30.10.2013 Aufrufe

Fall 2, mit Lösung

Fall 2, mit Lösung

Fall 2, mit Lösung

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

erlanger examenskurs<br />

Öffentliches Recht I WS 2010/11<br />

Prof. Dr. H. de Wall<br />

<strong>Fall</strong> 2: Luftsicherheitsgesetz<br />

Am 11.09.2001 wurden in den Vereinigten Staaten von Amerika vier<br />

Passagierflugzeuge amerikanischer Fluggesellschaften von einer internationalen<br />

Terrororganisation entführt und zum Absturz gebracht. Zwei der Flugzeuge schlugen<br />

in das World Trade Center in New York ein, eines stürzte in das Pentagon, das<br />

Verteidigungsministerium der Vereinigten Staaten von Amerika. Die vierte Maschine<br />

kam, nachdem möglicherweise das Eingreifen von Passagieren an Bord zu einer<br />

Kursänderung geführt hatte, südöstlich von Pittsburgh im Bundesstaat Pennsylvania<br />

zum Absturz. Bei den Anschlägen starben mehr als 3.000 Menschen in den<br />

Flugzeugen, im Bereich des World Trade Center und im Pentagon.<br />

Am 05.01.2003 kaperte ein bewaffneter Mann ein Sportflugzeug, kreiste da<strong>mit</strong> über<br />

dem Bankenviertel von Frankfurt am Main und drohte, das Flugzeug in das<br />

Hochhaus der Europäischen Zentralbank zu stürzen, wenn ihm nicht ein Telefonat in<br />

die Vereinigten Staaten von Amerika ermöglicht werde. Ein Polizeihubschrauber und<br />

zwei Düsenjäger der Luftwaffe stiegen auf und umkreisten den Motorsegler. Die<br />

Polizei löste Großalarm aus, die Innenstadt Frankfurts wurde geräumt, Hochhäuser<br />

wurden evakuiert. Gut eine halbe Stunde nach der Kaperung war klar, dass es sich<br />

bei dem Entführer um einen verwirrten Einzeltäter handelte. Nachdem seine<br />

Forderung erfüllt worden war, landete er auf dem Rhein-Main-Flughafen und ließ sich<br />

widerstandslos festnehmen.<br />

Aufgrund dieser Ereignisse beschloss der Deutsche Bundestag eine Neuregelung<br />

des Luftsicherheitsgesetzes (LuftSiG).<br />

§ 14 LuftSiG lautet:<br />

(1) Zur Verhinderung des Eintritts eines besonders schweren Unglücksfalles dürfen<br />

die Streitkräfte im Luftraum Luftfahrzeuge abdrängen, zur Landung zwingen, den<br />

Einsatz von Waffengewalt androhen oder Warnschüsse abgeben.


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

(2) Von mehreren möglichen Maßnahmen ist diejenige auszuwählen, die den<br />

Einzelnen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt. Die<br />

Maßnahme darf nur so lange und so weit durchgeführt werden, wie ihr Zweck es<br />

erfordert. Sie darf nicht zu einem Nachteil führen, der zu dem erstrebten Erfolg<br />

erkennbar außer Verhältnis steht.<br />

(3) Die un<strong>mit</strong>telbare Einwirkung <strong>mit</strong> Waffengewalt ist nur zulässig, wenn nach den<br />

Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von<br />

Menschen eingesetzt werden soll, und sie das einzige Mittel zur Abwehr dieser<br />

gegenwärtigen Gefahr ist.<br />

(4) Die Maßnahme nach Absatz 3 kann nur der Bundesminister der Verteidigung<br />

oder im Vertretungsfall das zu seiner Vertretung berechtigte Mitglied der<br />

Bundesregierung anordnen. Im Übrigen kann der Bundesminister der Verteidigung<br />

den Inspekteur der Luftwaffe generell ermächtigen, Maßnahmen nach Absatz 1<br />

anzuordnen.<br />

B ist Vielflieger und hält § 14 III LuftSiG für verfassungswidrig, da dem Staat erlaubt<br />

werde, vorsätzlich Menschen zu töten, die nicht selbst Täter, sondern Opfer eines<br />

Verbrechens seien. B erhebt form- und fristgerecht Verfassungsbeschwerde gegen §<br />

