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Kinder -und Jugendpsychiatrie in Luxemburg

Ritzen als Form der Stressbewältigung

Der Service National de la Psychiatrie Juvénile des „Hôpital Kirchberg“ lud zu einer Fachveranstaltung ein. Im Mittelpunkt der Diskussion stand das Thema: „Every scar tells a story – Jugendliche und selbstverletzendes Verhalten: Was hilft?“

Selbstverletzungen bei Jugendlichen sind weiter verbreitet, als allgemein angenommen wird.
Selbstverletzungen bei Jugendlichen sind weiter verbreitet, als allgemein angenommen wird. Foto: Shutterstock

Von Kerstin Rose

Selbstverletzungen bei Jugendlichen sind weiter verbreitet, als allgemein angenommen wird. Das sogenannte „Ritzen“, welches Dr. Gerhard Ristow, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie des „Hôpital Kirchberg“, selbst als „Schneiden“ bezeichnet, um damit die Ernsthaftigkeit des Themas auszudrücken, ist nicht die einzige Form der Selbstverletzung. So können auch Handlungen wie Kopfschlagen gegen Mauern, Ausreißen von Haaren, absichtliche Verbrennungen, Schlagen des eigenen Körpers mithilfe von Gegenständen oder auch die Einnahme von Medikamenten in einer schädlichen Dosis zur Selbstverletzung gezählt werden.

Flucht aus unerträglicher Situation

Laut einer Heidelberger Studie aus dem Jahr 2007 weisen circa 20 Prozent der Mädchen und rund zehn Prozent der Jungen im jugendlichen Alter selbstverletzendes Verhalten auf. Ein solches sei aber nicht automatisch der Versuch, einen Suizid durchzuführen, so Dr. Ristow. Zwar würden rund 50 Prozent der Betroffenen auch suizidale Verhaltensweisen aufweisen, doch müsse hier eine klare Differenzierung stattfinden. Denn das „Ritzen“ findet beispielsweise nicht automatisch an den Handgelenken statt, weil dort lebenswichtige Blutgefäße entlanglaufen.

Die Betroffenen schneiden sich an verschiedenen Stellen ihres Körpers, die Lokalisation lässt hierbei lediglich in einigen Fällen auf die Schwere der psychischen Erkrankung schließen. Jedoch ist dies in der Regel kein Versuch, sich das Leben zu nehmen. Es soll dem Patienten vielmehr helfen, aus einer für ihn unerträglichen Situation zu entfliehen.

Balancieren am Abgrund

In eine solche Situation geraten die Erkrankten schnell, denn das Merkmal dieser Krankheit ist eine Instabilität von Emotionen und Beziehungen. So schwanken sie oft zwischen den Extremen: Alles ist entweder schwarz oder weiß, gut oder schlecht. Diese Stimmungsschwankungen führen zu einer extremen inneren Anspannung, die für die Patienten irgendwann nicht mehr auszuhalten ist. Es kommt zu exzessivem Drogenkonsum oder einem übersteigerten Sexualverhalten.

Zu dem Leben eines Jugendlichen mit dieser psychischen Krankheit gehört das Durchführen von sehr riskanten Aktivitäten. Nicht in allen Fällen von selbstverletzendem Verhalten kann man von einem tief greifenden Problem oder gar der sogenannten Borderline-Persönlichkeitsstörung (BPS), einer sehr starken Form des Krankheitsbildes, sprechen. Viele Menschen würden – meist im Laufe ihrer Pubertät – eine Form der Selbstverletzung einmalig ausprobieren, dann jedoch wieder damit aufhören.

Des Weiteren würde sich dieses Verhalten bei vielen Patienten nach ihrer Pubertät legen, was vermutlich einerseits auf das Gefühlschaos dieser Phase, andererseits aber auch auf die mit der Zeit erlernbare Selbstbeherrschung und die gesunde Stressbewältigung im Erwachsenenalter zurückzuführen ist. Dennoch können auch Menschen fortgeschritteneren Alters ein solches Verhalten zeigen. Hierbei handelt es sich jedoch selten um eine Form von „BPS“ oder Emotionsregulationsstörungen. Meist sind Erwachsene mit starken Depressionen betroffen.

Skills zum Spannungsabbau

Schon im Kindesalter können erste Symptome von Emotionsregulationsstörungen und selbstverletzendem Verhalten sichtbar werden, häufig ab einem Alter von elf Jahren. Vorstellig in der Klinik würden aber gehäuft Jugendliche im Alter zwischen 15 und 17 Jahren, erklärt Dr. Christopher Goepel, Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Dies läge nicht daran, dass das Krankheitsbild in diesem Alter zum ersten Mal auftrete, sondern dass in diesem Alter die Auswirkungen oft so massiv seien, dass Eltern und Lehrer eher darauf aufmerksam würden.

Oftmals haben die Jugendlichen in diesem Alter schon einige Stationen durchlaufen, und haben bereits verschiedene Therapieversuche hinter sich. Häufig sind diese zum Scheitern verurteilt, da bei üblichen psychotherapeutischen Verfahren zunächst versucht wird, die Vergangenheit der Jugendlichen aufzuarbeiten, um eine langfristige Linderung der Symptome zu erreichen. In der Zwischenzeit kommt es jedoch oftmals zu weiteren Selbstverletzungen und teils auch Suizidversuchen, was die Beziehung zwischen Patient und Therapeut auf eine harte Probe stellen kann. In der Konsequenz wird eine solche Therapie schnell abgebrochen, und die Patienten werden zunehmend misstrauisch gegenüber Therapien. „Oft ist es ein Problem, von der Theorie zur Praxis zu kommen“, erzählt Dr. Gerhard Ristow.

