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„...Verzeihung, ich lebe“ - Film des Monats

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 1<br />

<strong>„</strong>So tief ist keine Versenkung, daß alle Spuren<br />

vern<strong>ich</strong>tet werden könnten, n<strong>ich</strong>ts Menschl<strong>ich</strong>es<br />

ist so vollkommen; dazu gibt es zu viele Menschen<br />

in der Welt, um Vergessen endgültig zu machen.<br />

Einer wird immer bleiben, um die Gesch<strong>ich</strong>te<br />

zu erzählen.“ Hannah Arendt in: E<strong>ich</strong>mann in Jerusalem.<br />

<strong>Film</strong>anfang<br />

Langsam fährt die Kamera, wie abtastend, über die<br />

Ges<strong>ich</strong>ter von Schülern auf einem Großfoto. Dazu ist<br />

die Stimme eines Mannes zu hören, der langsam und<br />

nachdenkl<strong>ich</strong> die Bilder kommentiert:<br />

Der lebt, das ist Lolek. Er überlebte dank seiner blauen<br />

Augen. Sie glaubten, daß er kein Jude ist ... Das ist<br />

Katz, er ist auch schon am zweiten Tag nach Auschwitz<br />

gegangen ... Das ist Preger ... Auschwitz ... Das ist<br />

Bolek Lewenstajn, einziger Überlebender seiner<br />

großen Familie ... Das ist Berkowicz. Er sah sehr weibl<strong>ich</strong><br />

aus. War aber trotzdem ein Mann. Sie haben ihn<br />

fertiggemacht ... Das bin <strong>ich</strong>. Und das ist Adolf Wosnica<br />

... Auschwitz. Er ist n<strong>ich</strong>t mehr da ... Ignatz Blum.<br />

Ein ganz kleiner, fast ein Zwerg. Er lebte noch ein paar<br />

Tage in Auschwitz, aber er ist gestorben ... Das sind die<br />

Jungen. Und das sind die Mädchen ... Das ist Dudka<br />

Lipszyk, sie lebt n<strong>ich</strong>t. Das ist Renia Krakowska, lebt<br />

n<strong>ich</strong>t... Jetzt kommt zum ersten Mal das Ges<strong>ich</strong>t <strong>des</strong><br />

alten Mannes ins Bild, der vor dem Großfoto sitzt .. Das<br />

ist Pejsachson. Sie haben ihn beim Transport nach<br />

Auschwitz erschossen. Er spuckte einem Wachhabenden<br />

in die Fresse und sagte zu ihm der sonst polnisch<br />

sprechende Erzähler zitiert das<br />

folgende auf deutsch: <strong>„</strong>Du Verbrecher!<br />

Ihr werdet alle sterben<br />

wie die Hunde.“ Wieder auf<br />

polnisch Krach, Krach! Der<br />

Deutsche erschoß ihn, und<br />

er wurde aus dem Zug nach<br />

Auschwitz geworfen.<br />

Holocaust überlebt. Zu ihnen gehören die vier Protagonisten<br />

dieses <strong>Film</strong>s. In ihren Erzählungen wird das<br />

Leben der Juden und ihrer polnischen Mitbürger in der<br />

Vorkriegszeit lebendig. Und es entwickelt s<strong>ich</strong> daraus<br />

eine Gesch<strong>ich</strong>te <strong>des</strong> einbrechenden Nazi-Terrors, der<br />

Verfolgung und Auslöschung der gesamten jüdischen<br />

Bevölkerung dieser kleinen Stadt.<br />

Konfrontiert mit den Fotos, auf denen sie als junge<br />

Menschen abgebildet sind, treten die Protagonisten<br />

eine bedrückende Reise in ihre Vergangenheit an: Die<br />

Frau, die als junges Mädchen durch improvisierten<br />

Unterr<strong>ich</strong>t den jüdischen Kindern ihre Selbstachtung<br />

wiedergeben will, nachdem die Schulen für sie verboten<br />

worden sind; der Widerstandskämpfer, der aus dem<br />

Ghettoversteck den Abtransport der Juden ins Vern<strong>ich</strong>tungslager<br />

ansehen muß; der ehemalige Gymnasiast,<br />

dem in der Vorkriegszeit von seinen Eltern ein sorgloses,<br />

vergnügl<strong>ich</strong>es Leben bereitet wird; das Ehepaar,<br />

das rechtzeitig in die Sowjetunion fliehen kann und<br />

dort sofort in die Verbannung geschickt wird ...<br />

Der <strong>Film</strong> illustriert die Schreckenstaten n<strong>ich</strong>t, mit keinem<br />

Foto, keinem Zeitdokument, keiner Wochenschau.<br />

Er bleibt ganz bei den Protagonisten, sieht sie an den<br />

Orten, an denen sie heute leben, hört ihr Erzählen, zeigt<br />

die Mühen <strong>des</strong> S<strong>ich</strong>-Erinnerns. Und er zeigt auch ihre<br />

Scham über ihr Wegsehen, ihr N<strong>ich</strong>t-wahrhaben-wollen<br />

zu einer Zeit, als das Schlimmste für sie s<strong>ich</strong> schon<br />

deutl<strong>ich</strong> abze<strong>ich</strong>nete. So spr<strong>ich</strong>t dieser <strong>Film</strong> von sehr<br />

Persönl<strong>ich</strong>em und wird gerade dadurch für den<br />

Zuschauer zur aufrüttelnden Reise in die Gesch<strong>ich</strong>te.<br />

Inhalt:<br />

In Auschwitz wurden nach 1945<br />

2400 private Fotografien von<br />

Juden aus der polnischen Kleinstadt<br />

Bedzin am Rande <strong>des</strong><br />

oberschlesischen Kohlereviers<br />

gefunden. Nur wenige der abgebildeten<br />

Menschen haben den<br />

Schulklasse <strong>des</strong> Jüdischen Fürstenberg-Gymnasiums, Bedzin<br />

Basis-<strong>Film</strong> Verleih, Körnerstr. 59, 12169 Berlin, Tel 030/793 51 61 /71, Fax 791 15 51<br />

internet: www.basisfilm.de • email: info@basisfilm.de


<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 2<br />

mit<br />

Fela u. Eli Broder, Abraham Dafner,<br />

Adam Naparstek-Naor, Ada Nojfeld,<br />

Jurek Olszenko, Zygmunt Pluznik, Wiktoria Wiezik<br />

Stab:<br />

Regie: Andrzej Klamt<br />

Buch: Andrzej Klamt, Marek Pelc<br />

Kamera: Vladimir Majdandzic<br />

Schnitt: Zygmunt Dus, Ewa Dus<br />

Musik: Ulr<strong>ich</strong> Rydzewski<br />

Ton: Alex Epstein, Bohdan Palowski<br />

Tonmischung: Tom Blankenberg<br />

L<strong>ich</strong>t: M<strong>ich</strong>ael Weihrauch<br />

Fachberatung: Hanno Loewy, Krystyna Oleksy,<br />

Marek Pelc, Zygmunt Pluznik<br />

Redaktion: Esther Schapira<br />

Produktion: halbtotal filmproduktion<br />

in Koproduktion mit dem Hessischen Rundfunk,<br />

Appel <strong>Film</strong> Production, Ulr<strong>ich</strong> Rydzewskis <strong>Film</strong>produktion,<br />

Canal+ Polska, mit Unterstützung der Hessischen <strong>Film</strong>förderung u.<br />

<strong>des</strong> <strong>Film</strong>büro NW. Mit freundl<strong>ich</strong>er Unterstützung <strong>des</strong> Staatl<strong>ich</strong>en<br />

Museums in Auschwitz-Birkenau und <strong>des</strong> Fritz-Bauer-Institutes.<br />

