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Verfassungsreform: „Keine Angst vor dem eigenen Volk“

Es hat sich noch nicht überall herumgesprochen, doch die Luxemburger Verfassung steht vor einer Generalüberholung. Im Interview mit wort.lu spricht der Luxemburger Geschichtsprofessor Michel Pauly über die Rolle des Großherzogs in unserem politischen System und die Debatte, ob das Volk bei derartigen Fragen das letzte Wort haben soll.

Der Historiker und Forum-Mitherausgeber Michel Pauly setzt sich für eine Volksbefragung zur Verfassung ein.
Der Historiker und Forum-Mitherausgeber Michel Pauly setzt sich für eine Volksbefragung zur Verfassung ein. Foto: Uni.lu

Es hat sich noch nicht überall herumgesprochen, doch die Luxemburger Verfassung steht vor einer Generalüberholung. Im Interview mit „wort.lu“ spricht der Luxemburger Geschichtsprofessor Michel Pauly über die historische Dimension der aktuell diskutierten Verfassungsreform, die Rolle des Großherzogs in unserem politischen System und die Debatte, ob das Volk bei derartigen Fragen das letzte Wort haben soll.

Wort.lu: Warum ist die Verfassungsreform nicht nur ein Thema für Politiker und Juristen, sondern auch für Historiker interessant?

Pauly: Eine Verfassung betrifft immer das ganze Volk und die ganze Gesellschaft. Der Historiker hat natürlich die Tendenz, ein aktuelles Ereignis in seinem geschichtlichen Kontext zu betrachten und dabei Kontinuitäten und Traditionsbrüche in der Entwicklung festzustellen. Er fragt, wie es zu der heutigen Verfassung kommen konnte und welche Aspekte der Reform in historischer Hinsicht als besonders wichtig erscheinen. Diese Sicht kann sowohl für die politischen Entscheider als auch für die gesamte Öffentlichkeit interessant und hilfreich sein.

Wie bewerten Sie die Reformabsichten der Politik, insbesondere in Bezug auf die Rolle des Großherzogs?

Pauly:Ein zentrales Anliegen der Verfassungskommission ist es, die Rolle des Großherzogs auf exekutive und vor allem repräsentative Aufgaben zu beschränken. Dies erscheint mir durchaus logisch, denn der bisher maßgebliche Wortlaut von 1868 räumt dem Staatsoberhaupt weitgehende Rechte in der Ausübung aller drei Staatsgewalten ein. Doch die Zeiten einer „absoluten Monarchie“ sind in der Verfassungsrealität schon lange vorbei. Deshalb ist die verfassungsrechtliche Anpassung in dieser Frage eigentlich nur zu begrüßen. Allerdings sollte man die Reform nicht auf die Rolle des Großherzogs beschränken. Es gibt eine Reihe von substanziellen Erneuerungen, wie etwa die Aufwertung und Ergänzung der Grundrechte oder das Verhältnis zwischen Staat und Religion.

Was kommt in dem Reformentwurf Ihrer Meinung nach zu kurz?

Pauly:Ich könnte mir vorstellen, dass die Verfassungsreform noch ein paar Schritte weitergeht: Zum Beispiel, dass auch der Denkmalschutz als Verfassungsaufgabe definiert sowie Natur- und Kulturschutz der Vorrang vor privaten Eigentumsrechten gewährt wird; dass das Wahlrecht an die Aufenthaltsdauer im Lande und nicht mehr an die Nationalität gebunden wird; dass das Recht der Bürger auf vollständige Information durch die Verwaltungen in die Verfassung eingeschrieben wird; dass hohen Beamten und Ministern die Annahme von Geschenken sowie der zu schnelle Wechsel in private Unternehmen verwehrt wird; dass Politikern auf Landes- und Gemeindeebene die Offenlegung ihrer Vermögensverhältnisse zur Pflicht gemacht wird.

Inwiefern handelt es sich bei der aktuellen Reform um eine regelrechte „Refonte“, also um eine Neufassung unserer Verfassung von 1868?

Pauly: Der zurzeit debattierte Reformentwurf zielt erstmals seit dem 19. Jahrhundert konkret auf eine Neufassung unseres Grundgesetzes ab. In diesem Sinn ist das Ziel tatsächlich eine neue Verfassung. Die Anordnung der Kapitel wird komplett erneuert, die einzelnen Artikel werden neu gewichtet und die fundamentalen Fragen der Grundrechte und der Staatsform werden in den Vordergrund gestellt. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass die kommenden Generationen die luxemburgische Verfassung nicht mehr auf 1868, sondern auf 2013 oder 2014 datieren werden.

Warum und wofür wird der Großherzog rein verfassungsrechtlich eigentlich noch gebraucht, wenn er in der Gesetzgebung keinerlei Kompetenzen mehr besitzen und auf eine rein repräsentative Rolle beschränkt werden soll?

