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Meinung Industrie im Umbruch

Der Irrtum vom großen Einkommensverlust durch die Krise

Die Lage ist weniger düster ist, wie sie erscheint, kommentiert Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) Die Lage ist weniger düster ist, wie sie erscheint, kommentiert Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)
Die Lage ist weniger düster ist, wie sie erscheint, kommentiert Steffen Müller vom Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH)
Quelle: IWH, (c) Fotowerk BF; Bertold Fabricius
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Durch die hohen Kosten für Strom und Gas wächst die Furcht, in der energieintensiven Industrie könnten massenhaft Jobs vor dem Aus stehen. Gleichzeitig könnten hohe Verdienstausfälle drohen. Doch stimmt das? Der Blick auf die Forschung zeigt, dass der Staat den Strukturwandel zulassen sollte.

Nach Jahren der Massenarbeitslosigkeit in den 1990er- und frühen 2000er-Jahren hat sich in Deutschland ein Beschäftigungswunder vollzogen, das selbst durch die globale Finanzkrise und die Corona-Pandemie kaum ausgebremst wurde. Im Gegenteil, im Jahr 2022 ist die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung auf einen Höchststand geklettert.

Die Arbeitslosenquote sank auf Werte, die um die Jahrtausendwende noch als reines Wunschdenken galten. Kein Wunder, dass die Frage nach den Kosten von Strukturwandel, Insolvenz und Arbeitsplatzverlust in diesem Umfeld in den Hintergrund trat. Nun hat der Krieg in der Ukraine und die sich abzeichnende Rezession, aber auch die immer dringender werdende ökologische Transformation diese Fragen auch in Deutschland wieder auf die Tagesordnung gesetzt.

Während in der Corona-Pandemie eher Unternehmen aus der Gastronomie oder dem Einzelhandel mit vergleichsweise wenigen Beschäftigten im Fokus standen, nähren die aktuellen Probleme rund um Energiepreise die Furcht, dass massenhaft Jobs in der deutschen Industrie vor dem Aus stehen.

Was passiert also mit Menschen, die in der Krise ihren Arbeitsplatz verlieren? Zentrale ökonomische und soziale Fragen dabei sind, warum, unter welchen Umständen, in welcher Höhe und für welchen Zeitraum Beschäftigte nach einem Arbeitsplatzverlust Verdienstausfälle zu tragen haben.

Um diese Fragen zu beantworten, vergleicht die ökonomische Forschung Beschäftigte, die durch eine Unternehmensinsolvenz ihre Arbeit verloren haben, mit Beschäftigten, deren Arbeitgeber sich am Markt behaupten konnte. Durch den Vergleich mit einer Kontrollgruppe lassen sich Folgen akuter Krisen, aber auch des Strukturwandels kausal untersuchen.

Der Fokus auf die Insolvenz von Unternehmen reduziert dabei das Risiko, auch solche Entlassungen zu erfassen, für die Beschäftigte eine direkte Mitschuld tragen, etwa durch persönliches Fehlverhalten.

Bis zu 15 Prozent Lohnverlust, geht ein großer Betrieb pleite

Untersuchungen aus Großbritannien und den USA finden teilweise riesige und lang anhaltende Verdienstausfälle von bis zu 30 Prozent. Für Deutschland sieht der Befund etwas besser aus: In einer jüngst veröffentlichten Studie für die Zeit vor und während der Finanzkrise Ende der 2000er-Jahre zeigen die Arbeitsökonomen Daniel Fackler, Jens Stegmaier und ich, dass der Rückgang beim jährlichen Arbeitseinkommen im Jahr der Insolvenz des Arbeitgebers im Vergleich zur Kontrollgruppe bei etwa 25 Prozent liegt.

Nach fünf Jahren sinkt der Verlust auf 10 Prozent. Ein Teil des Rückgangs liegt an einer kurzfristig geringeren Beschäftigungswahrscheinlichkeit: Manche Entlassene finden auf die Schnelle keinen neuen Job. Langfristig wichtig ist aber ein permanenter Rückgang beim Bruttolohn.

Ein zentraler Befund dabei ist, dass Lohnverluste bei Insolvenz kleiner Betriebe nahe null liegen. Hingegen müssen Beschäftigte aus insolventen Industriebetrieben mit mehr als 100 Mitarbeitern schmerzhafte und teils permanente Bruttolohnverluste von 10 bis 15 Prozent hinnehmen.

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Um die Gründe und die individuelle Betroffenheit von Lohnverlusten besser verstehen zu können, ist eine Klassifizierung in Hoch- und Niedriglohnbeschäftigte sowie Hoch- und Niedriglohnbetriebe aufschlussreich. Hochlohnbeschäftigte sind Menschen, die überdurchschnittlich verdienen, egal wo sie arbeiten.