Andrzej Klamt:<br />

geb. 1964 in Bytom, Polen. Studium der Slawistik und<br />

der <strong>Film</strong>wissenschaft in Frankfurt/M.<br />

1989 Studienaufenthalt in der UdSSR.<br />

Seit 1991 freier <strong>Film</strong>autor und Regisseur mit Schwerpunkt<br />

Ost- u. Mitteleuropa.<br />

Lebt und arbeitet in Wiesbaden und Düsseldorf.<br />

<strong>Film</strong>ografie (Auswahl):<br />

1991 Sibirien I,II, 45 Min.; TV-Dok. zus. mit H.P. Böffgen<br />

1993 Ze<strong>ich</strong>ner <strong>des</strong> Gulag, 75 Min.; zus. mit H.P. Böffgen<br />

1994 Sibirien III, 45 Min.<br />

1995 Verbotene Zone, 45 Min., TV-Dok. zus. mit U. Rydzewski<br />

1996 Der strahlende Sarg - 10 Jahre Tschernobyl, 45 Min, TV-<br />

Reportage zus. mit. U. Rydzewski<br />

1998 Pelym, 115 Min, zus. mit U. Rydzewski<br />

1999 Baku, ein Porträt in Öl, 52 Min., TV-Dokumentation<br />

Marek Pelc:<br />

geb. 1953 in Wroclaw, Polen.<br />

Emigrierte 1969 nach Israel. Armeedienst.<br />

Studium der Gesch<strong>ich</strong>te und der Philosophie an der<br />

Hebräischen Universität in Jerusalem.<br />

Studium der Germanistik an der J. W. Goethe-Universität<br />

in Frankfurt/M., tätig als Historiker.<br />

1996-1999 wissenschaftl<strong>ich</strong>er Mitarbeiter im Fritz<br />

Bauer Institut, Frankfurt/M.<br />

Publizist und Literaturübersetzer (Hebräisch,<br />

Polnisch, Deutsch).<br />

Verleihangaben:<br />

Kinostart: Oktober 2000<br />

Uraufführung: Internationales Forum <strong>des</strong><br />

Jungen <strong>Film</strong>s, Berlinale 2000<br />

Verleih gefördert durch das <strong>Film</strong>büro NW<br />

Presseheft und Konzeption: Christian Ziewer<br />

Satz und Layout: Studio Kraut<br />

Internet: www.basisfilm.de<br />

Pressebetreuung: Anke Hahn, Basis-<strong>Film</strong> Verleih<br />

Deutschland/Polen 2000, 16mm, Farbe, 81 Min.<br />

Basis-<strong>Film</strong> Verleih, Körnerstr. 59, 12169 Berlin, Tel 030/793 51 61 /71, Fax 791 15 51<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 3<br />

Auf der Suche nach den Überlebenden<br />

Anmerkungen zur Identifizierung der 2400 Fotografien<br />

von Bedziner Juden aus der Sammlung <strong>des</strong><br />

Staatl<strong>ich</strong>en Museums Auschwitz-Birkenau<br />

von Marek Pelc<br />

Als die 2400 Fotos aus den Beständen <strong>des</strong> Museums<br />

zum ersten Mal untersucht wurden, wußte man gerade<br />

genug, um die Spur auf der Suche nach der Identität der<br />

abgebildeten Menschen aufnehmen zu können. Nach<br />

und nach stellte s<strong>ich</strong> heraus, daß die Fotografien beinah<br />

ausschließl<strong>ich</strong> aus Bedzin stammten - einer ca. 50 000<br />

Einwohner zählende Stadt in der Dabrowskaer Kohlensenke<br />

(Zaglebie Dabrowskie) - ein Schwerindustrieund<br />

Kohlengebiet im Vorkriegspolen, östl<strong>ich</strong> von Kattowitz.<br />

Einige Personen konnten von ehemaligen Bedzinern,<br />

die in Israel leben, identifiziert werden.<br />

Beinahe die Hälfte der Fotografien waren auf ihren<br />

Rückseiten mit Beschriftungen, mit verschiedenen<br />

Numerierungen und Stempeln versehen. Manchmal<br />

waren es nur die Seriennummern der Fotografen,<br />

manchmal nur Datum und Orte verschiedener Ferienziele<br />

in der Umgebung Bedzins: Szcyrk, Krynika,<br />

Zakopane, Rabka oder Jelesnia.<br />

Mit einem Vergrößerungsglas konnte man die Inschriften,<br />

d.h. die abgebildeten Schriftbruckstücke im Bild -<br />

ein Ladenschild, ein Theaterplakat - entziffern. In n<strong>ich</strong>t<br />

wenigen Fällen fungierten die Fotografien als Postkarten<br />

aus den bekannten Kurorten und wurden vermutl<strong>ich</strong><br />

von dem Straßenfotografen mit einer Aufschrift<br />

<strong>„</strong>Erinnerung aus ...“ versehen. Sehr viele der rund 1100<br />

beschrifteten Fotografien trugen auf der Rückseite<br />

zusätzl<strong>ich</strong> zum Datum und der Ortsangabe auch eine<br />

Widmung. Mal war sie eher eine Standardwidmung,<br />

wie sie auch ins Stammbuch geschrieben werden konnte,<br />

ein anderes Mal war sie gar ein Lied über Lilli Marlen<br />

auf polnisch: Das Herz schlägt stark und träumt von<br />

Liebe/ Ach meine Kleine sag n<strong>ich</strong>ts, weil <strong>ich</strong> D<strong>ich</strong><br />

liebe/ meine Lilli Marlen.<br />

Manche Menschen besuchten regelmäßig dieselben<br />

Fotoateliers: So ließen s<strong>ich</strong> Dina und Nachum Kohn<br />

je<strong>des</strong> Jahr vor den immergle<strong>ich</strong>en Fotohintergründen<br />

porträtieren und schrieben auf Jiddisch ihre Erlebnisse<br />

und Grüße nieder. Wenn s<strong>ich</strong> die ganze Klasse <strong>des</strong><br />

hebräischen Gymnasiums Fürstenberg in Bedzin zum<br />

Fotografieren aufstellte, signierten die Schüler s<strong>ich</strong><br />

gegenseitig schwungvoll ihre Abzüge.<br />

Die Rückseiten sind polnisch und hebräisch, jiddisch<br />

und russisch, deutsch, französisch und englisch beschriftet.<br />

Die Vielfalt der Sprachen spiegelt sowohl die<br />

verschiedenen R<strong>ich</strong>tungen der jüdischen Auswanderung<br />

als auch die politischen Umwälzungen in der<br />

ersten Hälfte dieses Jahrhunderts in Bedzin wider.<br />

Die überschaubare Größe Bedzins und seiner jüdischen<br />

Einwohner trug s<strong>ich</strong>erl<strong>ich</strong> dazu bei, daß die wenigen,<br />

die überlebten, s<strong>ich</strong> an viele ihrer Mitschüler und<br />

Nachbarn erinnern konnten.<br />

Das jüdische Fürstenberg-Gymnasium nahm im sozialen<br />

Gefüge Bedzins eine Sonderposition ein: Hier trafen<br />

die Kinder der jüdischen Mittelsch<strong>ich</strong>t aus Bedzin<br />

und aus anderen Städten Zaglebies, oder auch gelegentl<strong>ich</strong><br />

aus der nahen Großstadt Kattowitz zusammen.<br />

Im geschützten Raum eines hebräischen Gymnasiums<br />

im Polen der 30er Jahre konnten s<strong>ich</strong> weit intensivere<br />

Beziehungen zwischen Schülern und Lehrern entwickeln,<br />

als das der Fall in vergle<strong>ich</strong>baren polnischen<br />

Schulen gewesen sein dürfte.<br />

Die Konfrontation mit den Fotografien löste unterschiedl<strong>ich</strong>e<br />

Reaktionen aus. Bei einer Zusammenkunft<br />

mit einigen Mitgliedern der Landsmannschaft Zaglebie<br />

in Tel Aviv, die ihr Domizil im Nebenraum der Synagoge<br />

auf der Frishman Straße hat, erzählte ein älterer<br />

Herr wie sein Freund anfing zu schreien, als er eine<br />

Fotografie seines ermordeten Bruders erblickte. Dieser<br />

ältere Herr war dabei selber sehr gerührt, weil er gerade<br />

das Foto seines Onkels im Ghetto identifizierte.<br />

Menschen, die ihre verstorbenen Eltern, die nie erlebten<br />

Großeltern, Tanten und Onkel auf den Fotos entdeckten,<br />

fingen in einigen Fällen mit eigenen Nachforschungen<br />

an.<br />

Die 3 Jahre dauernde Erschließung der Fotosammlung<br />

aus den Beständen <strong>des</strong> Museums Auschwitz-Birkenau<br />

führte zu einigen neuen Initiativen: Demnächst erscheint<br />

ein Buch mit nacherzählten Gesch<strong>ich</strong>ten über<br />

das hebräische Fürstenberg-Gymnasium.<br />

Am 8.November 2000 wird eine ständige Ausstellung<br />

mit den Fotos der Sammlung auf dem Gelände<br />

<strong>des</strong> ehemaligen KZ Auschwitz eröffnet.<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 4<br />

