Jahresthema: "Eigenschaften Gottes" - MAGNIFICAT
Jahresthema: "Eigenschaften Gottes" - MAGNIFICAT
Jahresthema: "Eigenschaften Gottes" - MAGNIFICAT
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Hauptartikel aus Jahrgang<br />
Dezember 2007 bis November 2008<br />
<strong>Jahresthema</strong>:<br />
„<strong>Eigenschaften</strong> Gottes“<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER
Dezember 2007<br />
„Der nahe und der ferne Gott“<br />
Niemand hat Gott je gesehen.<br />
Der Einzige, der Gott ist und am Herzen des Vaters ruht,<br />
er hat Kunde gebracht.<br />
Evangelium nach Johannes – Kapitel 1, Vers 18<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Wenn wir im neuen Jahrgang von Magnificat Gott selbst in<br />
den Mittelpunkt stellen, nehmen wir uns damit viel vor.<br />
Doch es ist uns wichtig, Ihnen anhand seiner biblischen Namen<br />
und <strong>Eigenschaften</strong> neue Wege zu eröffnen, sich seinem unaussprechlichen<br />
Geheimnis zu nähern. Ein wesentlicher Gesichtspunkt<br />
unseres Vorhabens wird sein, unsere noch immer stark<br />
philosophisch beeinflußten Gottesvorstellungen auf die Ermöglichung<br />
einer biblisch verankerten Gottesbeziehung hin zu<br />
überschreiten. Gott ist eben nicht nur ein menschlichem Geist<br />
mehr oder weniger erkennbares, aber letztlich fern bleibendes<br />
Weltprinzip. Er zeigt sich uns vielmehr als personales Gegenüber,<br />
das trotz seiner Unverfügbarkeit unsere Nähe sucht, noch<br />
ehe wir von uns aus an ihn denken. In besonderer Dichte kann<br />
uns dies deutlich werden, wenn wir Weihnachten als Fest der<br />
Ankunft Jesu Christi, des Messias – desjenigen also, der Gottes<br />
Herrschaft aufrichtet –, in unsere Zeit begehen. So ungewohnt<br />
uns diese Sicht vorkommen mag: mit dieser Haltung will die<br />
Liturgie der Advents- und Weihnachtszeit gefeiert werden.<br />
Wie die Ankunft des Herrn in unser Hier und Jetzt geschehen<br />
kann? Mir ist in der Beschäftigung mit Franz Rosenzweig eine<br />
jüdische Geschichte begegnet, die er in einem Brief von 1917 berichtet<br />
und die diese Frage für mich sehr treffend beantwortet:<br />
Ein Rabbi trifft am Eingang einer Höhle den Propheten Elias<br />
(nach Mal 3, 23 Vorläufer des Messias) und fragt ihn, wo der<br />
Messias sei. Auf die Auskunft, er sei in der Höhle, geht er hinein<br />
und fragt den Messias: Wann kommst du, Herr? Dieser antwortet:<br />
Heute. Da geht der Rabbi fröhlich hinaus und wartet bis zum<br />
Abend. Als der Messias ausbleibt, sagt der Rabbi zu Elias: Der<br />
Messias hat gelogen; er sagte, er käme heute. Elias entgegnet<br />
ihm: „Er meinte: ,Heute, wenn ihr auf meine Stimme hört.‘“<br />
(Vgl. Ps 95, 7)<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Christi Geburt und Verkündigung an die Hirten<br />
Limburger Evangeliar,<br />
Reichenau, Anfang 11. Jh.,<br />
Dom-Hs. 218, fol. 21r,<br />
© Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln<br />
Zu Beginn des 11. Jahrhunderts auf der Insel Reichenau entstanden, umfaßt<br />
diese Handschrift 217 Pergamentblätter. Eine Notiz auf der Rückseite des ersten<br />
Blattes vermerkt, daß der Codex sich im 12. Jahrhundert in einem Kloster<br />
Limburg befand, vermutlich in der von Kaiser Konrad II. 1025 gegründeten<br />
Benediktinerabtei Limburg an der Haardt oberhalb von Bad Dürkheim. Offenbleiben<br />
muß, ob die Handschrift als Geschenk des Kaisers zu gelten hat. Deutlich<br />
ist, daß das Evangeliar in Text, Stil, Malerei und Motiven der Malwerkstatt<br />
der Reichenau entspricht, vergleichbar dem Evangeliar Ottos III. Text und Bild<br />
sind einander zugeordnet, wobei dem Text der Evangelien jeweils ein ganzseitiges<br />
Bild vorangeht. Dabei folgen die Bilder dem historischen Verlauf des<br />
Lebens Jesu. Ein Vergleich mit Codices aus der Liuthargruppe, einer Untergruppe<br />
der Reichenauer Malschule, läßt Gemeinsamkeiten in den Motiven und<br />
auch in der Ikonographie erkennen. Trotz der Verbindung zu anderen zeitgenössischen<br />
Handschriften verleiht der Maler des Limburger Evangeliars durch<br />
den freien Umgang mit Vorbildern seinem Werk ein eigenständiges Gepräge.<br />
Im 19. Jahrhundert vermachte ein Pfarrer Knott aus Heimerzheim die Handschrift<br />
der Kölner Dombibliothek.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Im Zeichen des Kindes<br />
Auf leuchtendem Goldgrund gestaltet der Maler des Limburger<br />
Evangeliars zu Anfang des 11. Jahrhunderts die Geburt<br />
Christi und die Verkündigung an die Hirten draußen auf freiem<br />
Feld. Obwohl der zugrundeliegende Text des Lukasevangeliums<br />
bemerkt, daß „in der Herberge kein Platz für sie war“<br />
(Lk 2, 7), so daß Maria und Josef nur ein Futtertrog in einem<br />
Stall bleibt, um das Kind zu betten, gibt der Maler dem Geschehen<br />
einen eher festlichen Rahmen. Er erweckt die Illusion,<br />
als sei Jesus in einem stattlichen Haus geboren worden. Die beiden<br />
Säulen und der schmuckvolle Giebel lassen an ein herrschaftliches<br />
Haus denken, wie es für die Geburt des Messias<br />
angemessen gewesen wäre. Vielleicht will der Maler mit dem<br />
personifizierten Mond und den Winden im Giebel auf Nacht<br />
und Kälte hinweisen und mit den vier Gesichtern auf den Kapitellen<br />
darauf, daß das Ereignis dieser heiligen Nacht wichtig ist<br />
für alle Menschen in jeder Himmelsrichtung. Mit Ochs und<br />
Esel allerdings – eine Erinnerung an Jes 1, 3 –, die neugierig auf<br />
das Kind in ihrem Futtertrog schauen, stellt der Illustrator das<br />
Geschehen wieder in die Erdenwirklichkeit hinein.<br />
Daß sich mit der Geburt Jesu Himmel und Erde unwiderruflich<br />
verbinden, versucht der Maler durch die Engel als Boten<br />
des himmlischen Bereichs anzudeuten. Zu beiden Seiten des<br />
Kindes weisen je drei Engel auf das Kind in der Krippe hin, voller<br />
Staunen über das Wunder, dessen Zeugen sie sind.<br />
Diagonal ins Bild gestellt, liegt Jesus, in weiße Tücher gehüllt,<br />
auf einem roten Tuch in einer so gar nicht an einen Futtertrog<br />
erinnernden, grün ausgelegten Krippe. Der Maler stellt Jesus<br />
als Erwachsenen dar. Dazu paßt das Kreuz im Nimbus, das vorausweist<br />
auf seinen Tod. Ebenso könnten die weißen Tücher an<br />
die Art erinnern, wie damals Tote bestattet wurden. Jesu Blick<br />
gilt den Engeln, die die Frohbotschaft von Gottes Heil für die<br />
Welt verkünden.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
Staunend, die Hände zu ihrem Kind hin ausgestreckt, ruht<br />
Maria am rechten Bildrand; Josef steht links. Beide können<br />
nicht begreifen, was hier geschieht. In der Farbe ihrer Kleider<br />
drückt der Maler ihre innere Nähe zu Jesus aus.<br />
Am unteren Bildrand lagern zwei Hirten bei ihren Herden.<br />
Ein großer Engel, durch seinen Botenstab als „Engel des Herrn“<br />
ausgezeichnet, tritt an sie heran, „und der Glanz des Herrn umstrahlte<br />
sie“ (Lk 2, 9). „Fürchtet euch nicht“, beruhigt der Engel<br />
die ängstlich dreinschauenden Hirten, „denn ich verkünde<br />
euch große Freude, die dem ganzen Volk zuteil werden soll:<br />
Heute ist euch in der Stadt Davids der Retter geboren; er ist der<br />
Messias, der Herr.“ (Lk 2, 10 f.)<br />
Die segnend weisende Hand des Engels begleitet die Botschaft,<br />
die der größere der beiden Hirten mit seiner Handbewegung<br />
gleichsam auffängt, während der andere seine Hände<br />
dem Engel entgegenstreckt. Um die Wahrheit dieser unglaublichen<br />
Nachricht zu unterstreichen, erläutert der himmlische<br />
Bote: „Ihr werdet ein Kind finden, das, in Windeln gewickelt,<br />
in einer Krippe liegt.“ (Lk 2, 12) Aus heutiger Perspektive sind<br />
ein Kind und Windeln als Zeichen nicht gerade dazu angetan,<br />
eine Botschaft von solcher Tragweite glaubwürdig zu machen.<br />
Diese einfachen Männer jedoch sind, so deutet der Maler an,<br />
offen für die Botschaft des Himmels.<br />
Die Geburt Jesu Christi bringt nach den Worten des Engels<br />
der ganzen Welt Freude; denn mit ihr ist die Liebe Gottes unter<br />
uns Mensch geworden. Darauf weist der Maler mit den leuchtenden<br />
Farben hin, die das Geheimnis der Weihnacht aufleuchten<br />
lassen. Als müßte die ganze Schöpfung hiervon ergriffen<br />
werden, durchziehen Pflanzen den Giebel des stilisierten<br />
Hauses, als wollten sie darüber hinauswachsen und der Welt<br />
verkünden, was geschehen ist.<br />
Im Zeichen des Kindes kommt die Rettung. Was Lukas in<br />
seinem „Kindheitsevangelium“ ausdrücken und was der Evangelist<br />
Johannes im Prolog seines Evangeliums theologisch aus-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
sagen will vom Fleisch gewordenen Wort, das versucht der<br />
Maler hier mit seinen Möglichkeiten. Doch für alle gilt: Das Geheimnis<br />
der Menschwerdung des Sohnes Gottes läßt sich nicht<br />
aufdecken oder erklären – weder in Worten noch in Farben. Es<br />
bleibt ein Geheimnis der göttlichen Liebe.<br />
Das Zeichen des Kindes will nicht nur unsere Gefühle ansprechen<br />
und uns eine selige Weihnachtsidylle bieten. Der Weg<br />
Jesu führt von der Krippe bis zum Kreuz. Das ist für den Maler<br />
klar, und das sollte auch uns klar sein, wenn wir uns ergreifen<br />
lassen von diesem wehrlosen Kind.<br />
Von den Hirten heißt es im Evangelium, daß sie das vom<br />
Engel Gehörte ernstnehmen. Sie sagen zueinander: „Kommt,<br />
wir gehen nach Betlehem, um das Ereignis zu sehen, das uns<br />
der Herr verkünden ließ.“ (Lk 2, 15) Gehen wir mit ihnen, offen<br />
und bereit für Gottes Überraschungen? Die Hirten lassen<br />
sich bewegen durch die Botschaft des Engels, und sie finden<br />
alles so, „wie es ihnen gesagt worden war“ (Lk 2, 20). Lassen<br />
auch wir uns von diesem Kind den Weg zeigen, der zur Verherrlichung<br />
Gottes führt und zum Frieden unter den Menschen<br />
(vgl. Lk 2, 14)?<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 372<br />
Gott – fern und nah<br />
Nachdenken über „Ich-bin-da“<br />
Du sollst dir kein Gottesbild machen ...“ heißt es im Buch<br />
Exodus (Ex 20, 4). Und doch können wir nicht anders. Wir<br />
müssen uns ein Bild von Gott machen. Wir müssen von ihm<br />
sprechen. Immer haben Menschen gefragt, und immer werden<br />
sie fragen: Wer ist Gott? Wie ist Gott? Wo ist Gott? Und sie<br />
haben nicht vergebens gefragt. Warum also das biblische Bilderverbot?<br />
Das Buch Levitikus gibt Antwort. „Ihr sollt euch<br />
keine Götzen machen“, heißt es dort (Lev 26, 1). Die biblischen<br />
Mahnungen könnte man etwa so übersetzen: Fragt nach Gott!<br />
Sucht nach ihm, findet Antworten auf die Fragen, die euch bedrängen,<br />
findet Bilder, findet Namen. Aber hört nicht auf, zu<br />
fragen! Hört nicht auf, i h n zu fragen! Hört im Finden nicht<br />
auf zu suchen! Hört!<br />
Im Sprechen hören<br />
In diesem Jahrgang von „Magnificat“ fragen wir nach Gott,<br />
nach Gottes <strong>Eigenschaften</strong>, nach den Attributen oder Namen,<br />
die Schrift und Tradition Gott zusprechen. Um im Finden nicht<br />
das Suchen und im Sprechen nicht das Hören zu vergessen,<br />
werden jeweils zwei widersprüchlich erscheinende, aber wohl<br />
eher sich ergänzende und wechselseitig klärende Aspekte Gottes<br />
– unserer Gottesbilder – zur Sprache kommen. Im Dezemberheft,<br />
in der beginnenden Adventszeit und zur Vorbereitung<br />
auf das Weihnachtsfest, fragen wir nach dem nahen und<br />
fernen Gott.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
373 Thema des Monats<br />
Komm nicht näher heran!<br />
Das Buch Exodus erzählt davon, daß Mose beim Weiden der<br />
Schafe dem Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs begegnet. Ein<br />
Dornbusch, der brennt und doch nicht verbrennt, zieht die Aufmerksamkeit<br />
des Hirten auf sich. Mose will näher kommen und<br />
genauer sehen, doch das wird ihm verwehrt. „Der Herr sagte:<br />
Komm nicht näher heran! Leg deine Schuhe ab; denn der Ort,<br />
wo du stehst, ist heiliger Boden.“ (Ex 3, 5)<br />
Ich bin da!<br />
Der heilige Gott, der sich dem Mose offenbaren will, bleibt im<br />
Folgenden nicht einfach auf Distanz, sondern schafft und verheißt<br />
unvergleichliche Nähe. „Ich bin der ‚Ich-bin-da‘. (...) So<br />
sollst du zu den Israeliten sagen: Der ‚Ich-bin-da‘ hat mich zu<br />
euch gesandt.“ (Ex 3, 14) Der Gott Abrahams zeigt sich Mose,<br />
weil ihn das Los der bedrückten Israeliten berührt. Ich bin da,<br />
um „euch aus dem Elend Ägyptens hinaufzuführen“ (Ex 3, 17).<br />
Das Volk Israel durfte in seiner Geschichte immer wieder erfahren,<br />
wie heilsam Gottes Nähe ist. Doch der „Ich-bin-da“ ist<br />
kein Dienstleister, und er ist nicht klein und handlich. Die Nähe<br />
dieses Gottes löst auch Furcht aus, Gottesfurcht: „Wer kann vor<br />
dem Herrn, diesem heiligen Gott, bestehen?“ (1 Sam 6, 20) Es<br />
ist nicht Panik, nicht blanke Angst, die hier aufsteigt; Staunen,<br />
Bewunderung, Ehrfurcht werden in diesen Worten laut. Wer so<br />
spricht, hat etwas von Gott verstanden. Wer so spricht, spürt in<br />
Gottes Nähe Gottes Anderssein. Wer so spricht, erkennt in Gottes<br />
Zuwendung die eigene Gottesferne.<br />
Der nahe Gott ist nicht zu fassen<br />
Die Bibel weiß von Gottes Nähe und Ferne. Sie erzählt von<br />
Menschen, die Gottes Nähe und seine Ferne erfahren haben.<br />
Dabei bemüht sie sich nicht einfach um Ausgewogenheit. Die<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 374<br />
Aussagen der Hl. Schrift wahren nicht den Proporz. Die biblischen<br />
Autoren wissen: Was immer wir sagen, wir fassen Gott<br />
damit nicht. Gottes Wirklichkeit ist anders als alle Wirklichkeiten,<br />
die wir ihm zusprechen und zuschreiben. Gottes Nähe ist<br />
unendlich intensiver, wirksamer, tröstlicher als alle Nähe, die<br />
wir Menschen in unserem Zusammenleben erfahren dürfen.<br />
Und sein Abstand zu uns ist so viel größer als jeder Abstand<br />
zwischen Menschen. Gott ist aber nicht nur „viel mehr als ...“<br />
und „viel weniger als ...“, er ist ganz anders. Gott sprengt alle<br />
Dimensionen, auch unsere Vorstellungen und Begriffe von<br />
Raum und Zeit. Wir können von Gott nicht angemessen sprechen.<br />
Aber können wir von ihm schweigen?<br />
Ganz anders – ganz der Deine<br />
Gottes Heiligkeit, wie es die Bibel nennt, Gottes Transzendenz,<br />
wie die Philosophen sagen, stehen nicht im Widerspruch zu<br />
seiner leidenschaftlichen Schöpfungs- und Menschenliebe.<br />
Gott ist nicht nur „totaliter aliter“ (ganz anders), sondern auch<br />
„totus tuus“ (ganz für Dich da, ganz der Deine). Aber gehen wir<br />
noch einen Schritt weiter. Gott ist nicht „entweder – oder“, er<br />
ist aber auch nicht nur „sowohl – als auch“. Wie fern wir ihm<br />
sind, erkennen wir an seinem Willen, uns nahe zu kommen.<br />
Gottes Transzendenz zeigt sich in seiner liebenden Immanenz:<br />
„Ich bin da“. Gerade in seiner unbedingten Zugewandtheit und<br />
Nähe ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und Gott und<br />
Vater Jesu Christi „totaliter aliter“.<br />
Befremdende, beschenkende Nähe<br />
In Jesus Christus, das ist das Geheimnis der Weihnacht, kommt<br />
Gottes eigenes Wort zur Welt. Gottes Sohn wird in einem konkreten<br />
Jahr an einem konkreten Ort von einem konkreten jüdischen<br />
Mädchen, der Jungfrau Maria, geboren. Gott ist in Jesus,<br />
dem Kind in der Krippe, ganz nah. Diese Nähe ist wunderbar.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
375 Unter die Lupe genommen<br />
Diese Nähe ist befremdlich. Ein Gott, der sich verletzlich<br />
macht? Gottes Wort wird Fleisch, wird hinfällig und sterblich?<br />
Der erhabene Gott setzt sich uns aus?<br />
Es wird darauf ankommen, daß wir uns selbst dem Geheimnis<br />
Gott, dem nahen und fernen Gott, aussetzen. Nur wenn wir<br />
uns von Gottes Nähe befremden lassen, können wir uns von ihr<br />
beschenken lassen.<br />
Susanne Sandherr<br />
„Der Fernnahe“ – ein vergessener<br />
mittelalterlicher Gottesname<br />
Weder das Geburtsjahr noch der Geburtsort der frommen<br />
Begine und Gotteslehrerin Marguerite Porete ist uns bekannt.<br />
Mit großer Wahrscheinlichkeit entstammt Marguerite<br />
Porete dem Patriziat der Stadt Valenciennes im nordfranzösischen<br />
Hennegau, wo sie, so der heutige Stand der Forschung,<br />
zwischen 1250 und 1260 zur Welt kam. Aktenkundig wurde<br />
hingegen der Zeitpunkt ihres Todes, da sie, als „rückfällige Ketzerin“<br />
verurteilt, im Jahr 1310 in Paris hingerichtet wurde. Die<br />
wichtigsten Quellen über Marguerite Porete sind – neben den<br />
Akten und Protokollen des Inquisitionsprozesses – Chroniken<br />
zur Geschichte Frankreichs im Mittelalter. In einer solchen<br />
Chronik wird sie einmal als „une beguine clergesse“, als eine<br />
„gebildete“ oder „intellektuelle“, wörtlich: als eine „klerikale“,<br />
Begine bezeichnet; der Klerus bildete damals ja den Stand<br />
der Gebildeten und Intellektuellen schlechthin. Die Beginen,<br />
denen Marguerite Porete hier zugeordnet wird, waren fromme<br />
christliche Frauen, die seit dem Ende des 12. Jahrhunderts eine<br />
neue religiöse Lebensform entwickelt hatten, die gleichsam einen<br />
dritten Weg zwischen Kloster und Ehe eröffnete.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 376<br />
Studiert man Poretes in den folgenden Jahrhunderten anonym<br />
überliefertes geistliches Lehrbuch „Der Spiegel der einfachen<br />
Seelen“, das sie – auch wenn bei ihrem gewaltsamen<br />
Ende politisches Kalkül von größerem Gewicht war als theologische<br />
Argumente – auf den Scheiterhaufen gebracht hatte, so<br />
zeigen sich nicht wenige Gemeinsamkeiten mit der das Paradox<br />
nicht scheuenden Theologie ihres Zeitgenossen Meister Eckhart<br />
(1260–1328). Was Marguerite Porete von Gott erfahren<br />
hat, bündelt sich wie in einem Prisma in einem neuen Gottesnamen:<br />
„der Fernnahe“ (im Altfranzösischen: „le Loingprés“).<br />
Damit spielt Marguerite Porete einerseits auf ein Motiv des höfischen<br />
Minnesangs an. Im Minnesang wird eine ferne Dame<br />
angesprochen und besungen, die immer unerreichbar ist. Unerfüllbare<br />
Minne galt als „fine Amour“, als reine, vollendete<br />
Liebe. Auch im „Spiegel“ spielt eine „Dame“ die Hauptrolle,<br />
„Dame Divine Amour“, die göttliche Liebe. Ihr gilt der ganze<br />
Einsatz der Seele, sie allein wird mit edler Liebe („Fine<br />
Amour“) begehrt. Doch anders als die ersehnte Geliebte des<br />
Minnesangs ist die göttliche Liebe nicht nur unnahbar, sondern<br />
zugleich nahbar. Sie ist der „Fernnahe“.<br />
Die Mitte der Rede von Gott als dem „Fernnahen“ ist das<br />
61. Kapitel des „Spiegel“, das exakt die Mitte des Buches bildet.<br />
Dort ist von einem „Unterpfand“ der göttlichen Herrlichkeit die<br />
Rede, das der „Fernnahe“ der Seele auf einer bestimmten<br />
Etappe ihres Weges zur wahren Freiheit, zur Freiheit in Gott,<br />
zukommen läßt. Der „Bräutigam der Seele“, Jesus Christus, gibt<br />
der Seele hierzu folgende Erklärung: „Dieser Fernnahe ist die<br />
Dreieinigkeit selbst, und sie macht von sich eine Kundgebung,<br />
die wir Blitzstrahl nennen. Nicht etwa darum, weil sich die<br />
Seele oder die Dreieinigkeit in Bewegung setzen würde, sondern<br />
darum, weil die Dreieinigkeit für die Seele das Aufscheinen<br />
ihrer Herrlichkeit bewirkt.“ (Spiegel, S. 99)<br />
Der dreifaltige Gott selbst bewirkt das Aufscheinen seiner<br />
Herrlichkeit in der menschlichen Seele, weil er weder auf Immanenz<br />
noch auf Transzendenz festgelegt werden kann, weder<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
377 Unter die Lupe genommen<br />
nur fern ist noch nur nah. Gott ist fernnah: Diese paradoxe Aussage<br />
hat einen christologischen Grund. Der Mensch kann im<br />
Heiligen Geist Sohn und Tochter Gottes werden, weil Gottes<br />
Liebe in Christus die unendliche Distanz überwindet, die den<br />
Menschen von Gott trennt. Gott ist der Fernnahe, weil er Liebe<br />
ist, die den Weg der Befreiung und Verwandlung der Seele anstößt,<br />
trägt, begleitet und vollendet.<br />
Der Gottesname „der Fernnahe“ ist paradox, widerspricht<br />
dem „gesunden Menschenverstand“. Wie kann etwas oder jemand<br />
zugleich fern und nah sein? Doch gerade um die Unfaßbarkeit<br />
Gottes geht es ja. Gott ist nicht zu fassen. Er ist nicht<br />
dies noch das. In ihm finden die Gegensätze zusammen. Gott<br />
ist jenseits unseres Erkennens und Wahrnehmens, er übersteigt<br />
all unsere Versuche, ihn zu begreifen. Und doch ist er uns nah:<br />
in seiner Schöpfung, in der Heilsgeschichte, in jeder Lebensgeschichte,<br />
im innersten Inneren eines jeden Menschen. Gott ist<br />
der Andere, der ganz Andere, und doch ist er mir näher, als ich<br />
mir selber bin, wie es der heilige Augustinus immer wieder gesagt<br />
hat.<br />
Gott ist „der zugleich sehr ferne und sehr nahe Fernnahe“,<br />
heißt es im 98. Kapitel des „Spiegel“. Gott ist der Eine, der Einfache<br />
und Einzige, der sich selbst genügt, und zugleich ist er in<br />
sich dreifaltige Liebe, die sich in Freiheit verströmt und an das<br />
geschaffene Du verschenkt.<br />
Wie kann aber das Geschöpf den Schöpfer empfangen? Die<br />
Antwort des „Spiegel“ und einer großen mystischen Tradition:<br />
Gott hat im Menschen ein Vermögen angelegt, das seiner Fernnähe<br />
Antwort geben kann. Es selbst ist „fernnah“. Es ist ungeschaffen<br />
wie Gott selbst. Dieses „Mehr“ in der menschlichen<br />
Seele kann, unter Gottes Führung, freigelegt werden. Solche<br />
Freilegung bedeutet Befreiung. Wenn die Seele nicht davor zurückschreckt,<br />
ihr eigenes „Nichts“, ihre Geschöpflichkeit, zu<br />
erkennen, kehrt sie zu dem Punkt zurück, wo sie vor ihrer<br />
Schöpfung war. „Der Ferne ist ebenso ein Naher. Denn die<br />
Seele erkennt in sich selbst jenen Fernen als nahe, weil er sie<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 378<br />
immer in der Einheit mit seinem Wollen hält. (...) Und durch<br />
die Umwandlung der Liebe ist sie das, was Gott ist, in jenem<br />
Punkt, in dem sie war, bevor sie aus der Güte Gottes ausgeflossen<br />
ist.“ (Spiegel, S. 208)<br />
Marguerite Poretes „Spiegel der einfachen Seelen“ ist ein Reiseführer<br />
in das Land des Lebens, in das Land der Freiheit. Es erinnert<br />
den Menschen an seine innige Gemeinschaft mit dem<br />
„Fernnahen“, mit Gott.<br />
Susanne Sandherr<br />
Margareta Porete, Der Spiegel der einfachen Seelen. Wege der<br />
Frauenmystik. Aus dem Altfranzösischen übertragen und mit einem<br />
Nachwort und Anmerkungen von Louise Gnädinger, Zürich<br />
und München 1987. Diese erste deutsche Übersetzung des altfranzösischen<br />
Textes ist im Buchhandel derzeit leider nicht erhältlich.<br />
„Ich steh an deiner Krippe hier“<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 266.<br />
Das Herz hat seine eigene Logik. Sie ist gewiß nicht die eines<br />
lauten Kulturbetriebs, aber auch nicht die der kirchlich gefeierten<br />
Jubiläen und Jahrestage. Doch solche Anlässe lenken<br />
das Augenmerk vielleicht auf etwas, das unsere Beachtung<br />
jederzeit verdient. Auch ohne das nun zu Ende gehende Paul-<br />
Gerhardt-Jahr wäre Gerhardts großes Weihnachtslied „Ich steh<br />
an deiner Krippe hier“ unserer ganzen Aufmerksamkeit wert.<br />
Um welches Lied geht es? Im Gesangbuch von Paul Gerhardts<br />
Freund, des Kantors Johann Crüger (1598–1662), hat das Lied<br />
15 Strophen. Im „Gotteslob“ sind davon vier erhalten, die Strophen<br />
1 und 3–5 des Originals. Im „Evangelischen Gesangbuch“<br />
finden sich neun Strophen, neben jenen, die auch das „Gotteslob“<br />
bietet, die siebte, zehnte, elfte, 13. und 14. Strophe der<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
379 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
Liedfassung aus Crügers Gesangbuch „Praxis Pietatis Melica“<br />
von 1653. Wir folgen der Strophenauswahl im „Gotteslob“.<br />
„Ich steh an deiner Krippe hier“<br />
Die erste Strophe ist erfüllt von andächtigem Staunen. Ein Ich<br />
ist angekommen, an einem Endpunkt, einem Höhepunkt: „Ich<br />
steh an deiner Krippe hier.“ Glück beseelt dieses Ich ganz und<br />
gar. Es ist das Glück des Liebenden. Wer wirklich liebt, will<br />
geben und kann es auch. „Ich komme, bring’ und schenke dir“,<br />
„Nimm hin“, „und laß dir’s wohl gefallen“, sagt das Lied: Bitte,<br />
nimm meine Gabe an, und habe an ihr – an mir – deine<br />
Freude. Denn diese Gabe ist nichts anderes als das Ich selbst,<br />
„mein Geist und Sinn, / Herz, Seel’ und Mut“. So ist das in der<br />
Liebe. Der Geliebte, der Beschenkte, das Krippenkind hat dem<br />
liebenden, schenkenden, vor der Krippe Stehenden alles gegeben,<br />
was dieser gibt. Auch das ist die Logik der Liebe.<br />
„Da ich noch nicht geboren war“<br />
In der zweiten Strophe sehen wir deutlicher, daß diese Liebe<br />
unvergleichlich ist und was sie einzigartig macht. Oder besser:<br />
wir sehen, daß sie sich einer Liebe verdankt, die der Grund<br />
dafür ist, daß es überhaupt Liebe geben kann und daß Liebe<br />
geben kann. Die Geburt von Betlehem, die große Liebestat Gottes,<br />
geht dem Leben, Lieben und Geben des vor der Krippe<br />
anbetend stehenden Menschen voraus: „Da ich noch nicht geboren<br />
war, / da bist du mir geboren / und hast mich dir zu eigen<br />
gar, / eh’ ich dich kannt, erkoren.“ Doch es geht noch weiter<br />
hinunter oder noch weiter hinauf. Es geht um eine Geburt,<br />
die auch jener vor zweitausend Jahren noch vorausliegt, weil<br />
sie in einer anderen Dimension liegt, in einer „Zeit“ vor der<br />
Zeit. „Vor aller Zeit“, vor der Schöpfung, ist der Sohn, das ewige<br />
Wort, aus dem Vater geboren, so beten wir im Glaubensbekenntnis.<br />
So heißt es auch hier: „Eh’ ich durch deine Hand<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 380<br />
gemacht, / da hast du schon bei dir bedacht, / wie du mein<br />
wolltest werden.“ Der menschlichen Liebeswahl geht Gottes<br />
Entschiedenheit zur Liebe, die jeden Menschen erwählt, als sei<br />
er einzig auf der Welt, ermöglichend voraus.<br />
„Ich lag in tiefer Todesnacht“<br />
Das Ich erfährt überwältigt die nächste Nähe Gottes in dem<br />
Kind in der Krippe. Es weiß aber auch um sein eigenes Fernsein:<br />
„Ich lag in tiefster Todesnacht“. Ohne die „Sonne“ Christus,<br />
die unsere Dunkelheit erhellt, den Menschen erleuchtet<br />
und ihm das Licht des Glaubens bringt, wäre das Ich in Nacht<br />
verloren. Doch die heilige Nacht kündet das Ende der Nacht an.<br />
Es ist Mitternacht, und die Zeitenwende von Bethlehem<br />
schenkt dem Ich eine Lebenswende, schickt ihn auf den Weg<br />
vom Tod ins Leben.<br />
„Ich sehe dich mit Freuden an“<br />
Schauen, bloß schauen zu wollen, sich am Anblick des Geliebten<br />
zu freuen, ja zu sättigen, ohne daß die Sehnsucht kleiner<br />
würde oder gar schwände, das ist für das Ich des Gedichts der<br />
Stand der Dinge. Die Suchbewegung des Glaubens, des Lebens<br />
ist zum Stillstand gelangt, doch zu einem Stillstand eigener Art.<br />
Das Ich spürt sein Unvermögen – „und weil ich nun nichts weiter<br />
kann“ – und zugleich seine äußerste Erfüllung – „bleib ich<br />
anbetend stehen“.<br />
„Wir suchen das Unbedingte und finden immer nur Dinge“,<br />
heißt es bei dem Romantiker Novalis. Das Ich in Paul Gerhardts<br />
Lied ist vom Unbedingten gefunden worden: vom bedingungslosen<br />
Ja eines Gottes, der in der Geburt von Betlehem den Menschen,<br />
jedem Menschen, ganz nah kommen wollte. Statt nun<br />
nach Gründen für dieses unergründliche Geheimnis zu forschen<br />
in seiner „Seel“ und seinem „Sinn“, will sich das Ich,<br />
„Seel“ und „Sinn“, nur dem Du öffnen – zu dankbarem, anbe-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
381 Die Mitte erschließen<br />
tendem Staunen, zum meertiefen Abgrund, der Gottes grundloser,<br />
abgründiger Liebe Gottes gewachsen wäre: „O daß mein<br />
Sinn ein Abgrund wär / und meine Seel’ ein weites Meer, / daß<br />
ich dich möchte fassen.“ Ein wahrer Weihnachtswunsch; ein<br />
bestürzender, ein herzensfrommer Wunsch.<br />
Susanne Sandherr<br />
Ein Haus aus lebendigen Steinen<br />
Beim Besuch fremder Städte und Länder gehören Kirchengebäude<br />
zu den interessantesten und beliebtesten Besichtigungsobjekten.<br />
Aufgrund ihres meist hohen Alters sind sie<br />
einzigartige Zeugnisse vergangener Kultur-, Architektur- und<br />
Kunstepochen. Aber auch bei Kirchen aus jüngerer Zeit handelt<br />
es sich oft um Gebäude von hoher Qualität. An einem Kirchengebäude<br />
kann die ganze Glaubens-, Lebens- und Gedankenwelt<br />
einer Epoche greifbar werden – und zugleich deren<br />
geschichtliche Veränderungen.<br />
Kirchengebäude erleben gerade heute eine wachsende Bedeutung<br />
für die Wahrnehmung des Christlichen in unserer Gesellschaft.<br />
Zugleich wirken sie identitätsstiftend nach innen,<br />
kennzeichnen sie doch den Mittelpunkt einer Glaubens- und<br />
Lebensgemeinschaft. Wie wichtig der letztere Aspekt ist, zeigt<br />
sich daran, daß es in ostdeutschen Dörfern Gruppen gibt, die<br />
sich – auch unter Mitwirkung von Nichtchristen – für den Erhalt<br />
und die Renovierung der (meist evangelischen) Dorfkirchen<br />
einsetzen.<br />
Betritt eine Reisegruppe ein Kirchengebäude, so sind es in der<br />
Regel ganz unterschiedliche Aspekte, die den einzelnen als erstes<br />
auffallen. Während bei den einen der Blick sofort in die<br />
Höhe geht und sie den Raum als Ganzes erfassen möchten, su-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 382<br />
chen andere Bilder oder Fenster auf, um sie näher zu betrachten.<br />
Die einen werden zuerst zum Altarraum als Zentrum der<br />
Kirche gehen, andere beginnen bei den Devotionsorten, die ihnen<br />
in ihrer persönlichen Frömmigkeit wichtig sind. Für manchen<br />
ist der Klang im Raum wichtig, z. B. wenn die Orgel spielt<br />
oder gesungen wird, oder aber die Stille, die sich durch die<br />
Dämpfung der Geräusche von außen ergibt. Während für die einen<br />
die Architektur entscheidend ist, steht für andere die liturgische<br />
Dimension im Vordergrund. Letztlich müssen alle<br />
Aspekte zusammengebunden werden.<br />
Unser Bild vom Kirchenraum ist mit erheblichen Emotionen<br />
verbunden, so daß es Räume gibt, in denen wir uns wohl fühlen<br />
und Gottesdienst feiern mögen, während uns andere nicht<br />
zusagen. Die emotionale Bindung von Gemeinden an bestimmte<br />
Kirchenräume zeigt sich anschaulich in der momentanen<br />
– teils heftig geführten – Diskussion um die Aufgabe oder<br />
veränderte Nutzung von Kirchengebäuden.<br />
Wir wollen deshalb in den folgenden Monaten in der Rubrik<br />
„Die Mitte erschließen“ einzelne Aspekte des Kirchenraumes<br />
und der liturgischen Orte betrachten. Unser Blickwinkel soll<br />
natürlich primär ein liturgischer sein, in den sich die anderen<br />
Dimensionen einordnen.<br />
Daß die theologische Betrachtung die Leitlinie bilden muß,<br />
wird schon deutlich, wenn wir kurz das Wort „Kirche“ untersuchen,<br />
das wir für das Gebäude verwenden. Das deutsche<br />
Wort „Kirche“ leitet sich vom griechischen Wort „kyriake“ ab,<br />
das „dem Herrn gehörig“ bedeutet. In der griechischen und<br />
lateinischen Liturgiesprache bedeutet das Wort „ecclesia“, das<br />
wir ebenfalls auf das Kirchengebäude beziehen, die Gemeinschaft<br />
der „Herausgerufenen“, d. h. der Menschen, die Gottes<br />
Ruf zur Sammlung gefolgt sind. Kirche bezeichnet zunächst<br />
nicht ein Gebäude, sondern Menschen, die sich vom Herrn ge-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
383 Die Mitte erschließen<br />
rufen wissen und sich in seinem Namen versammeln. Entsprechend<br />
sind die frühesten Bezeichnungen für den christlichen<br />
Gottesdienst Ausdrücke, die dieses Versammeln benennen (vgl.<br />
z. B. 1 Kor 11, 17 f. 20; 14, 23.26). Während das Alte Testament<br />
Gott selbst als den versteht, der die Gemeinde (hebr.: qahal)<br />
zusammenruft (Ex 19, 6 f.; Dtn 4, 10), identifiziert die junge<br />
Christengemeinde den Rufer mit Christus. Sie weiß den erhöhten<br />
Herrn im Heiligen Geist in ihrer Mitte präsent: „Wo zwei<br />
oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten<br />
unter ihnen.“ (Mt 18, 20) Von daher ist Christus selbst das erste<br />
„Subjekt“ jeden Gottesdienstes, erst nachgeordnet ist die gegliederte<br />
Gemeinde die Trägerin der liturgischen Handlung.<br />
Wie eng die Bindung der Liturgie an die Versammlung ist, zeigt<br />
sich, wenn das griechische Wort „Synaxis“ (Versammlung) bis<br />
ins Mittelalter als Bezeichnung für die Eucharistiefeier verwendet<br />
wird. In der Eucharistiefeier erfährt sich nämlich die<br />
Gemeinde nicht nur als vom Herrn zusammengerufen, sie begegnet<br />
ihm in der Verkündigung der Heiligen Schrift und im<br />
Empfang der eucharistischen Gaben. Ziel der Feier ist es, wie es<br />
die Eucharistischen Hochgebete in der Kommunionepiklese<br />
ausdrücken, noch mehr ein Leib und ein Geist in Christus zu<br />
werden.<br />
Der „Raum“ der liturgischen Vergegenwärtigung Christi ist also<br />
zunächst die versammelte Gemeinde, nicht ein konkretes Gebäude.<br />
Das Neue Testament bezeichnet deshalb die Getauften<br />
nicht nur als Leib Christi, sondern als Tempel Gottes, in dem<br />
der Geist Gottes wohnt (1 Kor 3, 16). Der erste Petrusbrief<br />
spricht sogar von den Menschen als lebendigen Steinen: „Laßt<br />
euch als lebendige Steine zu einem geistigen Haus aufbauen, zu<br />
einer heiligen Priesterschaft, um durch Jesus Christus geistige<br />
Opfer dazubringen, die Gott gefallen.“ (1 Petr 2, 5)<br />
Von daher erhalten die Kirchengebäude ihren Wert erst aus<br />
der Versammlung der christlichen Gemeinde und der Feier des<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 384<br />
Gottesdienstes. Entsprechend sind die Christen anfangs auch<br />
ohne eigene Gottesdiensträume ausgekommen und haben sich<br />
in Wohnungen getroffen. Nur folgerichtig verlangt die „Allgemeine<br />
Einführung ins Meßbuch“ in Nr. 253: „Zur Feier der<br />
Eucharistie versammelt sich das Volk Gottes in einem Kirchenraum;<br />
steht keiner zu Verfügung, kann ein anderer Raum gewählt<br />
werden, der eine würdige Feier gewährleistet.“ So sinnvoll<br />
es ist, feste Kirchengebäude zu benutzen, so bleibt doch die<br />
Ermöglichung der Feier der Liturgie das ausschlaggebende Kriterium,<br />
das ein Gebäude zum liturgischen Raum macht: „Auf<br />
jeden Fall müssen die Räume für den Vollzug der Liturgie geeignet<br />
sein und die tätige Teilnahme der Gläubigen gewährleisten.“<br />
(ebd.) Diese Forderung ist auch beim Umgang mit Kirchenräumen,<br />
die für ein anderes Liturgiekonzept als das<br />
heutige gebaut wurden, zu berücksichtigen.<br />
Damit sind entscheidende Kriterien benannt, die uns in den<br />
weiteren Überlegungen zum Kirchenraum begleiten werden.<br />
Friedrich Lurz<br />
Eine gute Informationsgrundlage zur aktuellen Diskussion um<br />
Aufgabe und Umnutzung von (hier modernen) Kirchenbauten<br />
bietet der Katalog der Wanderausstellung „Schätze! Kirchen des<br />
20. Jahrhunderts“ der „DG Deutsche Gesellschaft für christliche<br />
Kunst“ von 2007 (10,00 €). Neben dem Katalog wird eine zugehörige<br />
DVD „Gefährdete Räume“ (17,80 €) angeboten. Beide<br />
Titel sind zu beziehen bei:<br />
VzF Deutsches Liturgisches Institut<br />
Postfach 2628, D-54216 Trier<br />
Tel: 06 51 / 9 48 08-50, Fax: 06 51 / 9 48 08-33<br />
Mail: dli@liturgie.de<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
385 Engagiertes Christsein<br />
Gottes Un-Weltlichkeit<br />
Zur Theologie Alfons Deisslers<br />
Mit dem Namen des früheren Freiburger Alttestamentlers<br />
Alfons Deissler verbinden sich vor allem zwei Werke,<br />
durch die er auf Theologie und Spiritualität nachhaltig eingewirkt<br />
hat: Seine auch heute noch lesenswerte Auslegung der<br />
Psalmen von 1963/64 und sein Standardwerk zur alttestamentlichen<br />
Theologie, „Die Grundbotschaft des Alten Testaments“,<br />
das 1972 erstmals veröffentlicht und seither mehrfach – erst<br />
2006 in einer völligen Überarbeitung – neu aufgelegt wurde.<br />
Deissler wurde am 2. April 1914 in Weitenung bei Bühl geboren.<br />
Nach dem Studium der Philosophie und Theologie an der<br />
Universität Freiburg wurde er 1938 im Fach Dogmatik promoviert<br />
und 1939 zum Priester geweiht. Wenig später folgte die<br />
Einberufung zum Sanitätsdienst. Nach Kriegsende war er zunächst<br />
Repetitor am Collegium Borromäum, dem Freiburger<br />
Priesterseminar, und studierte von 1948 bis 1950 am Institut<br />
Catholique und an der Sorbonne in Paris. 1951 folgte mit einer<br />
Arbeit über „Psalm 119 (118) und seine Theologie“ die Habilitation<br />
für das Fach Altes Testament, das er von 1951 bis 1982<br />
als Professor an der Universität Freiburg lehrte. Auf dem Hintergrund<br />
dieses Werdeganges erklärt sich Deisslers besondere<br />
Fähigkeit, aus der Vielfalt der alttestamentlichen Texte die verbindenden<br />
Grundlinien herauszuarbeiten und sie über das wissenschaftliche<br />
Fachpublikum hinaus auch anderen Interessierten<br />
zu vermitteln. Wie präzis er bestimmte Sachverhalte auf<br />
den Punkt zu bringen vermag, läßt seine systematisch-theologische<br />
Schulung erkennen, und die geistliche und existentielle<br />
Tiefe, mit der er seine Einsichten vermittelt, verrät seine Erfahrung<br />
als geistlicher Begleiter. Zu seinem 70. Geburtstag<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 386<br />
schrieb sein Schüler Rudolf Mosis, die historisch-kritische Auseinandersetzung<br />
mit alttestamentlichen Texten sei für Deissler<br />
nie Selbstzweck gewesen. „Sie bildete vielmehr den einen Pfeiler<br />
einer Brücke, auf dem die Botschaft des fernen Glaubenszeugnisses<br />
einer alten Zeit hinübergebracht werden sollte und<br />
konnte in eine anders geartete Zeit, die gleichwohl die alte Botschaft<br />
braucht und sucht.“ Somit habe Deisslers wissenschaftliches<br />
Bemühen um die Texte des Alten Testamentes „immer,<br />
mehr oder weniger direkt, im Dienste der Glaubensverkündigung,<br />
im Dienste des neubundlichen Gottesvolkes“ gestanden.<br />
Nach Deissler bildet die „Un-Weltlichkeit“ Jahwes den Kern des<br />
alttestamentlichen Denkens. Der Gott Israels überschreitet<br />
(„transzendiert“) die uns zugängliche Welt nicht nur quantitativ,<br />
so daß er lediglich größer wäre als alles, was wir Menschen<br />
uns vorstellen können. Nein, diese Transzendenz hat qualitativen<br />
Charakter: Gott ist ganz anders, als wir aufgrund unserer<br />
Erfahrungen zu denken und wahrzunehmen gewohnt sind.<br />
Zugleich aber offenbart sich Gott den Menschen in der Geschichte,<br />
und es ist gerade diese Selbstoffenbarung, die den<br />
Gott auszeichnet, dessen Wesen sich mit unseren menschlichen<br />
Möglichkeiten weder adäquat erfassen noch sprachlich mitteilen<br />
läßt. Von diesem Grundgedanken aus konzipiert Deissler<br />
seine Theologie des Alten Testaments als Geschichte der Selbstoffenbarung<br />
Jahwes in der konkreten Geschichte mit seinem<br />
Volk Israel. So schlägt sich in den verschiedenen Überlieferungen<br />
der hebräischen Bibel nieder, wo und wie Israel im Lauf<br />
seiner Geschichte dem Wirken Gottes begegnet ist und welchen<br />
seiner Handlungsinitiativen es seine Existenz, ja, sein Überleben<br />
verdankt. Im Gegensatz zu den Göttern der umgebenden<br />
Kulturen des alten Orients erfüllt Israels Gott nicht eine Funktion<br />
wie etwa die, die gottgleiche Herrschaft eines Königs zu<br />
legitimieren. Auch ist er nicht als Personifizierung eines Naturphänomens<br />
vorgestellt, wie etwa der kanaanitische Gewitter-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
387 Engagiertes Christsein<br />
und Fruchtbarkeitsgott Baal. Nein, Jahwe ist „Gott für Welt und<br />
Mensch“, kein abstraktes höchstes Wesen. Er zeigt sich stets als<br />
ein „Ich“, das im Menschen sein „Du“ sucht und anspricht und<br />
darin das „Wir“, das Miteinander Gottes und seines Volkes, den<br />
Bund konstituiert. So erlebt sich Israel als von Gott geführt und<br />
zugleich in Anspruch genommen. Von ihm, der keinen Teil der<br />
Weltwirklichkeit bildet, der vielmehr selbst den Gang der Welt<br />
lenkt, weiß es sich aus der Knechtschaft Ägyptens befreit und<br />
mit der Aufgabe betraut, in der Verantwortung füreinander den<br />
Willen Jahwes unter den Völkern bekannt zu machen. Dies<br />
sind nach Deissler die Grunddaten, die sich durch Geschichtsund<br />
Prophetenbücher, durch weisheitliche und priesterliche<br />
Traditionen verbindend hindurchziehen und sie gemeinsam<br />
zur Heiligen Schrift des Gottesvolkes werden lassen.<br />
Als einer der bedeutendsten Alttestamentler des 20. Jahrhunderts<br />
hat Alfons Deissler das Selbstverständnis der nachkonziliaren<br />
Kirche als Gottesvolk des Neuen Bundes mitgeprägt.<br />
Durch seinen maßgeblichen Anteil an der Erarbeitung der Einheitsübersetzung<br />
sowie durch seine Schriften und Vorträge, mit<br />
denen er vielen Menschen einen authentischen Zugang zu den<br />
heiligen Schriften Israels erschlossen hat, wirkt seine Arbeit bis<br />
heute fort. Alfons Deissler starb am 10. Mai 2005 in Freiburg<br />
im Breisgau.<br />
Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Januar 2008<br />
„Der ewige Gott der Geschichte“<br />
Da antwortete Gott dem Mose:<br />
Ich bin der „Ich-bin-da“.<br />
Buch Exodus – Kapitel 3, Vers 14<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Geht es Ihnen nicht auch so, daß Sie, wenn Sie von Gottes<br />
Ewigkeit hören, an etwas Fernes denken, das uns endlichen<br />
Menschen bestenfalls im Jenseits zugänglich ist? Diese<br />
Vorstellung hat viel mit unserem griechisch geprägten Denken<br />
zu tun. Einflußreiche philosophische Richtungen, v. a. der Platonismus,<br />
empfanden unser menschliches Ausgeliefertsein an<br />
die Zeit, unser Werden und Vergehen als defizitär. Sie setzten<br />
die Hoffnung dagegen, durch Philosophie die eigene Seele zu<br />
vervollkommnen und so dem Göttlichen, das man sich als in<br />
reiner unwandelbarer Gegenwart existierend vorstellte, immer<br />
ähnlicher zu werden. Schließlich im Tod, so glaubte man, werde<br />
alles Zufällige und Bedingte zurückgelassen. Diese Sicht, die<br />
auf das Christentum massiv eingewirkt hat, trifft sich mit dem<br />
biblischen Gottesbild zwar in der Überzeugung von Gottes ewigem<br />
Gegenwärtigsein, unterscheidet sich aber zugleich sehr<br />
wesentlich.<br />
Besonders Franz Rosenzweig, der große jüdische Denker des<br />
frühen 20. Jahrhunderts, hat auf diesen Unterschied aufmerksam<br />
gemacht. Eine seiner bedeutendsten Einsichten war, daß<br />
nach der Bibel nicht wir es sind, die sich Gott durch eigene denkerische<br />
Anstrengung nähern, daß vielmehr Gott selbst auf uns<br />
zukommt und uns anspricht, daß er sich offenbart. Für biblisch<br />
geprägtes Denken liegt Gottes Ewigkeit darum nicht unerreichbar<br />
über unserer Zeitlichkeit, sondern bricht immer wieder<br />
in unsere Zeit herein, oder treffender: Gott selbst erweist sich<br />
in unserem geschichtlichen Dasein als der Gegenwärtige. Hier<br />
und jetzt ist er da und möchte zu uns in Beziehung treten. An<br />
uns liegt es allerdings, ob wir seine Sprache verstehen.<br />
„Der Himmel ist hier. Der Himmel ist jetzt.“, las ich kürzlich<br />
auf den Internetseiten einer Künstlerin. Sind wir bereit einzutreten?<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Anbetung der Könige<br />
Evangelistar aus Altomünster, um 1130,<br />
Clm 2939, fol. 6v,<br />
© Bayerische Staatsbibliothek München<br />
Das Motiv ist im Beuroner Kunstverlag als Kunstkarte (Nr. 4486) erhältlich.<br />
Das Evangelistar aus Altomünster, das zu Anfang des 12. Jahrhunderts entstand,<br />
zeigt auf dem Einband von 1489 eine Darstellung des hl. Anno. Obwohl<br />
die Handschrift vermutlich direkt für Altomünster hergestellt wurde, ist sie<br />
doch nicht dort entstanden. Möglicherweise gab es eine Vorlage aus Regensburg.<br />
Darauf deutet die Ikonographie der z. T. ganzseitigen 18 Miniaturen hin.<br />
Stilistische Ähnlichkeiten zeigen sich mit Handschriften aus dem bayerischen<br />
Raum, die etwa zur gleichen Zeit entstanden sind. So läßt sich z. B. der Einfluß<br />
einer Tegernseer Malschule ausmachen, was die Gestaltung der Initialen betrifft.<br />
Vielleicht gehört das Evangelistar zu den Handschriften, die dort für auswärtige<br />
Auftraggeber geschaffen wurden.<br />
Kennzeichen der Miniaturen sind u. a. der Goldgrund, eine breite Außenrahmung<br />
sowie eine schmalere Innenrahmung, kräftige, bunte Farben und eine<br />
zeichnerische Darstellung der Figuren. Die „Anbetung der Könige“ gehört zu<br />
den Miniaturen, die fast ganzseitig gestaltet sind. Über dem Bild befindet sich<br />
lediglich eine Textzeile.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Sich auf den Weg machen<br />
Mit einer mehrfachen Rahmung versieht der Maler des<br />
Evangelistars aus Altomünster (um 1130) die Huldigung<br />
Jesu durch drei Sterndeuter (oder Magier). Auf einen breiten,<br />
mit geometrischem Muster versehenen Außenrahmen folgt ein<br />
schmalerer blau-grüner Innenrahmen. Damit lenkt der Maler<br />
den Blick auf das Bildinnere.<br />
Türme und Dächer eines großen Gebäudes im oberen Teil des<br />
Bildes vermitteln die Vorstellung einer Stadt oder eines Palastes.<br />
Ein von zwei Säulen getragener roter Bogen gibt gleichsam<br />
den Blick ins Innere frei. In kräftigen Farben heben sich die<br />
Gestalten vom goldenen Hintergrund ab.<br />
Maria sitzt rechts auf einem Schemel oder Thron und ist zugleich<br />
der Thron für ihren Sohn, der auf ihrem Schoß sitzt. Der<br />
Maler mag dabei an den Titel für Maria gedacht haben, der<br />
sie als Thron der Weisheit bezeichnet. Die große, edel gekleidete<br />
Gestalt der Gottesmutter paßt zu dem vornehmen Umfeld<br />
besser als zu einem armseligen Stall, wie wir es von vielen<br />
Weihnachtsdarstellungen vor allem in neuerer Zeit kennen.<br />
Während die Mutter mit der linken Hand das Kind hält, erhebt<br />
sie ihre rechte Hand zu den drei Magiern hin, als wollte sie den<br />
Ankommenden sagen: Halt, hier seid ihr am Ziel eurer Suche!<br />
Zugleich gibt diese erhobene Hand den Blick frei auf das Kind.<br />
Vielleicht deutet Maria auch auf den roten, einer Blüte ähnelnden<br />
Stern hin, dem die Männer gefolgt sind.<br />
Die drei Sterndeuter – hier durch die Kronen als Könige<br />
gekennzeichnet – schauen auf die erhobene Hand Marias, als<br />
erwarteten sie eine konkrete Weisung. Nur die beiden Männer<br />
im Vordergrund sind richtig zu sehen. Von dem dritten König<br />
zeigt der Maler nur das Gesicht und die Schale, in der er, wie<br />
die anderen, seine Gabe darreicht. Er wirkt, weil er ohne Bart<br />
dargestellt wird, jünger als die anderen beiden. Spätere Zeiten<br />
stellen ihn oft als König mit dunkler Hautfarbe dar. Wie im<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
Laufschritt kommen die Sterndeuter zu dem Kind. Der Maler<br />
weist damit auf den langen und schwierigen Weg hin, den sie<br />
zurückgelegt haben.<br />
Sie hatten, so berichtet es das Matthäusevangelium, den<br />
Stern des Neugeborenen im Osten aufgehen sehen und sich auf<br />
den Weg gemacht, „um ihm zu huldigen“ (Mt 2, 2). Für sie war<br />
es klar, daß der „neugeborene König der Juden“ (Mt 2, 2) am<br />
Hof des Königs in Jerusalem geboren werde. Deshalb fragten sie<br />
zuerst bei König Herodes nach, nicht ahnend, wie sehr sie den<br />
mit ihrer Frage in Unruhe stürzten. Die eiligst zusammengerufenen<br />
Hohenpriester und Schriftgelehrten bestätigen dem<br />
erschrockenen Herodes: „In Betlehem in Judäa“ (Mt 2, 5) solle<br />
der Messias geboren werden. Unter dem Vorwand, auch selbst<br />
dem Kind huldigen zu wollen, schickt Herodes die Sterndeuter<br />
nach Betlehem, damit sie ihn anschließend genauestens informieren.<br />
Der Stern leitet die Magier mit großer Freude nach Betlehem<br />
zu dem Kind: „Sie gingen in das Haus und sahen das<br />
Kind und Maria, seine Mutter; da fielen sie nieder und huldigten<br />
ihm.“ (Mt 2, 11)<br />
Der Maler stellt Jesus als kleinen Erwachsenen dar. Wie ein<br />
Lehrer hält er die Buchrolle in seiner linken Hand und streckt<br />
die rechte mit segnender Gebärde zu den Männern mit ihren<br />
Gaben aus. Gilt sein Blick dem Stern, der den Sterndeutern den<br />
Weg wies? Oder schaut er auf die Hand seiner Mutter?<br />
Ihm gilt die Huldigung der Könige, wobei der erste von ihnen<br />
wohl gerade anbetend niederknien will. Wenn die Segensgeste<br />
Jesu den Gaben gelten soll, so will der Maler damit sagen: Die<br />
Gaben Gold, Weihrauch und Myrrhe passen zu diesem Kind.<br />
Das Gold weist auf seine königliche Würde; der Weihrauch auf<br />
die Gottheit Jesu und die Myrrhe deutet voraus auf seinen Leidensweg<br />
(ebenso wie das Kreuz im Nimbus).<br />
Für den Evangelisten Matthäus und auch für den Maler ist es<br />
wichtig, daß in den Sterndeutern die „Welt“ dem Messias Jesus<br />
huldigt. Damit offenbart sich Jesus der Welt. Vielen ist der Festtag<br />
des 6. Januar als „Fest der heiligen drei Könige“ bekannt.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
Die Bezeichnung „Epiphanie“ oder „Fest der Erscheinung des<br />
Herrn“ macht eher deutlich, worum es hier geht. In Jesus erfüllt<br />
sich die Ankündigung des Propheten Jesaja: „... der Reichtum<br />
des Meeres strömt zu dir, die Schätze der Völker kommen zu<br />
dir ... Alle kommen von Saba, bringen Weihrauch und Gold und<br />
verkünden die ruhmreichen Taten des Herrn“ (Jes 60, 5 f.). Daß<br />
aus den Sterndeutern Könige werden, greift zurück auf Psalm<br />
72, 11: „Alle Könige müssen ihm huldigen, alle Völker ihm dienen“,<br />
daneben auf Jes 60, 3: „Völker wandern zu deinem Licht<br />
und Könige zu deinem strahlenden Glanz.“<br />
Mit der vornehmen Kleidung der drei Männer verweist der<br />
Maler auf ihre hochgestellte Herkunft. Zu diesem großen Geschehen<br />
passen für ihn die leuchtenden Farben. Dabei finden<br />
das Blau des Glaubens im Gewand Marias ebenso wie das Rot<br />
der Liebe, des Lebens (auch der Lebenshingabe) im Gewand<br />
Jesu ihre Entsprechung in den Gewändern der Sterndeuter.<br />
Sie haben sich auf den Weg gemacht, weil ein Stern sie leitete.<br />
Sie gehören zu Ihm, den sie gesucht und nun gefunden haben.<br />
Der Weg der Sterndeuter zeigt, was für Menschen aller Zeiten<br />
gilt: Wir müssen nicht Könige und Sterndeuter sein, um Ihn<br />
zu suchen. Wir dürfen sicher sein, Er empfängt jeden, der sich<br />
aufmacht, Ihn zu suchen. Er nimmt uns so an, wie wir kommen,<br />
weil Ihm nicht unsere Gaben wichtig sind, sondern wir<br />
selbst.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
335 Thema des Monats<br />
Gott spricht die Menschen an wie Freunde<br />
Nachdenken über den ewigen Gott der Geschichte<br />
Der Name Gottes ist tief eingegraben in die Hoffnungs- und<br />
Leidensgeschichte der Menschheit. In ihr begegnet uns<br />
dieser Name, aufleuchtend und verdunkelt, verehrt und verneint,<br />
mißbraucht, geschändet und doch unvergessen.“ (Gemeinsame<br />
Synode, Beschluß „Unsere Hoffnung“ I.1) Noch in<br />
der Leugnung und im Vergessen bleibt es dabei: Die Frage nach<br />
Gott ist die große Existenzfrage der Menschheit und jedes einzelnen<br />
menschlichen Lebens. Mit jeder Faser seines Daseins<br />
steht der Mensch – in der Terminologie Karl Rahners – vor dem<br />
absoluten, heiligen Geheimnis, das wir Gott nennen. Doch<br />
nirgendwo sonst gilt auch so sehr, daß unser Erkennen, unser<br />
prophetisches Reden „Stückwerk“ ist (1 Kor 13, 9), daß wir<br />
„wie in einen Spiegel“ schauen und „nur rätselhafte Umrisse“<br />
sehen (1 Kor 13, 12), wie in der Frage nach Gott. Denn wie<br />
sollte man meinen, „daß man im Ernst mit seiner winzigen<br />
Kreatürlichkeit etwas mit der grenzenlosen, unsagbaren Wirklichkeit<br />
Gottes selber über alle unendlichen Distanzen hinweg<br />
zu tun haben könne“ (Karl Rahner)? Das Vierte Laterankonzil<br />
(1215) hat deshalb in seiner Analogieregel gelehrt, man könne<br />
aus der begrenzten Perspektive geschöpflicher Erkenntnis über<br />
Gott nichts aussagen, ohne zugleich eine „größere Unähnlichkeit“,<br />
also die Unangemessenheit dieser Aussage gegenüber<br />
dem Gemeinten mit festzuhalten. So ist alles Reden von Gott<br />
„nur der letzte Augenblick vor jenem seligen Verstummen …,<br />
das auch noch die Himmel der klaren Schau Gottes von Angesicht<br />
zu Angesicht füllt“ (Karl Rahner).<br />
Es ist das eigentliche Wunder der Geschichte, daß Gott selbst<br />
die Not dieser Distanz überwunden und sich selbst der Welt<br />
und den Menschen mitgeteilt, offenbart hat: „In dieser Offenbarung<br />
redet der unsichtbare Gott aus überströmender Liebe<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 336<br />
die Menschen an wie Freunde und verkehrt mit ihnen, um sie<br />
in seine Gemeinschaft einzuladen und aufzunehmen.“ (Zweites<br />
Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution über die göttliche<br />
Offenbarung Dei Verbum 2) Gott schließt mit Israel<br />
seinen Bund, er erweist sich als der Befreier, ist treu, voller<br />
Liebe und Erbarmen auch angesichts der Untreue der Menschen.<br />
In der Person Jesu kommt diese Zuwendung Gottes zu<br />
ihrem unüberbietbaren Höhepunkt: Gott wird Mensch, identifiziert<br />
und solidarisiert sich vollkommen mit dem Leben der<br />
Menschen. Gott verharrt also nicht in unnahbarer Ferne, er<br />
überläßt die von ihm geschaffene Welt nicht ihrem Schicksal,<br />
sondern er engagiert sich in der Geschichte der Menschen –<br />
der Geschichte seines Volkes wie jeder persönlichen Lebensgeschichte.<br />
Mit der Schöpfung, der Welt, hat Gott sich selbst<br />
Raum geschaffen zu solchem Engagement. Geschichte ist Heilsgeschichte.<br />
Aus der Heilsgeschichte wissen wir auch, wer Gott ist. Gottes<br />
Wesen erschließt sich aus seinem Tun. Er erweist sich als der<br />
weltzugewandt-Welttranszendente, den „der Himmel und die<br />
Himmel der Himmel“ nicht fassen (1 Kön 8, 27) und dessen<br />
Name doch ist: Jahwe, der „Ich-bin-da“ (Ex 3, 14). Er ist der<br />
Mächtige, dem ganze Völker gelten „wie ein Tropfen am<br />
Eimer“, wie „ein Stäubchen auf der Waage“ (Jes 40, 15), und<br />
der „die Mächtigen vom Thron“ stürzt (Lk 1, 52). Die Kräfte der<br />
Natur, von den Völkern der Umwelt als Gottheiten verehrt,<br />
sind nützliche Lichter am Himmel (vgl. Gen 1, 14–19) oder gar<br />
Spielzeug in Gottes Hand (vgl. Ps 104, 26). Er ist der Ewige, der<br />
Erste und der Letzte (vgl. Jes 44, 6), und er ist einzig (Dtn 6, 4).<br />
Es war ein Glücksfall der Geschichte, daß die frühe Kirche in<br />
der Rationalität der sie umgebenden griechisch-römischen<br />
Kultur einen im ausdrücklichen Widerspruch zur „Religion“ der<br />
Zeit geprägten philosophischen Gottesbegriff vorfand, an den<br />
sie anknüpfen konnte: „allein das Sein selbst, das, was die<br />
Philosophen als den Grund alles Seins, als den Gott über allen<br />
Mächten herausgestellt haben – nur das ist unser Gott“ (Joseph<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
337 Thema des Monats<br />
Ratzinger). Die dann folgende Entfaltung der christlichen Gotteslehre<br />
mit den begrifflichen und methodischen Mitteln griechischen<br />
Denkens stellt nun aber – gegen eine in der Theologie<br />
seit langem fast reflexhaft wiederholte Meinung – keine das<br />
biblische Erbe verfälschende „Hellenisierung“ dar. Sie hat den<br />
christlichen Glauben vielmehr auf Dauer für vernunftorientierte<br />
Dialoge kommunikabel gemacht. Im übrigen entsprechen<br />
sich griechisches und biblisches Denken in ihrer jeweiligen analytischen<br />
Kraft in viel höherem Maß, als gemeinhin zugestanden<br />
wird.<br />
Zur heilsgeschichtlichen Grundstruktur des christlichen Glaubens<br />
gehören auch der schriftliche Niederschlag dieser Geschichte<br />
in der Bibel und die Weitergabe der Offenbarung<br />
durch die kirchliche Tradition. Hinsichtlich des Bedarfs an ökumenischer<br />
Verständigung, den es im Hinblick auf das reformatorische<br />
Grundaxiom von der Heiligen Schrift als einziger<br />
Offenbarungsquelle – „sola scriptura“ – noch gibt, hat bereits<br />
das Zweite Vaticanum wesentliche Klärungen erreicht, indem<br />
es die Rede von zwei Quellen erkennbar vermeidet und den<br />
dienenden Charakter von Tradition und Lehramt gegenüber der<br />
Schrift herausstellt (Dei Verbum 9.10). Nach dem erreichten<br />
Konsens in der Rechtfertigungslehre wird sich das ökumenische<br />
Gespräch nun insgesamt auf die Kirche als konkreten Ort der<br />
Gegenwart des Heils (Grundsakrament) konzentrieren müssen<br />
– zugleich das Schlüsselthema u. a. auch für die Amtsfrage …<br />
Entsprechend kommt es auch für unseren Zusammenhang darauf<br />
an, den exegetisch unbestreitbaren kirchlichen Charakter<br />
der Bibel als „Produkt der Kirche“ und „Niederschlag der Glaubensgeschichte<br />
der Urgemeinde“ (Karl Rahner) herauszustellen<br />
– sowohl hinsichtlich der „Schriftsteller“ (!) der biblischen<br />
Texte (Dei Verbum 12) als auch hinsichtlich des der Kanonbildung<br />
zugrunde liegenden kirchlichen Erkenntnisprozesses.<br />
Tobias Licht<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 338<br />
Schall und Rauch?<br />
Zur Bedeutung des Gottesnamens<br />
Name ist Schall und Rauch“, sagt Faust zu Gretchen, nicht<br />
lange nach deren berühmter Frage. Sie hatte von ihm erfahren<br />
wollen, wie er es habe mit der Religion, ob er an Gott<br />
glaube. Während sich für sie Religiosität mit kirchlicher Frömmigkeit<br />
deckt, ist er vom „ewigen Geheimnis“ überwältigt, das<br />
sich in den Naturphänomenen und der Faszination des geliebten<br />
Gegenübers mitteilt. Für Faust dominiert das Gefühl, vom<br />
Erhabenen umgeben zu sein; welchen Namen man dem Absoluten<br />
gibt, ob Glück, Liebe oder Gott, verliert daneben an Bedeutung.<br />
Die Spannung zwischen beiden Standpunkten führt uns mitten<br />
hinein in unsere Zeit, in der wir mit unserer christlichkirchlichen<br />
Weltsicht immer öfter Menschen begegnen, die<br />
ganz ähnlich wie Faust zwar in der Natur und in menschlichen<br />
Beziehungen Göttliches wahrnehmen und davon fasziniert<br />
sind, die aber unseren Schritt des Bekenntnisses zum einen persönlichen<br />
Gott nicht mitgehen mögen. Wenn wir ihr Angerührtsein<br />
von prägenden mitmenschlichen Begegnungen und<br />
von Naturwundern wie dem Meer, der Wüste, dem Sternenhimmel<br />
teilen – wie können wir ihnen unsere Position verdeutlichen?<br />
Schauen wir noch einmal auf Goethe. Was ist der Name, den<br />
Faust als „Schall und Rauch“ bezeichnet? Er lehnt es ab, das<br />
Göttliche mit einem Substantiv wie Glück oder Gott zu benennen,<br />
einem Wort also, das letztlich unserem Verstand dazu<br />
dient, ein Gefühl oder eine Erfahrung einzuordnen. Diese Haltung<br />
will sich durchaus von einer Philosophie und Theologie<br />
abgrenzen, die das Hauptgewicht auf verstandesmäßige Erkenntnis<br />
legte und dabei stets Gefahr lief, den ganzen Men-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
339 Unter die Lupe genommen<br />
schen mit seiner Leiblichkeit und mit den Tiefen seiner Seele<br />
aus dem Blick zu verlieren. Darum die Betonung des Gefühls.<br />
Wie verhält es sich nun mit Gott und seinem Namen, wenn<br />
wir auf die Bibel schauen? Eines wird uns am Alten Testament<br />
sofort klar: Dort erscheint Gott nicht (jedenfalls nicht in erster<br />
Linie) als ein Absolutes, als das höchste Gut oder das Sein<br />
schlechthin, das weit entfernt im Hintergrund von allem steht,<br />
nur dem Verstand zugänglich ist und mit unserer konkreten<br />
Lebenswirklichkeit nichts oder fast nichts zu tun hat. Der biblische<br />
Gott, der Herr über die ganze Schöpfung, zeigt sich vielmehr<br />
als Gott eines bestimmten geschichtlichen Volkes, und<br />
zwar eines Volkes, das politisch in der Antike nicht eben zu den<br />
bedeutenden zählte. Er gibt sich als Gott konkreter, mit Namen<br />
benannter Personen, als Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs zu<br />
erkennen. Und vor allem: Er trägt selbst einen wirklichen<br />
Namen – keine einordnende Bezeichnung, sondern einen<br />
Eigennamen –, mit anderen Worten: Er läßt sich wie ein Du,<br />
ein personhaftes Gegenüber ansprechen. Damit nicht genug.<br />
Denn dieser Name verrät, wie Namen in Israel stets, viel über<br />
seinen Träger. Sehen wir einmal genau hin, was in diesem<br />
Namen, der im hebräischen Alten Testament stets mit den vier<br />
Konsonanten JHWH begegnet, alles eingeschlossen ist.<br />
Die herausragendste Stelle, die wir zum Gottesnamen JHWH-<br />
Jahwe benennen können, ist gewiß die Szene am brennenden<br />
Dornbusch – ein faszinierendes Naturereignis, nebenbei bemerkt<br />
–, in der Mose von diesem Jahwe gesandt wird, sein erwähltes<br />
Volk Israel aus der ägyptischen Knechtschaft zu befreien.<br />
Als Mose fragt, was er denn auf die Frage des Volkes,<br />
wer ihn geschickt habe, entgegnen solle, gibt Jahwe eine Antwort,<br />
die den Namen selbst nicht nennt, sondern ihn sogleich<br />
deutet: „Ich bin der ,Ich bin da‘.“ (Ex 3, 14, Einheitsübersetzung)<br />
Im Hebräischen stehen für diesen Satz nur drei Worte,<br />
die man wörtlich mit „ich bin, der ich bin“ wiedergeben<br />
könnte. Die Abstraktheit dieser Formel kommt zwar nah an die<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 340<br />
Fassung der antiken griechischen Bibelübersetzung, der Septuaginta,<br />
heran (ego eimi ho ôn – „ich bin der Seiende“), die wesentlich<br />
zur Annäherung der christlichen Theologie an die<br />
Philosophie beigetragen hat. Mit der Bedeutung des hebräischen<br />
Wortlauts hat dies aber wenig zu tun. Das liegt an zwei<br />
gravierenden Unterschieden zwischen den betreffenden Sprachen:<br />
der abgeschliffenen Bedeutung unseres (wie des griechischen)<br />
„Hilfs“(!)-Verbs „sein“ und der Abgeschlossenheit unserer<br />
Tempora, d. h. der Tatsache, daß unser Präsens („ich bin“)<br />
ziemlich streng auf die Gegenwart, das Hier und Jetzt, bezogen<br />
ist. Anders im Hebräischen: Das Verbum hajah, von dem sich<br />
der Gottesname ableitet, hat gegenüber unserem „sein“ einen<br />
dynamischeren Bedeutungsgehalt, etwa im Sinn von „da sein,<br />
wirklich, wirkmächtig, spürbar, lebendig sein“ und kann auch<br />
so viel wie „geschehen, sich ereignen“ bedeuten. Darüber hinaus<br />
kann das Tempus der hebräischen Urfassung neben unserem<br />
Präsens auch unser Futur bezeichnen. So überträgt Martin<br />
Buber, der sich sehr um eine hebräische Färbung bemüht hat:<br />
„Ich werde dasein, als der ich dasein werde.“ Freier wiedergegeben,<br />
könnte es auch heißen: „Ich werde (erfahrbar) sein als<br />
der, der (wirklich da) ist.“<br />
Gut und schön, werden Sie sagen – und was heißt das nun<br />
für mich? Vielleicht hilft ein Blick auf Ex 3, 12, zwei Verse vor<br />
unserer Stelle. Mit derselben Verbform wie in V. 14 sagt Gott<br />
dort Mose zu: „Ich bin mit dir.“ Dieses Mit-Sein Jahwes wird<br />
Mose befähigen, vor dem Pharao für das Volk einzutreten und<br />
es schließlich aus Ägypten in die Freiheit zu führen. Nun liegt<br />
es an Ihnen nachzuspüren, ob Sie diesem Gott, der das Mit-Sein<br />
im Namen trägt, in Ihrem Leben schon begegnet sind. Sofern<br />
Sie daran zweifeln, versuchen Sie doch einmal, ihn beim<br />
Namen zu rufen. Möglich, daß Sie auf Antwort warten müssen<br />
und daß sie anders kommt, als Sie erwarten – doch ich bin<br />
sicher, daß Ihnen aufgeht: Hier geht es nicht bloß um meinen<br />
Verstand, der ein absolutes Wesen erkennen und daran glauben<br />
soll. Auch geht es nicht nur um mein Gefühl, so schön es ist,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
341 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
vom Erhabenen überwältigt zu werden. Nein, da ist jemand,<br />
der mich meint mit allem, was mich ausmacht, der all das, was<br />
mich bewegt, wahrnimmt und zu einem guten Ziel führen will.<br />
Johannes Bernhard Uphus<br />
„… und zählt dir Tag und Jahr“<br />
Ein geistliches Geburtstagslied<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 196.<br />
Jochen Kleppers Gedicht „Gott wohnt in einem Lichte“ hat,<br />
mit identischer Melodie, Eingang ins „Evangelische Gesangbuch“<br />
(Nr. 379) und in das katholische „Gotteslob“ (Nr. 290) gefunden.<br />
Hier steht es unter der Überschrift „Vertrauen und<br />
Bitte“, dort ist es unter den Stichworten „Angst und Vertrauen“<br />
in der Rubrik „Glaube – Liebe – Hoffnung“ zu finden, während<br />
es im Schweizer Gesangbuch im Abschnitt „Gott, unser Vater“<br />
eingeordnet ist (Nr. 181). Und doch hat der Dichter das Lied als<br />
„Geburtstagslied“ ausgewiesen.<br />
Kyrie<br />
Kleppers 1938 erstmals aufgelegte Liedersammlung „Kyrie.<br />
Geistliche Gedichte“ orientiert sich am Tageslauf – bekannt ist<br />
das Morgenlied „Er weckt mich alle Morgen / er weckt mir<br />
selbst das Ohr“ (EG 452) – und am Lauf des Kirchenjahrs –<br />
man denke an „Die Nacht ist vorgedrungen“, ein Weihnachtslied,<br />
das in unseren Gesangbüchern jedoch der Adventszeit zugeordnet<br />
ist (GL 111, EG 16). Neben Gedichten zu diesen beiden<br />
großen Zeitkreisen finden sich in Kleppers „Kyrie“ Lieder<br />
zu Silvester und zum Geburtstag, zum allgemeinen und zum<br />
besonderen Jahreswechsel also. Ein solches Geburtstagslied<br />
nun ist „Gott wohnt in einem Lichte“.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 342<br />
Das Buch und das Buch der Bücher<br />
Jochen Klepper, 1903 in Beuthen an der Oder geboren, 1942 in<br />
Berlin gestorben, stammt aus einem evangelischen Pfarrhaus.<br />
Er selbst hat sein Theologiestudium in Erlangen und Breslau<br />
nicht zu Ende geführt, sondern sich dem literarischen Schreiben<br />
gewidmet. Doch die Bibel bleibt in seinem Leben und in<br />
seinem Werk präsent: „Wer vom Wort lebt, kann nicht vorüber<br />
am Wort des Lebens. Wer Bücher schreibt, vermag nicht, sich<br />
dem Buch der Bücher zu entziehen“, notierte Klepper einmal.<br />
Leben und Sterben in dunkler Zeit<br />
Jochen Klepper heiratete 1931 Johanna Stein, eine Witwe mit<br />
zwei Töchtern (zum lebensgeschichtlichen Hintergrund vgl.<br />
auch den Beitrag im Dezember-Heft 2007, S. 390 f.). Die Ehe<br />
mit einer Jüdin – Johanna Klepper konvertierte 1938 zum Christentum<br />
– bringt den freien Schriftsteller nach der Machtübernahme<br />
der Nationalsozialisten unter Druck. 1937 wird er aus<br />
der Reichsschrifttumskammer ausgeschlossen, was allerdings<br />
den großen Erfolg seiner historisch-psychologischen Studie<br />
über Friedrich Wilhelm I. von Preußen „Der Vater. Roman des<br />
Soldatenkönigs“ (1937) nicht verhindern kann. Johanna Klepper<br />
und ihre jüngere Tochter bleiben in Berlin, während es der<br />
älteren Stieftochter gelingt, rechtzeitig vor Kriegsbeginn nach<br />
England auszureisen. Als sich die Judenverfolgung in Deutschland<br />
verschärft, alle Rettungsbemühungen scheitern und Mutter<br />
und Tochter unmittelbar vor der Deportation stehen, nimmt<br />
sich die Familie im Dezember 1942 gemeinsam das Leben.<br />
Gottes Unnahbarkeit und Nähe<br />
Die Form des Gedichts ist einfach. Die fünf jambischen Strophen<br />
umfassen jeweils acht Zeilen mit alternierendem weiblichem<br />
und männlichem Ausgang. Die Sprache ist biblisch;<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
343 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
Aussagen aus 1 Tim 6, 15–16 (1. Strophe), Apg 17, 27–28<br />
(2. und 5. Strophe) und Mt 10,30 (3. Strophe) werden eingespielt,<br />
die gesamtbiblische Erwartung eines Weltgerichts<br />
(4. Strophe) kommt zur Sprache. Die ebenfalls biblische Spannung<br />
zwischen Gottes Unnahbarkeit und Nahen gibt den inneren<br />
Rhythmus des Liedes vor.<br />
Gott ist unnahbar, unerreichbar – und zugleich, als „Herr aller<br />
Herren“, der Herr der Geschichte (1. Strophe); er ist Schöpfer<br />
des ganzen Kosmos – und doch dem angesprochenen einzelnen<br />
Du so verbunden, daß er es „nicht missen“ mag (2. Strophe);<br />
Gott ist unfaßlich – und doch ist jeder Mensch, auch das Du, von<br />
Gott ganz und gar behütend erfaßt, liebend umfaßt (3. Strophe);<br />
der von den Völkern als endzeitlicher Richter gefürchtet wird –<br />
ihn verlangt nach „dir“ (4. Strophe); der entzogene, unsichtbare<br />
Gott – er ist zuinnerst das Lebenselement eines jeden Menschen,<br />
des angesprochenen Du (5. Strophe).<br />
Gott kommt in die Zeit<br />
„Gott wohnt in einem Lichte“ ist ein Geburtstagslied, das sicher<br />
nicht so leicht zugänglich ist wie „Viel Glück und viel Segen“<br />
oder das unvermeidliche „Happy birthday to you“. Ein Geburtstagslied<br />
jedoch, das zu denken gibt, ja das zu meditieren sich<br />
lohnt. Mit dem kostbaren Geburtstag eines jeden Menschenkindes<br />
erinnert es an die Geburt von Betlehem, in der Gottes<br />
Wort zur Welt und der Welt unendlich nahe kommen wollte,<br />
und es weiß: Gottes Kommen in die Zeit ist das Festgeheimnis<br />
eines jeden Geburtstages.<br />
Glaube – Liebe – Hoffnung<br />
Jochen Klepper und seine Familie – ein bedrängtes Leben in<br />
finsteren Zeiten, und doch ein geistliches Geburtstags-Lied, aus<br />
dem Glaube, Liebe und Hoffnung unwiderstehlich zu uns sprechen:<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 344<br />
„Ob er gleich Mond und Sterne / und Sonnen werden sah, /<br />
mag er dich doch nicht missen / in der Geschöpfe Schar, / will<br />
stündlich von dir wissen / und zählt dir Tag und Jahr.“<br />
Susanne Sandherr<br />
Die Orientierung des Gebets<br />
und des liturgischen Raumes<br />
Eine grundlegende Kategorie, die in der momentanen Diskussion<br />
häufiger auftaucht, ist die der Richtung des Kirchenraumes.<br />
Zuweilen wird für den liturgischen Raum die<br />
