasse in New York: Viele Menschen kaufen nur noch auf Lebensmittelkarten
Quelle: Bloomberg/DA
Während der Finanzkrise hatten viele Amerikaner Mühe, ausreichend Geld für Essen zusammenzukratzen und beanspruchten deswegen die Lebensmittelbeihilfe. Nun stecken viele in diesem Hilfssystem fest.

Das "Supplemental Nutrition Assistance Program" (SNAP), das das alte Modell der Lebensmittelmarken ersetzt hat, versorgte Ende 2012 47,8 Millionen Amerikaner – 70 Prozent mehr als im Jahr 2008. Und obwohl die Arbeitslosenrate im Oktober 2009 bei zehn Prozent ihren Höhepunkt erreicht hatte, glauben Haushaltsanalysten, dass die Zahl der Hilfeempfänger dieses Jahr weiter steigen und in den Folgejahren nur gering schrumpfen dürfte.

Der wichtigste Faktor hinter dem Anstieg der Hilfeempfänger ist der nach wie vor träge Arbeitsmarkt sowie die wachsende Anzahl von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze lebt. Gleichzeitig treiben viele Bundesstaaten ihre Bewohner dazu an, sich für die Lebensmittelbeihilfe zu bewerben, da die Regierung in Washington diese Rechnung begleicht.

Zugang zu Lebensmittelbeihilfe wurde erleichtert

Doch es gibt noch einen anderen Grund für diese Entwicklung. In den vergangenen Jahren ist es dank der Wohlfahrtsreform von Ex-Präsident Bill Clinton leichter geworden, auch mit einem höheren Einkommen und Ersparnissen Lebensmittelbeihilfe zu erhalten. Diese Regel sollte Menschen dazu ermutigen, Hilfe zu suchen, bevor sie komplett verarmten. Jedoch wurde das Lebensmittelprogramm dadurch zu einem gewissen Grad von der Arbeitslosenrate abgekoppelt.

Sieben Minuten nach Mitternacht schob Syrises Myers, eine 34-jährige Mutter von zwei Kindern, 70,18 Dollar an Lebensmitteleinkäufen über das Band in einem Supermarkt nahe Chicago. Nur sie verdient in ihrer Familie Geld. Sie wusste zwar, dass der Supermarkt um Mitternacht schloss, doch sie musste noch einige Minuten warten, bis der Staat ihre monatliche Lebensmittelbeihilfe auf die lila Karte überwiesen hatte, die sie vom Bundesstaat Illinois erhalten hat.

"Wenn ich sichergehen will, dass meine Kinder genug zu essen haben, muss ich um Mitternacht hier sein, wenn die Lebensmittelmarken aktiviert werden", sagt Myers. Sie arbeitet für elf Dollar pro Stunde an einer Rezeption.

5600 Dollar angespart

Seit sie die Lebensmittelbeihilfe bekommt, konnte Myers 5600 Dollar sparen und hat vor kurzem 300 Dollar auf ein Auto angezahlt. Nach den alten Regeln wäre sie wahrscheinlich wegen ihrer Ersparnisse von dem Programm ausgeschlossen worden. Die US-Haushaltsbehörde glaubt, dass die Arbeitslosenrate bis 2017 auf 5,6 Prozent fallen wird, dass die Zahl der Lebensmittelhilfeempfänger jedoch nur geringfügig um 4,5 Millionen auf 43,3 Millionen Menschen sinken wird.

Andere Sozialprogramme schrumpfen, sobald es mit der Konjunktur aufwärts geht, nicht so die Lebensmittelhilfe. Laut Kevin Concannon, Ministerialrat für Nahrung und Verbraucherdienste beim Agrarministerium, funktioniere SNAP genau so, wie es soll. Vertreter des Ministeriums glauben, dass auch die Lebensmittelhilfe bald weniger Empfänger haben werde, wenn die Wirtschaft sich weiter aufhellt.