Interview mit dem Regisseur<br />

Andrzej Klamt<br />

Andrzej Klamt, wie haben Sie die Protagonisten<br />

Ihres <strong>Film</strong>s gefunden? Unter welchen Ges<strong>ich</strong>tspunkten<br />

haben Sie sie ausgewählt?<br />

Marek Pelc, mit dem zusammen <strong>ich</strong> diesen <strong>Film</strong><br />

gemacht habe, hatte im Rahmen eines Forschungsprojektes<br />

<strong>des</strong> Fritz-Bauer-Instituts mit einer Reihe von<br />

Holocaustüberlebenden gesprochen, auf die er durch<br />

eine Sammlung von Fotos aus dem Museum Auschwitz-<br />

Birkenau gestoßen war. Gemeinsam kamen wir auf die<br />

Idee, einige dieser Menschen im <strong>Film</strong> zu porträtieren,<br />

die alle aus der kleinen polnischen Stadt Bedzin am<br />

Rande <strong>des</strong> oberschlesischen Kohlereviers stammten.<br />

Mit diesen wenigen Überlebenden haben wir näheren<br />

Kontakt aufgenommen und schließl<strong>ich</strong> daraus unsere<br />

Protagonisten gewählt. Die Mehrzahl von ihnen hatte<br />

dasselbe jüdische Gymnasium besucht, war dann ins<br />

Ghetto verbannt und schließl<strong>ich</strong> nach Auschwitz<br />

deportiert worden. Alle leben jetzt in Tel Aviv. So<br />

haben wir uns also für diese Überlebenden der Shoah<br />

entschieden, weil sie einen gemeinsamen Lebens- und<br />

Erfahrungshintergrund haben.<br />

Haben Sie s<strong>ich</strong> selbst ein fest umrissenes Konzept<br />

vorgegeben, nach dem Sie die Gespräche führten,<br />

oder gab es eine eher wenig vorstrukturierte, offene<br />

Gesprächssituation?<br />

Letzteres möchte <strong>ich</strong> sagen. Zwar wußten wir ja durch<br />

Mareks vorhergehende Recherchen, mit was für<br />

Schicksalen wir konfrontiert würden und was für uns<br />

besonders interessant wäre; wir hatten also eine ungefähre<br />

Vorstellung, in welche R<strong>ich</strong>tung der <strong>Film</strong> gehen<br />

könnte. Aber als es dann zu den Dreharbeiten kam, versuchten<br />

wir, uns mögl<strong>ich</strong>st frei von Vorgaben zu fühlen<br />

und uns ganz auf die Menschen einzustellen, auf ihre<br />

Befindl<strong>ich</strong>keit und auf ihre Art, das Erlebte mitzuteilen.<br />

Um ein einigermaßen freies, offenes Gespräch<br />

mögl<strong>ich</strong> zu machen - was ja bei diesem Thema n<strong>ich</strong>t<br />

gerade selbstverständl<strong>ich</strong> ist - sind wir vom einfachen,<br />

chronologischen Erzählen der Biographie ausgegangen,<br />

von Kindheit, Elternhaus, Schule usw. Dadurch<br />

kommt, wie <strong>ich</strong> finde, nun im <strong>Film</strong> auch das persönl<strong>ich</strong>e<br />

Leben eines jeden sehr plastisch zum Ausdruck.<br />

Und es kommt viel Überraschen<strong>des</strong> zum Vorschein,<br />

mit dem wir vorher n<strong>ich</strong>t rechnen konnten, tiefe Einblicke<br />

in die Schicksale.<br />

Sahen diese Menschen, als die Kamera lief, zum<br />

ersten Mal seit ihrer Jugend die Fotos, auf denen<br />

sie selbst oder ihre Familienangehörigen oder<br />

Freunde sind? Oder hatten ihnen die Bilder schon<br />

vorher vorgelegen?<br />

Sie kannten ja einige vom Forschungsprojekt her, als<br />

Menschen und Orte auf den Fotos identifiziert werden<br />

sollten. Aber wir brachten nun weitere mit. Bei Eli Broder<br />

zum Beispiel, der zusammen mit seiner Frau von<br />

uns interviewt wird, gibt es ungefähr 1oo Fotos aus<br />

Familienalben. Die sieht er nun zum ersten Mal wieder-<br />

oder überhaupt zu ersten Mal - und <strong>ich</strong> denke, der<br />

<strong>Film</strong> vermittelt etwas von dem Unerwarteten dieser<br />

Begegnung mit der Vergangenheit.<br />

Es gibt ja die Ze<strong>ich</strong>nungen von Ella Liebermann-<br />

Shiber, in denen sie unmittelbar nach der Befreiung<br />

1945 ihre Erlebnisse in Bedzin, den Terror im Ghetto,<br />

den Transport und den Massenmord in Auschwitz<br />

festgehalten hat? Hat s<strong>ich</strong> n<strong>ich</strong>t angeboten, die<br />

in den <strong>Film</strong> zu integrieren?<br />

Wir wollten aus historischen und aus formalen, ästhetischen<br />

Gründen ganz bei den Fotos bleiben und so eine<br />

Geschlossenheit der Orte und Gesch<strong>ich</strong>ten erre<strong>ich</strong>en.<br />

Wir wollten kein Fremdmaterial in dem <strong>Film</strong>, auch<br />

n<strong>ich</strong>t, um irgendeinen dramatischen Effekt zu erre<strong>ich</strong>en.<br />

Also haben wir nur diese Fotos als Ausgangspunkt<br />

der Erzählungen genommen und uns weitgehend<br />

auf die Erzählenden selber verlassen.<br />

Haben Sie <strong>des</strong>halb auch keine anderen Archivmaterialien,<br />

<strong>Film</strong>ausschnitte, Schreckensfotos aus den<br />

Ghettos und Konzentrationslagern verwendet?<br />

Ja, <strong>ich</strong> dachte, daß solches Fremdmaterial eher eine<br />

Abschwächung der Interview-Aussagen bedeuten<br />

würde. Das Ber<strong>ich</strong>tete sollte so stehenbleiben, gradlinig,<br />

direkt, privat und emotional. Ich sehe darin eine<br />

Stärke <strong>des</strong> <strong>Film</strong>s, daß er s<strong>ich</strong> auf diese intime Ebene<br />

begibt und daß die Leute so offen über ihre schlimmen<br />

Erfahrungen, ihre Wunden, reden. Der Zuschauer soll<br />

n<strong>ich</strong>t Bilder in den Kopf bekommen, welche die Fantasie<br />

vom Erzählten ablenken und abschwächen.<br />

Es fällt auf, daß Sie in dem <strong>Film</strong> häufig Orte,<br />

Straßen oder Landschaften zeigen, ohne daß diese<br />

mit einer bestimmten Handlung verbunden wären.<br />

Diese Bilder stehen scheinbar ganz für s<strong>ich</strong>, wie<br />

Zäsuren. Ist das für Sie primär ein rhythmisieren-<br />

Basis-<strong>Film</strong> Verleih, Körnerstr. 59, 12169 Berlin, Tel 030/793 51 61 /71, Fax 791 15 51<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 5<br />

<strong>des</strong> Element oder verbinden Sie noch eine andere<br />

Abs<strong>ich</strong>t damit?<br />

Ich denke, daß man von den Orten, in denen man lebt,<br />

von der Landschaft, der Architektur usw., geprägt wird.<br />

Das meine <strong>ich</strong> jetzt n<strong>ich</strong>t im soziologischen oder sozialpsychologischen<br />

Sinn, sondern <strong>ich</strong> meine, daß ein<br />

Erinnerungs-Raum geschaffen wird, eine Art Raum-<br />

Zeit-Uhr, an der man s<strong>ich</strong> innerl<strong>ich</strong> orientiert. Aus diesem<br />

Erinnerungs-Raum und in ihm leben die Protagonisten.<br />

Nehmen Sie den Sportplatz, das Unerhörte,<br />

N<strong>ich</strong>t-zu-fassende, das hier stattfand, die <strong>„</strong>Selektion“.<br />