„Orientierung“, die traditionelle Ausrichtung nach Osten verlangt.<br />
Worum geht es bei dieser „Ostung“?<br />
Zunächst einmal kennen die frühen Christen keine Ostung<br />
des Raumes, sondern vielmehr eine des Gebets. Sie richten sich<br />
beim Gebet nach der aufgehenden Sonne aus, da die Wiederkunft<br />
Christi von Osten, dem imaginären Ort des verlorenen<br />
Paradieses, erwartet wird. Vermutlich nehmen sie damit eine<br />
Tradition des antiken Judentums auf, das die Ausrichtung des<br />
Gebets nach Osten oder aber nach Jerusalem kennt, so daß sich<br />
im zweiten Falle die Himmelsrichtung entsprechend der geographischen<br />
Lage der Betenden ändert. Bald wendet sich das<br />
Judentum – anscheinend in Abgrenzung zum sich etablierenden<br />
Christentum – nur noch nach Jerusalem. Später nimmt der<br />
Islam diese Gebetsorientierung der Juden auf und wandelt sie<br />
in eine Ausrichtung auf Mekka ab.<br />
Die Ostung christlichen Betens drückt auch die Überzeugung<br />
aus, daß sich ein „Sitz“ Gottes auf der Erde nicht lokalisieren<br />
läßt, daß es also letztlich um eine innere Haltung und Gottesbeziehung<br />
geht, die sich an grundlegenden kosmischen Er-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
345 Die Mitte erschließen<br />
fahrungen festmacht. Diese Gebetsrichtung wird bei der Errichtung<br />
fester Kirchen nach der konstantinischen Wende übernommen,<br />
ohne automatisch zu einer Ostung der Apsis zu führen.<br />
Während sich die Apsis in der Ostkirche anscheinend von<br />
Anfang an immer auf der Ostseite des liturgischen Raumes befindet,<br />
kann sie innerhalb der westlichen Liturgie, zumindest in<br />
den frühen Basiliken Roms, auch an deren Westseite plaziert<br />
werden, so daß sich die Türen nach Osten zur aufgehenden<br />
Sonne hin öffnen. Normierend bleibt aber in beiden Reichsteilen<br />
die Ostung des Gebets, so daß sich die Gemeinde ggf. zum<br />
Gebet Richtung Osten dreht. Je nach Stellung des Altars und des<br />
Priesters können dann Priester und Gemeinde sogar einander<br />
den Rücken zuwenden. Zeugnis dieser Gebetsrichtung ist z. B.<br />
der Ruf des Augustinus am Ende von Predigten: „Conversi ad<br />
Dominum“, „Wendet euch um zum Herrn“. Und in Eucharistiegebeten<br />
der koptischen und äthiopischen Liturgie gibt es<br />
den Zuruf des Diakons: „Blickt nach Osten!“<br />
Erst mit der Wende zum 5. Jahrhundert übernimmt der<br />
Westen das östliche Raumkonzept, denn nur so kann man die<br />
Ausrichtung des Gebets mit der auf den Altar, der zunehmend<br />
zum Zentrum des Raumes wird, in Übereinstimmung bringen.<br />
Dennoch ist die Ostung von Kirchen im Westen nie festes Gesetz,<br />
und mit der exakten Richtung nimmt man es nicht so genau.<br />
Andererseits hat eine Ostung für mittelalterliche Kirchen<br />
den Vorteil, daß diese zur Zeit der morgendlichen Gottesdienste<br />
das beste Licht durch die großen Glasfenster der Gotik erhalten<br />
und nicht künstlich beleuchtet werden müssen.<br />
Zunehmend dominiert die Ausrichtung des liturgischen Raumes<br />
auf den Altar. Doch selbst diese verliert allmählich an Bedeutung:<br />
Spätmittelalterliche Bilder zeigen z. B. Vornehme in<br />
ihrem Kirchengestühl, das nicht auf den Altar, sondern auf ein<br />
gestiftetes Bild hin orientiert ist. Die Auflösung der Gerichtetheit<br />
zeigen auch die als architektonisches Ideal verstandenen<br />
Zentralbauten der Renaissance in Italien an, selbst wenn die<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 346<br />
Liturgie an einem geosteten Hochaltar gefeiert wird. Erst in<br />
nachtridentinischer Zeit wird das kleingliedrige Raumverständnis,<br />
das die Kirchen des Hochmittelalters mit ihren vielen<br />
Seitenaltären und -kapellen bestimmt hat, durch neue Ansätze<br />
eines Einheitsraums abgelöst. In der Neuzeit kommt dann der<br />
Tabernakel auf dem Hochaltar als Ausrichtungsziel hinzu.<br />
Spätestens ab der „kopernikanischen Wende“, d. h. der Erkenntnis,<br />
daß die Erde keine Scheibe mit klaren Richtungen,<br />
sondern eine sich drehende Kugel ist, bilden die Ostung wie die<br />
zugrundeliegenden endzeitlichen Vorstellungen keine wesentlichen<br />
Kriterien mehr. Für die Gemeinde wird in der Eucharistiefeier<br />
letztlich die Erfahrung bestimmend, daß ihr der Priester<br />
den Rücken zukehrt und sich nur für wenige Rufe zu ihr<br />
umwendet.<br />
Nach dem 2. Vatikanischen Konzil wird die Frage der Ostung<br />
im Zusammenhang mit der Stellung des Priesters am Altar<br />
intensiv diskutiert, angetrieben durch die Frage, wie die Zelebrationsrichtung<br />
mit der Forderung des Konzils nach tätiger<br />
Teilnahme der Gläubigen in Übereinstimmung gebracht werden<br />
kann. Dabei wurde so mancher textliche und archäologische<br />
Befund in einer von jeweiligen Interessen geleiteten Weise<br />
interpretiert. Letztlich ist der historische Befund im Westen zu<br />
vielfältig, wird eine anscheinend „eindeutige Aussage“ über die<br />
Ausrichtung des Raumes und der Zelebrationsrichtung den vielfältigen<br />
Raumstrukturen nicht gerecht.<br />
Wichtiger als der nie gänzlich abgebrochene Streit um die<br />
historischen Quellen und Fakten ist wohl, daß die Forderung<br />
nach der aktiven Teilnahme aller an der Liturgie fast wie von<br />
selbst zur einer veränderten Stellung des Zelebranten am Altar<br />
führt. Die Allgemeine Einführung ins Meßbuch fordert daher in<br />
Nr. 262 vom Altar, daß man „ihn ohne Schwierigkeiten umschreiten<br />
und an ihm, der Gemeinde zugewandt, die Messe<br />
feiern kann“. Letztlich muß die Liturgie selbst erkennen lassen,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
347 Heilige Orte<br />
daß die versammelte Gemeinde den erhöhten Herrn im Geist in<br />
ihrer Mitte gegenwärtig weiß, ihm in Wort und Sakrament begegnet<br />
und sich so gestärkt weiß auf dem Weg in die noch ausstehende<br />
Vollendung.<br />
Diese Offenheit auf den Herrn hin kann sicher zusätzlich<br />
durch eine entsprechende architektonische Gestaltung sowie<br />
ein angemessenes liturgisches Verhalten – besonders des Zelebranten<br />
– ausgedrückt und erfahrbar werden. Eine bloße<br />
Wiedereinführung der „Ostung“ des Raumes würde aber der<br />
Welterfahrung der Menschen unserer Zeit, für die die Himmelsrichtungen<br />
keine tiefere Bedeutung mehr haben, nicht gerecht.<br />
Die Liturgie kann sich weder ihrer eigenen Geschichtlichkeit<br />
noch der der kosmischen Weltsicht entziehen.<br />
Friedrich Lurz<br />
Jerusalem, der Nabel der Welt<br />
Die heilige Stadt dreier Weltreligionen<br />
Einer jüdischen Sage nach befindet sich in Jerusalem der<br />
Fels, von dem aus die Weltschöpfung ihren Anfang nahm<br />
und der als Verschlußstein der Urflut diente. Wie der Nabel die<br />
Mitte des Menschen, so sei Jerusalem die Mitte der Welt. Jerusalem<br />
gilt drei Weltreligionen als eine heilige Stadt. Der Felsendom,<br />
die Westmauer und die Grabeskirche versinnbildlichen<br />
ihre zentrale Bedeutung. Niemand weiß, warum dieser Steinhügel<br />
zwischen Wüste und Meer eine besondere Auserwählung<br />
Gottes erfahren hat. Jerusalem hat keine besonderen<br />
architektonischen oder künstlerischen Kostbarkeiten vorzuweisen<br />
wie Florenz, Rom oder Paris. Aber für viele Menschen hat<br />
der Name Jerusalem eine Lichtspur in ihrem Leben hinterlas-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Heilige Orte 348<br />
sen. Niemand kann dieser Stadt gegenüber teilnahmslos bleiben,<br />
weder der Agnostiker noch der Rationalist. Jerusalem<br />
zieht alle in seinen Bann.<br />
Jerusalems Geschichte – schwierig genug, lang und verborgen<br />
in dunkler Vorzeit – ist über mehr als 4000 Jahre dokumentiert.<br />
Der Stadtname Jerusalem wird allein im Alten Testament<br />
750mal erwähnt. Unter verschiedenen Bezeichnungen,<br />
wie Heilige Stadt, Berg Morija, Stadt Davids, Tempelberg,<br />
Salem, wird Jerusalem über 2000mal in der Bibel genannt. In<br />
vielen überschwenglichen Bildern wird der Glanz dieser Stadt<br />
beschrieben (vgl. Ps 48, 2–3).<br />
In der alttestamentlichen Tradition gilt Jerusalem als Wohnstätte<br />
des Allerhöchsten: „Der Herr liebt Zion, seine Gründung<br />
auf heiligen Bergen, mehr als seine Stätten in Jakob liebt er die<br />
Tore Zions“ (Ps 87, 2). Der Psalmist wird nicht müde, die Heiligkeit<br />
dieses Ortes zu preisen: „Wie liebenswert ist deine Wohnung,<br />
Herr der Heerscharen! Meine Seele verzehrt sich in<br />
Sehnsucht nach dem Tempel des Herrn“ (Ps 84, 2–3). In Jerusalem<br />
berühren sich Himmel und Erde, es ist das sichtbare Zeichen<br />
der Erinnerung und der Hoffnung, das Bindeglied zwischen<br />
Vergangenheit und Zukunft.<br />
Das ist bis heute zu spüren. Zum Beispiel an der Westmauer,<br />
dem heiligsten Ort für die Judenheit. Nach rabbinischer Lehre<br />
ist die Shekinah, die Gegenwart Gottes, nie von dieser Mauer<br />
gewichen. Tausende strömen täglich zu der einzig übriggebliebenen<br />
Mauer des Tempels, der im Jahre 70 n. Chr. von den<br />
Römern zerstört worden ist. Viele Beter stecken Papierröllchen<br />
mit Gebetsanliegen in die Ritzen.<br />
Auch für Muslime ist Jerusalem eine heilige Stadt. Der im<br />
Jahre 691 n. Chr. errichtete Felsendom ist nach der Kaaba in<br />
Mekka das wichtigste Heiligtum und Pilgerziel des Islam. Wer<br />
den Felsendom auf der Stelle des ehemaligen Tempelgeländes<br />
besucht, erblickt in dessen Mitte einen ca. 18 x 13 m großen unregelmäßig<br />
geformten, unbearbeiteten Kalksteinfelsen. Der Tradition<br />
nach stand auf diesem Felsen der Brandopferaltar des<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
349 Heilige Orte<br />
zerstörten Tempels. Er wird auch als jener „Grundstein“ angesehen,<br />
von dem die Schöpfung ausging. Zudem ist er nach<br />
muslimischer Überlieferung jene Stelle, an der Abraham die<br />
befohlene Opferung seines Sohnes vollziehen sollte (vgl. Gen<br />
22, 1–19; den Sohn, für den im Koran, Sure As-Saffat 37,<br />
101–109, kein Name genannt wird, identifiziert die islamische<br />
Überlieferung mit Ismael, dem Stammvater der Araber). Von<br />
diesem Felsen habe Mohammed seine Himmelfahrt angetreten.<br />
Schon früh wurde aus einer Koranstelle abgeleitet, Mohammed<br />
habe Jerusalem als Wallfahrtsort empfohlen.<br />
Im Christentum hat Jerusalem als Ort der Kreuzigung<br />
und Auferstehung Jesu eine besondere Bedeutung erhalten. In<br />
der kirchlichen Überlieferung des vierten Jahrhunderts n. Chr.<br />
wird Golgota, die Kreuzigungsstätte, als Mitte der Welt beschrieben.<br />
Im vierten Jahrhundert ließ Helena, die Mutter Kaiser<br />
Konstantins, eine riesige Kirche bauen, die Kreuzigungsstätte<br />
und Grab Jesu umschließen sollte. Die Kirche wurde<br />
durch die Perser im Jahr 614 zerstört. Auf ihren Grundmauern<br />
errichteten die Kreuzfahrer im 12. Jahrhundert die ersten Mauern<br />
der heutigen Grabeskirche.<br />
In Jerusalem hat das Christentum seine geistliche Heimat.<br />
Die heilige Stadt ist die Mutter aller Kirchen. In Jerusalem versammelten<br />
sich die Jünger und empfingen den Heiligen Geist<br />
(Apg 2). Von dort verbreitete sich das Evangelium in alle Welt.<br />
An den Heiligen Stätten haben sich die verschiedenen Riten<br />
entwickelt mit ihren Festen und Stationen. Jerusalem wird im<br />
vierten Jahrhundert zum Zentrum liturgischen Lebens. Pilger<br />
aus allen Teilen der Welt übernehmen die Jerusalemer Bräuche<br />
in ihre Heimat. Die Texte der Jerusalemer Gottesdienste beeinflussen<br />
den byzantinischen Ritus. Jerusalem wird zum Ursprungsort<br />
des Kirchenjahres, des symbolischen Nachvollzuges<br />
des Lebens Jesu von der Geburt bis zur Auferstehung.<br />
Jerusalem ist mit seinen 150 Kirchen und Kapellen, den zahlreichen<br />
Moscheen und Synagogen eine Stadt des Gebetes und<br />
damit ein Symbol der Hoffnung für alle. Äußerlich gesehen er-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Themen und Termine 350<br />
scheint sie als eine harte Stadt, eine Stadt des Kampfes, der<br />
Kontraste und des Schmerzes. Allein die Christen sind dort in<br />
30 Konfessionen geteilt. Aber man betet in Jerusalem. Das Gebet<br />
ist ein Reichtum ohne Grenzen. Wenn um vier Uhr beim<br />
Morgengrauen der Muezzin seine Glaubensbrüder ruft und die<br />
ersten frommen Juden zur Westmauer eilen, dann läuten die<br />
Glocken zum Gottesdienst. Wer die Seele dieser Stadt finden<br />
will, muß sich ihr mit offenem Herzen aussetzen, muß sich hineinnehmen<br />
lassen in ihre geistliche Atmosphäre des Gebetes.<br />
Die Heilige Stadt ist Bild für eine Zukunft unter der Friedensherrschaft<br />
Gottes. Im „himmlischen Jerusalem“ gründen alle<br />
Hoffnungen auf eine Zeit ohne Leid und ohne Trauer, ohne<br />
Krieg und ohne Haß. Es wird am Ende der Zeiten vom Himmel<br />
herabschweben, so sieht es Johannes in seiner Apokalypse<br />
(Offb 21, 10 f.). Dort ist schon jetzt die Heimat der Christen,<br />
wie Paulus im Galaterbrief schreibt (Gal 4, 26). In Jesus Christus<br />
und der Bedeutung seines Sterbens und Auferstehens für<br />
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verbinden sich schon<br />
jetzt das himmlische und irdische Jerusalem. In jeder Eucharistiefeier<br />
wird Gottes zeitübergreifendes Handeln in Jerusalem<br />
gegenwärtig: „Deinen Tod, o Herr, verkünden wir, und deine<br />
Auferstehung preisen wir, bis du kommst in Herrlichkeit.“<br />
Marc Witzenbacher<br />
Menschliche Familie als Gemeinschaft<br />
des Friedens<br />
Weltfriedenstag am 1. Januar 2008<br />
Die menschliche Familie als Gemeinschaft des Friedens<br />
steht im Mittelpunkt des Weltfriedenstages 2008. In der<br />
Ankündigung für den jährlich am 1. Januar begangenen Weltfriedenstag<br />
bekräftigt Papst Benedikt XVI., daß die Erfahrung<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Februar 2008<br />
„Gott – gerecht und barmherzig“<br />
Den Redlichen erstrahlt im Finstern ein Licht:<br />
der Gnädige, Barmherzige und Gerechte.<br />
Psalm 112 – Vers 4<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
In dieser und den beiden folgenden Ausgaben möchte ich<br />
mich auf das Gleichnis vom barmherzigen Vater (Lk 15,<br />
11–32) beziehen. Dieser zentrale Evangelientext erinnert uns<br />
an die Grundrichtung, auf die es in der bevorstehenden Fastenzeit<br />
ankommt. Es gilt, aufzubrechen aus einem Leben, in dem<br />
Gott keine oder nur eine geringe Rolle spielt, und uns neu ihm<br />
zuzuwenden, in dem unser Leben gründet und Erfüllung findet.<br />
Gut möglich, daß uns bei diesem Aufbruch ähnlich zumute<br />
ist wie dem verlorenen Sohn, der sich schämt, seinem Vater<br />
wieder gegenüberzutreten, und sich nur einen Platz unter den<br />
Tagelöhnern vorstellen kann. Jedenfalls sind wir weithin gewohnt<br />
zu erwarten, daß Gott strenge Rechenschaft über unser<br />
Leben von uns fordert, und wir fürchten uns davor, weil wir<br />
meinen, seinem Anspruch nicht zu genügen.<br />
Wie aber, wenn wir uns aufmachen und dem liebenden Vater<br />
begegnen, der nicht nur angesichts unserer Schwächen Barmherzigkeit<br />
walten läßt, sondern sich maßlos freut, uns wieder<br />
bei sich zu haben? So eben lehrt Jesus uns Gottes Gerechtigkeit<br />
sehen, als Rückseite seiner Güte und seines Erbarmens.<br />
Die Treue und Zuverlässigkeit des älteren Sohnes würdigt er ja<br />
(„Mein Kind, du bist immer bei mir, und alles, was mein ist, ist<br />
auch dein“, V. 31), lädt ihn aber vor allem ein, mit ihm und<br />
allen anderen die große Freude zu feiern, mit dem aus der<br />
Fremde Heimgekehrten wieder vereint zu sein.<br />
Zutiefst dazu will der Verzicht der vierzig Tage uns verhelfen:<br />
daß wir den Reichtum und die Freude wiederentdecken, die<br />
Gott vor allen materiellen Gütern für uns bereithält. Wieder in<br />
lebendigen Beziehungen zu Gott und zueinander zu stehen, das<br />
könnten wir Ostern feiern.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
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Titelbild<br />
Taufe und Versuchung Christi<br />
Evangeliar Ottos III.,<br />
Reichenau, um 1000,<br />
Clm 4453, fol. 32v,<br />
© Bayerische Staatsbibliothek München<br />
Das Evangeliar Ottos III., das gegen Ende des 10. Jahrhunderts entstand, wurde<br />
verschiedentlich Heinrich II. zugeordnet, was aber stilistisch nicht zu vertreten<br />
ist. Die Gestaltung der Miniaturen verweist auf frühere Vorbilder. Das zeigt sich<br />
in der Qualität der Illustrationen, in der Zeichnung der Figuren und im Umgang<br />
mit den Farben, die später weniger weich und warm wirken. So gilt diese Handschrift<br />
heute als Höhepunkt der Reichenauer Buchmalerei, zur Liuthargruppe<br />
gehörig. Sie enthält zwölf Kanontafeln, vier Initialzierseiten und 35 Miniaturen.<br />
Die Miniaturen weisen einen breiten christologischen Zyklus auf – im Sinne<br />
einer Harmonisierung der Evangelientexte –, wobei die Bilder meistens passend<br />
zu den Textstellen angeordnet sind. Ein rechteckiger Rahmen umgibt alle<br />
Miniaturen, und die Figuren heben sich von einem meist goldenen Hintergrund<br />
ab.<br />
Daß die Illustration nicht von nur einer Hand erfolgte, mindert nicht die<br />
hohe Qualität der Bilder, die insgesamt sehr einheitlich wirken. Exakt zu unterscheiden,<br />
welche Maler bestimmte Teile ausgestattet haben, ist nicht möglich.<br />
Wichtig ist, daß für die Handschrift keine unterschiedlichen Entstehungszeiten<br />
anzunehmen sind.<br />
Mehrfach wird die Handschrift in Inventarlisten des Bamberger Domschatzes<br />
aufgeführt, so 1554, 1726 und öfter.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
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5 Meditation zum Titelbild<br />
Vom Geist geführt<br />
In einem Doppelbild hält der Maler aus dem 10. Jahrhundert<br />
das Geschehen der Taufe Jesu und die dreimalige Versuchung<br />
Jesu in der Wüste fest. Beide Ereignisse gehören für ihn<br />
offenbar zusammen, deshalb umgibt er das Ganze mit einem<br />
schmalen braunen bzw. purpurfarbenen Rahmen. Mit dem<br />
leuchtenden Goldgrund, der teilweise wie ein Vorhang wirkt,<br />
verdeutlicht er zugleich, daß diese Ereignisse am Beginn des<br />
Lebens Jesu nur von seiner Zugehörigkeit zu Gott her zu verstehen<br />
sind.<br />
Im oberen Bildteil links schildert der Maler sehr konzentriert<br />
das Geschehen bei der Taufe Jesu: Jesus steigt gerade aus dem<br />
Wasser des Jordan, über ihm öffnet sich der Himmel und die<br />
Geisttaube schwebt auf ihn herab. Zwei Engel stehen bereit,<br />
ihm zu dienen, und Johannes der Täufer, wie ein Priester gekleidet,<br />
unterstreicht mit seiner Hand gleichsam die Stimme<br />
aus dem Himmel: „Das ist mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen<br />
gefunden habe.“ (Mt 3, 17)<br />
Während in diesem Teilbild sich alles auf die Gestalt Jesu hin<br />
konzentriert, steht im Bild daneben Jesus dem Versucher gegenüber.<br />
Daß der Maler den Teufel mit Flügeln wie einen<br />
Engel darstellt, verweist auf die Vision aus der Offenbarung<br />
(12, 7–12), nach der der Teufel ein gefallener Engel ist.<br />
In dieser ersten Versuchung fordert der Versucher den nach<br />
40 Tagen Wüstenaufenthalt hungernden Jesus auf, er möge<br />
Steine in Brot verwandeln: „Wenn du Gottes Sohn bist, so befiehl,<br />
daß aus diesen Steinen Brot wird.“ (Mt 4, 3) Dabei hält er<br />
den Botenstab, den gewöhnlich Engel tragen, in der linken<br />
Hand, schaut Jesus herausfordernd an und weist mit der rechten<br />
Hand auf einige am Boden liegende Steine. Jesu Antwort,<br />
ein Schriftzitat aus Dtn 8, 3, weist diese Versuchung klar zurück:<br />
„Der Mensch lebt nicht nur von Brot, sondern von jedem<br />
Wort, das aus Gottes Mund kommt.“ (Mt 4, 4) Jesu auf den<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
Versucher gerichtete Hand unterstreicht souverän seine Ablehnung.<br />
In der unteren Bildhälfte der Miniatur illustriert der Maler<br />
die zweite und dritte Versuchung Jesu durch den Teufel. Am linken<br />
Bildrand stehend, schaut der Versucher auf Jesus, den er<br />
auf die Zinne des Tempels gestellt hat mit der Aufforderung:<br />
„Wenn du Gottes Sohn bist, so stürz dich hinab ...“ (Mt 4, 6).<br />
Erstaunlich ist, daß er dieses Ansinnen seinerseits mit einem<br />
Zitat aus Psalm 91, 11 f. begründet: „... denn es heißt in der<br />
Schrift: Seinen Engeln befiehlt er, dich auf ihren Händen zu<br />
tragen, damit dein Fuß nicht an einen Stein stößt.“ (Mt 4, 6)<br />
Frech grinsend unterstreicht der Teufel seine Zumutung durch<br />
die Haltung seiner Hände. Jesus weist den Versucher zurück<br />
mit einem Wort aus Dtn 6, 16: „In der Schrift heißt es auch:<br />
Du sollst den Herrn, deinen Gott, nicht auf die Probe stellen.“<br />
(Mt 4, 7)<br />
Wie Jesus in der Ablehnung der ersten Versuchung deutlich<br />
macht, daß Gott für ihn nicht Mittel zum Zweck ist, er also<br />
Schauwunder ablehnt, so zeigt er unmißverständlich in seiner<br />
Reaktion auf den zweiten Versuch Satans, ihn für seine Ziele<br />
zu mißbrauchen, daß es dem Menschen nicht zusteht, Gott herauszufordern.<br />
Jesu Gottessohnschaft erweist sich nicht im<br />
Gehorsam gegenüber Satans Forderungen, sondern in unbedingtem<br />
Gehorsam Gott gegenüber.<br />
Die dritte Versuchung des Teufels treibt das Ganze auf die<br />
Spitze. Er stellt Jesus auf einen hohen Berg, um ihm den Reichtum<br />
der ganzen Welt zu zeigen mit der Aufforderung: „Das alles<br />
will ich dir geben, wenn du dich vor mir niederwirfst und mich<br />
anbetest.“ (Mt 4, 9) Energisch weist Jesus den Versucher in<br />
seine Schranken: „Weg mit dir, Satan! Denn in der Schrift steht:<br />
Vor dem Herrn, deinem Gott, sollst du dich niederwerfen und<br />
ihm allein dienen.“ (Mt 4, 10) Dieses Wort, das Jesus aus dem<br />
Buch Deuteronomium (6, 13) aufgreift, unterstreicht der Maler<br />
mit einer Handbewegung Jesu, die den Teufel unmißverständlich<br />
abweist. „Darauf ließ der Teufel von ihm ab, und es<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
kamen Engel und dienten ihm.“ (Mt 4, 11) Daß Jesus hier<br />
gegenüber dem Satan Sieger ist und bleibt, darauf weist ein<br />
winziges Detail hin: Zu Jesu Füßen erblüht eine kleine Wüstenblume.<br />
Sicher zeigt der Maler mit den dienenden Engeln im ersten<br />
und letzten Bildteil eine Verbindung beider Ereignisse. Deutlicher<br />
aber weist der Evangelist Matthäus auf diese Verbindung<br />
dadurch hin, daß der Geist Gottes, der bei der Taufe wie eine<br />
Taube auf Jesus herabkommt, derjenige ist, der ihn dann in die<br />
Wüste führt. Jesu Weg beginnt in der Kraft des Geistes und vollzieht<br />
sich in allen Etappen in der Einheit mit dem Vater und<br />
dem Geist. Gleichzeitig erweist sich in dieser Versuchungsgeschichte,<br />
daß Jesus in seiner Person die Geschichte des Volkes<br />
Israel durchlebt und daß sie sich in ihm vollendet. Der vierzigtägige<br />
Aufenthalt Jesu in der Wüste erinnert an die 40 Jahre<br />
der Wüstenwanderung des Volkes. Dort hat Israel ganz ähnliche<br />
Versuchungen durchstehen müssen. Immer wieder hat es<br />
sich gegen Gott aufgelehnt, entweder, weil es Hunger hatte<br />
(vgl. Ex 16) oder weil Durst quälte (vgl. Ex 17). Auch die dritte<br />
Versuchung, sich von Gott weg und den Göttern zuzuwenden,<br />
war dem Volk nicht fremd, was sich z. B. in der Errichtung des<br />
Goldenen Kalbs zeigt (vgl. Ex 32).<br />
Noch etwas verdeutlicht diese Miniatur: Der Versucher kann<br />
immer nur von außen an Jesus herantreten. Er ist nicht von<br />
innen her versuchbar. Dadurch, daß er die Gestalt Jesu immer<br />
größer darstellt als den Versucher, will der Maler Jesu souveräne<br />
Größe ausdrücken. Zugleich sagt er damit aus, daß auch<br />
wir uns in Versuchungen an ihn halten können, damit wir –<br />
wie er – in der Kraft des Geistes Gottes den Anfechtungen<br />
widerstehen können.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
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317 Thema des Monats<br />
Gott – gerecht und barmherzig<br />
Rettende Gerechtigkeit<br />
Die biblische Aussage, daß Israels Gott der Gott der Gerechtigkeit<br />
ist, drohte in der Geschichte des Christentums immer<br />
wieder zum Bild des unbarmherzigen und gnadenlosen<br />
Richters entstellt zu werden. Das Gottesattribut der Gerechtigkeit<br />
heilvoll zu fassen und sie von ihrer schwarzen Folie, einem<br />
verselbständigten Strafgedanken, zu lösen, fiel offenbar schwer,<br />
auch wenn dieser Schritt biblischem Denken zuinnerst entspricht.<br />
Der Begriff der Gerechtigkeit hatte oft einen bitteren<br />
Beigeschmack, und Bilder von Rache und Strafe überlagerten<br />
seine ursprünglichen Dimensionen.<br />
Schaut man in die entsprechenden alttestamentlichen Texte,<br />
so fällt zunächst die Vielfalt und innere Verschiedenheit der biblischen<br />
Rede von Gottes Gerechtigkeit auf; der Gerichtsdiskurs<br />
ist hier ein – gewichtiger – Diskurs unter anderen. Vor allem<br />
aber wird deutlich, daß der „Gott der Gerechtigkeit“ keinesfalls<br />
unverbunden neben oder in verwirrendem Widerspruch zum<br />
„Gott der Barmherzigkeit“ steht.<br />
Einem alttestamentlichen Schlüsseltext zufolge, in dem Gott<br />
selbst sein Handeln an und mit Israel – die Bedeutung seines<br />
Namens – auslegt (Ex 34, 6–7), ist es die Barmherzigkeit, die<br />
Gottes Tun wesentlich und vor allem andern bestimmt. Nach der<br />
Erzählung über den Abfall des gerade aus der Sklaverei befreiten<br />
Volkes zum „Goldenen Kalb“ steht die Fortsetzung und Gestaltung<br />
der Beziehung zwischen Gott und dem von ihm befreiten<br />
Volk in Frage. Doch Gott gibt eine erlösende Antwort: „Jahwe ist<br />
Jahwe, ein barmherziger und gnädiger Gott, langmütig, reich an<br />
Huld und Treue: Er bewahrt Tausenden Huld, nimmt Schuld,<br />
Frevel und Sünde weg, läßt aber (den Sünder) nicht ungestraft;<br />
er verfolgt die Schuld der Väter an den Söhnen und Enkeln, an<br />
der dritten und vierten Generation.“<br />
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Thema des Monats 318<br />
Barmherzigkeit und Gnade stehen hier im Vordergrund, sie<br />
zeigen sich in der Vergebungsbereitschaft Gottes, die in einer<br />
Regel veranschaulicht wird. Gottes Wille, Sünden zu vergeben,<br />
ist unermeßlich, Menschen können sie in ihrem ganzen Ausmaß<br />
gar nicht erfassen; darauf deuten die tausend Generationen<br />
hin. Gott selbst trägt die Schuld der Menschen ab. Jahwe<br />
ist dabei aber nicht gleichgültig und taub gegenüber der Gewalt<br />
der Sünde und ihren verheerenden Folgen für die Glaubensgemeinschaft.<br />
Drei bis vier Generationen von Menschen können<br />
unter einem Dach leben und so durch eine in der ersten Generation<br />
begangene Untat geprägt werden, und ebenso viele Generationen<br />
sucht Gott heim – dieses Wort trifft den Sinn des<br />
hebräischen Wortes präziser als „verfolgen“ –, um zu prüfen,<br />
ob die Nachgeborenen bereit sind, aus den Fehlern der Vorfahren<br />
zu lernen und neu anzufangen.<br />
Gott gefällt das Unrecht nicht, das Menschen Menschen antun<br />
und mit dem sie zugleich den Gottesbund brechen, und<br />
doch übertrifft Gottes Erbarmen, seine Bereitschaft, schlimme<br />
Schuld zu tilgen und dort zu gönnen und zu geben, wo gar kein<br />
Verdienst ist, seinen Schmerz und Zorn über begangenes Unrecht<br />
(vgl. auch Hos 11, 8–11).<br />
In den Prophetenbüchern, in der biblischen Weisheitsliteratur<br />
und in den Psalmen wird deutlich, daß die Bibel die Verschiedenheit<br />
von Gerechtigkeit und Barmherzigkeit sehr wohl<br />
kennt, aber eine tiefere Erfahrung zur Sprache bringen will:<br />
Der innerste Kern von Gottes Gerechtigkeit ist Erbarmen. Der<br />
eine und selbe Gott richtet und rettet, oder genauer: Gott rettet,<br />
indem er richtet. Seine Gerechtigkeit übt Gott mit Barmherzigkeit<br />
und um der Barmherzigkeit willen aus. Im Gottesgericht<br />
geht es um Gerechtigkeit gerade für jene, denen Unrecht<br />
widerfahren ist. Es geht um „Richtigstellung“ im großen Stil,<br />
zugunsten der Opfer, aber letztlich auch zugunsten der Täter,<br />
die hier so mit ihrem Unrecht konfrontiert werden, daß auch<br />
sie dem Recht die Ehre geben. Die neuere alttestamentliche<br />
Forschung hat den erhellenden Begriff der „rettenden Gerech-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
319 Thema des Monats<br />
tigkeit“ geprägt, um diesem spezifisch biblischen Verständnis<br />
von Gottes Gerechtigkeit auf die Spur zu kommen: Die hebräischen<br />
Begriffe zedakah und zedek – Gerechtigkeit und gerecht<br />
– schließen Elemente von Solidarität, Güte und Barmherzigkeit<br />
ein.<br />
Gottes Gerechtigkeit erweist sich als rettende Gerechtigkeit,<br />
und Gottes Barmherzigkeit ist ganz anderes und viel mehr als<br />
das Wachsweichwerden eines unschlüssigen oder unberechenbaren<br />
Richters oder auch eines unerbittlich harten Gerichtsherrn,<br />
der sich eben von Zeit zu Zeit darin gefällt, Gnade vor<br />
Recht ergehen zu lassen. Vielmehr entspricht und entspringt<br />
Gottes Barmherzigkeit seiner Gerechtigkeit, die Unrecht durchkreuzen<br />
und eine von den Chaosmächten bedrohte Welt retten<br />
und in Ordnung bringen will – in jene gute Ordnung der Gerechtigkeit,<br />
in der die Menschen mit Gott und miteinander im<br />
Bunde sind und der eine dem anderen gerecht zu werden vermag.<br />
Gottes Gerechtigkeit und Barmherzigkeit bedingen sich<br />
gegenseitig. Sie folgen beide aus der biblischen Urerfahrung,<br />
daß Gott diese Welt aus Liebe ins Sein gerufen, daß er sich ihr<br />
zugewandt hat und leidenschaftlich liebend zugeneigt bleibt.<br />
Die auch heute noch verbreitete Gegenüberstellung eines strafenden<br />
Gottes im Alten Testament und eines liebenden Gottes<br />
im Neuen Testament ist ein folgenschweres und zutiefst ungerechtes<br />
Mißverständnis. Gottes Gerechtigkeit meint im gesamtbiblischen<br />
Horizont sein Leben ermöglichendes, Heil schaffendes,<br />
rettendes Handeln.<br />
Im Neuen Testament leuchtet Gottes Barmherzigkeit in Jesu<br />
Gleichnissen auf, man denke an die Erzählung vom barmherzigen<br />
Vater (Lk 15, 11–32) oder von den Arbeitern in Weinberg<br />
(Mt 20, 1–16). „Gerechtigkeit“ ist besonders im Matthäusevangelium<br />
ein Schlüsselbegriff, der die Tiefendimension von Gott<br />
und Mensch erschließt und alle Nachfolge Christi anleitet, wie<br />
auch das Alte Testament das persönliche und gemeinschaftliche<br />
Mühen um Gerechtigkeit nicht als äußerliche Gebotserfüllung,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 320<br />
sondern als existentielle Nachahmung Gottes und als menschliches<br />
Mitgehen auf seinen Wegen versteht.<br />
Der Apostel Paulus deutet Jesu Kreuz und Auferstehung als<br />
Verdichtung von Gottes Gnadenhandeln. Die umstürzende<br />
christliche Erfahrung der göttlichen Barmherzigkeit in Jesus<br />
Christus steht quer zu jeder Leistungsmoral und jeder Selbstgerechtigkeit<br />
und befreit von ihnen. Gerechtigkeit und Barmherzigkeit<br />
rücken hier, gesamtbiblisch vorbereitet, aufs engste zusammen:<br />
Gottes Gerechtigkeit macht den Sünder gerecht.<br />
Susanne Sandherr<br />
Die Vergebungsbitte im Vaterunser<br />
Um Vergebung bitten, Vergebung gewähren, heißt anerkennen,<br />
daß es Schuld gibt, daß Menschen schuldig werden<br />
können voreinander und vor Gott. Vergebung ist dabei nicht zu<br />
verwechseln mit Schadenersatz, den ich bei einem Sachschaden<br />
ableisten kann. Vergebung setzt Beziehung voraus zwischen<br />
Vergebendem und Schuldigem.<br />
Heute wird vielfach ein mangelndes Schuldbewußtsein beklagt<br />
und manches Mal auch eine fehlende Bereitschaft, wirklich<br />
von Herzen zu vergeben. Beides erschwert die Umsetzung<br />
der Bitte des Vaterunsers: „Und erlaß uns unsere Schulden, wie<br />
auch wir sie unseren Schuldnern erlassen haben.“ (Mt 6, 12)<br />
Im Matthäusevangelium steht das Vaterunser im Zentrum<br />
der Bergpredigt, der intensiven Unterweisung seiner Jünger<br />
(Mt 6, 9–13). Bei Lukas sehen die Jünger Jesus beten und bitten<br />
ihn: „Herr, lehre uns beten.“ (Lk 11, 1) Die lukanische Fassung<br />
(Lk 11, 2–4) ist etwas kürzer als die bei Matthäus, der mit<br />
den sieben Vaterunserbitten seine Vorliebe für die Zahl Sieben<br />
unterstreicht.<br />
Wenn Matthäus das Herrengebet in die Mitte der Jüngerunterweisung<br />
stellt, dann wird deutlich, daß die Bitten dieses Ge-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
321 Unter die Lupe genommen<br />
betes zentrale Anliegen der Jünger und Jüngerinnen enthalten.<br />
Dabei geht es in den drei ersten Bitten um die „Sache“ Gottes:<br />
daß Gottes Name durch uns geheiligt werde, indem wir uns für<br />
seine Ehre einsetzen; daß Gottes Reich komme, hier und jetzt<br />
im Tun der Menschen erfahrbar werde und einmal durch Gott<br />
vollendet werde und daß der göttliche Wille zum Maßstab<br />
menschlichen Handelns auf Erden werde, wie er es im Himmel<br />
schon ist. Die weiteren vier Bitten kreisen um die notwendigen<br />
Belange der Menschen: das tägliche Brot, die Vergebung der<br />
Schuld, die Bewahrung vor bzw. in Versuchung und die Errettung<br />
vom Bösen. Es geht um existentielle Anliegen der Menschen.<br />
Dabei sticht die Vergebungsbitte besonders hervor, weil sie<br />
göttliche und menschliche Vergebung aneinander koppelt. Sie<br />
ist die schwierigste der Bitten des Vaterunsers, weil sie uns auffordert,<br />
selbst das zu tun, was wir von Gott erbitten: „Und erlaß<br />
uns unsere Schulden, wie auch wir sie unseren Schuldnern<br />
erlassen haben.“ (Mt 6, 12) Lukas formuliert: „Und erlaß uns<br />
unsere Sünden; denn auch wir erlassen jedem, was er uns<br />
schuldig ist.“ (Lk 11, 4)<br />
Eine weitere Besonderheit der Bitte um Vergebung ist darin<br />
zu sehen, daß im Anschluß an das Vaterunser die enge Verbindung<br />
von göttlicher und menschlicher Vergebungsbereitschaft<br />
kommentiert wird: „Denn wenn ihr den Menschen ihre Verfehlungen<br />
vergebt, dann wird euer himmlischer Vater auch<br />
euch vergeben. Wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt,<br />
dann wird euch euer Vater eure Verfehlungen auch nicht vergeben.“<br />
(Mt 6, 14 f.) Die enge Verknüpfung „wenn ... dann ...“<br />
könnte glauben machen, daß Gott seine Vergebungsbereitschaft<br />
von der menschlichen Vergebungsbereitschaft abhängig<br />
macht. Daß dies aber keineswegs gemeint ist, zeigt das Matthäusevangelium<br />
an anderer Stelle, im Gleichnis vom unbarmherzigen<br />
Gläubiger: Mt 18, 23–35. Gott (als König) vergibt hier<br />
großzügig, ohne Bedingungen zu stellen, dem Schuldner eine<br />
enorm hohe Schuld. Erst als dieser seinerseits unbarmherzig<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 322<br />
mit seinem Kollegen umspringt, zieht der König auch ihn zur<br />
Rechenschaft. Der entscheidende Unterschied zwischen göttlichem<br />
und menschlichem Verhalten liegt darin, daß der Schuldner<br />
dem Mitknecht auf rein rechtlicher Ebene begegnet, Gott<br />
ihm aber auf der Ebene des Erbarmens entgegenkommt.<br />
Gott geht immer in Vorleistung, nicht der Mensch. Daß Jesus<br />
im Vaterunser dazu auffordert, den Vater um Erlaß der Schuld<br />
zu bitten – wie auch wir sie anderen erlassen –, will uns darauf<br />
hinweisen, daß wir zugleich die Kraft zu eigener Vergebungsbereitschaft<br />
immer neu von Gott erbitten. Wir können<br />
Gottes Vergebung nur dann wirklich annehmen, wenn wir uns<br />
darum bemühen, auch selbst Vergebung zu gewähren, wo es<br />
nötig ist. Die uns im Alltag oft begegnende Devise: „Wie du mir,<br />
so ich dir“, hebt den Teufelskreis des Bösen nicht auf, sondern<br />
verstärkt ihn nur. So könnte die von Jesus nahegelegte Devise<br />
lauten: „Wie Gott mir, so ich dir“ (Josef Heer).<br />
Im Kontext des Matthäusevangeliums geht es um die „neue<br />
Gerechtigkeit“, die seit dem Anbruch des Gottesreiches in Jesus<br />
Christus möglich und notwendig ist. So sehr die Bitten des<br />
Vaterunsers die ganz konkrete Existenz des Christen betreffen,<br />
ihr Gehalt geht über das Hier und Jetzt hinaus. Die Jünger und<br />
Jüngerinnen Jesu bitten auch um Vergebung aller Schuld im<br />
Gericht. Hinter der Bitte um Erlösung vom Bösen (das kann der<br />
oder das Böse meinen) steht die israelitische Auffassung, daß<br />
Satan als Ankläger (Staatsanwalt) die Schuldenlast der Menschen<br />
im Gericht aufzählt. Diese Auffassung ist durch Jesus<br />
überwunden worden. In Wort und Tat erweist er Gott als den<br />
„Vater des Erbarmens und ... Gott allen Trostes“ (2 Kor 1, 3).<br />
Wo wir im Vaterunser um Vergebung unserer Schuld bitten<br />
und in uns die Vergebungsbereitschaft stärken, bauen wir mit<br />
am Frieden in der Welt; denn ohne Vergebung von Schuld, die<br />
trennend zwischen uns steht, ist kein dauerhafter Friede möglich.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
323 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
„Aus tiefer Not“<br />
Hoffen als Lebensform<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 247.<br />
Das katechetisch-missionarische Anliegen, „deutsche Psalmen<br />
für das Volk zu machen, das ist geistliche Lieder, daß das<br />
Wort Gottes auch durch den Gesang unter den Leuten bleibe“,<br />
steht im Hintergrund von Martin Luthers Umdichtung des 130.<br />
Psalms zu einem volkssprachlichen und somit zugänglichen und<br />
eingängigen, sangbaren Psalm- und Glaubenslied. 1523 konzipierte<br />
Luther in einer ersten Fassung das Lied vierstrophig.<br />
Luthers theologische Beschäftigung mit dem wegen seiner<br />
Nähe zur Theologie des Römerbriefs als „paulinischer Psalm“<br />
bezeichneten biblischen Klagegebet brach nach dieser ersten<br />
Niederschrift nicht ab, sondern intensivierte sich: Im Mittelteil<br />
des Psalms fand Luther sein „sola gratia“, „sola fide“ und „sola<br />
scriptura“ bezeugt. Das enorme theologische Gewicht dieser<br />
Übereinstimmungen veranlaßte ihn zu einer Überarbeitung des<br />
vierstrophigen Psalmlieds. Durch diese Erweiterung und theologische<br />
Vertiefung wurde „aus dem exemplarischen Psalmlied<br />
ein reformatorisches Glaubenslied“ (Hansjakob Becker).<br />
Das Lied, wie es uns heute vorliegt, ist vermutlich in drei Stufen<br />
entstanden. Zunächst schrieb Martin Luther den vierstrophigen<br />
Text, der auf eine alte Osterweise gesungen werden konnte.<br />
Dann gab er dem Lied eine neue Melodie. Schließlich dichtete<br />
er zu dieser Melodie das deutend-lehrhaft ergänzte fünfstrophige<br />
Lied, das auch von Luther als Endfassung autorisiert ist.<br />
Der Psalm<br />
Psalm 130 ist mit den Anfangsworten seiner lateinischen Übersetzung<br />
in unsere Sprache eingegangen: „De profundis“. Er ist<br />
der sechste der sieben Bußpsalmen der kirchlichen Tradition.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 324<br />
Zahlreiche Komponisten – nicht allein Johann Sebastian Bach –<br />
und unterschiedlichste Dichter haben die biblische Vorgabe auf<br />
je eigene Art aufgenommen. Offenbar wird in diesem kurzen<br />
Psalm religiöse, menschliche Urerfahrung so zur Sprache gebracht,<br />
daß sich Menschen aller Zeiten mit ihren Nöten und<br />
Hoffnungen darin wiederfinden konnten.<br />
Der Beter des Psalms ruft aus den Tiefen der Chaoswasser, aus<br />
denen er sich nicht selbst retten kann. Er ist ganz unten. Er ist<br />
in Todesnot. Es ist die zerstörerische Macht der Sünde, die nach<br />
ihm greift. Entschiede sein Tun über sein Ergehen, so wäre er<br />
verloren. Eine radikale Aussage: Jeder Mensch ist der Sünde und<br />
damit dem Unheil verfallen! Doch gleichsam im selben Atemzug<br />
betont der Psalm, daß Gott diesen Unheilszusammenhang unterbricht<br />
und bricht, weil sein innerstes Wesen Gnade und Vergebung<br />
sind. Die Haltung der Gottesfurcht steht nicht im Widerspruch<br />
zu dieser Gotteserfahrung, sondern entspricht ihr; sie ist<br />
gelebte Hoffnung, liebende und vertrauensvolle Ausrichtung auf<br />
Gott. Jahwes vergebendes Wort ist das Ziel menschlichen Lebens,<br />
menschlichen Hoffens. Gottes Wort, Gott selbst setzt als<br />
die aufgehende, leuchtende und rettende Sonne der dunklen<br />
und Verderben bringenden Nacht ein Ende.<br />
Beginnt der Psalm auch im Chaosdunkel, so endet er doch mit<br />
dem angedeuteten Bild der strahlenden Morgensonne. Die letzten<br />
beiden Verse laden die Gemeinschaft Israel ein, im vertrauensvollen<br />
Hoffen auf Jahwes umfassende Erlösung zu leben. Das<br />
Warten auf Jahwe soll Israel zur prägenden Lebensform werden.<br />
Der Schlußvers entwirft die Vision einer Befreiung Israels aus<br />
allen Unheilszusammenhängen seiner Geschichte. Jahwe will<br />
sie ihm schenken, jener Gott, dessen innerstes Wesen Schenken,<br />
Gönnen, Gnade ist.<br />
Das Lied<br />
Während Luthers Übersetzung des Psalms von 1517 schlicht die<br />
Verse reiht, weist sein Psalmlied die kunstvollere Form der aus<br />
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325 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
dem Minnesang bekannten siebenzeiligen Kanzonenstrophe<br />
mit einem aus zwei Doppelzeilen bestehenden Aufgesang und<br />
einem dreizeiligen Abgesang auf. Luthers vierstrophige Übertragung<br />
gibt den Inhalt des 130. Psalms getreu und knapp wieder;<br />
sein fünfstrophiges Lied bemüht sich um die Schärfung der „paulinischen“<br />
Kontur des Psalms, so in der Betonung des „sola gratia“<br />
(„nichts denn Gnad und Gunst“), der Vergeblichkeit – oder<br />
auch der Gratuität, die Geschenktheit? – menschlichen Handelns<br />
(„ist doch unser Tun umsonst“) und der wesentlichen Unzulänglichkeit<br />
menschlicher Leistungen („Vor dir niemand sich<br />
rühmen kann“).<br />
Die Erweiterungen tragen nach Luthers Verständnis nichts<br />
Fremdes, dem Psalm Äußerliches an ihn heran, sondern dienen<br />
der Freisetzung seines tiefsten Sinns. Luthers Psalmlied übersetzt<br />
den Psalm nicht nur, es betet ihn, verkündigt ihn, legt ihn<br />
aus und predigt über ihn. Dies geschieht mit klaren reformatorischen<br />
Akzenten, die im Einzelnen für katholische Ohren fremd<br />
klingen mögen und besprochen werden müssen und können. In<br />
welchem Sinne etwa ist „unser Tun umsonst“ (2. Strophe)?<br />
Daß allein Gottes Gnade auf den Schrei aus der Tiefe zu antworten<br />
vermag, daß der vertrauende Glaube an Gottes Wort<br />
heilt, daß Hoffen die eigentliche Lebensform der Christen – an<br />
der Seite Israels – ist, daß Vergebungsgewißheit nur im sehnsüchtigen,<br />
klaren und entschiedenen Warten auf Gott wachsen<br />
kann: All dies eint die Konfessionen und trennt sie nicht. So<br />
bietet bereits das katholische „Gotteslob“ von 1975 „Aus tiefer<br />
Not“ mit Luthers Melodie und drei Strophen aus dem vierstrophigen<br />
Psalmlied des Reformators (GL 163), und das „Katholische<br />
Gesangbuch der Schweiz“ von 1998 lädt dazu ein, Luthers<br />
fünfstrophiges Glaubenslied zu singen (KG 384).<br />
„Aus tiefer Not“ ist eine freie Übertragung des 130. Psalms. Mit<br />
ihr unternahm Martin Luther den kühnen Versuch, einen biblischen<br />
Psalm in ein deutsches Strophenlied zu transformieren.<br />
Die Bedeutung dieses Schritts ist nicht leicht zu überschätzen.<br />
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Die Mitte erschließen 326<br />
Die Psalmen, die bis dahin ihren Ort in der lateinischen Klerikerliturgie<br />
hatten, öffneten sich nun der ganzen Gemeinde<br />
und dem volkssprachlichen Gesang. Psalmlieder sprechen, wie<br />
der Psalter selbst, persönlich-existentiell, bewegt-bewegend, in<br />
Klage und Flehen, in Bitte und Lobpreis eindringlich und unmittelbar.<br />
Sie bringen so eine neue, unverwechsel- und unverzichtbare<br />
Farbe in den Gottesdienst und den Gemeindegesang<br />
ein.<br />
Susanne Sandherr<br />
Beichtstuhl und Beichtraum<br />
Landläufig gelten Beichtstühle als Möbel, an denen ein<br />
katholischer Kirchenraum eindeutig identifiziert werden<br />
kann. Zugleich ist es das Möbelstück des Kirchenraumes, mit<br />
dem die meisten Gemeindemitglieder ihre Probleme haben.<br />
Vor allem bei Älteren weckt dieser Stuhl unangenehme Erinnerungen<br />
an Vollzugsformen des Sakraments, die mehr mit einem<br />
Verhör als mit einer heilbringenden Feier zu tun hatten. Viele<br />
der Jüngeren suchen ihn nach der Erstbeichte nie mehr auf.<br />
Wie das Bußsakrament auch, so hat das zu dieser Feier gehörige<br />
Möbel in der Geschichte einen massiven Wandel durchgemacht.<br />
Ausgangspunkt ist der Stuhl des Bischofs im frühmittelalterlichen<br />
Bußritual. Diese sogenannte „öffentliche Buße“<br />
hatte aber nur wenig mit der späteren Beichte gemein, denn<br />
nur Gläubige mit schweren Sünden mußten sich diesem Verfahren<br />
unterziehen. Der Stuhl drückte die richterliche Vollmacht<br />
des Bischofs aus, aus der Gemeinschaft der Kirche auszuschließen<br />
und wieder in sie aufzunehmen. Es war dies aber<br />
kein gesonderter Stuhl allein für diese Feier, sondern die sogenannte<br />
„Cathedra“ des Bischofs, die sich auch heute noch in<br />
jeder Kathedrale findet.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
327 Die Mitte erschließen<br />
Besondere Stühle wurden nach der Jahrtausendwende auch<br />
von Priestern benutzt, als diese alte Form der Buße in die<br />
„Beichte“ überging, d. h. das regelmäßige Bekenntnis aller Sünden<br />
durch jeden Gläubigen vor einem Priester. Die Beichtenden<br />
knieten neben dem offenen Stuhl, der z. B. im Altarraum aufgestellt<br />
und für alle einsehbar war. Bei diesen Stühlen war noch<br />
eine Handauflegung möglich, so daß der Vollzug auch eine<br />
Zeichenhandlung besaß. Ebenso konnte ein Platz in einem bestehenden<br />
Chorgestühl als Beichtort genutzt werden. In Frauenklöstern<br />
gab es bisweilen die Sonderform einer „Beichtkammer“,<br />
d. h. eines Zimmers mit kleinen Fensternischen zur<br />
Klausur, durch die ein Priester die Beichte der Frauen hören<br />
konnte, ohne die Klausur selbst betreten zu müssen.<br />
Beichtstühle, wie wir sie kennen, setzten sich erst nach dem<br />
Konzil von Trient durch, auch wenn erste Exemplare schon aus<br />
vorreformatorischer Zeit bekannt sind. Um ein Mithören der<br />
Beichte durch andere zu erschweren, wurde der bisherige Stuhl<br />
mit Wänden versehen und schließlich als dreiteiliges geschlossenes<br />
Gebilde gestaltet, das zugleich einen Sichtschutz bot. Um<br />
unsittliche Handlungen unmöglich zu machen, mußten die<br />
Stühle eine Trennwand mit Gitter zwischen Priester und Beichtenden<br />
besitzen. Damit war die Handauflegung nicht mehr<br />
möglich und mußte durch eine Handausstreckung ersetzt werden.<br />
Vor allem von Jesuiten propagiert, setzte sich der Beichtstuhl<br />
in nachreformatorischer Zeit in ganz Europa durch. Die<br />
Beichte selbst war jedoch immer weniger als liturgische Feier<br />
erkennbar. Ein genaueres Eingehen auf die Sünden machte sie<br />
einerseits zu einem Element der Seelsorge und der Gewissensbildung,<br />
andererseits zu einem Instrument der sozialen Kontrolle.<br />
Wenig bekannt ist, daß es in lutherischen Kirchen ebenfalls<br />
Beichtstühle gab, die bis ins 18./19. Jahrhundert für eine lutherische<br />
Form der individuellen Beichte benutzt wurden. Luther<br />
hatte die Beichte nicht einfach abgeschafft, sondern wollte<br />
Zwang und Zwanghaftigkeit verhindern. Sein Kleiner Katechis-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 328<br />
mus bot eine Beschreibung der Beichte, lutherische Agenden<br />
führten diese genauer aus. Die Entwicklung der lutherischen<br />
Beichtstühle vollzog sich parallel zu der in der katholischen<br />
Kirche. Allerdings dienten hier die Beichtstühle, in denen die<br />
Beichtenden knieten oder neben dem Pfarrer saßen, mehr<br />
dazu, der Beichte, die vor jedem Abendmahlsempfang verpflichtend<br />
war, einen Ort und ggf. einen Sichtschutz zu bieten.<br />
Um die Handauflegung zur Absolution nicht zu behindern,<br />
fehlt fast immer eine Trennwand. In kleinen Dorfkirchen<br />
konnte wieder eine einfache Kirchenbank (z. B. in Altarnähe)<br />
als Beichtort dienen. Nur der Sitz für den Geistlichen, der an<br />
den Beichttagen oft einige Stunden „beichtesitzen“ mußte, war<br />
gepolstert. Überdauert haben solche Möbel in lutherischen Kirchen<br />
den Wandel zur eher formelhaften „Allgemeinen Beichte“<br />
vor dem Abendmahl nur, weil sie zwischenzeitlich für andere<br />
Zwecke (z. B. als Schränke) verwendet wurden.<br />
Allerdings gab es in der frühen Neuzeit noch in beiden Konfessionen<br />
neben der Beichte Elemente der Kirchenzucht. So<br />
kannten beide Konfessionen das öffentliche Stehen von Büßern<br />
an gut sichtbarer Stelle während des Gottesdienstes, z. B. unter<br />
dem Predigtstuhl oder vor dem Altar. Intendiert war dabei letztlich<br />
das Gebet der versammelten Gläubigen für die Büßenden.<br />
In der katholischen Kirche bedurfte es vielleicht erst der Krise<br />
der Beichte im 20. Jahrhundert, um auch in der räumlichen Gestaltung<br />
andere Wege zu gehen. Sowohl der Aspekt der liturgischen<br />
Feier und damit die Ermöglichung einer wirklichen<br />
Handauflegung bei der Absolution, als auch die hohe Gewichtung<br />
des seelsorglichen Gesprächs haben dazu geführt, daß<br />
heute in vielen Kirchen neben dem Beichtstuhl auch ein Beichtraum<br />
angeboten wird. Der Beichtstuhl steht weiterhin für eine<br />
anonyme Beichte zur Verfügung. Das Beichtzimmer hingegen<br />
ermöglicht ein längeres Gespräch, das nicht nur ein Raster abarbeitet,<br />
sondern im Idealfall ein wirklicher Dialog ist, in dem<br />
zwei Christen um den Glauben ringen und zugleich die eigene<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
329 Die Mitte erschließen<br />
Glaubensschwachheit bekennen. Hier steht der seelsorgliche<br />
Aspekt im Vordergrund. Zudem ermöglicht die Gestaltung des<br />
Raumes, z. B. mit brennenden Kerzen, Bildern oder einem<br />
Kreuz, aber auch der Vollzug, in dem etwa das Gespräch aus einer<br />
vorhergehenden Schriftlesung entwickelt wird, das Ganze<br />
als liturgische Feier zu erleben. Zugleich erhöhen Situation und<br />
direkter Blickkontakt die Anforderung an beide Seiten. Zumindest<br />
eine Begrenzung mit Glaswänden muß den Schutz des Gesprächs<br />
nach außen gewährleisten.<br />
Die Frage, ob das Sakrament der Umkehr und Versöhnung<br />
heute gesucht und gefeiert wird, hängt allerdings weitgehend<br />
von anderen Faktoren ab. Die räumliche Gestaltung ist nur ein<br />
Mittel, einen gelingenden Vollzug zu ermöglichen.<br />
Friedrich Lurz<br />
Der Aschenritus<br />
In Zeiten, in denen wir unsere Wohnungen zentral heizen,<br />
ohne Rückstände Erdöl und Erdgas verbrennen oder Fernwärme<br />
beziehen, kennen viele Menschen Asche nur noch als<br />
Endprodukt des Zigarettenrauchens oder des Grillens. Viele<br />
Ältere werden sich aber noch an Öfen erinnern, deren Aschenladen<br />
täglich geleert werden mußten und die dennoch durch<br />
herumfliegende Asche zu verschmutzten Wohnräumen und<br />
Küchen führten. Genau dieser Schmutz, dieses nutzlose Endprodukt<br />
nach einer Verbrennung, ist der Motivhintergrund, der<br />
im Aschenritus zu Beginn der österlichen Bußzeit aufscheint.<br />
In der Sache führt uns dieser Ritus zurück zum Bußverfahren<br />
des ersten Jahrtausends. Nachdem für Christen, die schwerer<br />
Vergehen schuldig sind, im Laufe der Antike ein Bußverfahren<br />
eingeführt wird, bürgert sich im Westen als Einstieg in das<br />
öffentlich-liturgische Verfahren der Anfang der Österlichen<br />
Bußzeit ein (einzelne Büßer befinden sich zu diesem Zeitpunkt<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 330<br />
ggf. schon länger in einem stillen Bußverfahren). Am Aschermittwoch<br />
wird vom Bischof der Beginn der öffentlichen Buße<br />
gefeiert. Nach dem Pontifikale von Poitiers (Ende 9. Jahrhundert)<br />
werden die mit dem Büßergewand bekleideten Büßer in<br />
die Kirche geführt. Es erfolgt ein Bekenntnis, das Gebet der<br />
sieben Bußpsalmen, die mit Vaterunser, Versikel und Oration<br />
abgeschlossen werden. Nach einer Mahnung des Bischofs wird<br />
den Büßern Asche auf das Haupt gegeben. Anschließend werden<br />
die Büßer aus der Kirche geführt, die sie dann bis Ostern<br />
nicht mehr betreten dürfen. Diese Herausführung wird als Hinauswurf<br />
(„expulsio“) gestaltet, der auch in begleitenden Texten<br />
an die Vertreibung Adam und Evas aus dem Paradies erinnert.<br />
Der Gesang „In sudore vultus tui“ („Im Schweiße deines Angesichts“)<br />
zur Hinausführung setzt sich allein aus Versen der<br />
Rede Gottes an Adam beim Verstoß aus dem Garten Eden (Gen<br />
3, 17–19) zusammen.<br />
Während in einigen Quellen die strafende Dimension dieses<br />
Ausschlusses im Vordergrund der Deutung steht, ist der ursprüngliche<br />
Sinn der einer umfassenden Umkehr und Fürbitte.<br />
Um dieser Fürbitte der Gemeinde willen wird das Bußverfahren<br />
zu einer öffentlichen Angelegenheit. Die Büßenden sollen<br />
in den nächsten Wochen mit guten Werken wie Fasten und Almosengabe<br />
ihre innere Umkehr „leben“. Die Gemeinde nimmt<br />
im fürbittenden Gebet für die Sünder als ihre „erkrankten Glieder“<br />
den priesterlichen Dienst wahr. Die Wiederaufnahme in<br />
die Gemeinde („Rekonziliation“) wird dann am Gründonnerstag<br />
feierlich vom Bischof vollzogen. Als der eigentlich Rekonziliierende<br />
wird aber Gott selbst gesehen, da nur er wieder in<br />
die Taufgnade aufnehmen kann.<br />
Das Auflegen der Asche auf das Haupt ist aus einer Form der<br />
Handauflegung durch den Bischof entstanden. Dieser Aschenritus<br />
wird bald auf die ganze Gemeinde ausgeweitet, während<br />
das Verfahren der öffentlichen Buße im 2. Jahrtausend schnell<br />
an Bedeutung verliert. Die Gemeinde erweist sich so seit dem<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
331 Die Mitte erschließen<br />
10. Jahrhundert solidarisch mit Sündern, ja bekennt sich selbst<br />
als immer wieder der Umkehr und Buße bedürftig. Ab dem<br />
11. Jahrhundert wird die Asche eigens gesegnet, ab dem<br />
12. Jahrhundert findet sich die Bestimmung, daß die Asche<br />
durch Verbrennen der Palmzweige des letzten Jahres zu gewinnen<br />
ist. Da die Asche geweiht wird, ist es nicht verwunderlich,<br />
daß aus mittelalterlichen Quellen auch magische Fehldeutungen<br />
beim Gebrauch belegt sind: So wird die geweihte Asche<br />
als heilige Sache mißdeutet und z. B. zum Schutz gegen Kopfleiden<br />
angewandt. – Nicht nur der Aschenritus wird jedoch auf<br />
die Gemeinde übertragen, sondern in gewisser Weise auch die<br />
Rekonziliation: So empfängt die Gemeinde im Mittelalter am<br />
Gründonnerstag eine Generalabsolution, in einem Teil der<br />
Quellen wird dies auch für den Aschermittwoch bezeugt.<br />
Nach den heutigen liturgischen Büchern kann der Aschenritus<br />
zwar auch in einem separaten Wortgottesdienst stattfinden,<br />
sein normaler Ort ist aber innerhalb der Messe nach der Predigt.<br />
Da es sich um einen Bußritus handelt, entfällt in dieser<br />
Messe das Allgemeine Schuldbekenntnis. Die Asche selbst wird<br />
„Zeichen der Buße“ genannt, dient also als Ausdruck einer<br />
inneren Haltung. Für die Segnung stehen zwei Orationen zur<br />
Auswahl. Ist in der zweiten noch von einer Segnung der Asche<br />
die Rede, bittet die erste Oration deutlicher um die Segnung der<br />
Mitfeiernden: „... und segne alle, die gekommen sind, um das<br />
Aschenkreuz zu empfangen.“ Die Besprengung der Asche mit<br />
Weihwasser geschieht anschließend ohne Begleitgebet.<br />
Danach treten alle vor den Priester und lassen sich die Asche<br />
auflegen – häufig geschieht dies in Form einer Bezeichnung der<br />
Stirn mit einem Aschenkreuz. Wie alle Segenshandlungen – um<br />
die handelt es sich, wie die Herkunft aus der Handauflegung<br />
zeigt – wird das Auflegen der Asche mit einer Formel gedeutet.<br />
Zwei als Aufforderung gestaltete Begleitformeln stehen zur Verfügung,<br />
die so einfach wie prägnant sind: Die traditionelle Formel<br />
„Bedenke, Mensch, daß du Staub bist und wieder zum<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 332<br />
Staub zurückkehrst.“ ist der Perikope von der Vertreibung aus<br />
dem Paradies entnommen (Gen 3, 19) und knüpft an den alten<br />
Bußritus an. Zugleich führt sie mit der anfangs beschriebenen<br />
Aschensymbolik die Vergänglichkeit des Menschen vor Augen<br />
– sicher in einer an Jugendlichkeit und Schönheit orientierten<br />
Epoche und Kultur eine zutiefst ernüchternde Aussage. Die<br />
zweite Formel zielt stärker auf die beginnende österliche Bußzeit<br />
ab: „Bekehrt euch und glaubt an das Evangelium.“ Mit diesem<br />
Zentralsatz der Verkündigung Jesu (Mt 1, 15) werden die<br />
Gläubigen aufgefordert, die Zeit vor Ostern zu einer tiefen Umkehr<br />
und zur Erneuerung ihres Taufglaubens zu nutzen. Die<br />
Bußzeit soll innere Erneuerung unseres Glaubens sein, auf den<br />
wir getauft sind und dessen zentrale Feier wir an Ostern begehen.<br />
Friedrich Lurz<br />
Gottes Barmherzigkeit drängt zum Handeln<br />
Caritas und Diakonie stehen<br />
vor neuen Herausforderungen<br />
Mit seiner Antrittsenzyklika Deus Caritas Est vom Dezember<br />
2005 richtete Benedikt XVI. einen leidenschaftlichen<br />
Appell an die Kirche, die Einheit von Gottes- und Nächstenliebe<br />
als unaufgebbar anzusehen. Das Zentrum des Evangeliums Jesu<br />
Christi und damit auch des Wirkens der Kirche in unserer Welt<br />
sei die Liebe Gottes. Sie ist völlig ungeschuldet und gilt jedem<br />
einzelnen – vor aller Leistung, vor aller Schuld (Benedikt XVI.,<br />
Deus Caritas Est [= DCE], Bonn 2006, Verlautbarungen des<br />
Apostolischen Stuhles Nr. 171, 1). Diese Erfahrung der unbedingten<br />
Liebe Gottes zu jedem von uns setzt aber auch in uns<br />
die Möglichkeit frei, anderen in Liebe zu begegnen (DCE 17).<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
333 Engagiertes Christsein<br />
Ohne die Zuwendung zum Nächsten verdorre die Gottesbeziehung<br />
(DCE 18).<br />
Das Tun der Liebe, das Tun der Caritas, gehört zum Grundvollzug<br />
der christlichen Existenz und ist ein Wesenvollzug der<br />
Kirche. Wie bedeutsam die praktizierte Caritas für die äußere<br />
Erkennbarkeit wie auch das Ansehen der Kirche zu allen Zeiten<br />
war und ist, unterstreicht Benedikt XVI. durch einen auf den ersten<br />
Blick etwas eigentümlichen Hinweis auf einen der schärfsten<br />
frühchristlichen Kritiker: Als im 4. Jahrhundert Kaiser<br />
Julian den Christen die Privilegien, die ihnen sein Vorgänger<br />
Konstantin gewährt hatte, wieder aberkennen wollte, so beteuerte<br />
er gleichwohl, daß das einzige, was ihn am Christentum<br />
beeindrucken würde, die Liebestätigkeit der Kirche sei (vgl.<br />
DCE 24). Das Zitat aus frühchristlicher Zeit bestätigt das<br />
beachtliche Vertrauen, das die Einrichtungen von Caritas und<br />
Diakonie bis heute in der Gesellschaft genießen, während die<br />
anderen Dimensionen der Kirche immer mehr an gesellschaftlicher<br />
Bedeutung zu verlieren drohen.<br />
Die evangelische Diakonie mit 423 000 hauptamtlich Beschäftigten<br />
in rund 27 000 Unternehmen und die katholische<br />
Caritas mit rund 480 000 Beschäftigten in 25 000 Einrichtungen<br />
gehören zu den größten Arbeitgebern in der Bundesrepublik.<br />
Das Vertrauen, das die Menschen den Einrichtungen der<br />
Diakonie und der Caritas entgegenbringen, wird letztlich auch<br />
durch den tragenden Hintergrund genährt, den beide Werke<br />
aus ihrer theologischen und kirchlichen Grundlegung schöpfen.<br />
Nächstenliebe wird dort nicht instrumentalisiert. Dies<br />
unterstreicht auch Benedikt XVI.: Der Christ weiß, daß Gott<br />
Liebe ist und gerade dann gegenwärtig ist, wenn nichts als<br />
Liebe getan wird (vgl. DCE 31). Es gehe allein um das Wohl des<br />
Menschen. Damit richte sich die Caritas an einem wahren, auf<br />
dem biblischen Menschenbild beruhenden Humanismus aus<br />
und habe die Aufgabe, die Rechte und Bedürfnisse der besonders<br />
Benachteiligten zu achten und sich in der Politik für sie<br />
einzusetzen.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 334<br />
Gerade darin bestehen aber oft auch die Probleme der kirchlichen<br />
sozialen Einrichtungen. Caritas und Diakonie sehen sich<br />
einem immer härter werdenden Markt gegenüber. Privatrechtlich<br />
organisierte Unternehmen, die ihren Mitarbeitenden<br />
Löhne unter den tariflichen Regelungen zahlen, bieten ebenfalls<br />
vergleichbare Leistungen und Beratungen an. Caritas und<br />
Diakonie registrieren derzeit einen – von der Gesundheitspolitik<br />
gewollten – Rückgang der Beschäftigtenzahlen von rund<br />
3, 5 Prozent pro Jahr. Marktwirtschaftliche Gesichtspunkte bestimmen<br />
die Diskussion und das Handeln in den Einrichtungen,<br />
wobei die Rahmenbedingungen immer schwieriger werden.<br />
Auch die selbstloseste Liebe muß Strukturen haben, in<br />
denen sie diese gewähren und leisten kann. Auch wenn sich<br />
Caritas und Diakonie auf fast eine Million ehrenamtlich Mitarbeitender<br />
stützen können, es braucht gut ausgebildete und<br />
angemessen bezahlte Fachkräfte. Zusätzlich müssen die Einrichtungen<br />
Kosten sparen.<br />
Doch birgt diese Situation auch Chancen. Gerade auf diesem<br />
unübersichtlicher werdenden Markt schätzen es viele Menschen,<br />
in kirchlichen Einrichtungen beraten und betreut zu<br />
werden. Viele diakonische Einrichtungen besinnen sich daher<br />
viel stärker als früher auf ihre christlichen Wurzeln, entwickeln<br />
Leitbilder, die sich an biblischen Texten orientieren und sich<br />
auf kirchliche Aussagen beziehen. Und damit gehen sie öffentlich<br />
um, vermitteln diese an Klienten und Patienten, die sich<br />
wohl gerade deswegen in den Einrichtungen geborgen und aufgehoben<br />
fühlen.<br />
Die Untrennbarkeit von Gottes- und Nächstenliebe drängt<br />
dazu, sich öffentlich zu dem Gott zu bekennen, der Liebe ist<br />
und diese Liebe allen Menschen schenkt. Caritas und Diakonie<br />
sind Ausdruck engagierten Christseins, und das soll man auch<br />
merken.<br />
Beispiel dafür ist die jüngst zwischen der Diakonie der Evangelischen<br />
Landeskirche in Baden und der Caritas der Erzdiözese<br />
Freiburg unterzeichnete „Charta oecumenica socialis“.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
335 Engagiertes Christsein<br />
Caritas und Diakonie bestärken in ihrer Vereinbarung, die sich<br />
an der 2001 unterzeichneten Charta Oecumenica orientiert,<br />
ihre bedingungslose Option für die Armen und den Willen,<br />
als Anwälte für die Menschen einzutreten, die sonst kein Gehör<br />
finden. Hier verbinden sich Ausdruck der christlichen Überzeugung<br />
nach außen auch mit wirtschaftlichen Gesichtspunkten<br />
nach innen. Regelmäßige Kommunikation der Verbandsleitungen,<br />
verstärkte Zusammenarbeit der Fachreferate, gemeinsame<br />
Fortbildungsangebote für die Mitarbeitenden sowie eine stärkere<br />
Arbeitsteilung in Beratungs- und Betreuungsangeboten sollen<br />
langfristig auch zu Kosteneinsparungen führen und die<br />
„arbeitsteilige Ökumene“ beim Wort nehmen. Zudem soll die<br />
verstärkte Zusammenarbeit den beiden Einrichtungen auch im<br />
politischen Geschäft mehr Gewicht und gesellschaftliche Kraft<br />
verleihen.<br />
Solche Zusammenarbeit und Selbstvergewisserung braucht es<br />
noch mehr, denn Caritas und Diakonie haben eine prophetische<br />
Dimension. Prophetische Caritas wendet sich nicht nur<br />
individuell den Hilfsbedürftigen zu, sondern richtet sich mit<br />
dieser Hilfe auch im Gesamten gegen Tendenzen in der Gesellschaft<br />
und übt Kritik an etablierten Denk- und Handlungsweisen.<br />
Die Liebe Gottes zu uns und allen Menschen drängt uns<br />
zur helfenden Nächstenliebe sowie dazu, auch unbequeme und<br />
anstößige Wahrheiten gegen den Egoismus in unserer Gesellschaft<br />
auszusprechen.<br />
Marc Witzenbacher<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
März 2008<br />
„Gottes Macht und Ohnmacht“<br />
Denn das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen,<br />
und das Schwache an Gott<br />
ist stärker als die Menschen.<br />
Erster Brief an die Korinther – Kapitel 1, Vers 25<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Der barmherzige Vater aus Lk 15 zeigt sich uns keineswegs<br />
als strenges Familienoberhaupt, das allen sagt, wo es langgeht.<br />
Hat also das Gleichnis über unser Monatsthema – Gottes<br />
Macht und Ohnmacht – nichts zu sagen? Im Gegenteil, meine<br />
ich. Es bedient zwar keine gängigen Vorstellungen, läßt aber<br />
bei genauem Hinsehen in bestechender Klarheit erkennen, was<br />
es biblisch mit Gottes Macht auf sich hat.<br />
Versetzen wir die Geschichte in unsere Zeit, um uns das zu<br />
verdeutlichen. Ganz ähnlich wie im Evangelium suchen heutige<br />
junge Menschen Lebensfülle gern in der Ferne, meist in der<br />
Großstadt, und geben dafür leicht ein Vermögen aus. Für sie<br />
verblaßt die Bindung an ihre Eltern gegenüber dem, was sie bei<br />
Parties, in Clubs und im Urlaub erleben. Irgendwann jedoch,<br />
sei es durch materielle, sei es aufgrund seelischer Not, fragen<br />
sich die meisten, wo sie eigentlich zu Hause sind. Sie entdekken<br />
den Wert menschlicher Bindungen und beleben meist die<br />
Beziehung zu ihren Eltern neu, und zwar vor allem dann, wenn<br />
die Eltern die Bindung ihrerseits nie haben erkalten lassen und<br />
stets mit innerer Anteilnahme bei ihren Kindern geblieben<br />
sind. Dieses liebend-freigebende Warten auf Besinnung und<br />
Rückkehr hat nur den Anschein von Ohnmacht gegenüber dem<br />
Freiheitsdrang der Kinder. In Wirklichkeit ist das feste Vertrauen<br />
in die gewachsene Beziehung Voraussetzung dafür, daß sich<br />
Kinder ihrer Eltern erinnern und ihnen wieder zuwenden.<br />
Wer wie der Vater im Gleichnis seinen Kindern innerlich<br />
derart nah bleibt, daß er sie, bildlich gesprochen, „schon von<br />
weitem kommen“ sieht (Lk 15, 20), verkörpert etwas von der<br />
Treue und Verläßlichkeit Jahwes (siehe S. 267–270). Vielleicht<br />
spüren solche Menschen auch eher als andere, mit welchem<br />
Vertrauen Gott selbst auf uns wartet.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Heilung des Blindgeborenen (Joh 9)<br />
Gebetbuch der heiligen Hildegard, um 1190,<br />
Cod. lat. 935, fol. 42v,<br />
© Bayerische Staatsbibliothek, München<br />
Das nach der heiligen Hildegard benannte Gebetbuch ist wahrscheinlich in<br />
Trier entstanden und der Heiligen vielleicht durch Abt Ludwig von St. Eucharius<br />
in Trier geschenkt worden. Die Herkunft der Handschrift aus dem mittelrheinischen<br />
Raum gilt als unbestritten. Das belegt der Stil der Malerei ebenso<br />
wie die Mundart der lateinischen Texte. Ob das Gebetbuch ursprünglich doch<br />
im Kloster auf dem Rupertsberg entstanden ist, worauf die tradierte Verbindung<br />
der Handschrift mit der heiligen Hildegard verweist, ist letztlich nicht zu klären.<br />
So bleibt offen, wer die Gebete verfaßt hat.<br />
Die Handschrift enthält insgesamt 72 Miniaturen, die in der Gestaltung zumeist<br />
sehr einheitlich sind. Bildseiten und Textseiten stehen einander gegenüber.<br />
Rahmung und Farbgebung sowie die figürliche Zeichnung sind bei vielen<br />
Bildern sehr ähnlich.<br />
Der Typ solcher Gebetbücher entstand ursprünglich um die Mitte des 12.Jahrhunderts,<br />
wurde aber später in etwas veränderter Fassung weitergeführt. Auch<br />
beim Gebetbuch der heiligen Hildegard liegt eine etwas geänderte Fassung vor.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Heilung des Blindgeborenen (Joh 9)<br />
Gebetbuch der heiligen Hildegard, um 1190,<br />
Cod. lat. 935, fol. 42v,<br />
© Bayerische Staatsbibliothek, München<br />
Das nach der heiligen Hildegard benannte Gebetbuch ist wahrscheinlich in<br />
Trier entstanden und der Heiligen vielleicht durch Abt Ludwig von St. Eucharius<br />
in Trier geschenkt worden. Die Herkunft der Handschrift aus dem mittelrheinischen<br />
Raum gilt als unbestritten. Das belegt der Stil der Malerei ebenso<br />
wie die Mundart der lateinischen Texte. Ob das Gebetbuch ursprünglich doch<br />
im Kloster auf dem Rupertsberg entstanden ist, worauf die tradierte Verbindung<br />
der Handschrift mit der heiligen Hildegard verweist, ist letztlich nicht zu klären.<br />
So bleibt offen, wer die Gebete verfaßt hat.<br />
Die Handschrift enthält insgesamt 72 Miniaturen, die in der Gestaltung zumeist<br />
sehr einheitlich sind. Bildseiten und Textseiten stehen einander gegenüber.<br />
Rahmung und Farbgebung sowie die figürliche Zeichnung sind bei vielen<br />
Bildern sehr ähnlich.<br />
Der Typ solcher Gebetbücher entstand ursprünglich um die Mitte des 12.Jahrhunderts,<br />
wurde aber später in etwas veränderter Fassung weitergeführt. Auch<br />
beim Gebetbuch der heiligen Hildegard liegt eine etwas geänderte Fassung vor.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Sehend werden<br />
Sehr ausführlich schildert das 9. Kapitel des Johannesevangeliums<br />
die Heilung eines von Geburt an blinden Mannes<br />
mit all den schwierigen Begegnungen, die sich aus seiner Heilung<br />
für ihn ergeben. Der Maler des Gebetbuchs der heiligen<br />
Hildegard (um 1190) illustriert den Moment der Begegnung<br />
zwischen dem Blinden und Jesus, der sich anschickt, die Augen<br />
des Mannes mit einem Teig zu bestreichen. Darin liegt für<br />
ihn offensichtlich der entscheidende Augenblick. Alles Weitere<br />
stellt dann nämlich eine Auseinandersetzung mit dem dar, der<br />
von sich sagt: „Um zu richten, bin ich in diese Welt gekommen:<br />
damit die Blinden sehend und die Sehenden blind werden.“<br />
(Joh 9, 39)<br />
Ein gelb-beiger Rahmen, in rote Linien gefaßt, umgibt die<br />
Szene. Der Maler stellt die Person Jesu und des Blinden vor<br />
einen kräftig blauen Hindergrund, der durch weiße Punkte ein<br />