Hochlohnbetriebe zahlen allen ihren Beschäftigten mehr als die Konkurrenz. Auf Basis dieser Klassifizierung zeigt sich ein entscheidender Grund für permanente Lohnverluste: Entlassene müssen häufig zu Niedriglohnbetrieben wechseln und schaffen im Anschluss nur selten den Wiederaufstieg in besser zahlende Unternehmen.

Eine zweite sozialpolitisch ebenfalls brisante neue Erkenntnis ist, dass vor allem Niedriglohnbeschäftigte nach Insolvenz in Niedriglohnbetriebe wechseln müssen. Dadurch beschleunigen Insolvenzen und Betriebsschließungen einen Trend, der in Deutschland bereits vor einigen Jahrzehnten begonnen und die Lohnungleichheit erheblich vergrößert hat: die zunehmende Sortierung von Hochlohnbeschäftigten in Hochlohnbetriebe und von Niedriglohnbeschäftigten in Niedriglohnbetriebe.

Diese Sortierung wird zum Beispiel durch Outsourcing verursacht: Waren Kantinenmitarbeiter, Sicherheitskräfte und andere Beschäftigte mit formal niedriger Qualifikation in den 1980er-Jahren noch (Tarif-)Angestellte in Hochlohnbetrieben, arbeiten sie heute oft für schlecht zahlende Dienstleister, bisweilen sogar noch am selben Arbeitsplatz. Dennoch gibt es zahlreiche Unternehmen, die diesem Trend nicht gefolgt sind. Durch die Insolvenz solcher Unternehmen wird die ausgebliebene Sortierung nun nachgeholt.

Was bedeuten diese Ergebnisse im Lichte der kommenden Herausforderungen, vor die steigende Preise für Energie und Vorprodukte die deutsche Industrie stellen? Waren 2021 vor allem kleinere Unternehmen außerhalb der Industrie durch Coronabeschränkungen betroffen und in Teilen in ihrer Existenz gefährdet, trifft es derzeit eher Industriebetriebe.

Ein Blick auf die aktuellen Zahlen des IWH-Insolvenztrends zeigt bereits eine deutliche Verschiebung. So entfielen im Jahr 2021 nur 23 Prozent der Jobs bei den größten Insolvenzen auf die Industrie, 2022 waren es immerhin 35 Prozent. Die Zahl der bei diesen Insolvenzen betroffenen Industriejobs stieg dabei um die Hälfte.

Die oben genannten Studienergebnisse implizieren, dass die mittleren Lohnverluste pro entlassenem Beschäftigten 2021 eher gering waren. Doch seit einigen Monaten sehen verstärkt solche Beschäftigte ihre Unternehmen in die Insolvenz gehen, die mit kräftigeren Lohn- und Verdienstausfällen konfrontiert sein werden.

Der Staat sollte den Strukturwandel zulassen

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So weit, so besorgniserregend. Allerdings gibt es gute Gründe, warum die Lage nicht so düster ist, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag. Erstens erhöht der grassierende Arbeitskräftemangel die Wiederbeschäftigungschancen entlassener Arbeitnehmer inzwischen deutlich – ein Umstand, der in der Studie zur Finanzkrise noch nicht so stark zum Tragen kam. Nicht zuletzt für die ökologische Erneuerung der deutschen Wirtschaft brauchen wir viele qualifizierte Beschäftigte.

Zweitens zeigen Studien, dass sich der deutsche Arbeitsmarkt bisher sehr robust gegenüber anderen großen Veränderungen wie etwa dem Globalisierungsschub um die Jahrtausendwende und der stetig zunehmenden Automatisierung gezeigt hat. Dabei sind per Saldo in Deutschland weder Arbeitsplätze dauerhaft verloren gegangen noch Lohnniveaus stark gesunken.

Drittens zeigt die Arbeitsmarktforschung, dass die finanziellen Einbußen nach Arbeitsplatzverlust gemessen am Nettohaushaltseinkommen, also nach Steuern und nach Sozialtransfers, hierzulande sehr gering und auch deutlich niedriger ausfallen als bei den Bruttolöhnen. Ein Arbeitsplatzverlust in Deutschland wird durch das bestehende Transfer- und Steuersystem finanziell vergleichsweise gut abgefedert.

Deshalb gilt: Auch wenn die derzeitigen Energiepreisschocks vor allem in den energieintensiven Branchen der deutschen Industrie zu Produktionsrückgängen geführt haben und Arbeitsplätze in diesen Betrieben gefährdet sind, sollte der Staat diesen Strukturwandel zulassen. Qualifizierte Beschäftigte werden vielerorts händeringend gesucht. In diesem Umfeld drohen weder Massenarbeitslosigkeit noch Einkommensverluste im großen Stil.

Professor Dr. Steffen Müller leitet die Abteilung Strukturwandel und Produktivität am Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH).

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