Und nun sieht man hier Jugendl<strong>ich</strong>e bei ihren Wettkämpfen.<br />

Diese Gle<strong>ich</strong>zeitigkeit im N<strong>ich</strong>t-Gle<strong>ich</strong>zeitigen<br />

interessiert m<strong>ich</strong>: Löst sie etwas beim Zuschauer<br />

aus, das über den vordergründigen Aha-Effekt - <strong>„</strong>Hier<br />

hat es also stattgefunden“ - hinausgeht? Oder ein anderes<br />

Beispiel: Wir sehen Bilder der Stadt Bedzin heute:<br />

Was s<strong>ich</strong> damals hier abgespielt hat - hat das was mit<br />

heute zu tun? Ist das zu spüren? Sieht man das den<br />

Orten an oder verflüchtigt s<strong>ich</strong> das? Gibt die Stadt zu<br />

erkennen, daß ihr etwas fehlt, daß etwas abgeschnitten<br />

ist, daß sie beraubt wurde?<br />

Bei einem <strong>Film</strong>, der s<strong>ich</strong> auf ein solches Thema einläßt,<br />

hängt ja sehr viel davon ab, wie die Kamera<br />

auf die problematische Situation der Erzählenden<br />

reagiert. Wieviel Absprache gibt es vor den Aufnahmen<br />

zwischen Ihnen und dem Kameramann?<br />

Wir haben jeweils vor den Aufnahmen grob festgelegt,<br />

worauf es uns in der zu erwartenden Szene ankommt:<br />

Kamerastandpunkt, Stativ oder Handkamera, L<strong>ich</strong>t,<br />

Charakter der Gesprächssituation. Dann aber vertraue<br />

<strong>ich</strong> ganz der Sensibilität <strong>des</strong> Kameramannes, seinem<br />

Können und seiner Liebe und Aufmerksamkeit für die<br />

Protagonisten. Er wählt seine Bewegungen, seine Nähe<br />

und Distanz, seinen Bildausschnitt. Er entscheidet aus<br />

dem Augenblick heraus, welcher Geste, welchem<br />

Blick, welchem Detail er Bedeutung gibt. Wir stehen ja<br />

nebeneinander, und wenn man einen guten Draht<br />

zueinander hat und sieht, was s<strong>ich</strong> abspielt, dann teilt<br />

man s<strong>ich</strong> auch ohne große Worte mit, worauf es in dem<br />

Moment ankommt.<br />

Sie haben die Eindrücke, die der <strong>Film</strong> im Zuschauer<br />

hinterläßt, auch durch eine besondere Tonebene<br />

unterstützt, die s<strong>ich</strong> von herkömml<strong>ich</strong>er Musikuntermalung<br />

unterscheidet.<br />

Wir wollten auf jeden Fall vermeiden, daß so eine<br />

<strong>„</strong>Verlorene-Welt“-Stimmung aufkommt, die le<strong>ich</strong>t entsteht,<br />

wenn z.B. Klezmermusik erklingt. Deshalb habe<br />

<strong>ich</strong> mit dem Komponisten Ulr<strong>ich</strong> Rydzewski eine Toncollage<br />

aus Klängen und Geräuschen entwickelt, die<br />

etwas Fragen<strong>des</strong>, Unbestimmtes ausdrückt, das man<br />

n<strong>ich</strong>t sofort orten und zuordnen kann, das aber eine<br />

mögl<strong>ich</strong>st große Aufmerksamkeit schafft. Diese Art<br />

Musik soll also n<strong>ich</strong>t dramatisieren und eine Handlung<br />

vorantreiben, sondern hellhörig für das machen, was<br />

auf der Leinwand stattfindet. Sie soll zwar die Katastrophe<br />

immer wieder ahnen lassen, aber n<strong>ich</strong>t plump<br />

sein, n<strong>ich</strong>t eindeutig und tautologisch.<br />

Während Sie an dem <strong>Film</strong> arbeiteten, dachten Sie<br />

vielle<strong>ich</strong>t auch hin und wieder an einen anderen<br />

<strong>Film</strong>, an dem wir ja n<strong>ich</strong>t vorbeikommen, wenn wir<br />

uns mit diesem Thema beschäftigen: <strong>„</strong>Shoah“ von<br />

Claude Lanzmann. Was ging Ihnen da durch den<br />

Kopf? Fühlten Sie s<strong>ich</strong> bestätigt? Sahen Sie s<strong>ich</strong> im<br />

Widerspruch?<br />

Ich finde, alle diese <strong>Film</strong>e ergänzen s<strong>ich</strong>, sind notwendige<br />

Bestandteile der großen Auseinandersetzung, die<br />

wir immer wieder führen müssen. Dabei operiert jeder<br />

<strong>Film</strong> anders, wirkt auf einer anderen Ebene. <strong>„</strong>Shoah“<br />

hat die ganze Historie im Blick, ist ein großes politisches<br />

und psychologisches Panorama. Unser <strong>Film</strong><br />

dagegen beschränkt s<strong>ich</strong>, wie <strong>ich</strong> anfangs schon sagte,<br />

auf einen Ausschnitt. Er schildert eine kleine Gruppe<br />

von Menschen, versucht, wenige einzelne Schicksale<br />

zu vertiefen und so zu verbinden, daß bei aller Besonderheit<br />

doch ein exemplarisches Bild entsteht. Ausgelöst<br />

von den Fotos, wie von einem Funken, umkreist<br />

er die Erfahrungen und Gefühle, das Leid und die Hoffnung<br />

von gepeinigten Menschen. Wir sind hier auf<br />

einige der Überlebenden getroffen, sie sind uns nahegekommen,<br />

haben unsere Aufmerksamkeit und Anteilnahme<br />

gewonnen. Aber im Hintergrund erinnern uns<br />

die Fotos auch an die, die n<strong>ich</strong>t mehr da sind. Wir sehen<br />

und hören den Lebenden zu, aber die Toten sind immer<br />

präsent. Dieses Eingedenken ist für m<strong>ich</strong> das w<strong>ich</strong>tigste<br />

an dem <strong>Film</strong>.<br />

Das Gespräch führte Christian Ziewer, Juli 2ooo<br />

Basis-<strong>Film</strong> Verleih, Körnerstr. 59, 12169 Berlin, Tel 030/793 51 61 /71, Fax 791 15 51<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 6<br />

D<strong>ich</strong>t daneben, direkt nebenan<br />

von Christian Ziewer<br />

In Feuilletons und auf Podien wurden die zivilen<br />

Schlachten um die furchtbare Sache geschlagen: Historikerstreit,<br />

Goldhagendiskussion, Walserrede, Wehrmachtsausstellung,<br />

Mahnmaldebatte. Theater und Literatur<br />

leisteten Kärrnerarbeit: Der Stellvertreter, Joel<br />

Brand, Kannibalen, Die Ermittlung, Klemperer, Re<strong>ich</strong>-<br />

Ranitzki. Auch im Kino und im Fernsehen versuchte<br />

das Land zur Besinnung über seine Vergangenheit zu<br />

kommen: Majdanek-Prozeß, Hotel Terminus, Shoah,<br />

Jakob der Lügner, Holocaust, Das Leben ist schön,<br />

Schindlers Liste. Und immer wieder TV-Serien,<br />

3.Re<strong>ich</strong>-Endlosschleifen. Das Volk wurde informiert.<br />

Es ist doch alles nun gesagt. Was soll da noch VER-<br />

ZEIHUNG, ICH LEBE?<br />

Adam Naparstek-Naor<br />

Ich halte diese Frage für berechtigt. N<strong>ich</strong>t, weil die<br />

Menschheitskatastrophe nun oft genug beschrieben<br />

worden wäre, sodaß fast alle schon fast alles wüßten -<br />

da halte <strong>ich</strong> es mit Brecht: Auch das tausendmal Gesagte<br />

noch einmal sagen, damit es n<strong>ich</strong>t einmal zuwenig<br />

gesagt sei - sondern weil das Viel-Wissen stumpf<br />

gemacht hat. Die Le<strong>ich</strong>enberge in <strong>„</strong>Mein Kampf“ und<br />

die Vergasungsanlagen in <strong>„</strong>Nacht und Nebel“ haben<br />

noch einen Schock ausgelöst und viele Menschen<br />

erschrecken lassen, und auch die <strong>„</strong>Holocaust“-Serie<br />

konnte noch eine Erregung hervorrufen, die, bei aller<br />

Kritik an der melodramatischen Action-Struktur, s<strong>ich</strong>er<br />

auch produktiv war und das Nachdenken förderte. Jetzt<br />

aber hat die Inflation <strong>des</strong> Themas und die ständig s<strong>ich</strong><br />

wiederholende Machart der Produktionen dazu geführt,<br />

daß <strong>„</strong>Auschwitz“ nur noch eine abstrakte Metapher und<br />

eine klischeehafte, leere Formel geworden ist. <strong>„</strong>Ich<br />

kann das n<strong>ich</strong>t mehr sehen“, meint n<strong>ich</strong>t, der Schrecken<br />

sei zu groß und unaushaltbar, sondern nur noch: <strong>„</strong>Ich<br />

kann n<strong>ich</strong>ts mehr sehen, es sagt mir n<strong>ich</strong>ts mehr.“ Die<br />