eigenes Muster erhält. Beide Gestalten übersteigen das blaue<br />
Feld und ragen in den blaß-grünen Teil des Bildgrundes hinein.<br />
Die Bedeutung Jesu zeigt sich schon in seiner Größe; aber<br />
auch darin, daß nur er ein Obergewand trägt, der Blinde nur<br />
ein blaß-braunes Untergewand. Doch obwohl Jesus den vor<br />
ihm stehenden, klein und gebeugt wirkenden Mann überragt,<br />
sind doch beide einander ganz zugewandt. Sie machen buchstäblich<br />
einen Schritt aufeinander zu.<br />
Ganz nah vor den geschlossenen Augen des blinden Mannes<br />
rührt Jesus in seiner Hand einen Teig aus Erde und Speichel, um<br />
ihn dann dem Blinden auf die Augen zu streichen: „Als er dies<br />
gesagt hatte, spuckte er auf die Erde; dann machte er mit dem<br />
Speichel einen Teig, strich ihn dem Blinden auf die Augen und<br />
sagte zu ihm: Geh und wasch dich in dem Teich Schiloach!“<br />
(Joh 9, 6 f.) In der Antike wurde dem Speichel eine heilende<br />
Kraft zugesprochen.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
Der Maler läßt Jesu Blick in die Ferne wandern. Denkt er an<br />
die vielen blinden oder sonst auf Hilfe angewiesenen Menschen,<br />
die ihn brauchen? Spricht sein Blick von einem Zwiegespräch<br />
mit dem Vater? Oder hat er die geistige Blindheit, das<br />
Verblendetsein vieler Menschen damals und auch heute vor<br />
Augen?<br />
Für seine Jünger ist der Blindgeborene Anlaß, über die Ursache<br />
seiner Blindheit zu diskutieren: „Rabbi, wer hat gesündigt?<br />
Er selbst? Oder haben seine Eltern gesündigt, so daß er blind<br />
geboren wurde?“ (Joh 9, 2) Die Jünger teilen die Meinung ihrer<br />
Zeit: Krankheit ist Folge von Fehlverhalten und Sünde. Jesus<br />
aber korrigiert diese Meinung: „Weder er noch seine Eltern<br />
haben gesündigt, sondern das Wirken Gottes soll an ihm offenbar<br />
werden.“ (Joh 9, 3)<br />
Der Blinde stützt sich auf seinen Stab, der ihm Halt gibt und<br />
tastende Schritte ermöglicht. Er weiß sicher um das Urteil anderer<br />
über ihn. Aber hier steht er vor jemandem, der anders<br />
denkt und handelt. Deshalb drückt seine Haltung ganz Erwartung,<br />
zugleich aber Ergebenheit aus. Die Farbe seines Kleides<br />
verdeutlicht, daß die Buntheit des Lebens bisher an ihm vorbeigegangen<br />
ist. Wie seine Beine in der Farbe des Bildhintergrundes<br />
fast verborgen sind, so lebt er weitgehend im Verborgenen.<br />
Seine auf dem Stab aufgestützten gefalteten Hände unterstreichen,<br />
daß er sich in seine Lage fügt, ohne zu rebellieren.<br />
Mit dem blauen Hintergrund weist der Maler darauf hin,<br />
daß das Wunder der Blindenheilung nur im Glauben richtig verstanden<br />
werden kann. Dabei ringt manchmal das natürliche<br />
Wollen (im grünen Feld angedeutet) mit dem Glauben. Wer<br />
glaubt, erfährt mehr als „nur“ körperliche Heilung. Er wird<br />
sehend für Jesus Christus, der als Licht in die Welt gekommen<br />
ist (vgl. Joh 9, 5). Er wird sehend für den Willen Gottes in seinem<br />
eigenen Leben ebenso wie im Zusammenleben der Menschen<br />
und der ganzen Schöpfung.<br />
Aus der Kenntnis des Evangelientextes von der Heilung des<br />
Blindgeborenen ergaben sich für den Maler durchaus unter-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
schiedliche Möglichkeiten der Darstellung. Er wählt die erste<br />
Begegnung zwischen Jesus und dem Blinden aus, und zwar genau<br />
den Augenblick, bevor Jesus die Augen des Mannes mit<br />
Speichel berührt. Sehend wird der Blinde, als er sich – dem<br />
Auftrag Jesu gemäß – im Teich Schiloach wäscht. Er kommt<br />
sehend zurück – und da beginnen die Auseinandersetzungen in<br />
der Begegnung mit Nachbarn, mit den Pharisäern (zweimal),<br />
mit Leuten aus dem Volk und mit den Eltern. Die Heilung ist<br />
der Auslöser für die geforderte Stellungnahme zur Person und<br />
Sendung Jesu. Noch bevor der Geheilte schließlich erneut auf<br />
Jesus trifft, versuchen die Pharisäer ihn davon zu überzeugen,<br />
daß Jesus unmöglich von Gott kommen kann, weil er am Sabbat<br />
heilt und weil er überhaupt nicht in ihre Vorstellung vom<br />
erwarteten Messias paßt. Sie beschimpfen ihn: „Du bist ein<br />
Jünger dieses Menschen; wir aber sind Jünger des Mose.“<br />
(Joh 9, 28) Dabei ist es erstaunlich, wie der Geheilte die Argumente<br />
der Pharisäer in Frage stellt. Doch sie bleiben bei ihrer<br />
vorgefaßten Meinung: „Du bist ganz und gar in Sünden geboren,<br />
und du willst uns belehren? Und sie stießen ihn hinaus.“<br />
(Joh 9, 34)<br />
In einer zweiten Begegnung mit Jesus findet der Geheilte<br />
zum Glauben „an den Menschensohn“, wie Jesus sich selbst<br />
ihm offenbart.<br />
Sehend zu werden, das könnte heute vielleicht unsere Bitte<br />
an Gott sein, daß wir uns von so vielem vordergründig Wichtigen<br />
nicht verblenden lassen, daß wir sehen, wozu der Geist<br />
Gottes auch in unserer Zeit Menschen befähigt, die sich auf<br />
seine Kraft einlassen.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
267 Thema des Monats<br />
Gottes Macht und Ohnmacht<br />
Eine Liebe, die alles bewirkt und nichts erzwingt<br />
Der Nationalökonom, Jurist und Mitbegründer der Soziologie<br />
Max Weber (1864–1920) definierte Macht als „jede<br />
Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen<br />
auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf<br />
diese Chance beruht“. Im Glaubensbekenntnis sprechen wir<br />
Gott nicht nur Macht, sondern Allmacht zu: „Ich glaube an<br />
Gott, den Vater, den Allmächtigen“. Was ist mit dem Gottesattribut<br />
der „Allmacht“ gemeint? Und welchen Sinn und welches<br />
Recht könnte angesichts unseres Bekenntnisses zum allmächtigen<br />
Gott die Rede von seiner Ohnmacht haben?<br />
Gottes Macht im biblischen Verständnis<br />
Schaut man auf den Wortbestand, so kennt das Alte Testament,<br />
die hebräische Bibel, das Gottesprädikat der Allmacht nicht.<br />
In vielerlei Bildern wird hier aber gesprochen von der überlegenen<br />
Macht des Wortes Gottes, seines Armes, seines Atems (vgl.<br />
Ps 77, 16). Israel erfährt seinen Gott als starken Befreier, der es<br />
überaus machtvoll aus dem Sklavenhaus Ägypten herausführte.<br />
Das Volk des Bundes begegnet Gottes heilvoller, rettender<br />
Macht in seiner Geschichte, und es lernt, daß Gott mächtig ist<br />
als Schöpfer und Bewahrer des Himmels und der Erde. Als die<br />
Bibel zwischen dem dritten und zweiten Jahrhundert v. Chr.<br />
ins Griechische übersetzt wird, werden die Gottesnamen<br />
„Jahwe Sebaoth“ (Gott der Heerscharen) und „El Schaddai“ (die<br />
Bedeutung des Wortes ist ungeklärt) mit „Pantokrator“ (Allwalter,<br />
Allmächtiger) wiedergegeben. Im zweiten Makkabäerbuch<br />
(2 Makk 8, 18), das nur in griechischer Sprache überliefert<br />
ist, findet sich der Begriff „Pantokrator“. Mit diesem Begriff<br />
soll die Überlegenheit Gottes über jegliche menschliche Macht,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 268<br />
im besonderen aber über die der damals übermächtig erscheinenden<br />
fremden Gewaltherrscher, bestätigt, ja beschworen<br />
werden. In einem ähnlichen Kontext spricht Offb 19, 15 vom<br />
allmächtigen Gott, ein Gottestitel, der außer in der Johannesoffenbarung<br />
im Neuen Testament nur noch ein weiteres Mal<br />
begegnet (2 Kor 6, 18).<br />
Gottes andere Macht<br />
Wie ist Gottes Macht bzw. Allmacht also von der Bibel her zu<br />
denken? Sicher nicht in einem quantitativen Sinne, nicht im<br />
Sinne eines Machtmonopols, nicht als eine Größe, die mit<br />
menschlicher Macht auf einer Ebene liegt, mir ihr konkurriert<br />
und sie schließlich verdrängt. Max Webers Definition bringt es<br />
auf den Punkt: Menschliche Macht verwirklicht sich im herkömmlichen<br />
Verständnis als Durchsetzungsvermögen gegenüber<br />
anderen. Wo hingegen im Alten Testament von Gottes<br />
Macht die Rede ist, ist die Verläßlichkeit seines Schutzes und<br />
seiner Zuwendung gemeint. Alte Gottesnamen sind „der Starke<br />
Jakobs“, „Israels Fels“ oder „Schild“. Formelhaft wird daran erinnert,<br />
was Gott „mit starker Hand und hoch erhobenem Arm“<br />
für Israel vollbracht hat (Dtn 4, 34 u. ö.). Als sich die ausdrückliche<br />
Überzeugung durchsetzt: „Jahwe ist der Gott, kein anderer<br />
ist außer ihm“ (Dtn 4, 35) und der Monotheismus in aller<br />
Klarheit zum Durchbruch gelangt, wird dies von der Einsicht<br />
begleitet, daß sich Gottes Allmacht durch erbarmende Güte<br />
gegenüber allen Geschöpfen und durch seinen Heilswillen für<br />
Israel und für die Völker qualifiziert.<br />
Nicht minder bedeutsam ist, daß die Allwirksamkeit Gottes<br />
(Jes 45, 7) biblisch keinesfalls seine Alleinwirksamkeit meint<br />
(vgl. Gen 1, 26; Ps 8). Gottes Fügungen der Geschichte schließen<br />
menschliche Verantwortung für die Geschichte nicht aus,<br />
sondern ein (Gen 50, 20; Ex 8, 15). Die Macht Gottes kommt<br />
in besonderer Weise den Niedrigen und Bedrückten zugute<br />
(Am 4–6; Ps 113; Jes 42; 49; 52 f.). Aus der Überzeugung, daß<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
269 Thema des Monats<br />
Gottes Macht seinen geschundenen Getreuen aufhilft, erwächst<br />
schließlich die Hoffnung auf Auferstehung (Dan 12, 1 ff.).<br />
Machttaten Jesu – Gottes Machttat an Jesus<br />
Den alttestamentlichen Glauben an die Allmacht Gottes bewahrt<br />
das Neue Testament. Der Begriff selbst spielt hier allerdings<br />
ebensowenig eine Rolle. Gottes Allmacht, sein unbedingter,<br />
unbeschränkter Heilswille für die Menschen, begegnet<br />
endgültig in Jesus Christus. Die von ihm angesagte Gottesherrschaft<br />
zeigt sich in „Machttaten“ – das bedeutet der griechischneutestamentliche<br />
Begriff, den wir in der Regel mit „Wunder“<br />
übersetzen. In Jesu Machttaten geht es nicht um Machtausübung<br />
im Weberschen Sinne der Selbstdurchsetzung gegen andere,<br />
sondern um Befreiung und Rettung, um Ermöglichung<br />
versagten Lebens für andere. Jesus will nicht herrschen, sondern<br />
dienen; mit der Vollmacht des Vaters dient der Sohn<br />
den bedrohten und bedürftigen Menschen. So lernen wir von<br />
Jesus, was Gottes Allmacht im Innersten bedeutet: Die vom<br />
Vater übertragene Macht Jesu ist die Vollmacht der Liebe. Sie<br />
zeigt sich in Jesu Bereitschaft zur Ohnmacht (Mt 20, 24–28;<br />
Joh 13, 1.13 f.; Phil 2, 5–8).<br />
Gottes Allmacht ist keine abstrakte, leere Macht, sondern<br />
Macht für andere, Leben schaffende, Leben rettende Macht. In<br />
der Auferweckung seines hingerichteten Messias Jesus erweist<br />
Gott seine Macht als Allmacht: als unzerstörbare, aus Tod und<br />
Zerstörung rettende Macht.<br />
Gottes Allmacht und Ohnmacht<br />
Gottes Macht ist Liebe. Liebe aber ist allmächtig und ohnmächtig<br />
zugleich. Ihrem Wesen gemäß zwingt sie nicht. Liebe<br />
bewirkt alles, aber erzwingt nichts. Das Kreuz Jesu und alle Abwendungen<br />
der Menschen von Gott, auf die Gott mit Zuwendung<br />
antwortet, sprechen zugleich von Gottes Allmacht und<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 270<br />
von seiner freiwilligen Ohnmacht. Darum können wir glauben:<br />
„an Gott, den Vater, den Allmächtigen“ – und nicht an einen<br />
übermächtigen Zwingherrn.<br />
Susanne Sandherr<br />
Theodizee<br />
Gott rechtfertigen?<br />
Die einzige Entschuldigung für Gott besteht darin, daß er<br />
nicht existiert“, bemerkten der französische Romancier<br />
Stendhal und der deutsche Philosoph Friedrich Nietzsche einhellig.<br />
Im Unterschied zu den beiden Denkern der Moderne<br />
rechnete das neuzeitliche Projekt der „Theodizee“ noch mit<br />
anderen Möglichkeiten einer Rechtfertigung Gottes.<br />
Gott rechtfertigen?<br />
Das griechische Wort „Theodizee“ setzt sich aus zwei Bestandteilen<br />
zusammen: theos, Gott, und dike, Gerechtigkeit.<br />
Der Begriff wurde durch den Philosophen Wilhelm Leibniz<br />
(1646–1716), möglicherweise mit Bezug auf Röm 3, 5, geprägt.<br />
Während der Apostel Paulus im Römerbrief aber danach fragt,<br />
wie der Mensch vor Gott gerecht werden kann, fragt der Philosoph<br />
nach der Möglichkeit einer Rechtfertigung Gottes vor dem<br />
Forum der menschlichen Vernunft. Notwendig werde sie angesichts<br />
von sinnlosen, sinnwidrigen Übeln in der Welt, insbesondere<br />
aber im Blick auf das Leid und Leiden Unschuldiger.<br />
Wie ist schwerstes menschliches Leid, das wir nicht rational<br />
einordnen und schon gar nicht abhaken können und dürfen –<br />
man denke nur an die großen Naturkatastrophen, aber auch<br />
an die entsetzlichen Katastrophen, die Menschen über Menschen<br />
gebracht haben: an den Völkermord an der europäischen<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
271 Unter die Lupe genommen<br />
Judenheit im Herzen Europas, aber auch an die Opfer der<br />
Bombennächte und der Atombomben und an den Völkermord<br />
von Ruanda –, mit dem jüdischen und christlichen Glauben an<br />
einen zugleich guten und mächtigen Gott zu vereinbaren? Die<br />
Theodizeefrage stellt Gott unter Anklage; der biblische Gottesglaube<br />
steht hier auf dem Spiel.<br />
Relativierungen der Theodizeefrage<br />
Das Leiden Unschuldiger führt nicht mit Notwendigkeit in eine<br />
Krise des Gottesglaubens. In einigen Religionen, etwa dem Hinduismus<br />
oder Buddhismus, kann Leid als Konsequenz einer in<br />
einem früheren Leben angehäuften Schuld gedeutet werden.<br />
Auch andere Relativierungen der Theodizeefrage sind möglich.<br />
Das Problem stellt sich in polytheistischen Religionen nicht mit<br />
vergleichbarer Schärfe und ebensowenig dort, wo von einem<br />
Kampf zwischen einem göttlichen und einem widergöttlichen<br />
Prinzip ausgegangen wird. Nur wo Gott als der eine und einzige,<br />
als allmächtig und allgütig begriffen und zugleich die Freiheit<br />
des Menschen vorausgesetzt wird, stellen unbegreifliche<br />
Übel und unerträgliches geschöpfliches Leiden Gott radikal in<br />
Frage.<br />
Das Forum der Vernunft<br />
Auch die nichtbiblische Antike kennt vergleichbare Fragestellungen,<br />
und das biblische Buch Ijob stellt mit aller Eindringlichkeit<br />
die Theodizeefrage, die der Sache nach auch in vielen<br />
Psalmen (Ps 10, 1; 13, 2; 22, 2; 34, 20; 35, 22 f.; 77, 9) als Klage<br />
und Anklage, Einspruch und Widerspruch, auch bei Jesus selbst<br />
(Mk 15, 34), begegnet. Typisch neuzeitlich hingegen ist der Versuch,<br />
die Güte der Welt aus der Vereinbarkeit der <strong>Eigenschaften</strong><br />
Gottes (insbesondere Allgüte, Allweisheit, Allmacht) mit der<br />
Existenz von Übeln und Zweckwidrigem in ihr vernünftig zu<br />
erweisen. Die Neuzeit hat eine Reihe von theoretischen Ver-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 272<br />
suchen hervorgebracht, Gott angesichts von Übeln und Leid zu<br />
rechtfertigen. Menschliches Leid wird hier vor allem logischspekulativ<br />
gesichtet und eingeordnet. Kann dies ein adäquater<br />
Zugang sein? Die Frage nach einer praktischen Leidbewältigung,<br />
nach aktivem Eingreifen, blieb dabei zumeist ebenfalls<br />
ausgeblendet.<br />
Die neuzeitlichen Theodizeeentwürfe stellen Gott vor den<br />
Gerichtshof der Vernunft. Die menschliche Ratio klagt Gott an<br />
und spricht ihm das Urteil. Man kann dies mit Immanuel Kant<br />
für anmaßend und vergeblich halten, weil „unsre Vernunft zur<br />
Einsicht des Verhältnisses, in welchem eine Welt, so wie wir sie<br />
durch Erfahrung immer kennen mögen, zu der höchsten Weisheit<br />
stehe, schlechterdings unvermögend sei“.<br />
Gottes Solidarität<br />
Nach Auschwitz erinnerte Theodor W. Adorno (1903–1969)<br />
eine leiblose und lieblose Philosophie daran, daß Menschen<br />
„quälbare Körper“ sind. Der jüdische Philosoph Emmanuel<br />
Levinas (1906–1995) schrieb unter dem Eindruck der Schoa:<br />
„Der Mensch ist, vom Scheitel bis zur Sohle, bis in das Mark<br />
seiner Knochen, Verwundbarkeit.“<br />
Die Frage: „Wo warst du, lieber Gott, als deine quälbaren Geschöpfe<br />
gequält wurden?“ ist theoretisch gewiß nicht zureichend<br />
zu beantworten. Dennoch verlangt und verdient sie unsere<br />
Antwort – und unser Verstummen. Aber das Eingedenken<br />
der christlichen Gemeinde, daß Gottes eigener Sohn den Weg<br />
der Menschen gegangen ist und auch als Auferweckter und<br />
Erhöhter unseren Weg mitgeht, daß er mit allen Menschen in<br />
Freude und Leid solidarisch war und auch zur Rechten Gottes<br />
mit uns solidarisch bleibt, solidarisch bis in die Finsternis der<br />
Todesnacht und in das Grauen des Gottverlassenheit hinein, ist<br />
mehr und anderes als Theorie. Es ist an uns, dies zu zeigen. Mit<br />
Gottes Hilfe.<br />
Susanne Sandherr<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
273 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
„Lobe den Herren“<br />
Gott loben im Neander-Tal<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 19.<br />
Das Lied „Lobe den Herren“ ist in erstaunlich vielen Ländern<br />
dieser Erde präsent. In Dutzende von Sprachen<br />
wurde es übersetzt, und zahlreichen Menschen sind zumindest<br />
der Liedanfang und die Melodie vertraut.<br />
Der ursprüngliche Liedtext<br />
In „Joachimi Neandri Glaub = und Liebesübung: Aufgemuntert<br />
durch Einfältige Bundes = Lieder und Danck = Psalmen“<br />
erschien das Lied „Lobe den Herren“ 1680 in Bremen im<br />
Druck. Damals lautete der zweite Vers der ersten Strophe noch<br />
nicht, wie uns heute geläufig: „lob ihn, o Seele, vereint mit den<br />
himmlischen Chören“, sondern: „meine geliebete Seele, das ist<br />
mein Begehren“. Die fünfte Zeile der ersten Strophe forderte<br />
1680: „lasset die Musicam hören“, während sich im „Gotteslob“<br />
Nr. 258 und im „Evangelischen Gesangbuch“ Nr. 316 und<br />
317 die Version findet: „lasset den Lobgesang hören“. Im vierten<br />
Vers der zweiten Strophe schreibt Neander „wie es dir immer<br />
gefällt“; GL und EG bringen: „ wie es dir selber gefällt“.<br />
Die im Evangelischen Gesangbuch Nr. 317 gebotene Version<br />
gibt den ursprünglichen Text im übrigen getreu wieder. Die<br />
vom Dichter vorgeschlagene Melodie ist noch nicht die uns<br />
vertraute. Neanders Melodie, dies eine Besonderheit gegenüber<br />
der heute geläufigen, wiederholte in jeder Strophe die letzten<br />
beiden Takte – „Musicam hören“ usw. – echoartig.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 274<br />
Wer war Joachim Neander?<br />
Weit weniger bekannt als das Lied ist sein Schöpfer. Joachim<br />
Neander wurde 1650 in Bremen geboren. Der junge Neander<br />
wirkte in der reformierten Düsseldorfer Gemeinde als Rektor<br />
der Lateinschule. Er war darüber hinaus Dichter und Sänger,<br />
Seelsorger und Prediger. Aufgrund seines Engagements in der<br />
pietistischen Erweckungsbewegung geriet er mit der lokalen<br />
geistlich-politischen Obrigkeit in Konflikt und zog den Verdacht<br />
separatistischer Umtriebe auf sich. Neander kehrte 1679 nach<br />
Bremen zurück, wo er eine schlecht bezahlte Hilfspredigerstelle<br />
annahm; wenig später starb er.<br />
Das Neander-Tal<br />
Nicht weit von Düsseldorf gab es zu Joachim Neanders Lebzeiten<br />
„das Gesteins“, ein Terrain zerklüfteter, steiler Kalkklippen,<br />
zwischen denen die Düssel floß. Hier hielt sich Neander gerne<br />
auf, hier fanden vermutlich auch verborgene Zusammenkünfte<br />
der geistlich Erweckten statt. Viel später, als sich die kirchenpolitischen<br />
Wogen geglättet hatten und der Konflikt um den<br />
jungen Neander weithin vergessen war, zeigte sich, daß sich die<br />
Kalkfelsen östlich von Düsseldorf im Gedächtnis der Menschen<br />
mit dem Prediger und Dichter verbunden hatten. Bestimmte<br />
Formationen des Felsareals trugen die mündlich überlieferten<br />
Namen „Neanders Stuhl“ und „Neanders Höhle“. Um die Mitte<br />
des 19. Jahrhunderts zerstörte die Kalkindustrie die Felsen, und<br />
der schmale Einschnitt weitete sich zum Tal. Dabei wurde 1856<br />
das Schädelfragment eines prähistorischen Menschen entdeckt:<br />
es schlug die Geburtsstunde des „Neandertalers“.<br />
Danck = Psalm<br />
Joachim Neander überschrieb sein Lied mit den Worten „Der<br />
Lobende“. Das Augenmerk richtet sich auf Gott, dem das Lob<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
275 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
des Menschen gilt, zugleich aber auch auf den Menschen, der<br />
sich lobpreisend auf den Gott seines Lebens bezieht. Neanders<br />
Lied will nicht einen Psalm im ganzen übertragen, sondern<br />
trägt nur ein Psalm-Motto: „Ps 103, 1. Lobe den Herren, meine<br />
Seele, und was in mir ist seinen heiligen Namen.“<br />
Der Sänger spricht sich selbst an, es ist sein „Begehren“, daß<br />
sie, die „geliebete Seele“, ihren Herrn und Gott lobe. Das hebräische<br />
Wort aus dem ersten Vers des 103. Psalms, das wir im<br />
Deutschen mit „Seele“ wiedergeben, bedeutet ursprünglich<br />
„Kehle“. Die Aufnahme von Lebenswichtigem wie Luft, Speise<br />
und Trank und das antwortende Loben und Danken bilden biblisch<br />
also gleichsam das Wesen der Seele. Doch Dankbarkeit<br />
ist nicht selbstverständlich. Die Selbstermunterung zum Gotteslob<br />
ist ein wichtiger Bestandteil des Gotteslobs! Die Öffnung<br />
des eigenen Blicks für Gottes gute Leitung der Welt (zweite<br />
Strophe), für seine Fürsorge für das Ich (dritte Strophe) und die<br />
Fülle seiner Gaben (vierte Strophe) ist keine Banalität, sondern<br />
ein immer zu erneuerndes „Begehren“.<br />
Angesichts all des Bösen, das in der Welt geschah und noch<br />
immer geschieht – in diesem Neander-Tal –, kann man da Gott<br />
uneingeschränkt und von ganzem Herzen loben? Joachim Neanders<br />
Lied ist nicht naiv. Es rechnet mit dem Selbstgespräch<br />
der Seele. Es rechnet damit, daß wir uns und anderen Auskunft<br />
geben wollen über unser Gotteslob. Darum thematisiert es ja<br />
den lobenden Menschen schon in der Überschrift. Doch es<br />
wirbt leidenschaftlich um uns, um das Lob unserer Kehle und<br />
unserer Seele: Dieses Lob erneuert uns selbst. Es erneuert die<br />
Welt.<br />
Susanne Sandherr<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 276<br />
Der Ambo<br />
Ort der Verkündigung des Wortes Gottes<br />
Manch älterer Leser, der noch als Meßdiener im vorkonziliaren<br />
Meßritus „gedient“ hat, wird sich gut an eine<br />
Klippe für die oft recht jungen Meßdiener erinnern: In dem<br />
noch „Vormesse“ genannten Wortgottesdienst mußte das<br />
schwere lateinische Meßbuch, in dem auch alle Lesungen und<br />
Evangelien für den Priester verzeichnet waren, von einer Seite<br />
des Altares auf die andere getragen werden. Die von den Gläubigen<br />
aus gesehen rechte Seite war die „Epistelseite“, auf der<br />
die Lesung gelesen wurde, die linke die sogenannte „Evangelienseite“,<br />
wo das Meßbuch ab dem Evangelium liegen blieb,<br />
bis es nach der Kommunion wieder auf die Epistelseite getragen<br />
wurde. In diesem Wechsel der Seiten während des Wortgottesdienstes<br />
spiegelte sich der Brauch in römischen Kirchen, die<br />
beiden Lesungstypen innerhalb der Messe durch zwei unterschiedliche<br />
Verkündigungsorte, sogenannte „Ambonen“, auszuzeichnen.<br />
Wahrscheinlich kamen Kirchen der Spätantike zunächst nur<br />
mit einem Lesepult als Ort der Verkündigung des Wortes Gottes<br />
aus. Im Zuge der Ausgestaltung der Kirchengebäude wurde<br />
dieses Pult allmählich zu einem steinernen „Ambo“. Der Name<br />
kommt vom griechischen „anabainein“, d. h. „hinaufsteigen“.<br />
Es handelte sich nämlich um einen erhöhten, durch Stufen zugänglichen<br />
Ort an der Grenze zwischen Altarraum und Raum<br />
der Gemeinde. In den alten Basiliken Roms finden sich noch regelrechte<br />
Ambonenanlagen, die deutlich in den Raum der Gläubigen<br />
hineinragen und mit verzierten Brüstungen oder Chorschranken<br />
versehen sind. Vereinzelt sind auch zwei Ambonen<br />
erhalten wie etwa in S. Clemente in Rom. Aus dem an den<br />
Chorschranken (lateinisch: „cancelli“) verorteten Ambo entwickelte<br />
sich später die „Kanzel“. Höhe wie Positionierung des<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
277 Die Mitte erschließen<br />
Ambos erschienen aus akustischen Gründen notwendig, um<br />
ein gutes Verstehen des verkündigten Wortes Gottes durch die<br />
Gläubigen zu ermöglichen.<br />
Dies änderte sich im Hochmittelalter, als die „Stillmesse“ zur<br />
dominierenden Form wurde. Nun war theologisch entscheidend,<br />
daß der zelebrierende Priester alle Texte selbst las bzw.<br />
sprach. Entsprechend wurden Lesungs- und Gesangstexte, die<br />
zuvor in eigenen Büchern für Lektor und Kantor verzeichnet<br />
waren, ins Meßbuch integriert, damit sie dem Priester ohne<br />
Mühe zur Verfügung standen. Obwohl die für die Gläubigen<br />
verstehbare Schriftlesung weitgehend wegfiel, blieb die Kanzel<br />
erhalten, die vorrangig für die Unterweisung der Gemeinde in<br />
der Predigt genutzt wurde – wie sehr diese biblisch fundiert<br />
war oder ob sie nicht eher Katechismuswissen und Heiligenlegenden<br />
beinhaltete, mag hier offen bleiben.<br />
Dies ändert sich spätestens mit der Liturgiereform nach dem<br />
Zweiten Vatikanischen Konzil, das der Verkündigung des Wortes<br />
Gottes innerhalb der Liturgie einen erheblichen Stellenwert<br />
zuweist, der zugleich in der Gestaltung des liturgischen<br />
Raums seinen Ausdruck findet. Die Schriftlesung hat nun wieder<br />
ihren Ort am Ambo, der binnen kurzer Zeit die „Kanzel“ im<br />
Gebrauch völlig verdrängt hat. Ein anderer Grund für diese<br />
Entwicklung dürfte sein, daß sich das Verständnis der Predigt<br />
geändert hat und viele Geistliche nicht mehr „von oben herab“<br />
auf die Gläubigen einreden wollen. Mit der mittlerweile durchgängig<br />
anzutreffenden soliden Gestaltung des Ambos wird<br />
kenntlich gemacht, daß der Wortgottesdienst nun nicht mehr<br />
„Vormesse“ ist, sondern wirkliche Feier der Begegnung mit<br />
Gott in seinem Wort. Entsprechend bilden Altar und Ambo<br />
die beiden Hauptorte des liturgischen Geschehens, die feststehend<br />
und hochwertig gestaltet sein sollen. Die offiziellen Dokumente,<br />
etwa die „Pastorale Einführung in das Meßlektionar“<br />
(PEL) Nr. 32, sprechen gar von den beiden „Tischen“ des Wortes<br />
wie des Leibes Christi, die in ihrer räumlichen Anordnung<br />
und konkreten Gestaltung aufeinander bezogen sein sollen.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 278<br />
Allerdings läßt die PEL die konkrete Positionierung des Ambos<br />
offen. In neueren (nicht unumstrittenen) Raumkonzepten ist<br />
der Ambo wieder weit in den Gemeinderaum verlagert und<br />
steht dem Altar in gewisser Weise gegenüber, so daß sich die<br />
Gemeinde um Altar und Ambo als den beiden Orten der Christusbegegnung<br />
versammeln kann.<br />
Im Vordergrund der Wiedereinführung bzw. Hochschätzung<br />
des Ambos stehen aber nicht gestalterische Aspekte, sondern<br />
die liturgischen Vollzüge selbst: Entscheidend ist, daß die Lesungen<br />
gut gehört werden können, damit die Gläubigen das<br />
Wort Gottes in ihrem Herzen bewegen und im Gebet auf es antworten<br />
können. Beleuchtung und heute gebräuchliche Mikrofonanlagen<br />
sind legitime Mittel, die das aufmerksame Zuhören<br />
erleichtern sollen (PEL Nr. 34).<br />
Die volle Entfaltung seiner Funktion erhält der Ambo sicher<br />
bei der Evangelienverkündigung, wenn diese durch Ministranten<br />
mit Leuchtern begleitet und das Evangelienbuch vor der<br />
Verkündigung feierlich mit Weihrauch inzensiert wird. Die Verehrung<br />
gilt Christus selbst, den wir im Halleluja-Ruf vor dem<br />
Evangelium begrüßen, weil wir wissen, daß er selbst in seinem<br />
Wort gegenwärtig ist und zu uns redet. Entsprechend können<br />
die Evangelien auch in einem eigenen, wertvollen „Evangeliar“<br />
zusammengefaßt werden, das zu Beginn des Gottesdienstes<br />
vom Diakon feierlich hereingetragen wird. Es ist schön, wenn<br />
der Ambo dann einen eigenen Aufbewahrungsort für dieses<br />
Evangeliar hat, so daß es nach der Verkündigung des Evangeliums<br />
nicht einfach weggelegt werden muß, sondern für alle<br />
sichtbar präsent bleibt.<br />
Ausdrücklich hält PEL Nr. 33 fest, daß nicht alle Wortvollzüge<br />
der Eucharistiefeier ihren Ort am Ambo haben, sondern<br />
nur die Lesungen, der Antwortpsalm und der Gesang des Exsultets<br />
in der Osternacht. Wegen der engen Anbindung an die<br />
Schriftlesungen dürfen allerdings auch Predigt und Allgemeines<br />
Gebet (Fürbitten) vom Ambo aus vorgetragen werden. In diesen<br />
Forderungen spiegelt sich das Bewußtsein, daß die Verkündi-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
279 Engagiertes Christsein<br />
gung des Wortes Gottes einen Stellenwert innerhalb der Liturgie<br />
hat, der nach einem ihm eigenen Ort verlangt, der seinen<br />
theologischen Rang permanent kennzeichnet.<br />
Friedrich Lurz<br />
„Bei euch soll es nicht so sein“<br />
Vom Umgang mit der Macht<br />
Jesus hat die Jünger schon beim ersten Rangstreit gemahnt:<br />
„Wer der Erste sein will, soll der Letzte von allen und der Diener<br />
aller sein.“ (Mk 9, 35) Er beschämt sie durch ein Kind, das<br />
er in ihre Mitte stellt. Jetzt wird Jesus noch sehr viel energischer:<br />
„Bei euch aber soll es nicht so sein, sondern wer bei<br />
euch groß sein will, der soll euer Diener sein, und wer bei euch<br />
der Erste sein will, soll der Sklave aller sein.“ (Mk 10, 43 f.)<br />
Dieses scharfe Wort Jesu könnte als ein grundsätzliches Verdikt<br />
über jede Herrschaft und alle Macht verstanden werden.<br />
So ist es auch oft gedeutet worden. Aber dies können wir nicht<br />
ohne weiteres unserem Text entnehmen. Da ist eher von „Mißbrauch“<br />
die Rede (Mk 10, 42). Macht als innerster Kern von<br />
Herrschaft ist immer umstritten und umkämpft. Viele Menschen<br />
wollen Macht; andere genießen ihre Macht. Wieder andere<br />
leiden unter ihrer Ohnmacht. Menschen, die Macht ausüben,<br />
scheuen manchmal vor ihr zurück und empfinden sie als<br />
Last. Viele lassen sich korrumpieren und mißbrauchen ihre<br />
Macht. Mancher will gar nicht wahrhaben, daß er Macht hat<br />
und auch ausübt. Einige verteufeln die Macht als Ausbund des<br />
Bösen; manche vergötzen sie geradezu. Durch Macht wird Leid<br />
zugefügt. Manchmal ist sie auch ein Segen. Sie ist zutiefst<br />
ambivalent.<br />
Was ist Macht? Ursprünglich bedeutet das Wort in unserer<br />
Sprachgeschichte: „kneten, einen Teig machen“, dann aber<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 280<br />
auch „können“, „vermögen“. Wer einen Teig knetet, macht ihn<br />
dadurch gleichartig und zwingt ihn auch oft in eine Form.<br />
Auf diese Eigenschaft hin hat Max Weber den neuzeitlichen<br />
Machtbegriff folgendermaßen bestimmt: „Macht bedeutet jede<br />
Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen<br />
Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleich viel,<br />
worauf diese Chance beruht.“ Karl Rahner hat immer wieder<br />
darauf hingewiesen, daß es viele Mittel gibt, Macht zu erwerben,<br />
zu sichern und zu steigern. Wer Macht ausübt, greift in<br />
der Regel in die Freiheitsrechte anderer ein. Aus seiner Freiheit<br />
zwingt er den Mitmenschen auf, was sie in vielen Fällen gar<br />
nicht wollen.<br />
Entgegen manchem Anschein muß man jedoch sagen, daß<br />
Macht zunächst gut ist. Es ist anzuraten, Macht anzunehmen<br />
und sie auch auszuüben. Es ist nicht gut, Macht zu leugnen,<br />
wenn man sie hat, und es ist ganz schlecht, sie nicht auszuüben,<br />
wenn man dennoch die Verantwortung dafür hat.<br />
Freilich wissen wir, wie subtil die Macht mit ihrer Gier, Lust<br />
und Leidenschaft in uns eindringt. Gerade weil sie im Grund<br />
auch zum Guten dient, kann sie uns erst recht verführen. Dabei<br />
geht es nicht nur um grobe Macht im Sinne der Gewalt, um<br />
technisch ausgeübte Gewalt, wo man nur auf den Knopf drückt<br />
und scheinbar saubere Hände behält; es gibt Gewalt auch als<br />
Gehirnwäsche. Sie kann auch mit Medikamenten und Drogen<br />
verbunden sein. Das geschieht vor allem auch mit dem Unbewußten,<br />
nicht zuletzt in Propaganda und Werbung; es kann<br />
die Menschen abhängig machen und regelrecht knechten.<br />
Besonders schlimme Schleichwege der Macht, die sich nicht<br />
selten unter dem Mäntelchen des Guten verstecken, sind Intrigenspiel<br />
und Verleumdung.<br />
Da fährt Jesus wiederum dazwischen: „Bei euch aber soll es<br />
nicht so sein, sondern wer bei euch groß sein will, der soll euer<br />
Diener sein.“ (Mk 10, 43) Es ist ein ganz entschiedenes Veto<br />
gegen jeden Mißbrauch der Macht über die Menschen (vgl.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
281 Engagiertes Christsein<br />
Mk 10, 42). Mitten in dieser fundamentalen Kritik von Machtmißbrauch<br />
steht das Wort vom Dienen. Wir gebrauchen es<br />
manchmal ziemlich harmlos. Schon von Hegel her wissen wir<br />
aber, daß der Diener, wenn er seine Unentbehrlichkeit auszunützen<br />
versteht, insgeheim rasch zum Herrn werden kann.<br />
Das Wort vom Dienen setzt an die Stelle des Verhältnisses von<br />
falscher Über- und Unterordnung eine bereitwillige Dienstbarkeit<br />
gegenüber den Schwestern und Brüdern auf freiwilliger<br />
Basis, auch wenn es deshalb nicht so etwas wie Gehorsam leugnet.<br />
Solches „Dienen“ ist nicht nur als eine moralische, innere<br />
Einstellung gemeint, sondern wird bei Jesus sehr konkret ernstgenommen.<br />
Die Fußwaschung (vgl. Joh 13, 1–20), bei der Jesus<br />
den Jüngern den Dreck der Straße abwäscht und so den letzten<br />
Dienst eines Sklaven tut, also am unteren Ende aller Karriere,<br />
ist eine anschauliche Schule dafür: „Ich habe euch ein Beispiel<br />
gegeben, damit auch ihr so handelt, wie ich an euch gehandelt<br />
habe.“ (Joh 13, 15) Schließlich aber macht er ernst mit diesem<br />
„Dienst“ in der „Hingabe“ seines Lebens bis in den Tod am<br />
Kreuz.<br />
Diese Hingabe – sogar des eigenen Lebens in letzter Konsequenz<br />
– akzentuiert die Einmaligkeit des Dienstes Jesu. Hier<br />
gibt es einen uneinholbaren Abstand des Jüngers zu Jesus. Aber<br />
vorbildlich bleibt dieser Dienst für die Jünger in der Nachfolge.<br />
Es ist besonders Paulus, der diesen Dienst, die „diakonia“, zum<br />
Zentralbegriff gerade auch des Apostelamtes und damit aller<br />
Aufgaben und Ämter gemacht hat. So fragt er die zerstrittenen<br />
Korinther: „Was ist denn Apollos? Und was ist Paulus? Ihr seid<br />
durch sie zum Glauben gekommen. Sie sind also Diener, jeder,<br />
wie der Herr es ihm gegeben hat.“ (1 Kor 3, 5) Paulus beschreibt<br />
diesen Dienst recht unterschiedlich: Es ist Dienst am<br />
Evangelium, Dienst des Geistes, Dienst der Gerechtigkeit,<br />
Dienst der Befreiung und schließlich der Versöhnung (vgl.<br />
2 Kor 5, 17–20). Das Ziel dieses Dienstes ist der Aufbau und die<br />
Auferbauung der Gemeinde (vgl. 1 Kor 9, 1–23; 14). Ein sol-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 282<br />
cher Dienst will die Gemeinde und die Mitchristen nicht vom<br />
kirchlichen Amt abhängig machen, sondern sie zu ihrer eigenen<br />
Verantwortungsfähigkeit und zu ihrem Zeugniseinsatz führen.<br />
Nichts anderes will auch das Bild vom „Leib Christi“ (vgl.<br />
1 Kor 12; Röm 12, 4 ff.). Es ist die große Leistung des hl. Paulus,<br />
daß er die Besonderheit der Geistesgaben in jeder Hinsicht anerkennt<br />
und auch für notwendig hält; daß er ihnen zugleich<br />
aber die egoistischen, interessengesteuerten Giftzähne zieht,<br />
indem er sie auf den „Nutzen“ und konstruktiven Aufbau der<br />
Gemeinde und der Kirche verweist. Es ist nicht zufällig, daß<br />
Papst Gregor der Große dem Papsttum in dieser Hinsicht den<br />
tiefsten Titel gegeben hat: „servus servorum Dei“ – Knecht der<br />
Knechte Gottes. Dieser Titel steht oft über dem Beginn besonders<br />
wichtiger päpstlicher Dokumente.<br />
Diese Sorge um den rechten Umgang mit der Macht in der<br />
Kirche – auch Vollmacht ist Macht – hat auch die Urkirche<br />
weiterhin bewegt. Immer wieder geht es um die Abgrenzung<br />
zum weltlichen Machtstreben, jene bleibende Gefährdung,<br />
und um die radikale Bereitschaft der Jünger zum Dienen.<br />
So heißt es in 1 Petr 5, 2 f.: „Sorgt als Hirten für die euch anvertraute<br />
Herde Gottes, nicht aus Zwang, sondern freiwillig,<br />
wie Gott es will; auch nicht aus Gewinnsucht, sondern aus<br />
Neigung; seid nicht Beherrscher eurer Gemeinden, sondern<br />
Vorbilder für die Herde!“ Dies gilt gewiß für Bischöfe, Priester<br />
und Diakone, aber auch für alle Christen, Hauptamtliche und<br />
Ehrenamtliche.<br />
Karl Kardinal Lehmann, Bischof von Mainz,<br />
Vorsitzender der Deutschen Bischofskonferenz<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Heilige Woche 2008<br />
„Gott – von Gott verlassen?“<br />
Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen,<br />
bist fern meinem Schreien, den Worten meiner Klage?<br />
Psalm 22, Vers 2<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Gibt es eine Auferstehung vor dem Tod? Schon vor über hundert<br />
Jahren hat Leo Tolstoi diese Frage in seinem Roman<br />
„Auferstehung“ positiv beantwortet. Aus biblischer Sicht hat<br />
sie noch einmal größeres Recht. So wird Ihnen an den Psalmen<br />
aufgefallen sein, wie oft Situationen schwerer Bedrängnis mit<br />
Sterben und Tod in Verbindung gebracht werden (vgl. z. B.<br />
Ps 22, 16; 31, 13; 88, 6). Dabei besteht zwischen diesen Erfahrungen<br />
und dem Verhältnis des Menschen zu Gott eine enge<br />
Beziehung: Solche Notlagen werden oft auch als Situationen<br />
der Gottferne und -verlassenheit erfahren (vgl. Ps 22, 2; 31, 23<br />
und wiederum 88, 6).<br />
Bildhaft greifbar macht dies die bittere Lage, in die der verlorene<br />
Sohn in der Fremde geraten ist. Doch er findet den<br />
Ausweg: Er entsinnt sich seines Vaters und beschließt, aufzubrechen<br />
und zu ihm zurückzukehren. Nun steht Lk 15, 18 im<br />
griechischen Urtext für „aufbrechen“ die Verbform anastás,<br />
in der das Nomen anástasis, „Auferstehung“, anklingt. Dies geschieht<br />
bei Lukas gewiß nicht ohne Grund. Mit dem Aufbruch<br />
beginnt die Rückkehr zum Vater; diese „Auferstehung“ aus der<br />
Verlassenheit und Fremde ist der Anfang der glücklichen Heimkehr,<br />
deren Lebensfülle der sich seines Eigensinns Schämende<br />
sich nicht auszumalen vermag.<br />
Auferstehung beginnt auch für uns dort, wo wir uns aus den<br />
lebensfeindlichen Bedingungen, die uns tagtäglich von Gott<br />
fernhalten wollen, zu ihm hin aufmachen, bei dem wir die<br />
Quelle des Lebens wissen. Mögen die Umstände noch so finster<br />
sein: Wenn wir Kierkegaards Gedanken (s. S. 123–125) ernst<br />
nehmen, steht am Anfang die Entscheidung, Gott zu glauben.<br />
Sofern wir vertrauen (und dann hoffentlich erfahren), daß er in<br />
den Untergängen unseres Lebens neue Möglichkeiten schaffen<br />
kann, werden wir den Aufbruch am Lebensende umso zuversichtlicher<br />
wagen.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Kreuzweg und Kreuzigung<br />
Egbert-Codex,<br />
Reichenau / Trier, um 983–990,<br />
Hs. 24, fol. 83v,<br />
© Stadtbibliothek / Stadtarchiv Trier; Foto: Anja Runkel<br />
Zwischen 983 und 990 wurde der Egbert-Codex auf der Insel Reichenau von<br />
den Benediktinermönchen Kerald und Heribert für den damaligen Trierer Erzbischof<br />
Egbert angefertigt. Er schenkte das Evangelistar der Abtei St. Paulin in<br />
Trier.<br />
Zu damaliger Zeit war die Malschule der Benediktinerabtei Reichenau wohl<br />
die größte und einflußreichste Malschule in Europa.<br />
Das Perikopenbuch enthält 51 Miniaturen zu den Evangelien und gehört zu<br />
den ältesten Bildzyklen dieser Art in der deutschen Kunst. Wahrscheinlich liegt<br />
hier sogar der erste geschlossene Bildzyklus zu Themen des Neuen Testaments<br />
vor. Innerhalb der ottonischen Malerei gelten diese Bilder als Höhepunkt. Vermutlich<br />
verwendeten die Maler eine byzantinische Vorlage aus dem 9. Jahrhundert,<br />
die sich ihrerseits auf spätantike Vorbilder stützte.<br />
Seit dem Jahr 2000 zählen diese bedeutsamen Dokumente der Buchmalerei<br />
der Insel Reichenau zum Weltkulturerbe.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Der Sieg des Kreuzes<br />
In einem Doppelbild schildert der Maler des Egbert-Codex<br />
gegen Ende des 10. Jahrhunderts Szenen aus der Passion<br />
Jesu. Im oberen Bild geht es um die Gefangennahme Jesu und<br />
den Kreuzweg; das untere Bild stellt die Kreuzigungsszene auf<br />
Kalvaria dar. Außer der üblichen griechischen Abkürzung für<br />
Jesus Christus (IHC XPC) hält der Maler die vollen Namen aller<br />
beteiligten Personen in Goldschrift auf einem Purpurschild fest<br />
(bei Stephaton ohne Schild). Die Farben Gold und Purpur im<br />
Rahmen des Bildes weisen vielleicht darauf hin, daß das hier<br />
dargestellte Leid durch die Auferstehung überwunden wurde.<br />
Daß der Maler das Kreuz in beiden Szenen in leuchtendem<br />
Gold darstellt, läßt es eher als Zeichen des Sieges denn als qualvolles<br />
Marterinstrument erscheinen.<br />
Die drei Männer, die Jesus gefangennehmen, bleiben in der<br />
Darstellung des Malers anonym. Zwei von ihnen packen Jesus<br />
energisch bei den Armen, der dritte steht hinter Jesus, der ein<br />
rotes Obergewand trägt über seiner kostbaren, goldbesetzten<br />
Tunika. Jesus läßt geschehen, daß die Männer nun bestimmen,<br />
wohin es geht. Er blickt ruhig und gefaßt nach vorn.<br />
Neben der Gefangennahme Jesu zeigt die Miniatur Simon<br />
von Cyrene, der auf dem Kreuzweg Jesu gezwungen wird, dem<br />
zum Tode Verurteilten das Kreuz zu tragen (vgl. Mt 27, 31f.). Simon<br />
trägt das goldene Kreuz wie eine Siegestrophäe. Vielleicht<br />
will der Illustrator damit sagen: Was Simon unfreiwillig getragen<br />
hat, wurde für ihn zum Segen.<br />
Während es sich bei Simon um eine biblisch bezeugte Gestalt<br />
handelt, entnimmt der Maler die Namen der Personen im unteren<br />
Bild dem apokryphen Nikodemus-Evangelium. In symmetrischer<br />
Komposition illustriert er das Kreuzigungsgeschehen,<br />
von dem alle vier Evangelien sprechen. Im Zentrum steht das<br />
goldene Kreuz, dessen bräunliche Seitenflächen perspektivisch<br />
gestaltet sind. Die Kreuzesinschrift, „Jesus von Nazareth, König<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
der Juden“, fehlt, der zu einem Brett geformte obere Teil des<br />
senkrechten Balkens erinnert daran.<br />
In festlichem Gewand steht bzw. schwebt Jesus am Kreuz.<br />
Seine Hände und Füße sind durchbohrt; aber sein Gesichtsausdruck<br />
spricht nicht von den Qualen der Kreuzigung. Sein<br />
Blick gilt dem Schächer zu seiner Rechten, Dismas, der seinen<br />
Lebenswandel bereut und ihn bittet: „Jesus, denk an mich,<br />
wenn du in dein Reich kommst.“ (Lk 23, 42) Während der andere<br />
Schächer, Gesmas, sich abwendet von Jesus, darf Dismas<br />
die Zusage Jesu vernehmen: „Amen, ich sage dir: Heute noch<br />
wirst du mit mir im Paradies sein.“ (Lk 23, 43) Zuwendung und<br />
Abwendung der beiden Schächer spiegeln die Möglichkeiten<br />
wieder, sich gegenüber dem grausamen Kreuzestod Jesu zu verhalten.<br />
Ihre Entscheidung ist nicht vorbestimmt, das hält auch<br />
der Maler offen; denn beide Kreuze und die Gewänder sind<br />
gleich schlicht gehalten. Trotz seiner Abwendung, so verdeutlicht<br />
es der Blick seiner Augen zu Jesus hin, ist der linke Schächer<br />
(von Jesus aus gesehen) unsicher, ob er sich zu diesem Mitgekreuzigten<br />
in der Mitte richtig verhält.<br />
Neben dem Schächer Dismas steht eine Gruppe Frauen. Jesu<br />
Blick kann auch der ersten von ihnen, seiner Mutter Maria,<br />
gelten; denn auf der anderen Seite steht der Jünger Johannes.<br />
Beide heben in trauernder Gebärde eine Hand zum Gesicht.<br />
Hier wird deutlich, daß der Maler sich für seine Illustration des<br />
Kreuzigungsgeschehens nicht nur auf ein Evangelium stützt.<br />
Das Wort an Maria: „Frau, siehe, dein Sohn!“ und an Johannes:<br />
„Siehe, deine Mutter!“ (Joh 19, 26 f.) berichtet nur der Evangelist<br />
Johannes.<br />
Neben dem Kreuz Jesu steht Stephaton, dessen Name möglicherweise<br />
auch einem apokryphen Evangelium entnommen<br />
wurde. Er reicht dem dürstenden Jesus einen in Essig getränkten<br />
Schwamm: „Sie steckten einen Schwamm mit Essig auf<br />
einen Ysopzweig und hielten ihn an seinen Mund.“ (Joh 19, 29)<br />
Unter dem Kreuz würfeln zwei Soldaten, auch sie ohne Namen,<br />
wer von ihnen das Gewand Jesu erhalten soll: „Sie nahmen<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
auch sein Untergewand, das von oben her ganz durchgewebt<br />
und ohne Naht war. Sie sagten zueinander: Wir wollen es<br />
nicht zerteilen, sondern darum losen, wem es gehören soll“<br />
(Joh 19, 23 f., im Bild geht es jedoch um das Obergewand). Für<br />
den Evangelisten liegt darin die Erfüllung eines Psalmwortes:<br />
„Sie verteilen unter sich meine Kleider und werfen das Los um<br />
mein Gewand.“ (Ps 22, 19)<br />
Mit den beiden personifizierten Gestalten „sol“ und „luna“,<br />
Sonne und Mond, weist der Maler einmal auf die Finsternis<br />
beim Tode Jesu hin, von der Markus, Matthäus und Lukas<br />
sprechen, die von der sechsten bis zur neunten Stunde dauerte<br />
(vgl. Mk 15, 33). Gleichzeitig verdeutlicht er so, daß das Geschehen<br />
auf Golgota die gesamte Schöpfung betrifft. Stellvertretend<br />
dafür verhüllen Sonne und Mond in Trauer das Gesicht.<br />
Die ausgebreiteten Arme des Gekreuzigten könnte der Maler<br />
als Einladung verstanden wissen wollen an alle, die vor diesem<br />
Bild innehalten: Das Kreuz Jesu ist Zeichen unserer Erlösung.<br />
Seine leuchtende Farbe spricht vom Heil, das durch das Kreuz<br />
ermöglicht wurde. Wie die beiden Schächer zur Rechten und<br />
zur Linken Jesu ihn nicht ignorieren können, so sind auch wir<br />
herausgefordert, Stellung zu beziehen. Am Glanz der Auferstehung<br />
kann nur Anteil erhalten, wer sich dem Kreuz Jesu<br />
stellt.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema der Heiligen Woche 180<br />
Gott – von Gott verlassen?<br />
Gedanken zum Verlassenheitsschrei Jesu am Kreuz<br />
Jesus von Nazaret wurde nach kurzem Prozeß vor der jüdischen<br />
und römischen Justiz durch die römische Besatzungsmacht<br />
als politischer Unruhestifter (Mk 15, 26) am Kreuz hingerichtet.<br />
Er war durch seine Tempelkritik mit der Jerusalemer<br />
Tempelaristokratie in Konflikt geraten, und die römische Besatzungsmacht<br />
reagierte nervös und brutal auf den vermeintlichen<br />
jüdischen Königsanwärter.<br />
Die Römer kreuzigten Gewaltverbrecher, Sklaven und politische<br />
Aufrührer. Der Kreuzestod ist ein qualvoller und schändlicher<br />
Verbrechertod.<br />
Im Markus- und Matthäusevangelium ruft der gemartert am<br />
Kreuzesholz hängende Jesus: „Mein Gott, mein Gott, warum<br />
hast du mich verlassen?“ (Mt 27, 46; Mk 15, 34) Frömmigkeit,<br />
Kunst und gelehrte Theologie aller Zeiten hat dieser Schrei<br />
beschäftigt, herausgefordert und beunruhigt, bestürzt und bewegt.<br />
Dem 20. Jahrhundert, das so optimistisch begann, um so<br />
bald zwei entsetzliche Weltkriege hervorzubringen, dem Völkermord<br />
an der europäischen Judenheit stattzugeben und die<br />
ungezählten Opfer der Bomben und Atombomben in Kauf zu<br />
nehmen, diesem Jahrhundert und seinen gequälten Menschen<br />
ist der Verlassenheitsschrei Jesu besonders nahe gekommen.<br />
„Ganz glaubt es keiner, daß dieser Jesus mit Haut und Haar so<br />
gelitten haben könnte, so gottverlassen gewesen sei wie ein<br />
gewöhnlicher Mensch“, bemerkt der Philosoph Hans Blumenberg<br />
(1920–1996) in seinem 1988 erschienenen Werk „Matthäuspassion“.<br />
Einige Jahrzehnte zuvor hatte die französische<br />
Philosophin, Mystikerin und Kämpferin für Gerechtigkeit<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
181 Thema der Heiligen Woche<br />
Simone Weil (1909–1943) über den biblischen Verlassenheitsschrei<br />
nachgedacht. Auf keine andere Bibelstelle kommt Weil<br />
so häufig zurück wie auf den markinisch-matthäischen Kreuzesschrei.<br />
Ihre Deutung läßt sich so zusammenfassen: Der Gottverlassenheitsschrei<br />
bringt in aller schmerzhaften und rettenden<br />
Klarheit zum Ausdruck, daß Jesus ganz Gott und ganz<br />
Mensch ist (wie es das Konzil von Chalkedon 451 ausgedrückt<br />
hat). Der Gekreuzigte, der Jesus des Verlassenheitsschreis,<br />
bleibt Gott nahe. Er ist, so Simone Weil, liebend, zustimmend<br />
auf den Vater und seinen guten Willen ausgerichtet. Doch der<br />
Gekreuzigte weiß davon nichts, sondern spürt nur den Schmerz<br />
der Trennung, die Qual der Gottesferne, den Gottesentzug. Ein<br />
harter Widerspruch, dem man sich wohl nur behutsam nähern<br />
kann. Simone Weil macht uns mit dem Gedanken vertraut, daß<br />
die Liebe „eine Richtung und nicht ein Zustand der Seele“ ist.<br />
Der Schrei am Kreuz ist Verzweiflungsschrei; Jesus hat wirklich<br />
geschrieen, er hat wirklich gelitten und sich von seinem Gott<br />
wirklich getrennt gefühlt. Sein Schrei zeigt aber gerade so an,<br />
daß Gottes Wort wirklich in unser Fleisch gekommen ist. Der<br />
Schrei Jesu ist Schrei der finstersten Gottverlassenheit, während<br />
der Gekreuzigte doch nicht aufhört, Gott mit jenem Anteil<br />
seiner Seele zu lieben, der, wie Simone Weil es ausdrückt, der<br />
übernatürlichen Liebe fähig ist. „Der einzige Teil unserer Seele,<br />
der nicht dem Unglück unterworfen werden dürfte, ist derjenige,<br />
der in der anderen Welt liegt.“ Das Unglück – die Schande,<br />
die Verzweiflung, die quälende Angst und der körperliche<br />
Schmerz –, so Weil weiter, habe keine Macht über den, wie sie<br />
in der Tradition Meister Eckharts und anderer Mystiker sagt,<br />
ungeschaffenen Seelenteil. „Aber es hat die Macht, ihn gewaltsam<br />
von dem zeitlichen Teil der Seele zu trennen, so daß, obwohl<br />
die übernatürliche Liebe in der Seele wohnt, deren Süße<br />
nicht gespürt wird. Dann erhebt sich der Schrei: ‚Mein Gott,<br />
warum hast du mich verlassen.‘“<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema der Heiligen Woche 182<br />
Der Mensch, auch der Gott-Mensch Jesus, der ja nicht halb<br />
Gott, ein Halbgott, und halb Mensch, ein halber Mensch, ist,<br />
sondern „vollkommen in der Gottheit“ und „vollkommen in<br />
der Menschheit“, ist dem Unglück so weit unterworfen, wie er<br />
der Materie unterworfen ist – an Leib und Seele ganz und gar.<br />
Mit Ausnahme, so fügt Simone Weil hinzu, der ungeschaffenen<br />
Fähigkeit, genau diesem Sachverhalt in Freiheit liebend zuzustimmen.<br />
Die Verzweiflung und die Verlassenheit Jesu sind real. Der Gottessohn<br />
spielt nicht Leiden und Gottverlassenheit. Seine unvergleichliche<br />
Gottesnähe hat ihn nicht gepanzert, im Gegenteil.<br />
Dieser Jesus hat mit Haut und Haar so gelitten, er wußte sich<br />
von Gott und von den Menschen verlassen wie ein gewöhnlicher<br />
Mensch. Simone Weil geht in ihrem Versuch, den Verlassenheitsschrei<br />
zu verstehen, noch weiter. Jesus geht aus freiem<br />
Gehorsam in den Tod. Keine heroische Ideologie, keine tröstliche<br />
Lüge, keine individuelle oder kollektive Größenphantasie<br />
erleichtert ihm den Kreuzweg. Sein Beweggrund ist die reine<br />
Liebe zu den Menschen, das lautere Vertrauen in den Vater.<br />
„Geht man ... aus reinem Gehorsam Gott gegenüber in den Tod,<br />
dann sieht man den Tod nackt. Der Gehorsam verschleiert<br />
nichts. Er ist vollkommen durchsichtig. Deshalb hat Christus<br />
den Tod mehr gefürchtet als die anderen Menschen“, schreibt<br />
Simone Weil.<br />
Gott – von Gott verlassen? Das Markusevangelium, das älteste<br />
Evangelium, erzählt davon, wie Jesus von Anfang an auf seinen<br />
Tod zugeht (Mk 3, 6). Das Leben für andere, das der Mann aus<br />
Nazaret heilend, befreiend, klärend und vergebend führt,<br />
macht Gottes Kommen, das keine Bedingungen stellt, spürbar,<br />
wirksam, hier und jetzt. Das Kreuz durchkreuzt Jesu Leben,<br />
aber seine Lebensform verdichtet sich auch in seiner Passion.<br />
Im Verlassenheitsschrei des Entblößten, Gemarterten, Verratenen<br />
und Vereinsamten wird die ganze unauslotbare Tiefe seiner<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
183 Unter die Lupe genommen<br />
Solidarität mit den Menschen hörbar, gerade mit denen, die gequält<br />
werden, und mit denen, die Gott fern sind – wie der Gottessohn<br />
am Kreuz Gott nicht mehr spürt.<br />
Gott – von Gott verlassen? Der Gekreuzigte, der Rufer des Verlassenheitsschreis,<br />
ist nicht gottverlassen. Der Vater hat den<br />
Sohn nicht verlassen. Gott ist in diesem „Gottverlassenen“<br />
gegenwärtig (Mk 15, 38 f.).<br />
In der Gottverlassenheit Jesu geht Gott selbst in die Gottferne<br />
der Menschen hinein – der treue Gott.<br />
Susanne Sandherr<br />
„Wir feiern das heilige Meßopfer für …“<br />
Die einen gehen zur „Eucharistiefeier“, die anderen zur<br />
„heiligen Messe“, einige feiern „die Liturgie“, andere bringen<br />
das „heilige Meßopfer“ dar – auch heute sind verschiedene<br />
Begriffe für die wichtigste liturgische Feier der Kirche in Gebrauch,<br />
die Feier des Herrenmahles. Diese werden manchmal<br />
als regelrechte Kampfbegriffe benutzt und verstanden und signalisieren<br />
dann mehr oder weniger links / rechts / papsttreu /<br />
kirchenkritisch. Dabei haben sie alle ihren historischen Ort<br />
und spiegeln in der Ergänzung wichtige und legitime Aspekte<br />
unseres „Allerheiligsten“.<br />
So führt der „Katechismus der Katholischen Kirche“ die verschiedenen<br />
Namen auf – Eucharistie, Mahl des Herrn, Brechen<br />
des Brotes, Eucharistische Versammlung, Gedächtnis, Heiliges<br />
(Meß-)Opfer, Heilige / Göttliche Liturgie, Kommunion, Heilige<br />
Messe (Nr. 1328–1332) – und schreibt: „Der unerschöpfliche<br />
Gehalt dieses Sakramentes kommt in den verschiedenen Benennungen<br />
zum Ausdruck. Jede von ihnen weist auf gewisse<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 184<br />
Aspekte hin.“ (Nr. 1328) Einer dieser Begriffe ist ebenso theologisch<br />
und spirituell bedeutsam wie konfessionsgeschichtlich<br />
belastet und mißverständlich – der des Meßopfers.<br />
Alle Religionen kennen das Opfer als zentrale kultische<br />
Handlung. In ihnen geben Menschen etwas Wertvolles, um vor<br />
Gott oder den Göttern zu danken, sie gnädig zu stimmen, um<br />
etwas zu bitten, etwas zu sühnen. Schon im AT wird immer<br />
wieder auf die Gefahr der Veräußerlichung solcher Opfer hingewiesen<br />
(vgl. z. B. Ps 40, 7: „Schlacht- und Speiseopfer hast du<br />
nicht gefordert ... doch einen Leib hast du mir geschaffen.“):<br />
Jahwes Liebe zu seinem Volk ruft zur ganzheitlichen Antwort<br />
– materielle Opfer können nur Zeichen einer Umkehr des Herzens<br />
zu Gott sein. Das vollendet sich im Kreuzestod Jesu Christi:<br />
„So bringt Jesus am Kreuz dem Vater nicht etwas dar, er<br />
bringt sich selber dar als Gabe und Opfer (Eph 5, 2)“ (Katholischer<br />
Erwachsenenkatechismus [KEK] S. 353). Besonders der<br />
Hebräerbrief (Kap. 7–10) entfaltet: Dieses Lebensopfer Jesu<br />
Christi war einmalig und ist unwiederholbar, in ihm sind alle<br />
Menschen endgültig erlöst, weitere Opfer sind weder nötig<br />
noch möglich.<br />
So kann christliche Liturgie nur Vergegenwärtigung und<br />
Selbsthingabe in das einmalige Opfer Jesu Christi heißen. „Sie<br />
[die Christen] sollen Gott danksagen und die unbefleckte Opfergabe<br />
darbringen nicht nur durch die Hände des Priesters,<br />
sondern auch gemeinsam mit ihm und dadurch sich selber<br />
darbringen lernen.“ (Liturgiekonstitution Sacrosanctum Concilium<br />
Nr. 48) Jesu Tod am Kreuz ist wie seine Auferstehung<br />
ein einmaliges Ereignis in Raum und Zeit, die sakramentale<br />
Mysteriengegenwart ermöglicht aber Menschen aller Zeiten<br />
und Orte, das Geschehen auf Golgota für sich als wirksam und<br />
fruchtbar zu erfahren. „Gedächtnis meint im Sinne der Heiligen<br />
Schrift nicht nur ein Daran-Denken, sondern vielmehr das<br />
rühmende Erzählen der Großtaten Gottes, die durch die kultische<br />
Feier hier und heute gegenwärtig werden.“ (KEK S. 353)<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
185 Unter die Lupe genommen<br />
Das ist denkbar, weil liturgische Feiern innerweltliche Kategorien<br />
wie Raum und Zeit sprengen: Am Gründonnerstag beten<br />
wir im Hochgebet: „Denn in der Nacht, da er verraten wurde<br />
– das ist heute –, nahm er das Brot …“ Geistlich sind wir im<br />
Abendmahlssaal, uns Christen im Jahr 2008 sagt der Herr: „Tut<br />
dies zu meinem Gedächtnis“, uns gilt sein Versprechen: „Das<br />
ist mein Leib, der für euch hingegeben wird.“ Klassisch drückt<br />
das ein Gabengebet (2. Sonntag im Jahreskreis) so aus: „Denn<br />
sooft wir die Gedächtnisfeier dieses Opfers begehen, vollzieht<br />
sich an uns das Werk der Erlösung.“<br />
Eine Klärung ist hier noch wichtig: Wir feiern den Inhalt des<br />
Kreuzesopfers Christi nicht in der Gestalt einer Opferhandlung,<br />
z. B. im Schlachten eines Tieres, sondern in der Gestalt<br />
eines Mahles. Beim letzten Abendmahl nimmt der Herr Brot<br />
und Wein und deutet sie als seinen Leib und sein Blut mit<br />
dem Auftrag: „Tut dies zu meinem Gedächtnis!“ Diesem Auftrag<br />
folgt die Kirche seitdem. „Das Kreuzesopfer ist ein und dasselbe<br />
wie seine sakramentale Vergegenwärtigung in der Messe,<br />
abgesehen von der verschiedenen Art und Weise der Darbringung.<br />
Christus, der Herr, hat die zeichenhafte Erneuerung<br />
beim Abendmahl eingesetzt, als er den Aposteln den Auftrag<br />
gab, sie zu seinem Gedächtnis zu begehen.“ (Allgemeine Einführung<br />
in das Meßbuch Nr. 2) Auf der Zeichenebene bildet die<br />
heilige Messe also nicht das Geschehen auf Golgota ab, sondern<br />
das im Abendmahlssaal. So nennen wir heute die früher so genannte<br />
„Opferung“ schlicht „Gabenbereitung“. Das liturgische<br />
Zeichen, das am eindrücklichsten den Opfercharakter erfahren<br />
läßt, wird dagegen heute leider oft unterbewertet – das Brechen<br />
des Brotes. Eigentlich ist es ein Höhepunkt der ganzen<br />
Feier, wenn der Priester das eine Brot teilt für die Vielen und<br />
diese bekennen: „Lamm Gottes, du nimmst hinweg die Sünde<br />
der Welt, erbarme dich unser!“ – und wie lieblos und „nebenbei“<br />
geschieht das oft.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 186<br />
Die große Kontroverse um das Meßopfer in der Reformationszeit<br />
wurde im Mittelalter ausgelöst. „Der Zusammenhang<br />
zwischen Kreuzesopfer und Meßopfer wurde im späten Mittelalter<br />
vielfach nicht mehr richtig verstanden; das Verständnis<br />
des Meßopfers wurde zudem durch Mißbräuche verdunkelt.“<br />
(KEK 354) So lehnte die Reformation das „Meßopfer“ schärfstens<br />
ab: „Und ist also die Meß im Grunde nichts anders denn<br />
eine Verleugnung des einigen Opfers und Leidens Jesu Christi<br />
und eine vermaledeite Abgötterei.“ (Heidelberger Katechismus,<br />
Frage 80). Letztlich führten diese Angriffe dann zu wichtigen<br />
Klärungen im Konzil von Trient, das sich mit diesen massiven<br />
Angriffen auseinandersetzen mußte und die entscheidenden<br />
Kerngedanken herausstellte. „Es hielt an der Einmaligkeit des<br />
Kreuzesopfers fest und drückte den Bezug von Kreuzesopfer<br />
und Meßopfer mit Hilfe von drei Begriffen aus: Das Meßopfer<br />
ist sakramentale Vergegenwärtigung, Gedächtnis und Zuwendung<br />
des Kreuzesopfers.“ (KEK S. 354) Die Mißverständnisse<br />
und Einseitigkeiten der Zeit sind im ökumenischen Dialog inzwischen<br />
weiter geklärt: „Nach katholischer Lehre ist das Meßopfer<br />
die Gegenwärtigsetzung des Kreuzesopfers. […] Eucharistie<br />
ist eigentliches und wahres Opfer nicht in sich, nicht neben<br />
oder zusätzlich zum Kreuz, sondern Vergegenwärtigung und<br />
Zuwendung des einen, sühnenden, universalen Opfers für die<br />
Kirche.“ (Lehrverurteilungen – kirchentrennend? Bd. I, S. 90<br />
und 121)<br />
Immer stehen Christen in der Versuchung, zurückzufallen in<br />
ein vorchristliches Opferverständnis, das den einzelnen von<br />
der Lebenshingabe dispensiert: Es wäre ja so viel einfacher,<br />
„etwas“ zu opfern, eine Messe zu bestellen, einen Priester mit<br />
dem Opfer zu beauftragen, als die Herausforderung der Nachfolge<br />
Christi selbst anzunehmen. Gebete in der heiligen Messe<br />
weisen uns hier immer wieder den richtigen Weg: „Herr, unser<br />
Gott, wir legen die Gaben als Zeichen unserer Hingabe auf deinen<br />
Altar.“ (Gabengebet 4. Sonntag im Jahreskreis) „Herr, du<br />
hast die vielen Opfer, die dir je von Menschen dargebracht<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
187 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
werden, in dem einen Opfer des Neuen Bundes vollendet.“<br />
(Gabengebet 16. Sonntag im Jahreskreis) „Nimm das Opfer an,<br />
das dir im Heiligen Geist dargebracht wird, und mache uns<br />
selbst zu einer Gabe, die für immer dir gehört.“ (Gabengebet<br />
Wochentagsmessen zur Auswahl, Donnerstag 3. Woche)<br />
Stefan Rau<br />
O Traurigkeit, o Herzeleid<br />
Gott selbst liegt tot!<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 119.<br />
Das Lied „O Traurigkeit, o Herzeleid“ (GL 188) wird auf das<br />
Jahr 1628 datiert und dem Jesuiten Friedrich Spee zugeschrieben.<br />
Das Evangelische Gesangbuch bietet eine Liedvariante,<br />
die sich aus der ersten Strophe der Speeschen Dichtung<br />
und vier Strophen des lutherischen Pfarrers Johann Rist zusammensetzt<br />
(EG 80). Rist kannte nach eigenem Zeugnis nur die<br />
erste Strophe und die Melodie des Speeschen Grabliedes. Er<br />
ergänzte es um sieben Strophen. 1641 erschien seine Fortdichtung<br />
unter „Joh. Rist’s Himmlischen Liedern“ in Lübeck. Vier<br />
Strophen wurden von der Gesangbuchredaktion des „Evangelischen<br />
Gesangbuchs“ festgehalten.<br />
Karfreitagslied<br />
Bis zur Neuordnung der katholischen Osternachtfeier in den<br />
1950er Jahren war oftmals die Prozession am Ende der Karfreitagsliturgie<br />
der Ort von Spees Klagelied. Zum Heiligen Grab,<br />
das in einer Seitenkapelle errichtet war, wurde am Karfreitag<br />
Christus im verhüllten Kreuz oder in der Monstranz unter feier-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 188<br />
lichem Gesang zu Grabe getragen, um zu Anfang der Osterfeier<br />
daraus erhoben und zurückgeführt zu werden.<br />
Das steinerne Herz der Christen<br />
Im „Gotteslob“ ist das Lied gegenüber der ursprünglichen Fassung<br />
um die mittlere vierte Strophe verkürzt. Sie lautet bei<br />
Spee: „Es muß da seyn aus Marmelstein / Der Juden Hertz gewesen,<br />
/ weil sie nur zu solcher Pein / lachten wie wir lesen.“<br />
Es ist begreiflich, daß nach so vielen Jahrhunderten kirchlicher<br />
Judenfeindschaft und vor allem im Horizont der namenlosen<br />
Schrecken der Schoa Texte der Tradition, die eine antijüdische<br />
Lesart nahelegen konnten, mit Vorsicht betrachtet<br />
wurden. Daß Spees Lied nicht darauf abzielte, jüdische Sündenböcke<br />
zu schaffen, geht jedoch aus den anderen Strophen<br />
hervor. Die vierte Strophe selbst formuliert im Präteritum, der<br />
abgeschlossenen Vergangenheitsform, und entspricht so der<br />
Aussage der Schrift, daß die Hohenpriester, die Schriftgelehrten<br />
und Ältesten den Gekreuzigten verspottet (Mt 27, 41 par.), daß<br />
die politisch-religiöse Führungsschicht ihn verhöhnt habe<br />
(Lk 23, 35).<br />
Wer angesichts von Leiden gleichgültig bleibt, gar spottet und<br />
lacht, dessen Herz, so der Jesuit, der bekanntlich leidenschaftlich<br />
gegen die im Hexenwahn verhärteten Herzen seiner Zeit<br />
gekämpft hat, muß versteinert sein! Solch schwere Beeinträchtigung<br />
aber spricht der Dichter in der letzten Strophe dem Christenmenschen<br />
zu, für den das bewegende Lied zur Chance<br />
werden möge, sich aus seiner Verhärtung zu lösen. „O großer<br />
Schmerz! O steinern Herz, / steh ab von deinen Sünden.“ Es<br />
geht um das steinerne Herz der Christen.<br />
Wer hätt dies mögen denken?<br />
Die dritte Strophe spielt auf die angesichts der Passion Christi<br />
berstenden Felsen an, von denen das Matthäusevangelium<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
189 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
weiß (Mt 27, 51): Sollten die biblisch bezeugten spontanen Gesteinssprengungen<br />
nicht auch die Menschen zu vergleichbaren<br />
Aufbrüchen bewegen?<br />
Nicht etwa „die Juden“ werden in Spees Lied als Täter dingfest<br />
gemacht als diejenigen, die Jesu „unschuldigs Blut“ vergossen<br />
hätten, sondern „der Mensch“ (2. Strophe). „O höchstes<br />
Gut, unschuldigs Blut! Wer hätt dies mögen denken, / daß der<br />
Mensch sein’ Schöpfer sollt / an das Kreuz aufhenken.“<br />
Heilsames Entsetzen<br />
Das entsetzliche Paradoxon, daß das Geschöpf den Schöpfer an<br />
den Galgen des Kreuzes hängt, will nur das eine bewirken: den<br />
Hörer des Liedes im Wortsinne ent-setzen, ihn außer sich bringen,<br />
seine Verhärtung erweichen, seine Versteinerung lösen.<br />
Daß Spee mit dieser poetischen Extremaussage die Häresie<br />
streift, sei nur vermerkt. Die dichterische Rede vom unausdenkbaren<br />
Kreuzestod des Schöpfers nimmt dies in Kauf. Sie<br />
möchte ja in ihrer äußersten Zuspitzung schockieren, provozieren,<br />
erschüttern.<br />
Gott selbst liegt tot<br />
In Johann Rists Liedfortschreibung findet sich in der zweiten<br />
Strophe, der ersten aus seiner eigenen Feder, eine auch durch<br />
den Philosophen G. W. F. Hegel, der sie in seiner „Vorlesungen<br />
über die Philosophie der Religion“ zitiert, berühmt gewordene,<br />
der Speeschen vergleichbare Formulierung. „O große Noth /<br />
GOtt selbst ligt todt, / Am Creutz ist er gestorben“.<br />
Im Evangelischen Gesangbuch liest man heute die theologisch<br />
unverfängliche Variante: „Gotts Sohn liegt tot“. Die altkirchliche<br />
Häresie des „Patripassianismus“ scheint in Rists Formulierung<br />
gefürchtet und darum gemieden worden zu sein:<br />
die Deutung, Gott der Vater selbst habe am Kreuz des Sohnes<br />
gelitten.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 190<br />
Zum Neuanfang bewegen<br />
Ob, wie bei Friedrich Spee, „O höchstes Gut, unschuldigs Blut!<br />
Wer hätt dies mögen denken, / daß der Mensch sein’ Schöpfer<br />
sollt / an das Kreuz aufhenken.“, oder, wie bei Johann Rist,<br />
„O große Noth / GOtt selbst ligt todt, / Am Creutz ist er gestorben“:<br />
Die beiden Passionslieder wollen uns berühren, sie<br />
wollen uns den Skandal der Passion nahe bringen, um uns zu<br />
retten – um uns zur Umkehr, zum hier und jetzt geschenkten<br />
Neuanfang zu bewegen.<br />
Susanne Sandherr<br />
Der Ort der Taufe<br />
Eine Studie über moderne Kirchenbauten in einem westdeutschen<br />
Bistum stellt eine fatale Entwicklung fest: Zahlreiche<br />
Neubauten verzichten mittlerweile ganz auf einen festen<br />
Ort für den Taufbrunnen, und selbst Kirchen, die um die Zeit<br />
des II. Vatikanischen Konzils gebaut wurden, haben inzwischen<br />
den Taufbrunnen abgeschafft oder zum reinen Behältnis<br />
der Wasseraufbewahrung degradiert.<br />
Mit Blick auf die Geschichte könnte man dies als Nebensache<br />
bezeichnen, denn die frühen Christen haben für Taufen entweder<br />
offene Gewässer benutzt oder aber öffentliche Baderäume.<br />
Entscheidend war der Vollzug, nicht eine Örtlichkeit.<br />
Allerdings änderte sich dies mit den frühen Kirchenbauten. Sie<br />
erhielten eigene Taufräume; ggf. wurde sogar eine eigene Taufkirche<br />
errichtet. Solche „Baptisterien“ erlauben nicht nur<br />
die Wahrung der Schicklichkeit bei der gängigen Taufe von Erwachsenen,<br />
sondern verdeutlichen auch den Rang dieser Feier<br />
im Leben der einzelnen Gläubigen wie der ganzen Kirche.<br />
Getauft – und damit in die Kirche aufgenommen – wird vorrangig<br />
in der Osternacht, in der wichtigsten liturgischen Feier<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
191 Die Mitte erschließen<br />
des ganzen Jahres. Die Täuflinge durchlaufen eine Reihe liturgischer<br />
Stationen und Räume. Die Größe der Taufbecken erlaubt<br />
z. T. sogar, daß ein Erwachsener darin liegen kann und<br />
leicht vom Wasser bedeckt ist. Es ist allerdings unsicher, ob<br />
man zu dieser Zeit die Täuflinge im Wasser stehend durch<br />
Übergießen tauft und die Symbolik des Abwaschens zu tragen<br />
kommt, oder ob man sie untertaucht, um so das Sterben und<br />
die Auferstehung in Christus gemäß Röm 6 (siehe die Epistel<br />
der Osternacht, S. 153) leibhaftig erfahrbar zu machen. Die<br />
Dramatik des Geschehens wird für uns heute noch an der Form<br />
des Kreuzes deutlich, die diese Becken besitzen können. Einige<br />
haben zwei gegenüberliegende Stufenanlagen: Von der einen<br />
Seite steigen die Taufanwärter ins Wasser, auf der anderen nach<br />
der Taufe wieder hinaus. Sie ahmen so den Durchzug durch das<br />
Rote Meer nach – Inhalt der dritten und zentralen alttestamentlichen<br />
Lesung der Osternacht (S. 142 f.), die nie ausfallen<br />
darf. Diese Becken spiegeln somit den Rang der Taufe in den<br />
spätantiken Gemeinden wider. Dessen „Nachklang“ sind die<br />
prachtvollen Baptisterienbauten italienischer Kathedralen –<br />
auch wenn diese meist aus der Renaissance stammen und ältere<br />
Exemplare ersetzen, somit mehr Repräsentationsobjekte sind,<br />
da Erwachsenentaufen zu dieser Zeit nicht mehr stattfinden.<br />
Mit dem allmählichen Wechsel zur Säuglingstaufe und dem<br />
Übergang des Taufrechtes von den Bischofskirchen auf die sich<br />
ausbildenden Pfarreien fällt im Mittelalter nicht nur die Separierung<br />
des Taufortes weg, sondern ändert sich auch dessen Gestaltung:<br />
Das innerhalb der Pfarrkirche aufgestellte Becken verliert<br />
an Volumen, es ist oftmals aus einfachem Material (z. B.<br />
Holz), ohne künstlerische Verzierungen und wird nun leicht erhöht<br />