Vergangenes Jahr gab der Staat die Rekordsumme von 74,6 Milliarden Dollar für Lebensmittelzahlungen aus, etwa so viel, wie das Heimatschutzministerium, das Justizministerium und das Innenministerium zusammen pro Jahr erhalten. Etwa 45 Prozent der Empfänger sind Kinder. 2007 gab die Regierung noch 30,4 Milliarden Dollar für das Programm aus.

Steigendes Armutsniveau und Gesetzesänderung

1975 bekamen acht Prozent der Amerikaner Lebensmittelbeihilfe. Bis 2009 bewegte sich die Rate zwischen acht und elf Prozent. Heute sind es aufgrund der Finanzkrise, des steigenden Armutsniveaus und der Gesetzesänderung 15 Prozent der Amerikaner, die diese Zahlungen erhalten. Vergangenes Jahr bekam ein durchschnittlicher Leistungsempfänger 133 Dollar pro Monat. Damit kann er Grundnahrungsmittel wie Müsli, Fleisch, Obst und Milch kaufen.

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Arbeitsfähige Amerikaner ohne Kinder haben meistens nur wenige Monate lang Anspruch auf die Beihilfe. In den meisten Bundesstaaten macht die Regierung hier derzeit eine Ausnahme, will aber wieder zu den alten Regeln zurückkehren, sobald die Arbeitslosenrate weiter fällt.

"Die Lebensmittelmarken haben mir tatsächlich das Leben gerettet", sagt Diane Hendricks, 43, die bei einer Personalagentur arbeitete, bis sie 2009 ihre Stelle verlor. Vergangenes Jahr hat sie sich von ihrem Mann scheiden lassen. Also bewarb sie sich auf Lebensmittelbeihilfe, um Essen für ihre beiden Kinder kaufen zu können, die fünf und zehn Jahre alt sind. Derzeit erhält sie 380 Dollar pro Monat für Lebensmittel.

Ende Februar hat Hendricks eine Halbtagsstelle bei einer Essenstafel bekommen, wo sie zehn Dollar pro Stunde verdient. Sie hofft, in drei Monaten keine Lebensmittelmarken mehr zu brauchen. "Die Beihilfe hat mir geholfen, wieder auf die Beine zu kommen", sagt sie. "Das war eine Sache, um die ich mich nicht kümmern musste, während ich nach Arbeit suchte."

Lebensmittelbeihilfe umstritten

In Washington ist die Lebensmittelbeihilfe umstritten. Die Befürworter glauben, dass einkommensschwache Bürger die staatliche Unterstützung brauchen, während Kritiker warnen, dass dadurch die Abhängigkeit von staatlichen Hilfszahlungen gefördert wird.

Der Vorsitzende des Haushaltsausschusses des Repräsentantenhauses, der Republikaner Paul Ryan, der sich 2011 als Präsidentschaftskandidat zur Wahl gestellt hatte, will den Einzelstaaten mehr Macht über das Lebensmittelprogramm einräumen. Das würde wahrscheinlich zu Kürzungen führen.

Ryan glaubt, bei Programmen zur Armutsbekämpfung sollten sich Politiker fragen: "Erlauben wir soziale Mobilität nach oben? Greifen wir die Armut bei ihren Wurzeln an oder behandeln wir nur die Symptome, um sie ertragbarer zu machen?"

2011 lebten 48,5 Millionen Amerikaner in Armut. 2007 waren es nur 37,3 Millionen. Grund für die höhere Anzahl von Lebensmittelbeihilfeempfängern ist aber auch, dass seit der Jahrtausendwende immer mehr Staaten die Voraussetzungen für solche Zahlungen senken. Früher wurden Bewerber disqualifiziert, wenn sie Ersparnisse von mindestens 5.000 Dollar hatten oder ihr Einkommen leicht über der Armutsgrenze lag.

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Das ist jetzt anders, denn Menschen, die gerade erst ihren Job verloren haben, sollen weiterhin genug Geld für Benzin und einen Handyvertrag haben – beides sind Voraussetzungen dafür, erfolgreich einen neuen Job zu suchen und dann auch zu behalten.