Beschreibungen und Bilder der Massenverbrechen, die<br />

Wochenschauaufnahmen von SS-Paraden und Juden-<br />

Transporten, die Dokumente der Massaker und der<br />

Qualen sind verstummt. Leer und verschlissen lösen<br />

sie beim Betrachter keine Fragen und keine Antworten<br />

mehr aus.<br />

Andrzej Klamt hat VERZEIHUNG, ICH LEBE ohne<br />

die Bilder, die auf den TV-Schirmen immer wiederkehren,<br />

ohne die Wochenschauaufnahmen, ohne die<br />

gewohnten Kommentare und Mahnungen gemacht.<br />

N<strong>ich</strong>t einmal die historische, politische Situation der<br />

polnischen Stadt, von der sein <strong>Film</strong> ber<strong>ich</strong>tet, wird,<br />

außer in einem kurzen, schriftl<strong>ich</strong>en Text, dargestellt.<br />

Klamt dramatisiert n<strong>ich</strong>t, bietet keine <strong>„</strong>spannende“<br />

Handlung, welche den Zuschauer mitreißt, illustriert<br />

n<strong>ich</strong>t den Terror, dokumentiert n<strong>ich</strong>t das Grauen. Er<br />

läßt nur - erzählen. Juden, Überlebende <strong>des</strong> Holocaust,<br />

schildern ihre Jugend, die unbeschwerten Jahre in dieser<br />

Kleinstadt, die, abgesehen vom hohen Anteil jüdischer<br />

Bürger, auch in Bayern oder Hessen hätte liegen<br />

können, den Überfall durch die Nazi-Armee und das<br />

folgende mörderische Schicksal der jüdischen Bevölkerung<br />

- oder r<strong>ich</strong>tiger gesagt: Die Überlebenden<br />

schildern ihre ganz persönl<strong>ich</strong>e Erfahrung mit der<br />

Katastrophe. Dieses Erzählen ist der eigentl<strong>ich</strong>e dramatische<br />

Vorgang <strong>des</strong> <strong>Film</strong>s: Wie die Frauen und Männer<br />

dasitzen und sprechen, wie sie stocken und schweigen,<br />

wie sie s<strong>ich</strong> bewegen, wie sie nachdenken und<br />

versuchen, s<strong>ich</strong> zu erinnern, wie sie s<strong>ich</strong> offenbaren.<br />

Das S<strong>ich</strong>-Erinnern von Menschen ist es, was dieser<br />

Dokumentarfilm vor allem andern dokumentiert.<br />

Eli Broder<br />

Basis-<strong>Film</strong> Verleih, Körnerstr. 59, 12169 Berlin, Tel 030/793 51 61 /71, Fax 791 15 51<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 7<br />

Franz Kafka, der in erschütternden Visionen die<br />

Schrecken <strong>des</strong> Jahrhunderts lange vorher beschwor,<br />

schrieb in einem Brief an Milena über seine Situation als<br />

Jude: <strong>„</strong>N<strong>ich</strong>ts ist mir geschenkt, alles muß erworben<br />

werden, n<strong>ich</strong>t nur die Gegenwart und Zukunft, auch<br />

noch die Vergangenheit.“ In Klamts <strong>Film</strong> können wir<br />

ansehen, wie Menschen s<strong>ich</strong> abmühen, ihre Vergangenheit<br />

zu <strong>„</strong>erwerben“. Im Lächeln und in der Trauer auf<br />

ihren Ges<strong>ich</strong>tern, in ihrer Einsamkeit, im Seufzen und<br />

S<strong>ich</strong>-Mut-Machen und in der Resignation ihrer Körper<br />

beim Sprechen wird ein ganz anderes historisches<br />

Drama erzählt als das von den Gesch<strong>ich</strong>tsforschern aufgeschriebene:<br />

das Drama der vielen, die ihrer Gesch<strong>ich</strong>te<br />

keinen Sinn geben können. Und eine andere Haltung,<br />

als die Aufgeregtheit und das Sentiment, die das Populärkino<br />

erzeugt, wird dem Zuschauer hier abverlangt: Er<br />

muss vor den Erzählungen der Protagonisten innehalten<br />

und, was er bisher zu wissen meinte, in Frage stellen. Er<br />

muß den Panzer öffnen, den die Medienindustrie mit<br />

ihren vorgefertigten Bildern vom Holocaust um ihn<br />

geschlossen hat. Und er muß schließl<strong>ich</strong> s<strong>ich</strong> eingestehen<br />

können, daß ihm der Zugang zu den Erfahrungen<br />

der Erzählenden versperrt ist, daß er ihren Weg in die<br />

Vergangenheit n<strong>ich</strong>t mitmachen und n<strong>ich</strong>t nachempfinden<br />

kann. Der Bruch zwischen der Realität der Vern<strong>ich</strong>tungsfabriken<br />

und unserem beflissenen Interesse zu verstehen,<br />

ist unaufhebbar. Peter Weiss, der rechtzeitig mit<br />

seinen Eltern ins Exil gehen konnte, beschreibt diesen<br />

Bruch in seiner Erzählung über einen Besuch in Auschwitz:<br />

<strong>„</strong>Ein Lebender ist gekommen, und vor diesem<br />

Lebenden verschließt s<strong>ich</strong>, was hier geschah.“<br />

hat, hilft er dem Zuschauer, eine Antwort zu finden: In<br />

langen, ruhigen Einstellungen verlangsamt er die Zeit<br />

(während der <strong>„</strong>Katastrophen-<strong>Film</strong>“ sie beschleunigt).<br />

So wird dem Zuschauer mögl<strong>ich</strong>, in s<strong>ich</strong> selbst zu<br />

blicken - auf die Bilder, die der <strong>Film</strong> in ihm auslöst,<br />

wenn er ihn die Erzählenden beobachten läßt, wenn er<br />

ihn zuhören und die gezeigten Fotos betrachten läßt.<br />

Diese Privatfotos bilden neben den Interviews eine<br />

zweite Ebene <strong>des</strong> <strong>Film</strong>s. So, wie Klamt sie verwendet,<br />

sollen sie n<strong>ich</strong>t nur den Interviewten helfen, s<strong>ich</strong> zu<br />

erinnern, sondern sie sind auch für den Zuschauer eine<br />

Brücke in die eigene Vergangenheit. Die Alltägl<strong>ich</strong>keit<br />

der Situationen, Familie, Schule, Ferien, Freundschaft<br />

und Flirt, ist dem Zuschauer als eigene vertraut und<br />

macht die Menschen auf den Fotos - wie auch die<br />

Überlebenden, die jetzt erzählend vor ihm sitzen - zu<br />

seinen Nachbarn: d<strong>ich</strong>t neben ihm, direkt nebenan. So<br />

will der <strong>Film</strong> umkehren, was das Terrorregime diesen<br />

Menschen nebenan angetan hat, als es sie stigmatisierte,<br />

entrechtete und ausgrenzte, erst zu Fremden und<br />

dann zu Feinden machte. Indem der <strong>Film</strong> s<strong>ich</strong> und<br />

damit den Zuschauer diesen Bildern <strong>des</strong> Friedens<br />

anvertraut, bringt er ihn in Bewegung. Er wird wahrhaft<br />

bewegend, anstatt nur anzurühren und aufzurütteln.<br />

Ada Nojfeld<br />

Klamt will mit seinem <strong>Film</strong> n<strong>ich</strong>t anhand von Daten<br />

und Fakten historisches Wissen vermehren. Vielmehr<br />

stellt er die Frage, wie man wissen soll, wie man wissen<br />

kann. Und durch die Art, wie er den <strong>Film</strong> angelegt<br />

Abraham Dafner<br />

Ein drittes Handlungselement <strong>des</strong> <strong>Film</strong>s: Orte, Plätze,<br />

Landschaften, an denen die Interviewten einmal gelebt<br />

haben, in Bedzin, oder jetzt leben, in Tel Aviv. Wie<br />

Klamt durch seinen Kameramann diese Stationen fotografiert<br />

und wie er sie in den <strong>Film</strong> einschneidet, schafft<br />

er einen imaginären Raum, der, über die Funktion <strong>des</strong><br />

Domizils hinaus, ein Raum für Assoziationen und Gefühle<br />

wird, der s<strong>ich</strong> füllt mit der Gegenwart und Vergangenheit<br />

<strong>des</strong> Erzählenden und auch <strong>des</strong> Zuschauenden:<br />

d<strong>ich</strong>t daneben, direkt nebenan. Und immer wieder<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 8<br />

auch, gegen diese Nähe, die unendl<strong>ich</strong>e Distanz zur<br />

Vergangenheit, die den Zuschauer vom Erzählenden<br />

trennt. Hilflos sieht er s<strong>ich</strong> vor der Einsamkeit <strong>des</strong><br />