angebracht, um bei Säuglingen eine Taufe durch außerhalb<br />
des Beckens stehende Erwachsene zu ermöglichen. Auch<br />
hier bleibt unklar, wie der Taufvollzug konkret aussieht. Wir<br />
finden bildliche Darstellungen, auf denen das Kind über dem<br />
Becken mit dem Bauch nach unten gehaltenen wird. Ob nun<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 192<br />
das Kind untergetaucht wird (wie heute noch in den Ostkirchen<br />
üblich) oder man seinen Kopf mit Wasser übergießt, kann nicht<br />
geklärt werden.<br />
Erst die liturgischen Bücher der Neuzeit bezeugen klar das<br />
Übergießen. Jetzt ist der Taufbrunnen ein Behälter für das Taufwasser,<br />
das in der Oster- oder Pfingstvigil geweiht und das Jahr<br />
über aufbewahrt wird. Nach dem Tridentinum setzt sich langsam<br />
ein Ideal durch, das der Mailänder Bischof Karl Borromäus<br />
im 16. Jahrhundert formuliert hat. Danach soll der Taufbrunnen<br />
im Eingangsbereich, möglichst links vom Eingang, in einer<br />
eigenen Kapelle aufgestellt werden. Nach diesem Ideal sind<br />
auch in unseren Regionen zahlreiche Kirchen des 18./19. Jahrhunderts<br />
gestaltet. Die Taufe selbst wird aber mehr zu einer<br />
familiären Feier kurz nach der Geburt.<br />
Mit der Liturgiereform erhält die Taufe theologisch wieder einen<br />
wesentlich höheren Stellenwert im Leben der Kirche. Daß<br />
dennoch eine Tendenz zur Aufgabe fester Tauforte zu verzeichnen<br />
ist, liegt an zwei konkurrierenden Bestimmungen. Zum<br />
einen wird die Errichtung eines Taufbrunnens in jeder Pfarrkirche<br />
gefordert. Zum anderen verlangt der Rituale-Faszikel in<br />
Nr. 44 seiner Pastoralen Einführung, daß sich eine kleine Gemeinde<br />
am Taufort versammeln kann, in deren Blickfeld der<br />
Taufbrunnen zu stehen hat. Dies hat manche Gemeinde dazu<br />
gebracht, für die Taufe den Altarraum zu nutzen und mobiles<br />
Taufgeschirr zu verwenden.<br />
Aber auch andere Lösungen sind möglich. Gemeinden können<br />
bewußt den Taufbrunnen im Eingangsbereich aufstellen<br />
und mit den Weihwasser-Becken kombinieren, so daß jedes Betreten<br />
der Kirche zu einem ausdrücklichen Taufgedächtnis<br />
wird. Auch das Versammeln einer Gemeinde wird leichter,<br />
sobald man davon Abschied nimmt, den ganzen Gemeinderaum<br />
mit auf den Altarraum ausgerichteten Bänken ausfüllen<br />
zu wollen. Orientiert man sich an der tatsächlichen Gottesdienstgemeinde,<br />
entstehen hinten Freiräume, die z. B. für eine<br />
mobile Bestuhlung bei der Taufe genutzt werden können.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
193 Die Mitte erschließen<br />
Gemeinden, die regelmäßig die Eingliederung von Erwachsenen<br />
praktizieren, kommen nicht umhin, sich über den Taufort<br />
und die Gestaltung des Taufbeckens intensiv Gedanken zu<br />
machen. Einzelne Gemeinden sind dazu übergegangen, den antiken<br />
Vorbildern nachempfundene große Taufbecken in den<br />
Kirchenboden einzulassen. Dann kann nicht nur der Taufakt,<br />
der ja eine Lebenswende für diese Täuflinge darstellt, eine adäquate<br />
Vollzugsform erhalten. Auch die diese Eingliederung in<br />
die Kirche tragende Gemeinde erlebt anschaulich mit, was<br />
Christwerden und Christsein für alle bedeutet.<br />
Die Chancen, dem wichtigsten Sakrament der Christenheit,<br />
das alle Kirchen miteinander verbindet, im Kirchenraum einen<br />
festen und gut gestalteten Ort zu geben, sollte sich keine Gemeinde<br />
entgehen lassen – wie immer die Lösung unter den<br />
konkreten Gegebenheiten dann aussehen mag.<br />
Friedrich Lurz<br />
Grundordnung des Römischen Meßbuchs<br />
Noch unter Johannes Paul II. wurde im Jahr 2002 ohne großes<br />
öffentliches Echo eine dritte Auflage des nachkonziliaren<br />
lateinischen Meßbuchs veröffentlicht. Es enthält gegenüber<br />
der bisherigen Ausgabe einige Ergänzungen; so sind die<br />
bislang als Sonderpublikationen erschienenen Eucharistiegebete<br />
in das Meßbuch integriert. Diese Auflage bildet nun die<br />
Grundlage für die Erstellung neuer muttersprachlicher Meßbücher,<br />
die sich wohl wesentlich stärker als früher am Wortlaut<br />
der lateinischen Vorlage werden orientieren müssen – auch für<br />
den deutschen Sprachraum ist die Arbeit im Gange. Als erster<br />
Teil ist jetzt die „Grundordnung des Römischen Meßbuchs“ veröffentlicht<br />
worden, die deutsche Fassung der „Institutio Gene-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 194<br />
ralis Missalis Romani“. Sie wird in der geplanten Neuauflage<br />
die „Allgemeine Einführung ins Meßbuch“ ersetzen, auf der sie<br />
in weiten Teilen aufbaut. Wieder bildet sie den grundlegenden<br />
Text, der nicht nur die Ordnung der Eucharistiefeier beschreibt,<br />
sondern auch das theologische Verständnis der Eucharistiefeier<br />
umreißt. Es finden sich aber auch gewisse Änderungen zur bisherigen<br />
Fassung, deren Umsetzung im liturgischen Buch genauer<br />
zu beobachten sein wird.<br />
Um allen die intensive Lektüre zu ermöglichen, ist der Text<br />
nun als Arbeitshilfe der Deutschen Bischofkonferenz publiziert<br />
worden. Eine rechtliche Verbindlichkeit hat die Grundordnung<br />
aber noch nicht, sondern diese erhält sie erst mit der offiziellen<br />
Einführung des gesamten neuen Meßbuches für den deutschen<br />
Sprachraum.<br />
Friedrich Lurz<br />
Missale Romanum. Editio typica tertia 2002. Grundordnung des<br />
Römischen Meßbuchs. Vorabpublikation zum Deutschen Meßbuch<br />
(3. Auflage). Hg. v. Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz<br />
= Arbeitshilfen, Nr. 215 (Bonn 2007).<br />
Zu beziehen beim: Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz,<br />
Kaiserstraße 161, D–53113 Bonn; Tel: 0228/103-205; FAX: -330;<br />
E-Mail: broschueren@dbk.de<br />
Alfred Delp: Zeuge gegen<br />
die Gottverlassenheit<br />
Sie hatten genau geplant, wie ein politisch-gesellschaftlicher<br />
Umbruch nach dem Ende Adolf Hitlers gestaltet werden<br />
könnte: Persönlichkeiten aus dem Bürgertum, dem Adel, der<br />
Arbeiterbewegung, dem Katholizismus und dem Protestan-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
195 Engagiertes Christsein<br />
tismus, die im sogenannten Kreisauer Kreis um Helmuth von<br />
Moltke zusammenarbeiteten. Einer der führenden Köpfe dieser<br />
deutschen Widerstandsgruppe war der Jesuit Alfred Delp.<br />
Was geschieht, wenn der Krieg verloren geht? Wer kann bei<br />
einem Neuanfang helfen? Wie kann es gelingen, unterschiedliche<br />
gesellschaftliche Gruppen zu mobilisieren? Wie wird sich<br />
das Verhältnis von Kirche und Staat ordnen lassen? Der Kreisauer<br />
Kreis strebte eine völlige Neuordnung der deutschen Gesellschaft<br />
an und ging damit über Ansätze anderer Widerstandsgruppen<br />
hinaus, die eine Rückkehr zu Zuständen der<br />
Weimarer Republik oder der Monarchie ersehnten.<br />
Für den Soziologen und Theologen Alfred Delp war nur ein<br />
radikaler Neuanfang ein gangbarer Weg. Für ihn bestand die<br />
größte Krise in der „Gottunfähigkeit“ seiner Zeitgenossen. Sie<br />
wollte er erfassen und beheben helfen. Nur wenn alle Verhältnisse<br />
wieder auf den Kopf gestellt würden, könne die Gesellschaft<br />
gesunden. Der Mensch habe sich an die Stelle Gottes gesetzt<br />
und leide nun unter der Armut, keinen Gott anerkennen<br />
zu wollen.<br />
Von Beginn an war Delp von der Leidenschaft für den Menschen,<br />
für eine menschliche Gesellschaft geprägt. Diese war<br />
für ihn allerdings immer nur denkbar in einer Spannung von<br />
Freiheit und Ordnung. Nur mit Gott zusammen könne der<br />
Mensch wahrhaft Mensch sein. Deswegen müsse er wieder<br />
Gottes-fähig werden. Dies zu vermitteln, eine Erziehung des<br />
Menschen zu Gott, sei die Aufgabe der Kirche. Ihre Rolle verstand<br />
er gerade im Dritten Reich als „Zeichen der Zeit“. Sie<br />
müsse den Menschen wieder lehren, Gott zu achten und ihn<br />
anzubeten. Gleichzeitig habe sie die Fragen und Nöte der<br />
Menschen ernst zu nehmen. Delp propagierte einen Theonomen<br />
Humanismus: Nur die Bindung an ewige Werte garantiere<br />
wirkliche Menschlichkeit. So sind auch im Leben Alfred Delps<br />
der Dienst an Gott und der Dienst am Menschen untrennbar.<br />
Am 15. September 1907 wurde Delp in Mannheim geboren.<br />
Obwohl katholisch getauft, wurde er im evangelischen Glau-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 196<br />
ben seines Vaters erzogen und auch konfirmiert. Mit 15 Jahren<br />
trat er jedoch aus eigenem Willen zur katholischen Kirche<br />
über, empfing die Erstkommunion und die Firmung. Schon als<br />
Schüler fiel Delp als kritischer Geist auf, in dem ein schier<br />
unauslöschbares Feuer der Begeisterung loderte. Nach dem<br />
Abitur schloß er sich als Novize der Gesellschaft Jesu an. Er<br />
trieb philosophische und theologische Studien in München<br />
und Frankfurt, die er mit der Promotion abschloß. 1937 wurde<br />
er zum Priester geweiht. Schon immer galt sein größtes Interesse<br />
der Soziologie. Ab 1939 arbeitete er in der Redaktion der<br />
Jesuitenzeitung „Stimmen der Zeit“ als Verantwortlicher für<br />
den Bereich Soziologie. Im April 1941 wurde das Haus der<br />
„Stimmen der Zeit“ in München beschlagnahmt und die Jesuiten<br />
von dort vertrieben; jeder durfte mitnehmen, was er<br />
tragen konnte. Delp übernahm die Heilig-Blut-Pfarrei in München-Bogenhausen.<br />
Er beteiligte sich an vielen Zusammenkünften<br />
katholischer Persönlichkeiten, die wie er Gegner des<br />
Nationalsozialismus waren. Daß die katholische Kirche zu den<br />
Greueln in den Konzentrationslagern geschwiegen hatte, belastete<br />
ihn sehr. Er befürchtete, daß sich nach dem Zusammensturz<br />
des Naziregimes deswegen viele von der Kirche lossagen<br />
würden.<br />
Von seinem Ordensprovinzial Pater Rösch wurde Delp 1941<br />
gebeten, im Kreisauer Kreis mitzuarbeiten. Helmuth von<br />
Moltke hatte um die Beteiligung eines Soziologen angefragt.<br />
Delps Engagement gründete sich auf die päpstliche Enzyklika<br />
„Quadragesimo anno“ („Im vierzigsten Jahr“, d. h. nach der<br />
Veröffentlichung von Leos XIII. wegweisender Sozialenzyklika<br />
„Rerum novarum“), die Pius XI. 1931 veröffentlicht hatte. In<br />
ihr lehnte der Papst den Sozialismus als mit der katholischen<br />
Lehre unvereinbar ab. Als Ausweg aus der tiefgreifenden ökonomischen,<br />
politischen und geistigen Krise des kapitalistischen<br />
Systems empfahl er eine Wirtschafts- und Sozialreform mit<br />
dem Ziel einer berufsständischen Ordnung. Es ging der katho-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
197 Engagiertes Christsein<br />
lischen Soziallehre weniger um eine Beseitigung des kapitalistischen<br />
Herrschaftssystems. Katholische Christen sollten die<br />
Gesellschaft durch eine flexible Sozialpolitik und eine feste<br />
Bindung an die Kirche gestalten. Aus der Kirche müßten erfüllte<br />
Menschen kommen, die sich ihrer Sendung bewußt<br />
seien und vor allem karitativen Aufgaben nachgingen.<br />
Nach dem mißlungenen Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944<br />
wurde auch Delp verhaftet und in das Berliner Gestapogefängnis<br />
gebracht. Delp hatte sich vor seiner Verhaftung auf<br />
den 15. August konzentriert, an dem er nach langer Probezeit<br />
sein ewiges Ordensgelübde ablegen sollte. Daß dies dann<br />
schließlich während der Haft am 8. Dezember 1944 geschehen<br />
konnte, beschrieb er später als eine Gnade. Nach schweren<br />
Folterungen, der Verhandlung vor dem Volksgerichtshof<br />
und übelsten Beschimpfungen durch dessen Präsident Roland<br />
Freisler wurde Delp am 2. Februar 1945 durch Erhängen hingerichtet.<br />
Es ist zu wenig, die Wahrheit zu kennen, sie muß getan werden.<br />
Das läßt sich von Alfred Delp lernen. Der Glaube verlangt<br />
auch manchmal, ihm widerstehende Lebensverhältnisse zu<br />
ändern. Dabei ist Gott immer an unserer Seite, auch wenn<br />
er schweigt. Bis zum Schafott war Delp überzeugt, letztlich<br />
niemals von Gott verlassen zu sein, auch wenn er manchmal<br />
schier daran zu verzweifeln drohte. Aber selbst in der Wüste,<br />
in der düstersten Verlassenheit, war sich Delp sicher, immer<br />
von einem leuchtenden Stern am Himmel begleitet zu sein.<br />
Marc Witzenbacher<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
April 2008<br />
„Gottes Zorn und Zärtlichkeit“<br />
Du hast mir gezürnt,<br />
doch dein Zorn hat sich gewendet,<br />
und du hast mich getröstet.<br />
Buch Jesaja – Kapitel 12, Vers 1<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
In früheren Zeiten stand der Zorn des Richters derart im Vordergrund<br />
des Gottesbildes, daß ein angstfreies Leben kaum<br />
möglich war – man denke an das Schreckensgemälde des „Dies<br />
irae“, mit dem man bei allen Exequien konfrontiert wurde, oder<br />
an die Gewissensnot des jungen Luther, der mitten im Leben<br />
Höllenqualen durchlitt.<br />
Viele von uns sind es auch heute gewohnt, biblische Aussagen<br />
vom Zorn Gottes auf sich selbst zu beziehen, auch wenn sie sich<br />
um ein Leben nach Gottes Willen redlich bemühen. Erst kürzlich<br />
erzählte mir jemand, bei Worten wie Ps 145, 20: „Alle, die<br />
ihn lieben, behütet der Herr, doch alle Frevler vernichtet er.“<br />
fühle er sich wegen der Fehler, die er im Lauf seines Lebens begangen<br />
habe, stets den letzteren zugehörig und finde darum im<br />
Psalmengebet nur wenig Halt und Stärkung.<br />
Solche Erfahrungen lehren, wie nötig es ist, den wahren biblischen<br />
Zusammenhang von Gottes Zorn und Zärtlichkeit (siehe S.<br />
324–327) nicht nur zu verkünden, sondern in den Herzen zu<br />
verwurzeln. Wegweisung dazu gibt uns Jesus, der in Wort und<br />
Tat einen Gott hat spürbar werden lassen, der die Irrwege der<br />
Vergangenheit zwar nicht wegwischt, aber annimmt und verwandelt,<br />
wenn ein Mensch aufrichtig zu ihm kommt. Wieder<br />
könnten wir uns hier an die Freude des Vaters über die Rückkehr<br />
des Verlorenen Sohnes erinnern, sollten aber auch konkrete<br />
Begegnungen Jesu wie die mit Zachäus oder der Samariterin<br />
am Jakobsbrunnen vor Augen haben. Der erste Schritt zu<br />
einem ansteckenden Zeugnis von der Lebensfreundlichkeit Gottes<br />
liegt dabei an uns: Wir selbst sollten uns aufmachen, vor<br />
Gottes Angesicht zu leben, so wenig wir uns dessen vielleicht für<br />
würdig erachten. Je mehr wir unsere Schattenseiten von Gottes<br />
Güte verwandeln lassen, umso glaubwürdigere Zeugen und verläßlichere<br />
Weggefährten werden wir unseren Mitmenschen<br />
sein.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Zug der Getauften zum Kreuz<br />
Hohes Lied, Sprüche Salomons, Buch Daniel, mit Glossen,<br />
(UNESCO-Memory of the World / Weltdokumentenerbe),<br />
Reichenau, um 1000,<br />
Msc. Bibl. 22, fol. 4v,<br />
© Staatsbibliothek Bamberg / Foto: Gerald Raab<br />
Seit dem 12. Jahrhundert ist diese Handschrift mit dem Hohenlied, den Sprüchen<br />
Salomons und dem Buch Daniel in Bamberg urkundlich nachweisbar.<br />
Als Illustrator wird ein Maler auf der Reichenau um das Jahr 1000 angenommen,<br />
der vermutlich u. a. auch am Liuthar-Evangeliar mitgewirkt hat.<br />
Der Codex enthält eine Federprobe sowie vier Miniaturen, wobei jeweils<br />
zwei Miniaturen in Verbindung zueinander stehen. Dem Titelbild links stellt<br />
der Maler rechts eine Initialzierseite gegenüber, die den Text historisierend<br />
gestaltet.<br />
Die allegorische Deutung der Verbindung Christus – Kirche bietet die Grundlage<br />
für diese ikonographisch einmalige Gestaltung des Zuges der Getauften<br />
zum Kreuz. Der Text des Hohenliedes ist aufgeteilt durch die Angabe von Sprecherrollen.<br />
Ein Kommentar am Rand der ersten Verse bietet ansatzweise Erklärungen,<br />
ermöglicht aber keine erschöpfende Deutung der Darstellung.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Zug der Getauften zum Kreuz<br />
Mit unserem Titelbild hat der Malermönch von der Reichenau<br />
um das Jahr 1000 ein Werk geschaffen, das als einmalig<br />
gelten kann. In einer allegorischen Auslegung wird das alttestamentliche<br />
Hohelied als Verbindung zwischen Christus,<br />
dem Bräutigam, und der Kirche als seiner Braut dargestellt. Ansätze<br />
zum Verständnis dieser Illustration bietet ein Kommentar<br />
am Textrand, wenngleich eine vollständige Erklärung nicht<br />
möglich ist.<br />
Ziel der Prozession unterschiedlicher Menschengruppen ist<br />
das goldene Kreuz im oberen rechten Teil des Bildes. Im Zentrum<br />
steht ein Taufbecken. Petrus beugt sich zu dem Täufling,<br />
einem nackten jungen Mann, und berührt seine Stirn. Vielleicht<br />
hat der Maler dabei einen Taufritus seiner Zeit vor Augen,<br />
nach dem der Täufling auf der Stirn gesalbt wird, ähnlich, wie<br />
es auch heute geschieht. Beide tragen einen goldenen Nimbus,<br />
anders als die drei links neben dem Taufbecken wartenden<br />
Männer. Sie schauen auf das Geschehen vor ihnen. Gleich<br />
werden sie an der Reihe sein und die Taufe empfangen, die<br />
sie in die Gemeinschaft der Glaubenden aufnimmt. Ihre vorgebeugten<br />
Körper und die auf das Taufbecken weisenden Hände<br />
verraten ihr inneres Ausgerichtetsein auf den beginnenden<br />
neuen Lebensabschnitt.<br />
Vom Taufbecken aus bewegt sich rechts der Zug der Getauften.<br />
Vier jugendlich aussehende Könige, eine goldene Stufenkrone<br />
tragend und mit einer kurzen Tunika bekleidet, sind auf<br />
dem Weg von der Taufe hin zum Kreuz Jesu Christi. Einer von<br />
ihnen schaut zurück – vielleicht, um die große Schar der Pilgernden<br />
wahrzunehmen, die sich weiter oben auf dem spiralförmig<br />
verlaufenden Weg befinden – vielleicht, um einen Blick<br />
auf das Ziel des Weges tun zu können. Die anderen schauen<br />
nach vorn. Alle bewegen sich auf einem beige-gelb vorgezeichneten<br />
Weg, der durch Bodenschollen gekennzeichnet ist. Wäh-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
rend alle Getauften mit einem goldenen Nimbus gekennzeichnet<br />
sind, tragen die Könige das Zeichen ihrer weltlichen Herrschaft.<br />
Vor ihnen gehen drei jüngere Männer und zwei ältere, vielleicht<br />
Laien, denn ein bestimmter Beruf läßt sich von ihrer Kleidung<br />
her nicht ausmachen. Davor sind durch ihre Tonsur drei<br />
junge Geistliche zu erkennen, die miteinander sprechen. Ein<br />
einzelner junger Mann trennt die Priestergruppe von den weiter<br />
oben gehenden fünf Bischöfen/Erzbischöfen oder Päpsten.<br />
Die beiden vorderen haben offensichtlich schon das Kreuz im<br />
Blick, während die Bewegung der anderen drei in ganz unterschiedliche<br />
Richtungen geht.<br />
Davor sind erstmals drei Frauen in der Prozession zu sehen.<br />
Sie stehen eng beieinander. Die Frau in der Mitte umarmt die<br />
untere und scheint ihr etwas zu erklären. Ihre Hände strecken<br />
sich dem Kreuz entgegen. Die Tradition deutet diese Frauen als<br />
die „drei Marien“, die in der Bibel erwähnt werden. Die nächste<br />
Frau nimmt ehrfurchtsvoll einen goldenen Kelch in Empfang,<br />
den ihr die dem Kreuz am nächsten stehende Ecclesia<br />
(= Kirche) reicht.<br />
Die Kirche, als Braut Christi, ist mit einem kostbaren, mit<br />
Juwelen besetzten Kragen geschmückt. In ihrer linken Hand<br />
trägt sie einen Stab mit Kreuz und Wimpel. Sie bildet eine<br />
Brücke zwischen den Glaubenden und dem Kreuz, was sich in<br />
der Bewegung ihrer Kleidung widerspiegelt und in der Weitergabe<br />
des eucharistischen Kelches.<br />
Der Bräutigam der Kirche, Jesus Christus, hängt am Kreuz.<br />
Für ihn ist alles vollbracht. Seine Wunden bluten noch. In der<br />
Deutung der Kirchenväter entspringen der Seitenwunde Jesu<br />
die Sakramente der Kirche. Das goldene Kreuz, ohne Inschrift,<br />
weist auf die Überwindung von Leid und Tod in der Auferstehung<br />
Jesu.<br />
Die Farben im Hintergrund des Weges der Getauften wandeln<br />
sich von einem rosa-violetten Farbton zum Blau des Himmels,<br />
wobei der Illustrator mit dem blauen Hintergrund viel-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
leicht andeuten möchte, daß die Wirklichkeit des Himmels<br />
(blau) auch den Vorgang der Bekehrung, den gesamten Weg<br />
zum Ziel, begleitet und trägt.<br />
Der Maler setzt einen deutlichen Anfangspunkt und ein<br />
ebenso klares Ziel für die Pilgernden fest: Mit der Taufe beginnt<br />
das Leben mit Jesus Christus. Zugleich kommt damit auch das<br />
Kreuz in seiner ganzen Wirklichkeit als Zeichen für das Leiden<br />
und Sterben Jesu in den Blick. Gleichzeitig aber gilt: Vom Kreuz<br />
geht der Segen der Sakramente aus, als Stärkung der Menschen<br />
auf ihrem Weg, als Begleitung an allen wichtigen Stationen<br />
ihres Lebens.<br />
Der Kommentar am Rand der ersten Verse des Textes schildert<br />
einen Dialog zwischen der Kirche und der Synagoge. Wie<br />
die Braut im Hohenlied (1, 4) bittet die Kirche Christus: „Trahe<br />
me post te“ – „Ziehe mich dir nach“. Eine Deutung dieses Dialogs<br />
als Gespräch des einzelnen getauften Menschen mit Christus<br />
ist in der Tradition bekannt; aber auch die Deutung auf<br />
die Kirche als Braut im Gespräch mit Christus, ihrem Bräutigam.<br />
Der Maler ergänzt den „Zug der Getauften zum Kreuz“ durch<br />
ein gegenüberstehendes Bild, in dem er den „Zug der Getauften<br />
zu Christus in der Glorie“ zeigt. Damit verdeutlicht er, daß der<br />
Glaubensweg zwar nicht am Kreuz vorbeiführt, daß er aber<br />
nicht dort endet. Die Taufe ist der Anfang des ewigen Heils. Das<br />
Wissen darum hilft, die Strapazen des Weges zu bestehen.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
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Thema des Monats 324<br />
Gottes Zorn und Zärtlichkeit<br />
Biblische Erfahrungen<br />
Menschen, die sich nahestehen, umarmen einander zur Begrüßung<br />
und zum Abschied. Der Kranke, dessen Hand<br />
ich halte, das Kind, das dem Baby behutsam über den Kopf<br />
streicht, die Liebenden, die sich küssen – Zärtlichkeiten zwischen<br />
Menschen. Ist Zärtlichkeit eine Verhaltensweise, gar eine<br />
Eigenschaft Gottes? Was ist Zärtlichkeit? Wir kennen die immer<br />
gleichen und doch unendlich vielfältigen äußeren Zeichen der<br />
Zärtlichkeit. Ihr Kern ist achtsame Zugewandtheit, ein feines<br />
Gespür für den anderen Menschen in seiner Verletzlichkeit, behutsames<br />
Wohlwollen, liebevolle Aufmerksamkeit.<br />
Gott ist ganz Ohr<br />
Gott kann zärtlich genannt werden, weil er ganz Ohr ist für die<br />
Menschen, so hat es Kurt Marti einmal gesagt. Das Wort Gott<br />
signalisiert dem Schweizer Dichter und Pfarrer zufolge „Hörbereitschaft<br />
von höchster Intensität, von zärtlichster Genauigkeit“.<br />
Die Rede von Gottes Zärtlichkeit bedeutet: Gott hört in<br />
uns hinein – bis dahin, daß sein göttliches Wort, seine göttliche<br />
Weisheit in Jesus die Gottheit preisgibt (Phil 2, 6 f.) und Fleisch<br />
wird (Joh 1, 14). Gottes unendliche Hörfähigkeit, seine zarte<br />
Offenheit für die Menschen, kommt in Jesus zur Welt. Doch<br />
was bekommt Gott in seinem Christus zu hören? Die Mensch<br />
gewordene Liebe hängt am Ende am Kreuz. Doch dieses Ende<br />
ist nicht das Ende. Zu Ostern feiern wir das Geschenk der Hoffnung,<br />
daß in Jesus Gottes Zärtlichkeit über unsere Gewalttat<br />
siegt.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
325 Thema des Monats<br />
Liebe und Zorn?<br />
Wie steht nun die biblische Rede vom Gotteszorn zur biblischen<br />
Erfahrung von Gottes Zärtlichkeit? Ist Zorn nicht ein Laster?<br />
Wie können wir dann vom Zorn Gottes sprechen und Gott<br />
Zorn zusprechen? Macht Zorn nicht einäugig oder gar blind?<br />
Aber gibt es nicht auch einen Zorn, der die Augen öffnet und<br />
die Frucht offener Augen ist? Den Zorn, der die andere Seite der<br />
Liebe ist? „Ubi amor, ibi oculus“, wo die Liebe, da das Auge,<br />
heißt es bei Thomas von Aquin. Wenn ich beseelt bin von der<br />
Liebe zu den Übersehenen und vom Verlangen nach Gerechtigkeit,<br />
bin ich dann etwa voreingenommen, verblendet? Wenn<br />
ich merke, daß jemand geschlagen, mit Füßen getreten wird,<br />
muß ich da nicht aufschreien, aufstehen? Gibt es nicht auch<br />
den notwendigen Zorn – den Zorn, der Not wendet und abwendet?<br />
Darum ist die Bibel davon überzeugt: Gottes Zorn ist ein<br />
Segen.<br />
Gottes Passion<br />
Im Buch Exodus lesen wir: „Einen Fremden sollst du nicht ausnützen<br />
oder ausbeuten, denn ihr selbst seid in Ägypten Fremde<br />
gewesen. Ihr sollt keine Witwe oder Waise ausnützen. Wenn du<br />
sie ausnützt und sie zu mir schreit, werde ich auf ihren Klageschrei<br />
hören. Mein Zorn wird entbrennen, und ich werde euch<br />
mit dem Schwert umbringen, so daß eure Frauen zu Witwen<br />
und eure Söhne zu Waisen werden.“ (Ex 22, 20–23)<br />
Gottes Parteilichkeit für Witwe und Waise ist Licht in der<br />
Dunkelheit – die Todesdrohung gegen die Ausbeuter der<br />
Schutzlosen ist dunkel und hart. Doch Gottes „Zorn“ ist kein<br />
subjektives Strafbedürfnis, kein Wutanfall, keine despotische<br />
Laune, kein blindes Zuschlagen. Gott ist leidenschaftlich, aber<br />
kein Choleriker. Gottes Zorn ist die Folge seiner Passion für den<br />
Menschen. Gott zürnt – er ist kein himmlisch-distanzierter Zu-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 326<br />
schauer, wenn Menschen geschunden werden, und er mutet<br />
den Tätern die Folgen ihres zerstörerischen Tuns zu.<br />
Im Alten (Spr 11, 4; Jes 13, 13; Ez 7, 19; 22, 24; Zef 1, 15; 3, 8;<br />
Sir 5, 5 f.) wie im Neuen Testament (Röm 2, 5) hält die Rede<br />
vom „Tag des Zorns“ an Gottes Einsatz für Gerechtigkeit fest.<br />
Gott ist Anwalt der Ausgegrenzten. Sein leidenschaftlicher Zorn<br />
schafft ihnen Recht.<br />
Aufdeckung verborgener Gewalt<br />
Vor allem die prophetischen Bücher der Bibel sprechen von diesem<br />
Zorn. Gottes Zorn richtet sich gegen die Mächtigen und<br />
Verantwortlichen, doch trifft das Verderben nicht auch die Unschuldigen?<br />
Gott fügt dem Leid, das Menschen tragen müssen,<br />
nicht willkürlich neues Leid hinzu. Sein Zorn macht vielmehr<br />
den Unheilszusammenhang offensichtlich, der zuvor geleugnet<br />
wurde.<br />
Auch Jesus spricht vom Zorn Gottes. Er trifft den Schuldner,<br />
dem vergebens vergeben wurde, der dem Mitknecht gegenüber<br />
eisenhart bleibt (Mt 18, 28–35). Das Neue Testament schließt<br />
mit einem großen Bild des Gotteszorns über die verkehrte Welt<br />
des römischen Reiches, der Offenbarung des Johannes. Gottes<br />
Heil ist zu allen Menschen gekommen. Doch für alle gilt nun<br />
auch: Wer, von Gott geheilt, weitermacht wie bisher, wer den<br />
Schrei der Unterdrückten überhört, wer nicht umkehrt, steht<br />
unter Gottes Zorn. Das neue Jerusalem kann erst erstehen,<br />
wenn die alten Machthaber entmachtet sind (Offb 19, 11–21).<br />
Mißbrauch der Rede vom Zorn Gottes<br />
Gottes Zorn, so zeigte sich, ist nicht die Unbeherrschtheit eines<br />
Willkürgottes, der seine Wut ungestraft an den Untergebenen<br />
auslassen kann; Gottes Zorn ist eine Frucht seiner Menschenliebe.<br />
Dieser Zorn deckt und hebt Unrechtsverhältnisse und Leiden<br />
auf. Die religiöse Rede vom Zorn Gottes ist notwendig im<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
327 Unter die Lupe genommen<br />
Mund der Unterdrückten und im Blick auf sie, aber sie ist auch<br />
dem Mißbrauch ausgesetzt. Sie kann dazu herhalten, Menschen<br />
zu beherrschen, sie kleinzuhalten, sie so in (Sünden-)<br />
Angst und Schrecken zu versetzen, daß sie ihres Lebens niemals<br />
mehr froh werden; dies ist allzuoft im Christentum<br />
geschehen. Sie kann Gewalttaten religiös verbrämen und zu<br />
Gewalt aufstacheln – man denke nur an fundamentalistische<br />
Haßpredigten in allen Religionen.<br />
Gottes Klarheit<br />
Gott, sagt die Bibel, ist keine gespaltene Persönlichkeit. Er ist<br />
nicht teils zärtlich, teils zornig. Sein Zorn und seine Zärtlichkeit<br />
gehören zusammen wie die Vorder- und die Rückseite einer<br />
Münze (vgl. etwa Jes 66, 10–16). Gott ist jenseits aller Bilder.<br />
Doch das bedeutet nicht, daß sein Bild unentschieden, verschwommen,<br />
undeutlich wäre. Das eine Gottes-Bild, das die biblische<br />
Münze zeigt, ist klar genug: zugewandt hörende Liebe,<br />
unendliches Wohlwollen, zarte Hut.<br />
Susanne Sandherr<br />
Allein den Betern<br />
Die Gottesbeziehung des einzelnen –<br />
Hoffnung für unsere Welt<br />
Als Reinhold Schneider 1936 sein wohl berühmtestes Gedicht<br />
verfaßte (siehe S. 67 f.), begann sich das Unheil des<br />
Zweiten Weltkriegs durch die offene Wiederaufrüstung und die<br />
konsequent revanchistische Politik der Nationalsozialisten bereits<br />
abzuzeichnen. Bei der Erstveröffentlichung des Sonetts<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 328<br />
1941 hatte der Krieg bereits begonnen, die Verhältnisse sich<br />
aber noch nicht zu Ungunsten des Deutschen Reichs gewendet.<br />
Wenig später wurde es zu einem Text, der vielen Soldaten im<br />
Chaos der immer sinnloseren Kämpfe noch eine Hoffnungsperspektive<br />
zu eröffnen vermochte.<br />
Was kann dieses Gedicht uns Heutigen sagen? Die Vorstellung<br />
vom Zorn Gottes, die hinter den bedrückenden Bildern vom<br />
Schwert und den richtenden Gewalten steht, ist uns eher fremd<br />
geworden. Ereignisse wie die Angriffe vom 11. September 2001<br />
ordnen wir nicht mehr in diesen Deutungszusammenhang<br />
ein, gerade weil sie von Fanatikern als vorgeblicher Ausdruck<br />
des göttlichen Zornes geplant und durchgeführt wurden. So fassungslos<br />
wir dieser Instrumentalisierung Gottes gegenüberstehen,<br />
so wenig vermögen wir eine derart konkrete Bedrohung<br />
des Weltfriedens zu erkennen, wie sie zur Entstehungszeit unseres<br />
Gedichts gegeben war. Dennoch erleben wir aufgrund der<br />
wirtschaftlichen Globalisierung und des Aufeinandertreffens<br />
der verschiedenen Kulturen Spannungen, die uns zumindest<br />
die Möglichkeit einer künftigen Eskalation vor Augen führen,<br />
sofern sich an den sozialen und politischen Unrechtsstrukturen<br />
nichts ändert. Auch die fortschreitende Gefährdung der klimatischen<br />
Stabilität gibt uns zu handeln auf, wenn wir die Erde<br />
den nachwachsenden Generationen bewohnbar erhalten wollen.<br />
Dabei mag es aus der Perspektive rein säkularer Vernunft<br />
so scheinen, als sei immer weniger klar, welche Problemdiagnosen<br />
tatsächlich zutreffen, geschweige denn welche Lösungswege<br />
den drängenden Problemen wirklich abhelfen können.<br />
Im Widerstreit der Analysen und Meinungen finden die einzelnen<br />
sich immer weniger zurecht, sehen ihre Einflußmöglichkeiten<br />
im politischen Bereich zusehends beschnitten und sollen<br />
das Zusammenleben daheim und weltweit dennoch durch ihre<br />
Entscheidungen verantwortlich mitgestalten.<br />
Bleiben glaubende Menschen von diesen Fragen unberührt?<br />
Gewiß nicht. Sie stehen ja mittendrin im großen welt- und zeit-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
329 Unter die Lupe genommen<br />
umspannenden Zusammenhang der Menschheitsgeschichte<br />
und können sich den Auswirkungen ihres eigenen wie des Tuns<br />
ihrer Mitmenschen nicht entziehen. Gleichwohl unterscheidet<br />
sich ihre Lebensperspektive grundlegend von der Situation von<br />
Menschen, die nicht glauben.<br />
Bevor wir genauer nach diesem Unterschied fragen, ist es nötig<br />
zu bestimmen, was wir unter „glauben“ verstehen. Denn<br />
was „glauben“ bedeutet, ist keineswegs eindeutig. Von vielen<br />
Menschen wird darunter in erster Linie ein Für-wahr-Halten<br />
von bestimmten Inhalten oder Aussagen verstanden, und zwar<br />
nicht nur im religiösen Bereich, sondern auch sonst. Charakteristisch<br />
für diese Bedeutung von „glauben“ ist die Verknüpfung<br />
mit „daß“-Sätzen, wie etwa: „Ich glaube, daß es einen Gott<br />
gibt.“, oder auch: „Ich glaube, daß es einen Urknall gegeben<br />
hat.“ Solcher Glaube ist letztlich eine Art Verlängerung des Wissens,<br />
die man im Gegensatz zum Wissen selbst nicht beweisen<br />
kann, wenigstens nicht jemandem, der die eigenen Denkvoraussetzungen<br />
nicht teilt. Die andere Bedeutung von „glauben“,<br />
auf die es hier ankommt, ist ganz wesentlich durch die Bibel<br />
ausgeprägt. Die erste Stelle, an der in der Bibel das Wort „glauben“<br />
erscheint, hat für alles Folgende prägenden Charakter.<br />
Gen 15, 6, nach Gottes Nachkommenverheißung an Abraham,<br />
heißt es: „Abraham glaubte dem Herrn, und der Herr rechnete<br />
es ihm als Gerechtigkeit an.“ Dieses Glauben hat mit Beziehung<br />
zu tun; es bedeutet so viel wie „vertrauen“ oder „sich verlassen<br />
auf“. Schaut man auf die Abraham-Erzählungen, kann<br />
man sagen, daß seine Beziehung zu Gott es ist, deretwegen<br />
die Bibel überhaupt von ihm berichtet. Nach der immer weiter<br />
von Gott wegführenden und die Menschen voneinander entzweienden<br />
Entwicklung der ersten elf Genesiskapitel ist Abraham<br />
derjenige, der Gottes Weisung zum Verlassen der Heimat<br />
befolgt, seiner Verheißung unzähliger Nachkommenschaft traut<br />
und sogar bereit ist, seinen einzigen Sohn, den Grund seiner<br />
Hoffnung und Garanten von Gottes Verheißung, auf dem Berg<br />
Morija als Opfer darzubringen. Abraham gründet sein Leben<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 330<br />
auf Gott und richtet sich an ihm aus, ja, er lebt in und mit diesem<br />
Du, von dem er sich gerufen und getragen weiß.<br />
Können wir nun nicht von Abraham her die vorhin gestellte<br />
Frage beantworten, was Glaubende und Nicht-Glaubende unterscheidet?<br />
Ich meine schon, und zwar auch deswegen, weil<br />
seine Ausgangssituation sich mit unserer heutigen vergleichen<br />
läßt. Nach menschlichen Maßstäben war es zu Abrahams Zeit<br />
ein in seinen Folgen unabsehbares Wagnis, um der Verheißung<br />
einer zahlreichen Nachkommenschaft willen noch im fortgeschrittenen<br />
Alter die traditionellen Bindungen aufzugeben und<br />
seine Heimat zu verlassen. Ähnlich unauslotbar will uns heute<br />
erscheinen, wie sich der Klimawandel und die Spannungen<br />
zwischen reichen und armen Weltgegenden sowie zwischen<br />
westlichen und islamisch geprägten Zivilisationen noch in den<br />
Griff bekommen lassen. Werden die Opfer, die wir dafür werden<br />
bringen müssen, tatsächlich ausreichen? Besteht nicht die<br />
Gefahr, daß wir letzten Endes nur verlieren – unseren Wohlstand,<br />
unsere gewohnte Lebensweise, schließlich gar unsere<br />
kulturelle Identität?<br />
Und doch: Wer wie Abraham aus einer persönlichen Gottesbeziehung<br />
lebt, d. h. nicht nur meint, es gebe einen Gott, sondern<br />
mit Gott als einem lebendigen Gegenüber kommuniziert,<br />
erfährt sich durch ihn als von einer Wirklichkeit getragen, die<br />
nach dem Bekenntnis der Bibel alle sichtbare und unsichtbare<br />
Wirklichkeit umgreift und lenkt. Mehr noch: Je intensiver jemand<br />
sich von Gott ergreifen und das eigene Leben von ihm gestalten<br />
läßt, umso eher wird dieser Mensch trotz der schmerzhaften<br />
Brüche und Verwerfungen, ja geradezu in ihnen die<br />
Handschrift dessen entziffern können, der ihn mit seiner Güte<br />
durchdringt. Eine Frau, die in der Hinwendung zu Gott ihren<br />
Weg ertastet, ein Mann, der aus der Zwiesprache mit ihm den<br />
Sinn seines Da-Seins erlernt, kann in Vertrauen und Gelassenheit<br />
das Ihre, das Seine tun, weil dieses göttliche Du, bildhaft<br />
gesprochen, seinen Vertrauten die Hand reicht und sie dort, wo<br />
es nötig ist, den richtigen Menschen begegnen läßt. Mit ande-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
331 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
ren Worten: Je mehr man sich durch Gott in einen lebendigen<br />
Zusammenhang eingebunden fühlt, umso stärker wird der, die<br />
einzelne entlastet, und umso freier kann er, sie tun, was in der<br />
eigenen Lebenswelt mit den persönlichen Begabungen erreichbar<br />
ist.<br />
Von hier aus wird klar, was Reinhold Schneider meint, wenn<br />
er allein von den Betern noch die Rettung erwartet. Nur wer<br />
„mit Gott im Bunde ist“, kann wahrhaft Bleibendes stiften. Und<br />
umgekehrt: Nur wer seine Gottesbeziehung pflegt, d. h. betet,<br />
empfängt die Gewißheit, in diesem Bund tatsächlich aufgehoben<br />
zu sein. Damit wird auch deutlich, welches Gewicht einem<br />
lebendigen Beten zukommt. Und es liegt nahe zu überlegen,<br />
wie fruchtbar sich der Austausch mit all jenen auszuwirken vermöchte,<br />
die sich – wenn auch in erheblich unterschiedenen<br />
Formen – betend mit uns dem Gott Abrahams zuwenden.<br />
Johannes Bernhard Uphus<br />
„Jetzt stehe ich auf!“<br />
(Mit) Gott gegen den Terror<br />
Den Text des Psalms finden Sie auf Seite 227.<br />
Der zwölfte Psalm ist ein bitteres Klagelied, aber auch ein<br />
glaubwürdiges Zeugnis der Hoffnung und des Gottvertrauens.<br />
Wie der Vorgängerpsalm 11 und der nachfolgende<br />
13. Psalm schreit hier der Beter seine Not heraus. Seine Umwelt<br />
ist feindlich, ein einziges System von Lüge und Schrecken.<br />
Der Ehrliche ist der Dumme<br />
Mit wenigen starken Strichen wird uns eine Gesellschaft vor<br />
Augen geführt, in der der Ehrliche der Dumme ist. Falsche Ver-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 332<br />
sprechungen und gezielte Irreführung sind die gängigen Mittel<br />
der Großen, um noch größer zu werden und die Kleinen –<br />
Kleinbauern, kleine Handwerker – in den Ruin zu treiben. Der<br />
Beter fleht Gott an, nicht tatenlos zuzuschauen, wenn die Täter<br />
sich auch noch ihrer Untaten rühmen: Haben wir das nicht fein<br />
eingefädelt – uns kann keiner was – wir haben Spitzenanwälte<br />
– juristisch ist das alles wasserdicht!<br />
„Der Herr vertilge alle falschen Zungen, jede Zunge, die vermessen<br />
redet. Sie sagen: ,Durch unsre Zunge sind wir mächtig;<br />
unsre Lippen sind unsre Stärke. Wer ist uns überlegen?‘“ (V. 4–5)<br />
Im Dunkeln sieht Gott besonders gut<br />
Die Armen werden immer ärmer, die Not läßt sie nicht mehr<br />
schlafen. Doch solche kleinen Leute befinden sich unterhalb<br />
der Wahrnehmungsschwelle der Reichen. Mit denen haben wir<br />
nichts zu tun! Schau’ gar nicht erst hin, geh’ nicht zu nah heran<br />
– am Ende holst du dir doch nur Läuse! Aber gerade die im<br />
Dunkeln, die Kleingemachten und Bedrückten, sieht Gott besonders<br />
gut. Gott ist nicht einfach der liebe Gott, den man einen<br />
guten Mann sein lassen kann. „Die Schwachen werden<br />
unterdrückt, die Armen seufzen. / Darum spricht der Herr:<br />
‚Jetzt stehe ich auf, dem Verachteten bringe ich Heil.‘“ Die Verachteten<br />
wird Achtung umkleiden wie ein warmer Mantel,<br />
Schande tauschen sie nach Gottes Willen gegen Ehre ein, Seufzen<br />
gegen Lachen. Gott sitzt nicht schläfrig im Ohrensessel, es<br />
hält ihn auch nicht länger auf seinem Himmelsthron: „Jetzt<br />
stehe ich auf, dem Verachteten bringe ich Heil.“<br />
Gerechtigkeit – jetzt<br />
Heil anstelle des Unheils, jetzt – und nicht an einem mythisch<br />
fernen Tag. Gerechtigkeit, jetzt – nicht erst beim Jüngsten Gericht.<br />
Gott hat es nicht mit den Mächtigen, sondern mit der Gerechtigkeit.<br />
Gegen den kalten Terror der Machtmenschen, für<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
333 Die Mitte erschließen<br />
die die Armen eine fremde Spezies sind, gegen das Falschgeld<br />
der Worte, das sie in Umlauf bringen, rühmt der Beter Gottes<br />
unbedingte Treue und Fürsorge und die Lauterkeit und Verläßlichkeit<br />
seiner schlackenlosen Verheißungs-Rede. „Die Worte<br />
des Herrn sind lautere Worte, / Silber, geschmolzen im Ofen,<br />
von Schlacken geschieden, geläutert siebenfach. / Du, Herr,<br />
wirst uns behüten und uns vor diesen Leuten für immer erretten“!<br />
(V. 7–8)<br />
Widerstehen<br />
Menschen sind so verletzlich. Es ist so leicht, sie klein zu siegen,<br />
sie herumzukriegen, sie krumm zu biegen. Wenn sich der<br />
verzweifelte Beter des zwölften Psalms Unrecht und Terror<br />
nicht beugt, die ihn doch von allen Seiten umgeben, so kommt<br />
ihm solche Widerstands- und Willenskraft nicht aus eigenem<br />
zu. Der Fromme kann aufrecht gehen und dem Bösen widerstehen,<br />
weil sein Gott für ihn einsteht – in Zorn und Zärtlichkeit:<br />
„Jetzt stehe ich auf, dem Verachteten bringe ich Heil.“<br />
Susanne Sandherr<br />
Altar und Tabernakel<br />
Orte der Feier und der Aufbewahrung der Eucharistie<br />
Neben dem Ambo ist der Altar der zweite Hauptort der<br />
Meßfeier, an dem die eigentliche Eucharistiefeier ihren<br />
Platz hat. Er ist vielfach der zentrale Punkt, auf den hin sich der<br />
gesamte liturgische Raum ausrichtet. Da die Gläubigen am eucharistischen<br />
Geschehen, das ja Handlungs- und Wortgesche-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 334<br />
hen ist, aktiv teilnehmen sollen, muß der Altar so positioniert<br />
sein, daß die liturgische Handlung von allen gut gesehen wird<br />
und das Eucharistiegebet gut verstanden werden kann, damit<br />
jeder am Ende des Gebets begründet das „Amen“ spricht. Nicht<br />
ohne Grund spricht der Canon Romanus, das erste Eucharistische<br />
Hochgebet, von der versammelten Gemeinde als den „circumstantes“,<br />
den um den Altar Stehenden. Alle sind es, die in<br />
ihrem Herzen das Lobopfer und Dankgebet vollziehen sollen.<br />
Im Wort „Altar“ schwingt durch die lateinischen Worte „adolere“<br />
und „arere“, die „(ver-)brennen“ bedeuten und von denen<br />
der deutsche Begriff abgeleitet ist, noch immer die Bedeutungsebene<br />
„Opferstätte“ mit, die wir aus antiken Religionen kennen.<br />
Dennoch hat die frühe Christenheit keine „Altäre“ für die<br />
Feier der Eucharistie verwendet, sondern Tische, die zunächst<br />
sogar tragbar waren. Denn mit dem Tod Christi am Kreuz, das<br />
vielfach selbst wieder als „Altar“ bezeichnet wird (auch das<br />
Meßopferdekret des Konzils von Trient spricht vom „Altar des<br />
Kreuzes“ / „ara crucis“), kann es für Christen keine Darbringung<br />
von Gaben mit dem Ziel einer Besänftigung Gottes geben,<br />
sondern allein das Gedächtnis und die Vergegenwärtigung des<br />
einmaligen Kreuzesopfers Christi. Eine Darbringung von Gaben<br />
ist Symbolhandlung der Gemeinde, die sich ganz in die<br />
Hingabe Christi an den Vater hineinbegibt und in der Kommunion<br />
die konsekrierten Gaben als Leib und Blut Christi empfängt.<br />
Bald wurden in der Antike mit der Errichtung von Kirchenräumen<br />
diese Tische fest installiert und aus haltbarem Material<br />
(meist Stein) gefertigt. Aufgrund von Änderungen in der Theologie<br />
der Eucharistie und des Priestertums wurde im Mittelalter<br />
die Tischform immer mehr zu einer Quaderform, der Altar in<br />
die Apsis gerückt und mehrere Altäre in einem Kirchenraum<br />
aufgestellt, so daß quasi eine Anzahl kleiner „liturgischer<br />
Räume“ entstand. Erst der Barock hat den Kirchenraum – oft-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
335 Die Mitte erschließen<br />
mals durch Zerstörung bestehender Lettner – wieder auf den<br />
Hauptaltar einer Kirche hin ausgerichtet.<br />
Heute soll der Altar feststehend und umschreitbar sein, wie<br />
die „Allgemeine Einführung ins Meßbuch“ (AEM) in Nr. 262<br />
festhält. Er soll wirklich den Mittelpunkt des Raumes bilden,<br />
„dem sich die Aufmerksamkeit der ganzen Gemeinde von selbst<br />
zuwendet“ (ebd.). Entsprechend soll möglichst nur ein Altar<br />
vorhanden und dessen Grundform der Tisch sein, für dessen<br />
Platte besondere Anforderungen gelten, während der Unterbau<br />
eine sekundäre Rolle spielt (Nr. 263).<br />
Wie sehr aber der Altar als Ort verstanden wird, an dem Christus<br />
selbst in den eucharistischen Gaben gegenwärtig wird und<br />
der deshalb besondere Wertschätzung erhält, wird daran deutlich,<br />
daß er auch außerhalb der Messe bzw. des eigentlichen Eucharistieteils<br />
besondere Ehrerweise (etwa Verbeugung, Kuß<br />
oder Inzens) erfährt. Auch das Schmücken und die Auszeichnung<br />
des Altars durch Kreuz, Leuchter und evtl. Blumen bezeugen<br />
seine Würde im liturgischen Raum.<br />
Diese Wertschätzung und Verehrung ist unabhängig vom Tabernakel<br />
(lat. tabernaculum = „Zelt“), der vor der Liturgiereform<br />
meist auf dem Hochaltar stand. Diese Position war aber eine<br />
relativ junge. Im Westen wurde zwar schon im ersten Jahrtausend<br />
regelmäßig konsekriertes Brot für eine eventuelle Krankenkommunion<br />
aufbewahrt. Der Aufbewahrungsort blieb aber<br />
zunächst rein funktional und ohne Schmuck; vielfach befand<br />
er sich in einem Nebenraum der Kirche. War er im eigentlichen<br />
Kirchenraum situiert, so handelte es sich um einen einfachen<br />
Wandschrank an einer Apsisseite. Im Hochmittelalter wurde<br />
daraus das erhöhte und künstlerisch aufwendig gestaltete<br />
„Sakramentshäuschen“, das zugleich dem Schauverlangen der<br />
Gläubigen entgegenkam, da das Allerheiligste durch Gitter<br />
hindurch sichtbar blieb. Die Form des auf dem Altar fixierten<br />
Tabernakels bildete sich nach der Reformation heraus, ausge-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 336<br />
hend von Italien und mit antireformatorischer Ausrichtung, da<br />
die Aufbewahrung der eucharistischen Gaben zum konfessionsunterscheidenden<br />
Merkmal wurde, das man entsprechend herausstellen<br />
wollte. Wirkliche Verbreitung fand die Aufstellung<br />
auf dem Hochaltar in der Neuzeit, und erst zu Beginn des<br />
20. Jahrhunderts wurde sie verpflichtend. Allerdings dominierte<br />
nun der Tabernakel den ganzen liturgischen Raum (auch<br />
die Feier der Eucharistie) – nicht mehr der Altar mit seinem<br />
eucharistischen Geschehen.<br />
Ganz folgerichtig fordert die erneuerte Liturgie nach dem<br />
II. Vatikanischen Konzil u. a. in AEM Nr. 276, daß die Eucharistie<br />
möglichst in einer vom Kirchenraum getrennten Kapelle<br />
aufbewahrt werden soll, um so dem persönlichen Gebet einen<br />
geeigneten Ort zu geben – ohne daß eine Aufstellung im Kirchenraum<br />
ausgeschlossen wäre. So können Feier und Verehrung<br />
der Eucharistie ihren je eigenen Ort erhalten, ohne in<br />
direkte Konkurrenz zu geraten. Entsprechend ist man im nachkonziliaren<br />
Kirchenbau verfahren, so daß der liturgische Raum<br />
wieder auf den Altar als Ort der Feier und nicht auf den Tabernakel<br />
als Ort der Aufbewahrung und Verehrung der Eucharistie<br />
ausgerichtet ist.<br />
Es bleibt zu hoffen, daß die „Grundordnung des Römischen<br />
Meßbuchs“, die 2007 in deutscher Fassung und bereits im Hinblick<br />
auf ein neues deutschsprachiges Meßbuch vorab publiziert<br />
wurde, keine faktische Kehrtwende in dieser Sache anzeigt:<br />
Dort wird nämlich in Nr. 315 als primärer Ort für den<br />
Tabernakel wieder der Altarraum benannt (nicht aber der Zelebrationsaltar),<br />
bevor dann als zweite Möglichkeit eine eigene<br />
Kapelle erwähnt wird.<br />
Friedrich Lurz<br />
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337 Engagiertes Christsein<br />
Leidenschaft für die Armen:<br />
Franz Kamphaus<br />
Äußerlich fast gebrechlich wirkte er, der Kopf durch eine<br />
Krankheit immer leicht zum Zittern gezwungen, die Stimme<br />
leise, mit vielen Pausen. Doch das Wort des Bischofs mit<br />
der Baskenmütze hatte Gewicht unter den deutschen Bischöfen<br />
und in der Öffentlichkeit. War die Stimme auch leise, was er<br />
sagte, löste mitunter auch ein wahres Erdbeben aus: Franz<br />
Kamphaus, 25 Jahre lang Bischof von Limburg.<br />
Am 2. Februar 2007, an seinem 75. Geburtstag, trat er aus<br />
Altersgründen vom Bischofsamt zurück. Jetzt wohnt und arbeitet<br />
er als Seelsorger in einer Behinderteneinrichtung in Rüdesheim.<br />
Letzte Konsequenz für einen Priester, der niemals nach<br />
einer kirchlichen Karriere geschielt hatte. „Evangelizare pauperibus“,<br />
den Armen das Evangelium verkünden (Lk 4, 18) – sein<br />
Wahlspruch war Programm für den unermüdlichen Dienst an<br />
den Ärmsten. Schon seine Antrittspredigt 1982, als ihn Joseph<br />
Kardinal Höffner zum Bischof weihte, ließ nicht wenige aufhorchen.<br />
Kamphaus rief dazu auf, sich noch intensiver um die<br />
Armen zu kümmern. Die deutsche Kirche, die in vielen Dingen<br />
sich durchaus als reich bezeichnen könne, solle dazu einen<br />
wesentlichen Beitrag leisten.<br />
Für Kamphaus auch eine Verpflichtung an sein eigenes Leben<br />
und sein Wirken als Bischof. Er überließ sein Bischofshaus einer<br />
Flüchtlingsfamilie aus Eritrea und zog in das Priesterseminar<br />
der Diözese. Von dort aus fuhr er mit dem Fahrrad in das Ordinariat<br />
oder ging zu Fuß. Wie er es überhaupt liebte, zu Fuß zu<br />
gehen. Nachfolge habe mehr mit Gehen als mit Fahren zu tun,<br />
konnte dazu Kamphaus schmunzelnd sagen.<br />
Bescheiden lebte er sein ganzes Leben lang, legte wenig Wert<br />
auf Bequemlichkeiten oder Vergünstigungen, schon gar nicht<br />
für einen Bischof. Er lenkte seinen Kleinwagen selbst zu den<br />
vielen Terminen. Ein Bischof zum Anfassen – auf kaum einen<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 338<br />
traf dies so zu wie auf den Bischof aus Limburg. In Frankfurt,<br />
wo er viel zu tun hatte, konnte man Kamphaus in der Straßenbahn<br />
treffen. Dort sprach er gerne mit Leuten, unkompliziert<br />
und ehrlich interessiert an deren Nöten und Sorgen.<br />
Kamphaus war stets am Boden geblieben, tief mit seiner Heimat<br />
und Herkunft verwurzelt. Als jüngstes von fünf Kindern<br />
wuchs Kamphaus auf einem Bauernhof im Münsterland auf.<br />
Sein Bischofsstab war aus dem Holz einer Eiche des Bauernhofes<br />
geschnitzt, auf dem er seine Kindheit verbrachte und wo<br />
bis heute ein Teil seiner Familie lebt. Und dennoch fiel der<br />
kleine Franz auf, schon in der Schule stellte er Lehrern unbequeme<br />
Fragen. Er wollte den Dingen auf den Grund gehen.<br />
Sein Abitur legte Kamphaus am Collegium Augustinianum in<br />
Gaesdonck ab und studierte Theologie und Philosophie in Münster<br />
und München. 1959 empfing er die Priesterweihe und war<br />
anschließend Kaplan und Religionslehrer in Münster und<br />
Ahaus/Westfalen. Mit einer Arbeit zur Predigtlehre wurde er<br />
1968 in Münster promoviert. Er engagierte sich früh in der Predigtausbildung<br />
und übernahm 1971 die Leitung des Referates<br />
Priesterausbildung im Bistum Münster. Ein Jahr später wurde<br />
er zum Professor für Predigtlehre an die Universität Münster<br />
berufen und gleichzeitig zum Regens des Priesterseminars ernannt.<br />
Johannes Paul II. bestimmte ihn 1982 zum Bischof von<br />
Limburg.<br />
Sein leidenschaftliches Engagement für die Armen führte<br />
ihn in viele Gremien. Seit 1999 leitet er die Kommission Weltkirche<br />
der Deutschen Bischofskonferenz und war damit deren<br />
„Außenminister“. Er pflegte mit vielen Kirchen und deren<br />
Bischöfen vertrauensvolle und partnerschaftliche Beziehungen,<br />
vor allem zur Kirche in Kamerun, wo Kamphaus maßgeblich<br />
zur Finanzierung einer Katholischen Universität für Zentralafrika<br />
beitrug. In den großen Sparprozessen der Bischofskonferenz<br />
1992 erreichte Kamphaus, daß es im Bereich Weltkirche<br />
keine Kürzungen der Mittel gab. Immer wieder hatte sich der<br />
Limburger Bischof für unbedingte Solidarität mit den Ärmsten<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
339 Engagiertes Christsein<br />
in aller Welt eingesetzt. Kamphaus machte mit zahlreichen<br />
Hilfsaktionen und Kampagnen auf das Schicksal von Kriegsflüchtlingen<br />
aufmerksam, initiierte Projekte für den Wiederaufbau<br />
von Wohnungen im Kosovo. Der Pazifist wandte sich 2003<br />
gegen den Irakkrieg als „die größte Katastrophe“.<br />
Konsequent setzte er sich auch für den Verbleib der katholischen<br />
Kirche in der Schwangerenkonfliktberatung ein. Damit<br />
widersetzte er sich zunächst einer Weisung Johannes Pauls II.<br />
von 1999, bis schließlich der Papst Anfang 2002 gegen den<br />
Willen von Kamphaus den Ausstieg der Diözese Limburg aus<br />
der gesetzlichen Konfliktberatung verfügte. Mit brüchiger<br />
Stimme mußte Bischof Kamphaus dann erklären, daß Limburg<br />
als letzte deutsche Diözese die Vergabe von Beratungsscheinen<br />
einstellen werde, die zu einem straffreien Schwangerschaftsabbruch<br />
berechtigten. Jahrelang hatte er gekämpft – nicht im<br />
Sinne der kirchlichen Vorschriften, sondern im Sinne der Menschen.<br />
Das brachte ihm Kritik, aber auch viel Achtung und Respekt<br />
ein. Der von Rom verordnete Ausstieg habe bei ihm eine<br />
„tiefe Wunde“ hinterlassen, sagte Kamphaus später. Trotzdem<br />
blieb er im Amt – auf Bitten des Papstes, wie er betonte.<br />
Seinen letzten Heilig-Abend-Gottesdienst als Bischof feierte<br />
Kamphaus 2006 mit Obdachlosen und lud sie anschließend zu<br />
einem opulenten Mahl ins Priesterseminar ein. Es sei eines seiner<br />
schönsten Weihnachtsfeste gewesen, sagte er anschließend.<br />
Und wer Kamphaus kennt, weiß, daß dies stimmt.<br />
Marc Witzenbacher<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Mai 2008<br />
„Der lebendige Gott“<br />
Der Gott Israels ist der lebendige Gott;<br />
er lebt in Ewigkeit.<br />
Buch Daniel – Kapitel 6, Vers 27<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Wenn wir Menschen miteinander sprechen, hat dies zur<br />
unabdingbaren Voraussetzung, daß wir uns in einem mit<br />
Luft gefüllten Raum befinden, in dem wir atmen können. Ohne<br />
Atem kein Sprechen, keine Schallübertragung, kein Hören. So<br />
ist die lebensnotwendige Atemluft zugleich Vorbedingung dafür,<br />
daß wir in sprachlichen Austausch treten.<br />
Ist es Zufall, daß die Bibel gerade mit Hilfe dieses Zusammenhangs<br />
die Lebendigkeit JHWHs gegenüber den toten Götzen<br />
der Völker herausstellt? Heißt es von letzteren mehrfach, daß sie<br />
keinen Atem besitzen (vgl. Ps 135, 17), ist der Atem JHWHs geradezu<br />
Inbegriff seiner Schöpfermacht: durch ihn schenkt er<br />
Mensch und Tier das Leben (vgl. Ijob 33, 4). Psalm 33, 6 geht<br />
sogar noch weiter: „Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel<br />
geschaffen, ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes.“<br />
Die Welterschaffung selbst wird hier als Sprechakt JHWHs<br />
vorgestellt. Sein gestaltendes Schöpferwort ist von seinem Atem<br />
getragen, der die Schöpfung durchdringt. Nicht von ungefähr<br />
werden Wind und Sturm mit Gottes Lebenshauch in Verbindung<br />
gebracht (vgl. Ps 148, 8). Folgerichtig ist es nach Ez 36, 26 f.<br />
JHWHs „Atem“, der das Herz des Menschen erneuert und Verstehen<br />
und Befolgen der Gebote bewirkt.<br />
Diese Hintergründe sollten uns klar sein, wenn wir Pfingsten<br />
feiern. Es ist JHWHs eigener Lebensatem, den die Jünger empfangen<br />
und der ihre Worte den Zuhörern, woher auch immer<br />
sie kommen, verständlich macht. Doch mehr noch: Eine der<br />
ältesten und zugleich tiefsten kirchlichen Gebetsformen, das<br />
Herzensgebet, legt entscheidenden Wert auf die Wahrnehmung<br />
unseres eigenen Atems. Daß nach alter Überzeugung gerade sie<br />
uns von allem Zweitrangigen löst, unser Herz in Gottes Weite<br />
führt und in seiner Gegenwart verweilen läßt, könnte uns sagen,<br />
wie sehr Pfingsten uns selber angeht.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Christi Himmelfahrt<br />
Egbert-Codex,<br />
Reichenau / Trier, um 983–990,<br />
Hs. 24, fol. 101r,<br />
© Stadtbibliothek / Stadtarchiv Trier; Foto: Anja Runkel<br />
Zwischen 983 und 990 wurde der Egbert-Codex auf der Insel Reichenau von<br />
den Benediktinermönchen Kerald und Heribert für den damaligen Trierer Erzbischof<br />
Egbert angefertigt. Er schenkte das Evangelistar der Abtei St. Paulin in<br />
Trier.<br />
Zu damaliger Zeit war die Malschule der Benediktinerabtei Reichenau wohl<br />
die größte und einflußreichste Malschule in Europa.<br />
Das Perikopenbuch enthält 51 Miniaturen zu den Evangelien und gehört zu<br />
den ältesten Bildzyklen dieser Art in der deutschen Kunst. Wahrscheinlich liegt<br />
hier sogar der erste geschlossene Bildzyklus zu Themen des Neuen Testaments<br />
vor. Innerhalb der ottonischen Malerei gelten diese Bilder als Höhepunkt. Vermutlich<br />
verwendeten die Maler eine byzantinische Vorlage aus dem 9. Jahrhundert,<br />
die sich ihrerseits auf spätantike Vorbilder stützte.<br />
Seit dem Jahr 2000 zählen diese bedeutsamen Dokumente der Buchmalerei<br />
der Insel Reichenau zum Weltkulturerbe.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Christi Himmelfahrt<br />
Der Bedeutung des Festes Christi Himmelfahrt entsprechend<br />
gestaltet der Maler des Egbert-Codex im 10. Jahrhundert<br />
das Festgeheimnis in einer ganzseitigen Miniatur. Weil die<br />
Evangelien über die Himmelfahrt Christi nur äußerst knapp<br />
sprechen (vgl. Mk 16, 19 und Lk 24, 50 f.), orientiert er sich<br />
an den Aussagen in der Apostelgeschichte 1, 1–11 (besonders<br />
1, 9–11).<br />
Das Bild ist deutlich in oben und unten geteilt, wobei die<br />
Christusgestalt, von einer Mandorla umgeben, im Zentrum der<br />
oberen Bildhälfte steht. Im unteren Teil gruppiert der Maler die<br />
elf Apostel mit Maria, der Mutter Jesu, an den Bildrand zu beiden<br />
Seiten, während in der Mitte zwei Engel stehen. Anders als<br />
in manchen zeitgenössischen Darstellungen hält sich der Maler<br />
an die nach Ostern gültige Zahl elf für die Apostel, ohne Judas<br />
und ohne Matthias, der als „Ersatzmann“ für den Verräter noch<br />
nicht gewählt ist. In goldener Schrift bezeichnet er die beteiligten<br />
Personen, z. T. in Abkürzungen: DUO UIRI (zwei Männer),<br />
APOSTOLI (Apostel) SANCTA MARIA (heilige Maria) und<br />
PETRUS (Petrus). Die Bezeichnung „zwei Männer“ entnimmt<br />
er dem biblischen Wortlaut: „Während sie unverwandt ihm<br />
nach zum Himmel emporschauten, standen plötzlich zwei<br />
Männer in weißen Gewändern bei ihnen ...“ (Apg 1, 10). Durch<br />
die Flügel und ihren Botenstab sind sie als Engel gekennzeichnet.<br />
Daß Maria mit den Aposteln auf dem durch aufgeschichtete<br />
Erdschollen als Ölberg markierten Berg anwesend ist, setzt<br />
der Maler voraus, weil es im biblischen Text nach der Himmelfahrt<br />
Jesu heißt: „Sie alle verharrten (im Obergemach) einmütig<br />
im Gebet, zusammen mit Maria, der Mutter Jesu, und mit<br />
seinen Brüdern.“ (Apg 1, 14)<br />
Indem der Maler die Mandorla mit dem gleichen Ornament<br />
begrenzt wie den Rahmen des Bildes, bringt er die neue Grenze<br />
zwischen Jesus und seinen Jüngern zum Ausdruck, die sich<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
durch Jesu Rückkehr zum Vater ergibt. Die Christusgestalt ist<br />
ganz der Hand des Vaters zugewandt, die sich aus dem Himmel<br />
zu ihm herabstreckt und mit festem Griff das Handgelenk seiner<br />
rechten Hand umfaßt. Der blaue Hintergrund in der Mandorla<br />
weist auf das Himmelsblau hin, während die Gestalt<br />
selbst noch einmal in ein goldenes Wolkenband gehüllt ist. Den<br />
Kreuzstab hat Jesus über die linke Schulter gelegt, und die Stellung<br />
seiner Füße deutet an, daß er hinaufschreitet, dem Vater<br />
entgegen.<br />
Sowohl die Christusgestalt als auch die Engel sind in zartfarbige<br />
Gewänder gehüllt, die fast durchsichtig wirken, wie es<br />
der Zeit nach der Auferstehung Jesu entspricht, wo die Erdenschwere<br />
ihn nicht mehr halten kann.<br />
Die nach oben weisende Hand der Engel bildet gleichsam die<br />
Verbindung zwischen dem Himmel und der Erde. Ihr Blick gilt<br />
den beiden Menschengruppen.<br />
Während die Apostel erschrocken, erstaunt und vielleicht<br />
auch traurig oder ängstlich nach oben schauen und einige die<br />
Hände zum Himmel strecken, als wollten sie den scheidenden<br />
Jesus festhalten oder anflehen, sie nicht zu verlassen, weist das<br />
Wort der Engel sie deutlich in die andere Richtung: „Ihr Männer<br />
von Galiläa, was steht ihr da und schaut zum Himmel empor?<br />
Dieser Jesus, der von euch ging und in den Himmel aufgenommen<br />
wurde, wird ebenso einst wieder kommen, wie ihr<br />
ihn habt zum Himmel hingehen sehen.“ (Apg 1, 11) Der Vorwurf,<br />
der hier mitschwingt, ist nicht zu überhören, und er erinnert<br />
an das Wort der Engel zu den ratlos dastehenden Frauen<br />
am leeren Grab: „Was sucht ihr den Lebenden bei den Toten?<br />
Er ist nicht hier, sondern er ist auferstanden.“ (Lk 24, 5 f.)<br />
Der auferstandene und der zum Himmel erhöhte Christus ist<br />
nicht zu finden im Blick auf das leere Grab oder im Blick zum<br />
Himmel. Die Botschaft der Engel verwehrt den Jüngern dieses<br />
gebannte Starren nach oben. Vielmehr sollen sie die Worte Jesu<br />
beherzigen, die er unmittelbar vor seiner Himmelfahrt an sie<br />
gerichtet hat: „... ihr werdet die Kraft des Heiligen Geistes emp-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
fangen, der auf euch herabkommen wird; und ihr werdet meine<br />
Zeugen sein in Jerusalem und in ganz Judäa und Samarien und<br />
bis an die Grenzen der Erde.“ (Apg 1, 8) Ein Zeuge Christi muß<br />
diese Erde im Blick haben, die Menschen in ihrer Not, in ihrer<br />
Bedürftigkeit und Suche nach Heil.<br />
So sehr die Apostel an diese ihre Aufgabe verwiesen werden,<br />
so sehr sollen sie auch wissen, daß dieser Jesus ganz gewiß<br />
wiederkommen wird, so gewiß, wie sie ihn haben zum Himmel<br />
gehen sehen. Daß Jesus bei seiner Erhöhung von einer Wolke<br />
aufgenommen wird, erinnert an die Erscheinungen Gottes im<br />
Alten Bund, wo die Wolke als Zeichen seiner Nähe gilt (vgl.<br />
Ex 19, 9; 24, 15 f. u. ö.). Im Neuen Bund ist die Wolke Zeichen<br />
des wiederkommenden Menschensohnes: „Dann wird man<br />
den Menschensohn mit großer Macht und Herrlichkeit auf<br />
einer Wolke kommen sehen.“ (Lk 21, 27; vgl. Offb 1, 7) Was im<br />
Bericht von der Himmelfahrt Jesu als Zeichen seiner nicht mehr<br />
greifbaren Nähe gilt, ist doch letztlich ein Zeichen seiner Nähe,<br />
die jetzt nur anders erfahrbar ist.<br />
Wie die Apostel damals sollen die Jünger und Jüngerinnen<br />
aller Zeiten ihren Herrn nahe wissen, wenn sie sich den Aufgaben<br />
im Hier und Jetzt zuwenden. Vielleicht würden die Engel<br />
heute, wo viele eher dazu neigen, in irdischen Belangen aufzugehen,<br />
dazu mahnen, den Blick nach oben nicht zu vergessen.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
351 Thema des Monats<br />
Eine Erfahrung wie Feuer:<br />
der lebendige Gott<br />
Nach dem Tod des französischen Mathematikers, Naturwissenschaftlers<br />
und Philosophen Blaise Pascal im Jahre<br />
1662 fand man im Futter seines Rockes einen schmalen, dicht<br />
beschriebenen Pergamentstreifen. In tastend-stockender und<br />
doch bewegter, hochexpressiver und von unmittelbarer Glaubensgewißheit<br />
geprägter Rede wurde hier eine persönliche Gotteserfahrung<br />
bezeugt.<br />
„Im Jahre des Heils 1654.<br />
Montag, 23. November, Tag des heiligen Clemens,<br />
des Papstes und Märtyrers, und anderer im Martyrologium.<br />
Vorabend des heiligen Chrysogonus, des Märtyrers, und anderer.<br />
Seit ungefähr halb elf Uhr abends bis ungefähr eine halbe Stunde<br />
nach Mitternacht.<br />
Feuer.<br />
Gott Abrahams, Gott Isaaks und Gott Jakobs,<br />
nicht der Philosophen und Gelehrten.<br />
Gewißheit, Gewißheit, Empfinden, Freude, Frieden.<br />
Der Gott Jesu Christi.<br />
Deum meum et Deum vestrum [Mein Gott und euer Gott]<br />
Dein Gott ist mein Gott.<br />
Vergessen der Welt und aller Dinge, nur Gottes nicht.<br />
Er ist allein auf den im Evangelium gelehrten Wegen zu finden.<br />
Größe der menschlichen Seele.<br />
Gerechter Vater, die Welt hat dich nicht erkannt; ich aber habe dich<br />
erkannt.<br />
Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude.<br />
Ich habe mich von ihm getrennt.<br />
Dereliquerunt me fontem aquae vivae.<br />
[Mich haben sie verlassen, den Quell lebendigen Wassers.]<br />
Mein Gott, wirst du mich verlassen?<br />
Möge ich nicht auf ewig von ihm getrennt sein.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 352<br />
Das ist aber das ewige Leben, daß sie dich erkennen, du allein<br />
wahrer Gott, und den du gesandt hast, Jesus Christus.<br />
Jesus Christus.<br />
Jesus Christus.<br />
Ich habe mich von ihm getrennt, ich habe mich ihm entzogen,<br />
ihn verleugnet, gekreuzigt.<br />
Möge ich niemals von ihm getrennt sein.<br />
Er ist allein auf den im Evangelium gelehrten Wegen zu bewahren.<br />
Vollständige Unterwerfung unter Jesus Christus und meinen geistlichen<br />
Berater.<br />
Ewig in der Freude für einen Tag der Mühe auf Erden.<br />
Non obliviscar sermones tuos.<br />
[Deine Worte werde ich nicht vergessen.] Amen.“<br />
Eine Erfahrung wie Feuer<br />
Blaise Pascals unscheinbares Erinnerungsblatt läßt die dichte<br />
Lebendigkeit der hier angedeuteten Gotteserfahrung zumindest<br />
ahnen. Nicht über das Denken ist Gott zu erreichen oder gar zu<br />
erfassen und zu fassen („nicht der Gott der Philosophen und<br />
Gelehrten“) – es geht darum, sich von Gott berühren zu lassen.<br />
Gott ist eine Erfahrung wie Feuer, wie die Bibel es in der Erzählung<br />
vom brennenden Dornbusch ausdrückt. Pascals<br />
knappe Niederschrift nimmt Bezug auf Ex 3, 6: „Gott Abrahams,<br />
Gott Isaaks, Gott Jakobs“.<br />
Gott, den lebendigen, kann der Mensch nicht denkend entwerfen,<br />
sondern nur dankend empfangen. Nicht der fugenlosglatte<br />
philosophische Diskurs ist in Wahrheit verantwortliche<br />
Gottesrede. Es ist die gleichsam vom Feuer Gottes noch brennende<br />
Sprache des Gebets und des persönlichen Zeugnisses, die<br />
dem lebendigen Gott Antwort gibt.<br />
Gott, Quell des Lebens<br />
Biblisch ist Gott Urheber und Schöpfer allen Seins. Er ist der<br />
„Quell des Lebens“ (Ps 36, 10). Gott ist der „lebendige“, weil er<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
353 Thema des Monats<br />
Geschichte macht, in das Weltgeschehen eingreift, weil seine<br />
Gegenwart unter den Menschen wirksam und heilsam ist (Dtn<br />
5, 26; 1 Sam 17, 6; 2 Kön 19, 4.16; Ps 42, 3; Ps 84, 3; Jer 10, 10;<br />
23, 36; Hos 2, 1). Wie im Alten, so ist auch im Neuen Testament<br />
Leben, Leben in Fülle, die Heilsgabe Gottes schlechthin. Auch<br />
hier begegnet das Wort vom „lebendigen Gott“, im Kontext von<br />
Gerichtsaussagen (Röm 14, 11; Hebr 10, 31; Offb 15, 7), in der<br />
Aufnahme frühjüdischer Missionssprache (Apg 14, 15; 1 Thess<br />
1, 9; Hebr 9, 14) und als Ausdruck der Wirklichkeit und Wirkmacht<br />
Gottes (Röm 9, 26; 2 Kor 3, 3; 6, 16). Das Johannesevangelium<br />
betont, daß die Lebens-Macht des Vaters dem Sohn<br />
übergeben wurde (Joh 5, 26).<br />
Gottes ewiges Leben<br />
Die Rede von Gottes Leben und seiner Lebens-Gabe verbindet<br />
sich im Neuen Testament eng mit der Rede von seiner Ewigkeit.<br />
Gottes Ewigkeit ist weder nur entgrenzte, negierte Zeit – von<br />
„schlechter Unendlichkeit“ spräche hier Hegel – noch unbewegte<br />
Zeitlosigkeit. Ewigkeit ist der Vollzug von Gottes eigenem<br />
Leben. Menschen wird von Gott her Leben in Fülle, „ewiges<br />
Leben“, zuteil, weil weder Gottes Leben endlich-begrenzt noch<br />
seine Ewigkeit „ein einförmig graues Meer“ (Karl Barth), sondern<br />
das Andere der Zeit und zugleich ihre Fülle, ihre Erfüllung<br />
ist.<br />
Gottes innere Lebendigkeit<br />
Gott kann und muß in der Bibel als Gott des Lebens angerufen<br />
und beschrieben werden: Er hat sich ja – zuerst Israel und dann<br />
den Völkern – als Geber allen Lebens erwiesen. Der Gott des<br />
dreifaltigen Lebens, den die Christenheit bekennt, ist lebendige<br />
Liebe nach außen und nach innen. Die wesentliche innere Lebendigkeit<br />
des trinitarischen Gottes zeigt sich darin, daß das<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 354<br />
‚Selbst‘, der ‚Selbstand‘ der Liebenden – Vater, Sohn und Geist<br />
– sich gar nicht trennen läßt von der Bewegung ihres Liebens<br />
im Sich-Geben und Sich-Empfangen.<br />
Israels Erfahrungen mit dem Leben schaffenden und erneuernden,<br />
in geschichtlichen Krisen machtvoll und hilfreich handelnden,<br />
immer wieder einzelne, Männer und Frauen, Alte<br />
und Junge, Juden und Heiden, zum Tun des Guten begeisternden<br />
Gott, werden im Licht der Botschaft Jesu Christi bestätigt<br />
und erneuert zugleich.<br />
Jenseits der Bilder, der lebendige Gott<br />
Gott sprengt den Rahmen. Er ist nah und fern; er ist der Gott<br />
mit uns und zugleich der ganz Andere. Er will unser Gott sein<br />
und ist es, und wird doch nie unser Besitz. Er ist „mir innerlicher,<br />
als ich mir selber bin“ (Aurelius Augustinus), und doch<br />
ist er eigenmächtigem Bemühen unerreichbar, bleibt Gott uneinnehmbar.<br />
Er ist der ewige Gott der Geschichte. Er ist der<br />
Eine, Ungeteilte, Einzige und wird erfahren, gepriesen und bekannt<br />
als Vater, Sohn und Geist. Er berührt uns und läßt sich<br />
von uns berühren, ja tödlich treffen im Sohn, den der Vater im<br />
Geist auferweckt und zu ewigem Leben führt. Er kommt im<br />
Brausen des pfingstlichen Feuersturms und sprudelt als Quell<br />
lebendigen Wassers. Er schafft den Menschen nach seinem<br />
Bilde – und durchkreuzt jedes Bild, das Menschen sich von ihm<br />
machen können. Er ist der Lebendige.<br />
Susanne Sandherr<br />
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355 Unter die Lupe genommen<br />
Schöpfung oder Zufall?<br />
Aus den Kontroversen um die Vereinbarkeit von biblischem<br />
Schöpfungsglauben und der darwinschen Evolutionstheorie<br />
erwächst heute ein unerwartetes Konfliktpotential.<br />
Ausgehend von der wörtlichen Auslegung der biblischen Schöpfungserzählungen<br />
macht sich z. B. der Kreationismus die Überzeugung<br />
zu eigen, daß alles, Materie und Leben, in einem Augenblick<br />
von Gott aus dem Nichts erschaffen wurde. Die so<br />