Programm wurde zusätzlich ausgeweitet

Aufmerksamkeit auf sich. Doch plötzlich begannen die Bundesstaaten, bei der Vergabe der Lebensmittelhilfe die Voraussetzungen immer weiter zu senken, damit mehr Gelder aus Washington bei ihren Bewohnern ankommen würden. Mit dem Konjunkturpaket aus dem Jahr 2009 wurde das Programm zusätzlich ausgeweitet, wodurch Leistungsempfänger länger und höhere Zahlungen beziehen konnten als zuvor. Diese Konjunkturmaßnahmen laufen am 31. Oktober aus.

2006 qualifizierten sich noch 18,7 Prozent der Leistungsempfänger durch die niedrigeren Anforderungen für die Lebensmittelbeihilfe. 2011 stieg dieser Anteil auf 65,8 Prozent. Das bedeutet nicht, dass die meisten Leistungsempfänger große Ersparnisse haben. Es bedeutet lediglich, dass der Staat das nicht mehr überprüft, heißt es in den Richtlinien der Bundesstaaten.

Im Bundesstaat North Carolina hat die Wirtschaftskrise besonders stark gewütet. Tausende von Jobs in Fabriken und im Finanzsektor verschwanden. Die Arbeitslosenquote stieg von 4,6 Prozent im März 2007 auf 11,3 Prozent im Februar 2010. Selbst im Januar lag sie noch bei 9,5 Prozent. Die Anzahl der Haushalte, die Lebensmittelbeihilfe empfängt, ist seit 2008 um 87 Prozent gestiegen.

Seit 2010 gibt es in North Carolina keine Grenze für Ersparnisse mehr, um sich für das Programm zu qualifizieren, und das Einkommen eines Bewerbers darf bis zu 200 Prozent der staatlichen Armutsgrenze betragen – nicht mehr höchstens 130 Prozent wie zuvor. Dadurch kann eine vierköpfige Familie mit einem Gesamteinkommen von 3842 Dollar im Monat Lebensmittelhilfe erhalten, verglichen mit zuvor nur 2498 Dollar.

250.000 Dollar an Ersparnissen verloren

Sozialhilfegruppen begannen, die Lebensmittelhilfe auch denen zu empfehlen, die sich vorher nicht beworben hätten. So einer ist Barem Eljauni, der heute als Kassierer in einem Supermarkt in Greensboro (North Carolina) arbeitet. In der Wirtschaftskrise hat er 250.000 Dollar an Ersparnissen und zwei eigene Unternehmen verloren, einen Supermarkt und eine Tankstelle. Der Vater von sechs Kindern verdient jetzt 1000 Dollar im Monat und erhält 800 Dollar von SNAP und anderen wohltätigen Organisationen.

"Es ist nicht gerade einfach, in diesem Lebensmittelprogramm festzustecken", sagt Eljauni. "Es ist verblüffend – ich hätte nie gedacht, dass ich mal im System feststecke." Noch in diesem Jahr läuft ein Gesetz aus, das Teile des Budgets des Agrarministeriums festlegt. Also muss der Kongress die Lebensmittelbeihilfe bald neu verhandeln. Republikaner wollen das Programm wieder stärker einschränken und den Staaten ihr Recht nehmen, die Voraussetzungen für Leistungsempfänger zu senken.

Der Haushaltsausschuss hat errechnet, dass der Staat in den nächsten zehn Jahren 4,5 Milliarden Dollar sparen könnte, wenn er die alten, strengeren Voraussetzungen wieder einführt. Ob die Zahl der Leistungsempfänger ab dem kommenden Jahr wieder schrumpft, hängt auch davon ab, ob Menschen wie Myers, die Rezeptionistin aus Chicago, in den kommenden Monaten ihr Einkommen steigern können. "Ich suche immer nach einem besseren Job", sagt sie. "Ich will nicht ewig von Lebensmittelmarken abhängig sein."

Der Artikel ist zuvor erschienen unter dem Titel: "Lebensmittelmarken trotz Konjunkturaufschwung" auf "Wall Street Journal".

WSJ.de

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