Interviewten, vor der Einsamkeit <strong>des</strong> Exilierten - doch<br />

er fängt auch an, etwas zu begreifen: den Verlust von<br />

Leben. Und er beginnt, diesen Verlust mit seiner<br />

Kenntnis der historisch-politischen Ereignisse zu verbinden.<br />

Im Spiel mit den verschiedenen Materialien, in<br />

seinem Rhythmus, in seiner assozierenden Montage<br />

von Sprach- und Bildfragmenten, macht der <strong>Film</strong> den<br />

Zuschauer zum Teilnehmer, der doch ein Ganz-Anderer<br />

bleibt, ein Fremder vor diesen Schicksalen.<br />

Die langsame, melancholische Erzählweise, die uns<br />

einlädt, bei unsern eigenen Gedanken zu bleiben und<br />

n<strong>ich</strong>t uns von einer s<strong>ich</strong> überstürzenden Handlung forttragen<br />

zu lassen, br<strong>ich</strong>t schockierend auf, wenn die<br />

Erzählung von der polnischen in die deutsche Sprache<br />

umkippt. Wenn die Interviewten ihre Peiniger in deren<br />

eigener Sprache zitieren, überfällt uns ein Schrecken,<br />

der die verbrauchten <strong>„</strong>Bilder <strong>des</strong> Grauens“ weit übersteigt.<br />

Wie da etwas mitgeteilt wird, sarkastisch und<br />

mit bitter lächelndem Abscheu, Fassungslosigkeit in<br />

Stimme und Mimik, was wir also als Gegenwärtiges<br />

auf der Leinwand sehen - anstatt der Historie, die<br />

abwesend nur <strong>„</strong>Wissen“ ist - das löst in uns den Schauder<br />

aus: <strong>„</strong>Wir brauchen Leute zur Arbeit, sonst hätte <strong>ich</strong><br />

aus dir schon Seife gemacht“ und (zu einem, der zur<br />

Prügelstrafe n<strong>ich</strong>t schnell genug die Kleider ablegt)<br />

<strong>„</strong>Runter mit dem Zeug!“ und (sachkundig der SS-Führer<br />

zu seinen Mordschützen, als einige Juden bei der<br />

<strong>„</strong>Selektion“ fliehen) <strong>„</strong>Was schießt ihr? Wo werden die<br />

wohl hinlaufen?“ Oder die scheinbare Beiläufigkeit,<br />

mit der die Interviewte von der Vergasungs-Ökonomie<br />

redet. Die vielen Wörter aus dem schreckl<strong>ich</strong>en Alltag,<br />

die von den Überlebenden immer nur auf deutsch wiedergegeben<br />

werden können: Aussiedlung, Durchgangslager,<br />

Umschlagplatz, Rampe, Ordnungsdienst und<br />

immer wieder: <strong>„</strong>Jawohl!“ Den deutschen Zuschauer,<br />

der diese Sprache hört und weiß, daß es die Sprache<br />

<strong>des</strong> To<strong>des</strong> war, muß sie erbeben lassen: Es ist die eigene!<br />

Und wenn dann die Verordnungen und Dienstanweisungen<br />

hinzukommen, die Urteile und Maßnahmen,<br />

die Betriebsanleitungen für den Völkermord,<br />

dann kann er n<strong>ich</strong>t mehr verdrängen, daß da auch von<br />

seiner eigenen unmittelbaren Gegenwart die Rede ist.<br />

Diese Sprache der Bürokratie und der technischen<br />

Rationalität, in der die Menschenvern<strong>ich</strong>tung in Teilschritte<br />

zerlegt wurde, die es dem einzelnen erlaubten,<br />

ohne Aufbegehren den geforderten Beitrag zu leisten,<br />

führt ins Heute. Sie erzählt unsere Vergangenheit in die<br />

Jetzt-Zeit hinein. D<strong>ich</strong>t daneben, direkt nebenan. Das<br />

ist unser <strong>„</strong><strong>Film</strong>erlebnis“.<br />

VERZEIHUNG, ICH LEBE scheint ein kleiner <strong>Film</strong>,<br />

beschränkt in Umfang und Horizont. Aber er öffnet<br />

einen Kosmos aus Vergangenheit und Gegenwart, der<br />

den Zuschauer herausfordert, weil er ihn mit s<strong>ich</strong> selbst<br />

konfrontiert. Wir müssen den Gedanken ertragen, daß<br />

die Vergangenheit nie vergeht. Daß wir sie mit uns in<br />

die Zukunft nehmen.<br />

Umzug ins Ghetto von Bedzin<br />

Mutter und Kind im Bedziner Ghetto<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 9<br />

BEDZIN (dt. Bendsburg), polnische Stadt in der<br />

Woiwodschaft Katowice (Schlesien), bereits im Mittelalter<br />

gegründet. Die Gesch<strong>ich</strong>te der jüdischen Gemeinde<br />

re<strong>ich</strong>t bis ins späte Mittelalter zurück. In der zweiten<br />

Hälfte <strong>des</strong> 19. Jahrhunderts begann für Bedzin eine<br />

Phase schneller industrieller Entwicklung. 1931 zählte<br />

die jüdische Bevölkerung 21.625 Personen (45,5 Prozent<br />

der Gesamtbevölkerung), und vor dem Zweiten<br />

Weltkrieg war sie auf annähernd 27.000 angewachsen.<br />

Die deutsche Besatzung der Stadt am 4. September<br />

1939 hatte unmittelbare Folgen für die jüdischen Einwohner.<br />

Am 9. September 1939 setzten die Deutschen<br />

die Hauptsynagoge und 50 anliegende Häuser in<br />

Brand, ohne die Einwohner vorher zu unterr<strong>ich</strong>ten;<br />

viele Juden kamen im Feuer ums Leben. Es wurden<br />

einige antijüdische Verordnungen erlassen, die die<br />

Beschlagnahme jüdischen Eigentums und die<br />

Beschränkungen der Bewegungsfreiheit für die Juden<br />

vorsahen.<br />

Schon in einer frühen Phase der Besetzung wurde ein<br />

Judenrat einger<strong>ich</strong>tet, unter der Leitung von lokalen<br />

jüdischen Honoratioren. Juden mußten s<strong>ich</strong> für die<br />

Zwangsarbeit registrieren lassen. Einige wurden in<br />

Zwangsarbeiterlager nach Deutschland deportiert. Die<br />

Organisation dieser Deportationen wurde bald zur Aufgabe<br />

<strong>des</strong> Judenrats. Dieser mußte auch bei der Einr<strong>ich</strong>tung<br />

von deutschen Werkstätten helfen, in denen Juden<br />

beschäftigt wurden - in der Annahme, Arbeit zum Nutzen<br />

der Deutschen könne die Juden der Stadt retten.<br />

Im Mai 1942 begann, getarnt als <strong>„</strong>Neuansiedlung“, die<br />

Deportation der Juden von Bedzin in das Vern<strong>ich</strong>tungslager<br />

Auschwitz. Die Deportation erre<strong>ich</strong>te ihren<br />

Höhepunkt am 12. August 1942, als s<strong>ich</strong> alle Juden der<br />

Stadt an einem zentralen Ort einfinden mußten, angebl<strong>ich</strong><br />

um ihre Papiere abstempeln zu lassen. Es erfolgte<br />

eine <strong>„</strong>Selektion“, und 5000 Juden wurden in den Tod<br />

geschickt.<br />

Im Frühjahr 1943 wurden die Juden von Bedzin in ein<br />

Ghetto in Kamionka eingewiesen. Am 1. August 1943<br />

begann die Auflösung <strong>des</strong> Ghettos. Die Operation dauerte<br />

über zwei Wochen, anschließend wurden die Überlebenden<br />

Juden nach Auschwitz deportiert.<br />

Nach dem Krieg kehrten einige Juden aus Bedzin in die<br />

Stadt zurück, aber die jüdische Gemeinde wurde n<strong>ich</strong>t<br />

neu begründet.<br />

aus: Enzyklopädie <strong>des</strong> Holocaust.<br />

Hrsg.v. Israel Gutmann. Argon Verlag.<br />

Die Bedziner Synagoge vor dem 1.Weltkrieg<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 10<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 11<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 12<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 13<br />