entstandenen Arten von Dingen und Wesen sind durch alle Zeiten<br />
die gleichen. Geologische Formbildungen und Veränderungen<br />
sind ausschließlich Folge von Katastrophen in geschichtlicher<br />
Zeit (z. B. der Sintflut) anzusehen, da der Schöpfungsakt<br />
selbst nicht viel mehr als zehntausend Jahre zurückliegt. Doch<br />
christlicher Schöpfungsglaube hat nichts mit solchen fundamentalistischen<br />
Mißverständnissen der biblischen Botschaft zu<br />
tun. So machte Papst Johannes Paul II. bereits 1981 bei einer<br />
Ansprache vor der Päpstlichen Akademie der Wissenschaften<br />
deutlich, „daß die Bibel von den Anfängen des Universums und<br />
seiner Entstehung erzählt, nicht um eine wissenschaftliche Abhandlung<br />
zu liefern, sondern um das richtige Verhältnis zwischen<br />
Gott und dem Universum zu begründen“. Die Bibel, will<br />
nicht unterrichten, „wie der Himmel geschaffen wurde, sondern<br />
wie man in den Himmel kommt“. Ein naiver Biblizismus<br />
ignoriert die innere Vielfalt des biblischen Zeugnisses und der<br />
darin enthaltenen Schöpfungstheologien; er verwandelt den<br />
theologischen Reichtum der Bibel in eine ‚Pseudowissenschaft‘.<br />
Unter dem Schlagwort des Intelligent Design wird nun seit einigen<br />
Jahren der Versuch gestartet, ein gewisses Unbehagen an<br />
der Evolutionstheorie theologisch zu beerben. Ihre Vertreter instrumentalisieren<br />
dabei Befindlichkeiten, die diese Theorie<br />
selbst notwendig erzeugt: zum einen den Gedanken, allein vom<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 356<br />
Zufall regiert zu werden; zum anderen das monologische<br />
Verhältnis des Naturwissenschaftlers zur Natur, das die Natur<br />
sozusagen ins Kreuzverhör nimmt, um experimentell abgesichertes,<br />
‚objektives‘ Wissen zu produzieren. Betrachtet man<br />
dagegen staunend, wie vielschichtig und feinteilig der Mensch<br />
aufgebaut ist, wie wunderbar die Natur ist, stellt sich dann<br />
nicht die Frage nach dem, der das alles geplant hat? Beim<br />
näheren Hinsehen wird das dahinterstehende Gottesbild freilich<br />
fraglich. Die Design-Signale der Natur sind zweideutig; das<br />
Bild eines darin bzw. dadurch planend tätigen Schöpfers wird<br />
angesichts von Leid und Not in der Welt ebenso ambivalent wie<br />
angesichts der Frage nach Freiheit und Manipulation.<br />
Die hier laut werdende Kritik am naturwissenschaftlichen Objektivitätsideal<br />
scheint dennoch angebracht. Ein solches Erkennen<br />
respektiert das Erkannte nicht, sondern zielt darauf, über<br />
das zu Erkennende verfügen zu wollen. Hier entwickeln die<br />
Naturwissenschaften das Bewußtsein, für alles zuständig zu<br />
sein, alles erklären zu können, und überschreiten damit eine<br />
methodische Grenze. So kann aus ihrer legitimen methodischen<br />
Konzentration ein illegitimer Reduktionismus und aus einem<br />
methodisch notwendigen Ausschluß der ‚Hypothese Gott‘<br />
ein exklusiver, mitunter aggressiver Atheismus werden. Die<br />
Evolutionstheorie wird zur kulturellen Leitidee der Moderne<br />
umfunktioniert. Dabei werden aber allzu einfache Antworten<br />
nur allzu gerne gegeben. Leben ist dann ‚nichts anderes‘ als<br />
höher organisierte Materie, Geist ‚nichts anderes‘ als zur Perfektion<br />
entwickelte Mechanismen der Selbststeuerung, der<br />
Mensch ‚nichts anderes‘ als ein hochgezüchtetes Tier. Wie situiert<br />
sich aber eine zeitgemäße Schöpfungstheologie, wenn die<br />
Evolutionstheorie selbst heutzutage schon mythische, ja geradezu<br />
religiöse Züge erhält?<br />
Zum einen kann und muß sich Schöpfungstheologie dem offenen<br />
Diskurs mit dem Ziel stellen, unnötige Streitfelder zu<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
357 Unter die Lupe genommen<br />
klären, Stolpersteine zu beseitigen und nach dialogisch orientierten<br />
Gesprächsmodellen zu suchen. Ein wirklich säkularer<br />
Blick auf die Welt ist nur innerhalb einer religiösen Kultur möglich,<br />
die eine zumindest relative Autonomie der Schöpfung zuläßt.<br />
Der tragende Kernsatz des jüdisch-christlichen Glaubensverständnisses<br />
lautet daher: Gott ist und bleibt der Herr der<br />
Welt; dabei ist er ihr nicht fern, sondern kommt ihr unendlich<br />
nahe und setzt sie zugleich in diesem Nahe-Kommen frei. Gott<br />
ist derjenige, der die Welt und den Menschen von den ‚Mächten‘<br />
befreit; er ist es, der die Welthaftigkeit der Welt und das<br />
Menschsein des Menschen gerade auch als freies, autonomes<br />
Menschsein Wirklichkeit werden läßt. Daher gibt es für die<br />
jüdisch-christliche Überlieferung eigentlich keinen Gegensatz<br />
von Glauben und Denken und damit auch nicht zwischen Theologie<br />
und Naturwissenschaften.<br />
Daneben muß sich Schöpfungstheologie selbst zu Neuem herausgefordert<br />
sehen. Die Rede von der Schöpfung verändert<br />
sich. Der vernünftige Glaube an einen Sinn der Schöpfung und<br />
des menschlichen Lebens ist dabei nicht zu reduzieren auf<br />
irgendwelche Spekulationen über den Anfang. Schöpfungstheologie<br />
ist ‚universalisierte Heilserfahrung‘, ist Beziehungsaussage,<br />
die sowohl die Verdanktheit des Daseins, die Erlösungsbedürftigkeit<br />
der Wirklichkeit und die Differenz von Gott<br />
und Welt als Differenz dessen, wie Welt ist und Welt sein soll,<br />
beinhaltet.<br />
Das öffnet ein weites Feld einer evolutiven Deutung des göttlichen<br />
Schaffens. Teilhard de Chardins Diktum, das Gottes<br />
schöpferisches Handeln mit jener der Schöpfung selbst eigenen<br />
Kreativität identifiziert – „Gott macht, daß die Dinge sich machen“<br />
–, gewinnt neue Plausibilität. Es impliziert eine bleibende<br />
Beziehung von Gott und Welt jenseits bloßer Verursachung,<br />
die zugleich Schöpfung wirklich ‚frei‘ gibt. Dem<br />
entspricht ein Grundverständnis von Schöpfung, das Schöp-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 358<br />
fung als äußerstes ‚Wagnis Gottes‘ zu verstehen lehrt. Gott geht<br />
das Wagnis ein, eine Welt zu schaffen, die sich entwickelt und<br />
dennoch die seine ist und bleibt, ohne sie zu knechten. Eine<br />
solche Welt birgt Risiken in sich. ‚Wer möchte sich schon vorstellen,<br />
daß Gott vor diesen Risiken zurückgeschreckt wäre?‘<br />
(A. Champell)<br />
Prof. Dr. Johanna Rahner, Bamberg<br />
„... dann werdet ihr lebendig!“<br />
Was uns der Pfingsthymnus „Komm, Heil’ger Geist,<br />
der Leben schafft“ verheißt<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 27.<br />
Geist, komm herbei!“ Dieser Ruf gehört zu den ältesten Gebeten<br />
der jüdisch-christlichen Tradition: „Da sagte er zu<br />
mir: Rede als Prophet zum Geist, rede, Menschensohn, sag zum<br />
Geist: So spricht Gott, der Herr: Geist, komm herbei von den<br />
vier Winden! Hauch diese Erschlagenen an, damit sie lebendig<br />
werden. Da sprach ich als Prophet, wie er mir befohlen hatte,<br />
und es kam Geist in sie. Sie wurden lebendig und standen auf<br />
– ein großes, gewaltiges Heer.“ (Ez 37, 9 f.)<br />
„Geist, komm herbei!“ Der Pfingsthymnus „Veni Creator<br />
Spiritus“ (GL 240) entfaltet diesen Gebetsruf in sieben vierzeiligen<br />
Strophen. Das pfingstliche Geistgebet wird dem Mainzer<br />
Mönch und Erzbischof, dem „praeceptor Germaniae“ Hrabanus<br />
Maurus, geboren in Mainz um 783, gestorben ebendort im<br />
Jahre 856, zugeschrieben. Martin Luther hat den lateinischen<br />
Pfingsthymnus 1524 ins Deutsche übertragen. Aus dem Jahre<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
359 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
1969 stammt die Übersetzung von Friedrich Dörr, die sich im<br />
GL unter der Nummer 241 findet. Markus Jenny schuf 1971<br />
eine ökumenische Textfassung (GL 242).<br />
Nun hauch uns Gottes Odem ein<br />
„Am Anfang“ haucht Gott Adam, dem Erdling, seinen Atem<br />
ein und schenkt ihm so das Leben (Gen 2, 7). In der ersten Strophe<br />
unseres Pfingsthymnus „Komm, Heil’ger Geist, der Leben<br />
schafft“ heißt es in treuer Entsprechung zum Bibelwort: „Dein<br />
Schöpferwort rief uns zum Sein: / Nun hauch uns Gottes Odem<br />
ein.“<br />
Der Heilige Geist ist wesentlich „Lebenshauch“. Er ist Gottes<br />
eigener Atem. Gott will, daß sein Leben uns durchströmt.<br />
Du gibst uns Schwachen Kraft und Mut<br />
„Das Leben lebt nicht.“ Wir alle kennen den Einbruch des<br />
Todes in unser Leben, das Gefühl der Erstarrung, der Leblosigkeit.<br />
Wir alle kennen die Sehnsucht nach pulsierender Lebendigkeit,<br />
nach innerer Bewegung, nach wirklichem Leben. Gottes<br />
Geist-Atem hat die Welt ins Dasein geholt und dem<br />
Erdwesen Mensch göttliche Lebendigkeit mitgeteilt. Immer<br />
wieder durfte das Volk Israel die Erfahrung neuen Lebens<br />
durch Gottes Geist machen; wir haben es eingangs in den Worten<br />
des Propheten Ezechiel eindrucksvoll gehört. Im Johannesevangelium<br />
tritt der Auferstandene unter die verängstigten<br />
Jesus-Jünger, haucht sie an und sagt: „Empfangt den Heiligen<br />
Geist!“ (Joh 20, 22) Die Erfahrung des Todes mitten im Leben<br />
und die Sehnsucht nach Lebendigkeit ist auch für uns die<br />
Pforte, durch die der Heilige Geist kommen wird. So bekennt<br />
die zweite Strophe des Pfingsthymnus: „aus dir strömt Leben,<br />
Licht und Glut, / du gibst uns Schwachen Kraft und Mut.“<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 360<br />
Im Feuer und in Sturmes Braus<br />
Im Pfingstbericht des Lukas wird das Wirken des Geistes von einem<br />
mächtigen Brausen begleitet, das an einen gefährlichen<br />
Feuersturm denken läßt, und von Feuerzungen, die sich auf die<br />
Menschen verteilen (Apg 2, 1–13). Geistesgegenwart zeigt sich<br />
als Begeisterung, die von Außenstehenden als Berauschung<br />
mißverstanden wird. „Andere aber spotteten: Sie sind vom<br />
süßen Wein betrunken.“ (Apg 2, 13) Doch dieser Enthusiasmus<br />
ist kein Rausch. Diese Ekstase braucht kein Ecstasy. Die Begeisterten<br />
sind von Gott erfüllt, wie es auch das Wort „Enthusiasmus“<br />
(von griechisch „en theos“, „in Gott“) andeutet. In der<br />
dritten Strophe unseres Liedes hören wir von dieser unbändigen<br />
Kraft des Geistes, die aus der Allmacht Gottes stammt, und<br />
von ihrem Wirksamwerden in einem verstummten Ich: „Dich<br />
sendet Gottes Allmacht aus / im Feuer und in Sturmes Braus; /<br />
du öffnest uns den stummen Mund / und machst der Welt die<br />
Wahrheit kund.“<br />
Daß Liebe unser Herz durchglüht<br />
Begeisterung verändert den Menschen. Sie verändert die Welt.<br />
Begeisterung macht mutig und kräftig. Gewiß, man kann sich<br />
auch für fragwürdige Ziele und hohle Ideale stark machen.<br />
Die Unterscheidung der Geister bleibt eine Aufgabe! Doch die<br />
Wandlung der in Trauer und Angst verharrenden Jesus-Gemeinde<br />
spricht eine deutliche Sprache. Das Feuer des Geistes<br />
bringt das gefrorene Meer der Seelen zum Fließen, und die<br />
Menschen um Jesus wurden zugänglich füreinander, für den<br />
Nächsten, für Gottes Wort. Die Erstarrung löst sich, Fesseln<br />
fallen; Handlungsfreiheit wird zurückgewonnen. Der Pfingsthymnus<br />
erfleht diese Verwandlung: „Entflamme Sinne und Gemüt,<br />
/ daß Liebe unser Herz durchglüht / und unser schwaches<br />
Fleisch und Blut / in deiner Kraft das Gute tut.“<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
361 Die Mitte erschließen<br />
Schenk deinen Frieden allezeit<br />
Das Geschenk des Auferstandenen ist der Geist. Unverkennbare<br />
Gaben des Geistes aber sind Friede, Freude und die Kraft<br />
zu verzeihen (Joh 20, 19–29). So bittet die fünfte Strophe: „Die<br />
Macht des Bösen banne weit, / schenk deinen Frieden allezeit.<br />
/ Erhalte uns auf rechter Bahn, / daß Unheil uns nicht<br />
schaden kann.“<br />
Und dir vertraun, der uns durchdringt<br />
Die Öffnung von Blick und Lobpreis auf die Dreifaltigkeit von<br />
Vater, Sohn und Geist beschließt in den beiden letzten Strophen<br />
den Pfingsthymnus. Vertrauen auf, Offenheit für den Heiligen<br />
Geist wird dabei in herausgehobener Weise erbeten: „Laß<br />
gläubig uns den Vater sehn, / sein Ebenbild, den Sohn, verstehn<br />
/ und dir vertraun, der uns durchdringt / und uns das Leben<br />
Gottes bringt.“<br />
Durch den Heiligen Geist kommt uns das dreifaltige Leben<br />
des heiligen Gottes unerhört nahe. Durch das Wirken des Geistes<br />
kommt uns Gottes eigenes Leben zu: Wenn der Herr selbst<br />
seinen Geist in euch bringt, dann werdet ihr lebendig (vgl.<br />
Ez 37, 5)!<br />
Susanne Sandherr<br />
Dorf und Stadt als liturgischer Raum<br />
Prozessionen und Umgänge<br />
Wenn wir vom „liturgischen Raum“ sprechen, so haben wir<br />
oft nur das eigentliche Kirchengebäude mit seinen liturgischen<br />
Orten im Sinn. In früheren Zeiten konnten aber auch<br />
ganze Städte als liturgischer Raum genutzt werden.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 362<br />
Spätantike Beispiele: Jerusalem und Rom<br />
Vorbild war das Jerusalem der Spätantike, wie es etwa im Reisebericht<br />
der Pilgernonne Egeria zum Vorschein kommt. Ständig<br />
suchte man zu den Festen die Stätten auf, an denen<br />
bestimmte Ereignisse im Leben Jesu stattgefunden hatten, um<br />
so eine intensivierte Form des Gedächtnisses des Lebens und<br />
Leidens, des Todes und der Auferstehung Jesu Christi vollziehen,<br />
ja das Gedächtnis geradezu leibhaftig „begehen“ zu können.<br />
Die großen Zentren der Christenheit adaptierten diesen<br />
Brauch.<br />
Hinzu kam in Rom noch eine andere Form: Der Papst feierte<br />
als Bischof von Rom die Gottesdienste nicht nur in „seiner“ Kirche,<br />
der Laterankirche, sondern suchte über das Jahr verteilt<br />
die sogenannten „Stationskirchen“ der Stadt auf, um dort die<br />
Eucharistie zu feiern und so die Einheit der bereits zergliederten<br />
Stadt zu wahren. An besonderen Tagen traf man sich zuvor<br />
noch an einer weiteren Sammlungskirche und zog gemeinsam<br />
zur Stationskirche. Im vorkonziliaren Meßbuch wurden diese<br />
Stationskirchen noch weitertradiert.<br />
Das „heilige Köln“ als mittelalterliches Beispiel<br />
In den Bistümern nördlich der Alpen adaptierte man diesen<br />
Brauch. So sind etwa aus dem mittelalterlichen Köln solche Stationsgottesdienste<br />
an hohen Festtagen bekannt, wieder verbunden<br />
mit Prozessionen. All dies sind Versuche, die Stadt als<br />
Lebensgemeinschaft zu heiligen, ja die Stadt selbst als heilige<br />
Stadt, als Abbild des himmlischen Jerusalem der Apokalypse,<br />
zu erfahren und zu prägen.<br />
Große Bedeutung kam dabei den Umgängen um die Stadt zu.<br />
Im mittelalterlichen Köln gab es z. B. am Freitag der dritten<br />
Osterwoche die Prozession mit dem Silvester-Haupt, die die<br />
engen Grenzen der spätantik-römischen Stadt umschritt. Die<br />
Heilige Lanzen-Prozession am Freitag der zweiten Osterwoche<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
363 Die Mitte erschließen<br />
umschritt hingegen die weiteren mittelalterlichen Grenzen der<br />
Stadt. Sie wandelte sich zunehmend von einer Reliquien- zur<br />
(sich auch ansonsten erst im Hochmittelalter ausbildenden)<br />
Sakramentsprozession und hieß dann „Gottestracht“.<br />
Bei solchen Prozessionen zogen die wichtigsten Vertreter der<br />
Bürgerschaft, der Stifte, Pfarreien und Klöster mit. Zugleich<br />
zeigt sich in diesem Ansatz die Grenze solcher Prozessionen,<br />
denn sie setzen eine religiöse Einheitlichkeit und eine Dominanz<br />
der Kirche in der Stadt voraus. Kehrseite war dann die<br />
zeitweise massive Ausgrenzung und Ausweisung Andersgläubiger<br />
(Juden, Evangelische) aus der Stadt. Entsprechend gingen<br />
diese Prozessionsformen spätestens mit der Säkularisierung<br />
unter.<br />
Umgänge und Prozessionen heute<br />
Auch heute kennen wir Formen der Prozessionen und Umgänge,<br />
die gerade in dieser Jahreszeit ihren Platz haben. Allerdings<br />
werden sie nun eher auf dem Land gepflegt als in der<br />
Stadt. So ist in landwirtschaftlich genutzten Gebieten noch immer<br />
üblich, an den Bittagen vor Christi Himmelfahrt Bittprozessionen<br />
durchzuführen. Weiterhin steht die Bitte um eine<br />
gute Ernte im Mittelpunkt, aber auch „mannigfache menschliche<br />
Anliegen“ sollen im Gebet berücksichtigt werden.<br />
In vielen Dörfern gehört die Fronleichnamsprozession noch<br />
immer fest zum kirchlichen wie gesellschaftlichen Leben<br />
hinzu, in der man das Dorf gemeinsam mit dem Allerheiligsten<br />
durch- bzw. umschreitet. An vier Altären, die in die vier Himmelsrichtungen<br />
aufgestellt sind, werden jeweils Evangelienanfänge<br />
gelesen, wird Fürbitte gehalten und der sakramentale Segen<br />
gespendet.<br />
In Städten werden solche Prozessionen innerhalb des Pfarrgebiets<br />
vollzogen, z. T. auch mehrere Prozessionen zusammengelegt.<br />
(Bereits der Kölner Ratsherr Herrmann Weinsberg berichtet<br />
im 16. Jahrhundert von bisweilen „kuriosen“ Szenen,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 364<br />
wenn der Fronleichnamszug der einen Pfarrei den der anderen<br />
traf und quasi der „eucharistische Herr“ an sich selbst vorbeizog<br />
und sich selbst „segnete“.) In Städten ist heute die Situation<br />
oft schwieriger, weil zum einen nur ein Teil der Bevölkerung<br />
am kirchlichen Leben teilnimmt, zum anderen die städtischen<br />
„Viertel“ ihren Charakter als umgrenzter Lebensraum verloren<br />
haben oder Kirchengemeinden ganz andere Grenzen besitzen.<br />
Eine Alternative bietet z. B. eine gemeinsame Eucharistiefeier<br />
auf einem zentralen städtischen Platz, zu dem man aus verschiedenen<br />
Vierteln zieht, um vielleicht anschließend auch<br />
eine gemeinsame Sakramentsprozession durchzuführen.<br />
Prozession als Demonstration?<br />
Die eine Form braucht nicht gegen die andere Form ausgespielt<br />
zu werden: Entscheidend dürfte sein, daß man vom eigenen<br />
Tun überzeugt ist. Nicht die „Demonstration des Katholischen“<br />
sollte im Mittelpunkt stehen, nicht die romantische Erinnerung<br />
an Zeiten, in denen Lebenswelt und Kirche noch eine dekkungsgleiche<br />
Einheit bildeten, sollte die Antriebskraft sein. Viel<br />
entscheidender ist, daß Christen auch heute überzeugt sind,<br />
daß der Segen Gottes die Grenzen des Kirchenraums überschreiten<br />
und unsere Lebenswelt durchdringen muß, und aus<br />
dieser Einsicht die ihnen entsprechende Form von Prozession<br />
oder Umgang vollziehen. Sie werden dann auch für andere<br />
Konfessionen und Religionen nicht abgrenzenden, sondern<br />
Zeugnis-Charakter erhalten. In ganzer Leiblichkeit wird deutlich,<br />
daß unsere Lebenswelt trotz allem Wohlstand für uns<br />
nicht perfekt ist, daß wir sie Gott im Gebet anvertrauen und für<br />
uns wie alle unsere Mitmenschen den Segen erbitten.<br />
Zugleich aber müssen wir uns bewußt sein, daß wir selbst es<br />
sind, denen anvertraut ist, „Segen“ zu wirken – vorrangig in<br />
der Weise, in der wir miteinander umgehen. Öffentliche Gottesdienste<br />
in Dorf und Stadt sind also nicht so sehr Demonstrationen<br />
anderen gegenüber, sondern viel eher Anspruch, unter<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
365 Heilige Orte<br />
den wir uns selbst stellen. Gottes Segen erbitten wir so letztlich<br />
für unseren eigenen Anteil an der Verwirklichung dieses Anspruchs.<br />
Friedrich Lurz<br />
Der Wallfahrtsort Mariazell<br />
Am 8. September 2007, dem Fest Mariä Geburt, hat unser<br />
Heiliger Vater, Papst Benedikt XVI., den österreichischen<br />
Wallfahrtsort Mariazell besucht und mit 30000 Gläubigen den<br />
Gottesdienst gefeiert. Mariazell ist eine Art Bindeglied zwischen<br />
Ost und West. Unter den zahlreichen Wallfahrtsorten<br />
Österreichs ist er die im ganzen Land meistbesuchte Wallfahrtsstätte.<br />
Besonders nach dem letzten Weltkrieg wurde er<br />
für zahlreiche Flüchtlinge und Heimatvertriebene aus dem<br />
Osten zu einem heimatlichen Ort, waren sie doch vielfach auch<br />
aus ihren alten Wohnorten nach Mariazell gepilgert. Selbst der<br />
von den Kommunisten aus Ungarn vertriebene Kardinal Mindszenty,<br />
Erzbischof von Gran-Esztergom, Primas der ungarischen<br />
Kirche, fand nach seinem Tod in der Wallfahrtsbasilika<br />
seine Ruhestätte, bis man seinen Leichnam nach der Wende in<br />
seiner Heimat bestatten konnte. Der Vielvölkerstaat Österreich,<br />
der nach dem Ersten Weltkrieg zerbrochen war, hat bis in unsere<br />
Tage seinen geistlichen Mittelpunkt im Wallfahrtsort<br />
Mariazell in der Steiermark.<br />
Um 1150 wurden in der waldreichen Gegend von der nahe<br />
gelegenen Benediktinerabtei St. Lambrecht Mönche angesiedelt,<br />
die die Arbeiter, die in den dortigen Eisen- und Salzbergwerken<br />
tätig waren, seelsorgerlich betreuen sollten. Sie wohnten<br />
in Zellen – daher der Name Zell – und errichteten um 1200<br />
eine Kirche. Auch heute wird die Wallfahrt noch von Benediktinern<br />
betreut.<br />
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Heilige Orte 366<br />
Wie um viele Wallfahrtsorte ranken sich auch um die Wallfahrt<br />
von Mariazell eine Reihe von Legenden. Eine erzählt, ein<br />
Mönch habe eine Marienfigur nach Zell getragen, doch habe<br />
ihn ein Fels am Weitergehen gehindert. Als er ein Gebet an die<br />
Gottesmutter gerichtet habe, habe sich der Fels gespalten, so<br />
daß er den Weg fortsetzen konnte. Am Ziel habe er die Figur auf<br />
einen Baumstumpf gestellt und eine Kapelle darum errichtet.<br />
Eine weitere Legende spricht davon, wie König Ludwig I. von<br />
Ungarn, als er am Morgen aufwachte, ein Marienbild auf seiner<br />
Brust gefunden und mit Hilfe der Gottesmutter die Übermacht<br />
der Türken besiegt habe. Von da an seien die Ungarn der<br />
Mariazeller Wallfahrt besonders verbunden gewesen.<br />
Historisch ist nachweisbar, daß um 1350 schon Scharen von<br />
Pilgern das damals schwer zugängliche Bergtal aufsuchten.<br />
König Ludwig I. von Ungarn war es auch, der um 1370 eine<br />
Gnadenkapelle für das Bild aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts<br />
erbauen ließ. Während um das Jahr 1500 Tausende<br />
von Pilgern aus den verschiedenen Ländern nach Mariazell<br />
kamen, gingen die Zahlen – wie in anderen Wallfahrtsorten<br />
auch – während der Reformationszeit zurück. Doch durch die<br />
Gegenreformation erlebte die Wallfahrt wieder einen großen<br />
Aufschwung. Ein Wallfahrtsverzeichnis gibt für das Jahr 1712<br />
an, daß 419 größere Wallfahrten gekommen seien. Mariazell<br />
wurde das „Reichsheiligtum“ nicht nur für Österreich, sondern<br />
für alle von ihm abhängigen Völker. Diese Bedeutung ist bis in<br />
die heutige Zeit geblieben.<br />
Mittelpunkt der gesamten Anlage ist die Gnadenkapelle<br />
innerhalb der Basilika. Die Marienfigur mit dem Jesuskind auf<br />
dem Arm ist mit kostbaren Gewändern bekleidet und gekrönt.<br />
Auf dem reich verzierten Gnadenaltar, auf dem das Gnadenbild<br />
aufgestellt ist, sind der heilige Benedikt und der heilige Lambrecht<br />
dargestellt. Der Altar wurde nach einem Entwurf von<br />
Johann Bernhard Fischer von Erlach 1727 ausgeführt. An die<br />
zunächst romanische Kirche wurde 1340 ein gotischer Chorraum<br />
angefügt. Später, als während der Gegenreformation die<br />
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367 Heilige Orte<br />
Pilgerzahlen erheblich anstiegen, wurde das Gotteshaus wiederum<br />
vergrößert. Der gotische Turm blieb erhalten, während<br />
die Westfassade vorgesetzt und mit zwei Türmen, die Barockhelme<br />
tragen, abgeschlossen wurde. Der Hochaltar, ebenfalls<br />
ein Werk von Johann Bernhard Fischer von Erlach, stellt den<br />
dreifaltigen Gott dar. Über dem Silberkruzifixus, der auf einem<br />
von einer Schlange umwundenen Erdball steht, sind Gottvater<br />
und die Gestalt der Taube als Symbol des Heiligen Geistes zu sehen.<br />
Zwei Schatzkammern zeigen in Vitrinen zahlreiche Weihegaben,<br />
die Wallfahrer in verschiedenen Jahrhunderten bis in<br />
unsere Zeit dort hinterlegt haben, darunter als größte Kostbarkeit<br />
ein auf Holz gemaltes Marienbild mit einem in Silber und<br />
Emaille getriebenen Heiligenschein. Es stammt aus Siena und<br />
wurde von Ludwig I. von Ungarn im 14. Jahrhundert gestiftet.<br />
Es wird als „zweites Gnadenbild“ bezeichnet.<br />
Neben wertvollen Weihegeschenken finden sich hier zum<br />
größten Teil Zeugnisse einfacher Menschen, die ihren Dank auf<br />
Tafeln geschrieben haben. Auch in unseren Tagen schreiben Pilger<br />
Gebetserhörungen der Gottesmutter zu, die hier in Mariazell<br />
über Staatsgrenzen hinweg verehrt wird, ein Zeugnis tiefer<br />
Volksfrömmigkeit. Neben den Großen der Welt wie Kaisern,<br />
Königen und Fürsten waren es zu allen Zeiten vor allem einfache<br />
Menschen, die hier Trost und Beistand fanden. Auch<br />
heute kommen sie in großen Scharen, in kleinen Gruppen und<br />
als einzelne, um bei der Mutter des Herrn neuen Mut für ihr<br />
Leben zu suchen.<br />
Egon Mielenbrink<br />
Literatur zum Thema: Egon Mielenbrink, Wallfahrtsorte – Stätten<br />
des Gebets, Topos plus Taschenbücher 582, Topos plus Verlagsgemeinschaft,<br />
Kevelaer 2006, ISBN 978-3-7867-8582-8. 8,90 € (D);<br />
9,20 € (A); 16,50 sFr.<br />
Diesen Titel können Sie über den für Ihr Land zuständigen<br />
Leserservice von <strong>MAGNIFICAT</strong> (siehe Seite 383) bestellen.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Juni 2008<br />
„Gottes Wahrheit – offenbar und verborgen“<br />
Wahrhaftig, du bist ein verborgener Gott.<br />
Israels Gott ist der Retter.<br />
Buch Jesaja – Kapitel 45, Vers 15<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Mitten in unser Monatsthema reicht die Frage aus dem Verhör<br />
Jesu hinein, die als „Pilatusfrage“ sprichwörtlich geworden<br />
ist. „Was ist Wahrheit?“, fragt der römische Statthalter,<br />
nachdem Jesus von seinem Amt, für die Wahrheit Zeugnis abzulegen,<br />
gesprochen hat (vgl. Joh 18, 37–38).<br />
In früherer Zeit bediente man sich der Technik des Anagramms,<br />
um hinter den tieferen Sinn eines Wortes oder Satzes<br />
zu kommen. Man versuchte, diesen durch „wieder-schreiben“<br />
(gr. „ana-graphein“) der Buchstaben zu entdecken. Ein recht<br />
berühmtes Anagramm versteht sich als Antwort auf die Pilatusfrage<br />
in ihrer lateinischen Form: „QVID EST VERITAS?“ und<br />
lautet: „VIR EST QVI ADEST“ – „Der Mann, der da ist“. Damit<br />
ist vordergründig gemeint, daß Pilatus den Menschen vor sich<br />
hat, der sich Joh 14, 6 als Weg, Wahrheit und Leben bezeichnete.<br />
Mir scheint aber, wir können dieser Antwort mehr entnehmen.<br />
„Der Mann, der da ist“: Treffen diese Worte auf Jesus<br />
nicht in einem besonderen Sinn zu? Nach dem Zeugnis der<br />
Evangelien war Jesus insbesondere für die Menschen „da“, die<br />
ihm begegneten. Er nahm ihre Anliegen und Nöte wahr und<br />
stellte sich ihnen, setzte durch seinen Zuspruch Neues in Bewegung,<br />
heilte, was im Argen lag. Und er war sich bewußt, damit<br />
Gottes Willen, den guten Schöpferwillen seines Vaters zu erfüllen.<br />
Indem er die Menschen Gottes Verläßlichkeit und Beständigkeit,<br />
Gottes helfende und Heil schaffende Nähe spüren ließ,<br />
verkündete er, was Israel aufgrund seiner Geschichte mit JHWH<br />
als dessen Wahrheit und Treue bekannte (s. S. 331 f.). Was geschieht,<br />
wenn wir heute es Jesus nachtun?<br />
Gott hat uns in Jesu Zugewandtheit seine Nähe offenbart.<br />
Sagt er dann nicht unseren Mitmenschen – verborgen in der<br />
Nähe, die wir ihnen schenken – seine verläßliche Wahrheit zu?<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
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Titelbild<br />
Moses vor dem feurigen Busch<br />
Gebetbuch der hl. Hildegard, um 1190,<br />
Cod. lat. 935, fol. 9v,<br />
© Bayerische Staatsbibliothek, München<br />
Das nach der heiligen Hildegard benannte Gebetbuch ist wahrscheinlich in<br />
Trier entstanden und vielleicht der Heiligen durch Abt Ludwig von St. Eucharius<br />
in Trier geschenkt worden. Die Herkunft der Handschrift aus dem mittelrheinischen<br />
Raum gilt als unbestritten. Das belegt der Stil der Malerei ebenso<br />
wie die Mundart der lateinischen Texte. Ob das Gebetbuch ursprünglich doch<br />
im Kloster auf dem Rupertsberg entstanden ist, worauf die tradierte Verbindung<br />
der Handschrift mit der heiligen Hildegard verweist, ist letztlich nicht zu klären.<br />
So bleibt offen, wer die Gebete verfaßt hat.<br />
Die Handschrift enthält insgesamt 72 Miniaturen, die in der Gestaltung<br />
zumeist sehr einheitlich sind. Bildseiten und Textseiten stehen einander gegenüber.<br />
Rahmung und Farbgebung sowie die figürliche Zeichnung sind bei vielen<br />
Bildern sehr ähnlich.<br />
Der Typ solcher Gebetbücher entstand ursprünglich um die Mitte des 12.Jahrhunderts,<br />
wurde aber später in etwas veränderter Fassung weitergeführt. Auch<br />
beim Gebetbuch der heiligen Hildegard liegt eine etwas geänderte Fassung vor.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
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5 Meditation zum Titelbild<br />
Begegnung auf heiligem Boden<br />
Die Berufung des Mose am brennenden Dornbusch in der<br />
Wüste inspirierte den Maler des Gebetbuchs der heiligen<br />
Hildegard (um 1190) zu unserem Titelbild. In einem Schriftzug<br />
über und links neben dem äußeren Zierrahmen markiert er den<br />
biblischen Hintergrund der Darstellung: „Da erschien der Herr<br />
dem Mose in einem brennenden Busch.“ „Mose sagte: Ich will<br />
hingehen und diese großartige Erscheinung sehen.“ Weil im<br />
folgenden „der Herr“ zu Mose spricht, übergeht der Maler, daß<br />
es im biblischen Text zunächst heißt: „Dort erschien ihm der<br />
Engel des Herrn in einer Flamme, die aus einem Dornbusch<br />
emporschlug.“ (Ex 3, 2)<br />
Einige Tiere im unteren Teil des Bildes weisen auf die Tätigkeit<br />
des Hirten Mose hin. Sie wirken, als ob sie das Ereignis im<br />
oberen Teil beobachteten. Stilisierte Bäume und Blumen deuten<br />
auf ein Geschehen, das die reale Welt übersteigt, nicht ableitbar<br />
ist aus ihr.<br />
Die Haltung des Mose verrät, daß er die Weisung Gottes<br />
bereits vernommen hat, seine Schuhe auszuziehen und nicht<br />
näher heranzutreten: „Komm nicht näher heran! Leg deine<br />
Schuhe ab; denn der Ort, wo du stehst, ist heiliger Boden.“ (Ex<br />
3, 5) Er schaut auf Gott, der aus den Flammen des Busches (hier<br />
als Baum dargestellt) zu ihm spricht. Mit den Schuhen hat<br />
Mose den Schutz vor dem heißen Wüstenboden abgelegt. Bittend<br />
erhebt er seine Hände zu Gott. Das fahle weiße Gewand<br />
und der lange Bart lassen ihn älter erscheinen, als er vermutlich<br />
ist. Daß Mose sein Gesicht verhüllt, als Gott sich selbst als der<br />
Gott seiner Väter offenbart (vgl. Ex 3, 6), übergeht der Maler in<br />
seiner Darstellung.<br />
Wie gebannt schaut Mose und lauscht. Gott hat das Elend<br />
des israelitischen Volkes gesehen und seine Klage gehört, ja, er<br />
kennt das Leid im Frondienst der Ägypter. Doch nun will er<br />
durch Mose die Rettung bringen. Vor einem solch großen Auf-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
trag aber schreckt Mose zurück. Vielleicht deuten seine flehentlich<br />
erhobenen Hände daraufhin, daß er sich außerstande<br />
sieht, Gottes Willen auszuführen: „Wer bin ich, daß ich zum<br />
Pharao gehen und die Israeliten aus Ägypten herausführen<br />
könnte?“ (Ex 3, 11) Die segnend/weisend erhobene Hand Gottes<br />
unterstreicht seine Zusage: „Ich bin mit dir ...“ (Ex 3, 12).<br />
Die Einwände des Mose sind dadurch aber noch nicht beseitigt.<br />
Was soll er antworten, wenn der Pharao nach seinem Auftraggeber<br />
fragt? Die Antwort Gottes ist kein Name im üblichen<br />
Sinn: „Ich bin der ‚Ich bin da‘“ (Ex 3, 14). Sie sagt vielmehr aus,<br />
wie Gott für sein Volk da ist, und zwar für immer: „Das ist mein<br />
Name für immer, und so wird man mich nennen in allen Generationen.“<br />
(Ex 3, 15) Alle unterschiedlichen theologischen<br />
Deutungen dieses Namens wollen Gottes Dasein für sein Volk<br />
bekräftigen. Der Gott Israels wird sich in der Geschichte seines<br />
Volkes erweisen. Israel kann mit ihm rechnen, muß aber auch<br />
mit ihm rechnen in allem, was geschieht. Dabei bleibt Gott<br />
unverfügbar. Der Maler versucht das dadurch festzuhalten, daß<br />
er die Gestalt Gottes nur zum Teil abbildet. Wichtig ist sein<br />
Blick, der über Mose hinaus in die Geschichte des Volkes, in die<br />
Geschichte der Welt geht. Und wichtig ist seine Weisung gebende<br />
Hand, die Mose bedeutet, auf ihn zu hören.<br />
Im Nimbus Gottes ist das Kreuz sichtbar, im Neuen Testament<br />
Zeichen für Christus. Der Maler hält sich hier an die theologische<br />
Deutung: Christus ist das Ebenbild des unsichtbaren<br />
Gottes, der selbst nicht abbildbar ist (vgl. Kol 1, 15), und an die<br />
künstlerische Gestaltung entsprechender biblischer Szenen bis<br />
ins Mittelalter.<br />
Gott selbst tritt in die Geschichte Israels ein, sagt sich dem<br />
Volk zu. Aber er ruft auch in seinen Dienst. Israel kann Gott<br />
nicht einkalkulieren in seinen eigenen Plänen; aber es darf mit<br />
ihm rechnen auf der Ebene des Vertrauens. Entscheidend ist,<br />
daß das Volk auf Gott hört.<br />
So scheinbar zum Greifen nahe kommt Gott dem Mose. Mit<br />
dem Blau im Hintergrund des Bildes zeigt der Maler an, daß es<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
sich um ein Geschehen handelt, daß in die Sphäre Gottes hineinragt.<br />
Die züngelnden Flammen unterstreichen die Trennung<br />
zwischen Mose und Gott.<br />
Das Wie dieser Begegnung läßt sich nicht beweisen, aber<br />
auch nicht widerlegen, weil es darum gar nicht geht. Gott tritt<br />
in die Geschichte der Menschen ein, er offenbart sich – wie er<br />
will.<br />
Gott schauen zu dürfen, ihn so nah erleben zu können, wie<br />
es von Mose heißt, das entspricht der Sehnsucht der Menschen<br />
– trotz der biblischen Aussage, daß niemand Gott schauen und<br />
dann am Leben bleiben kann.<br />
In Jesus Christus ist dieser Gott greifbar nahe gekommen, hat<br />
menschliche Gestalt und menschliches Antlitz angenommen.<br />
Wie Mose aufgefordert wird, auf Gottes Wort zu hören, seinen<br />
Auftrag anzunehmen, so sind alle, die in Jesus Christus Zugang<br />
finden zum Gott der Väter, aufgefordert, auf ihn zu hören, sein<br />
Gebot der Liebe zu Gott und den Mitmenschen ernst zu nehmen<br />
in ihrem Leben und darin immer wieder die Begegnung<br />
mit Gott zu erfahren.<br />
Auch heute bleibt es Gott vorbehalten, wo für uns der heilige<br />
Boden ist, an dem wir seine Gegenwart deutlich erfahren. Aber<br />
wir dürfen ihm – wie Mose in unserem Bild – bittend die<br />
Hände entgegenstrecken, daß er uns helfe, die Begegnung mit<br />
ihm nicht zu verpassen. Wir wissen nicht, welchen Namen unsere<br />
Wüste trägt.<br />
Martin Buber, der jüdische Religionsphilosoph, übersetzt den<br />
Namen, unter dem JHWH sich dem Mose offenbart, so: „Ich<br />
bin da, wo du bist.“<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
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Thema des Monats 326<br />
Von der Wahrheit Gottes<br />
Im Jahre 2008 wäre der große französische Komponist Olivier<br />
Messiaen (1908–1992) 100 Jahre alt geworden. Als einer von<br />
ganz wenigen Künstlern der Gegenwart von Weltgeltung war<br />
er ein zutiefst gläubiger Christ und Katholik, ja sein gesamtes<br />
Werk ist in Töne gesetzter Ausdruck des Glaubens. Ein wunderbarer<br />
Zyklus Messiaens für zwei Klaviere von 1943 trägt den<br />
Titel „visions de l’amen“, und in seinem Begleittext zur Musik<br />
schreibt der Komponist: „Amen umfaßt vier verschiedene<br />
Bedeutungen: – Amen, so sei es! Der Schöpfungsakt. – Amen,<br />
ich unterwerfe mich, ich nehme an. Dein Wille geschehe!<br />
– Amen, der Wunsch, das Verlangen, daß es so sei, daß du dich<br />
mir hingibst, wie ich mich dir hingebe! – Amen, es ist. Alles ist<br />
für immer bestimmt und vollendet sich im Paradies.“<br />
Amen<br />
Amen! Schon tausendmal haben wir dieses Urwort unseres<br />
Glaubens ausgesprochen, haben damit ein Gebet abgeschlossen<br />
oder das Glaubensbekenntnis. Es steht am Ende des letzten<br />
Buches der Heiligen Schrift, der Offenbarung des Johannes:<br />
„Amen, komm, Herr Jesus!“ (Offb 22, 20) „Amen“ steht im Zusammenhang<br />
mit dem Wort ämät, dem hebräischen Äquivalent<br />
für „Wahrheit“. Ämät bedeutet Treue, Zuverlässigkeit und<br />
Festigkeit, und immer zugleich auch „etwas, das erkannt werden<br />
kann und das sich dem Menschen als zutreffend und zuverlässig<br />
erweist“ (Beutler). So ist das „Amen“ das Bekenntnis<br />
zur Wahrheit des Glaubens und zur Wahrheit Gottes, der uns<br />
treu ist, unser Ja zu dem ewigen Ja Gottes.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
327 Thema des Monats<br />
Glaube, Wahrheit, Vernunft<br />
Auch wenn es an dieser Stelle nicht möglich ist, der Frage des<br />
Pilatus: „Was ist Wahrheit?“ (Joh 18, 38), einem der Hauptthemen<br />
der Philosophie überhaupt, im einzelnen nachzugehen,<br />
so gilt doch: Als Glaubende haben wir es mit der Wahrheit<br />
zu tun. Unausweichlich ist das Gottesverhältnis der Lebenszusammenhang,<br />
der uns im letzten herausfordert, bindet und verpflichtet.<br />
Das Bekenntnis des Glaubens beinhaltet eine letzte<br />
Überzeugung. So ist, wenn wir „Credo“ sagen und „Amen“,<br />
darin notwendig ein letzter Wahrheitsanspruch enthalten.<br />
Damit verbindet sich eine doppelte Herausforderung: Zum<br />
einen steht der Glaube in fundamentalem Gegensatz zur relativistischen<br />
Mentalität unserer Zeit, die vielfach schon die Möglichkeit<br />
letztgültiger, allen zugänglicher Wahrheit leugnet. Zum<br />
anderen besteht, das zeigt die politische Realität unserer Tage in<br />
islamischen, aber auch in christlichen Kontexten ganz deutlich,<br />
die ernste Gefahr des Umkippens religiöser Wahrheitsansprüche<br />
in Fundamentalismus und Gewalt. Ihr kann nur begegnet<br />
werden, wenn einerseits deutlich ist, daß die Erkenntnis von<br />
Wahrheit Freiheit voraussetzt, eine gewaltsam verordnete<br />
Wahrheit also niemals zu eigentlicher Wahrheitserkenntnis führen<br />
kann, und wenn andererseits religiöses Denken bereit ist,<br />
sich der Kritik einer allgemeinen Rationalität zu stellen. Joseph<br />
Ratzinger spricht angesichts der bestehenden Pathologien auf<br />
beiden Seiten von einer „notwendigen Korrelationalität von<br />
Vernunft und Glaube …, die zu gegenseitiger Reinigung und<br />
Heilung berufen sind“. Der Wahrheitsanspruch geht dann aber<br />
nicht nur mit einer allgemeinen Bereitschaft zur Toleranz konform,<br />
er ist die Voraussetzung für einen echten, der Kraft des<br />
Arguments vertrauenden und damit grundsätzlich ergebnisoffenen<br />
Dialog. Mit der Verbindung von biblischem Glauben<br />
und griechischer Philosophie hat christliches Denken hierfür<br />
von Anfang an das entscheidende Rüstzeug gewonnen. Papst<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 328<br />
Benedikt XVI. bekräftigt immer wieder seine bereits früher geäußerte<br />
Überzeugung, daß dieses Zusammentreffen „kein Zufall“<br />
war, sondern einen „weltgeschichtlich entscheidende(n)<br />
Vorgang“ darstellt. Mit dem Begriff des logos – griechisch für<br />
Wort und Vernunft – habe das Johannesevangelium uns „das<br />
abschließende Wort des biblischen Gottesbegriffs geschenkt“.<br />
„Der Logos ist Gott“.<br />
Der wahre Gott<br />
Wenn das große Glaubensbekenntnis von Nizäa und Konstantinopel<br />
Gott, Jesus Christus und den Vater, als wahren Gott aussagt<br />
– „Deum verum de Deo vero“, „wahren Gott vom wahren<br />
Gott“ –, so zielt das zuerst auf das christologische Bekenntnis<br />
von der wahren Gottheit Jesu Christi. Zugleich ist aber auch<br />
das Urbekenntnis biblischen Glaubens an den einen Gott ausgesagt:<br />
Nur „Jahwe ist der Gott im Himmel droben und auf der<br />
Erde unten, keiner sonst“ (Dtn 4, 39). Daß so die Götzen, alle<br />
falschen Ansprüche auf Wahrheit und Macht über unser Leben,<br />
in die Schranken gewiesen sind, bleibt auch heute und immer<br />
neu von befreiender Aktualität.<br />
Offenbar und verborgen<br />
Zu allen Zeiten hat der Mensch Ausschau gehalten nach dem<br />
verborgenen Gott, hat in seinen Religionen eine göttliche Wirklichkeit<br />
verehrt und in kritischer Reflexion über diese Formen<br />
hinausgefragt und die großen Fragen seiner Existenz damit<br />
in Verbindung gebracht. „Der Name Gottes ist tief eingegraben<br />
in die Hoffnungs- und Leidensgeschichte der Menschheit.“<br />
(Gemeinsame Synode der Bistümer in der Bundesrepublik<br />
Deutschland, Beschluß Unsere Hoffnung, I. 1) Biblischer Glaube<br />
weiß, daß Gott und seine Wahrheit dem Menschen nicht<br />
fern und fremd geblieben sind. Mit dem Römerbrief (vgl. Röm<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
329 Unter die Lupe genommen<br />
1, 19–20) geht das I. Vatikanische Konzil (1869–1870) davon<br />
aus, daß Gott „mit dem natürlichen Licht der menschlichen Vernunft<br />
aus den geschaffenen Dingen mit Gewißheit erkannt werden“<br />
kann (DH 3004). Aber mehr noch: Der unsichtbare Gott<br />
ist geschichtlich erfahrbar auf sein Volk zugegangen. Er hat sich<br />
selbst mitgeteilt, „hat in seiner Güte und Weisheit beschlossen,<br />
sich selbst zu offenbaren und das Geheimnis seines Willens<br />
kundzutun.“ (II. Vatikanisches Konzil, Dogmatische Konstitution<br />
über die göttliche Offenbarung Dei Verbum, 2) In Jesus<br />
Christus ist Gott, der „aus überströmender Liebe“ die Menschen<br />
anredet „wie Freunde“ und mit ihnen verkehrt (DV 2),<br />
den Menschen unüberbietbar nahegekommen. Jesus ist das<br />
menschliche Antlitz Gottes. Alle Wege einer „negativen Theologie“,<br />
wo sie die Ferne und bleibende Unerreichbarkeit Gottes<br />
unterstreicht, sind christlich verschlossen. Und dennoch gilt,<br />
daß wir jetzt „schauen wie in einen Spiegel“ und „nur rätselhafte<br />
Umrisse sehen“ (1 Kor 13, 12). Die unmittelbare Schau<br />
Gottes „von Angesicht zu Angesicht“, das Erkennen „durch und<br />
durch“ (1 Kor 13, 12) bleibt die Verheißung, der wir alle entgegengehen.<br />
Tobias Licht<br />
Neben- oder miteinander?<br />
Zweierlei Toleranz<br />
Solange eine Gesellschaft im wesentlichen für sich lebt, können<br />
ihre Strukturen und Werte zumeist ungestört in Geltung<br />
bleiben. Je mehr Kontakte sich jedoch zu Menschen oder<br />
gar Völkern anderer Prägung ergeben, werden Lebensformen<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 330<br />
und Überzeugungen in Frage gestellt. Zu welchen Spannungen<br />
und Verunsicherungen das führen kann, läßt sich z. B. dort beobachten,<br />
wo Flüchtlinge in Gegenden mit überwiegend einheimischer<br />
Bevölkerung untergebracht werden, aber auch dort,<br />
wo sich teils langansässige, kulturell aber eher unauffällige<br />
Minderheiten selbstbewußt zu etablieren streben.<br />
Historisch betrachtet haben Entwicklungen dieser Art wesentlich<br />
dazu beigetragen, daß die Toleranz in der Neuzeit zu<br />
einem so grundlegenden Wert geworden ist. Die Begegnung<br />
mit dem Islam während des Mittelalters, dann aber vor allem<br />
die Religionskriege im Gefolge der Reformation führten nach<br />
und nach zu der Einsicht, daß unterschiedliche weltanschauliche<br />
Überzeugungen nicht durch Zwang vereinheitlicht werden<br />
können. Je stärker zudem der einzelne Mensch als Individuum<br />
wertgeschätzt wurde, umso deutlicher empfand man die Verpflichtung,<br />
die freie Entscheidung über die eigenen Überzeugungen<br />
als grundlegendes Persönlichkeitsrecht zu achten und<br />
zu schützen. Zumal in pluralistischen Gesellschaften wie den<br />
unseren bildet Toleranz die unentbehrliche Voraussetzung<br />
gelingenden Zusammenlebens.<br />
Toleranz läßt sich nun aber in verschiedener Weise verwirklichen.<br />
Das lateinische Wort selbst, das man mit „Fähigkeit,<br />
eine Last oder Belastung zu (er-)tragen“ übersetzen kann (über<br />
die Wurzel „tol-“ besteht eine sprachliche Verwandtschaft zu<br />
unserem „dulden“), legt eine ins Negative neigende Sicht nahe:<br />
Andere in ihrem Anderssein gelten zu lassen, wird als etwas<br />
Unumgängliches empfunden, das man um des friedlichen Zusammenlebens<br />
willen auf sich nimmt. Man könnte diese Haltung<br />
etwa in folgende Worte fassen: Im Grunde interessiert<br />
mich der andere nicht, aber er ist nun einmal da, und darum<br />
muß ich ihn akzeptieren. Leben und leben lassen heißt die<br />
Devise.<br />
Immerhin, besser als Fanatismus, der dem anderen die Daseinsberechtigung<br />
abspricht, ist diese neutrale Einstellung allemal.<br />
Nur läßt sich fragen, ob sich damit Probleme lösen lassen,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
331 Unter die Lupe genommen<br />
die im gesellschaftlichen Zusammenleben auftreten. Und zumal<br />
aus biblischer Perspektive, die im anderen Menschen das Mitgeschöpf<br />
sieht, für das wir vor Gott verantwortlich sind, kann<br />
Desinteresse kein Verhaltensmaßstab sein. Wie aber kann Toleranz<br />
aussehen, wenn man sich dem Gebot der Nächstenliebe<br />
verpflichtet weiß?<br />
Für religiöse Menschen ist das kein leichtes Thema, weil wenigstens<br />
im Umfeld der monotheistischen Religionen stets die<br />
Wahrheitsfrage mit hineinspielt. In der Begegnung mit Muslimen<br />
etwa sehen sich Christen mit dem Anspruch konfrontiert,<br />
der Islam beruhe auf der letztgültigen Offenbarung Gottes, die<br />
alle früheren nicht nur in sich trage, sondern vollende – ein Anspruch,<br />
der sich schwer vereinbaren läßt mit dem Selbstverständnis<br />
des Christentums, aus der Selbstoffenbarung Gottes in<br />
Jesus von Nazaret hervorgegangen zu sein.<br />
Vielerorts ist man geneigt, dieses Problem durch die Beschränkung<br />
auf die sogenannte „rein menschliche“ Ebene zu<br />
lösen. Oft hört man folgendes Argument: Wenn man auf dem<br />
Feld der Überzeugungen und Glaubensinhalte ständig Gefahr<br />
läuft, schnell an die Grenzen zu stoßen, solle man doch die Religion<br />
möglichst ausklammern und die Zusammenarbeit auf die<br />
Lösung praktischer Fragen konzentrieren.<br />
Nun hat aber gerade das Stichwort Wahrheit biblisch eine<br />
Dimension, die tiefer reicht als die Ebene der diskutierbaren Inhalte,<br />
so wichtig sie sind. Israels Gott ist nicht nur darum in<br />
Wahrheit Gott, weil er im Gegensatz zu den Götzen wirklich<br />
Schöpfer und Herr der Geschichte ist. Als wahrer Gott erweist<br />
er sich vielmehr besonders darin, daß er wahrhaftig, treu und<br />
verläßlich ist. Sehr schön läßt sich das an Ps 31, 6 zeigen. Dort<br />
wird JHWH mit dem hebräischen Wort für Wahrheit als „’el<br />
’emet“ angeredet. Man könnte diesen Ausdruck wörtlich mit<br />
„Gott der Wahrheit“ übersetzen, zumal die griechische und<br />
lateinische Bibelübersetzung so verfahren (Septuaginta: „ho<br />
theos tes aletheias“, Vulgata: „deus veritatis“). Beim hebräischen<br />
’emet steht jedoch eine Bedeutung im Vordergrund, die<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 332<br />
in seiner Verwandtschaft mit dem Verbum ’aman „fest, dauerhaft,<br />
beständig sein“ gründet. Sie ist uns vom bekräftigenden<br />
„Amen“ („das steht fest, ist sicher“, „so sei es“) vertraut. Festigkeit<br />
und Sicherheit sind somit die zentralen <strong>Eigenschaften</strong>, die<br />
in ’emet anklingen, <strong>Eigenschaften</strong>, die Israel besonders mit<br />
seinem Gott verbindet und die sich in Anreden wie „mein Fels“<br />
oder „meine Burg“ niederschlagen. Ganz in diese Richtung<br />
weist die Sprechsituation des Psalmverses. Mit tiefem Vertrauen<br />
spricht der Beter seinen Gott an und sagt: „In deine Hand<br />
empfehle ich meinen Lebensatem“ (meine „ruach“; wir geben<br />
das hebräische Wort meist mit „Geist“ wieder). Bei JHWH sucht<br />
der Beter Sicherheit und Schutz, er verläßt sich ganz auf seinen<br />
Gott, hält ihm sein Leben hin. Nicht von ungefähr sind dies im<br />
Lukasevangelium (23, 46) die letzten Worte Jesu, und folgerichtig<br />
überträgt die Einheitsübersetzung das „’el ’emet“ mit<br />
„du treuer Gott“.<br />
Wahrheit bedeutet also biblisch nicht nur, daß eine Behauptung<br />
zutrifft oder ein theologisches System Überzeugungskraft<br />
besitzt. Wahrheit im Sinne von Treue und Verläßlichkeit<br />
hat mit Beziehung zu tun, sie ist eine Grundkonstante, die Leben<br />
in Sicherheit ermöglicht, und zwar nicht nur zwischen<br />
Gott und Mensch, sondern auch zwischenmenschlich (vgl.<br />
etwa Ex 18, 21 von den zu berufenden Richtern). Auf diesem<br />
Hintergrund betrachtet, haben Fragen des konkreten Lebens,<br />
die man meist dem „rein menschlichen“ Bereich zuweisen<br />
möchte, gar nicht so wenig mit Religion und Glauben zu tun.<br />
Wer aufrichtig und hilfsbereit auf andere zugeht, bringt ihnen<br />
etwas von der Verläßlichkeit entgegen, die wir vom biblischen<br />
Gott bekennen. Ja, man wird sagen müssen: Daß wir den Fragen<br />
und Herausforderungen, die durch interkulturelle und<br />
interreligiöse Begegnungen an uns gestellt werden, mit dieser<br />
Grundhaltung begegnen können, ist einerseits nur aufgrund eines<br />
tief verwurzelten Vertrauens auf den verläßlichen Gott<br />
möglich. Andererseits kann unsere Anteilnahme und Solidarität<br />
gegenüber Juden und Muslimen, für die diese Werte auf-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
333 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
grund ihrer Traditionen ebenfalls hohen Stellenwert besitzen,<br />
die innere Verwandtschaft unserer Religionen vor dem Austausch<br />
über inhaltliche Fragen spürbar werden lassen.<br />
Johannes Bernhard Uphus<br />
Das Apostolische Glaubensbekenntnis<br />
Eine Liebeserklärung<br />
Du bist mein Schatz!“ Liebeserklärungen sind Bekenntnisse.<br />
Sind Glaubensbekenntnisse auch Liebeserklärungen?<br />
Religiöse Bekenntnisse sind formelhafte Verdichtungen<br />
grundlegender Überzeugungen einer Religion. Sie dienen der<br />
Selbstverständigung einer Glaubensgemeinschaft, der Abgrenzung<br />
gegenüber bestimmten Strömungen im Inneren und im<br />
Blick auf andere Religionen. Doch die Nähe der Bekenntnistexte<br />
zum Loblied und ihr Ort in der Frömmigkeit einzelner<br />
wie in gemeinschaftlicher Liturgie unterscheidet sie deutlich<br />
von bloßen Lehraussagen. Ebenso wenig läßt sich die Redeform<br />
des Bekenntnisses restlos auf die des Lobes, des Dankes oder<br />
der Bitte reduzieren. Der katholische Dogmatiker Josef Wohlmuth<br />
spricht deshalb von einer eigenen „Ästhetik des Bekenntnisses“.<br />
Das Apostolische Glaubensbekenntnis – andere Ausdrücke für<br />
Glaubensbekenntnis sind „Credo“ (lat. „Ich glaube“) und „Symbol“<br />
– ist ein in Aufnahme von Mt 28,19 trinitarisch strukturiertes<br />
Bekenntnis, das in der gesamten westlichen Christenheit<br />
neben dem Nizänischen (Konzil von Nizäa 325) bzw. Nicaeno-<br />
Konstantinopolitanischen Bekenntnistext, unserem „Großen<br />
Glaubensbekenntnis“, in liturgischen Feiern und als Taufbekenntnis<br />
verwendet wird.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 334<br />
Annähernd der uns heute vertraute Wortlaut des Apostolikums<br />
ist in einem lateinischen Werk des beginnenden 8. Jahrhunderts<br />
belegt. Dieser Text stellt eine erweiterte Fassung des<br />
sogenannten „Romanum“, des stadtrömischen Taufbekenntnisses,<br />
dar. Dieses ging im 3. Jahrhundert aus einer älteren Frageform<br />
des Glaubensbekenntnisses hervor, das bei der liturgischen<br />
Tauffeier verwendet wurde. Dem Wortlaut des<br />
römischen Glaubensbekenntnisses entspricht weitgehend ein<br />
um 215 verfaßter Text, der dem Täufling drei Fragen stellt, hier<br />
in der Übersetzung aus der griechischen Version von Josef<br />
Wohlmuth:<br />
1. „Glaubst du an Gott, den Vater und Allherrschenden?“ 2. „Glaubst<br />
du an Christus Jesus, / den Sohn Gottes, / den durch den Heiligen Geist<br />
und aus Maria, der Jungfrau Geborenen (Gezeugten), / den unter Pontius<br />
Pilatus ans Kreuz Gehängten, / den Gestorbenen und am dritten<br />
Tag lebendig Auferstandenen, / den in die Himmel Hinaufgegangenen /<br />
und den zur Rechten des Vaters Sitzenden, / den Kommenden zu richten<br />
die Lebenden und die Toten?“ 3. „Glaubest du an den Heiligen Geist<br />
in der heiligen Gemeinde?“<br />
Auch wenn sich nicht alle Stufen der Herausbildung des heutigen<br />
Apostolischen Glaubensbekenntnisses aus dem römischen<br />
Taufbekenntnis rekonstruieren lassen, so ist doch fraglos, daß<br />
dieses seine Grundlage bildet. Bereits im 8./9. Jahrhundert erlangte<br />
das Apostolikum überregionale Bedeutung, spätestens<br />
im 13. Jahrhundert war es im gesamten Westen eine maßgebliche<br />
liturgische und theologische Größe. In den Schriften der<br />
Reformatoren wird es häufig ausgelegt. In einigen Unionsgesprächen<br />
dient es als Basisaussage des gemeinsamen christlichen<br />
Glaubens.<br />
Der Name „symbolum apostolorum“ bringt die westliche<br />
Überzeugung zum Ausdruck, das Apostolikum gebe treu die<br />
Lehre der Apostel wieder. Diese Überzeugung fand bildhaften<br />
Ausdruck in der schönen Legende, jeder der zwölf Sätze des<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
335 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
stadtrömischen Taufbekenntnisses gehe auf einen Apostel zurück;<br />
diese Ursprungslegende wurde später auch auf den Endtext<br />
des Apostolischen Glaubensbekenntnisses übertragen.<br />
Das Apostolische Glaubensbekenntnis wurde 1971 in ökumenischem<br />
Einvernehmen neu ins Deutsche übersetzt. Alleine für<br />
die Wendung „ecclesia catholica“ ließ sich kein Einvernehmen<br />
erzielen. Die Kirchen der Reformation vermeiden den Ausdruck<br />
„katholische Kirche“ und setzen statt dessen „christliche<br />
Kirche“, „allgemeine Kirche“ oder „allgemeine christliche Kirche“.<br />
Zu beachten ist, daß das Attribut „katholisch“ (griechisch:<br />
„katholikos“) zunächst eine ähnliche Bedeutung wie „ökumenisch“<br />
hatte, nämlich „allgemein“, „ganz“, „weltumspannend“,<br />
„universal“.<br />
Wo findet das Apostolische Glaubensbekenntnis heute im Leben<br />
der Kirche Verwendung? Es leitet das Bekenntnis des Glaubens<br />
in Frage und Antwort bei der Tauffeier. Bei der Eingliederung<br />
Erwachsener in die Kirche wird seit 1972 das Apostolische<br />
Glaubensbekenntnis den Bewerberinnen und Bewerbern in<br />
der Vorbereitung anvertraut. Bei der Kindertaufe können Gemeinde<br />
und Zelebrant auf das Glaubensbekenntnis von Eltern<br />
und Paten mit dem Apostolischen Glaubensbekenntnis antworten.<br />
Im deutschen Meßbuch ist es seit 1974 als Alternative<br />
zum Großen Glaubensbekenntnis zugelassen. Das Apostolische<br />
Glaubensbekenntnis wird als Morgengebet zur Tauferinnerung<br />
empfohlen. Neuzeitliche Katechismen gliedern, wie vom Konzil<br />
von Trient empfohlen, einen ihrer Hauptteile nach den Artikeln<br />
des Apostolischen Glaubensbekenntnisses.<br />
Das Apostolikum ist wegen seiner klaren Konzentration auf den<br />
Glauben an Vater, Sohn und Geist, aufgrund seiner großen<br />
Nähe zu biblischen Formulierungen, im Blick auf sein unbestritten<br />
hohes Alter und auf die frühe liturgische Verwendung<br />
noch heute ein überaus wertvoller und fruchtbarer Bekenntnis-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 336<br />
text. Sein ökumenischer Charakter in der Westkirche ist ein hohes<br />
Gut.<br />
In den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts waren die<br />
überlieferten Glaubensbekenntnisse sowohl im Raum der Kirchen<br />
der Reformation als auch im katholischen Raum grundlegenden<br />
Anfragen ausgesetzt. Sind in einer radikal gewandelten<br />
Vorstellungs- und Lebenswelt die alten Bekenntnisse wirklich<br />
geeignet, unseren Glauben zur Sprache zu bringen? Es entstanden<br />
besonders auf evangelischer Seite betont zeitgenössische<br />
Glaubensbekenntnisse, und katholische Theologen legten sogenannte<br />
„Kurzformeln des Glaubens“ vor, die in knapper Sprache<br />
wesentliche Inhalte des christlichen Glaubens theologisch<br />
reflektiert und in Fühlung mit zeitgenössischen Sprach- und<br />
Denkformen aussagen sollten. In den letzten Jahrzehnten sind<br />
aber auch erhellende Neuauslegungen der tradierten Bekenntnisformeln<br />
entstanden. Joseph Ratzingers „Einführung in das<br />
Christentum“ aus dem Jahre 1968 trägt den Untertitel „Vorlesungen<br />
über das Apostolische Glaubensbekenntnis“. Die<br />
Redaktion der Zeitschrift „Publik-Forum“ initiierte vor einigen<br />
Jahren ein „Credo-Projekt“, in dessen Folge persönliche Glaubensbekenntnisse<br />
entstanden und Apostolikum und Großes<br />
Glaubensbekenntnis neu in den Blick genommen und erschlossen<br />
wurden.<br />
Ist nicht beides unabdingbar: die immer neue Besinnung<br />
auf die alten Formeln unseres Glaubens, das niemals abgeschlossene<br />
Bemühen, die tradierten Bekenntnissätze aufzuschließen<br />
und sie in ihrer unauslotbaren Tiefe auszuloten, und das redliche<br />
Ringen um neue Glaubensworte, um im Glauben verantwortete<br />
Zeitgenossenschaft der Glaubenssprache, die allerdings<br />
niemals mit einer Auslieferung an den Zeitgeist verwechselt<br />
werden darf?<br />
Im Apostolischen Glaubensbekenntnis erklären Gläubige als<br />
unvertretbar einzelne, gemeinsam und voreinander Gott ihre<br />
antwortende Liebe. Das Apostolikum spricht die Sprache der<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
337 Die Mitte erschließen<br />
Liebe und zugleich eine Sprache, die um Klärung und Erklärung,<br />
um Verständigung und Einigung, um diskursive Verantwortung<br />
des Erfahrenen, des Widerfahrenen, bemüht ist.<br />
Unsere Glaubensbekenntnisse sind, deklarierend und explizierend,<br />
im zweifachen, im wahrsten Sinne, „Liebeserklärungen“.<br />
Susanne Sandherr<br />
Grundkonzepte des Kirchenraums<br />
Liturgische Räume lassen oftmals bestimmte theologische<br />
Grundkonzepte erkennen. Besonders der Umgang mit historischen<br />
Räumen erweist aber, daß heutige Vorstellungen und<br />
die anderer Zeiten in Konflikt geraten können. Es lohnt daher,<br />
sich in einem kurzen Gang durch die Epochen die entscheidenden<br />
theologischen Kategorien zu vergegenwärtigen, die den<br />
Kirchenbau bestimmt haben.<br />
Die frühen christlichen Gemeinden grenzten sich bewußt von<br />
den heidnischen Tempeln ab, die „heilige Orte“ waren, an denen<br />
man sich der z. B. in einer Statue präsenten „Gottheit“<br />
nähern konnte. Dagegen stellten Christen ihre Vorstellung von<br />
der Gemeinde als Leib Christi und als „Versammlung der Heiligen“,<br />
die durch die Gegenwart des erhöhten Herren geprägt<br />
und durch die sakramentale Begegnung mit ihm in Wort und<br />
Eucharistie gestärkt wird. Entsprechend konnten zunächst private<br />
Häuser für Gottesdienste genutzt werden; im Orient finden<br />
sich noch archäologische Zeugnisse solcher antiker „Hauskirchen“,<br />
in denen selbst die Altartische transportabel waren.<br />
Als die Gemeinden anwuchsen, wurden im Westen eher Kirchen<br />
gebaut, die die Form der Basilika, des antiken öffentlichen<br />
Versammlungsraumes, aufwiesen. Diese stellten sich als geglie-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 338<br />
derte Räume dar, die ggf. durch Vorhof und Nebengebäude<br />
komplettiert wurden. Neben der Kategorie der Versammlung<br />
wurden mit der Basilika zugleich kaiserliche Repräsentationsformen<br />
übernommen. Der Klerus um den Bischof nahm den<br />
Platz der staatlichen Beamten in der Apsis ein, während der<br />
Altar zwischen Bischofsthron und Ambo gestellt wurde. Nun<br />
war die Versammlung eine hierarchisch gegliederte; der liturgische<br />
Handlungsraum des Klerus war oft vom Gläubigenraum<br />
durch Schranken abgegrenzt.<br />
Neben den Versammlungskirchen wurden ab dem vierten Jahrhundert<br />
auch Memorialkirchen außerhalb der Städte über den<br />
Gräbern von Märtyrern errichtet, mit denen in gewisser Weise<br />
die Vorstellung eines heiligen Ortes wieder ins Christentum<br />
gelangte. Mit einer späteren Überführung (Translation) der<br />
Märtyrergebeine in die Stadt und der Bindung von Altar und<br />
Reliquien erhielt dann der Altar innerhalb der Kirche den Charakter<br />
des heiligen Ortes. Memorial- und Versammlungsfunktion<br />
wurden in einem liturgischen Raum vereinigt. Bei bedeutenden<br />
Reliquien errichtete man eigene Krypten unter den<br />
Altären, um so auch einer größeren Anzahl von Pilgern einen<br />
Sichtkontakt zum Reliquienbehälter zu ermöglichen.<br />
Mit der Ausbreitung des Christentums in Richtung Norden<br />
treffen wir auch auf die bewußte Übernahme von heidnischen<br />
Kultstätten. Viele Kirchen mit Michaelspatrozinien befinden<br />
sich auf Hügeln an früheren heidnischen Verehrungsorten.<br />
Auch hier macht sich das Christentum die zumindest untergründig<br />
weiterbestehende Kategorie des heiligen Ortes zunutze.<br />
Im Mittelalter prägten neue liturgische Kategorien den Kirchenraum.<br />
Man ging gewissermaßen von einer „virtuellen“ Gottesdienstgemeinschaft<br />
aus, die gar nicht konkret bei der Feier<br />
anwesend sein mußte. Stiftungen von Altären und Messen (besonders<br />
für die Verstorbenen), die junge Form der Privatmesse,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
339 Die Mitte erschließen<br />
die keiner anwesenden Gemeinde mehr bedurfte, sondern nur<br />
noch ihrer symbolischen Repräsentanz in Form eines Meßdieners,<br />
und die Bestimmung, daß an jedem Altar nur einmal am<br />
Tag eine Messe gefeiert werden durfte, hatten die Errichtung<br />
zahlreicher Nebenaltäre zur Folge. Der Kirchenraum wurde so<br />
vielfach untergliedert – es entstanden quasi mehrere kleine Kirchen<br />
in einem Gebäude. Ein einheitliches Konzept und eine<br />
gemeinsame Nutzung des gesamten Raumes sind selten zu beobachten,<br />
mit Vorliebe bei großen Festen in Form von Prozessionen,<br />
die die einzelnen „Orte“ miteinander in Beziehung<br />
setzten. An Stiftskirchen wurde oftmals der Chor durch einen<br />
Lettner vom Raum der Gläubigen abgetrennt, als Spiegelbild gesellschaftlicher<br />
Abgrenzungen, so daß die Kleriker ihren „privaten“<br />
Gottesdienstraum erhielten. In Köln hatten die Klerikerstifte<br />
sogar eigene Kirchen (die meisten der heute erhaltenen<br />
romanischen Bauten), neben denen einfache Pfarrkirchen für<br />
die Gläubigen standen.<br />
Die vielen Kirchen einer Stadt konnten durch Prozessionen<br />
miteinander verbunden werden, so daß die ganze Stadt selbst<br />
zum liturgischen Raum wurde.<br />
Der Barock schob das Konzept des auf die gesamte Gemeinde<br />
bezogenen Einheitsraumes wieder in den Vordergrund. Der<br />
Lettner wurde beseitigt, der Hochaltar im Chor bildete das Zentrum<br />
des Raumes, auf den – wie als Gegenüber – die Gemeinde<br />
im Langhaus in Kirchenbänken hingeordnet war.<br />
Im 20. Jahrhundert haben liturgische Bewegung und nachkonziliare<br />
Liturgiereform zu einer vertieften Reflexion und entsprechender<br />
Umgestaltung bisheriger Kirchenräume bzw. zu<br />
Neubauten geführt, die auf neuen Grundlagen basieren. Auch<br />
wenn mit Errichtung von gut einsehbarem Altar und Ambo<br />
eine für die aktive Teilnahme der Gläubigen wesentlich verbesserte<br />
Raumgestaltung geschaffen wurde, blieb es nicht selten<br />
beim Eindruck des bekannten Gegenübers – vielleicht noch<br />
verstärkt durch die Stellung des Priesters hinter dem Altar.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 340<br />
Deshalb wird in jüngster Zeit versucht, die Erfahrung der gottesdienstlichen<br />
Gemeinschaft, die sich um die zentralen Orte<br />
des Altares und des Ambos versammelt, durch auf dieses Zentrum<br />
ausgerichtete Bestuhlung und Raumgestaltung zu verwirklichen.<br />
Solche „Communio-Räume“ können sowohl ellipsenartig<br />
gestaltet sein als auch die Form des in einer Richtung<br />
(z. B. auf ein großes Kreuz hin) offenen Kreises haben, in dessen<br />
Mitte Altar und Ambo stehen. Auch wenn konkrete Verwirklichungen<br />
nicht ausschließlich Zustimmung geerntet haben,<br />
bilden sie dennoch wichtige Impulse, die Umsetzung der<br />
in den Dokumenten des Zweiten Vatikanischen Konzils enthaltenen<br />
liturgietheologischen Kategorien in der Gestaltung unserer<br />
Kirchenräume zu bedenken.<br />
Friedrich Lurz<br />
Literatur: Albert Gerhards / Thomas Sternberg / Walter Zahner<br />
(Hg.), Communio-Räume. Auf der Suche nach einer angemessenen<br />
Raumgestalt katholischer Liturgie = Bild – Raum – Feier 2<br />
(Verlag Schnell & Steiner, Regensburg 2003). ISBN 978-3-7954-<br />
1583-9; 24,90 € (D); 25,60 € (A); 43,70 sFr.<br />
Diesen Titel können Sie auch über den für Ihr Land zuständigen<br />
Leserservice von <strong>MAGNIFICAT</strong> (siehe Seite 351) bestellen.<br />
Nikolaus Groß: „Jeder Mensch<br />
ist sein eigenes Geheimnis … “<br />
Jeder Mensch ist sein eigenes Geheimnis, auch das Kind. Wir<br />
müssen dem Geheimnis nachgehen“ (Nikolaus Groß, Sieben<br />
um einen Tisch, hg. v. Bernhard Groß, Voerde 2002, 85).<br />
Dieser Satz von Nikolaus Groß gilt genauso für Heilige, denn sie<br />
haben in ihrem Leben mit ihrem persönlichen Geheimnis an<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
341 Engagiertes Christsein<br />
das Geheimnis der Welt gerührt. In ihrem Gewissen und ihrer<br />
Seele sind sie Gott ganz nahegekommen und haben prophetisch<br />
das Geheimnis Gottes in dieser Welt gezeigt: An ihnen<br />
kann man ablesen, was Gott wirklich will.<br />
Wegen seiner Verteidigung eines christlichen Menschenbildes<br />
und seinem Kampf gegen totalitäre und rassistische Unterdrückung<br />
wurde Nikolaus Groß am 23. Januar 1945 in Berlin<br />
von den Nationalsozialisten hingerichtet. Am 7. Oktober 2001<br />
wurde er in Rom seliggesprochen.<br />
Nikolaus Groß stammt aus dem Ruhrgebiet. Er wird am 30. September<br />
1898 in Niederwenigern bei Essen geboren. Zunächst<br />
arbeitet er als Schlepper und Hauer unter Tage in einem Bergwerk.<br />
Mit 22 Jahren wird er Jugendsekretär der christlichen<br />
Bergarbeitergewerkschaft und sieben Jahre später Redakteur<br />
der Westdeutschen Arbeiterzeitung (WAZ) und damit ein führendes<br />
Mitglied der Katholischen Arbeiterbewegung (KAB).<br />
Weil die Verbandszentrale im Kettelerhaus in Köln ist, zieht<br />
er 1930 mit seiner Familie nach Köln in die Pfarrei St. Agnes.<br />
Als die Nationalsozialisten 1933 die Macht übernehmen, wird<br />
seine journalistische Tätigkeit immer mehr kontrolliert und eingeengt.<br />
Er stellt sich ganz in den Dienst seines Verbandes und<br />
reist unentwegt zu vielen Treffen der KAB in ganz Deutschland.<br />
Von seinem Haus aus, direkt neben der Zentrale, wo auch konspirative<br />
Treffen, z. B. mit Alfred Delp, stattfinden, beteiligt er<br />
sich zunehmend am Widerstand gegen Hitler. Wie Bernhard<br />
Letterhaus und KAB-Verbandspräses Otto Müller wird auch er<br />
nach dem 20. Juli 1944 verhaftet; man bringt ihn nach Ravensbrück<br />
und schließlich ins Zuchthaus Berlin-Tegel. Am 15. Januar<br />
1945 wird er vom Volksgerichtshofvorsitzenden Freisler<br />
zum Tode verurteilt und am 23. Januar hingerichtet.<br />
Zum Geheimnis von Nikolaus Groß gehört seine Familie. Gemeinsam<br />
mit seiner Frau Elisabeth, die 1972 starb, hat er eine<br />
große Familie gegründet. Das Ehepaar bekam sieben Kinder.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 342<br />
Als die Schule seiner Tochter Marianne 1944 von Köln nach<br />
Bansin auf der Insel Usedom verlegt wurde, unterstützte er<br />
seine Tochter von Köln aus mit seinen Briefen. Als sie ihm von<br />
Schwierigkeiten erzählte, sich gegen die nationalsozialistische<br />
Einflußnahme im Unterricht zu wehren, schrieb er ihr drei<br />
Tage vor dem 20. Juli 1944: „Wir müssen auch von Dir erwarten,<br />
daß Du Dich selbst behauptest.“ Andererseits versprach er<br />
ihr, sie sofort abzuholen, wenn es ihr zu schwerfiele.<br />
Seine Verhaftung fand am Mittag des 12. August 1944 zu<br />
Hause statt. Seine Töchter Berny, Leni und Marianne mußten<br />
zusehen, wie der Vater verhaftet wurde. Marianne war erst in<br />
der Nacht vorher aus Usedom nach Hause zurückgekehrt, ihre<br />
Mutter wußte das nicht und hatte sich gleichzeitig auf den Weg<br />
zu ihr dorthin gemacht. „In Berlin Alexanderplatz fuhren wir<br />
aneinander vorbei; ich in Richtung Westen, meine mit Sorgen<br />
beladene Mutter zur Insel Usedom“ (Marianne Reichartz, in:<br />
H.-U. Wiese [Hg.], „dass Du Dich selbst behauptest“. Nikolaus<br />
Groß in St. Agnes, Köln 2005, 36). Sein Adreßbuch, das andere<br />
verraten hätte, konnte er noch verstecken. Die Frage seiner<br />
Tochter Leni: „Vater, wohin gehst du?“ hat ihn noch lange beschäftigt.<br />
Als die Mutter zwei Tage später wieder nach Hause<br />
kam und von der Verhaftung ihres Mannes erfuhr, suchte sie<br />
sofort in den Gestapo-Gefängnissen von Köln und Frankfurt<br />
nach ihm. Sie konnte ihn erst am 3. 12. im Gefängnis Berlin-<br />
Tegel besuchen. Aus dem Gefängnis heraus dankte er ihr: „die<br />
halbe Stunde Besuch wiegt viele Monate des Alleinseins auf“<br />
(Nikolaus Groß, in: J. Aretz [Hg.], Nikolaus Groß. Christ –<br />
Arbeiterführer – Widerstandskämpfer. Briefe aus dem Gefängnis,<br />
3. Auflage, Mainz 1990, 11).<br />
Bei ihrem letzten Besuch am 18. Januar 1945 haben sich<br />
beide für immer voneinander verabschiedet. Sein geistliches<br />
Testament ist der Abschiedsbrief an seine Familie zwei Tage vor<br />
seinem Tod: „Es ist St. Agnestag, an dem ich diesen Brief<br />
schreibe, der, wenn er in Eure Hände kommt, …, Euch künden<br />
wird, daß der Herr mich gerufen hat“ (ebd. 143).<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
343 Engagiertes Christsein<br />
Daß er sich als Familienvater für diesen politischen Weg entschieden<br />