14 III LuftSiG.<br />

Bearbeitervermerk: Beurteilen Sie die Erfolgsaussichten der<br />

Verfassungsbeschwerde des B.<br />

2


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

<strong>Fall</strong> 2: Luftsicherheitsgesetz<br />

<strong>Lösung</strong>sskizze (angelehnt an BVerfGE 115, 118)<br />

Die Verfassungsbeschwerde des B hat Aussicht auf Erfolg, wenn sie zulässig und<br />

begründet ist.<br />

A. Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde<br />

Die Verfassungsbeschwerde des B müsste zulässig sein.<br />

I. Zuständigkeit des BVerfG<br />

Das Bundesverfassungsgericht ist für die Entscheidung über<br />

Verfassungsbeschwerden gem. Art. 93 I Nr. 4a GG, §§ 13 Nr. 8a, 90 ff.<br />

BVerfGG zuständig.<br />

II. Beschwerdeberechtigung<br />

Beschwerdeberechtigt ist jedermann (Art. 93 I Nr. 4a GG). Dazu ist die<br />

Grundrechtsberechtigung erforderlich. Als natürliche Person ist B<br />

grundrechtsberechtigt und da<strong>mit</strong> beschwerdeberechtigt.<br />

III. Beschwerdegegenstand<br />

Gem. Art. 93 I Nr. 4a GG kann Beschwerdegegenstand jeder Akt der<br />

öffentlichen Gewalt sein. Da<strong>mit</strong> sind Maßnahmen der Legislative, der<br />

Exekutive und der Judikative gemeint. B wendet sich gegen § 14 III<br />

LuftSiG und so<strong>mit</strong> gegen einen Legislativakt.<br />

IV. Beschwerdebefugnis<br />

Fraglich ist, ob B beschwerdebefugt ist. Gemäß Art. 93 I Nr. 4a GG, §<br />

90 I BVerfGG muss der Beschwerdeführer behaupten, in einem der<br />

3


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

dort genannten Rechte verletzt zu sein. B ist möglicherweise in den<br />

Grundrechten des Art. 1 I und Art. 2 II GG verletzt.<br />

Der Beschwerdeführer muss jedoch selbst, gegenwärtig und<br />

un<strong>mit</strong>telbar betroffen sein.<br />

1. Selbstbetroffenheit<br />

Fraglich ist, ob B selbst betroffen ist. Dies erfordert die mögliche<br />

Verletzung des Beschwerdeführers in eigenen Grundrechten.<br />

Dies kann hier bejaht werden, da B als Vielflieger selbst von der<br />

Regelung des § 14 III LuftSiG betroffen sein könnte.<br />

2. Gegenwärtigkeit<br />

B müsste auch gegenwärtig betroffen sein. Bei einer<br />

Rechtsnorm liegt Gegenwärtigkeit dann vor, wenn sie im<br />

Gesetzblatt verkündet wurde. Dies ist hier der <strong>Fall</strong>. B ist so<strong>mit</strong><br />

auch gegenwärtig betroffen.<br />

3. Un<strong>mit</strong>telbarkeit<br />

Problematisch erscheint hier jedoch die un<strong>mit</strong>telbare<br />

Betroffenheit des B. Die un<strong>mit</strong>telbare Betroffenheit ist dann<br />

ausgeschlossen, wenn Beschwerdegegenstand ein Gesetz ist<br />

und dieses Gesetz nicht selbst eine bestimmte Rechtsfolge<br />

herbeiführt, sondern erst noch durch einen zusätzlichen Akt<br />

vollzogen werden muss.<br />

Hier sieht § 14 III LuftSiG vor, dass Streitkräfte unter gewissen<br />

Voraussetzungen Waffengewalt anwenden dürfen. Das<br />

angegriffene Gesetz muss daher erst noch durch einen weiteren<br />

Akt vollzogen werden.<br />

Un<strong>mit</strong>telbare Betroffenheit ist jedoch auch dann gegeben, wenn<br />