Die Synagoge nach der Zerstörung 1939<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 14<br />

Am Rande <strong>des</strong> Abgrunds<br />

Ella Liebermann-Shiber, in Berlin geboren, mußte<br />

1938 mit ihrer Familie Berlin verlassen und nach Bedzin,<br />

Polen, ziehen. Mit der deutschen Besatzung findet<br />

s<strong>ich</strong> die Familie im Ghetto wieder. Im August 1943<br />

wurde Bedzin für 'judenrein' erklärt. Ella Liebermann-<br />

Shiber wurde zusammen mit ihrer Familie nach Auschwitz-Birkenau<br />

geschickt.<br />

Ihr Vater und ihre Geschwister wurden getötet. Ihr<br />

Leben und das ihrer Mutter wurden dank ihrer ze<strong>ich</strong>nerischen<br />

Begabung gerettet. Die Deutschen beauftragten<br />

sie mit Porträtmalerei. Sie überlebte und wurde im<br />

Mai 1945 befreit. Unmittelbar nach der Befreiung<br />

begann Ella Liebermann-Shiber, die Geschehnisse<br />

durch ihre Ze<strong>ich</strong>nungen zu dokumentieren.<br />

<strong>„</strong>Jeder Tag bedeutet Verfolgung, jeden Tag ein anderes<br />

Versteck, immer den Tod vor Augen. In der Nacht vom<br />

31. Juli zum 1. August 1943 wurden wir von Schüssen,<br />

Weinen und uns bekannten Schreien: 'Juden raus!'<br />

wach. Es gelang uns, in gebückter Haltung über den<br />

Hof zu rennen und unser Versteck zu erre<strong>ich</strong>en: eine<br />

Art Grab unter einem Abfallhaufen. Dort saßen wir,<br />

gebeugt und mit angewinkelten Knien: mein Vater,<br />

meine Mutter, mein kleiner Bruder, meine alte Tante<br />

und <strong>ich</strong>. Nur so hatten alle Platz.<br />

Wir hörten, wie die Juden zusammengetrieben und<br />

weggebracht wurden. Wir hörten die Schüsse und das<br />

Weinen der Kinder. Wir hörten das Schreien unserer<br />

Nachbarin, Frau Doktor Rechtschaft, ganz nah an dem<br />

Abfallhaufen. 'Mein Kind, mein<br />

Kind.' Schüsse und wieder<br />

Ruhe. Ich höre die kleine<br />

Luscha weinen, die 5jährige<br />

Tochter unserer Lehrerin, Frau<br />

Inwald.<br />

Drei Tage und drei Nächte hatten<br />

wir n<strong>ich</strong>ts zu essen und zu<br />

trinken. Dann begann uns der<br />

Durst zu quälen. Plötzl<strong>ich</strong><br />

näherte s<strong>ich</strong> jemand, und die<br />

Platte über uns wurde weggerückt.<br />

Der polnische Hausmeister<br />

riskierte sein Leben und<br />

rettete uns vor dem Hungertod.<br />

Er warf einen Brotlaib und eine<br />

Flasche Wasser hinunter in<br />

unser Grab. Wochenlang half er uns in der Not.<br />

Einige Tage hören wir Schüsse und Schreie. Le<strong>ich</strong>en<br />

werden auf den Abfallhaufen geworfen. Wir werden<br />

naß von dem Blut, das durch die Bretter und den Müll<br />

tropft. Später werden die Toten auf einen Lastwagen<br />

geladen, und auf den Abfallhaufen wird Kalk gestreut.<br />

Wir ersticken fast.<br />

Meine Tante verlor das Bewußtsein und starb, ohne<br />

wieder zu Bewußtsein zu kommen. Und wir hockten<br />

eingezwängt mit der Le<strong>ich</strong>e in diesem Loch.<br />

Eines Tages hörten wir eine Stimme: 'Wachtposten,<br />

hier verstecken s<strong>ich</strong> Juden, <strong>ich</strong> bin Deutscher, kommt<br />

mit, <strong>ich</strong> zeige euch den Polen, der die Juden mit<br />

Lebensmitteln versorgt.' Schritte bewegten s<strong>ich</strong> auf den<br />

Abfallhaufen zu, aber sie gingen weiter in R<strong>ich</strong>tung<br />

unseres Hauses. Einige unserer Nachbarn wurden mit<br />

Schlägen herausgetrieben. Dann wurde der Hausmeister,<br />

der uns geholfen hatte, auf den Hof gezerrt, brutal<br />

geschlagen und angeschrien: 'Wo verstecken s<strong>ich</strong> die<br />

Juden?'<br />

Der Pole weinte: 'Ich weiß n<strong>ich</strong>ts, <strong>ich</strong> weiß überhaupt<br />

n<strong>ich</strong>ts.'<br />

Er wurde weggeschleppt und nie wieder gesehen. Wir<br />

krochen aus dem Versteck und ergaben uns. Bevor wir<br />

nach Auschwitz geschickt wurden, brachte man uns ins<br />

Ghetto, um die verlassenen jüdischen Wohnungen in<br />

Ordnung zu bringen.“<br />

aus: Ella Liebermann-Shiber, Am Rande <strong>des</strong> Abgrunds.<br />

Alibaba Verlag, Ffm 97. Dort sind auch die Ze<strong>ich</strong>nungen abgebildet.<br />

Fotografien von Bedziner Juden aus dem Museum Auschwitz<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 15<br />

<strong>„</strong>Festessen und Sonderaktion“<br />

Aus dem Tagebuch<strong>des</strong> SS-Hauptsturmführers Prof. Dr.<br />

med. Kremer<br />

30. August 1942<br />

Abfahrt Prag 8.15 über Böhmisch Trüben, Olmütz,<br />

Prerau, Oderberg. Ankunft im K.L. Auschwitz 17.36.<br />

Im Lager wegen zahlre<strong>ich</strong>er Infektionskrankheiten<br />

(Fleckfieber, Malaria, Durchfälle) Quarantäne. Erhalte<br />

streng geheimen Instruktionsbefehl durch den Standortarzt<br />

Hauptsturmführer Uhlenbrock und werde im<br />

Haus der Waffen-SS in einem Hotelzimmer untergebracht.<br />

2. September 1942<br />

Zum 1. Male draußen um 3 Uhr früh bei einer Sonderaktion<br />

zugegen. Im Vergle<strong>ich</strong> hierzu erscheint mir<br />

das Dantesche Inferno fast wie eine Komödie.<br />

Umsonst wird Auschwitz n<strong>ich</strong>t das Lager der Vern<strong>ich</strong>tung<br />