und seine Leben riskiert hat, wird auch heute noch<br />
nicht von jedem verstanden. Für ihn und für seine Familie war<br />
sein Leben nur konsequent und glaubwürdig. Seine Frau lebte<br />
in seinem Sinne weiter, erzog die Kinder und hielt alles zusammen.<br />
Heute ist die Groß-Familie so groß, daß sie über 100 Mitglieder<br />
hat. Viele Kinder und Enkel konnten bei der Seligsprechung<br />
des Vaters und Großvaters in Rom dabei sein. Sein Sohn<br />
Bernhard hat als Diakon Papst Johannes Paul II. bei der Messe<br />
assistiert.<br />
Wo Gott ist, ist Freiheit: Nikolaus Groß hat Gott als Grund seiner<br />
inneren Freiheit erfahren, auch im Gefängnis. Sein Glaube<br />
gab ihm die Kraft zu existentieller Selbstbehauptung. Er ist sich<br />
und seinem Gewissen treu geblieben, seinen politischen Vorstellungen<br />
von sozialer Demokratie, seinem Glauben an Gott<br />
und der Liebe zu seiner Familie. „Bejaht also der Mensch seine<br />
Existenz als bleibend gültige und zu rettende …, bejaht er hoffend<br />
seine Auferstehung“ (Karl Rahner, Grundkurs des Glaubens,<br />
Freiburg 1984, 264). Die Auferstehung Jesu verheißt die<br />
‚bleibende Gültigkeit‘ eines Menschen. Nikolaus Groß sind<br />
Selbstbehauptung und Auferstehung geschenkt worden.<br />
Krankenhauspfarrer Dr. Hans-Ulrich Wiese, Bonn<br />
Literatur: Hans-Ulrich Wiese (Hg.), Prophetische Gestalten im<br />
20. Jahrhundert, Verlag Butzon & Bercker, Kevelaer 2005, 144 S.<br />
[zu Nikolaus Groß: ebd. 9–18]. ISBN 978-3-7666-0690-7;<br />
Preis: 16,00 € (D); 16,50 € (A); 28,60 sFr<br />
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<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Juli 2008<br />
„Gottes entschiedene Freiheit“<br />
Wie ein Vogel mit ausgebreiteten Flügeln<br />
wird der Herr der Heere Jerusalem schützen,<br />
es beschirmen und befreien, verschonen und retten.<br />
Buch Jesaja – Kapitel 31, Vers 5<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Wie gehen Freiheit des allmächtigen Gottes und Freiheit<br />
des endlichen Menschen zusammen? Über diese Frage<br />
haben sich Generationen von Theologen die Köpfe zerbrochen<br />
und heftige Streitigkeiten losgetreten. Bleibt da nicht ein unauflösbares<br />
Entweder-Oder? Hier die absolute Freiheit des<br />
Schöpfers, die eine echte Eigenverantwortung des geschaffenen<br />
Menschen ausschließt, dort die Autonomie des Menschen, angesichts<br />
derer die bleibende Geschichtsmächtigkeit Gottes<br />
kaum noch vorstellbar ist?<br />
Die Spannung zwischen beiden Polen läßt sich schwer<br />
aufheben, und doch lassen sie sich, zumal von der Bibel her,<br />
so aufeinander beziehen, daß sich aus ihrem Verhältnis eine<br />
schöpferische Dynamik entfaltet (s. S. 348–351). Mit einer<br />
Vorstellung, die mich sehr bewegt, hat die lurianische Kabbala,<br />
eine Strömung der jüdischen Mystik, einen Weg aus dem<br />
Dilemma zu weisen versucht. Danach nimmt Gott, der als unendlicher<br />
keinen Raum für anderes neben sich ließe, sich selbst<br />
zurück, um die Schöpfung zu ermöglichen. Doch auch der<br />
Raum, den er auf diese Weise freigibt, ist nicht ohne sein Licht.<br />
Vielmehr trägt er seine Prägung wie der Duft, der in der Flasche<br />
bleibt, wenn kein Parfum mehr darin ist.<br />
Dieses „Zimzum“ genannte Geschehen läßt klar hervortreten,<br />
daß Freiheit in ihrer höchsten Form gerade nicht Streben<br />
nach grenzenloser Ausdehnung bedeutet. Im Gegenteil: Wahrhaft<br />
frei sein heißt, dem Anderen Raum geben zu können. Wie<br />
schwer uns das im Alltag fällt, wissen wir alle. Vielleicht hilft es<br />
aber, sehen zu lernen, wo Gott uns Freiräume schafft, wenn<br />
wir uns ihm öffnen. Wer erfahren hat, daß nicht krampfhafte<br />
Selbstbehauptung, sondern Geborgenheit in Gottes Güte uns<br />
wahrhaft leben läßt, dem fällt es leichter, anderen gegenüber<br />
großzügig zu sein.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Der Sturm auf dem See<br />
Hitda-Codex, Evangeliar mit Capitulare,<br />
Köln für Meschede, um 1020,<br />
Hs 1640, fol. 117r,<br />
© Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt<br />
Der Hitda-Codex aus dem ersten Viertel des 11. Jahrhunderts gilt in der Buchmalerei<br />
dieser Zeit als Hauptwerk der Kölner Malschulen. Anfangs waren die<br />
Maler der ottonischen Zeit noch stark vom karolingischen Erbe und dadurch<br />
von der antiken Malerei geprägt. Doch allmählich gestalten sie die Figuren<br />
lebendiger, und ihre Bilder zeigen eine größere Themenvielfalt.<br />
Der Hitda-Codex enthält 22 ganzseitige Illustrationen zu Themen des Neuen<br />
Testaments, in vier Gruppen unterteilt nach den vier Evangelien.<br />
Die Äbtissin Hitda aus Meschede hat das nach ihr benannte Evangeliar in<br />
den Kölner Werkstätten in Auftrag gegeben. Als Hauptwerk dieser Skriptorien<br />
spiegelt es besonders gut die Kunstrichtung dieser Schule. Typisch ist für viele<br />
Bilder die Verwendung von Primärfarben neben verschiedenen Brauntönen<br />
und Weiß, das Kontraste miteinander verbindet. Vielfach wird die Nähe zur<br />
byzantinischen Ikonographie sehr deutlich. Der Hitda-Codex ist ein gelungenes<br />
Beispiel für die Ausdrucksfähigkeit mittelalterlicher Buchmalerei, die in ottonischer<br />
Zeit zu einem ersten Höhepunkt findet.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Kümmert es dich nicht?<br />
Auch wer den biblischen Text (Mk 4, 35–41) vom „Sturm<br />
auf dem See“ nicht kennt, sieht auf unserem Titelbild aus<br />
dem Hitda-Codex (um 1020) sogleich, daß es hier um eine äußerst<br />
bedrohliche Situation geht. Eine Menschengruppe sitzt in<br />
einem kleinen Boot, das wie eine Nußschale von starken Winden<br />
hin- und hergetrieben wird.<br />
Mit zerfetztem Segel und offenbar herrenlosen Rudern steuert<br />
das Boot in Richtung Abgrund. Daß es wie ein Untier wirkt,<br />
unterstreicht noch das Unheimliche des Geschehens. Durch die<br />
diagonale Anordnung des Bootes verstärkt der Maler den Zug<br />
in die Tiefe, der hier unaufhaltsam erscheint. Das Bild vermittelt<br />
durch den grau-blauen, mit violetten Farbstreifen<br />
durchzogenen Hintergrund einen gespenstischen Eindruck, der<br />
durch den dunklen Rahmen noch unterstützt wird.<br />
Im Boot sitzt Jesus – am Kreuz im Nimbus erkennbar – mit<br />
zwölf Jüngern, wobei von einigen Jüngern nur der Haarschopf<br />
sichtbar ist. Es sind seine engsten Vertrauten, die zwölf Apostel,<br />
die mit ihm dieser äußersten Gefahr ausgesetzt sind. Todesangst<br />
im Blick, starren die Jünger auf das zerstörte Segel und auf den<br />
Sturm, der den See aufpeitscht und das Schiff jeder Kontrollmöglichkeit<br />
entzieht. Was kann sie jetzt noch vor dem sicheren<br />
Untergang bewahren? Ihnen ist jede Sicherheit entzogen. So sehenden<br />
Auges auf den Abgrund zuzusteuern, wer kann das aushalten?<br />
Nur einer schaut in die entgegengesetzte Richtung. Er weiß<br />
offensichtlich, daß hier nur einer helfen kann, einer, der mit<br />
ihnen im Boot sitzt und angesichts der tosenden Naturgewalten<br />
einfach schläft. Dieser Jünger legt Jesus eine Hand auf die Schulter,<br />
um sich an ihm festzuhalten oder um ihn zu wecken.<br />
In aller Bedrohung strahlt die Gestalt Jesu Ruhe und Geborgenheit<br />
aus. Der Maler hält genau diesen Augenblick in seinem<br />
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Meditation zum Titelbild 6<br />
Bild fest, als die Panik der Jünger ihren Höhepunkt erreicht und<br />
Jesus noch nicht eingegriffen hat.<br />
„Sie weckten ihn und riefen: Meister, kümmert es dich nicht,<br />
daß wir zugrunde gehen?“ (Mk 4, 38) Beim Evangelisten Matthäus<br />
heißt es: „Da traten die Jünger zu ihm und weckten ihn;<br />
sie riefen: Herr, rette uns, wir gehen zugrunde!“ (Mt 8, 25) Im<br />
Lukasevangelium rufen die Jünger: „Meister, Meister, wir gehen<br />
zugrunde!“ (Lk 8, 24) Äußerste Not läßt so rufen. Und Jesus<br />
läßt sich „wecken“. Auf die Frage der Jünger, die, wie Markus<br />
sie schildert, eher ein Aufschrei ist, antwortet Jesus mit<br />
einer Gegenfrage: „Warum habt ihr solche Angst? Habt ihr<br />
keinen Glauben?“ (Mk 4, 40) Die Frage nach der Bewältigung<br />
dieser existentiellen Notsituation wird zu einer Frage des Glaubens,<br />
des Vertrauens.<br />
Auch die Evangelisten Matthäus und Lukas stellen es so dar:<br />
„Warum habt ihr solche Angst, ihr Kleingläubigen?“, heißt es<br />
bei Matthäus (Mt 8, 26), und bei Lukas: „Wo ist euer Glaube?“<br />
(Lk 8, 25)<br />
Nicht zufällig steht der Jünger, der sich in dieser Situation an<br />
Jesus wendet, genau in der Mitte des Bildes. Damit unterstützt<br />
der Maler die biblische Aussage: Wenn Jesus mit im Boot sitzt,<br />
ist Angst fehl am Platz. Wo er ist, dürfen die Jünger Vertrauen<br />
haben und auf sein Eingreifen warten.<br />
Gleichzeitig stellt der Maler damit auch uns vor die Frage:<br />
Wissen wir, wo Hilfe zu finden ist, wenn die Wellen hochgehen<br />
in unserem Leben? Nehmen wir Jesus ganz bewußt in unser<br />
Lebensboot hinein?<br />
Das zerrissene Segel hängt an einem Mast, der zusammen<br />
mit der Querstange ein Kreuz bildet. Damit könnte der Maler<br />
vielleicht andeuten, daß im Kreuz Jesu alle Hoffnung verankert<br />
ist – für die Jünger damals und für die Jünger und Jüngerinnen<br />
aller Zeiten. Wer sich an Jesus, an seinem Kreuz festhält, kann<br />
standhalten in den Stürmen des Lebens, kann sie mit ihm überwinden.<br />
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7 Meditation zum Titelbild<br />
Die ruhige Haltung Jesu verdeutlicht, daß er das nötige<br />
Gegengewicht ist zu den zerstörerischen Mächten, die das Boot<br />
in die Tiefe ziehen wollen. Durch sein Eingreifen werden die<br />
Jünger aus dem Seesturm errettet: „Da stand er auf, drohte dem<br />
Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind<br />
legte sich und es trat völlige Stille ein.“ (Mk 4, 39)<br />
Solch unerwartete Rettung löst bei den Betroffenen Erstaunen<br />
und Erschrecken aus: „Da ergriff sie große Furcht, und sie<br />
sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, daß sogar der<br />
Wind und der See ihm gehorchen?“ (Mk 4, 41) Obwohl sie<br />
diese Hilfe ersehnt haben, erschrecken die Jünger. Doch die<br />
Furcht, die sie nun packt, ist anders als die Angst vor dem<br />
Untergang. Hier spüren sie, in Jesus begegnet ihnen der große,<br />
lebendige Gott. Und in der Begegnung mit diesem Gott erfährt<br />
der Mensch nach dem Zeugnis der Bibel immer ein heiliges<br />
Erschrecken, obwohl er sich zugleich von Gott angezogen<br />
weiß.<br />
Wie Rettung aus konkreter Not für uns jeweils aussehen kann<br />
und aussieht, wissen wir nicht. Der Glaube verspricht uns nicht<br />
ein sorgenfreies Leben; Gott bewahrt uns nicht vor allem Leid,<br />
wohl aber in allem Leid. Aber wir dürfen wie die Jünger in unseren<br />
Sorgen und Anfechtungen rufen: „Meister, kümmert es<br />
dich nicht, daß wir zugrunde gehen?“ Die Botschaft des biblischen<br />
Textes und die Botschaft dieses Bildes lautet: Wir dürfen<br />
Vertrauen haben, weil Gott sich um uns kümmert! Wie dieses<br />
Kümmern sich dann zeigt, das dürfen wir der Weisheit seiner<br />
Liebe überlassen.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
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Thema des Monats 348<br />
Gottes entschiedene Freiheit<br />
Extremer Humanismus Gottes<br />
Keine Tätigkeit wird im Alten Testament Gott so häufig<br />
zugesprochen wie – das Sprechen. Jahwes Sprechen ist<br />
machtvoll; sein Wort ist ein Machtwort. Die Welt ist Gottes<br />
freie, allein durch sein Befehlswort gesetzte Schöpfung (Jes<br />
44, 24; Gen 1; Ps 33, 6.9). Alles, was Jahwe will, vollbringt er;<br />
nichts ist ihm unmöglich (Ps 135, 6; Jes 43, 12 f.; 55, 11; Jer<br />
32, 17.26 f.; Sir 39, 18). Daß Gott durch sein Wort handelt,<br />
signalisiert zugleich: Dieser Gott ist nicht zu verwechseln mit<br />
Schöpfung und Geschichte. Er ist kein Teil der Welt. Das Wort,<br />
durch das Gott Welt wirkt und in der Welt wirkt, setzt Unterschiedenheit,<br />
Trennung, Abstand voraus.<br />
Daß Gott in Schöpfung und Geschichte spricht, bedeutet, daß<br />
er hier auf bewußte und persönliche Weise anwesend ist. Der<br />
weltübersteigende Gott will in der Welt wohnen. Er wendet<br />
sich seinen Geschöpfen zu, er erhält sie und leitet ihre Geschichte.<br />
Dies schmälert nicht die Verantwortung und Eigentätigkeit<br />
der Menschen. Der Mensch ist Gottes Ebenbild, er ist zu<br />
seinem Partner geschaffen (Gen 1, 26; Sir 17, 1–12). Doch den<br />
Bund zwischen Gott und Mensch stiftet Gott allein (Dtn 7, 6–9;<br />
Ez 16, 3–14). Gottes Freiheit ist unantastbar: „Ich gewähre<br />
Gnade, wem ich will, und ich schenke Erbarmen, wem ich<br />
will.“ (Ex 33, 19). Sein Handeln schafft Neues; nur in der Sprache<br />
der Schöpfung läßt es sich angemessen aussagen (Jes 43,<br />
1.15.19). Gottes Freiheit wird durch die Verbote von Bild und<br />
Mißbrauch des Namens Jahwe gewahrt (Ex 20, 4.7). Auch der<br />
Tempel garantiert nicht Gottes Gegenwart; er ist nur der Ort, an<br />
dem seine gnädige Herabkunft erhofft wird (1 Kön 8, 27–30;<br />
Jes 66, 1 f.).<br />
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349 Thema des Monats<br />
Israel ist gerufen, Jahwes freier Treue dadurch zu entsprechen,<br />
daß es seinen guten Willen tut und seine heilsamen Wege<br />
geht. Der Bundesgott ist der Gott der Liebe, der ewigen Liebe<br />
(Hos 11; 14, 5; Jer 31, 3; Jes 54, 8 f.). Liebe ist das immer schon<br />
leitende Prinzip seines Handelns. Gottes Freiheit ist die Freiheit<br />
zur je größeren Gnade. Gerade so erweist Gott seine Treue zu<br />
sich selbst (Gen 8, 21 f.; 9, 8–17; Hos 11, 1–9; Jona 4, 2.11). Im<br />
vollen Wissen um die Verborgenheit Gottes und die Unergründlichkeit<br />
seiner Wege (Jes 40, 28; 45, 15; 55, 8f.) setzt Israel<br />
auf die Verläßlichkeit und Verbürgtheit der göttlichen<br />
Heilszusagen: „Jahwe – ein barmherziger und gnädiger Gott,<br />
langmütig, reich an Bundeshuld und Treue“ (Ex 34, 6).<br />
Im Neuen Testament und in der Verkündigung Jesu wird das<br />
alttestamentliche Verständnis der Freiheit Gottes vorausgesetzt<br />
(Mt 6, 10.26–32; 10, 29 f.; Mk 10, 27; 13, 19; Röm 4, 17; Hebr<br />
11, 3). Das im Neuen Testament bezeugte Geschehen gründet<br />
in der Freiheit Gottes: der Zeitpunkt der anbrechenden Königsherrschaft<br />
Gottes (Mk 1, 15; vgl. Gal 4, 4) und die Teilhabe an<br />
ihr (Mk 4, 11; 10, 25 ff.; Lk 12, 32), die Erwählung der Geringen<br />
(Mt 11, 25 f.) und die wahre Gotteserkenntnis (1 Kor 8, 2 f.;<br />
Gal 4, 9). All dies ist Gottes souveräne Verfügung, sein freies<br />
Geschenk. Gottes Freiheit ist immer schon zur Liebe entschieden.<br />
Jesus unterstellt sich in seinem eigenen Wirken dieser bedingungslosen<br />
Güte. In Jesu Hingabe bis zum Tod leuchtet Gottes<br />
eigene unwiderrufliche Liebe zu den Menschen auf. Ihre<br />
Gegenwart im Geist ist wirkliche Gemeinschaft mit Gott und<br />
Angeld der Vollendung (Röm 5, 5; 9, 15 ff. 23 f.) In Jesus Christus<br />
ist Gottes ewiger, freier Ratschluß enthüllt (Eph 1, 3–14).<br />
In Christus, durch den und auf den hin er alles erschaffen hat,<br />
hat Gott die Menschen im voraus dazu bestimmt, der Sohnschaft<br />
Jesu gleichgestaltet zu werden und in die Gemeinschaft<br />
der Liebe zwischen Vater und Sohn einbezogen zu werden, die<br />
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Thema des Monats 350<br />
Gottes Wesen ist (Joh 17, 21 ff.; 1 Joh 4, 8). Gottes Heilsentschluß<br />
ist unwiderruflich, und doch bleibt der Gang der Geschichte<br />
offen und ihre Vollendung allein Gott vorbehalten (Mk<br />
13, 32). Paulus beschließt seine große Meditation der Berufung<br />
Israels und der Dialektik der Gnadenwahl mit dem Lob der unerforschlichen<br />
Wege Gottes und mit der Hoffnung auf göttliches<br />
Erbarmen für alle (Röm 9–11).<br />
Im Mittelalter bindet Thomas von Aquin (1225–1274) den<br />
Willen Gottes an seine Weisheit. Die Ideen des Geschaffenen<br />
sind in Gottes Wesen verankert, der Weltplan geht als gefügte<br />
Ordnung aus Gottes praktischem Intellekt hervor. Der Franziskanertheologe<br />
Duns Scotus (1266–1308) betont hingegen<br />
die Spontaneität des als Liebe bestimmten göttlichen Willens<br />
und unterstreicht seine Fähigkeit, jede existierende Ordnung<br />
zu überschreiten. Sein Mitbruder Wilhelm von Ockham<br />
(1285–1347) nimmt den Gedanken auf, daß Gottes „absolute<br />
Macht“ viel weiter reiche als seine „geordnete Macht“, umfasse<br />
sie doch alles, was keinen Widerspruch einschließt. Daß Gott<br />
damit ein unberechenbarer Willkürgott geworden sei, vor dessen<br />
Tyrannei die spätmittelalterlichen Menschen sich in eine<br />
radikale Autonomie geflüchtet hätten, wie es der Philosoph<br />
Hans Blumenberg (1920–1996) in seinem Werk „Die Legitimität<br />
der Neuzeit“ nahelegt, ist wohl eine zu plakative These,<br />
die Ockhams am biblischen Motiv der göttlichen Treue festhaltendem<br />
Gottesgedanken nicht gerecht wird. Dennoch waren<br />
Ockhams abstrakte Erörterungen der göttlichen Freiheit zumindest<br />
in ihrer Wirkung zweideutig.<br />
Bei Martin Luther (1483–1546) bildet Gottes unergründlicher,<br />
frei über sein Geschöpf verfügender Wille den Hintergrund<br />
des Glaubens an Gottes verheißungsvolles Jawort in<br />
Christus. Für den Reformator Johannes Calvin (1509–1564)<br />
zeigt sich Gottes Freiheit in der ewigen Vorherbestimmung<br />
zum Heil wie zum Verderben (vgl. dazu in diesem Heft den Bei-<br />
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351 Thema des Monats<br />
trag von Marc Witzenbacher zur Prädestinationslehre, S.<br />
352–355).<br />
Der Münsteraner katholische Systematiker Thomas Pröpper<br />
(geb. 1941) formuliert paradox, daß Gott „selbst sich bestimmt<br />
hat, sich von der menschlichen Freiheit bestimmen zu lassen“.<br />
Diese Entschlossenheit Gottes verwirkliche sich in einer Geschichte,<br />
die sich ebenso seiner unerschöpflichen Erneuerungsmacht<br />
wie der unverbrüchlichen Treue seines Heilswillens<br />
verdankt. Gottes Vorsehung legt den Weltlauf nicht in der<br />
Weise fest, daß der Mensch nur Mittel zu seiner Verwirklichung<br />
und die Geschichte des Menschen Schicksal wäre. Zugleich<br />
gilt, daß Gottes Ratschluß, seine Entschiedenheit zum<br />
Heil der Menschen, unveränderlich ist. Doch gerade in dieser<br />
Treue zu sich antwortet Gott, bis zur eigenen Entäußerung, auf<br />
das Tun freier Menschen. Beständigkeit und Beweglichkeit,<br />
höchste Freiheit und letzte Entschiedenheit sind in Gott keine<br />
unversöhnlichen Gegensätze, sondern geeint.<br />
Der jüdische französische Philosoph Emmanuel Levinas<br />
(1906–1995) hat einmal vom „extremen Humanismus Gottes“<br />
gesprochen: Der schlechthin freie, unabhängige, welttranszendente<br />
Gott hat sich unwiderruflich für den Menschen und seine<br />
Freiheit entschieden. Doch Gottes abgründiger Humanismus<br />
kommt erst dann ans Ziel, wenn sich auch der Mensch ganz für<br />
Gott entschieden hat.<br />
Susanne Sandherr<br />
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Unter die Lupe genommen 352<br />
Vorherbestimmung oder freier Wille?<br />
Kurze Einführung in die Prädestinationslehre<br />
Kann sich der Mensch frei entscheiden, ob er an Gott glauben<br />
will oder nicht? Oder hat Gott vielmehr den Menschen<br />
als Teil seines umfassenden Planes zu seinem Eigentum erwählt,<br />
so daß der Mensch gar nicht frei entscheiden kann? In<br />
der Theologie wurde diese Frage unter dem Begriff der „Prädestination“<br />
(Vorherbestimmung) verhandelt. Damit ist der ewige<br />
göttliche Ratschluß gemeint, mit dem Gott vor aller Zeit das<br />
Schicksal der Menschen verfügt hat.<br />
In der Bibel wird klar von Gottes Plänen mit der Welt und<br />
den Menschen gesprochen. Im Epheserbrief ist dabei von einer<br />
durch und durch heilvollen Vorbestimmung Gottes die Rede<br />
(vgl. Eph 1, 3–6). Auf Christus hin hat Gott die Menschen erwählt,<br />
durch Christus verwirklicht er, was er „vor Grundlegung<br />
der Welt“ beschlossen hat. Grund und Ziel seines Handelns ist,<br />
die Herrlichkeit seiner Gnade zu erweisen. Einige haben dies so<br />
verstanden, als habe Gott alles vorausgeplant und als seien die<br />
Menschen nur passiv, ähnlich wie Schauspieler in einem Theater,<br />
die auf- und abtreten, wie es der Regisseur vorschreibt.<br />
Wird Gott als der Allmächtige gepriesen, muß doch alles, was<br />
geschieht, von ihm gewollt und gewirkt sein – auch das Heil der<br />
Menschen. Dies hat jedoch gewichtige Folgen: Kommen Menschen<br />
allein durch Gottes Willen zum Glauben, muß folglich<br />
auch die Verdammnis von Gott vorherbestimmt sein, eine „doppelte<br />
Prädestination“. Einige biblische Texte, vor allem Aussagen<br />
von der Verstockung durch Gott (vgl. Jes 6, 9 f.; Mt 13, 13 ff.;<br />
Röm 9, 18), können dies nahelegen und wurden auch immer<br />
wieder zur Begründung dieser Lehre herangezogen.<br />
Augustinus hat in seiner Theologie diese doppelte Prädestination<br />
entfaltet. Der Wille des Sünders ist gebunden, Gott allein<br />
kann ihm schenken, sich dem Wort des Evangeliums zu öffnen.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
353 Unter die Lupe genommen<br />
Wem Gott den Glauben verleiht, der wird dann unfehlbar zum<br />
Ziel des ewigen Heiles geführt, er kann nicht aus der Gnade fallen.<br />
Diese ist aber nur einer bestimmten Zahl von Menschen<br />
vorbehalten. Nur in der Kirche sind die „electi“, die Erwählten,<br />
zu finden. Denn Gott vermittelt seine Gnade nur durch die Predigt<br />
und die Sakramente der Kirche. Doch nicht alle Glieder, die<br />
das Wort hören oder die Sakramente empfangen, sind auch Erwählte.<br />
Ihre Zahl kennt Gott allein.<br />
Die Kirche des Mittelalters hat diese Lehre in ihrer positiven<br />
Seite übernommen, die doppelte Prädestination aber zurückgewiesen.<br />
Der allumfassende Heilswille Gottes bedeute eine Entschiedenheit<br />
Gottes, das ewige Heil ohne Einschränkungen zu<br />
schenken. Gott weiß aber im voraus, wer sich seiner Gnade<br />
widersetzen wird. Für diese Menschen gilt die Prädestination<br />
zur ewigen Verdammnis. Doch wird als Ursache nicht Gottes<br />
Erwählung, sondern der Wille des Menschen gesehen. Daß<br />
dann auch der Glaube im Willen des Menschen begründet liegt,<br />
wird aber meist nicht als Konsequenz gezogen.<br />
Die traditionelle Theologie der Scholastik kommt letztlich zu<br />
einer unlösbaren Problematik der Prädestinationslehre, vertieft<br />
sie aber auch nicht. Entweder wirkt der Mensch zu seinem Heil<br />
mit – oder es besteht eine doppelte Prädestination. Die Frage ist<br />
dabei vielmehr: Muß sich christliche Theologie diesem Entweder-Oder<br />
beugen?<br />
Für die Reformatoren kam die Mitwirkung des Menschen am<br />
Heil nicht in Frage. In ihrem Verständnis von der Rechtfertigung<br />
des Sünders verneinten sie jede Bedingung, die der<br />
Mensch zu erfüllen habe, um von Gott angenommen und bewahrt<br />
zu werden. Sie vertraten daher die Lehre von der doppelten<br />
Prädestination. Der Reformator Huldrych Zwingli leitete<br />
aus der Allmacht Gottes ab, daß selbst das Böse in Gott seinen<br />
Grund haben muß. Dabei argumentierte Zwingli vor allem aus<br />
Quellen der antiken Philosophie. Auch Johannes Calvin vertrat<br />
die Lehre von der Bestimmung des Menschen zu Heil oder Unheil,<br />
leitete seine Begründungen aber aus der Bibel ab. Diese<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 354<br />
Lehre sei zwar ein „schreckliches Thema“, dürfe aber aufgrund<br />
der von ihm erkannten Schriftoffenbarung nicht verschwiegen<br />
werden. Gleichwohl bestimmt dieses Thema keines der Werke<br />
der beiden Schweizer Reformatoren.<br />
Auch Martin Luther lehrte die doppelte Prädestination. Ein<br />
Gott, der seine Beschlüsse von Menschen abhängig machte, sei<br />
lächerlich. Gott weiß nicht nur um die Beschlüsse der Menschen,<br />
er bewirkt sie auch. Luther legte in seiner Streitschrift<br />
„De servo arbitrio“ (Vom unfreien Willen) gegen Erasmus besonderen<br />
Wert auf die Heilsgewißheit des Glaubens: Wäre unser<br />
Glaube von unserem Willen abhängig, könnten wir nie unseres<br />
Heiles gewiß sein. Gottes Zusage aber ist verläßlich.<br />
Das Konzil von Trient lehnte diese Sichtweisen der Reformatoren<br />
ab. Der Mensch könne sich seines Heiles nicht gewiß<br />
sein. In der Folgezeit entwickelte man auf katholischer und<br />
protestantischer Seite teilweise recht komplizierte Gnadensysteme,<br />
die aber letztlich zu keinem Konsens und zu kaum einer<br />
schlüssigen Lösung des gesamten Problems gelangten.<br />
In der neuzeitlichen Theologie zeichnete sich die Richtung<br />
der Allversöhnung (Apokatastasis) ab, wie sie die Protestanten<br />
Friedrich Daniel Schleiermacher und Karl Barth entwickelten.<br />
Auf katholischer Seite sprachen Hans Urs von Balthasar und<br />
Karl Rahner ähnlich von der allgemeinen festen Hoffnungsgewißheit<br />
des Menschen.<br />
Es wird deutlich, daß Vorherbestimmung und freier Wille<br />
eher unlösbar miteinander verflochten sind. Einseitige Lösungsversuche<br />
werfen mehr Fragen auf, als sie zu beantworten<br />
vermögen. So wie die Bibel meist in lobpreisender Form von<br />
Gottes Erwählung und Gnade spricht, können wir nur zu Gott<br />
aufblicken, der sich in Jesus Christus als die Liebe offenbart hat,<br />
die alle Feindschaft überwindet – auch den Tod. Im Vertrauen<br />
auf diese Übermacht seines Erbarmens ist es uns erlaubt, für<br />
alle zu hoffen und zu beten – für uns, für alle Menschen, für<br />
die ganze Welt. Das kann uns nicht dazu führen, das Evange-<br />
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355 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
lium nicht zu bezeugen. Diese Liebe drängt uns vielmehr dazu,<br />
denen, für die wir hoffen und beten, diese Botschaft weiterzusagen,<br />
daß in Jesus Christus alle Hoffnung begründet ist.<br />
Marc Witzenbacher<br />
„... sondern er entäußerte sich und wurde<br />
wie ein Sklave und den Menschen gleich.“<br />
Der Christushymnus des Philipperbriefs<br />
Den Text des Hymnus finden Sie auf Seite 57.<br />
Nichts macht den christlichen Glauben so unzugänglich wie<br />
das Kreuz. Doch vom Kreuz her gesegnet zu sein, was<br />
kommt dieser Erfahrung gleich? Der Versuch, das Kreuz Christi<br />
zu verstehen, ist älter als das Neue Testament; der Christushymnus<br />
des Philipperbriefs stellt einen ersten Höhepunkt dieses<br />
unabschließbaren Bemühens dar. Der Hymnus ist der<br />
älteste neutestamentliche Text mit umfassender christologischer<br />
Aussage.<br />
Der Brief an die Gemeinde von Philippi, einer Stadt an der<br />
Ostküste Griechenlands, wurde zwischen 53 und 60 n. Chr.<br />
vom Apostel Paulus verfaßt, doch das Christuslied ist älter als<br />
der Brief. Es ist rhythmisch gestaltet und hebt sich auch sonst<br />
sprachlich vom Briefkontext ab. Der Hymnus entstammt wahrscheinlich<br />
der liturgischen Tradition der frühen Kirche. Bereits<br />
zehn oder 20 Jahre nach Jesu Tod hatte sich ein weitreichendes<br />
Christusbekenntnis herausgebildet! Ein jüdischer Messiasanwärter,<br />
ein gekreuzigter Ruhestörer – und ein Loblied, das kosmische<br />
Dimensionen erreicht.<br />
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Singt dem Herrn ein neues Lied 356<br />
Das Lied auf Christus bedient sich einer rhythmisch bewegten,<br />
poetisch-bildhaften Sprache und weist Strophenform auf. Zwischen<br />
dem 8. und dem 9. Vers findet sich eine Zäsur, die durch<br />
das „Darum“ und durch einen Subjektwechsel – von „Christus<br />
Jesus“ (V. 5) zu „Gott“ (V. 9) – markiert ist. Der Einschnitt zeigt<br />
zugleich einen Richtungswechsel an; der Entäußerung, dem<br />
Abstieg, folgt nun die Erhöhung. Das biblische Schema von Erniedrigung<br />
und Erhöhung des Gerechten mag hier zugrunde<br />
liegen. Im Philipperbrief-Hymnus ist der Wendepunkt das<br />
Kreuz.<br />
Der Zusammenhang, in dem das Loblied im Brief des Paulus<br />
steht, sind Mahnungen an die Gemeinde von Philippi<br />
(1, 27–2, 18). Das Stichwort „Demut“ (2, 3) verbindet den vorangehenden<br />
Kontext mit dem Lied; das Stichwort „Gehorsam“<br />
(2, 8) bindet den nachfolgenden Briefinhalt an den Hymnus<br />
(V. 12). Doch eine rein ethische Deutung griffe zu kurz; Christus<br />
ist mehr als ein nachahmenswertes Beispiel für Demut und<br />
Gehorsam. Die Christen von Philippi sind durch die Taufe ja<br />
bereits existentiell hineingenommen in das weltumspannende<br />
Ereignis, von dem der Hymnus singt. Der paulinische Imperativ<br />
(„Seid untereinander so gesinnt, wie es dem Leben in Christus<br />
Jesus entspricht“, V. 5) kommt aus dem Indikativ des gottgeschenkten<br />
Heils.<br />
„Er war Gott gleich ...“ Der Anfang des Philipperbrief-Hymnus<br />
bezeugt den frühen Glauben an die Präexistenz des Gottessohnes,<br />
an sein Vor-Leben bei Gott. Ihm wird die „morphé“, die<br />
„Form“ Gottes, zugesprochen. Damit ist nicht die äußere Gestalt<br />
gemeint, sondern Gottes ureigene Lebensweise, Gottes<br />
Wirklichkeit.<br />
„... hielt aber nicht daran fest, wie Gott zu sein“. Der Gottgleiche<br />
hat diese Auszeichnung nicht wie einen unrechten Besitz,<br />
wie einen Raub, erworben, und er hält sie nicht fest wie eine<br />
Beute, die man mit Zähnen und Klauen verteidigen muß.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
357 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
„... sondern er entäußerte sich / und wurde wie ein Sklave /<br />
und den Menschen gleich.“ Der Abstieg von der Höhe der Gottgleichheit<br />
in das Menschen- und Sklavendasein ist ein freiwilliger<br />
Weg. Wie zuvor die Gottgleichheit wird nun die Menschengleichheit<br />
ausgesagt. Die Menschwerdung selbst steht im<br />
Dunkel, im Licht des Kreuzes. Schon das Menschsein des Sohnes,<br />
nicht erst das, was in seinem Menschsein geschieht, ist<br />
Hingabe und Entäußerung.<br />
„... er erniedrigte sich / und war gehorsam bis zum Tod, / bis<br />
zum Tod am Kreuz.“ Der Tiefpunkt der Selbsterniedrigung ist<br />
der Weg des Gehorsams, der Weg in den Tod, in den schändlichen<br />
Kreuzestod. Das Kreuz ist der Sklaventod, eine Hinrichtungsart,<br />
die für freie römische Bürger unzulässig war. Der<br />
Hymnus fragt nicht nach biographischen Einzelheiten Jesu,<br />
sondern konzentriert unseren Blick ganz auf seinen Weg in den<br />
Tod in Treue zu Gott.<br />
Das Kreuz ist der absolute Tiefpunkt, der tote Punkt, aber auch<br />
der Wendepunkt, der Weg ins Leben. Mit „Darum“ ist in Vers<br />
9 die große Wende angezeigt. Die im folgenden ausgesagte Erhöhung<br />
durch Gott ist radikale Gegenerfahrung, aber vor allem<br />
die innerste Konsequenz der Selbsterniedrigung des Gottgleichen<br />
bis ans Kreuz. Einige Exegeten erkennen in den nun folgenden<br />
Schritten (V. 9–11) das dreigliedrige Ritual der Inthronisation<br />
eines Herrschers im Alten Orient: die Erhöhung, hier<br />
das Erhöhen über alle, die Proklamation als Herrscher mit der<br />
Verleihung eines eigenen Herrschernamens, die Akklamation<br />
durch Niederwerfen oder durch das Beugen der Knie. Namen<br />
sind im Alten Orient nicht Schall und Rauch, sondern gehören<br />
zum Wesen des Benannten. Die Verleihung des Namens über<br />
alle Namen an den in die Niedrigkeit Gegangenen bedeutet,<br />
daß er zum Herrscher über alle eingesetzt wird. Die (Selbst-)<br />
Unterwerfung der in Vers 10 erwähnten Geistermächte, die die<br />
Welt beherrschen, zeigt die kosmisch-universale Dimension des<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 358<br />
Geschehens an. Es ist ein Befreiungsgeschehen. Die Macht der<br />
Mensch und Welt versklavenden Mächte ist nun und für immer<br />
gebrochen. Die ganze Schöpfung huldigt dem Allherrscher, und<br />
die Menschen sind gleichsam die Stimme der Schöpfung<br />
(„... und jeder Mund bekennt“).<br />
„Jesus Christus ist der Kyrios“! In der griechischen Übersetzung<br />
der Bibel steht Kyrios (Herr) oft für den Namen Jahwe, den man<br />
aus Scheu, den Gottesnamen zu nennen, häufig durch das hebräische<br />
„Adonai“ (mein Herr) ersetzte. Für Christusgläubige<br />
aus dem Judentum ist mit der Kyrios-Anrede für Jesus so seine<br />
Göttlichkeit ausgesagt. Für Menschen aus dem Heidentum wird<br />
deutlich, daß in Wahrheit nicht die als göttliche Herrscher betrachteten<br />
Machthaber verehrungswürdig sind, sondern nur<br />
der eine Gottgleiche, der in die radikale Menschengleichheit<br />
gegangen ist. Paulus benutzt den Kyrios-Titel sonst meist, um<br />
Jesus als den in der Gemeinde gegenwärtigen und wirkenden<br />
Herrn zu bekennen. So ist es auch hier; die Gemeinde huldigt<br />
gemeinsam mit allen Kräften des Kosmos dem erhöhten Christus.<br />
„... zur Ehre Gottes, des Vaters.“ Der Schluß des Hymnus ist<br />
kein Anhängsel. Paulus stellt hier – wie in besonderer Deutlichkeit<br />
in 1 Kor 15, 24.28 – heraus, daß die Herrschaft Christi<br />
nicht in Konkurrenz steht zum Herrsein Gottes, des Vaters, sondern<br />
einzig und allein dem Nahen seiner Herrschaft dient.<br />
Auch der über alle erhöhte Sohn und Allherrscher ist der Sohn<br />
des Vaters, dessen Wille in der Bitte gründet und mündet: Dein<br />
Reich komme!<br />
Susanne Sandherr<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
359 Die Mitte erschließen<br />
Umnutzung von Kirchen<br />
Aspekte der aktuellen Diskussion<br />
Wenn momentan über Fragen des Kirchenraumes gesprochen<br />
wird, so steht in den Gemeinden wie der medialen<br />
Öffentlichkeit nicht selten die Frage der Umnutzung und Aufgabe<br />
von Kirchen und Kirchenräumen im Zentrum des Interesses.<br />
Dabei hatte über Jahrzehnte eine gegenteilige Tendenz vorgeherrscht.<br />
Bereits im 19. Jahrhundert waren viele Kirchen<br />
erweitert oder neu gebaut worden, um der rasch zunehmenden<br />
Bevölkerung gerecht zu werden. Nach dem II. Weltkrieg waren<br />
Wiederaufbau und Neubau von Kirchen wichtige Aufgaben, die<br />
durch die Liturgiereform nochmals Impulse erhielten. Hinzu<br />
kamen Anregungen durch neue Bauformen, Techniken und<br />
Materialien, die gerade bei öffentlich wirksamen Bauten, zu denen<br />
Kirchen immer noch zählten, zum Zuge kamen. Kirchenbau<br />
und -raumgestaltung waren Gebiete, in denen die Kirchen<br />
eine „Zeitgenossenschaft“ mit der aktuellen künstlerisch-architektonischen<br />
Entwicklung vorweisen konnte.<br />
Die veränderte kirchliche Situation der letzten 20 Jahre, die<br />
deutlich zurückgehenden Zahlen der Kirchenmitglieder und<br />
Gottesdienstbesucher lassen nun so manchen Bau als zu groß<br />
erscheinen. Gesunkene Einnahmen aus der Kirchensteuer stellen<br />
immer mehr Bistümer vor die Frage, wie sie ihre Bauten<br />
unterhalten sollen. Hinzu kommt der Priestermangel, in dessen<br />
Konsequenz Gemeinden zusammengelegt werden. Indem der<br />
„Nutzen“ einer Kirche v. a. an der häufigen Feier der Eucharistie<br />
gemessen wird, erscheint so manches Gebäude überflüssig.<br />
Die Folge sind der Verkauf oder der Abriß von Kirchen, wenn<br />
man meint, die Kosten nicht mehr tragen zu können. Als ein<br />
westdeutsches Bistum Schließungspläne für sein gesamtes Gebiet<br />
öffentlich machte, erlebte es einen Sturm der Entrüstung.<br />
In anderen Bistümern geschehen solche Schließungen eben-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 360<br />
falls, jedoch stiller und über einen längeren Zeitraum und werden<br />
deshalb in der Öffentlichkeit nicht in gleicher Weise wahrgenommen,<br />
wenn auch die Emotionen in den konkreten Gemeinden<br />
die gleichen sind.<br />
Kirchenräume und -gebäude sind nämlich nicht einfach nur<br />
funktionale Gebilde. Durch die regelmäßige Feier des Gottesdienstes<br />
über viele Jahre sind sie zur „Heimat“ für die konkreten<br />
Menschen und ihren Glauben geworden. Deshalb kann die<br />
Aufgabe einer Kirche ein sehr schmerzhafter Prozeß für eine<br />
Gemeinde sein, die diese vor eine Zerreißprobe stellt. Hinzu<br />
kommt, daß die Kirchengebäude regelrechte „Denkmäler“ im<br />
öffentlichen Raum sind, die eben auch für die Gesellschaft<br />
wichtig sind. Sie sind kulturelle Marker, mit denen die Kirchen<br />
als Glaubensgemeinschaften in der Gesellschaft Präsenz zeigen<br />
und ihren Anspruch auf öffentlichen Einfluß kennzeichnen.<br />
Durch die kunsthistorische und architektonische Bedeutung eines<br />
Gebäudes werden Menschen mit der damit zusammenhängenden<br />
Glaubenswelt in Berührung gebracht, die ansonsten<br />
Distanz zu allem Religiösen wahren. Dies gilt nicht nur für alte<br />
Gebäude, sondern auch für die der jungen Moderne, die leider<br />
nach der bisherigen Erfahrung bevorzugt aufgegeben werden,<br />
weil noch keine ausreichende Vorstellung von ihrem „Wert“<br />
ausgebildet ist.<br />
Entsprechend ist noch stärker über erweiterte Nutzungsmöglichkeiten<br />
nachzudenken, die im kirchlichen Kontext bleiben<br />
und damit zumindest die Identifizierung einer Gemeinde mit<br />
dem konkreten Gebäude nicht in Frage stellen.<br />
So können Kirchen weiterhin Orte des Gebets und einzelner,<br />
nicht von Hauptamtlichen geleiteter, Gottesdienste sein, wenn<br />
Ehrenamtliche sich bewegen lassen, eine Öffnung von Kirchen<br />
zu bestimmten Zeiten zu gewährleisten, um diese vor Beschädigung<br />
und Entwürdigung zu bewahren. Die Öffnung bildet die<br />
Voraussetzung, um zum Gebet in die Kirche gehen zu können.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
361 Die Mitte erschließen<br />
Solche Orte der Stille und des Gebets sind gerade in Großstädten<br />
wichtig. Oft finden sich Gruppen, die auch ohne Priester<br />
oder sonstige Hauptamtliche Gottesdienste feiern möchten.<br />
Hier bieten etwa Formen der Tagzeitenliturgie, der Andachten<br />
oder der kurzen Bibelmeditation neue Möglichkeiten, Kirchenräume<br />
„lebendig“ zu halten. Eine Idee, die in den letzten Jahren<br />
bereits mehrfach verwirklicht wurde, ist die Umnutzung als<br />
Begräbniskirche für Urnen. So können den Unterhaltskosten<br />
sogar Erträge gegenübergestellt werden, ohne den ursprünglichen<br />
Nutzungskontext zu verlassen.<br />
Wenn eine Nutzung als liturgischer Raum wirklich nicht<br />
möglich und verantwortbar ist, dann empfehlen sich sekundäre<br />
Nutzungen, die sich weiterhin im Glaubenskontext bewegen.<br />
Viele Kirchenräume haben eine solche Qualität, daß sie für Ausstellungen,<br />
Kunstaktionen, musikalische Vorhaben oder als<br />
Museum besonders geeignet sind. Auch wenn diese nicht immer<br />
direkt unter religiösem Vorzeichen stehen, scheinen in ihnen<br />
die Grundfragen menschlicher Existenz auf, so daß der<br />
Raum selbst schon als materialisiertes Glaubenszeugnis seine<br />
Akzente dazu zu setzen vermag.<br />
Wenn eine Umnutzung und ein Umbau außer Frage stehen,<br />
so sind die Verwendung als Sozialstationen, Kindergärten und<br />
Jugend-, Alters-, aber auch Wohnheime wichtige Nutzungsformen,<br />
die sich klar im Kontext christlichen Lebens bewegen.<br />
Das Kirchengebäude beherbergt dann weiterhin, wofür es auch<br />
nach außen hin steht.<br />
Sicher wird man nicht immer an einem Verkauf oder einem<br />
Abriß vorbeikommen; letzterer wird von manchen sogar bevorzugt,<br />
um Mißbrauch vorzubeugen, der z. B. für Gastronomie<br />
oder Diskotheken die religiöse Dimension als Werbegag<br />
oder Aushängeschild benutzt, ohne sie in irgendeiner Weise<br />
einzulösen. Man wird dies immer nur im einzelnen und vor<br />
Ort entscheiden können.<br />
Eine solche für die Gemeinde schmerzhafte Entscheidung<br />
sollte offen getroffen werden. Es empfiehlt sich, eine Schlie-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 362<br />
ßung mit einem abschließenden Gottesdienst zu begehen (Anregungen<br />
gibt die unten genannte Broschüre), in dem die Menschen<br />
auch wirklich „ihrem“ Kirchenraum „Adieu“ sagen können.<br />
Friedrich Lurz<br />
Literatur zum Thema:<br />
Umnutzung von Kirchenräumen. Beurteilungskriterien und Entscheidungshilfen.<br />
Hg. v. Sekretariat der deutschen Bischofskonferenz,<br />
Arbeitshilfen 175, Bonn 2003.<br />
Zu beziehen unter E-Mail: broschueren@dbk.de oder per Post:<br />
Sekretariat der Deutschen Bischofskonferenz, Kaiserstraße 161,<br />
D–53113 Bonn<br />
Indifferenz als Freiheit<br />
Zum Charisma der Gesellschaft Jesu<br />
Mit dem Stichwort „Freiheit“ wirft dieses Heft eine Frage<br />
auf, die – neben der Hinwendung zur Welt und zum<br />
Menschen und der Konzentration auf das einzelne menschliche<br />
Subjekt – das zentrale Motiv neuzeitlichen Denkens ist. Nachdem<br />
die mittelalterliche Welt als der bergende „Gesamtkosmos<br />
von Natur und christlichem Gemeinwesen“ untergegangen war<br />
– in den Katastrophen der Pest und des großen Abendländischen<br />
Schismas (Hansjürgen Verweyen) –, sucht das neuzeitliche<br />
Subjekt den Grund seiner Gewißheit in sich selbst. Den<br />
fragwürdig gewordenen Autoritätsansprüchen religiöser und<br />
politischer Provenienz setzt es ein Pathos der Vernunft, von<br />
Freiheit und Emanzipation entgegen, das in je spezifischer<br />
Weise einerseits zur Entwicklung moderner Naturwissenschaft<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
363 Engagiertes Christsein<br />
und Technik und andererseits eines säkularen, auf dem<br />
Grundgedanken unveräußerlicher Menschenrechte aufgebauten<br />
Staatswesens geführt hat. Daß sich diese Geschichte der<br />
Neuzeit in Feindschaft zwischen aufgeklärter Vernunft und<br />
christlichem Glauben und in der inneren Spaltung der abendländischen<br />
Christenheit vollzog, ist die große Tragik dieser Epoche<br />
– mit katastrophalen Folgen. Um so wichtiger sind heute<br />
jene Anläufe, die die innere Zusammengehörigkeit von Glaube,<br />
Freiheit und Vernunft aufweisen – am prominentesten im Denken<br />
Papst Benedikts XVI., der von einer Korrelationalität und<br />
Komplementarität von Vernunft und Religion, „die zu gegenseitiger<br />
Reinigung und Heilung berufen sind“, ausgeht.<br />
Die katholische Gestalt neuzeitlichen Denkens<br />
Mit der Konzentration auf den einzelnen in seiner Unmittelbarkeit<br />
zu Gott, wie sie in den „Geistlichen Übungen“ des hl.<br />
Ignatius von Loyola vorliegt, hat neuzeitlich geprägtes Denken<br />
einen epochalen Niederschlag im Raum katholischer Spiritualität<br />
und Theologie gefunden. „Die unter den einfachen Worten<br />
des Buches verborgene Theologie gehört zu den wichtigsten<br />
Grundlagen des abendländischen Christentums der Neuzeit, ja<br />
ist in der Schultheologie der Kirche und der üblichen Praxis der<br />
Frömmigkeit noch gar nicht völlig eingeholt, sondern hat eine<br />
große Zukunft.“ (Karl Rahner im Vorwort zu den Geistlichen<br />
Übungen des Ignatius von Loyola nach der Übersetzung von<br />
Adolf Haas; auch die Zitate des Exerzitienbuches [EB] sind dieser<br />
Ausgabe entnommen.) In diesem Sinne ist es nicht nur<br />
schön zu sehen, daß das Ignatianische insgesamt in jüngerer<br />
Zeit neues Interesse findet. Vielmehr richtet sich die Aufmerksamkeit<br />
inzwischen über die Spiritualität hinaus ganz ausdrücklich<br />
auch auf die – wie von Karl Rahner (s. o.) angemahnt – bisher<br />
noch nicht zur Gänze eingeholten eigentlich theologischen<br />
Implikationen der Exerzitien. Gerade Publikationen im Umfeld<br />
des 450. Todestages des hl. Ignatius von Loyola 2006 haben in<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 364<br />
diese Richtung gewiesen. Darüber hinaus sei an dieser Stelle<br />
auch an die seit einigen Jahren erscheinende Reihe „Ignatianische<br />
Impulse“ erinnert – vgl. unsere fortgesetzten Besprechungen<br />
–, die in zwischenzeitlich über 20 Bänden die gesamte<br />
Breite ignatianischen Denkens und jesuitischer Praxis reflektiert.<br />
(Die Ergebnisse der 35. Generalkongregation des Ordens<br />
Anfang 2008, die zum Abschluß dieses Artikels noch nicht vorlagen,<br />
konnten hier leider noch nicht berücksichtigt werden.)<br />
Freiheit – zur Hingabe<br />
Auf dem Weg der Exerzitien soll der Übende zu einer Lebensentscheidung<br />
gelangen, die er in radikaler Unmittelbarkeit zu<br />
Gott selbst findet. Im „Prinzip und Fundament“ der Geistlichen<br />
Übungen hält Ignatius fest, es sei „notwendig, uns allen geschaffenen<br />
Dingen gegenüber gleichmütig (indiferentes) zu verhalten<br />
in allem, was der Freiheit unseres freien Willens überlassen<br />
und nicht verboten ist“ (EB 23). Diese Indifferenz, „die<br />
biblisch Freiheit über alle Mächte und Gewalten heißt“ (Rahner),<br />
öffnet den Raum, in dem unmittelbar der „Schöpfer mit<br />
seinem Geschöpf und das Geschöpf mit seinem Schöpfer und<br />
Herrn wirken“ kann (EB 15). Als radikale Offenheit für Gott<br />
und seinen heiligen Willen realisiert sie umfassend das Wesen<br />
christlicher, biblischer Freiheit – die Freiheit von den Götzen,<br />
jenen Mächten, die den Menschen mit ihren angemaßten Ansprüchen<br />
versklaven und in Abhängigkeit halten. Zugleich, und<br />
hier liegt das Charakteristische, ist es bei aller selbstverständlichen<br />
Kirchlichkeit der Exerzitien die Unmittelbarkeit des<br />
Übenden zu Gott, „die für Ignatius auch alles Christliche und<br />
Kirchliche letztlich trägt und umfaßt“ (Rahner). Daß solche<br />
Freiheit nicht mit Bindungslosigkeit verwechselt werden kann,<br />
ist offensichtlich. Doch bleibt das Ergebnis der Wahl ausdrücklich<br />
dem unmittelbaren Wirken Gottes mit dem Übenden selbst<br />
überlassen. Denn es ist „beim Suchen des göttlichen Willens<br />
mehr angemessen und viel besser, daß der Schöpfer und Herr<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
365 Themen und Termine<br />
selber sich seiner ihm hingegebenen Seele mitteile ... und sie zu<br />
dem Weg bereit mache, auf dem sie ihm künftig besser dienen<br />
kann“ (ebd.). Und so öffnet sich die Freiheit in die Hingabe an<br />
den Willen Gottes, ausgedrückt in jenem ergreifenden Gebet in<br />
der „Betrachtung zur Erlangung der Liebe“: „Nimm hin, Herr,<br />
und empfange meine ganze Freiheit, mein Gedächtnis, meinen<br />
Verstand und meinen ganzen Willen, meine ganze Habe und<br />
meinen Besitz; Du hast es mir gegeben, Dir, Herr, gebe ich es<br />
zurück; alles ist Dein, verfüge nach Deinem ganzen Willen; gib<br />
mir Deine Liebe und Gnade, das ist mir genug.“ (EB 234)<br />
Informationen im Internet: www.jesuiten.org<br />
Tobias Licht<br />
Weltjugendtag in Sydney<br />
Das von Johannes Paul II. ins Leben gerufene Jugendfestival<br />
wird in diesem Jahr nun schon zum 23. Mal gefeiert. Und<br />
doch zum ersten Mal auf einem neuen Kontinent, nämlich in<br />
Australien. Genau 16 591 Kilometer von Köln, wo der letzte<br />
Weltjugendtag stattfand, entfernt. Australien – nicht unbedingt<br />
ein Ort, der sofort in den Blick der Weltkirche gerät: Nur insgesamt<br />
fünf Millionen, das ist rund ein Viertel der Gesamtbevölkerung<br />
Australiens, sind Katholiken.<br />
Doch die Begeisterung trägt auch in den vermeintlich weiten<br />
Kontinent: „Mit großer Freude denke ich noch immer an die<br />
verschiedenen Momente, die wir im August 2005 in Köln gemeinsam<br />
erlebt haben“, schreibt Benedikt XVI. in seiner Grußbotschaft<br />
zum Weltjugendtag 2008. Es waren auch für ihn unvergeßliche<br />
Tage, als der damals „neue“ Papst mit begeisterten<br />
„Bene-detto!“-Rufen von den Jugendlichen in der überfüllten<br />
Innenstadt und am Rheinufer begrüßt und gefeiert wurde.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
August 2008<br />
„Gottes Schönheit“<br />
Wir haben seine Herrlichkeit gesehen,<br />
die Herrlichkeit des einzigen Sohnes vom Vater,<br />
voll Gnade und Wahrheit.<br />
Evangelium nach Johannes – Kapitel 1, Vers 14b<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Natürliche Schönheit kommt von innen“ – vielleicht erinnern<br />
Sie sich an diesen Slogan. Er bezog sich auf ein Präparat,<br />
das im Gegensatz zu äußerlichen Kosmetika in Form von<br />
Pillen einnehmbar war. So ganz überzeugen konnte diese Werbung<br />
nicht – auch die Pillen kamen ja noch von außen.<br />
Nehmen wir aber den Satz einmal ernst! Wenn wir unsere<br />
Welt anschauen und das, was in ihr zählt, mag es bisweilen<br />
scheinen, der Anfang des Evangeliums vom 27. August (s. S. 299)<br />
sei auf sie gemünzt. Wie viel anders, ja, ich möchte sagen: schöner<br />
wäre sie, wenn wir den Slogan beherzigten und uns mehr<br />
um die Pflege unseres Inneren kümmerten. Vielleicht bietet<br />
uns der August dank Urlaub oder Sommerloch dazu Gelegenheit.<br />
Wie aber fangen wir an? Heinrich Seuse, der spätmittelalterliche<br />
Mystiker, zeigt uns einen Weg (s. S. 301): Gottes Schönheit<br />
in uns wiederzuentdecken, könnte das nicht vieles, und<br />
zwar wesentliches, verändern? Das klingt einfach, werden Sie<br />
mir jetzt entgegenhalten, fast zu schön, um wahr zu sein. Ja,<br />
richtig, es dreht sich um etwas ganz Einfaches: darum, Abstand<br />
zu gewinnen von all dem, was wir meinen, tun zu müssen, und<br />
in Stille mit der Tiefe unserer Seele in Berührung zu kommen.<br />
Aber gerade das fällt uns so schwer: einmal wirklich nichts zu<br />
tun, sondern tief durchzuatmen und mit Offenheit und Aufmerksamkeit<br />
schlicht da zu sein, uns einmal wirklich auf Gott<br />
einzulassen und ihm Gelegenheit zu geben, bei uns anzukommen<br />
und seine Kräfte in uns zur Entfaltung zu bringen.<br />
Nun mache ich fast zu viel Worte, um ihnen nahezubringen,<br />
was mir so wesentlich scheint. Ein geistlicher Lehrer hat es einmal<br />
so gesagt: Es geht darum, sich von Gott lieben zu lassen.<br />
Versuchen Sie es, seien Sie da für Gott. Ich wünsche Ihnen, daß<br />
Sie sich von ihm geliebt erfahren.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Verklärung Christi<br />
Evangeliar Ottos III., Reichenau, um 1000,<br />
Clm 4453, fol. 113r,<br />
© Bayerische Staatsbibliothek, München<br />
Das Evangeliar Ottos III., das gegen Ende des 10. Jahrhunderts entstand, wurde<br />
verschiedentlich Heinrich II. zugeordnet, was aber stilistisch nicht zu vertreten<br />
ist. Die Gestaltung der Miniaturen verweist auf frühere Vorbilder. Das zeigt sich<br />
in der Qualität der Illustrationen, in der Zeichnung der Figuren und im Umgang<br />
mit den Farben, die später weniger weich und warm wirken. So gilt heute diese<br />
Handschrift als Höhepunkt der Reichenauer Buchmalerei, zur Liuthargruppe<br />
gehörig. Sie enthält zwölf Kanontafeln, vier Initialzierseiten und 35 Miniaturen.<br />
Die Miniaturen weisen einen breiten christologischen Zyklus auf – im Sinne<br />
einer Harmonisierung der Evangelientexte –, wobei die Bilder meistens passend<br />
zu den Textstellen angeordnet sind. Ein rechteckiger Rahmen umgibt alle<br />
Miniaturen, und die Figuren heben sich von einem meist goldenen Hintergrund<br />
ab.<br />
Daß die Illustration nicht von nur einer Hand erfolgte, mindert nicht die<br />
hohe Qualität der Bilder, die insgesamt sehr einheitlich wirken. Exakt zu unterscheiden,<br />
welche Maler bestimmte Teile ausgestattet haben, ist nicht möglich.<br />
Wichtig ist, daß für die Handschrift keine unterschiedlichen Entstehungszeiten<br />
anzunehmen sind.<br />
Mehrfach wird die Handschrift in Inventarlisten des Bamberger Domschatzes<br />
aufgeführt, so 1554, 1726 u. ö.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Auf ihn sollt ihr hören<br />
Alles konzentriert sich in unserem Titelbild auf die lichte<br />
Christusgestalt auf dem Gipfel eines durch Erdschollen gebildeten<br />
Berges. Ein Malermönch von der Reichenau fokussiert<br />
im Evangeliar Ottos III. (um 1000) die Verklärung Christi auf<br />
Tabor ganz auf die Gestalt Jesu im Zentrum des Bildes. Den drei<br />
hell gekleideten Personen in der oberen Bildhälfte, Jesus, Mose<br />
und Elija, entsprechen die drei dunkler gekleideten Jünger im<br />
unteren Teil, Petrus links und Jakobus und Johannes rechts.<br />
Was hier geschieht, kann nur von Gott her verstanden werden.<br />
Diese Überzeugung drückt der Maler durch den Goldgrund<br />
des Bildes aus. Zwar hat er dem Bild einen schmalen<br />
dunklen Rahmen gegeben, aber durch den goldenen Hintergrund<br />
läßt er eine größere, unendliche Weite ahnen. Im Taborgeschehen<br />
scheint die Herrlichkeit auf, aus der Jesus kommt<br />
und in die er, durch den Tod hindurch, zurückkehrt.<br />
Jesus hat jene drei Jünger mitgenommen auf den Berg, die<br />
auch später im Garten Getsemani dabei sein werden. Für einen<br />
Augenblick dürfen sie den göttlichen Lichtglanz sehen, der in<br />
der irdischen Wirklichkeit Jesu sonst verborgen ist.<br />
Was die Jünger sehen, erschreckt und fasziniert sie zugleich:<br />
Sie sehen Jesus in einem blendenden Licht und bei ihm die beiden<br />
Gestalten des Alten Bundes, Mose, der am Anfang der<br />
Geschichte Israels eine bedeutsame Rolle spielt, und Elija, von<br />
dem erwartet wird, daß er als Prophet am Ende der Tage wiederkehrt.<br />
Der Evangelist Matthäus sagt ganz knapp: „Da erschienen<br />
plötzlich vor ihren Augen Mose und Elija und redeten<br />
mit Jesus.“ (Mt 17, 3) Was sie bereden, spart er und spart auch<br />
Markus aus. Nur Lukas sagt: Sie „sprachen von seinem Ende,<br />
das sich in Jerusalem erfüllen sollte“ (Lk 9, 31).<br />
Der Maler taucht die drei Gestalten auf dem Gipfel in ein<br />
grünliches Licht, was die blassen Farben der Kleider unterstreicht<br />
und das Geschehen dem Raum der Realität ein Stück<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
entrückt. Die Hände betend erhoben, überragt die Christusgestalt<br />
die beiden anderen. Jesu Blick geht in unendliche Fernen.<br />
Das Kreuz in seinem Nimbus nimmt die bevorstehende Passion<br />
vorweg.<br />
Mose und Elija schauen wie gebannt auf Jesu leuchtendes Gesicht<br />
und strecken ihm beide Hände entgegen. Ihre Haltung<br />
drückt Einverständnis aus mit dem, was hier geschieht.<br />
Während Jesus völlige Ruhe ausstrahlt, gleichsam versunken<br />
ist in das, was sich an ihm vollzieht, gerät Petrus in Bewegung.<br />
Er will den Glanz dieses wunderbaren Ereignisses festhalten.<br />
Seine Hände weisen nach oben, er möchte sogleich auf den<br />
Gipfel klettern, um hier Hütten zu bauen: „Herr, es ist gut, daß<br />
wir hier sind. Wenn du willst, werde ich hier drei Hütten<br />
bauen, eine für dich, eine für Mose, eine für Elija.“ (Mt 17, 4)<br />
Ganz anders verhalten sich Jakobus (in ein violettes Gewand<br />
gehüllt) und Johannes (mit rotem Gewand, das an den Lieblingsjünger<br />
erinnert). Sie wollen sich verbergen, schauen weg<br />
von dem blendenden Licht. Ihre Augen sind vor Angst weit geöffnet.<br />
Matthäus spricht von dem Empfinden der Jünger, nachdem<br />
sie eine Stimme aus der Wolke vernommen haben und<br />
diese Wolke ihren Schatten auf sie wirft: Sie bekamen „große<br />
Angst und warfen sich mit dem Gesicht zu Boden“ (Mt 17, 6).<br />
So stilisiert, wie der Maler den mit Blumen und Gräsern bewachsenen<br />
Berg darstellt, so stilisiert er auch die Wolke am<br />
oberen Rand des Bildes. Die Hand Gottes, die sich aus der<br />
Wolke zu Jesus herabneigt, hält ein aus Flammen gebildetes<br />
Kreuz. Es ist einmal ein Zeichen des Leidens und Sterbens, das<br />
in Jerusalem auf Jesus zukommen wird. Zugleich aber weist<br />
seine goldene Farbe darauf hin, daß der Tod nicht das letzte<br />
Wort haben wird. Vielleicht sprechen die „Flammen“ in der<br />
Wolke auch von der Anwesenheit des Geistes Gottes. Der Maler<br />
will hier keine naturgetreue Schilderung bieten, sondern<br />
eine Glaubenswirklichkeit illustrieren, die sich letztlich jeder<br />
Illustration entzieht.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
Der Taborglanz verblaßt sehr bald wieder. Was den Jüngern<br />
bleibt, ist das, was die Stimme Gottes zu ihnen sagt: „Das ist<br />
mein geliebter Sohn, an dem ich Gefallen gefunden habe; auf<br />
ihn sollt ihr hören.“ (Mt 17, 5) Der Schatten der Wolke über<br />
den Jüngern ruft sie in ihre Wirklichkeit zurück. Dort gilt es,<br />
sich an Jesus zu halten, sein Wort zu hören und zu befolgen.<br />
Das gilt auch für Petrus, der in seinem Übereifer den Glückszustand<br />
auf Tabor gern festhalten möchte.<br />
Wer könnte Petrus nicht verstehen? Endlich sieht er etwas<br />
von Jesu wahrer Wirklichkeit, an die er geglaubt hat, als er sich<br />
Jesus anschloß. Und schon soll er das wieder loslassen.<br />
Geht es uns anders? Stunden oder Augenblicke des Glücks,<br />
der Gewißheit des Glaubens, sind selten. Sie machen so vieles<br />
einfacher, als wenn die Zweifel an uns nagen, ob das, was wir<br />
einmal gelernt haben, denn wirklich heute noch Gültigkeit hat.<br />
Auch für Jesus war die Erfahrung auf Tabor nur eine „Momentaufnahme“,<br />
die ihn aber der Nähe des Vaters versicherte<br />
und ihn darin bestärkte, seinen Weg weiterzugehen, trotz der<br />
Dunkelheiten, die in Jerusalem auf ihn warteten.<br />
Erfahrungen der Nähe Gottes können auch uns ermutigen,<br />
den Weg des Glaubens weiterzugehen im Vertrauen, daß Gott<br />
uns immer wieder Augenblicke der intensiven Begegnung mit<br />
ihm schenken wird, damit wir in Not und Anfechtung nicht<br />
kapitulieren.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
349 Thema des Monats<br />
„... die Schönheit selbst“<br />
Gott ist schön<br />
Vielen Dank für den schönen Abend!“, so verabschieden wir<br />
uns nach geselligen Stunden, die uns belebt und bereichert<br />
haben. „Das war aber nicht schön von dir“, mit diesen Worten<br />
tadeln wir eine Handlung, die uns unrecht erscheint, etwa eine<br />
verletzende Bemerkung oder ein unsolidarisches Verhalten.<br />
„Einen schönen Gruß von meinen Eltern“ nehmen wir gerne<br />
entgegen. „Ich will noch nicht nach Hause, hier ist es so<br />
schön!“, bittet das Kind. „Das hast du schön gemacht“ – dieses<br />
Lob kann sich ebenso auf die Lösung einer Mathematikaufgabe<br />
beziehen wie auf den perfekten Handstand.<br />
Wenn wir im Alltag das Wort „schön“ verwenden, ist häufig<br />
mehr im Blick als ästhetische Qualität allein. „Schön“ ist ein<br />
Signalwort für das Erleben von Zufriedenheit, für Zustimmung,<br />
Begeisterung, Wertschätzung, Genuß, Glücken, ja für Glück,<br />
und nicht selten hat das Wort eine ethische Dimension. Umgekehrt<br />
könnte man sagen: Wenn wir einen Abend, eine Tat, eine<br />
Leistung, einen Gruß „schön“ nennen, bringen wir zum Ausdruck,<br />
daß in all diesen unterschiedlichen Wirklichkeiten eine<br />
weitere, ganz eigene Dimension mitschwingt, die mit Staunen,<br />
Entzücken, Wohlgefallen, Berührtwerden, vielleicht mit einer<br />
Ahnung von Vollkommenheit zu tun hat.<br />
Gut und schön<br />
In der Bibel (Gen 1, 31) würdigt Gott das Werk des sechsten<br />
Tages, die Erschaffung der Menschen, als „tov meod“, als „sehr<br />
gut“. Die griechische Bibelübersetzung sagt hier „kala lian“,<br />
„sehr schön“. Sowohl das griechische „kalos“ als auch das hebräische<br />
„tov“ weisen eine ästhetische Dimension auf und<br />
zeigen zugleich Zweckmäßigkeit, Gelingen, Richtigkeit an.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 350<br />
In der griechischen Antike, insbesondere in der Philosophie<br />
des Aristoteles, spielt die „Kalokagathie“ (aus den griechischen<br />
Wörtern kalos, schön, und agathos, gut, zusammengesetzt)<br />
eine große Rolle. Platon ordnet die Schönheit dem Reich der<br />
Ideen zu; sie ist die Einheit des Guten und Wahren. Redewendungen,<br />
die wir vielleicht gedankenlos gebrauchen (vgl. z. B.<br />
„das ist ja alles gut und schön ...“), zeigen, wie nahe sich auch<br />
nach unserem Empfinden das Gute und das Schöne stehen. Im<br />
Französischen sagt man umgangssprachlich-floskelhaft „schöngut“<br />
(„beaux-bien, und was machen wir jetzt?“), schön-gut,<br />
gleichsam ein Wort, ein Atemzug.<br />
Gott ist schön<br />
Gott ist gut – das geht uns flüssig über die Lippen, diese fundamentale<br />
Einsicht ist uns vertraut. Gott ist schön, dieser Satz ist<br />
ungewohnter, fremder. Das Evangelium von Gottes Kenosis,<br />
vom Weg des göttlichen Logos, der aus Liebe aus der Herrlichkeit<br />
und Klarheit Gottes in die unansehnliche, ja häßliche<br />
Wirklichkeit von Sünde, Gewalt und Tod hineingeht, treibt die<br />
christliche Lehre von der Schönheit Gottes um, beunruhigt sie<br />
von innen her und prägt ihr ein unvergleichliches Siegel auf.<br />
Aus der Feder des Schweizer katholischen Theologen Hans<br />
Urs von Balthasar (1905–1988) stammt der bislang einzige Gesamtentwurf<br />
zum Verhältnis von Ästhetik (Wahrnehmungslehre,<br />
Lehre vom Schönen) und Theologie. Die aus den Zeugnissen<br />
der Bibel erschlossene, in der Theologie der Väterzeit<br />
grundgelegte und in der Theologie des Mittelalters entfaltete<br />
Lehre von der Schönheit Gottes darf von Balthasar zufolge nie<br />
aufgegeben und muß immer neu entdeckt werden, denn sie<br />
„leistet die Gewähr, Gott in seiner Göttlichkeit zu erkennen,<br />
jenseits aller Verzweckungen in entzückter Verehrung anzubeten<br />
und dem grübelnden Mißmut der Aufklärung die Freude<br />
des Christentums überzeugend entgegenzusetzen“ – so Gottfried<br />
Bachl über von Balthasars Theologie der Herrlichkeit. Alle<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
351 Thema des Monats<br />
Schönheit der Welt, ihre Tiefe und Fülle, ist zuerst und zuletzt<br />
ein Hinweis auf die leuchtende Schönheit Gottes. Für diese gebraucht<br />
von Balthasar im Anschluß an seinen Landsmann, den<br />
großen evangelischen Kollegen Karl Barth (1886–1968), den<br />
biblischen Begriff der Herrlichkeit.<br />
Gottes bezwingende Ausstrahlung<br />
„Herrlichkeit“ übersetzt die biblischen Ausdrücke „kabod“ (hebräisch),<br />
„doxa“ (griechisch) und „gloria“ (lateinisch). Die Bedeutungsfülle<br />
dieser Wörter läßt sich kaum auf einen Nenner<br />
bringen. Ein Bedeutungskern ist die bezwingende Ausstrahlung,<br />
das alles geschöpfliche Maß sprengende Leuchten und<br />
Glänzen Gottes im Geschehen der Liebe. Bevorzugt Lichtmetaphern<br />
(Gott als unerträglicher Lichtglanz, als überfließende<br />
Lichtquelle, als lebenschaffende, durchdringende und dunkle<br />
Machenschaften „an den Tag bringende“, aufklärende Sonne)<br />
weisen biblisch, in theologischer Tradition und in der Sprache<br />
des Gebets auf Gottes Herrlichkeit hin. Die göttliche Herrlichkeit<br />
zeigt sich als Schönheit, Gott ist die „unerreichbare Urschönheit“<br />
(Karl Barth). Gott liebt seine Schöpfung unbedingt<br />
und in unbedingter Freiheit; es ist diese Liebe, die Gott schön<br />
macht – staunenswert, anziehend, ansprechend, begehrenswert.<br />
Gottes Schönheit übertrifft unsere genormten Erwartungen,<br />
verändert unsere Maßstäbe, erneuert uns selbst.<br />
Schönheit im Blick<br />
Bin ich schön? Eine Frage, die nicht nur Heranwachsende stellen.<br />
Unsere gesellschaftlichen Schönheitsnormen geben, einengend<br />
und beängstigend, ein faktisch unerreichbares Ideal vor,<br />
das gerade Jugendliche verunsichert, ihr Selbstbild verzerrt und<br />
es ihnen schwer macht, sich selbst anzunehmen. In der Bibel<br />
ist Schönheit vor allem eine Eigenschaft, die in den Augen eines<br />
oder einer anderen entsteht, eine Qualität, die aus der Bezie-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 352<br />
hung wächst. Das Hohelied kennt eine Fülle von Bildern für die<br />
Schönheit des geliebten Menschen, die weniger objektivierend<br />
beschreiben als von den Wirkungen sprechen, die von dem bewunderten<br />
und begehrten Gegenüber ausgehen. „Das Schönheitsideal<br />
ist kein Körper-, sondern ein Verhältnisideal“, betonen<br />
darum die Alttestamentler Sylvia Schroer und Thomas<br />
Staubli. Wer biblisch denkt, darf, ja muß den Satz „Wer schön<br />
ist, wird geliebt“ ergänzen: „Wer geliebt wird, ist schön“! Und<br />
mit dem Blick auf die alle Spaltung, allen Haß, allen Selbsthaß<br />
und alle Häßlichkeit heilende Liebe Gottes darf man sagen:<br />
„Einzig schön ist, wer liebt.“<br />
Der Blick Gottes, dem das Attribut der Schönheit allein zukommt,<br />
auf die Menschen – auf alle Menschen und auf jeden<br />
und jede besonders – ist dieser liebende Blick, der schön<br />
macht. Im „Cherubinischen Wandersmann“, der Spruchsammlung<br />
des Barocktheologen und -dichters Johann Scheffler bringt<br />
ein Distichon diese tiefe theologische Wahrheit kühn und<br />
knapp zum Ausdruck:<br />
„Kein Ding ist hier noch dort, das schöner ist als ich, / weil<br />
Gott, die Schönheit selbst, sich hat verliebt in mich.“<br />
Susanne Sandherr<br />
Der schöne und der entstellte Christus<br />
in der Kunst<br />
Die Fragen, die Jesus seinen Jüngern bei Cäsarea Philippi<br />
stellt: „Für wen halten mich die Menschen?“ und „Ihr<br />
aber, für wen haltet ihr mich?“ (Mk 8, 27.29), stehen letztlich<br />
auch hinter den Christus-Darstellungen in der Kunst verschiedener<br />
Epochen. Die jeweilige Gestaltung bringt die Antwort des<br />
Künstlers, der Künstlerin zum Ausdruck.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
353 Unter die Lupe genommen<br />
Das Bilderverbot des Alten Testaments (Ex 20, 4: „Du sollst<br />
dir kein Gottesbild machen“) verbietet den Juden, Gott konkret<br />
darzustellen. Dabei meint dieses zweite der zehn Gebote nicht<br />
primär das Verbot einer künstlerischen Darstellung Gottes.<br />
Vielmehr will es auf die Gefahr hinweisen, Gott mit Götzen<br />
(von Menschen geschaffenen Dingen) zu verwechseln bzw.<br />
Gott festzulegen auf eine ganz bestimmte bildhafte Vorstellung<br />
von Gott. Gott läßt sich nicht auf das Maß menschlicher Gestaltungsmöglichkeit<br />
beschränken.<br />
In der Menschwerdung Jesu eröffnet sich den Christen eine<br />
Möglichkeit, Jesus Christus als Bild und Abbild Gottes darzustellen,<br />
ohne das biblische Bilderverbot damit auszuhebeln. Bei<br />
aller künstlerischen Gestaltungskraft muß dabei das Geheimnis<br />
Christi als Gottes- und Menschensohn gewahrt bleiben. Kein<br />
Bild kann dieses Geheimnis als Ganzes widerspiegeln, so daß<br />
die Vielfalt der Bilder jeweils nur einzelne Aspekte des Gott-<br />
Menschen Jesus Christus zeigt.<br />
Während in der Anfangszeit der Christen die mündliche<br />
Weitergabe der Botschaft vom Leben und Wirken Jesu im<br />
Vordergrund der Verkündigung steht, werden ab dem 3. Jahrhundert<br />
symbolische Darstellungen zunehmend wichtig. Das<br />
Christus-Monogramm (XP) mag die Christen dabei an das Tetragramm<br />
(JHWH) im Judentum erinnert haben. Christus-Symbole<br />
wie der Fisch, das Brot, das Kreuz u. a. weisen auf Ereignisse<br />
aus dem Leben Jesu, und die Darstellung z. B. als Hirt<br />
verdeutlicht sein Dasein für die Menschen.<br />
Die unterschiedlichen Christus-Bilder vergangener Jahrhunderte<br />
sind immer auch ein Spiegelbild ihrer Zeit. Wenn Jesus<br />
Christus „das Ebenbild des unsichtbaren Gottes“ (Kol 1, 15) ist,<br />
dann wird verständlich, daß die höchste Würde, die Gott zukommt,<br />
sich in ihm widerspiegelt. Die Herrlichkeit und Schönheit<br />
Gottes auf dem Antlitz Christi zeigen z. B. die Ikonen. Wo<br />
Christus in herrscherlicher oder richterlicher Funktion gemalt<br />
wird, erweist sich seine Herrschaft als Herrschaft der Liebe.<br />
Und selbst da, wo seit dem 5. Jahrhundert Christus am Kreuz<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 354<br />
dargestellt wird, erscheint er zunächst nicht als der Leidende,<br />
sondern als der Triumphierende, der den Sieg über Leiden und<br />
Tod errungen hat.<br />
Erst seit dem 9. Jahrhundert begegnet uns der Gekreuzigte<br />
zunehmend als Leidender, um die Gläubigen dazu anzuregen,<br />
das Leiden des Erlösers „für uns“ zu meditieren. Daß sich daraus<br />
im Mittelalter ein sogenannter „Passionsrealismus“ entwickelte,<br />
ein bewußtes Zeigen der Striemen der Geißelung, der<br />
Qualen der Dornenkrönung und des ganzen blutüberströmten<br />
Körpers Jesu mit den Wundmalen, findet seinen Anhaltspunkt<br />
im vierten Lied vom Gottesknecht bei Deuterojesaja. Dort heißt<br />
es: „Er hatte keine schöne und edle Gestalt, so daß wir ihn anschauen<br />
mochten. Er sah nicht so aus, daß wir Gefallen fanden<br />
an ihm. Er wurde verachtet und von den Menschen gemieden,<br />
ein Mann voller Schmerzen, mit Krankheit vertraut. Wie einer,<br />
vor dem man das Gesicht verhüllt, war er verachtet; wir schätzten<br />
ihn nicht.“ (Jes 53, 2 f.)<br />
Solche Darstellungen zeigen den entstellten Christus, lassen<br />
nichts Göttliches mehr erahnen. Ja, hier ist kaum noch etwas<br />
von menschlicher Würde zu erkennen. Statt von äußerer<br />
Schönheit gepackt zu werden – wie etwa beim „Beau Dieu“ im<br />
Gerichtsportal in Chartres (13./14. Jahrhundert) –, sollen die<br />
Betrachtenden sich auf die „innere Schönheit“ in Wort und Tat<br />
Jesu besinnen.<br />
Das berühmte Kreuzigungsbild des Isenheimer Altares von<br />
„Grünewald“ (um 1525) spricht hier eine deutliche Sprache.<br />
Erst zusammen mit der Darstellung der Auferstehung Jesu auf<br />
der Innenseite dieses Altarbildes wird Christus als Bild des erlösten<br />
Menschen deutlich.<br />
Die in der Neuzeit erfolgende Wende zum Menschen, die mit<br />
einer größeren Distanz zum Göttlichen einhergeht, betont den<br />
leidenden Jesus, der eines grausamen Todes stirbt. Die Schrecknisse<br />
des 20. Jahrhunderts schließlich (zwei Weltkriege, Auschwitz,<br />
Hiroshima u. a.) führen in der Kunst dazu, daß die Gestalt<br />
Jesu in die Situation der leidenden Menschen heute<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
355 Unter die Lupe genommen<br />
hineingestellt wird. Sein Gesicht erscheint austauschbar durch<br />
Gesichter der Unmenschlichkeit, wie sie die Zerstörung des<br />
Menschen und seiner Würde hervorruft.<br />
Eine radikale Glaubenskrise, „Gott ist tot“, fordert ein neues<br />