der Beschwerdeführer gegen einen denkbaren Vollzugsakt nicht<br />

oder nicht in zumutbarer Weise vorgehen kann.<br />

4


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

Dem B kann nicht zugemutet werden, dass er erst einen<br />

Abschussbefehl abwartet, bis er gegen das Gesetz vorgehen<br />

kann.<br />

So<strong>mit</strong> ist B auch un<strong>mit</strong>telbar betroffen.<br />

V. Rechtswegerschöpfung<br />

B muss gemäß Art. 94 II GG, § 90 II BVerfGG den ihm eröffneten<br />

Rechtsweg erschöpfen. Diese Voraussetzung ist erfüllt, da es für den<br />

Bürger keinen Rechtsschutz gegen Gesetze gibt.<br />

VI. Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist ein außerordentlicher Rechtsbehelf zur<br />

prozessualen Durchsetzung der Grundrechte und grundrechtsgleichen<br />

Rechte. Der Grundrechtschutz obliegt zunächst den Fachgerichten.<br />

Dieser Schutz wird durch die Verfassungsbeschwerde nicht verdrängt,<br />

sondern subsidiär ergänzt. Der Subsidiaritätsgrundsatz soll die<br />

Funktionsfähigkeit des Bundesverfassungsgerichts schützen.<br />

B müsste über die Erschöpfung des Rechtswegs im engeren Sinne alle<br />

ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Möglichkeiten gegen die in<br />

Frage stehende Grundrechtsverletzung ergriffen haben.<br />

Es ist nicht ersichtlich, dass dem B noch andere Möglichkeiten zur<br />

Verfügung standen, gegen die in Frage stehende<br />

Grundrechtsverletzung vorzugehen.<br />

VII. Form und Frist<br />

Die Verfassungsbeschwerde ist schriftlich (§ 23 I 1 BVerfGG), <strong>mit</strong><br />

Begründung (§§ 23 I 2, 92 BVerfGG) und fristgerecht (§ 93 I BVerfGG)<br />

zu erheben. Laut Sachverhalt hat B form- und fristgerecht<br />

Verfassungsbeschwerde erhoben.<br />

5


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

VIII. Zwischenergebnis<br />

Die Verfassungsbeschwerde des B ist zulässig.<br />

IX. Annahme zur Entscheidung, § 93a BVerfGG, Art.<br />

94 II S. 2 GG<br />

Die Verfassungsbeschwerde bedarf gem. § 93 a BVerfGG, Art. 94 II S.<br />

2 GG – ungeachtet ihrer Zulässigkeit – der Annahme zur Entscheidung.<br />

B. Begründetheit der Verfassungsbeschwerde<br />

Fraglich ist, ob die Verfassungsbeschwerde des B auch begründet ist. Dies ist<br />

der <strong>Fall</strong>, wenn der Beschwerdeführer durch § 14 III LuftSiG in einem seiner<br />