genannt!<br />

5. September 1942<br />

Heute mittag bei einer Sonderaktion aus dem F.K.L.<br />

(Muselmänner): das Schreckl<strong>ich</strong>ste der Schrecken.<br />

Hschf. Thilo, Truppenarzt, hat recht, wenn er mir heute<br />

sagte, wir befänden uns hier am anus mundi. Abends<br />

gegen 8 Uhr wieder bei einer Sonderaktion aus<br />

Holland. Wegen der dabei abfallenden Sonderverpflegung,<br />

bestehend aus einem Fünftelliter Schnaps, 5 Zigaretten,<br />

100 g Wurst und Brot, drängen s<strong>ich</strong> die Männer<br />

zu solchen Aktionen. Heute und morgen (Sonntag)<br />

Dienst.<br />

9. September 1942<br />

Heute früh erhalte <strong>ich</strong> von meinem Rechtsanwalt in<br />

Münster, Prof. Dr. Hallermann, die höchst erfreul<strong>ich</strong>e<br />

Mitteilung, daß <strong>ich</strong> am 1.d.M. von meiner Frau geschieden<br />

bin. Ich sehe wieder Farben; ein schwarzer Vorhang<br />

ist von meinem Leben weggezogen! Später als Arzt bei<br />

der Ausführung der Prügelstrafe an 8 Häftlingen und<br />

bei einer Erschießung durch Kleinkaliber zugegen. Seifenflocken<br />

und zwei Stück Seife erhalten.<br />

20. September 1942<br />

Heute Sonntagnachmittag von 3-6 Uhr Konzert der<br />

Häftlingskapelle in herrl<strong>ich</strong>en Sonnenschein angehört:<br />

Kapellmeister Dirigent der Warschauer Staatsoper. 80<br />

Musiker. Mittags gabs Schweinebraten, abends<br />

gebackene Schleie.<br />

23. September 1942<br />

Heute Nacht bei der 6. und 7. Sonderaktion. Abends<br />

um 20 Uhr Aben<strong>des</strong>sen mit Obergruppenführer Pohl<br />

im Führerheim, ein wahres Festessen.<br />

3. Oktober 1942<br />

Heute lebendfrisches Material von menschl<strong>ich</strong>er Leber<br />

und Milz sowie vom Pankreas fixiert, dazu in absolutem<br />

Alkohol fixierte Läuse von Fleckfieberkranken. In<br />

Auschwitz liegen ganze Straßenzüge an Typhus darnieder.<br />

Habe mir <strong>des</strong>halb heute früh die erste Serumspritze<br />

gegen Abdominaltyphus verabfolgen lassen. Obersturmführer<br />

Schwarz an Fleckfieber erkrankt.<br />

16. Oktober 1942<br />

Heute Mittag das 2. Paket mit 300,- RM Wert an Frau<br />

Wizemann zum Aufheben abgeschickt, Seife, Seifenflocken,<br />

Nährmittel. Im Lager einen syndaktylen Juden<br />

photographieren lassen. (Vater und Onkel dasselbe Leiden.)<br />

18. Oktober 1942<br />

Bei naßkaltem Wetter heute Sonntagmorgen bei der 11.<br />

Sonderaktion (Holländer) zugegen. Gräßl<strong>ich</strong>e Szenen<br />

bei drei Frauen, die ums nackte Leben flehen.<br />

24. Oktober 1942<br />

Sechs Frauen aus der Budger Revolte abgeimpft.<br />

25. Oktober 1942<br />

Heute, Sonntag, bei wunderschönem Herbstwetter<br />

Radtour über Roisko nach Budy.<br />

Aus: Wir haben es gesehen. Zeugen sagen aus. Hrsg.<br />

Gerhard Schoenberner, Aufbau Verlag Berlin 1998<br />

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<strong>„</strong>...<strong>Verzeihung</strong>, <strong>ich</strong> <strong>lebe“</strong><br />

Ein Dokumentarfilm von Andrzej Klamt und Marek Pelc Seite 16<br />

Die Verheiml<strong>ich</strong>er und die Mitwisser<br />

Fernschreiben <strong>des</strong> Re<strong>ich</strong>ss<strong>ich</strong>erheitshauptamts an<br />

seine Diensstellen in den Haag, Paris, Brüssel und<br />

Metz vom 29. April 1943:<br />

<strong>„</strong>Das Lager Auschwitz hat aus naheliegenden Gründen<br />

erneut darum gebeten, den zu evakuierenden Juden vor<br />

dem Abtransport in keiner Weise irgendwelche beunruhigenden<br />

Eröffnungen über die Art ihrer bevorstehenden<br />

Verwendung zu machen.<br />

Insbesondere bitte <strong>ich</strong>, durch laufende Belehrungen der<br />

Begleitkommandos bemüht zu sein, daß auch während<br />

der Fahrt den Juden gegenüber n<strong>ich</strong>t irgendwelche<br />

besonderen Widerstand auslösende Andeutungen<br />

gemacht bzw. Vermutungen über die Art ihrer Unterbringung<br />

usw. ausgesprochen werden. Auschwitz muß<br />

mit Rücks<strong>ich</strong>t auf die Durchführung dringendster<br />

Arbeitsvorhaben darauf Wert legen, die Übernahme der<br />

Transporte und ihre weitere Einteilung mögl<strong>ich</strong>st reibungslos<br />

durchführen zu können.“<br />

Aus der ei<strong>des</strong>stattl<strong>ich</strong>en Erklärung <strong>des</strong> SS-Rottenführers<br />

Perry Broad beim Nürnberger Prozeß:<br />

<strong>„</strong>Ungefähr Ende 1942 wurde mit dem Bau von 4 großen<br />

Krematorien, die mit Gaskammern verbunden waren,<br />

in Birkenau begonnen. Die baul<strong>ich</strong>en Anlagen der Gaskammern,<br />

die bei den Krematorien I und II unter der<br />

Erde lagen und mit Aufzügen zu den Verbrennungsräumen<br />

versehen waren, müssen den Zivilarbeitern über<br />

die tatsächl<strong>ich</strong>e Verwendung dieser Kammern Aufschluß<br />

gegeben haben. Außerdem war einer der provisorischen<br />

Gasbunker, der damals noch in Betrieb war,<br />

von der Baustelle der Krematorien IV und V aus zu<br />

sehen. Die Zivilarbeiter, die außerhalb <strong>des</strong> Lagerbere<strong>ich</strong>s<br />

wohnten, mußten gesehen haben, wie aus einem<br />

der Bunker Le<strong>ich</strong>en herausgezerrt und auf Loren verladen<br />

wurden, um dann auf offenen Brandstätten verbrannt<br />

zu werden. Es gab in der Umgebung von Birkenau<br />

etwa 10 große Brandstätten, wo 200-1000 Menschen<br />

jeweils auf Scheiterhaufen verbrannt wurden.<br />

Der Schein dieser Feuerstellen war min<strong>des</strong>tens in<br />

einem Umkreis von 30 km noch s<strong>ich</strong>tbar. Ebenso weit<br />

war der unverkennbare Geruch von verbranntem Fleisch<br />

zu bemerken. Es müssen also alle Bewohner von Auschwitz<br />

und den umliegenden Ortschaften sowie alle in<br />

den Fabriken beschäftigten Leute, das Eisenbahnpersonal,<br />

die umliegenden Polizeistationen und Reisende auf<br />

der Linie Krakau-Kattowitz die Tatsache gewußt<br />

haben, daß in Auschwitz tägl<strong>ich</strong> eine große Masse Le<strong>ich</strong>en<br />

verbrannt wurde.<br />

Die Transporte wurden von Begleitkommandos der<br />

Ordnungspolizei und von Eisenbahnbegleitpersonal<br />

der Re<strong>ich</strong>sbahn bis zur Ausladerampe, die zwischen<br />

Auschwitz und Birkenau lag, gebracht. Gle<strong>ich</strong> nach<br />

dem Ausladen begann die Aussonderung der für die<br />

Vergasung bestimmten Menschen. Die Züge standen<br />

meist noch einige Minuten leer an der Rampe, so daß<br />

die Eisenbahner und die Polizisten Gelegenheit hatten,<br />

diese Selektionen zu beobachten. Sie konnten weiterhin<br />

sehen, daß den Ankömmlingen ihr ganzes Hab und<br />

Gut abgenommen wurde, und konnten aus den<br />

Umständen entnehmen, daß sie ihre Sachen niemals<br />

wieder bekommen sollten.<br />

Die Eisenbahner blieben gerne längere Zeit an der Ausladerampe<br />

und täuschten selbst Maschinenschaden vor,<br />

um die von den Häftlingen zurückgelassenen Koffer zu<br />

bestehlen.<br />

Die als Telephonistinnen und Funkerinnen eingesetzten<br />

SS-Helferinnen haben von der Ankunft der Transporte<br />

und vom Inhalt sämtl<strong>ich</strong>er Fernschreiben Kenntnis<br />

gehabt. Es ist selbstverständl<strong>ich</strong>, daß sie im Laufe ihrer<br />

Tätigkeit den Sinn der Worte Aussiedlung, gesonderte<br />

Unterbringung und Sonderbehandlung erfahren haben.<br />

Selbstverständl<strong>ich</strong> müssen die Bewohner von Auschwitz<br />

und die Zivilangestellten der umliegenden Fabriken<br />

von Krupp, IG., Deutsche Ausrüstungswerke und anderer<br />

deutscher Firmen, die Häftlinge benutzten, von<br />

allen Vorkommnissen im Lager, insbesondere von den<br />

Gasaktionen gehört haben.<br />

Die Volksdeutschen Mittelstellen und die Re<strong>ich</strong>skasse,<br />

die die den Ermordeten abgenommenen Kleidungsstücke<br />

bzw. Wertsachen erhielten, müssen ebenfalls<br />

von diesen Aktionen gewußt haben. In diesen Dienststellen<br />

waren natürl<strong>ich</strong> sehr viele deutsche Zivilisten<br />

beschäftigt, die ihrerseits diese Kenntnis verbreitet<br />

haben werden.“<br />

Aus: Wir haben es gesehen. Zeugen sagen aus. Hrsg.<br />

Gerhard Schoenberner, Aufbau Verlag Berlin 1998<br />

Basis-<strong>Film</strong> Verleih, Körnerstr. 59, 12169 Berlin, Tel 030/793 51 61 /71, Fax 791 15 51<br />

internet: www.basisfilm.de • email: info@basisfilm.de

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