Verständnis des Prophetenwortes: „Er hatte keine schöne und<br />
edle Gestalt ...“, fordert eine neue Weise, gegenwärtiges Leiden<br />
und Sterben mit dem leidenden und sterbenden Jesus zu verbinden.<br />
Christus ist nicht mehr so darstellbar wie im Mittelalter.<br />
Manchmal läßt sich heute in Symbolen und Chiffren die religiöse<br />
Dimension eines Bildes nur erahnen. Damit knüpfen<br />
Künstler wieder an die ersten Christus-Bilder an. Hier braucht<br />
es eine intensive Beschäftigung mit den Bildern, um ihre Botschaft<br />
zu verstehen. Roland Peter Litzenburger z. B. hat ein Bild<br />
geschaffen, das den Titel trägt „Christus, der Narr“ (1978). Im<br />
Chaos unserer Welt ist Christus für uns zum Narren geworden,<br />
um sich mit uns in unserer Erniedrigung zu solidarisieren.<br />
Während die Christus-Bilder früherer Zeiten primär als Spiegel<br />
Gottes gesehen werden konnten, sind sie heute stärker ein<br />
Spiegelbild des Menschen, seines Leidens, seiner Zerrissenheit.<br />
Dennoch wollen sie dem Menschen heute helfen, den Weg zu<br />
Gott wiederzufinden.<br />
Wenn Christus-Bilder als je persönliche Antwort der Kunstschaffenden<br />
verstanden werden dürfen, dann können sie auch<br />
uns ermutigen, entsprechend unserer Beziehung zu Jesus Christus<br />
ein eigenes Bild von ihm „zu malen“. Es muß nicht in Farbe<br />
oder Form gestaltet werden; aber es kann als unser inneres<br />
„Selbstbildnis“ von ihm die Funktion eines Leitbildes gewinnen.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 356<br />
„Ich singe mit, wenn alles singt“<br />
Ein irdischer und himmlischer Sommer-Gesang<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 133, 142 f. und 161 f.<br />
Paul Gerhardts (1607–1682) „Sommer-Gesang“ aus dem<br />
Jahre 1653 ruft in mir schöne Erinnerungen wach: an unbeschwerte<br />
Sommertage, an Augenblicke der Lebensfreude,<br />
Leichtigkeit und Fülle. In ganzer Länge habe ich das Lied wohl<br />
nie gesungen, vertraut sind mir vor allem die ersten drei Strophen<br />
und die achte Strophe. Besonders die Verse „Narzissus<br />
und die Tulipan, / die ziehen sich viel schöner an / als Salomonis<br />
Seide“ haben es mir seit jeher angetan. Aber auch die<br />
Einladung „Schau an der schönen Gärten Zier, / und siehe, wie<br />
sie mir und dir / sich ausgeschmücket haben“ bewegt mich<br />
noch heute.<br />
Schau an<br />
Paul Gerhardts „Sommer-Gesang“ ist ein frommes, belehrendes<br />
Lied. Doch nicht im Aufsagen von Lehrsätzen ist das Gedicht<br />
des lutherischen Pfarrers groß, sondern im Einladen, Sinne-<br />
Öffnen, Aufwecken, Begeistern. Nicht das Grau-in-Grau einer<br />
überraschungsfreien Theorie, sondern der mit immer neuen<br />
Überraschungen aufwartende Farben- und Formenreichtum<br />
eines leuchtenden Sommertags kommt hier zu Wort und ins<br />
Bild. Dieser reiche „Sommer-Gesang“ will den Glauben stärken,<br />
nicht auf abstrakte, unsinnliche Weise, sondern indem er<br />
alle Sinne anspricht und beansprucht, allen voran den Gesichtssinn.<br />
Die Aufforderungen „schau an“, „siehe“ (2. Strophe)<br />
möchten die Wahrnehmung des Herzens schärfen für die unüberschaubare<br />
Fülle der sommerlichen Gartenumgebung, für<br />
die kostbare Vielfalt dessen, was sich hier regt und bewegt.<br />
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357 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
Im Überfluß<br />
Die Leichtigkeit und Vielgestaltigkeit der Gartenlust bildet sich<br />
in der Leichtfüßigkeit und Beweglichkeit der Sprache ab. Alliterationen<br />
(Gottes Gaben; schau ... schönen; Salomonis Seide;<br />
führt ihr Völklein; Weizen wächset mit Gewalt; große Güte;<br />
Gut begabt) und Assonanzen (Geh ... Herz; Zier ... siehe, wie<br />
sie mir und dir; Sand ... malen ... Rand ... schattenreichen u. ö.)<br />
begegnen häufig. Variierende Doppelungen (mir und dir; ergötzt<br />
und füllt; baut und bewohnt; hin und her; hier und da;<br />
Mund und Stimm; Blum und Pflanz; hier und dort) und Aufzählungen<br />
(Berg, Hügel, Wald und Felder; Glucke ... Storch ...<br />
Schwälblein ... Hirsch ... Reh) malen ein Bild überbordender<br />
Lebendigkeit, Fülle und Bewegungsvielfalt. Der Hörer und Mitsänger<br />
des geistlichen Liedes bekommt viele Angebote, sich mit<br />
dem sprechenden Ich zu identifizieren, hineinzufinden in seine<br />
hellwache Sommerfreude: Ausrufe, rhetorische Fragen, Aufforderungen<br />
zur Schärfung der Wahrnehmung und zu frohem<br />
Staunen, lebhafte Ich-Aussagen und ausdrückliche Du-Anrede<br />
tragen dazu bei.<br />
Das Stichwort „überfließend“ in der siebten Strophe bündelt<br />
den Gesamteindruck prägnant: Nicht Mangel, nicht Knappheit,<br />
nicht Korrektheit, sondern Überfluß und Überfülle prägen dieses<br />
Sommerbild; es sind die unveränderlichen Kennzeichen des<br />
Schöpfers, seiner großzügig begabenden und labenden Güte.<br />
Aus meinem Herzen rinnen<br />
Was impressionistisch leicht hingetupft erscheint, ist doch umsichtig<br />
gebaut. Nach der siebten Strophe setzt das Gedicht neu<br />
ein. Wie in der ersten Strophe das Ich das eigene Herz aufmuntert,<br />
aus sich herauszugehen und sich an den sommerlichen<br />
Gottesgaben zu freuen, so artikuliert in der achten Strophe<br />
das Ich seine Antwort auf die erkannten „Gottes Gaben“<br />
(1. Strophe), auf „Gottes großes Tun“ (8. Strophe). Aus dem<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 358<br />
Schauen und Staunen (1.–7. Strophe) erwächst das Loben: „ich<br />
singe mit, wenn alles singt, / und lasse, was dem Höchsten<br />
klingt, / aus meinem Herzen rinnen.“<br />
Christi Garten<br />
Das Du, das in der neunten Strophe angesprochen wird, läßt es<br />
„uns so lieblich gehen / auf dieser armen Erden“. Es ist das göttliche<br />
Du, das hier in der Sprache des Hohenliedes „so schön“<br />
(9. Strophe) und „süßer Gott“ (11. Strophe) genannt wird. Was<br />
ist die gerühmte sommerliche Zier des irdischen Gartens im<br />
Vergleich zu jenem anderen Friedens-Ort? Dem frischen Grün<br />
des Erdensommers steht das unvergängliche, strahlend schöne<br />
Gold von „Christi Garten“ gegenüber (10. Strophe).<br />
Loben als Lebensform<br />
Das Gegenüber wird aber nicht zum unüberwindlichen Gegensatz.<br />
Frohes Loben (8., 10. bis 12. Strophe) verbindet schon<br />
jetzt die staunenswert schöne Natur, unseren irdischen Gottesgarten,<br />
mit „Christi Garten“, dem jenseitigen Sehnsuchtsort<br />
und unvergleichlichen himmlischen Paradiesgärtlein. Beide<br />
werden nicht nur von Menschen und Engeln besungen, sie<br />
selbst singen. Ihre Daseinsweise ist, „hier und dort ewig“<br />
(15. Strophe), klingender, schwingender Sommer-Gesang.<br />
Durch stetiges Blühen, reiche Glaubensfrüchte (13. Strophe)<br />
und feste Verwurzelung (14. Strophe), als „guter Baum“,<br />
„schöne Blum / und Pflanze“ (ebd.) stimmt auch der Mensch,<br />
„an diesem und an allem Ort“ (12. Strophe), mit Gottes Hilfe in<br />
das Loblied seines Sommergartens ein.<br />
Susanne Sandherr<br />
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359 Die Mitte erschließen<br />
Der Kreuzweg<br />
Ein Beispiel für gottesdienstliche Bildorte<br />
Bilder im Kirchenraum hatten und haben sowohl in einzelnen<br />
Epochen als auch in den Konfessionen und Regionen<br />
der Christenheit sehr unterschiedlichen Stellenwert und sehr<br />
differenzierte Funktion. Das Christentum kennt sowohl den<br />
Bildersturm als auch die Bilderverehrung. Entsprechend bilderlos<br />
und bilderreich können sich unsere Kirchenräume darstellen:<br />
Während so manche Barockkirche in Bayern ohne ihre<br />
zahlreichen Figuren und Bilder nicht vollständig wäre, überzeugen<br />
viele moderne Kirchenbauten, aber auch alte Kirchen<br />
der strengen Orden, durch eine regelrechte Bilderarmut.<br />
Wir kennen Bilder, die mehr der Illustration und Belehrung dienen,<br />
und solche, die auf tiefere Dimensionen verweisen und<br />
uns Verborgenes erkennen lassen wollen. Zur letzten Kategorie<br />
gehören hoffentlich die Kreuzwege, die sich inner- oder außerhalb<br />
unserer Kirchengebäude befinden, denn sie sollen eigentlich<br />
Bilderstationen sein. Sie haben ihren Wert weniger aus sich<br />
selbst, ihrer künstlerischen Vollkommenheit oder ihrem kunsthistorischen<br />
Wert, sondern aus dem Prozessions- und Andachts-Vollzug,<br />
in den sie integriert sind.<br />
Der Kreuzweg stellt eine volksfromme Andachtsform dar, dessen<br />
Wurzeln weit zurückreichen. Bereits von den Jerusalem-<br />
Pilgern der Spätantike ist bekannt, daß sie den Stationen des Lebens<br />
Jesu, gerade aber den einzelnen Orten seines Leidens,<br />
seines Todes und seiner Bestattung besondere Aufmerksamkeit<br />
geschenkt haben. Spätestens im Mittelalter wurden solche Stationen<br />
in der Heimat der Heilig-Land-Pilger und der Kreuzzügler<br />
nachgebaut – in Form von Heiligen Gräbern, Heiligen Stiegen,<br />
Ölbergen etc. Bedeutende kunsthistorische Zeugnisse sind<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 360<br />
die „Calvaires“ auf zahlreichen Friedhöfen der französischen<br />
Bretagne. Aus den z. B. in Rom üblichen sieben Stationen (auch<br />
„Fußfälle“ genannt) entwickelte sich nördlich der Alpen eine<br />
Form mit zunächst 12 Stationen, die mit der Verurteilung durch<br />
Pilatus begann und mit dem Tod Jesu endete. Besonderheit<br />
dieser Stationen ist, daß auch solche vorkommen, für deren Inhalt<br />
es in den Passionsberichten der Evangelien keinen Beleg<br />
gibt, die aber über den Weg der Legenden besondere Bedeutung<br />
erhalten haben: So ist die legendarische Begegnung Jesu<br />
mit Veronika, die ihm das Schweißtuch reicht, auf dem danach<br />
sein Antlitz sichtbar bleibt, Ausgangspunkt für die in der Kunst<br />
immer wieder zu findende Darstellung der „vera icon“, des<br />
wahren Abbildes des leidenden Christus. Andererseits läßt der<br />
Kreuzweg auch biblische Stationen der Passion aus, wie etwa<br />
die Geißelung.<br />
Im 17. Jahrhundert kamen zwei Szenen nach dem Tod Jesu<br />
hinzu: die Kreuzabnahme und die Grablegung. Die sich daraus<br />
ergebenden 14 Stationen waren bald etabliert. Die Beter konnten<br />
so einen Weg abschreiten, der von einzelnen Gebetshalten<br />
unterbrochen wurde und in der Grablegung endete. Diese<br />
Form der „Imitation“ der Jerusalemer Gegebenheiten ermöglichte<br />
es, ohne gefährliche Reise ins Heilige Land die Heiligen<br />
Stätten „zu besuchen“ und den Leidensweg Jesu nach zu gehen.<br />
Ab dem 18. Jahrhundert wurde es üblich, schließlich verpflichtend,<br />
den Kreuzweg innerhalb der Kirchen anzubringen, wodurch<br />
er offiziellen Charakter erhielt. Unter 14 kleinen (Holz-)<br />
Kreuzen werden Bilder oder Plastiken der einzelnen Stationen<br />
des Leidensweges Jesu angebracht, die in der gemeinsamen<br />
Kreuzwegandacht abgeschritten werden können. In jüngster<br />
Zeit wird vereinzelt auch eine 15. Station errichtet, die die Auferstehung<br />
zum Inhalt hat, um so das ganze Leidensmysterium<br />
erfahrbar zu machen, das nach dem Glauben nicht im Tod stehenbleibt.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
361 Die Mitte erschließen<br />
Heute ist der Kreuzweg eine der wenigen Andachtsformen,<br />
die weiterhin in den Gemeinden gepflegt werden. Auch wenn<br />
katholische Gebetbücher entsprechende Vorlagen bieten, liegt<br />
ihm kein verbindlicher liturgischer Text zugrunde. Entsprechend<br />
frei kann er gestaltet werden.<br />
Im Grunde stellt der Kreuzweg eine Verbindung von leibhafter<br />
Prozession und Bildbetrachtung dar. Bereits in den mittelalterlichen<br />
Wurzeln ist die „Compassio“, das Mitleiden des letzten<br />
Wegs Jesu, die entscheidende Triebkraft für die Beterinnen und<br />
Beter. Der Kreuzweg kann nicht „objektiv“ absolviert werden,<br />
er bedarf der emotionalen wie leibhaften Beteiligung aller.<br />
Christen wollten und wollen mit dem Leiden Christi eins werden<br />
und nachempfinden, was das Leiden für diesen selbst bedeutet<br />
hat. Helfen sollen dazu die Bildstöcke, die nicht einfach<br />
Illustrationen sind, sondern den Weg hinein in das Mysterium<br />
von Tod und Auferstehung Jesu Christi bahnen wollen. Sowohl<br />
hochkünstlerische (auch abstrakte) Darstellungen wie geradezu<br />
„naive“ Volkskunst können dazu dienen, weniger die oftmals<br />
anzutreffende Fabrik-„Kunst“.<br />
Es ist den Menschen vieler Epochen ja nicht nur darum gegangen,<br />
aus dem Betrachten des Leidens Christi quasi „Heil zu verdienen“<br />
– wie es etwa der seit dem 18. Jahrhundert mit dem<br />
Kreuzweg verbundene Ablaß nahelegt. Viel stärker dürfte der<br />
Impuls gewesen sein, eigenes Leid und Lebensgeschick im Leiden<br />
Jesu Christi aufgehoben zu sehen. Die Menschen konnten<br />
anhand des Kreuzweges meditieren, daß der Kreuztragende<br />
eben ganz Mensch war und nicht entrückte Gottheit, daß ihm<br />
die Dimension des körperlichen und seelischen Schmerzes und<br />
der Verzweiflung keineswegs fremd war. Dieses „Sehen“ des<br />
wahren Antlitzes Christi in seiner Geschundenheit hat eine tröstende<br />
Funktion für Menschen vergangener und heutiger Zeiten.<br />
So wollen die Bilderstöcke wie die Andachtsform des<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 362<br />
Kreuzweges die Gläubigen zu einer tieferen Begegnung mit diesem<br />
Jesus Christus führen. Er selbst fordert uns auf, uns unserer<br />
eigenen Leiden und Verletzungen nicht zu schämen, sondern<br />
sie in ihm geborgen zu wissen, und zugleich des Leidens<br />
anderer zu gedenken – um ihm so nachzufolgen.<br />
Friedrich Lurz<br />
Papst Johannes Paul I.<br />
30 Jahre nach seinem Pontifikat<br />
Genau drei Jahrzehnte liegen sie nun zurück, jene 34 Tage<br />
im Spätsommer 1978, die der Pontifikat Johannes Pauls I.<br />
gedauert und in denen dieser Papst die Welt mit seinem gewinnenden<br />
Wesen und seiner Lehre begeistert hat. Nach dem Tod<br />
Pauls VI. am 6. August 1978 war der Patriarch von Venedig,<br />
Kardinal Albino Luciani, am 26. August 1978 zum Papst gewählt<br />
worden. Schon am 28. September 1978 starb Johannes<br />
Paul I.<br />
Albino Luciani wurde am 17. Oktober 1912 in Forno di Canale,<br />
jetzt Canale d’Agordo, in einfachen Verhältnissen geboren und<br />
empfing von der Hebamme die Nottaufe, da man um sein Leben<br />
fürchtete. Sein Vater Giovanni hatte als Arbeiter viele Jahre<br />
auch in Deutschland verbracht. In einem seiner berühmten<br />
Briefe an Persönlichkeiten, dem an Pinocchio von 1972, sind<br />
im Spiegel von Carlo Collodis Romangestalt eigene Erinnerungen<br />
Lucianis an eine glückliche Kindheit enthalten – an das<br />
Spielen in der Natur und auf den Straßen des Dorfes, an Butterbrot<br />
und Schokolade, Schneeball- und andere Schlachten:<br />
„Ich habe in Dir mich selbst als Kind wiedererkannt, in Deiner<br />
Umgebung die meinige.“ Bereits am 7. Juli 1935 wurde Luciani<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
363 Engagiertes Christsein<br />
in Belluno zum Priester geweiht, mit Sondergenehmigung, weil<br />
er mit noch nicht 23 Jahren das kanonisch vorgeschriebene<br />
Mindestalter nicht erreicht hatte. Die erste Vikarsstelle führte<br />
ihn in seine Heimatgemeinde zurück. 1937 wird Luciani Vizerektor<br />
des Seminars von Belluno, 1947 promoviert er an der<br />
Gregoriana in Rom mit einer Arbeit über den „Ursprung der<br />
menschlichen Seele bei Antonio Rosmini“, also über einen<br />
Theologen, aus dessen Werk das Heilige Offizium 1887 40<br />
Lehrsätze verurteilt hatte und der erst durch die Enzyklika<br />
Fides et Ratio 1998 und eine Notifikation der Kongregation für<br />
die Glaubenslehre von 2001 rehabilitiert wurde. In der Folge<br />
bekleidete Luciani verschiedene führende Ämter im Bistum<br />
Belluno, 1954 wurde er Generalvikar. Am 15. Dezember 1958<br />
ernannte der selige Papst Johannes XXIII. Luciani zum Bischof<br />
von Vittorio Veneto und ordinierte ihn selbst bei seiner ersten<br />
Bischofsweihe als Papst am 27. Dezember 1958 in der Peterskirche<br />
in Rom. Lucianis bischöflicher Wahlspruch bestand aus<br />
nur einem Wort: „Humilitas“ – „Demut“. Als Bischof nahm Luciani<br />
von 1962 bis 1965 an allen Sitzungsperioden des Zweiten<br />
Vatikanischen Konzils teil. Am 15. Dezember 1969 ernannte<br />
Papst Paul VI. ihn zum Patriarchen von Venedig. Bei einem<br />
Besuch Pauls VI. im September 1972 in Venedig spielte sich<br />
eine symbolträchtige Szene ab, als nämlich der Papst seine Stola<br />
abnahm und sie Luciani anlegte. „Noch niemals bin ich so rot<br />
geworden!“, erinnerte sich Papst Johannes Paul I. bei seiner<br />
ersten Angelus-Ansprache am 27. August 1978 an diese Begebenheit.<br />
1971, 1974 und 1977 nahm der Patriarch an den<br />
ordentlichen Vollversammlungen der Bischofssynode über das<br />
Priestertum, die Evangelisierung und die Katechese teil. Von<br />
1972 bis 1975 war Luciani Vizepräsident der italienischen<br />
Bischofskonferenz. Am 5. März 1973 wurde er zum Kardinal<br />
kreiert.<br />
Das Konklave, aus dem Albino Luciani bereits am zweiten Tag<br />
und im vierten Wahlgang als Papst hervorging, war eines der<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 364<br />
kürzesten der Kirchengeschichte. Mit der erstmaligen Wahl<br />
eines Doppelnamens nahm Johannes Paul I. das Andenken seiner<br />
beiden unmittelbaren Vorgänger auf und stellte sich zugleich<br />
ganz in den Zusammenhang des Zweiten Vatikanischen<br />
Konzils und seiner Umsetzung. Erstmals auch erfolgte die feierliche<br />
Amtseinführung des Papstes am 3. September 1978 ohne<br />
Krönung. Nachdem bereits Paul VI. die Tiara abgelegt hatte,<br />
führten Johannes Paul I. und sein Nachfolger Johannes Paul II.<br />
die dreifache Krone noch im Wappen. Erst Benedikt XVI. hat<br />
die Tiara in seinem Wappen durch die Mitra der Bischöfe ersetzt.<br />
Am 23. September 1978 erfolgte die feierliche Amtseinführung<br />
Johannes Pauls I. als Bischof von Rom in seiner Kathedrale,<br />
der Lateranbasilika. Am 28. September gegen 23.00 Uhr<br />
ist der Papst gestorben.<br />
Es ist bedauerlich, daß die Erinnerung an diesen bedeutenden<br />
Papst, dessen völlig unerwarteter, früher Tod weltweites Erschrecken<br />
ausgelöst hat, zeitweise von den haltlosen Spekulationen<br />
des Journalisten David Yallop über seine angebliche Ermordung<br />
in eine falsche Richtung gelenkt wurde. Doch auch<br />
die mediale Verkürzung in dem Bild des „lächelnden Papstes“<br />
mit ihrer Tendenz zur Verharmlosung ist irreführend, blendet<br />
sie doch die theologischen und kirchenpolitischen Akzente aus,<br />
die in den Äußerungen des Papstes während seines Pontifikats<br />
wie in seinen früheren Veröffentlichungen enthalten sind. Bekannt<br />
ist beispielsweise Lucianis gegenüber der in der Enzyklika<br />
Humanae Vitae (1968) amtlich festgehaltenen Position<br />
offenere Haltung in der Frage der Geburtenregelung. In einem<br />
Text von 1965 unterstreicht er, „daß alle Bischöfe äußerst zufrieden<br />
wären, wenn sie eine Möglichkeit fänden, den Gebrauch<br />
von empfängnisverhütenden Mitteln unter bestimmten<br />
Umständen als erlaubt zu erklären“. Und in einem Hirtenbrief<br />
von 1968 unter der Überschrift „Nach der ersten Lektüre der<br />
Enzyklika“ sagt der Bischof: „Ich muß gestehen …, daß ich mir<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
365 Engagiertes Christsein<br />
insgeheim gewünscht hätte, die bestehenden gewaltigen<br />
Schwierigkeiten hätten überwunden werden können und die<br />
Antwort des Papstes, der ja besondere Charismen besitzt und<br />
im Namen Gottes spricht, hätte zumindest teilweise den Erwartungen<br />
und Hoffnungen vieler Eheleute entsprechen können<br />
…“ In der Folgezeit vertrat Luciani nichtsdestoweniger im<br />
Gehorsam die Lehre von Humanae Vitae konsequent. Gewichtige<br />
Akzentsetzungen finden sich gelegentlich ganz am Rande,<br />
so daß sie leicht übersehen werden – etwa zum Gottesbild,<br />
wenn der Papst in der Angelus-Ansprache vom 10. September<br />
1978 sagt: Gott „ist unser Vater; noch mehr, er ist uns auch<br />
Mutter“. Zu Recht gelten gerade die 1976 unter dem Titel „Illustrissimi“<br />
erschienenen Briefe an fiktive und reale Persönlichkeiten<br />
aus Literatur, Geschichte und Kirche (deutsch unter dem<br />
Titel „Ihr ergebener Albino Luciani. Briefe an Persönlichkeiten“,<br />
1978) als charakteristisch für ihren Autor. Zeugen sie doch<br />
nicht nur von einer außerordentlich breiten Bildung und einer<br />
großen schriftstellerischen Kraft, sondern auch von hoher Sensibilität<br />
und liebevollem Einfühlungsvermögen, der Befähigung,<br />
die Fragen der Menschen ebenso wie die Botschaft des<br />
Evangeliums im Kern zu treffen und auszudrücken. Es ist zu<br />
wünschen, daß der eingeleitete Seligsprechungsprozeß bald zu<br />
seinem Ziel kommt und der Kirche auch so die Bedeutung dieses<br />
Papstes auf Dauer bewußt bleibt.<br />
Tobias Licht<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
September 2008<br />
„Gottes Weisheit und die Torheit des Kreuzes“<br />
Das Wort vom Kreuz ist denen,<br />
die verlorengehen, Torheit;<br />
uns aber, die gerettet werden,<br />
ist es Gottes Kraft.<br />
Erster Korintherbrief – Kapitel 1, Vers 18<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Vor Jahren kam ich auf einer Wanderung im bayrischen<br />
Oberland an einem Wegkreuz vorbei. Der von Todesqualen<br />
gezeichnete Kruzifixus inmitten fruchtbarer Weiden und Felder,<br />
vor dem faszinierenden Hintergrund der Berge – was mag<br />
bei diesem Bild, dachte ich, jemand empfinden, der vom Christentum<br />
nichts weiß? Anders gefragt: Sind wir Christen von<br />
heute uns noch bewußt, welchen Kontrast unser Bekenntnis<br />
beinhaltet? Wir können zwar die Schönheit der Schöpfung als<br />
Zeugnis für Gottes lebenschaffendes Wirken deuten und stoßen<br />
damit bei vielen Menschen auf Resonanz, auch wenn sie aus<br />
anderen Kulturen und religiösen Traditionen stammen. Mittendrin<br />
ragt jedoch – wie solch ein Marterl im malerischen Oberbayern<br />
– das grausame Leiden und Sterben Jesu von Nazaret<br />
auf. Das nach menschlichen Maßstäben offensichtliche Scheitern<br />
durchkreuzt buchstäblich unser Sprechen von Gott, es<br />
bringt uns Unverständnis und sogar Ablehnung ein. Wie gehen<br />
wir damit um?<br />
Vielleicht halten wir uns an Paulus, der den Gekreuzigten<br />
Gottes Kraft und Gottes Weisheit nennt (1 Kor 1, 24). Damit<br />
möchte er uns bewegen anzuerkennen, daß Gottes Weisheit<br />
weiter reicht, als wir es für möglich halten. Gott kann auch<br />
dort am Werk sein, wo wir am liebsten nicht hinschauen, geschweige<br />
denn Spuren des Schöpfers erkennen wollen. Von<br />
außen läßt sich also nicht entscheiden, wie ein Geschehen, ein<br />
Leben, ein Mensch vor Gott dasteht. Was für uns gemeinhin<br />
Scheitern bedeutet, kann vor Gott das gerade Gegenteil sein.<br />
Darum hängt alles davon ab, ob wir mit den Augen Gottes sehen,<br />
der „auch das Verborgene sieht“ (Mt 6, 6 u. ö.). Lernen wir<br />
es vom Gekreuzigten selbst, von Jesus, der zumal in den Gescheiterten<br />
den Wert und die Schönheit entdeckte, die jedem<br />
von uns geschenkt sind.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Hieronymus diktiert einem Schreiber<br />
Evangeliar, Köln, um 1030,<br />
Diözesan-Hs. 1a, fol. 8r,<br />
© Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln<br />
Das Evangeliar gehörte ursprünglich der Kirche St. Maria ad Gradus in Köln,<br />
die von Erzbischof Anno II. (1056–1075) geweiht und nach 1816 abgerissen<br />
wurde. Ob die Handschrift zur Ausstattung der Kirche durch Anno II. gehörte,<br />
ist unklar. Die Datierung um 1030 ergibt sich aus dem erhaltenen Holzeinband<br />
und der stilistischen Zuordnung der Miniaturen. Der 222 Pergamentblätter umfassende<br />
Codex gehört aufgrund seiner kostbaren Ausgestaltung zur sogenannten<br />
„Reichen Gruppe“, die um 1030 die vorherige „Malerische Gruppe“<br />
ablöste. Ungeklärt ist, ob dieser Wandel durch einen größeren Einfluß der<br />
Reichenauer Malschule oder durch allgemeine stilistische Tendenzen der Zeit<br />
bewirkt wurde.<br />
Über den kostbaren Schmuck hinaus ist der Codex von den Motiven und<br />
auch von der Malerei her anderen Kölner Handschriften verwandt. Der Grund<br />
dafür liegt in einer Vorlage des Gregor-Meisters aus Trier (Ende 10. Jahrhundert),<br />
die auch für viele weitere Werke maßgeblich wurde. Als typisch gilt u. a.<br />
die Ausweitung der Bilder um eine Majestas und ein Portrait des Übersetzers<br />
der Bibel, Hieronymus. Vor allem die Bilder der Evangelisten weichen von früheren<br />
Handschriften aus Köln ab. Als Quelle für den neuen Stil gelten byzantinische<br />
und spätkarolingische Einflüsse.<br />
Der gute Zustand des Codex läßt vermuten, daß das Evangeliar nicht für gottesdienstliche<br />
Zwecke, sondern möglicherweise als „Schwurbibel“ verwendet<br />
wurde.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Dienst am Wort Gottes<br />
Unser Titelbild zeigt den Kirchenvater Hieronymus, wie er<br />
einem Schreiber diktiert. Der Maler des Kölner Evangeliars<br />
(um 1030) illustriert in dieser Bibelhandschrift nicht nur<br />
biblische Szenen, sondern stellt u. a. die Majestas Domini (den<br />
Thronenden Weltenherrscher Christus), die vier Evangelisten<br />
und auch Hieronymus dar, den Übersetzer der Bibel ins Lateinische.<br />
Der Kirchenvater sitzt vor einer hohen Giebelwand, an die<br />
sich zu beiden Seiten perspektivisch gestaltete Längswände anschließen.<br />
Während das von gold-grünen, schmalen Säulen getragene<br />
Giebelhaus in hellen Farbtönen (beige, ocker) gehalten<br />
ist, sind die Seitenwände farblich unterschiedlich gestaltet: purpurn<br />
auf der linken, blaß-violett auf der rechten Seite. Über den<br />
langgestreckten grünen, mit einem Rundbogen versehenen Öffnungen<br />
erheben sich die Dächer in purpurner Farbe, die in einen<br />
breiten rot-braunen Außenrahmen hineinragen. Er umgibt<br />
zwei Goldleisten, die ihrerseits ein hellgrünes Ornamentband<br />
einschließen. Mit diesem architektonischen Bildgrund verweist<br />
der Maler vielleicht auf die Stadt Betlehem, wo Hieronymus<br />
viele Jahre lang als Mönch gelebt und an der Übersetzung der<br />
Bibel – des Alten Testaments aus dem Hebräischen und des<br />
Neuen Testaments aus dem griechischen Urtext ins Lateinische<br />
– gearbeitet hat. Papst Damasus I. (366–384), dessen Sekretär<br />
Hieronymus in Rom war, hatte den eifrigen Gelehrten, der<br />
mehrere Sprachen beherrschte, 382 mit der Revision der lateinischen<br />
Bibelübersetzung der Evangelien betraut. Hieronymus<br />
weitete diesen Auftrag auf andere Bücher der Bibel aus. Die<br />
Vulgata, das Ergebnis seiner langjährigen Arbeit, bildete fortan<br />
die Grundlage für weitere wissenschaftliche Auseinandersetzungen<br />
mit der Bibel.<br />
In goldener Schrift nennt der Maler zwischen den Säulen des<br />
Giebelhauses auf dunkel-violettem Grund nicht nur den Na-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
men, sondern zugleich auch die Bedeutung des Hieronymus:<br />
„Hic pat(er) insignis meritis hieronimus almis / scriptor et interpres<br />
divin(a)e legis habetur“ – „Dies ist der Vater Hieronymus,<br />
bedeutend aufgrund reicher Verdienste. Er gilt als Schreiber<br />
und Übersetzer des göttlichen Gesetzes.“<br />
Die Würde des Hieronymus wird auch dadurch unterstrichen,<br />
daß er auf einem purpurnen Thron sitzt, frontal den<br />
Betrachtenden zugewandt, während sein Schreiber, „notarius<br />
ejus“, seitlich auf einer niedrigen dunkelbraunen Bank sitzt.<br />
Der mit einem blauen Gewand bekleidete Schreiber (auf anderen<br />
Bildern häufig mit Kutte dargestellt; seine Tonsur läßt<br />
an einen Mönch denken) hält eine große Tafel in der Hand, auf<br />
der er festhält, was der Kirchenvater ihm diktiert. Die Form<br />
der Tafel erinnert an Schriftrollen, auf die früher geschrieben<br />
wurde. Vielleicht hat der Maler Bilder, die er kannte, entsprechend<br />
korrigiert oder aber in der Vorlage bereits statt der<br />
Schriftrolle eine Schreibtafel vorgefunden. Die drei hintereinander<br />
angeordneten Kästen mit Schriftrollen hinter dem Thron<br />
des Hieronymus weisen darauf hin, daß hier schon ein großes<br />
Stück Arbeit geleistet wurde. Ganz konzentriert blickt der<br />
Schreiber auf seine Tafel. Durch die liebevolle Gestaltung seines<br />
Gewandes unterstreicht der Maler die Bedeutung des Schreibers<br />
für das Gelingen des Ganzen.<br />
Hieronymus, einer der vier großen lateinischen Kirchenväter<br />
neben Ambrosius (339–397), Augustinus (354–430) und Gregor<br />
dem Großen (540–604), trägt hier eine purpurne Kasel<br />
über einem gelb-ockerfarbenen Untergewand (Purpur war in<br />
der Antike die Farbe des Kaisermantels). Die Haltung seiner<br />
Füße, parallel auf ein Suppedaneum gestellt, und der Faltenwurf<br />
seines Gewandes betonen Festigkeit und Entschiedenheit<br />
für seine Aufgabe. In seiner Linken hält Hieronymus das Buch,<br />
an dem er arbeitet, um es den Menschen in lateinischer Sprache<br />
zugänglich zu machen. Sein Kopf und seine Rechte sind<br />
dem Schreiber zugewandt, der die Autorität des Lehrers aner-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
kennt und seine Weisungen befolgt. Sein Blick wirkt energisch,<br />
als wollte er gerade einen Fehler seines Schreibers korrigieren<br />
oder eine Aussage besonders unterstreichen. Seine weißen<br />
Haare und sein weißer Bart weisen auf sein Alter hin. Hieronymus<br />
trägt einen mit Perlen verzierten Heiligenschein, obwohl<br />
er nie offiziell heiliggesprochen wurde. Für den Maler zählt er<br />
wegen seiner großen Verdienste um die Heilige Schrift ganz<br />
sicher zu den Heiligen der Kirche.<br />
Der Inhalt seiner Arbeit weist über Hieronymus und seinen<br />
Schreiber hinaus. Das Wort Gottes, in seiner Bedeutung für<br />
Israel und für das neutestamentliche Bundesvolk, be-trifft Menschen<br />
aller Zeiten. Es will uns öffnen für eine Wirklichkeit, die<br />
größer ist als alles, was wir hier und jetzt be-greifen können.<br />
Sowohl die Architektur des Bildes als auch die gesammelte<br />
Ruhe, die das Bild ausstrahlt, lenken die Betrachtenden auf das<br />
eine Wesentliche: Gottes Wort gilt uns, jeder und jedem, ganz<br />
persönlich. Wie Hieronymus in Betlehem viele Jahre seines<br />
Lebens, bis zu seinem Tod 419/20, an der Bibelübersetzung<br />
gearbeitet hat, brauchen auch wir viele Jahre, um das Wort Gottes<br />
immer mehr zu verstehen, damit es unser Leben erfüllt und<br />
in uns Gestalt annehmen kann.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 324<br />
Gottes Weisheit –<br />
und die Torheit des Kreuzes<br />
Daß Theologie und Lehramt Gott Weisheit, Wissen, Allwissenheit<br />
zusprechen, gründet in Erzählungen, Gebeten,<br />
Aussagen und Bildern der Bibel. Biblisch ist Weisheit mehr als<br />
Wissen, sie ist eng verbunden mit und zielt auf Gemeinschaft<br />
und Gerechtigkeit. Weisheit (hebräisch: chokma, griechisch:<br />
sophia) ist biblisch stets ein praxisbezogenes, umfassendes Wissen,<br />
es fördert den rechten Lebensvollzug, ein Leben in gerechter<br />
Gemeinschaft. Menschliche Weisheit besteht darin, die gute<br />
göttliche Ordnung zu erkennen, die alle Bereiche des Lebens<br />
durchwaltet und umfaßt, und ihr im Tun und Lassen zu entsprechen.<br />
In den ersten Kapiteln des Buches der Sprichwörter begegnet<br />
die Weisheit personifiziert als Frauengestalt, die sich mit zwei<br />
eindrucksvollen Reden vorstellt (Spr 1, 20–33; 8, 1–36): An<br />
den belebten Plätzen der Stadt lädt Frau Weisheit die Einfältigen<br />
und Unerfahrenen ein, auf sie zu hören und ihr zu folgen.<br />
Die Weisheit in Person verkörpert aufrichtige Rede und guten<br />
Rat, sie vermittelt Regierungskunst und gelingendes Leben. Sie<br />
tritt als Prophetin auf, die für Recht und Gerechtigkeit eintritt<br />
und ihre Zuhörerschaft zum Gehorsam aufruft (Spr 1, 22–30).<br />
Gott hat sie vor aller Zeit gebildet, ja geboren; die Weisheit ist<br />
sein erstes Geschöpf (Spr 8, 22–31). Die junge Weisheit ist bei<br />
ihm und erfreut ihn bei der Erschaffung der Welt. Ohne Gott<br />
ebenbürtig zu sein, steht sie doch in seiner nächsten Nähe. Sie<br />
gibt Gottes Freude an die Menschen weiter und leitet sie zum<br />
guten Leben an. Frau Weisheit ist im Alten Testament Mittlerin<br />
zwischen Gott und den Menschen und besitzt göttliche Autorität.<br />
Ihre Gegenspielerin ist Frau Torheit. Auch diese ruft die<br />
Unerfahrenen in ihr Haus. Während aber Frau Torheit in Gestalt<br />
der „fremden Frau“ – gemeint ist nicht die Ausländerin,<br />
sondern eine Frau, die durch Ehebruch die Gemeinschaft ge-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
325 Thema des Monats<br />
fährdet, die selbst zutiefst töricht handelt und Männer zur Torheit<br />
verleitet – Menschen auf den krummen Weg führt, der in<br />
Tod und Unterwelt mündet (Spr 7, 6–27; 9, 18), steht Frau<br />
Weisheit für den rechten, den gerechten Lebensweg. Diese Tradition<br />
wird in den Büchern Jesus Sirach und Weisheit fortgeführt.<br />
Als Wegweiserin für Ethik und Gotteserkenntnis, die<br />
Gott und den Menschen nahe ist, die zu den Menschen mit<br />
göttlicher Vollmacht spricht, trägt die alttestamentliche Weisheitsgestalt<br />
ins biblische Gottesbild entscheidende Facetten ein.<br />
Im Neuen Testament begegnet uns die Weisheit als göttliche<br />
Kraft in Jesus Christus. Jesus und der Täufer werden im Gleichnis<br />
von den spielenden Kindern (Lk 7, 31–35) als Kinder der<br />
Weisheit bezeichnet, die dem Ruf der Weisheit folgen. Auch<br />
die Verkündigung Jesu ist von weisheitlicher Tradition geprägt<br />
(Mk 6, 2; Mt 12, 42). Vermittelt über verschiedene jüdische<br />
Weisheitstraditionen präsentiert Joh 1 die Weisheit als vor aller<br />
Schöpfung wirkendes Wort (logos-sophia) Gottes, das in der<br />
Person Jesus von Nazaret in Erscheinung tritt: „Am Anfang war<br />
das Wort, und das Wort war bei Gott ...“ (Joh 1, 1). Der Kolosserbrief<br />
sagt vom Christus Jesus, was das Alte Testament<br />
(Spr 8, 24) von der Weisheit weiß: Er ist „der Erstgeborene der<br />
ganzen Schöpfung“ (1 Kol 1, 15).<br />
Gottes Wissen ist Allwissen, es geht auf sein ganzes dreifaltiges<br />
Gottsein wie auf alles Außergöttliche. Gott ist die Liebe, und<br />
sein Wissen ist nicht neutral-theoretisch; es ist liebende Weisheit.<br />
Gottes Wissen ist im Blick auf Geschöpfliches ein beständiges<br />
Sich-Zuwenden und -Zuneigen. Gottes Allwissen ist nicht<br />
zu trennen von seinem freien Schöpfersein, seinem liebenden<br />
Erdenken, Erschaffen und Erhalten der ganzen Schöpfung, von<br />
seinem persönlichen Sich-Sorgen um jedes Geschöpf. Gott weiß<br />
um alles im fürsorglich-liebevollen Bedenken eines jeden Erschaffenen.<br />
Er kennt alles von ihm Geschaffene von sich aus, er<br />
weiß von ihm im Tun seiner Liebe (Weish 9, 11; Ijob 28, 24–27;<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 326<br />
Ps 103, 14; Mt 6, 25–32). Gott kennt das Herz des Menschen<br />
(Röm 8, 27; Spr 15, 11; 1 Joh 3, 20). Er widmet sich einem jeden<br />
und bleibt mit allem vertraut (Jes 37, 26–29). Jahwe gedenkt<br />
aller und vergißt nichts und niemanden (Weish 11, 20–26), er<br />
sorgt für uns als Vater (Mt 6, 4.18.25–32). Er freut sich an allem<br />
(Ps 104) und weiß alles durch seinen Logos in dem einen Geist<br />
(Joh 1, 1.18; 16, 13; Eph 1, 3–11).<br />
Der vielfältigen und vielstimmigen biblischen Rede von der<br />
Weisheit Gottes steht das Wort von der Torheit des Kreuzes<br />
gegenüber (1 Kor 1, 18 ff.). Das Kreuz ist das zentrale Symbol,<br />
es ist das Kenn- und Bekenntniszeichen des christlichen Glaubens.<br />
Zugleich ist das Kreuz, worauf bereits die frühchristliche<br />
Theologie zurückgegriffen hat, ein menschliches Ursymbol.<br />
Das Kreuz ist ein Faktum im Leben Jesu: Der Nazarener wurde<br />
als Verbrecher gekreuzigt. Das Kreuz ist ein grausames Hinrichtungsinstrument,<br />
ein unrühmlicher Marterpfahl.<br />
Der Apostel Paulus preist den gekreuzigten und auferweckten<br />
Christus als Gottes Weisheit (1 Kor 1, 22–24), die jedoch<br />
den weisheitssuchenden Griechen als Torheit und den Juden als<br />
Ärgernis gilt, also von menschlicher Weisheit nicht erkannt<br />
wird. Die „Torheit“ Gottes und seines Christus verdichtet sich,<br />
wird zum fast unüberwindlichen Kommunikationshindernis,<br />
im Kreuz Christi. Paulus steht zu dieser Schroffheit, zu dieser<br />
Torheit, sie wird für ihn geradezu zum Kriterium dafür, daß er<br />
nicht menschliche, sondern Gottes Weisheit verkündet, „denn<br />
das Törichte an Gott ist weiser als die Menschen, und das<br />
Schwache an Gott ist stärker als die Menschen“ (1 Kor 1, 25).<br />
Gottes Weisheit und die Torheit des Kreuzes – die bleibende Befremdlichkeit<br />
des Heilsweges, den die Christenheit im Kreuz<br />
Jesu erkennt, hat Folgen. Von der Theologie ist Bescheidenheit<br />
verlangt statt Bescheidwissen; Gottes Handeln läßt sich aus unseren<br />
Kategorien und Vorstellungen nicht ableiten, so „weise“<br />
oder „wissenschaftlich“ sie uns auch erscheinen mögen. Doch<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
327 Unter die Lupe genommen<br />
nicht nur die Theologie ist betroffen, alle menschlichen Versuche,<br />
die bestehende als Gottes eigene Ordnung auszuweisen,<br />
werden von der Torheit des Kreuzes her in Frage gestellt, stellen<br />
sich vom Kreuz aus als Versuchungen dar. Die Brüchigkeit<br />
all unseres Wissens, Wertens und Erkennens und die Fragmentarität<br />
all unserer Bestrebungen, die Welt weise zu ordnen, lassen<br />
sich in der Theorie niemals aufheben. Und doch sind wir<br />
aufgerufen, Gottes widerständige Weisheit zu erkennen und zu<br />
erlernen. Die törichte Bereitschaft, sich unter das Kreuz zu stellen,<br />
gehört dazu.<br />
Susanne Sandherr<br />
Gott weiß alles – warum beten?<br />
Wenn ein Gespräch auf das Thema Beten kommt, wird man<br />
bisweilen mit Aussagen wie: „Gott weiß doch ohnehin<br />
alles. Warum soll ich ihn dann überhaupt bitten?“ konfrontiert.<br />
Dahinter können sich zweierlei Haltungen verbergen: Im einen<br />
Fall wird Gottes Wissen als absolutes, unabänderliches Vorauswissen<br />
und somit fast als schicksalhafte Vorausbestimmung<br />
verstanden. In solch einer Frage äußert sich dann ein Gottesbild<br />
des souveränen Allherrschers, der die einzelnen Menschen wie<br />
Marionetten ihre Rolle spielen läßt, ohne daß sie darauf Einfluß<br />
nehmen könnten. Im anderen Fall wird Gott eher als der gütige<br />
Vater gesehen, der in seiner Fürsorge von sich aus alles für seine<br />
Gläubigen tut. So sehr sich diese Vorstellungen voneinander<br />
unterscheiden – in der Konsequenz, daß sie den Menschen<br />
entmündigen, kommen sie überein. Sowohl wer Gottes Willen<br />
als unabänderliches Schicksal sieht, als auch, wer dank Gottes<br />
Güte die Hände in den Schoß legen zu können glaubt, verkennt<br />
seine Verantwortung und gibt, noch schlimmer, seine Berufung<br />
preis, Gottes schöpferischer Partner bei der Gestaltung der Welt<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 328<br />
zu sein. Biblisch gesehen, macht aber genau dies die Würde des<br />
Menschen aus (vgl. Gen 1, 27–29; Ps 8, 5–9), und ich gehe so<br />
weit zu behaupten, daß das Gebet die unerläßliche Voraussetzung<br />
für die Wahrnehmung dieser Aufgabe ist.<br />
Was heißt also „beten“? Im deutschen Sprachraum erliegen<br />
wir aufgrund der Wortverwandtschaft beider Verben meist<br />
dem Mißverständnis, beim Beten gehe es in erster Linie darum,<br />
Gott um etwas zu bitten. Schauen wir aber in die Bibel, wird<br />
bald klar, daß die Kommunikation mit Gott – wenn wir „beten“<br />
inhaltlich einmal als solche bestimmen wollen – weit mehr<br />
Dimensionen umfaßt. Alles, was ihn bewegt, trägt der Betende<br />
vor Gott: Freude, Ärger, Angst, Trauer, Klage und so fort – als<br />
Magnificat-Leser ist Ihnen dies aus den Psalmen vertraut. Und<br />
wenn Sie Psalmen beten, so viel ist klar, stimmen Sie in die<br />
Gebetsform der Bibel ein. Denn man kann nach jüngsten Erkenntnissen<br />
der Bibelwissenschaft davon ausgehen, daß das<br />
Psalmenbuch als ganzes – seine jetzige Form hat es wohl kurz<br />
vor Jesu Geburt erhalten – die Gebetssammlung für das persönliche<br />
Beten des Einzelnen im frühen Judentum war, und als<br />
solche hat es auch das junge Christentum entscheidend geprägt.<br />
Nun aber bedeutet die hebräische Bezeichnung für die Psalmen,<br />
Tehillim, so viel wie „Lobgesang“; es ist verwandt mit<br />
„Hallelu-Jah“, „lobet JHWH“. Was immer also in den Psalmen<br />
zur Sprache kommt: Es ist eingebettet in den großen Zusammenhang<br />
des Lobpreises gegenüber dem Schöpfer. Besonders<br />
deutlich wird dies am Schluß des Psalmenbuches, der den sich<br />
immer steigernden Jubel der letzten fünf Psalmen in das Gotteslob<br />
der ganzen Schöpfung münden läßt: „Alles, was atmet,<br />
lobe den Herrn! Halleluja!“ (Ps 150, 5) Der tiefe Sinn dieses<br />
Lobpreises besteht darin, Gott mit allem, was unser Leben ausmacht,<br />
für seine gute Schöpfung zu danken und zu loben,<br />
gerade auch mit dem, was uns belastet. Dahinter steht die Überzeugung<br />
und das Vertrauen, daß nichts, auch keine noch so<br />
große Bedrängnis, uns der bewahrenden und rettenden Macht<br />
Gottes zu entreißen vermag. Vielleicht erkennen wir darin die<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
329 Unter die Lupe genommen<br />
Lebenshaltung Jesu, die ihm ermöglicht hat, Leiden und Kreuz<br />
auf sich zu nehmen. Vielleicht nehmen wir auch für uns selbst<br />
den Bezug zur Eucharistiefeier wahr: Weil Jesus Brot und Wein<br />
in Bezug zu sich und seinem Schicksal gesetzt hat, tragen wir in<br />
diesen Gaben der Schöpfung zugleich uns selbst, die wir Jesu<br />
Lebenshingabe feiern, dankend und lobend mit allem vor Gott<br />
hin, was zu unserm Leben gehört, um es von ihm in Jesu Leib<br />
und Blut neu zu empfangen. Indem wir uns so von Jesus in die<br />
Bewegung zum Vater hineinnehmen lassen, erhalten wir selbst<br />
Anteil an seinem Leben und wird unser Leben zu einem Leben<br />
nach Gottes Sinn verwandelt.<br />
„Die Ehre Gottes ist der lebendige Mensch“, sagt Irenäus von<br />
Lyon, der Martyrerbischof des zweiten Jahrhunderts. Ja, darum<br />
geht es: Nicht ein Erstarren und ohnmächtiges Sich-klein-Machen<br />
vor der Unermeßlichkeit Gottes, sondern um ein aufrechtes<br />
selbstbewußtes Stehen vor ihm, der uns braucht und beruft,<br />
um seine gute und doch so gefährdete Schöpfung von innen her<br />
zu verwandeln. Wenige Stellen sagen das so schön wie die<br />
Berufung Ezechiels, die mit einer großartigen Vision der Herrlichkeit<br />
Gottes beginnt und dann mit diesen Worten in die Beauftragung<br />
mündet: „Als ich diese Erscheinung sah, fiel ich<br />
nieder auf mein Gesicht. Und ich hörte, wie jemand redete. Er<br />
sagte zu mir: Stell dich auf deine Füße, Menschensohn; ich will<br />
mit dir reden. Als er das zu mir sagte, kam der Geist in mich<br />
und stellte mich auf die Füße. Und ich hörte den, der mit mir<br />
redete. Er sagte zu mir: Menschensohn, ich sende dich zu den<br />
abtrünnigen Söhnen Israels, die sich gegen mich aufgelehnt<br />
haben.“ (Ez 1, 28; 2, 1–3) Beten bedeutet, mich für Gott und<br />
seinen Auftrag an mich bereit zu machen, mich ihm zur Verfügung<br />
zu stellen und in allem, was mir begegnet, auf seine<br />
Stimme zu achten.<br />
Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 330<br />
„Der kleinste Halm<br />
ist deiner Weisheit Spiegel“<br />
Ein Lied von Gott singen können<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf den Seiten 8 f. und 14 f.<br />
Christian Fürchtegott Gellerts (1715–1769) geistliches Gedicht<br />
„Gott ist mein Lied“ kam erstmals 1757 in Gellerts<br />
Sammlung „Geistliche Oden und Lieder“ heraus. Es wurde<br />
mehrfach vertont, bald schon von Carl Philipp Emanuel Bach<br />
(1714–1788), dem fünften Kind von Johann Sebastian und<br />
Maria Barbara Bach. Bach, der damals am Berliner Hof Friedrichs<br />
II. wirkte, vertonte die Dichtungen des Gellert’schen<br />
Bandes zunächst als klavierbegleitete Sololieder. „Herrn Professor<br />
Gellerts Geistliche Oden und Lieder mit Melodien“<br />
erschienen 1758. Kurz vor seinem Tod veröffentlichte Carl Philipp<br />
Emmanuel Bach zu zehn Liedern des von ihm verehrten<br />
geistlichen Dichters Melodien, die für den gottesdienstlichen<br />
Gemeindegesang bestimmt waren. In seiner Vorbemerkung<br />
nennt der Komponist diese Melodien „leicht“ und fordert die<br />
„Herren Organisten“ zu starkem, ungekünsteltem Spiel auf.<br />
„Gott ist mein Lied“ ist mit der Anweisung versehen: „Erhaben<br />
und nachdrücklich“.<br />
Gellerts Gedicht „Gott ist mein Lied“ entstand in der Zeit der<br />
Aufklärung. In 15 Strophen spricht es von Gottes großer Macht<br />
und weiser Vorsehung – die der Geist der Zeit keinesfalls unbesehen<br />
bejahte, sondern dringend in Frage stellte. Eine vernünftige<br />
Erklärung der Welt, die Gott nicht gänzlich verneinen<br />
wollte, hielt es mit einem göttlichen Weltprinzip statt mit dem<br />
Gott der Bibel. Der gelehrte und fromme Dichter hat eine andere<br />
Entscheidung getroffen. Sein Lied singt von der fürsorg-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
331 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
lichen Weisheit des lebendigen Gottes, es doziert nicht über<br />
eine philosophische Abstraktion. Es sind die Gründe und Beweggründe<br />
des Herzens, es sind persönliche Erfahrungen und<br />
Überzeugungen, die in den Liedstrophen zu Wort kommen.<br />
Das Lied ist kein blasser theologischer Traktat. Schon gar nicht<br />
handelt es von Gott als einem Gegenstand unter Gegenständen.<br />
Hier wird Gottes Handeln froh und dankbar betrachtet, besungen,<br />
bezeugt, bekannt. Die Wunder der Natur und die Wunder<br />
des persönlichen Lebensweges tragen die Heilsgewißheit des<br />
Liedes. Das sich hier äußernde Gottvertrauen ist so stark, daß<br />
das Ich des Gedichts „selbst der Hölle Trutz“ bieten wird –<br />
nicht aus eigener Kraft und Stärke, sondern weil „Gott mein<br />
Schutz“ ist und „mein Retter werden“ will, wie es in der letzten<br />
Strophe heißt.<br />
„Gott ist mein Lied“ ist ein persönliches und ein mit biblischer<br />
Erfahrung und Sprache gesättigtes Lied. Vor allem aus der<br />
Frömmigkeit und Poesie des Psalters wird hier geschöpft. Das<br />
Lied läßt sich in drei größere Einheiten gliedern. Der erste Teil<br />
umfaßt die erste bis fünfte, der zweite die sechste bis neunte<br />
und der dritte Abschnitt die zehnte bis 15. Strophe. Von der<br />
sechsten Strophe an spricht das Ich als Ich. Damit gehen bis zur<br />
neunten Strophe zahlreiche Rückgriffe auf den 139. Psalm einher,<br />
während sich die vorangehenden und die folgenden Strophen<br />
auf verschiedenste Psalmen beziehen.<br />
Wir haben Grund, Gott zu vertrauen, dem allweisen, allmächtigen<br />
und allgütigen Gott: darum geht es in Gellerts Lied. Der<br />
Religionskritiker Pierre Bayle (1647–1706) hatte Zweifel daran<br />
gezeigt, daß Gott aus dem allzu oft miserablen Lauf und Zustand<br />
der Welt gerechtfertigt werden könne. Der Philosoph<br />
Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) und sein Nachfolger<br />
Christian Wolff (1679–1754) hatten auf diese Anfragen mit der<br />
Theorie von der „besten aller möglichen Welten“ geantwortet,<br />
die Gott geschaffen habe.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 332<br />
Daß Gottes „Wahl das Beste“ sei (3. Strophe), von dieser Einsicht<br />
ist auch Gellerts Lied durchdrungen. Doch nicht in einem<br />
fein ziselierten philosophischen Argumentationsgang sollen<br />
wir davon überzeugt werden, zu uns spricht vielmehr die biblisch<br />
gestützte persönliche Erfahrung des Sängers: Wer von<br />
Herzen bereit ist, die Augen zu öffnen, findet in Gottes Wirken<br />
in der Natur und im persönlichen Lebenslauf, im Makro- wie<br />
im Mikrokosmos, seiner Weisheit Zeichen genug.<br />
Im mittleren Teil des Liedes, in den Strophen sechs bis neun,<br />
klingt, wie schon erwähnt, Psalm 139 an. Gott kennt, begleitet<br />
und behütet die wie auch immer verschlungenen Wege seines<br />
Geschöpfs, ob es ihm nahe ist oder ganz fern zu sein scheint.<br />
Der Lebensweg des einzelnen ist Gott nicht fremd. Wie unübersichtlich<br />
auch immer unser Leben verlaufen mag, Gott verliert<br />
uns nicht aus dem Blick!<br />
Die ersten fünf Strophen nehmen den im Kosmos machtvoll<br />
und liebreich waltenden, Zeit und Geschichte umgreifenden<br />
und übersteigenden Gott in den Blick. Sechste bis neunte Strophe<br />
beschreiben des Schöpfers unfehlbare Fürsorge für das Ich,<br />
und die letzten sechs Strophen gehen von der so gewonnenen<br />
Sicherheit der Gottesnähe zur bekennenden, lobenden Du-Anrede<br />
Gottes über, bis am Ende das Ich seine Heilsgewißheit in<br />
der Zuversicht bündelt, daß unter Gottes Schutz die Hölle selbst<br />
ihren Schrecken verliert.<br />
„Gott ist mein Lied“ – dieser gläubige Ausruf hat in die Tiefe<br />
reichende biblische Wurzeln (Ex 15, 2; Ps 118, 14; Ps 119, 54).<br />
Gott ist mein Lied; was kann das heißen? Gellert hat ein Lied<br />
über Gott geschrieben, über Gottes im Großen wie im mikroskopisch<br />
Kleinen wirkende liebende Zugewandtheit, Weisheit<br />
und Fürsorge. Doch Gott ist nicht Objekt, sondern Subjekt dieses<br />
Liedes.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
333 Die Mitte erschließen<br />
Daß der Mensch den Schöpfer loben kann, daß ihm die Augen<br />
aufgehen für die Schönheit und Ordnung der Welt, ist nicht<br />
seiner Weisheit oder seinem Kunstwillen zu verdanken. Diese<br />
Welt, sie ist Gottes „Loblied und sein Psalm“ (12. Strophe), und<br />
zuerst und zuletzt ist Gott selbst das Lied, das wir von ihm singen<br />
können.<br />
Susanne Sandherr<br />
Der Ort der Leitung des Gottesdienstes<br />
Die Sitzordnung bei einer Feier in der Familie oder im öffentlichen<br />
Rahmen läßt oft erkennen, welchen Status, welchen<br />
Rang, vielleicht auch welche Funktion jemand innerhalb<br />
einer Gruppe hat. Das geht quer durch die Gesellschaften und<br />
Kulturen, weshalb Jesus in Gleichnissen gut daran anknüpfen<br />
konnte (vgl. Lk 14, 9 f.).<br />
Auch im liturgischen Raum existieren besondere Plätze, die<br />
jedoch nicht an eine konkrete Person als Mensch, sondern an<br />
das ausgeübte Amt bzw. den besonderen liturgischen Dienst<br />
gebunden sind, den jemand ausübt und für den er ggf. die entsprechende<br />
Weihe empfangen hat. Hier ragt der Sitz des Vorstehers<br />
des Gottesdienstes in besonderer Weise heraus.<br />
Die Spätantike benennt in der Regel nur den besonderen Sitz<br />
für den Bischof, die Kathedra. (Unser Wort „Kathedrale“ leitet<br />
sich davon ab, daß in der Bischofskirche die „Kathedra“ steht.)<br />
Es handelt sich um einen Stuhl, der in den alten Basiliken im<br />
Scheitelpunkt der Apsis stand und – falls solche vorhanden waren<br />
– erkennbar von den Sitzen der Priester (Presbyter) abgehoben<br />
war, die z. B. in Form einer steinernen Bank halbkreisförmig<br />
zu beiden Seiten angeordnet sein konnten. Dieser<br />
herausgehobene Sitz war Zeichen der umfassenden Leitungsge-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 334<br />
walt, die ein Bischof in seiner Gemeinde hatte. (In den spätantiken<br />
Stadtgemeinden stand an der Spitze ja der Bischof,<br />
während Priester und Diakone seine Helfer in Liturgie, Seelsorge<br />
und Diakonie waren.) Von der Kathedra aus leitete der<br />
Bischof die Liturgie, verkündete das Wort Gottes und erteilte<br />
die Ordinationen. Der Sitz war Zeichen der Würde seines<br />
Amtes, zudem durch die Erhöhung Hilfsmittel, um in der Verkündigung<br />
von allen besser verstanden werden zu können<br />
(diese Lehrfunktion steckt auch noch in unserem Wort „Katheder“).<br />
In dem Maße, in dem sich im Laufe der Geschichte die<br />
Ostung des Gebets durchsetzte und der Altar an die Apsiswand<br />
rückte, wurde die Kathedra zusammen mit den „Sedilien“ für<br />
die Priester seitlich vor dem Altar aufgestellt. Möglicherweise<br />
sind die mittelalterlichen Chorgestühle in Mönchs- und Kollegiatskirchen<br />
noch Nachfolger dieser Anordnung der Sitze vor<br />
dem Altar. Ansonsten sind aus dem Mittelalter praktisch keine<br />
Priestersitze erhalten (obwohl faktisch die Gemeindeleitung<br />
vom Bischof auf die Priester überging), denn in der sogenannten<br />
„Privatmesse“ war ein solcher Sitz überflüssig. Die Bischofssitze<br />
hingegen entwickelten sich im Gebiet der Reichskirche, in<br />
der Bischöfe immer auch weltliche Herrschaftsfunktionen hatten,<br />
zu regelrechten Fürstenthronen, die man in den Domen<br />
prunkvoll errichtete. Sie wurden auf Stufenanlagen gestellt und<br />
mit Baldachinen überspannt.<br />
Heute soll die Kathedra nicht mehr prunkvoll, sondern der<br />
Funktion der Leitung in der Liturgie angemessen gestaltet und<br />
aufgestellt sein. Im Aussehen hebt sie sich in der Regel etwas<br />
von den anderen Sitzen ab und kann auch mit dem Bischofswappen<br />
versehen sein. Noch immer ist die Kathedra dem Ortsbischof<br />
vorbehalten, der dem konkreten Bistum vorsteht; andere<br />
Bischöfe erhalten einen anderen angemessenen Platz.<br />
Ein eigentlicher Vorstehersitz für den Priester als Leiter des<br />
Gottesdienstes einer normalen Pfarrgemeinde wird erst nach<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
335 Die Mitte erschließen<br />
dem Zweiten Vatikanischen Konzil in der „Allgemeinen Einführung<br />
ins Meßbuch“ in Nr. 271 beschrieben. Wohl in Anlehnung<br />
an die alte Position der Kathedra hält man die Aufstellung<br />
des Vorstehersitzes im Scheitelpunkt des Altarraums für angemessen.<br />
Zu entscheiden ist die Position aber aus der konkreten<br />
räumlichen Gestalt, denn die Leitung muß gut ausgeübt werden<br />
können, ohne etwa durch zu weite Entfernungen erschwert zu<br />
werden. Auf keinen Fall soll der Sitz aber die Form eines<br />
Throns haben, d. h. als Bischofsstuhl erscheinen.<br />
Auch für die anderen liturgischen Dienste sollen im Altarraum<br />
entsprechende Sitze aufgestellt sein. Die zukünftige „Grundordnung<br />
des Römischen Meßbuchs“ fordert allerdings in Nr. 310<br />
ausdrücklich, daß sich die Sitze für die liturgischen Dienste der<br />
Laien deutlich von denen für die Kleriker zu unterscheiden haben.<br />
Diese Differenzierung ist relativ jung und Spiegelbild einer<br />
aktuellen Entwicklung. Während die liturgischen Bücher unmittelbar<br />
nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil fast ausschließlich<br />
die Leitung der Gottesdienste durch Priester und<br />
Bischöfe im Blick hatten, kennen wir heute aufgrund des Priestermangels<br />
auch andere Formen. Vor allem von Laien geleitete<br />
Wort- und Tagzeitengottesdienste am Sonntag wie an Wochentagen<br />
sind in unterschiedlichem Maße in den Diözesen des<br />
deutschen Sprachgebietes etabliert. Wo aber ist im Kirchenraum<br />
der Platz für die Leitung von Gottesdiensten durch Nichtordinierte,<br />
seien es Ehrenamtliche oder Laientheologinnen und<br />
-theologen, denen ohne oder mit Beauftragung des Bischofs eine<br />
solche Leitungsfunktion zukommt? Die deutschen Bischöfe<br />
haben in ihrer Rahmenordnung zur Leitung von Gottesdiensten<br />
„Zum gemeinsamen Dienst berufen“ von 1999 ausdrücklich<br />
festgehalten, daß solche Gläubigen die Feier aus der Gemeinde<br />
heraus leiten, also die Sedilien im Altarraum nicht benutzen<br />
sollen. Erfordert eine besondere Feierlichkeit die Leitung aus<br />
dem Altarraum, so wird betont, daß dann nicht der Vorstehersitz<br />
des Priesters benutzt werden darf; Laien würden nämlich<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Heilige Orte 336<br />
nicht in gleicher Weise dem Gottesdienst „vorstehen“, wie dies<br />
ein Priester tue.<br />
Sitzordnungen offenbaren so manche Realität, wie wir am Anfang<br />
festgestellt haben. Diese aktuellen Bestimmungen machen<br />
vielleicht auch deutlich, daß die Verknüpfung der Leitung von<br />
Gottesdiensten mit der Ordination in ein Amt, die über viele<br />
Jahrhunderte gegeben war, heute auseinanderdriftet. Damit<br />
sind aber neue Fragen aufgeworfen, die besonders die Theologie<br />
des Amtes betreffen und die es theologisch weiter zu durchdringen<br />
gilt. Erst die aktuelle Entwicklung wirft ja die Frage auf,<br />
ob die liturgietheologische Kategorie der „Leitung“ vom Gottesdienst<br />
selbst oder vom Amt her zu entwickeln ist.<br />
Friedrich Lurz<br />
Kreuzwallfahrt nach Stromberg<br />
Obwohl der Glaube heute im allgemeinen weniger öffentlich<br />
gezeigt wird, erfreuen sich Wallfahrten einer zunehmenden<br />
Beliebtheit. Große Jubiläumsfeiern von Wallfahrtsorten<br />
weisen auf eine lange Tradition hin.<br />
Die Wallfahrt zum Heiligen Kreuz nach Stromberg (Oelde)<br />
zählt zu den wichtigsten mittelalterlichen Wallfahrten im westfälischen<br />
Raum. Eine erste Urkunde, die diesen ältesten Wallfahrtsort<br />
im Münsterland ausweist, ist datiert auf das Jahr<br />
1207. Die 800-Jahr-Feier 2007 brachte die wechselvolle Geschichte<br />
des Stromberger Kreuzes und der Kreuzwallfahrt wieder<br />
mehr ins Bewußtsein.<br />
Nicht alles, was die Entstehung der zwischen 1070 und 1125<br />
errichteten Burganlage betrifft, läßt sich heute noch klären.<br />
Aber sicher ist, daß den damaligen Grafen von Werl-Arnsberg<br />
die Lage auf Stromberg, einer Anhöhe inmitten des weitgehend<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
337 Heilige Orte<br />
flachen Münsterlandes, als strategisch günstig erschien. Legenden<br />
erzählen, wie das spätere Wallfahrtskreuz auf wunderbare<br />
Weise in die Burg kam und eine eigene Kreuzkapelle dafür<br />
errichtet wurde. Die 1316 abgebrannte Kirche wurde 1344<br />
durch eine gotische Hallenkirche ersetzt, und das Kreuz erhielt<br />
darin einen zentralen Platz.<br />
Das 115 cm große, aus westfälischer Eiche geschnitzte romanische<br />
Kreuz, das nach Auskunft von Kunstexperten zwischen<br />
1080 und 1100 entstanden ist, wurde später mit einem Silbermantel<br />
umgeben, den man aus den Votivgaben der Pilger fertigte.<br />
Dieser Silbermantel war einerseits als Schutz für das Holzkreuz<br />
gedacht. Andererseits verwies er auf die hinter Kreuz und<br />
Tod in der Auferstehung Jesu aufleuchtende Wirklichkeit des<br />
Himmels. Doch gerade diese Silberbekleidung war dreimal<br />
Anlaß für Raub und Zerstörung.<br />
Im Jahre 1600 raubten Soldaten nach der großen Kreuztracht<br />
das Kreuz und zerschlugen es, um das Silber zu erbeuten. 1602<br />
konnte das wiederhergestellte Kreuz in der Kirche erneut aufgestellt<br />
werden. 1845 wurden bei einem Einbruch in die Kirche<br />
mit dem Kreuz sämtliche Silbergeräte gestohlen. Diesmal dauerte<br />
es lange, bis ein Schäfer zufällig das in einem Waldstück<br />
verscharrte und in Einzelteile zerlegte Holzkreuz fast vollständig<br />
entdeckte. Nach der Restaurierung (vom ursprünglichen<br />
Kreuz sind heute noch der Kopf, der Rumpf und das Lendentuch<br />
erhalten) konnte 1856 das Kreuz wieder in die Wallfahrtskirche<br />
zurückgebracht werden. Nach einem dritten Raub 1877<br />
konnte das Kreuz bereits 1878 unter großer Beteiligung der<br />
Gläubigen wieder in der Kirche aufgestellt werden.<br />
Schon seit dem Mittelalter spricht man vom wundertätigen<br />
Kreuz auf Stromberg. Die vielen Votivgaben erinnern an Menschen,<br />
die hier in ihren Nöten Erhörung und Hilfe gefunden<br />
haben. Die ältesten Votivgaben, Abbildungen der geheilten<br />
Beine, Arme u. a. in Silber, stammen aus der zweiten Hälfte des<br />
15. Jahrhunderts. Noch heute ist es an Wallfahrtsorten, z. B. in<br />
Fatima, üblich, Nachbildungen geheilter Körperteile in Wachs<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Heilige Orte 338<br />
an den Gnadenort zu bringen als Zeichen großer Dankbarkeit<br />
für die Heilung.<br />
Die Verehrung des Heiligen Kreuzes in Stromberg vollzieht<br />
sich für die Wallfahrer einerseits im Gebet und Gottesdienst vor<br />
dem Kreuz, andererseits aber auch im Gehen des Kreuzwegs.<br />
Die Pilgerinnen und Pilger, die gut zu Fuß sind, gehen gern den<br />
großen Kreuzweg, der heute einen Weg von gut 9 km umfaßt.<br />
Andere gehen den kleineren Kreuzweg, der am oberen Burgberg<br />
an der Burgmauer entlangführt. Die 1965 geschaffenen<br />
Bildtafeln laden zur Meditation des Leidensweges Jesu und<br />
zum Gebet für alle Kreuztragenden heute ein.<br />
Über die offizielle Wallfahrtszeit (Juni bis September) hinaus<br />
kommen Einzelpilger und auch Gruppen, um vor dem Heiligen<br />
Kreuz zu beten. Ihre Anliegen sind so vielfältig wie die Kreuze<br />
unserer Zeit. Dabei richtet sich das Vertrauen der Gläubigen vor<br />
diesem Kreuzbild auf Gott, der uns aus unserer Not befreien<br />
oder aber uns Hilfe schenken kann, an unserer Not nicht zu<br />
zerbrechen. Die ausgestreckten Arme des Gekreuzigten, sein<br />
gütiges, ruhiges Antlitz laden dazu ein, ihm all das zu bringen,<br />
was das Herz bewegt. Auch wenn keine unmittelbare Gebetserhörung<br />
erfolgt oder gar Wunder geschehen, erfahren die<br />
Menschen hier eine Kraft, die ihnen hilft, ihr vielleicht verborgenes<br />
Leid besser tragen zu können.<br />
Wallfahrten sind ein Symbol für unseren Lebensweg, der immer<br />
wieder gekennzeichnet ist von Aufbruch, Unterwegssein<br />
und Hoffnung auf Sinn, letztlich auf Begegnung mit Gott. Gruppen,<br />
die sich gemeinsam auf den Weg machen, können im Beten,<br />
Schweigen und Sprechen miteinander eine Gemeinschaft<br />
im Glauben erfahren, die ihnen hilft, auch im Alltag bewußter<br />
als Glaubende zu leben. Wer vor dem Kreuz erfahren hat, daß<br />
er, sie in Liebe angeschaut und angenommen ist, der weiß zutiefst,<br />
daß Leiden, Not und Tod nicht Endstation unseres Lebens<br />
bedeuten, sondern letztlich überwunden sind durch ihn, der für<br />
uns starb und den der Vater auferweckt hat zu neuem Leben.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Oktober 2008<br />
„Gott – einer und dreifaltig“<br />
Die Gnade Jesu Christi, des Herrn, die Liebe Gottes<br />
und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes<br />
sei mit euch allen.<br />
Zweiter Korintherbrief – Kapitel 13, Vers 13<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Durch das Wort des Herrn wurden die Himmel geschaffen,<br />
ihr ganzes Heer durch den Hauch seines Mundes.“ Bereits<br />
im Mai hatte ich Ihnen mit diesem Psalmvers (33, 6) zu erschließen<br />
versucht, auf welchem biblischen Hintergrund wir<br />
Christen vom Heiligen Geist sprechen. Lassen Sie mich nun<br />
von dort aus vertiefen, was es mit dem „Wort“ auf sich hat.<br />
Wie die ganze Schöpfung, sagt der Psalm, von Gottes Lebenshauch<br />
durchdrungen ist, so auch von seinem Schöpferwort.<br />
Höchst bedeutsam dabei: Der hebräische Ausdruck für<br />
„Wort“, davar, bezeichnet neben dem Gesprochenen auch die<br />
Tat bzw. das Ereignis. So, wie wir durch unser Tun jemandem<br />
etwas zu verstehen geben können, spricht Gott uns also nach<br />
biblischem Denken an durch Ereignisse, die er uns widerfahren<br />
(vgl. etwa den brennenden Dornbusch), besonders aber durch<br />
Menschen, die er uns begegnen läßt. Darauf beruht unser<br />
christliches Bekenntnis: In Jesus von Nazaret ist das Wort<br />
Fleisch geworden (vgl. Joh 1, 14). Das besagt: Jesus war in seinem<br />
ganzen Menschsein lebendiges Wort Gottes. In diesem<br />
Menschen, in seiner Art zu leben und besonders in seinem Leiden<br />
und Sterben, hat der Gott Israels sich selbst „zum Ausdruck<br />
gebracht“.<br />
Doch dürfen wir nicht nur nach außen blicken. „Sehr nahe ist<br />
dir das Wort: in deinem Mund und in deinem Herzen, daß du es<br />
tust“, sagt uns Dtn 30, 14 wörtlich zu (vgl. Röm 10, 8 f.). Auch<br />
in uns (und grundsätzlich in jedem Menschen) lebt also Gottes<br />
Schöpferwort, und wir Getauften sollen seine, d. h. für uns: Jesu<br />
Gegenwart in uns wahrnehmen und uns von ihm zu tatkräftigen<br />
Zeugen verwandeln lassen. Wir können geradezu sagen:<br />
Auch in uns soll das Wort Fleisch werden – und sei es in einem<br />
„ständigen Stammeln“ (continuous stutter), wie Leonard Cohen<br />
in „The Window“ singt.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Titelbild<br />
Evangelist Lukas<br />
Limburger Evangeliar,<br />
Reichenau, Anfang 11. Jh.,<br />
Dom-Hs. 218, fol. 108v,<br />
© Erzbischöfliche Diözesan- und Dombibliothek Köln<br />
Zu Beginn des 11. Jahrhunderts auf der Insel Reichenau entstanden, umfaßt<br />
diese Handschrift 217 Pergamentblätter. Eine Notiz auf der Rückseite des ersten<br />
Blattes vermerkt, daß der Codex sich im 12. Jahrhundert in einem Kloster Limburg<br />
befand, vermutlich in der von Kaiser Konrad II. 1025 gegründeten Benediktinerabtei<br />
Limburg an der Haardt oberhalb von Bad Dürkheim. Offenbleiben<br />
muß, ob die Handschrift als Geschenk des Kaisers zu gelten hat. Deutlich<br />
ist, daß das Evangeliar in Text, Stil, Malerei und Motiven der Malwerkstatt der<br />
Reichenau entspricht, vergleichbar dem Evangeliar Ottos III. Text und Bild sind<br />
einander zugeordnet, wobei dem Text der Evangelien jeweils ein ganzseitiges<br />
Bild vorangeht. Dabei folgen die Bilder dem Verlauf des Lebens Jesu. Ein Vergleich<br />
mit Codices aus der Liuthargruppe, einer Untergruppe der Reichenauer<br />
Malschule, läßt Gemeinsamkeiten in den Motiven und auch in der Ikonographie<br />
erkennen. Trotz der Verbindung zu anderen zeitgenössischen Handschriften<br />
verleiht der Maler des Limburger Evangeliars durch den freien Umgang mit<br />
Vorbildern seinem Werk ein eigenständiges Gepräge. Im 19. Jahrhundert vermachte<br />
ein Pfarrer Knott aus Heimerzheim die Handschrift der Kölner Dombibliothek.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
5 Meditation zum Titelbild<br />
Die zuverlässige Lehre<br />
In der Buchmalerei des Mittelalters sind die vier Evangelisten<br />
ein beliebtes Motiv. Der Maler des Limburger Evangeliars<br />
(Anfang 11. Jahrhundert) stellt den Evangelisten Lukas bei seiner<br />
Arbeit dar. Durch zwei grüne Säulen, die einen mit symmetrisch<br />
angeordneten und farblich abwechselnden Scheiben<br />
verzierten Giebel tragen, suggeriert er einen Raum, in dem Lukas<br />
an zwei Schreibpulten arbeitet. Ein geöffneter roter Vorhang<br />
unterstützt diese Vorstellung ebenso wie der tiefe Goldgrund,<br />
von dem sich die dunkel gekleidete Gestalt abhebt.<br />
Dabei ist der Ort des Geschehens nicht irgendwo zu suchen,<br />
sondern wohl in Jerusalem, was die von einer Stadtmauer umgebenen<br />
Häuser im oberen Bildteil andeuten.<br />
Der Maler zeigt hier seine genaue Kenntnis der beiden biblischen<br />
Werke, die dem Evangelisten Lukas zugeschrieben werden:<br />
das Evangelium und die Apostelgeschichte. Für Lukas ist<br />
Jerusalem, der Ort, an dem sich Passion und Auferstehung<br />
Christi ereigneten – davon spricht sein Evangelium –, zugleich<br />
der Ausgangspunkt für die Ausbreitung der Frohbotschaft – davon<br />
spricht die Apostelgeschichte. „Bleibt in der Stadt, bis ihr<br />
mit der Kraft aus der Höhe erfüllt werdet“, sagt Jesus vor der<br />
Himmelfahrt (Lk 24, 49). Und die Apostelgeschichte knüpft<br />
daran an: „... ihr aber werdet schon in wenigen Tagen mit dem<br />
Heiligen Geist getauft.“ (Apg 1, 5)<br />
Die architektonische Rahmung des Bildes lenkt unseren Blick<br />
zur Mitte. Folgt man den diagonalen Linien, dann schaut man<br />
genau auf den von einem roten, perlenbesetzten Nimbus umgebenen<br />
Kopf des Evangelisten. Während Lukas in beiden Händen<br />
ein Schreibgerät hält, geht sein Blick in die Weite. Ganz<br />
konzentriert sitzt er da, als warte er auf göttliche Inspiration für<br />
das, was er aufschreiben soll.<br />
Der Evangelist sitzt auf einem Faltstuhl, dessen Seiten und<br />
Füße als Fabelwesen dargestellt sind. Vielleicht will der Maler<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Meditation zum Titelbild 6<br />
damit sagen, daß die Botschaft des Glaubens die zerstörerischen<br />
Mächte und Ängste heidnischer Vorstellungen überwunden<br />
hat. Mit den beiden Schreibpulten weist er auf die beiden<br />
neutestamentlichen Schriften des Lukas hin. Während auf<br />
dem rechten Pult eine Schriftrolle liegt, die ein Stück herabhängt,<br />
taucht Lukas zur Linken gerade eine Feder in ein Tintenfaß.<br />
Hier umschließt ein Fisch den Ständer des Pultes. In der<br />
christlichen Symbolsprache ist der Fisch ein Zeichen für Christus.<br />
Die Anfangsbuchstaben der griechischen Bezeichnung für<br />
Fisch, ICHTHYS, verbargen für die Christen Wesensaussagen<br />
über den, an den sie glaubten: Jesus Christus, Gottes Sohn, Retter.<br />
Was auf uns heute wie ein Eigenname wirkt, „Jesus Christus“,<br />
meint ursprünglich: Jesus ist der Gesalbte, der Messias.<br />
Neben dem dunkleren Rot, das als Zeichen für Blut, Leben,<br />
Liebe gilt, ist hier die dominierende Farbe das Gold, das im<br />
dunklen Rahmen auftaucht, aber vor allem in helleren und dunkleren<br />
Partien den Hintergrund des Bildes ausfüllt. In diesen<br />
Goldgrund der göttlichen Wirklichkeit taucht der Evangelist<br />
Lukas ein, wenn er die Botschaft der Erlösung aufschreibt, damit<br />
das Heil Gottes zu allen Menschen gelangen kann.<br />
Der Maler hüllt die Gestalt des frontal den Betrachtenden zugewandten<br />
Evangelisten in ein grau-blaues Untergewand und<br />
in ein dunkelblaues Obergewand, dessen bauschiger Faltenwurf<br />
eher unnatürlich wirkt. Das Grün der Säulen, des Giebels<br />
und des Bodens könnte auf die Natur, die Schöpfung, hinweisen,<br />
in der durch den Evangelisten das Wort Gottes verkündet<br />