Pauly:Man sollte die repräsentative Wirkung gerade eines monarchischen Staatsoberhauptes nicht unterschätzen. Besonders in wirtschaftlicher Hinsicht kann der Großherzog immer noch Türen öffnen und zu einem positiven Bild des Großherzogtums im Ausland beitragen. In einem kleinen Land wie Luxemburg ist ein Monarch als Staatsoberhaupt vielleicht nicht die schlechteste Lösung, steht er doch neben seiner verkörperten Herrschaftstradition mehr als ein gewählter Staatspräsident für die Unabhängigkeit und vor allem die Überparteilichkeit, die man vom Inhaber eines solchen Amtes erwartet. Allerdings müssen die gewählten Volksvertreter in einem parlamentarischen System klare Grenzen der monarchischen Macht formulieren.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Großherzöge und Großherzoginnen in der Geschichte?

Pauly: Unabhängig von den besagten Vorteilen gibt es in der jüngeren Verfassungsgeschichte auch mehrere Krisen, die vom Staatsoberhaupt ausgelöst wurden. Man denke an die Rolle von Großherzogin Marie-Adelheid vor und während dem Ersten Weltkrieg, die in Krisenzeiten von ihren verfassungsmäßig durchaus vorhandenen Rechten kompromisslos Gebrauch gemacht hat. Die darauffolgenden Monarchen verstanden es dann schon viel besser, ihre Regentschaft mit den politischen Realitäten zu vereinbaren. Zu einer akuten Krise kam es jedenfalls nicht mehr bis zum Jahre 2008, als es der aktuelle Großherzog auf eine tatsächliche, wenn auch nur latente, Verfassungskrise ankommen ließ.

Sollte die Verfassungsreform Ihrer Meinung nach per Referendum verabschiedet werden?

Pauly: Ja, denn die Verfassung betrifft uns alle. Sie enthält grundsätzliche Regeln über das politische System und das Zusammenleben in unserer Gesellschaft. Deshalb sollte das Volk als Souverän in dieser Frage auch das letzte Wort haben. Es wäre nicht nur logisch und demokratisch unbedingt angebracht – hinzu kommt der grundlegende pädagogische Effekt, dass die Bürger bei einem Referendum fast gezwungen sind, sich mit der Reform auseinanderzusetzen. Wann, wenn nicht bei einer grundlegenden Verfassungsreform, sollte das Volk direkt beteiligt werden?

Was halten Sie von den Argumenten und Vorbehalten, die gegen eine Volksabstimmung ins Feld geführt werden?

Pauly: Es gibt durchaus auch gute Gegenargumente. Zum Beispiel, dass dabei immer auch Fragen eine Rolle spielen, die nicht unmittelbar mit der Reform zu tun haben. Oder, dass sich die Bürger einzelne Fragen herauspicken, mit denen sie nicht einverstanden sind und infolgedessen den gesamten Text ablehnen. Man könnte dem allerdings entgegenwirken, indem man das Volk bereits im Vorfeld an der Debatte beteiligt und es über bestimmte Grundsatzfragen abstimmen lässt. Wenn man befürchtet, dass das Volk am Ende etwas falsch verstehen könnte, dann ist die Politik erst recht in der Verantwortung, angemessen über das Reformprojekt aufzuklären. Die Regierenden sollten keine Angst vor ihrem eigenen Volk haben, sondern es frühzeitig in die Beratungen einbeziehen.

Sie sprechen von der sogenannten „isländischen Lösung“...

Pauly: Durchaus. Warum sollten wir uns nicht von etwas inspirieren lassen, was in dem größenmäßig vergleichbaren Island funktioniert hat? Wenn man die Bürger im Vorfeld befragt, könnte das Parlament die Meinungen des Volkes in den finalen Reformentwurf einfließen lassen. Gleiches gilt übrigens für die mangelnde Beteiligung externer Experten. Man hätte durchaus auch die Expertise von kompetenten Fachleuten der mittlerweile gut aufgestellten Universität einbeziehen können. Mit alldem könnte man bereits im Vorhinein gewisse Bedenken über ein abschließendes „Ja-oder Nein“-Referendum entkräften. Es geht nicht darum, die Arbeit der Parlamentarier in Frage zu stellen, sondern das Volk in einer solchen Grundsatzfrage, wie es eine Verfassungsreform nun einmal ist, nicht außen vor zu lassen. Eine offene und breit geführte Debatte über seine eigene Verfassung würde Luxemburg nur gut tun.

Wie bewerten Sie Luxemburgs bisherige Erfahrungen mit Volksabstimmungen?

Pauly: Eines hatten sie alle gemeinsam: Man kann dem Volk nicht vorwerfen, dass es so oder anders abgestimmt hat. Das Argument, dass die Regierungen in der Vergangenheit schlechte Erfahrungen mit Volksabstimmungen gemacht haben, finde ich geradezu skandalös. Es zeugt weder von einer demokratischen Überzeugung, noch ist es historisch ganz korrekt. 1919 hatte sich eine klare Mehrheit des Volkes für die von der damaligen Regierung vertretene Pro-Monarchie-Position entschieden. 1937 hatte sich eine denkbar knappe Mehrheit gegen die Regierung und das „Maulkorb“-Gesetz, aber für die Meinungsfreiheit ausgesprochen. Bei der Abstimmung über die EU-Verfassung 2005 hatte die Regierung nach unerwartet heftiger Debatte schließlich eine Mehrheit hinter sich. Grundsätzlich gilt aber: Selbst wenn die Regierung bei einem Referendum verlieren sollte, gewinnt in jedem Fall die Demokratie.

Das Gespräch führte Christoph Bumb.

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