Anders verhalte es sich bei der sogenannten „DBT“ (Dialektisch-Behaviorale Therapie). Diese Therapieform ist ein leicht erlernbares Konzept für Therapeuten, Patienten und deren Eltern und wird seit einigen Monaten im „Hôpital Kirchberg“ in stationärer wie auch tagesklinischer Form angeboten. Im Gegensatz zu anderen Therapieformen, geht es hier darum, dem Patienten so schnell wie möglich zu helfen. Dabei erlernen die Patienten sogenannte „Skills“: Diese sind Werkzeuge, die den Betroffenen helfen, in einer außergewöhnlichen Stresssituation ihre Gefühle zu kontrollieren und damit weniger innere Anspannung aufzubauen.

Selbsteinschätzung durch Verhaltensanalysen

Die Behandlung lässt sich in zwei Phasen aufteilen: Im ersten Teil wird eine Anamnese durchgeführt. Hier versuchen die Therapeuten herauszufinden, wie schwer der Patient erkrankt ist. In der Vorbereitungsphase werden die Eltern eingebunden. In dem zweiten Teil findet schließlich die stationäre oder teilstationäre Aufnahme statt, die insgesamt zwölf Wochen andauert.

In einem speziellen Programm lernen die Betroffenen zunächst, eine Verhaltensanalyse an sich selbst durchzuführen. Mithilfe von Fragebögen finden die Jugendlichen gemeinsam mit ihren Therapeuten heraus, welche Schwierigkeiten sie mit ihren eigenen Emotionen und auch mit zwischenmenschlichen Beziehungen haben. Diese „Selbstanalysen“ sollen ihnen auch in neuen Stresssituationen helfen, sich selbst besser einzuschätzen und mögliche Auswege zu finden. In dieser Phase wird auch die Familie des Patienten erneut in die Therapie einbezogen, um ein Verständnis für die Krankheit ihres Kindes zu erlangen. Abschließend werden dem Patienten die verschiedenen „Skills“ beigebracht. Diese werden in Gruppen eingeteilt. So gibt es nach dem Erlernen der Selbstwahrnehmung auch Werkzeuge zum Umgang mit Stress.

Schon kleine Hilfestellungen können dazu beitragen, in einer Stresssituation die Ruhe zu bewahren. „Dies kann zum Beispiel in Form von Musik hören, Tagebuchschreiben oder tiefem Durchatmen geschehen“, erklärte Katja Engelhardt, die Ergo- und Körperpsychotherapeutin im Krankenhaus ist. Würden diese Strategien nicht zum Erfolg führen, so könnten die Jugendlichen auch andere Dinge versuchen, wie zum Beispiel eine kalte Dusche zu nehmen oder eine Chilischote zu essen. Später werden dann die „Emotionsregulationsskills“ erlernt. Hier erlernen die Jugendlichen, die oftmals eine übersteigerte Wut oder Scham fühlen, wie sie ihre Gefühle besser ausdrücken können. Bei den zwischenmenschlichen „Skills“ geht es darum, den Umgang mit anderen Menschen zu üben, Lob und Kritik zu akzeptieren, Beziehungen zu gestalten und ein angemessenes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Zum Schluss versuchen die Therapeuten ihren Patienten den goldenen Mittelweg aufzuzeigen.

Erwartungen herunterschrauben

Während zwölf Wochen werden die Jugendlichen begleitet. Dabei wird versucht, den Jugendlichen in direkten Stresssituationen zur Seite zu stehen. Dass es trotz ihrer Unterstützung regelmäßig zu Selbstverletzungen kommt, sei aber nicht ungewöhnlich. „Man kann nicht erwarten, dass der Patient handelt, wie er soll“ erklärte Benedikt Scheuermann, Gesundheits- und Krankenpfleger. Es ginge vielmehr darum, nach einer direkten Wundbehandlung gemeinsam mit dem Patienten eine Verhaltensanalyse durchzuführen und herauszufinden, weshalb es zu diesem Verhalten gekommen ist.

Schließlich werden auch bei dieser Therapieform mögliche Traumata in der Kindheit aufgearbeitet, um eine langfristige Stabilisierung des Patienten zu erreichen. Insgesamt geht es aber zunächst darum, die Jugendlichen schnellst möglich vor sich selbst zu schützen und Auswege aufzuzeigen, bevor an die weitere Aufarbeitung gedacht wird. Um einerseits die Gesellschaft für dieses Thema zu sensibilisieren, andererseits anderen Therapeuten, sowie Erziehern die Problematik, aber auch die neue Therapieform näher zu bringen, fand die Fachveranstaltung „Every scar tells a story“ am 27. April im „Hôpital Kirchberg“ statt. Aufgrund des großen Andrangs, wurde eine zweite Veranstaltung im Sommer geplant.

Weitere Informationen sind erhältlich unter: info@kannerpsychiater.lu

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