wird.<br />
Das Portrait des Lukas zeigt über dem Kopf des Evangelisten<br />
in Medaillonform das ihm zugeordnete Symbol des Stiers.<br />
Das Tier hält mit den Füßen eine Schriftrolle, als unterstützte<br />
es die Arbeit des Lukas. Es schaut ganz konzentriert zur Seite.<br />
Seit dem zweiten Jahrhundert gelten die auf einer Vision des<br />
Propheten Ezechiel (1, 1–14) und auf der Schau des Johannes<br />
auf Patmos (Offb 4, 6–8) basierenden Evangelistensymbole zugleich<br />
auch als Christussymbole. Die den einzelnen Evange-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
7 Meditation zum Titelbild<br />
listen zugeordneten vier geflügelten Wesen: Mensch (Matthäus),<br />
Löwe (Markus), Stier (Lukas) und Adler (Johannes) umgeben<br />
in vielen Darstellungen den König und Weltenherrscher<br />
Christus. Der Stier gilt als Symbol für das Opfer und auch für<br />
das Priestertum Christi. Vielleicht deutet auch der goldene<br />
Nimbus des Tieres symbolisch auf die Zugehörigkeit zu Christus<br />
hin.<br />
In der ganz gesammelten Arbeitsweise des Evangelisten spiegelt<br />
der Maler die Gründlichkeit wider, mit der Lukas sein Werk<br />
erarbeitet hat. Ausdrücklich betont Lukas am Beginn seines<br />
Evangeliums, daß er sich entschlossen habe, „allem von Grund<br />
auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus,<br />
der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von<br />
der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen<br />
wurdest.“ (Lk 1, 3 f.) Am Beginn der Apostelgeschichte<br />
nimmt er Bezug auf seinen Evangelienbericht, wenn er sagt:<br />
„Im ersten Buch, lieber Theophilus, habe ich über alles berichtet,<br />
was Jesus getan und gelehrt hat, bis zu dem Tag, an dem er<br />
(in den Himmel) aufgenommen wurde.“ (Apg 1 f.)<br />
So wie Lukas seine Leser von der Glaubwürdigkeit der Frohbotschaft<br />
überzeugen will, möchte auch der Maler in Form und<br />
Farbe alle, die seine Bilder betrachten, hinweisen auf den, von<br />
dem die ganze Botschaft des Neuen Testamentes spricht, Jesus<br />
Christus.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
327 Thema des Monats<br />
Der eine und dreieine Gott<br />
Gott lebt ursprünglich beziehungsweise<br />
Der eine unvorstellbare, unendliche, weltüberlegene und<br />
zeitenthobene, heilige, treue, der große, mächtige und reiche<br />
Gott wird in der Bibel gerade dadurch charakterisiert, daß<br />
er sich uns vorstellt, daß er Nicht-Göttliches schafft und sich in<br />
Liebe endliche, bedürftige, welt- und zeitverhaftete, wankelmütige,<br />
lieblose und unheilige Menschen, ja ein geschichtliches<br />
Volk als ganzes, als Gegenüber, Partner, Boten, Verbündete<br />
sucht, zu Liebe und Treue führen, heilen und heiligen<br />
möchte. Die Bibel sagt vom radikal bilderlosen Gott (Ex 20, 4;<br />
Dtn 4, 15–18), daß er Mann und Frau – und Kind und Greis –<br />
zu seinem Bilde will und wirkt (Gen 1, 27). Biblisch sind Menschen<br />
als Geschöpfe vom Schöpfer radikal unterschieden und<br />
zugleich sind sie als Geschöpfe Worte des Schöpfers: Durch ihr<br />
Leben sprechen sie von dem, der sie ins Leben gerufen hat, sie<br />
legen Gott und seine Wirklichkeit durch ihr Tun und Lassen<br />
aus. Im Neuen Testament bleibt diese alttestamentliche Sicht<br />
und Einsicht erhalten und wird zugleich im Blick auf Jesus von<br />
Nazaret erneuert und aufs Äußerste geschärft, ohne daß dabei<br />
die Einheit und Einzigkeit Gottes und die Grundunterscheidung<br />
von Gott und Welt, Schöpfer und Geschöpf, aufgegeben würde.<br />
Das Gottesbildsein Jesu Christi (Kol 1, 15), des Exegeten (Deuters)<br />
Jahwes (Joh 1, 18), bedeutet keinen Bruch mit dieser fundamentalen<br />
biblischen Gotteserfahrung.<br />
Die Grundlage des christlichen Trinitätsglaubens sind heilsgeschichtliche<br />
Erfahrungen mit Gott, die in der Bibel bewahrt<br />
und zugänglich sind. Der evangelische Theologe Karl Barth und<br />
der katholische Theologe Karl Rahner haben im 20. Jahrhundert<br />
die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß von einer „immanenten<br />
Trinität“, einer Dreifaltigkeit in Gottes innerem Leben,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 328<br />
nur im Blick auf die „ökonomische Trinität“, die Dreifaltigkeit<br />
Gottes, wie sie sich dem Volk Israel als ganzem und einzelnen<br />
Menschen in der Heilsgeschichte geoffenbart hat, gesprochen<br />
werden kann. Das innere Leben Gottes können wir zum<br />
Gegenstand unserer Glaubensaussagen machen – welche<br />
Kühnheit! –, weil und sofern wir darauf vertrauen, daß sich<br />
Gott in der Geschichte nicht als ein anderer offenbart denn als<br />
der Gott, der er ist, der er zuinnerst ist. Weil sich Gott in der<br />
Heilsgeschichte als Vater, Sohn und Geist zeigt, ist er auch an<br />
sich Vater, Sohn und Geist. In der Geschichte teilt Gott sich<br />
selbst mit; darum ist er seinem eigenen Wesen nach Selbstmitteilung.<br />
Weil Gott in sich selbst selbstlos schenkende Beziehung<br />
ist, kann er selbstlos sich selbst schenkend mit dem Menschen<br />
in Beziehung treten. Karl Rahner hat es so gesagt: „Die ‚ökonomische‘<br />
Trinität ist die ‚immanente‘ Trinität und umgekehrt.“<br />
Das christlich-trinitarische Bekenntnis wurde, so haben wir<br />
oben angedeutet, durch im Glauben gedeutete Begegnungen<br />
mit Jesus Christus notwendig. Glaubensgeschwister Jesu machten<br />
in seiner Nähe Erfahrungen, die sie nicht anders denn als<br />
Widerfahrnisse der Nähe Jahwes und seines Heiles deuten<br />
konnten. Jesu Leben und Sterben wurde von Männern und<br />
Frauen in Israel als außer-ordentlicher Offenbarungsort des einen<br />
Gottes Israels erlebt und begriffen: Dies begründet alle<br />
„Christologie“ und erneuert in eins damit das Reden vom Gott<br />
Israels selbst. Die Gottes Heil in Jesus erfahren haben, gewinnen<br />
die kühne Überzeugung, daß das Leben und Sterben des<br />
Jesus von Nazaret Gott nicht äußerlich ist. In Menschen, die Jesus<br />
als den Menschen erfuhren, der sein Leben ganz von Gott<br />
her zu empfangen und zu geben vermag, wächst vor und nach<br />
Ostern die Gewißheit, daß in Jesu Lebenshingabe Gott selbst<br />
sich den Menschen gibt. Jesu Wirken als Heiland (als Heiler) ist<br />
also nicht bloß eine goldene Erinnerung, ein schönes Stück Vergangenheit,<br />
sondern eine im Heiligen Geist zu jeder Zeit und<br />
für alle Zeit erreichbare göttliche Vor-Gabe. Sie befreit und verpflichtet<br />
auch uns und unsere Gegenwart.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
329 Thema des Monats<br />
Entscheidend für die christliche Gottesvorstellung, so läßt<br />
sich pointiert zusammenfassen, ist nicht nur der Glaube an den<br />
einen Gott, sondern an den Gott, der sich in der Geschichte<br />
als Vater, Sohn und Geist und damit als dreifaltiger offenbart.<br />
Im Alten Testament findet sich die Erfahrung bezeugt, daß der<br />
eine Gott in seiner Offenbarung aus sich selbst heraustritt:<br />
durch sein Wort, seinen Engel, die Weisheit, den Geist (Jes 9, 7;<br />
Ex 14, 19). Wird die eigentliche kirchliche Trinitätslehre auch<br />
erst später entfaltet, so finden sich Zeugnisse für den Dreifaltigkeitsglauben<br />
doch bereits im Neuen Testament. Aller reflektierenden<br />
Trinitäts-Lehre aber geht das trinitarische Bekenntnis,<br />
der Lobpreis des dreieinen Gottes voraus: Die christliche<br />
Gebetshaltung ist grundlegend Hinwendung zum Vater im Mitsprechen<br />
mit dem Sohn, bewegt und getragen durch den Heiligen<br />
Geist.<br />
Vater, Sohn und Geist dürfen als die drei entscheidenden und<br />
maßgeblichen „Erfahrungsorte“ (Josef Wohlmuth), als die endgültigen<br />
Zuwendungs- oder „Identifikationsorte“ des Göttlichen<br />
(Jürgen Werbick) verstanden werden: In ihnen offenbart sich<br />
ein göttliches Liebesgeschehen, „das als so geoffenbartes seine<br />
Wirklichkeit ist“, wie es Josef Wohlmuth ausdrückt, ein Geschehen,<br />
das also nicht noch einmal von einer hinter ihr liegenden<br />
anderen Wirklichkeit zu unterscheiden wäre. Es ist Aufgabe der<br />
Theologie, im Licht des Glaubens begrifflich darzulegen und<br />
nachzuerzählen, daß und wie an diesen drei definitiven Erfahrungsorten<br />
des Göttlichen – in Vater, Sohn und Geist – sich<br />
Gott selbst, sich Gottes Wesen zeigt.<br />
Gott, so läßt sich die genuin christliche Gotteserfahrung charakterisieren,<br />
ist einer, aber nicht isoliert; er ist nicht monolithisch,<br />
sondern in sich differenziert, in sich beziehungsreich.<br />
Wir sind Gott nicht gewachsen. Wir denken Gott zuerst als<br />
einen und dann erst, in einem zweiten Schritt, als dreifaltig,<br />
doch seine Wirklichkeit ist von jeher Beziehungswirklichkeit.<br />
Die Dreifaltigkeit des einen Gottes bedeutet: Gott lebt ursprünglich<br />
beziehungsweise.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 330<br />
Für den evangelischen Theologen Eberhard Jüngel ist die<br />
christliche Trinitätslehre so „der unerläßlich schwierige Ausdruck<br />
der einfachen Wahrheit, daß Gott lebt, weil Gott als<br />
Liebe lebt“.<br />
Susanne Sandherr<br />
Trinitätsdarstellungen in der Kunst<br />
Zwischen Bildfindung und Bildvermeidung<br />
Anders als das Weihnachtsfest, Ostern und Pfingsten besitzt<br />
das Dreifaltigkeitsfest keine klar zugeordnete biblische<br />
Geschichte. Könnte nicht die von allen Evangelisten bezeugte<br />
Taufe Jesu im Jordan, mit der das Markus- und das Johannesevangelium<br />
einsetzen, diese Gründungserzählung sein? Die<br />
Evangelien bieten in der Taufe Jesu ein erstes, implizites Bild<br />
der Dreifaltigkeit: Sie sprechen von der Stimme des Vaters, von<br />
der Herabkunft des Geistes in Gestalt einer Taube über Jesus<br />
aus Nazaret – nur an dieser Stelle erscheint der Geist biblisch<br />
ausdrücklich in diesem Bild –, und vom Sohn, der durch Johannes<br />
die Taufe empfängt.<br />
Die Taufe im Jordan findet sich seit der Zeit der frühen Kirche<br />
als Bildmotiv. Schon Katakombenfresken und Sarkophagreliefs<br />
des 3. und 4. Jahrhunderts stellen das Geschehen dar. Die Taufe<br />
Jesu gehört bald zum Kernbestand der christlichen Bildkunst.<br />
Das Christentum des ersten Jahrtausends hat sich an die alttestamentliche<br />
Vorgabe gehalten, daß Gott unsichtbar und undarstellbar<br />
ist. So ist in den alten Taufbildern nur der im Wasser<br />
stehende Christus zu sehen, Hand und Taube sind Hinweise<br />
auf Vater und Geist. Die Hand aus dem Himmel ist dabei kein<br />
Bild Gottes, sondern bildet Gottes Handeln ab. Auch im Titel-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
331 Unter die Lupe genommen<br />
bild des Augusthefts von „Magnificat“, einer Darstellung der<br />
Verklärung Jesu, zeigt die Hand das Sprachhandeln Gott Vaters<br />
an, ebenso im Bild des Maihefts. Gottes Sichtbarkeit wird im<br />
Bildkosmos des ersten Jahrtausends im Rahmen von Joh 1, 18<br />
belassen: „Niemand hat Gott je gesehen. Der Einzige, der Gott<br />
ist und am Herzen des Vaters ruht, er hat Kunde gebracht.“<br />
Dies ändert sich mit dem 12. Jahrhundert. Der Vater, der vom<br />
Himmel her spricht und dessen Wirken durch die Hand symbolisiert<br />
wurde, wird nun selbst als Gesicht oder Brustbild<br />
sichtbar.<br />
Die bildliche Darstellung der göttlichen Trinität stellte und<br />
stellt Kunst und Theologie vor besondere, vielleicht vor unlösbare<br />
Herausforderungen. Wie läßt sich die Balance von Bildfindung<br />
und Bildvermeidung in der Darstellung der Einheit und<br />
Dreifaltigkeit Gottes halten?<br />
Der französische Kirchenhistoriker François Boespflug unterscheidet<br />
in der Geschichte der Trinitätsdarstellung drei Stufen:<br />
eine erste Periode der indirekten Andeutung (4.–8. Jahrhundert),<br />
eine zweite Phase der Erkundung und Erfüllung (9.–12.<br />
Jahrhundert) und eine kreative, hochdifferenzierte Blütezeit<br />
(12. bis zum Beginn des 15. Jahrhunderts).<br />
In frühchristlicher Zeit wurde die Trinität nicht menschengestaltig,<br />
sondern in typologischen, zahlensymbolischen und figürlich-symbolischen<br />
Bildern dargestellt. So wurde der Besuch<br />
der drei Männer bei Abraham in Mamre (Gen 18, 1–16) als<br />
Hinweis auf die göttliche Dreifaltigkeit gedeutet. In der römischen<br />
Katakombe an der Via Latina findet sich eine Darstellung<br />
dieses Motivs, die aus der Mitte des 4. Jahrhunderts stammt.<br />
Die Erzählung des biblischen Danielbuchs von den drei Jünglingen<br />
im Feuerofen oder das Motiv der drei Ranken, die der<br />
Mundschenk des Pharao im Traum erblickt, wurden ebenfalls<br />
zu Bildern der Trinität. An zahlensymbolischen Bildmotiven<br />
finden sich das dreifache Christusmonogramm, so als Apsismosaik<br />
in Albenga im 5. Jahrhundert, drei Mandorlen mit den<br />
Zeichen Alpha und Omega, und schließlich das Dreieck.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Unter die Lupe genommen 332<br />
Figürlich werden die Hand Gottes und die Taube als Symbol des<br />
Heiligen Geistes Christus, dem Lamm Gottes, oder der Gestalt<br />
Jesu, etwa bei der Taufe im Jordan, beigegeben. Selten finden<br />
sich einfigurige Bilder, häufiger drei gleichgebildete Einzelpersonen.<br />
Das Mittelalter entwickelt diese Bildfindungen weiter. Geometrische<br />
Formen wie Dreieck, Kreis mit Dreieck, häufig in<br />
Verbindung mit der Hand Gottes, und drei ineinander verschlungene<br />
Kreise werden verwendet. Es begegnen die Verdreifachung<br />
von Tiermotiven – von Hasen, Fischen und Vögeln –<br />
oder Naturformen wie das Kleeblatt. Am häufigsten wird die<br />
Trinität durch den greisen Gottvater, den jugendlichen Christus<br />
und die Taube dargestellt, wobei Gottvater und Christus gemäß<br />
dem Schriftwort: „Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen“<br />
(Joh 14, 9) oft die gleichen Gesichtszüge tragen. Das<br />
Lamm kann auch im Mittelalter für Christus, die Hand für Gottvater<br />
stehen.<br />
Die bedeutendste Bildformulierung für die Trinität ist seit<br />
dem 12. Jahrhundert der „Gnadenstuhl“: Gottvater hält das<br />
Kreuz mit dem Sohn oder den Schmerzensmann ohne Kreuz<br />
(Erbärmdebild). Der Begriff „Gnadenstuhl“ verweist auf Martin<br />
Luthers Bibelübersetzung. Im Hebräerbrief (4, 16) gibt der Reformator<br />
das griechische „ho thronos tês charitos“ (Thron der<br />
Gnade) sowie das Wort „hilastêrion“ (Hebr 9, 5), wörtlich: Sühneplatte,<br />
die Deckplatte über der Bundeslade (vgl. Ex 25, 17;<br />
Lev 16, 14), mit „Gnadenstuel“ wieder. Paulus spricht im Römerbrief<br />
(3, 25) ebenfalls vom „hilasterion“, vom Sühnopfer<br />
Jesu Christi; Luther übersetzt auch hier mit „Gnadenstuhl“.<br />
Einige Darstellungsformen der Trinität werden verurteilt<br />
(durch Benedikt XIV. und Urban VII.), wenn etwa auf einem<br />
Leib drei Köpfe oder ein dreigesichtiger Kopf sitzen. Möglicherweise<br />
von der antiken Figur des dreiköpfigen Cerberus beeinflußt,<br />
erscheinen in mittelalterlichen Höllendarstellungen<br />
dreiköpfige Teufelsbilder; die vielschichtige kirchliche Ableh-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
333 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
nung der dreiköpfigen oder dreigesichtigen (trifrons) Dreifaltigkeitsbilder<br />
mag auch damit zusammenhängen.<br />
In der Baukunst spiegelt sich die Trinität nur selten, etwa in<br />
der Dreischiffigkeit von Kirchenräumen oder in der Dreizahl<br />
der Apsiden. Auf die Trinität anspielende Grundrisse finden<br />
sich seit dem Barock; diese Kirchen sind auch der Trinität geweiht.<br />
Daß das Christentum, nach einer ersten bildkritischen Phase,<br />
seit dem 4. Jahrhundert als einzige der monotheistischen Religionen<br />
die aus dem Alten Testament wirkenden Vorbehalte<br />
gegenüber dem Gottesbild aufgegeben hat, hat seine Wurzeln<br />
in der Gestalt Jesu, des Bildes, (gr. eikôn), der „Ikone“ des unsichtbaren<br />
Gottes (Kol 1, 15). Doch der Gedanke einer innergöttlichen<br />
Differenz in der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit ist<br />
mit der Einsicht in die einzigartige Gottebenbildlichkeit Christi<br />
nicht aufgehoben: „Das Sichtbare des Vaters ist der Sohn, und<br />
das Unsichtbare des Sohnes ist der Vater“, heißt es bei Irenäus<br />
von Lyon. Eine Einsicht, die es immer neu zu erreichen – und<br />
künstlerisch zu gestalten gilt.<br />
Susanne Sandherr<br />
„Gott sei gelobet und gebenedeiet“<br />
Ein eucharistisches Lernlied<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 131.<br />
Eine Hilfe zur rechten Eucharistiefrömmigkeit, das ist der aus<br />
dem Mittelalter stammende, in der Reformationszeit durch<br />
Martin Luther erneuerte Gemeindegesang „Gott sei gelobet<br />
und gebenedeiet“ wohl auch noch für Christen und Christinnen<br />
unserer Tage.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Singt dem Herrn ein neues Lied 334<br />
Ein Anliegen der Reformatoren war es, gegenüber der mittelalterlichen<br />
Konzentration auf die Idee des Opfers und den<br />
Aspekt der Anbetung dem Mahlcharakter der Eucharistie gerecht<br />
zu werden. Dieses Bemühen läßt sich den Strophen ablesen,<br />
die Luther dem seit der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts<br />
belegten Lied hinzufügte. Das mittelalterliche Lied ist von<br />
seinem Ursprung her ein „Leis“, ein mit dem „Kyrieleis“ abschließender<br />
Gesang, hier der Fronleichnamssequenz „Lauda<br />
Sion salvatorem“ zugeordnet. Zwischen den vom Chor vorgetragenen<br />
lateinischen Strophen der Sequenz sang das Volk den<br />
refrainartigen Leis. Wie Quellen aus dem 14. und 15. Jahrhundert<br />
belegen, kam der Leis aber auch als selbständiges Kommunionlied<br />
zum Einsatz.<br />
Als ein solches Lied wollte Martin Luther das „Gott sei gelobet<br />
und gebenedeiet“ bewahren und in die neue Zeit hinübertragen.<br />
Den ursprünglich zweistrophigen Leis faßte der Reformator<br />
zu einer Strophe zusammen, die er um zwei eigene neue<br />
Liedteile ergänzte. Das Stichwort „uns ... zugute“ der älteren<br />
Vorlage, die zur ersten Strophe des neuen Abendmahlsliedes<br />
wird, greift Luther in der Partie, die er als zweite Strophe anschließt,<br />
mit dem Stichwort „für uns“ auf. Fünfmal erscheint<br />
das Signalwort „uns“: Es geht um das „für uns“, um das „für<br />
euch gegeben“, „für euch vergossen“ der Passion Christi und<br />
des Abendmahls. Ob die Einsetzungsworte in der Gelehrtensprache<br />
Latein der Gemeinde verschlossen bleiben oder in der<br />
Volkssprache gehört und beherzigt werden können, ist für Luther<br />
keine hochwissenschaftliche Spezial- und schon gar keine<br />
bloße Geschmacksfrage, sondern eine für den Vollzug des Sakraments<br />
wesentliche Angelegenheit.<br />
„Für euch“ – im Abendmahl des Leidens und Sterbens Christi<br />
zu gedenken, das bedeutet zu verkündigen, daß dieser Tod „uns<br />
zugute“ ist, uns zugute kommt (1 Kor 11, 25 f.). Das „für uns“<br />
gibt dem Gottesdienst seine Ausrichtung, aber nicht als unsere<br />
berechtigte Forderung, sondern als unser Geschenk – als Gabe,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
335 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
die uns gnädig zufällt, die uns „gratis“, durch Gottes freie „gratia“,<br />
zukommt.<br />
Die dritte Strophe des Liedes, die zweite, die Luther dem<br />
älteren Textbestand hinzufügt, spricht zweimal vom Ziel der<br />
Zuneigung, der Zuwendung Gottes im Sakrament des Altars.<br />
Zuerst hofft sie, „daß wir gehen auf seinen Wegen / in rechter<br />
Lieb und brüderlicher Treue; / daß uns die Speis nicht gereue“<br />
und schließlich, „daß dein arm Christenheit / leb in Fried und<br />
Einigkeit“. Auch hier steht der erste Brief des Apostels Paulus<br />
an die Gemeinde zu Korinth im Hintergrund; Luther läßt sich<br />
offenbar vom 12. und 13. Kapitel des 1. Korintherbriefs inspirieren,<br />
in denen die Gemeinde selbst als Leib Christi gedeutet<br />
wird. „Das ‚für uns‘ Gottes zielt durch das Sakrament auf das<br />
‚für einander‘ der christlichen Gemeinde“, so sagt es der katholische<br />
Theologe Alex Stock. „Es sind zwei Nutzen und Früchte<br />
des Sakraments. Die erste, die uns macht zu Brüdern und Miterben<br />
Christi, also daß wir werden ein Kuchen mit Christo. Die<br />
ander macht, daß wir auch werden ein Kuchen miteinander als<br />
mit dem Nächsten“, so klingt es in der bildhaften Predigtsprache<br />
Martin Luthers. Das Gottesgeschenk der Kommunion führt<br />
zu einer neuen Gemeinschaftlichkeit des Lebens – wo nicht,<br />
wird das gottesdienstliche Mahl die Feiernden am Ende gereuen<br />
(1 Kor 11, 27). Eine biblische Mahnung, die ihre Brisanz<br />
und ihr Gewicht auch heute nicht verloren hat!<br />
Wenn Martin Luther am Ende von der „arm Christenheit“<br />
spricht, so hat er durchaus die Härten und Belastungen vor Augen,<br />
der die Gläubigen seiner Zeit ausgesetzt sind, die schweren<br />
Zerreißproben, denen die Kirche unterworfen ist, auch und gerade<br />
in der Frage der rechten Feier des Abendmahls.<br />
Die Kirchen der Reformation haben das Fronleichnamsfest,<br />
dem das Lied „Gott sei gelobet und gebenedeiet“ seinen Ursprung<br />
verdankt, für einen Irrweg eucharistischer Frömmigkeit<br />
gehalten; die römische Kirche hat das Fest bewahrt. Doch das<br />
Abendmahlslied, das Luther aus dem Leis der Fronleichnams-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 336<br />
sequenz weiterentwickelt hat, trennt die Kirchen nicht, sondern<br />
verbindet sie. Schon 1537 wird die von Martin Luther<br />
überarbeitete erste Strophe des Liedes katholischerseits übernommen,<br />
und im 20. Jahrhundert begegnet in katholischen<br />
Gesangbüchern Luthers Liedfassung in gekürzter Form, auch<br />
wenn der Name des Reformators erst im „Gotteslob“ von 1975<br />
genannt wird. Der Mahlcharakter der Messe kann, dank liturgischer<br />
und biblischer Bewegung, nun auch im katholischen<br />
Raum stärker gewürdigt und in seiner Tiefe verstanden werden.<br />
Jene spezifisch mittelalterlichen Formen der Eucharistieverehrung,<br />
die bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts die katholische<br />
Volksfrömmigkeit prägten, behalten ihr Recht, aber verlieren<br />
ihr Übergewicht.<br />
„Gott sei gelobet und gebenedeiet“ ist wohl tatsächlich und<br />
im tiefsten Sinne ein „Lernlied“, wie es im Handbuch zum EKG<br />
aus dem Jahre 1970 heißt. Ein eucharistisches Lernlied – so<br />
sollten wir dieses Kirchenlied lesen und mit Herz und Verstand<br />
singen. Von seiner biblisch getränkten Frömmigkeit, Frömmigkeit<br />
des Mittelalters und der Reformation, dürfen auch wir<br />
Menschen des 21. Jahrhunderts lernen, was es heißt, zum Tisch<br />
des Herrn geladen zu sein.<br />
Susanne Sandherr<br />
Kirchenbänke und Kirchengestühl<br />
Der Ort der Gemeinde<br />
In Spätantike und Frühmittelalter war jeder Bereich des Kirchenraumes,<br />
der nicht durch besondere Dienste in Anspruch<br />
genommen wurde, Ort der Gemeinde. Der liturgische Handlungsraum<br />
des Klerus wurde demgegenüber schon früh durch<br />
Schranken abgegrenzt. Innerhalb des verbleibenden Raumes<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
337 Die Mitte erschließen<br />
konnte sich die Gemeinde frei bewegen, was besonders wichtig<br />
für die zahlreichen Prozessionen war.<br />
Ansonsten stand man im Gottesdienst und konnte so die<br />
Arme zum Gebet erheben, wie es antike Sitte war. Es gab sogar<br />
antike Verordnungen, die das Knien im sonntäglichen Gottesdienst<br />
ausdrücklich verboten. Zahlreiche antike und mittelalterliche<br />
Gebäude besaßen aber – vielleicht in Anlehnung an<br />
Synagogenbauten – entlang der Innenwand einen steinernen<br />
Sockel, auf dem man sich notfalls ausruhen konnte.<br />
Als das Knien im Gottesdienst des Mittelalters wichtiger<br />
wurde, tat man auch dies im freien Raum auf dem Boden. Sitze<br />
hatten nur die Vorsteher, ggf. die besonderen liturgischen Dienste,<br />
nicht aber die Gläubigen. Bereits die Regel des heiligen Benedikt<br />
sprach allerdings vom Sitzen der Mönche (vermutlich<br />
auf Bänken) beim Hören der Lesungen in der Vigil. In Klöstern<br />
erhielten die Mönche im zweiten Jahrtausend ein eigenes<br />
Chorgestühl – Dome, Stiftskirchen und große Pfarrkirchen<br />
adaptierten dies für ihren Klerus.<br />
Sitzgelegenheiten für Gemeindemitglieder waren ein Privileg<br />
der Mächtigen, zunächst des Königs und der Adeligen. Sie besaßen<br />
im Kirchenschiff ein eigenes Gestühl, das niemand anderem<br />
zur Verfügung stand. Im Hochmittelalter forderte auch das<br />
obere Bürgertum dieses Privileg ein. Wie der Adel ließen sich<br />
Magistrate und Zünfte festes Gestühl in den städtischen Kirchen<br />
aufstellen.<br />
Aber auch private Stühle sind belegt: Auf Gemälden sind z. B.<br />
Bänke zu erkennen, die an der Seite mit einer Tür verschlossen<br />
wurden; einen freien Zugang gab es nicht. Die Errichtung solcher<br />
Bänke geschah auf eigene Kosten und war mit Zahlungen<br />
an die Kirchengemeinde verbunden. Entsprechend konnte der<br />
Besitzer bestimmen, wer dort Platz nehmen durfte. Solche<br />
Bänke mußten nicht unbedingt auf das liturgische Geschehen,<br />
sondern konnten auch auf einen Devotionsort (z. B. Heiligenfigur<br />
oder -bild) ausgerichtet sein.<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 338<br />
Zugleich war es für einzelne Gläubige möglich, zu sehr langen<br />
Gottesdiensten eine Sitzgelegenheit mit in die Kirche zu<br />
nehmen, wie dies der Kölner Ratsherr Hermann Weinsberg im<br />
16. Jahrhundert für einen Karfreitag berichtet: Der Knecht<br />
„trug mir auf Karfreitag einen Stuhl in den Dom, darauf ich sitzen<br />
und die Passion hören sollte; da sagte ich zu ihm: ‚Mach<br />
auch, daß du zu sitzen kommst, denn es wird lang werden‘“.<br />
Ansonsten haben sich die Menschen im Gottesdienst frei bewegen<br />
können. Nicht wenige spätmittelalterliche Bilder mit<br />
Altarszenen zeigen die Gläubigen um den Altar herum stehend,<br />
in ihrer Mitte der Priester und der Meßdiener – also gar nicht<br />
in ehrfurchtsvoller Entfernung vom Altar.<br />
Die Einführung der Kirchenbänke für die ganze Gemeinde ging<br />
vor allem von den Reformationskirchen aus. Motiv war dabei<br />
zunächst, daß das Recht, im Gottesdienst zu sitzen, allen zukam<br />
und nicht auf einige wenige beschränkt war; erst sekundär trat<br />
die Dauer evangelischer Predigtgottesdienste im Barock als<br />
Motiv hinzu. Da die Vornehmen und Reichen sich weiterhin<br />
ein regelrechtes Gestühl aufstellen ließen, mußte durch eine Regelung<br />
der Bestuhlung verhindert werden, daß der Gemeinde<br />
die Sicht verbaut wurde und sie Predigt sowie Abendmahl nicht<br />
mehr richtig hören und sehen konnte. Um eine Parzellierung<br />
und Privatisierung des Kirchenraumes zu unterbinden, begann<br />
man Ende des 16. Jahrhunderts mit der Aufstellung von Bänken<br />
durch die Gemeinden, deren Plätze vermietet wurden. Schnell<br />
erstarrte die Sitzordnung in den Kirchen und spiegelte den<br />
gesellschaftlichen Rang wider. Ausgerichtet war das Gestühl in<br />
evangelischen Kirchen meist auf den Hauptort des liturgischen<br />
Geschehens, die Kanzel.<br />
Katholische Gemeinden haben in den deutschsprachigen Ländern<br />
die Aufstellung von Kirchenbänken von ihren evangelischen<br />
Nachbarn übernommen und fügten meist noch Kniebänke<br />
hinzu – während in südeuropäischen Ländern häufig<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
339 Die Mitte erschließen<br />
wirkliche Stühle benutzt wurden. Selbst in einfachen Landkirchen<br />
bildete das Gestühl ein Spiegelbild der gesellschaftlichen<br />
Ordnung, in der entweder Familien zusammensaßen oder später<br />
jeweils die Männer und die Frauen. Allerdings wurden die<br />
Bänke in katholischen Kirchen durchweg auf den Altar als dem<br />
Zentrum des liturgischen Geschehens hin ausgerichtet. So entstand<br />
eine lange unbekannte Raumsituation: Der Altar stand<br />
wie auf einer Theaterbühne vor der in Reihen gestaffelt sitzenden<br />
Gemeinde. Dieses starre Gegenüber, das die Gemeinde in<br />
gewisser Distanz zum liturgischen Geschehen hielt und die Bewegungsdimension<br />
auf Sitzen, Stehen und Knien reduzierte,<br />
wurde bis in die jüngste Zeit zum prägenden Eindruck katholischer<br />
Kirchenräume.<br />
Das Grundmotiv der „aktiven Teilnahme“ aller Gläubigen,<br />
das die ganze Liturgiereform nach dem II. Vatikanischen Konzil<br />
durchzog, hat dieses Gegenüber insofern aufgebrochen, als<br />
Altar und Ambo erkennbar näher an die Gemeinde rückten.<br />
Ansonsten ist die Gestaltung des Gemeinderaumes meist noch<br />
von der Vorstellung bestimmt, der ganze Raum müsse mit Bänken<br />
ausgefüllt sein.<br />
Oftmals ist eine Reduktion der Bestuhlung aber ein Segen,<br />
denn auf einmal entstehen Freiräume für Bewegung (etwa Prozessionen),<br />
oder es entstehen neue Räume und Orte, z. B. für<br />
einen Taufbrunnen, um den sich eine Gemeinde versammeln<br />
kann. Vor allem nimmt schnell der Eindruck der nur spärlich<br />
mit Gläubigen gefüllten Kirche ab, der durch leere Kirchenbänke<br />
entsteht.<br />
Gerade Gemeinden, die den liturgischen Raum bewußter gestalten,<br />
sind nicht selten zum Ersatz der Bänke durch Stühle gelangt.<br />
Diese lassen z. B. auch die gebogene Aufstellung (etwa im<br />
Halbkreis oder der Ellipse) zu, die das Zueinander von liturgischen<br />
Handlungsorten und Gemeinde wie auch die aktive Teilnahme<br />
an der Liturgie verbessern wollen.<br />
Friedrich Lurz<br />
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November 2008<br />
„Gottes Geduld und Eifer“<br />
Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger Gott,<br />
langmütig, reich an Huld und Treue.<br />
Buch Exodus – Kapitel 34, Vers 6<br />
VERLAG BUTZON & BERCKER KEVELAER<br />
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Editorial 4<br />
Liebe Leserinnen und Leser!<br />
Jeder und jedem von uns geschieht es, daß sich Menschen von<br />
uns entfremden, die uns nahestanden. Freunde, die einem in<br />
schwerer Zeit geholfen haben und für die man selbst einiges<br />
eingesetzt hat – doch auf einmal, kaum zu glauben, kennt man<br />
sie nicht mehr. Sie weisen einen schroff ab, ja, werden verletzend<br />
und ungerecht. Wie nahe liegt es da, selbst die Verbindungen<br />
zu kappen. Oft genug ist das nötig, um mit Enttäuschungen<br />
fertig zu werden. Doch – ist es einer Beziehung, die<br />
einmal Tiefe und Größe hatte, angemessen, wenn man sie mir<br />
nichts, dir nichts aufgibt?<br />
Solche Ereignisse fordern uns besonders heraus, unsere Situation<br />
von Jesus her zu sehen. Sollen wir als Glaubende seine<br />
Sache weiterführen, fällt uns dies in solch emotional belastendem<br />
Zusammenhang besonders schwer. Wir spüren das ungeheure<br />
Gewicht des Wortes von der „Liebe bis zur Vollendung“<br />
(Joh 13, 1). Verlangt es nicht Übermenschliches von uns?<br />
Überforderung liegt Jesus fern. Er lädt uns zu kleinen Schritten<br />
ein. Gott wie in den Psalmen (vgl. z. B. 41, 6–10; 55, 13–15)<br />
unsere Verbitterung vorzutragen, mag helfen, Schmerz und<br />
Wut zu lindern. Vielleicht wird uns im Austausch mit Gott<br />
klarer, wo wir selbst andere Menschen verletzt und die Fortsetzung<br />
einer Freundschaft unmöglich gemacht haben. Im besten<br />
Fall könnten wir von seiner Langmut uns selbst gegenüber<br />
lernen, uns in Geduld zu üben mit jenen, die uns enttäuscht<br />
haben. Ein erster Schritt dorthin wäre, nüchtern festzuhalten,<br />
was wir dem Betreffenden trotz allem verdanken, ein zweiter,<br />
trotz unserer Verletztheit die guten Gedanken zuzulassen, die<br />
sich dann möglicherweise einstellen. Möglich, daß wir dann<br />
die Kraft finden, Gott aus ganzem Herzen diese Menschen<br />
anzuvertrauen, die uns so schmerzhaft fremd geworden sind.<br />
Ihr Johannes Bernhard Uphus<br />
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Titelbild<br />
Majestas Domini<br />
Gero-Codex, Evangelistar,<br />
Reichenau für Köln, um 969,<br />
Hs 1948, fol. 4v,<br />
© Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt<br />
Von den mittelalterlichen Handschriften aus dem Scriptorium des Klosters auf<br />
der Insel Reichenau gilt der Gero-Codex als die älteste. Ein Widmungstext sowie<br />
eine Illustration zeigen, daß um 969 ein Mönch namens Anno diesen Codex<br />
für den späteren Erzbischof Gero von Köln angefertigt hat. Stilistische Ähnlichkeiten<br />
lassen darauf schließen, daß der Gero-Codex zur Gruppe der Anno-Eburnant-Handschriften<br />
gehört.<br />
Die Handschrift umfaßt auf 176 Pergamentseiten u. a. Lesungen des Kirchenjahres<br />
und mehrere Zierseiten mit reich geschmückten Initialen. Die Bedeutung<br />
der Handschrift basiert aber vor allem auf acht ganzseitigen Miniaturen, zu<br />
denen auch die Majestas Domini gehört. Die Gestaltung der Majestas Domini<br />
verweist auf das 150 Jahre früher entstandene Lorscher Evangeliar als Vorbild.<br />
Die ursprünglich für Köln bestimmte Handschrift befand sich später im<br />
Prämonstratenserstift in Wedinghausen, bis im Zuge der Säkularisation 1803<br />
das Kloster aufgehoben wurde. Von dort aus gelangte sie nach Darmstadt, wo<br />
sie in der Landesbibliothek aufbewahrt wird. Der Gero-Codex zählt heute als<br />
besonderes Beispiel ottonischer Buchmalerei zum Weltdokumentenerbe der<br />
UNESCO.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
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5 Meditation zum Titelbild<br />
Die Herrlichkeit des Herrn<br />
Der Gero-Codex, die älteste mittelalterliche Handschrift aus<br />
der Malschule des Klosters Reichenau (um 969) stellt als<br />
ganzseitige Miniatur die „Majestas Domini“, die „Majestät des<br />
Herrn“, dar.<br />
Die Mitte des Bildes zeigt eine jugendliche Christusgestalt,<br />
auf einem breiten Thron sitzend, vor einem kräftig blauen<br />
Hintergrund. Ein breiter Kreis, gleichmäßig strukturiert und<br />
abwechselnd gelb und braun koloriert, umgibt das Bildzentrum.<br />
In den vier Himmelsrichtungen sind die Evangelistensymbole<br />
in Medaillonform in den Kreis hineingestellt: unten<br />
ein Mensch oder Engel für den Evangelisten Matthäus, links<br />
ein Stier für Lukas, oben ein Adler für Johannes und rechts ein<br />
Löwe für Markus. Der breite Kranz, der wie ein strahlendes<br />
Rad das Leuchten der Mitte widerspiegelt bzw. unterstützt, ragt<br />
in einen breiten, mit Pflanzenornamenten verzierten Rahmen<br />
hinein. Wenn das mit roten Pflanzen geschmückte Rechteck,<br />
das ein grünes Feld umgibt, als Symbol für die Welt steht, so<br />
weist der Leuchtkranz darauf hin, daß die göttliche Wirklichkeit<br />
in Jesus Christus in diese Welt eingetaucht ist. Das Rot in<br />
den Evangelistensymbolen findet sich im Rahmen ebenso wieder<br />
wie das Blau im inneren Bildgrund und im Untergewand<br />
Christi. Die Evangelisten haben die göttliche Botschaft des<br />
Heils für die Menschen aller Zeiten aufgeschrieben, deshalb<br />
stellt der Maler sie als Verbindung zwischen dem göttlichen<br />
und dem menschlichen Bereich dar.<br />
Basierend auf Visionen der Propheten Ezechiel und Jesaja<br />
und der Offenbarung des Johannes, hat sich ein bestimmter<br />
Typus in der Christusdarstellung herausgebildet. Von Anfang an<br />
wurde die Majestas Domini als Bild des endzeitlichen Christus<br />
verstanden. Ursprünglich findet sich Christus als Weltenherrscher<br />
wohl in der östlichen Kunst in den Apsiden bedeutender<br />
Kirchen. Im Westen wurde Christus häufig zwischen den bei-<br />
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Meditation zum Titelbild 6<br />
den Aposteln Petrus und Paulus dargestellt. Die Majestas<br />
Domini in der Buchmalerei des frühen Mittelalters basiert auf<br />
den visionären Aussagen der Propheten Ezechiel und Jesaja und<br />
der Apokalypse. Im 11./12. Jh. findet sich das Bild des Weltenrichters<br />
in den Portalen großer Kathedralen. Christus wird sowohl<br />
jugendlich, ohne Bart, dargestellt als auch, unter dem Einfluß<br />
byzantinischer Kunst, streng und mit Bart. Die in der Gotik<br />
stark vermenschlichte Darstellung wurde dann zu einem Bild<br />
des schönen Christus, das später entweder vom Motiv des Jüngsten<br />
Gerichts abgelöst oder aber damit verbunden wurde.<br />
Der Prophet Ezechiel schildert im ersten Kapitel sehr ausführlich<br />
die Erscheinung Gottes. „Ich sah: Ein Sturmwind kam<br />
von Norden, eine große Wolke mit flackerndem Feuer, umgeben<br />
von einem hellen Schein. Aus dem Feuer strahlte es wie<br />
glänzendes Gold.“ (1, 4) Der Seher schaut und beschreibt zunächst,<br />
was diese Gotteserscheinung begleitet, ehe er zum Eigentlichen<br />
kommt: „Auf dem, was einem Thron glich, saß eine<br />
Gestalt, die wie ein Mensch aussah.“ (1, 26) Und diese Gestalt<br />
erscheint umgeben von „etwas wie glänzende(m) Gold in einem<br />
Feuerkranz“ (1, 27). Ezechiel sieht „etwas wie Feuer und<br />
ringsum einen hellen Schein“ (1, 27). Er beschließt seine Beschreibung<br />
mit den Worten: „So etwa sah die Herrlichkeit des<br />
Herrn aus.“ (1, 28) Der Prophet beschreibt Gott in menschlicher<br />
Gestalt. Dem Malermönch ist dieser Text offensichtlich bekannt.<br />
Der breite, leuchtende Kranz um die Christusgestalt auf<br />
dem Thron will den „Feuerkranz“ wiedergeben, und das leuchtende<br />
Gold im Nimbus Christi und am Thron erinnert an das<br />
„glänzende Gold“.<br />
Auch der Prophet Jesaja sieht den Herrn „auf einem hohen<br />
und erhabenen Thron“, und seine Herrlichkeit erfüllt die ganze<br />
Erde (6, 1.3) Die Engel huldigen ihm mit dem dreimaligen „Heilig“.<br />
Der Seher auf Patmos schaut in einer Vision ein ganz ähnliches<br />
Bild: „Ein Thron stand im Himmel; auf dem Thron saß<br />
einer, der wie ein Jaspis und ein Karneol aussah. Und über dem<br />
Thron wölbte sich ein Regenbogen, der wie ein Smaragd aus-<br />
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7 Meditation zum Titelbild<br />
sah.“ (Offb 4, 2 f.) In den Farben des Thrones greift der Maler<br />
das Aussehen der Edelsteine auf: Der farblose, durchsichtige<br />
Jaspis spiegelt sich in den hellen Teilen des Thrones wider; dessen<br />
grüner Rücken auf den Smaragd hinweist; die rote Farbe<br />
des Karneol greift er in der Kissenrolle und im Untergewand<br />
Jesu auf.<br />
Auf die Gottheit Jesu weist sein violett-purpurfarbiges Gewand<br />
hin. In der linken Hand hält Jesus das (goldene) Buch, die<br />
rechte hat er segnend erhoben. Fast durchsichtig ist das blasse,<br />
jugendlich wirkende Gesicht Jesu. Sein Blick gilt vielleicht den<br />
vielen Menschen, die sich vor seinem Thron versammeln werden.<br />
Man wird dabei an das Endgericht erinnert, von dem Matthäus<br />
im 25. Kapitel spricht: „Wenn der Menschensohn in seiner<br />
Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann wird er<br />
sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker<br />
werden vor ihm zusammengerufen werden“ (Mt 25, 31 f.). Der<br />
geöffnete Vorhang hinter der Christusgestalt könnte darauf hinweisen,<br />
daß mit dem Erscheinen Christi am Ende der Tage die<br />
Herrlichkeit Gottes aller Welt offenbar wird.<br />
Den Blick dieses Christus wird jede, jeder anders empfinden.<br />
Mancher wird darin Strenge sehen, die vielleicht Angst auslöst.<br />
Andere werden hinter diesen wissenden Augen auch die erbarmende<br />
Liebe entdecken, mit der Jesus zu seinen Lebzeiten den<br />
Menschen nachgegangen ist. Ganz sicher will der Maler nicht<br />
Angst einflößen mit seinem Christusbild; denn das Rot der<br />
Liebe umgibt auch dieses Geschehen. Und danach wird Christus<br />
uns einmal fragen: ob wir ihn geliebt haben in unseren<br />
Brüdern und Schwestern – wie schwach auch immer.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
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335 Thema des Monats<br />
Gottes Geduld und Eifer<br />
Jahwes Leidenschaft für den Menschen<br />
Der Eifersüchtige<br />
Im Alten Testament findet sich vielfach die Aussage, daß der<br />
Gott Jahwe eifersüchtig sei. Dabei handelt es sich ursprünglich<br />
nicht darum, Gott die Eigenschaft der Eifersucht zuzusprechen.<br />
Vielmehr wird mit dem Wort Eifer / Eifersucht die Begründung<br />
dafür formuliert, daß Jahwe allein als Gott verehrt<br />
werden will. Im Buch Exodus findet sich der älteste Beleg zur<br />
Eifersucht bzw. zum Eifer Gottes: „Du darfst dich nicht vor einem<br />
anderen Gott niederwerfen. Denn Jahwe trägt den Namen<br />
‚der Eifersüchtige‘; ein eifersüchtiger Gott ist er.“ (Ex 34, 14)<br />
Das Bild des Ehebundes, mit dem vor allem der Prophet Hosea<br />
die Beziehung zwischen Gott und seinem Volk charakterisiert,<br />
ist hier offensichtlich im Hintergrund wirksam.<br />
Die Botschaft von Exodus 34, 14 steht in engstem Zusammenhang<br />
mit dem biblischen Hauptgebot, dem Fremdgötter- und<br />
Bilderverbot. Zugleich drückt die Aussage über den Eifer Gottes<br />
aus, wie engagiert und rückhaltlos Gott seine Liebe zu Israel<br />
verwirklicht: in der Abwendung äußerer Gefahren und in der<br />
Reinigung des Volkes von Sünde und Schuld. Das Neue Testament<br />
nimmt diese Aspekte der Rede von Gottes Eifer auf; so findet<br />
sich die Verbindung mit der Ehemetaphorik etwa in 2 Kor<br />
11, 2, der Gedanke des göttlichen Gerichts in Hebr 10, 27.<br />
Langmütig, reich an Huld und Treue<br />
Daß Gott ausdrücklich die Haltung der Geduld zugesprochen<br />
wird, scheint im Widerspruch zu stehen zu der Zuschreibung<br />
von Eifer und Eifersucht. Doch auch die Vorstellung von Gottes<br />
Geduld beruht auf biblisch bezeugten Gotteserfahrungen, die<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Thema des Monats 336<br />
einzelne Männer und Frauen und das Volk Israel als ganzes<br />
in seiner Geschichte und in der Verkündigung Jesu gemacht<br />
haben. Gottes Geduld ist Langmut, wie zuerst im Alten Testament<br />
Jahwe selbst eindrucksvoll bezeugt: „Der Herr ging an<br />
ihm vorüber und rief: Jahwe ist ein barmherziger und gnädiger<br />
Gott, langmütig, reich an Huld und Treue“ (Ex 34, 6; vgl. Num<br />
14, 18; Neh 9, 17; Ps 103, 8; Weish 15, 1; Joël 2, 13; Jona 4, 2).<br />
Der alttestamentliche Gedanke, daß Gottes Geduld Schonung<br />
ist, daß er seinen Zorn zurückhält (Spr 14, 29; 15, 18; 16, 32),<br />
wird von Paulus aufgenommen und weitergeführt (Röm 2, 4 f.;<br />
9, 22; vgl. 1 Tim 1, 16). Gott erweist seine Gerechtigkeit, indem<br />
er die in Geduld hingenommen Sünden vergibt (Röm 3, 25; vgl.<br />
1 Petr 3, 20).<br />
Auf Gott harren<br />
Die Geduld Gottes wird beantwortet durch die Geduld der Gläubigen.<br />
„Auf Gott harren“ ist ihr Inhalt: ein Sich-Sehnen, ein<br />
Sich-Ausstrecken nach einer Zukunft, die ihnen von Gott verheißen<br />
ist. Biblisch kommt Geduld also nicht wie in der griechischen<br />
Tradition aus der Leidensfähigkeit des Helden oder<br />
aus der inneren Distanz des Weisen, sondern aus dem Vertrauen<br />
auf Gott. Jene Geduld, die den Menschen Christus gleich gestaltet,<br />
wird ihm geschenkt vom „Gott der Geduld“ (Röm 15, 5).<br />
Die menschliche Haltung der Geduld enthält in der christlichen<br />
stärker als in der heidnisch-griechischen Tradition das Moment<br />
des Wartens, ist aber keinesfalls rein reaktiv-passiv zu verstehen.<br />
Widerständigkeit und Beharrlichkeit gehören unverzichtbar<br />
zu ihr. Die Offenbarung des Johannes richtet den Blick auf<br />
die Wiederkunft des erhöhten Christus; sie ist das Ziel geduldigen<br />
Wartens in Standhaftigkeit.<br />
So wenig die Rede von Gottes Geduld seine resignierte Abwendung<br />
von den Menschen oder seine Gleichgültigkeit ihrem<br />
Tun und Lassen gegenüber anzeigt, so wenig bedeutet Geduld,<br />
verstanden als christliche Lebensform, ein leichtfertiges Sich-<br />
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337 Unter die Lupe genommen<br />
Abfinden mit Unrecht und Leid oder eine billige Jenseitsvertröstung,<br />
billig, weil sie lieblos ist, weil sie das Diesseits im tiefsten<br />
verachtet. Christliche Geduld lebt vielmehr aus der in Christus<br />
geschenkten Hoffnung für diese Schöpfung und befähigt Menschen<br />
so zu Ergebung und Widerstand. Diese Geduld, die in<br />
Wahrheit auf biblische Horizonte verweist, nennt Gregor der<br />
Große „Wurzel und Wächterin aller Tugenden“.<br />
Gottes Geduld und Eifer<br />
Gottes Geduld und Eifer – wie geht das zusammen? Ist ein<br />
sowohl eifernder als auch geduldiger Gott nicht ein hölzernes<br />
Eisen? Oder glauben wir an einen Gott, der sich nicht entscheiden<br />
kann, an einen Gott der – faulen – Kompromisse, des<br />
Mittelmaßes, des schwankenden Sowohl-Als-auch? Das biblische<br />
Zeugnis steht dieser Deutung denkbar deutlich entgegen.<br />
Geduld und Eifer, so gegensätzlich sie uns auch erscheinen mögen,<br />
stammen doch aus einer einzigen Wurzel: der unbezwingbaren<br />
göttlichen Menschenliebe. Gottes Geduld, so sagt es der<br />
evangelische Theologe Eberhard Jüngel, ist nichts anderes als<br />
der lange Atem seiner Leidenschaft.<br />
Susanne Sandherr<br />
Geduld – eine christliche Tugend?<br />
Ihr müßt Geduld haben. Das braucht Zeit ...“, werden Kinder<br />
zum Warten ermahnt, wenn ihnen etwas nicht schnell genug<br />
geht. Erwachsene erfahren in manchen Situationen, daß ihre<br />
Geduld arg strapaziert wird und sie drauf und dran sind, ihre<br />
Geduld zu verlieren. Redewendungen, wie: „sich mit Geduld<br />
wappnen“ oder etwas „in Geduld ertragen“, sprechen von einer<br />
Haltung, die heute eher gezwungenermaßen als freiwillig<br />
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Unter die Lupe genommen 338<br />
eingenommen wird. Wer möchte nicht viel lieber die Dinge<br />
selbst in die Hand nehmen, statt sie zu „(er)dulden“, zu „(er)tragen“?!<br />
Wenn der Apostel Paulus im Galaterbrief (5, 22) die Geduld<br />
zu den Früchten zählt, die Gottes Geist im Menschen bewirkt,<br />
dann kann es dabei nicht um eine negative Haltung gehen.<br />
Offensichtlich hat die Tugend der Geduld im Laufe der Geschichte<br />
im Verständnis der Menschen eine Wandlung erfahren.<br />
Warum?<br />
Der Ausgangspunkt für das biblische Verständnis von Geduld<br />
ist nicht in einer philosophischen Tugendlehre zu suchen, sondern<br />
in der Erfahrung Israels mit seinem Gott. Das gilt für einzelne,<br />
aber auch für das Volk als Ganzes. Gottes Langmut, sein<br />
geduldiges Zuwarten gegenüber seinem störrischen Volk zeigen<br />
Israel, was Geduld heißt und was sie bewirkt. Als Selbstaussage<br />
Jahwes heißt es im Buch Numeri (14, 18): „Ich bin Jahwe, langmütig<br />
und reich an Huld, der Schuld und Frevel wegnimmt“. In<br />
einem Bußgebet bekennt der Beter im Buch Nehemia: „Doch<br />
du bist ein Gott, der verzeiht, du bist gnädig und barmherzig,<br />
langmütig und reich an Huld; darum hast du sie nicht verlassen.“<br />
(Neh 9, 17) Diese Erfahrung macht auch der einzelne im<br />
Volk: „Der Herr ist barmherzig und gnädig, langmütig und<br />
reich an Güte.“ (Ps 103, 8) Auch das Neue Testament spricht<br />
von der Geduld Gottes im Verzeihen der Sünden (vgl. Röm<br />
3, 25). Menschliche Geduld soll Maßnehmen an der göttlichen<br />
Geduld, das zeigt sich besonders im Gleichnis vom unbarmherzigen<br />
Gläubiger (Mt 18, 23–35): „Hättest nicht auch du mit jenem,<br />
der gemeinsam mit dir in meinem Dienst steht, Erbarmen<br />
haben müssen, so wie ich mit dir Erbarmen hatte?“ (Mt 18, 33)<br />
Geduld, die sich als Barmherzigkeit erweist.<br />
Als christliche Grundhaltung hilft die Geduld, das richtige<br />
Maß zu finden in dem, was als unabänderlich im Leben hinzunehmen<br />
ist, und dem, was aktiv verändert werden kann und<br />
muß. Dabei ist es wichtig, daß der einzelne sich selbst, seine<br />
Belastbarkeit und seine Grenzen ebenso kennt, wie er seine Fä-<br />
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339 Unter die Lupe genommen<br />
higkeit zu Toleranz Schwächeren gegenüber und seine Einsatzbereitschaft<br />
für die menschliche Gemeinschaft einzuschätzen<br />
weiß.<br />
Als Ebenbilder Gottes versuchen Christen im Vertrauen auf<br />
den treuen Gott, der in Jesus Christus unüberbietbar Ja gesagt<br />
hat zu den Menschen und zur Welt, zu unterscheiden, wo es angezeigt<br />
ist, eine belastende Situation hinzunehmen, weil keine<br />
Änderung möglich ist, oder aber, wo aktiver Einsatz, ja Kampf<br />
gefordert ist. Zu oft wurde in einer falsch verstandenen Frömmigkeit<br />
zu Geduld geraten, was Menschen zu Passivität verurteilte,<br />
wo sie sich gegen Unrecht, Leid und unterdrückende<br />
Strukturen hätten wehren sollen.<br />
Als biblisches Beispiel wurde oft Hiob als der große Dulder<br />
hingestellt. Daß es im Buch Hiob, das unterschiedliche Entstehungsphasen<br />
mit unterschiedlichen theologischen Positionen<br />
gegenüber dem Leid kennt, zutiefst um Protest gegen eine<br />
falsch verstandene Leidenspastoral geht, wurde dabei vielfach<br />
übersehen. Gott selbst stellt sich auf die Seite des klagenden<br />
Hiob und entlarvt die frommen Reden seiner theologischen<br />
Freunde, die ihn auffordern, still zu ertragen, was ihm an Leiden<br />
widerfährt, als falsch.<br />
Gegen den vermeintlichen Zusammenhang zwischen dem<br />
Tun und Ergehen eines Menschen – „Hast du Böses getan, geht<br />
es dir schlecht“: Leid als Folge von Sünde verstanden – wendet<br />
sich auch Jesus (vgl. Joh 9). Es fällt auf, daß die Aufforderung<br />
zur Geduld in der Predigt Jesu weitgehend fehlt. Vielleicht<br />
hängt das mit der nahe geglaubten Wiederkunft Christi (Parusie)<br />
zusammen.<br />
Paulus schreibt im Brief an die Römer (12, 12): „Seid fröhlich<br />
in der Hoffnung, geduldig in der Bedrängnis, beharrlich im Gebet!“<br />
Dorothee Sölle übersetzt diesen Satz so: „Leistet geduldigen<br />
Widerstand, und habt Hoffnung auf die Macht Gottes.“<br />
Niemand darf angesichts der Not der Armen Geduld fordern,<br />
wo massiver Einsatz zur Veränderung der Verhältnisse gefordert<br />
ist. Und da, wo eine Änderung konkreter Mißverhältnisse<br />
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Singt dem Herrn ein neues Lied 340<br />
nicht direkt möglich ist, dürfen Christen die Hoffnung nicht<br />
aufgeben, daß durch immer neu gezeigten Widerstand einmal<br />
Besserung eintreten wird. Mit stoischer Unberührbarkeit (Ataraxie)<br />
und passivem Verhalten gegenüber destruktiven Mächten<br />
(Apathie) hat die christliche Tugend der Geduld nichts zu<br />
tun. Als geistgewirkte Lebensfrucht hilft sie den Christen, im<br />
Warten auf den wiederkommenden Herrn das rechte Maß zu<br />
finden im Umgang mit den Dingen der „Welt“.<br />
Sr. Maria Andrea Stratmann SMMP<br />
„Allzeit erfunden geduldig“<br />
Ein Agnus-Dei-Lied aus der Zeit der Reformation<br />
Den Text des Liedes finden Sie auf Seite 219.<br />
Das Lied „O Lamm Gottes unschuldig“ wird Nikolaus Decius<br />
zugeschrieben; er gilt als sein Dichter und Komponist.<br />
Nikolaus Decius, 1485 in Hof an der Saale geboren, seit etwa<br />
1515 Mönch und Schullehrer im Braunschweigischen, wurde<br />
spätestens zu Beginn der zwanziger Jahre des 16. Jahrhunderts<br />
von der Reformation angezogen und ging 1523 an die Universität<br />
Wittenberg, um schließlich als evangelischer Prediger in<br />
Pommern und Ostpreußen zu wirken. Als Entstehungszeit von<br />
Decius’ Agnus-Dei-Lied (Lamm-Gottes-Lied) sowie weiterer,<br />
teils noch heute gesungener geistlicher Gesänge aus seiner Feder,<br />
so des bekannten „Allein Gott in der Höh sei Ehr“ (GL 457,<br />
EG 179), wird 1522/23 angesetzt.<br />
Seht, das Lamm Gottes<br />
Der Text des Agnus Dei nimmt das Wort des Täufers auf, mit<br />
dem dieser auf den am Jordan an die Öffentlichkeit tretenden<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
341 Singt dem Herrn ein neues Lied<br />
Jesus aufmerksam macht: „Seht, das Lamm Gottes, das die<br />
Sünde der Welt hinwegnimmt.“ (Vgl. Joh 1, 29–36) Aus der<br />
Ostkirche war das Agnus Dei unter dem syrischen Papst Sergius<br />
I. als Gesang zum Brotbrechen vor der Kommunion in die<br />
römische Meßliturgie transponiert worden, wobei aus dem<br />
Täuferwort des Johannesevangeliums ein litaneiartiges Gebet<br />
mit den Anrufungen „miserere nobis“ (erbarm dich unser) und<br />
„dona nobis pacem“ (gib uns Frieden) wurde. Die Abendmahlsliturgie<br />
der Reformation bewahrt den tradierten, biblisch<br />
fundierten Kommuniongesang. Nikolaus Decius erweitert ihn<br />
und überträgt ihn ins Deutsche bzw. Niederdeutsche.<br />
Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt<br />
Warum ist Jesus das „Lamm Gottes“? Die Tradition gibt zwei<br />
biblische Antworten. Sie verweist auf Jesaja 53, auf das Lied<br />
vom Gottesknecht – „Wir hatten uns alle verirrt wie Schafe, jeder<br />
ging für sich seinen Weg. Doch der Herr lud auf ihn die<br />
Schuld von uns allen. Er wurde mißhandelt und niedergedrückt<br />
... Wie ein Lamm, das man zum Schlachten führt, und wie ein<br />
Schaf angesichts seiner Scherer, so tat auch er seinen Mund<br />
nicht auf“ (Jes 53, 6 f.) – sowie auf den Ritus des Pesach-Festes<br />
(vgl. Ex 12).<br />
Unschuldig – geduldig<br />
In Decius’ Fassung des Agnus Dei ist das Holz des Kreuzes die<br />
Schlachtbank („am Stamm des Kreuzes geschlachtet“). Nach<br />
dem Johannesevangelium stirbt Jesus am Pesach-Fest zur<br />
Stunde der Lämmerschlachtung im Tempel, und das letzte<br />
Abendmahl ist bei Matthäus, Markus und Lukas ein Pesach-<br />
Mahl. Wenn das Tieropfer geschichtlich das Menschenopfer ersetzt<br />
hat und es stets symbolisch ersetzt, so wendet sich in Jesus<br />
von Nazaret das Tieropfer ins Menschenopfer. Doch dieses<br />
Opfer zeigt an und bewirkt das Ende aller Opfer, denn das von<br />
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Die Mitte erschließen 342<br />
Gott gewählte Lamm trägt alles, was wir ihm aufbürden, vor<br />
Gott. Dieses Lamm ist wirklich Gottes Lamm. Jesus ist unschuldig,<br />
ein Liebender, ein durch und durch Gerechter, und dennoch<br />
– oder gerade darum – erträgt er, der Unschuldige, das<br />
Unerträgliche in Geduld.<br />
Sonst müßten wir verzagen<br />
In den Kirchen der Reformation wird Nikolaus Decius’ biblisches<br />
Abendmahls- bzw. Passionslied seit seiner Entstehungszeit<br />
und bis heute gesungen. Seit dem 17. Jahrhundert findet sich „O<br />
Lamm Gottes unschuldig“ in katholischen Liedersammlungen,<br />
und auch als Bestandteil der Bach’schen Matthäuspassion ist es<br />
einer breiten Hörerschaft bekannt geworden.<br />
Decius’ Lied bezeugt eindringlich das Heil, das von dem am<br />
Kreuz geopferten, unschuldig-duldenden Lamm stammt, und<br />
dankt dafür. Sein Zusatz „Sonst müßten wir verzagen“ bedeutet<br />
auch uns Heutigen: Nicht Verlust und Verlorenheit, Rettung ist<br />
unser Teil!<br />
Susanne Sandherr<br />
Gräber in der Kirche<br />
Reliquien und Grabstätten<br />
Die Verbindung von Kirchenbau und Gräbern reicht bis in<br />
die Antike zurück. Frühe Kirchen wurden häufig über den<br />
Gräbern von Märtyrern errichtet. Im Hintergrund stand die Vision<br />
der Apokalypse, in der der Seher unter dem himmlischen<br />
Altar „die Seelen aller (sah), die hingeschlachtet worden waren<br />
wegen des Wortes Gottes und wegen des Zeugnisses, das sie abgelegt<br />
hatten“ (Offb 6, 9). Entsprechend wurden zahlreiche Kir-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
343 Die Mitte erschließen<br />
chen des spätantiken Rom auf den Friedhöfen außerhalb der<br />
Stadtmauern errichtet. Für Kirchen innerhalb der Städte nahm<br />
man quasi das Grab eines Märtyrers mit, indem man die Gebeine<br />
hob und in einem Reliquienkasten unterhalb der Altarplatte<br />
(Mensa) aufbewahrte. Erfuhren die Reliquien besondere<br />
Verehrung, so wurde der Kasten im Mittelalter zu einem kostbaren<br />
Schrein ausgestaltet und hinter dem Altar in Höhe der<br />
Altarmensa positioniert, so daß Pilger unter dem Schrein hergehen<br />
konnten. Entsprechend wurde dann die Heiligsprechung<br />
als „Erheben zur Ehre der Altäre“ bezeichnet.<br />
Diese Verbindung von Reliquie und Altar ist bis heute Tradition<br />
in der katholischen Kirche, allerdings wurden oft nur kleinste<br />
Splitter in die Altarmensa eingelassen. Heute wünscht die<br />
„Allgemeine Einführung ins Meßbuch“ in Nr. 266 offener, daß<br />
man am Brauch, Reliquien unterhalb der Mensa einzufügen,<br />
festhalten möge, sich aber über die Echtheit der Reliquien vergewissern<br />
müsse.<br />
Kirchen sind zudem über Jahrhunderte bevorzugte Orte für die<br />
Bestattung der Gläubigen gewesen. Nicht nur der „Kirchhof“,<br />
sondern auch der Kircheninnenraum war Ort für die Bestattung<br />
von Toten. In Köln wurde im Mittelalter vermutlich ein<br />
Drittel aller Toten innerhalb von Kirchen, ihren Vorräumen<br />
oder Kreuzgängen begraben. Wichtig war die Nähe zum Altar,<br />
nicht nur als Aufbewahrungsort der Reliquien, sondern zugleich<br />
als Ort der Feier der Eucharistie, in der regelmäßig für<br />
die Verstorbenen gebetet wurde. Meist handelte es sich um<br />
gemauerte Gräber, die durch Grabplatten verschlossen wurden.<br />
Bei besonders hochgestellten Persönlichkeiten wurde evtl. noch<br />
ein Denkmal in Form eines sogenannten Epitaphs an der nahen<br />
Kirchenwand befestigt.<br />
Da die Errichtung solcher Gräber teurer war, zeigten sie auch<br />
den besonderen Rang einer oder eines Verstorbenen an. So<br />
kam es etwa in den Niederlanden zu der (eigentlich verwunderlichen)<br />
nachreformatorischen Entwicklung, daß die Bestat-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Die Mitte erschließen 344<br />
tung im Kirchenboden auch bei Calvinisten beibehalten wurde<br />
– motiviert nicht durch eine Fürbitte für die Toten im Gottesdienst,<br />
sondern durch den Gedanken der sozialen Repräsentation.<br />
In der Regel fanden Bestattungen innerhalb von Kirchen im<br />
Zuge der Säkularisierung und der mit ihr einhergehenden Neuordnung<br />
des Bestattungswesens ihr Ende. Heute kommt auch<br />
von Seiten der katholischen Kirche eine Körper-Bestattung in<br />
Kirchen nicht mehr in Frage, ist sie doch nach dem Kirchenrecht<br />
nur Päpsten, Kardinälen und Diözesanbischöfen gestattet<br />
(CIC 1983 Canon 1242).<br />
Seit kurzem hat aber die Urnenbestattung in Kirchen an Bedeutung<br />
gewonnen. Im Zuge der Umnutzung von Kirchenräumen<br />
haben Gemeinden in mehreren deutschen Bistümern<br />
Kirchen zu Bestattungskirchen umgebaut bzw. stehen kurz vor<br />
der Verwirklichung. Dahinter steht zum einen der Gedanke,<br />
ein Kirchengebäude, das nicht mehr für Gottesdienste genutzt<br />
werden kann, dennoch in einer spezifischen Nutzung der Gemeinde<br />
zu belassen, daß also im Gebäude wirklich etwas geschieht,<br />
für das es nach außen hin steht. Zum anderen wird versucht,<br />
den aktuellen Drang zur Urnenbestattung aufzunehmen<br />
und in eine positive Richtung zu lenken. Es sind heute in der<br />
Regel keine weltanschaulichen Motive mehr, die Menschen zu<br />
einer Urnenbestattung tendieren lassen. Diese wird meist von<br />
den noch Lebenden vorherbestimmt, um Kosten zu senken und<br />
einer späteren Verwilderung von Grabstätten wegen fehlender<br />
oder nicht ansässiger Angehöriger vorzubeugen. Nun werden<br />
in den Gebäuden Stelen errichtet, um darin Urnen für etwa<br />
20 Jahre einzustellen. Sie werden „Kolumbarien“ genannt, ein<br />
lateinischer Begriff, der „Taubenschlag“ bedeutet und mit dem<br />
auch schon die Begräbnisfächer für Urnen in den antiken (dann<br />
heidnischen) Katakomben bezeichnet wurden. Diese Stelen<br />
können wie Gräber auf einem Friedhof von den Angehörigen<br />
besucht werden, was natürlich notwendig macht, daß die Ge-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
345 Die Mitte erschließen<br />
bäude geöffnet oder durch entsprechende Schließsysteme für<br />
Berechtigte zugänglich sind. Man möchte ja gerade das Gedenken<br />
der Toten und das Gebet für sie pflegen und damit einer reinen<br />
„Entsorgung“ von Toten entgegenwirken. Ebenso sollten<br />
die Urnen namentlich gekennzeichnet sein, um dem Trend der<br />
Anonymisierung der Toten auf den öffentlichen Friedhöfen entgegenzuwirken.<br />
Ein solches Projekt ist z. B. in St. Josef in Aachen verwirklicht.<br />
Um die künstlerisch wertvoll gestalteten Stelen in ein Gesamtkonzept<br />
einzubinden, ist der ganze Raum als Begräbniskirche<br />
gestaltet. Im Eingangsbereich entspringt ein schmaler<br />
Wasserlauf, der sich durch das Kirchenschiff zieht und in der<br />
Vierung in einem Taufbecken mündet, um so die Grundlegung<br />
unserer Auferstehungshoffnung in der Taufe zu verdeutlichen.<br />
Ein separater Raum bietet die Möglichkeit für Angehörige, von<br />
einem Verstorbenen Abschied zu nehmen. Steintafeln an den<br />
Wänden nehmen die Namen der Verstorbenen auf.<br />
In der Allerheiligenkirche in Erfurt, die zur Dompfarrei gehört,<br />
wird die Auferstehungshoffnung durch die Ausrichtung<br />
der gesamten Stelenanlage zu den Fenstern im Osten deutlich,<br />
wo Geburt und Kreuzigung Christi dargestellt sind – somit der<br />
Richtung, aus der die frühen Christen die Wiederkunft des erhöhten<br />
Herrn erwarteten. In Erfurt werden neben Mitgliedern<br />
der christlichen Kirchen (die in den meisten solcher Begräbniskirchen<br />
bestattet werden) auch die Urnen von Nichtchristen<br />
aufgenommen. Damit wird der besonderen Situation in Ostdeutschland<br />
Rechnung getragen, in der Menschen auch bei<br />
Interesse am Glauben Distanz zu den Kirchen wahren.<br />
Friedrich Lurz<br />
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Engagiertes Christsein 346<br />
Klara von Assisi<br />
Das Privileg der Armut<br />
Zu den Schätzen aus dem Mittelalter, die die Badische Landesbibliothek<br />
in Karlsruhe birgt, gehört das 1490 / 1492 entstandene<br />
Straßburger Klarenbuch, eine illustrierte Handschrift<br />
mit qualitätvollen Initialen zum Leben der heiligen Klara, das<br />
aus der Hand der Straßburger Klarisse Magdalena Steimerin<br />
stammt. Eine Abbildung hat mich immer besonders angesprochen:<br />
Eine in leuchtendes Rot gewandete junge Frau mit lebhaft-wacher<br />
Mimik und kindlich-rundem Gesicht, in dem die<br />
Wangen glühen, sitzt auf einem reich verzierten Sessel, leicht<br />
nach vorn gebeugt, am Pult und schreibt mit energischen Bewegungen<br />
in ein offenes Buch. Der Heilige Geist, als Taube<br />
über der Schreiberin schwebend, berührt mit dem Vogelschnabel<br />
zart den Kopf bzw. die an einen Kardinalshut erinnernde<br />
Kopfbedeckung der sitzenden Gestalt.<br />
„Die hl. Klara als Schreiberin“, so wurde diese Darstellung<br />
auf der Kunstpostkarte, die ich vor Jahren in der Bibliothek erstand,<br />
gedeutet; offenbar zeigt die Abbildung aber den franziskanischen<br />
Theologen und Kardinalbischof Bonaventura (1221<br />
–1274) bei der Niederschrift des Lebens der Heiligen. Im Auftrag<br />
des Generalkapitels hatte Bonaventura 1263 eine umfangreiche<br />
Vita des heiligen Franziskus, die „Legenda S. Francisci“,<br />
verfaßt. Betrachtet man die Illustrationen des Klarenbuchs im<br />
Ganzen, so fällt auf, daß die Straßburger Klarisse weiblichen<br />
und männlichen Figuren gleichermaßen zarte, ja zärtliche Gesichter<br />
gegeben hat. Und nicht nur der heilige Bonaventura,<br />
auch die heilige Klara hat inspiriert geschrieben, auch wenn<br />
nur ein Bruchteil ihrer Korrespondenz und Schriften auf uns gekommen<br />
ist: immerhin vier Briefe an die geistliche Freundin<br />
Agnes von Prag, die von Klara verfaßte Ordensregel – in ge-<br />
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347 Engagiertes Christsein<br />
wisser Weise ihr Lebenswerk –, ein Testament und ein Segensschreiben.<br />
Bonaventura also, nicht Klara – doch auf diesem Bild setzt<br />
sich der Heilige Geist selbst dafür ein, daß Leben und Wirken<br />
der heiligen Klara in der Christenheit unverfälscht lebendig<br />
bleiben.<br />
Klara von Assisi, 1193 oder 1194 als erste von drei Töchtern der<br />
städtischen Adelsfamilie Offreduccio im umbrischen Assisi geboren,<br />
gestorben am 11. August 1253 in dem vor den Toren ihrer<br />
Vaterstadt gelegenen Kloster San Damiano, das sie 40 Jahre<br />
lang mit ihren Gefährtinnen bewohnt hatte, war eine Frau von<br />
außerordentlichem Charisma. Klara war eine Christin, eine<br />
Christuszeugin, mit Strahlkraft. Die Treue, die sie ihrer sperrigen<br />
Berufung hielt, weckt unsere Bewunderung und macht<br />
Mut. Die christliche Armutsbewegung des 13. Jahrhunderts hat<br />
Klara mitgestaltet, wie sie auch von ihr, zumal vom Aufbruch<br />
des heiligen Franz, geprägt wurde. Klara hat als erste Frau der<br />
Christentumsgeschichte eine Ordensregel für Frauen verfaßt,<br />
die päpstliche Anerkennung fand. Spät, aber nicht zu spät,<br />
nämlich auf dem Sterbebett, erreichte Klara aus Rom die Nachricht,<br />
daß ihr Lebenswerk nicht in Frage gestellt oder durchgestrichen,<br />
sondern bestätigt worden war.<br />
Klara wird in eine Zeit des Umbruchs hineingeboren. Das durch<br />
die Geldwirtschaft erstarkte Bürgertum stellt die Privilegien des<br />
Adels in Frage, reklamiert sie für sich; zugleich verarmen große<br />
Teile der Stadt- und Landbevölkerung. Jene Sicherheit, die Status,<br />
Reichtum und Macht geben, prägt Klaras Kindheit und Jugend.<br />
Sie erhält eine ausgezeichnete Erziehung, verfügt über<br />
ein gutes Latein, ist literarisch gebildet und versteht sich auch<br />
aufs Sticken, Spinnen und Weben. Die Mutter, Ortulana, eine<br />
mutige Pilgerin, die das Heilige Land und Santiago de Compostela<br />
bereist, verantwortet die religiöse Bildung der Töchter,<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
Engagiertes Christsein 348<br />
später wird sie ihrer Ältesten folgen und wie die beiden jüngeren<br />
Schwestern in Klaras Gemeinschaft eintreten: ein geistliches<br />
Geben und Nehmen, wie es auch Klaras Beziehung zu<br />
Franziskus prägt.<br />
Klaras Weg ist also vorgezeichnet: eine vorteilhafte Heirat,<br />
die der Familie Ehre und Wohlstand bringen wird. Doch zwischen<br />
den Jahren 1210 und 1212 nimmt Klara Kontakt mit<br />
Franziskus auf, dem Sohn eines Neureichen, der durch seinen<br />
rüden Abschied von der elterlichen Lebensform Assisi skandalisiert<br />
hatte und nun, um Christi willen bettelarm, mit einigen<br />
Gleichgesinnten unterhalb der Stadt mit eigenen Händen eine<br />
kleine Landkapelle aufbaut. Es ist unwahrscheinlich, daß die<br />
Initiative zu diesem Kontakt von Franziskus ausging, der auch<br />
in der Folgezeit in der Frage einer Beteiligung von Frauen an<br />
seiner Armutsbewegung eher zurückhaltend ist. Die behütete<br />
junge Adlige verbündet sich mit dem verrückten Bürgersohn –<br />
schlimmer hätte es für die standesbewußten Offreduccio wohl<br />
nicht kommen können! Doch für Klara steht mehr auf dem<br />
Spiel. Kristallisationskern ihres eigenen Aufbruchs wie aller<br />
geistlichen Armutsbewegungen des 13. Jahrhunderts ist ein erneuertes<br />
Gottesbild: Gott wird nicht mehr als Weltenherrscher<br />
gesehen, sondern als der, der sich in Christus arm macht, um<br />
den Menschen zu begegnen. Die Antwort der Menschen kann<br />
da nur lauten: Gehen wir Gottes Armut arm entgegen; begegnen<br />
wir dem nackten und wehrlosen Christus wehrlos und<br />
nackt! Klara erkennt ihre Berufung: Der geistliche Aufbruch,<br />
den Franziskus verkörpert, ist ihre ureigene Sache. In einer<br />
Nacht im März 1212, am Palmsonntag, wagt die Achtzehnjährige<br />
die Flucht, offenbar im Einverständnis mit Bischof<br />
Guido II. Gemeinsam mit den Brüdern empfängt Franziskus die<br />
junge Frau in einer kleinen Landkapelle, der Portiunkula, und<br />
nimmt sie in den Büßerstand auf. Schließlich wird Klara in eine<br />
nahe gelegene Benediktinerinnenabtei gebracht. Die erzürnten<br />
Männer der um ihre Ehre besorgten Familie können nichts ausrichten<br />
gegen Klaras festen Willen und das Asylrecht der Klo-<br />
<strong>MAGNIFICAT</strong>. Das Stundenbuch, © Butzon & Bercker, Kevelaer
349 Engagiertes Christsein<br />
sterkirche. Im Gegenteil: Die jüngere Schwester Agnes, die damals<br />
noch Katharina heißt, stößt zu der Rebellin! In der kleinen<br />
Kirche San Damiano, auch sie wurde von Franziskus wieder<br />
aufgebaut, finden die Frauen eine Zuflucht. Eine erste Verfassung<br />
für die bald anwachsende Frauengemeinschaft stammt<br />
von Franziskus. Hier sind die beiden Dinge formuliert, die für<br />
Klara zählen: in ihrer Gemeinschaft stets der Armut die Treue<br />
zu halten und die Zugehörigkeit der Schwestern zu den Minderbrüdern.<br />
Es konnte nicht ausbleiben, daß Klaras Weg in einer um Einheit<br />
und Kontrolle besorgten römischen Kirche auf Widerstand<br />
stieß. Doch Klara bleibt standhaft: Ein vermutlich aus dem<br />
Jahre 1216 stammendes kirchliches Dokument gewährt ihrer<br />
Gemeinschaft das „Privileg der Armut“. Einerseits werden<br />
Klara und ihre Schwestern von der Kirche zunächst auf die Benediktsregel<br />
verpflichtet – Klaras eigene Regel wird, wie gesagt,<br />
erst kurz vor ihrem Tod bestätigt –, doch ihnen wird zugleich<br />
gestattet, gemeinschaftlich arm zu leben. Die Lebensform der<br />
Armut ist der Kern dieses geistlichen Neubeginns, der reinste<br />
Spiegel ihres Gottesbildes: Jener Gott, der in Christus seinen<br />
Machtbereich verläßt und zu den Ärmsten und Schwächsten<br />
hinabsteigt, verpflichtet sie; diesen Gott nachzuahmen, ist ihre<br />
eigentliche Aufgabe. Das aber bedeutet für Klara wie für Franz,<br />
die Armut herzlich zu lieben.<br />
Das „Privileg der Armut“ – ein Wort, das uns befremdet, das<br />
uns paradox erscheinen muß. Ein Wort vielleicht gerade für unsere<br />
Zeit.<br />
Susanne Sandherr<br />
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