Grundrechte verletzt ist.<br />

I. Verletzung von Art. 2 II 1 GG<br />

Möglicherweise ist B durch § 14 III LuftSiG in seinem Recht auf Leben<br />

aus Art. 2 II 1 GG verletzt.<br />

1. Schutzbereich<br />

Art. 2 II GG gewährleistet das Recht auf Leben als<br />

Freiheitsrecht. Mit diesem Recht wird die biologisch-physische<br />

Existenz jedes Menschen vom Zeitpunkt ihres Entstehens an bis<br />

zum Eintritt des Todes unabhängig von den Lebensumständen<br />

des Einzelnen, seiner körperlichen und seelischen Befindlichkeit,<br />

gegen staatliche Eingriffe geschützt. Jedes menschliche Leben<br />

ist als solches gleich wertvoll.<br />

Möglicherweise ist der Schutzbereich im vorliegenden <strong>Fall</strong><br />

jedoch beschränkt, da die Passagiere eines entführten<br />

Flugzeugs, das gegen das Leben anderer eingesetzt werden<br />

soll, bereits „todgeweiht“ sind. Das BVerfG lehnt dies im<br />

zugrunde liegenden Urteil jedoch <strong>mit</strong> dem überzeugenden<br />

Argument ab, dass menschliches Leben ohne Rücksicht auf die<br />

6


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

Dauer der physischen Existenz des einzelnen Menschen<br />

gleichen verfassungsrechtlichen Schutz genießt.<br />

2. Eingriff<br />

§ 14 III LuftSiG greift in diesen Schutzbereich ein, da er eine<br />

Ermächtigung zum Abschuss von Flugzeugen und so<strong>mit</strong> zur<br />

Tötung von Menschen enthält.<br />

3. Rechtfertigung<br />

Möglicherweise ist dieser Eingriff jedoch gerechtfertigt. Nach Art.<br />

2 II 1 GG steht das Recht auf Leben unter einem<br />

einschränkenden Gesetzesvorbehalt. Das bedeutet, dass in das<br />

Grundrecht auf Leben auf der Grundlage eines förmlichen<br />

Parlamentsgesetzes eingegriffen werden kann. Voraussetzung<br />

dafür ist aber, dass das Gesetz in jeder Hinsicht den<br />

Anforderungen des Grundgesetzes entspricht. Es muss<br />

kompetenzmäßig erlassen worden sein, nach Art. 19 II GG den<br />

Wesensgehalt des Grundrechts unangetastet lassen und darf<br />

auch sonst den Grundentscheidungen der Verfassung nicht<br />

widersprechen.<br />

Es ist also zu prüfen, ob § 14 III LuftSiG formell und materiell<br />

verfassungsgemäß ist.<br />

a. Formelle Verfassungsmäßigkeit<br />

Im Rahmen der formellen Verfassungsmäßigkeit ist sehr<br />

fraglich, ob der Bund überhaupt für den Erlass eines<br />

solchen Gesetzes zuständig war. Gemäß Art. 70 I GG<br />

haben nämlich grundsätzlich die Länder das Recht der<br />

Gesetzgebung. Möglicherweise liegt hier jedoch ein<br />

Gegenstand der ausschließlichen Gesetzgebung des<br />

Bundes nach Art. 73 GG vor.<br />

7


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

i. Art. 73 I Nr. 1 GG<br />

Gemäß Art. 73 I Nr. 1 GG hat der Bund die<br />

ausschließliche Gesetzgebungskompetenz für die<br />

auswärtigen Angelegenheiten sowie die Verteidigung<br />

einschließlich des Schutzes der Zivilbevölkerung.<br />

Es ist jedoch zu beachten, dass Abschnitt 3 des LuftSiG<br />

die Überschrift „Unterstützung und Amtshilfe durch die<br />

Streitkräfte“ trägt. Dies macht deutlich, dass es sich bei<br />

einem Einsatz, so wie er in §§ 13-15 LuftSiG geregelt ist,<br />

primär nicht um die Wahrnehmung einer eigenständigen<br />

Aufgabe des Bundes, sondern im Rahmen der<br />

Gefahrenabwehr und der Unterstützung der Polizeikräfte<br />

der Länder um die Hilfe bei der Bewältigung einer den<br />

Ländern obliegenden Aufgabe handelt.<br />

Eine ausschließliche Zuständigkeit des Bundes nach Art.<br />

73 I Nr. 1 GG ist so<strong>mit</strong> nicht gegeben.<br />

ii. Art. 73 I Nr. 6 GG<br />

Aus denselben Gründen handelt es sich bei § 14 LuftSiG<br />

auch nicht um eine Regelung des Luftverkehrs nach Art.<br />

73 I Nr. 6 GG. Der Bund wollte <strong>mit</strong> § 14 LuftSiG nicht eine<br />

Annexregelung zur Regelung des Luftverkehrs treffen,<br />

sondern er wollte das Amtshilferecht näher ausgestalten.<br />

iii. Art. 35 II S. 2 und III GG<br />

Die Gesetzgebungskompetenz des Bundes, das<br />

Amtshilferecht zu regeln, folgt un<strong>mit</strong>telbar aus Art. 35 II S.<br />

2 und III GG. Es ist hier jedoch fraglich, ob der Bund <strong>mit</strong> §<br />

14 LuftSiG den ihm durch Art. 35 GG eröffneten<br />

Kompetenzrahmen überschritten hat.<br />

Ein besonders schwerer Unglücksfall im Sinne des Art. 35<br />

II S. 2 GG kann <strong>mit</strong> einer Flugzeugentführung zwar noch<br />

bejaht werden.<br />

8


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

Es ist jedoch zu beachten, dass die Hilfe, von der Art. 35<br />

II S. 2 GG spricht, den Ländern gewährt wird, da<strong>mit</strong> diese<br />

die ihnen obliegenden Aufgaben der Bewältigung von<br />

Katastrophen wirksam erfüllen können. Die Art der<br />

Hilfs<strong>mit</strong>tel, die beim Einsatz der Streitkräfte zum Zwecke<br />

der Hilfeleistung verwandt werden dürfen, kann nicht von<br />

qualitativ anderer Art sein als diejenigen, die den<br />

Polizeikräften der Länder für die Erledigung ihrer<br />

Aufgaben originär zur Verfügung stehen. Das bedeutet,<br />

dass die Streitkräfte zwar die Waffen verwenden dürfen,<br />

die das Recht des betreffenden Landes für dessen<br />

Polizeikräfte vorsieht. Militärische Kampf<strong>mit</strong>tel,<br />

beispielsweise die Bordwaffen eines Kampfflugzeugs, wie<br />

sie für Maßnahmen nach § 14 III LuftSiG benötigt werden,<br />

dürfen dagegen nicht zum Einsatz gebracht werden.<br />

Der gleiche Einwand gilt auch im Rahmen des Art. 35 III<br />

GG.<br />

iv. Zwischenergebnis<br />

§ 14 III LuftSiG ist so<strong>mit</strong> schon formell verfassungswidrig.<br />

b. Materielle Verfassungsmäßigkeit<br />

Fraglich ist, ob § 14 III LuftSiG überdies hinaus auch<br />

materiell verfassungswidrig ist.<br />

Beachte: In einem Gutachten ist immer auf ALLE<br />

aufgeworfenen Rechtsfragen einzugehen. Die Prüfung<br />

der Begründetheit ist nicht zu Ende, nur weil man die<br />

formelle Verfassungswidrigkeit des beanstandeten<br />

Gesetzes festgestellt hat. Die materielle<br />

Verfassungsmäßigkeit muss trotzdem noch begutachtet<br />

werden.<br />

9


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

Zwar steht Art. 2 II 1 GG unter dem Vorbehalt des<br />

Gesetzes. Das einschränkende Gesetz muss aber<br />

seinerseits im Lichte dieses Grundrechts und der da<strong>mit</strong><br />

eng verknüpften Menschenwürdegarantie des Art. 1 I GG<br />

gesehen werden.<br />

Nach der sog. Objektformel des BVerfG widerspricht es<br />

der menschlichen Würde, den Menschen zum bloßen<br />

Objekt im Staat zu machen.<br />

Wenn der Staat zu Abwehrmaßnahmen des § 14 III<br />

LuftSiG greift, behandelt er aber die<br />

Passagiere des Flugzeugs als bloße Objekte seiner<br />

Rettungsaktion zum Schutze anderer. Flugzeugbesetzung<br />

und Passagiere können dem Handeln des Staates<br />

aufgrund der von ihnen in keiner Weise beherrschbaren<br />

Gegebenheiten nicht ausweichen, sondern sind ihm wehrund<br />

hilflos ausgeliefert <strong>mit</strong> der Folge, dass sie <strong>mit</strong> an<br />

Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit getötet werden.<br />

Eine solche Behandlung missachtet die Betroffenen als<br />

Subjekte <strong>mit</strong> Würde und unveräußerlichen Rechten. Sie<br />

werden dadurch, dass ihre Tötung als Mittel zur Rettung<br />

anderer benutzt wird, verdinglicht und zugleich<br />

entrechtlicht. Indem über ihr Leben von Staats wegen<br />

einseitig verfügt wird, wird den als Opfern selbst<br />

schutzbedürftigen Flugzeuginsassen der Wert<br />

abgesprochen, der dem Menschen um seiner selbst<br />

Willen zukommt. Die Würde des Menschen darf nach Art.<br />

1 I GG unter keinen Umständen angetastet werden. Sie ist<br />

daher einer Güterabwägung nicht zugänglich.<br />

Beeinträchtigt ein Gesetz, wie hier, die Menschenwürde,<br />

ist es verfassungswidrig.<br />

§ 14 III LuftSiG ist so<strong>mit</strong> auch materiell verfassungswidrig.<br />

10


erlanger examenskurs - öffentliches recht I WS 2010/11<br />

II. Ergebnis<br />

Die Verfassungsbeschwerde des B hat Aussicht auf Erfolg, da § 14 III<br />

LuftSiG sowohl formell als auch materiell verfassungswidrig ist.<br />

11

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!