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Das System der Besserungsarbeitslager in der UdSSR ... - gulag

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<strong>Das</strong> <strong>System</strong> <strong>der</strong> <strong>Besserungsarbeitslager</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>.<br />

1923 – 1960<br />

MEMORIAL International (Hrsg.)<br />

Mit Beiträgen von: Michael Jacobson, Alexandr I. Kokur<strong>in</strong>, Sergei W.<br />

Kriwenko, Sergei P. Sigatschow, Michail B. Smirnow, Sergei G. Filippow,<br />

Dmitri W. Schkapow<br />

Wissenschaftliche Redaktion: Nikita G. Ochot<strong>in</strong>, Arseni B. Rog<strong>in</strong>ski<br />

Redaktionskollegium: A. Ju. Daniel, L. S. Jerem<strong>in</strong>a, Je. B. Schemkowa, T. I. Kassatk<strong>in</strong>a,<br />

M. M. Korallow, N. G. Ochot<strong>in</strong>, Ja. S. Ratsch<strong>in</strong>ski, A. B. Rog<strong>in</strong>ski (Vors.)<br />

Übersetzung aus dem Russischen:<br />

Ir<strong>in</strong>a Raschendörfer, Dr. Vera Ammer<br />

Moskau, 1998<br />

Berl<strong>in</strong>, 2006


Inhaltsverzeichnis<br />

DAS SYSTEM DER HAFTANSTALTEN DER RSFSR UND UDSSR 1917 – 1930... 3<br />

1917 bis 1922…………………………………………………………………………… 3<br />

1923–1930……………………………………………………………………………… 11<br />

Zentrale<strong>in</strong>richtungen des Volkskommissariats für Justiz (NKJu) und des<br />

Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) <strong>der</strong> RSFSR für die<br />

Verwaltung <strong>der</strong> Haftanstalten 1917–1930 (Tabelle)……………………………………. 17<br />

DAS SYSTEM DER HAFTANSTALTEN DER UDSSR 1929–1960………………… 18<br />

TERRITORIALVERWALTUNGEN VON HAFTANSTALTEN.<br />

DAS GEFÄNGNISSYSTEM…………………………………………………………... 70<br />

1. Territorialverwaltungen / Abteilungen <strong>der</strong> Haftanstalten……………………………. 70<br />

Verzeichnis <strong>der</strong> Territorialverwaltungen und –abteilungen <strong>der</strong><br />

Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen (Tabelle)……………………………………………… 72<br />

Anzahl <strong>der</strong> Gefangenen <strong>in</strong> Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen, die den Territorialorganen<br />

<strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) unterstellt waren (Tabelle)………………... 78<br />

2. <strong>Das</strong> Gefängnissystem 1934–1960…………………………………………………..... 83<br />

2


Michael Jakobson, Michail Smirnow<br />

DAS SYSTEM DER HAFTANSTALTEN DER RSFSR UND UDSSR 1917 – 1930<br />

Die Geschichte <strong>der</strong> Haftanstalten von 1917 bis 1930 unterteilt sich auf natürliche Weise <strong>in</strong><br />

zwei Abschnitte: e<strong>in</strong>e erste Zäsur stellt das Ende des Bürgerkriegs im Herbst 1922 dar, e<strong>in</strong>e<br />

zweite die 1930 e<strong>in</strong>setzende Massenkollektivierung. Beide Abschnitte s<strong>in</strong>d sowohl durch die<br />

Beson<strong>der</strong>heiten <strong>der</strong> wirtschaftlichen und politischen Lage im Land als auch durch die<br />

Prioritäten <strong>der</strong> staatlichen Strafpolitik geprägt.<br />

1917 bis 1922<br />

Die Organisation und Versorgung <strong>der</strong> Vollzugsanstalten unmittelbar nach <strong>der</strong><br />

Oktoberrevolution waren großenteils durch das im zaristischen Russland geschaffene <strong>System</strong><br />

vorgegeben.<br />

Im Russischen Reich des Jahres 1917 wurden die meisten Gefängnisse von <strong>der</strong><br />

Hauptverwaltung <strong>der</strong> Gefängnisse (GTU) des Justizm<strong>in</strong>isteriums geleitet und waren vor Ort<br />

den Gefängnisabteilungen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Gouvernements unterstellt. Um jedoch die<br />

Gefängnisse vor Ort zu kontrollieren, war die GTU auf die Zusammenarbeit mit den<br />

Gouvernementsbehörden des Innenm<strong>in</strong>isteriums angewiesen 1 . Diese Abhängigkeit <strong>der</strong><br />

Gefängnishauptverwaltung von Behörden, die e<strong>in</strong>em an<strong>der</strong>en M<strong>in</strong>isterium unterstellt waren,<br />

konnte das Gefängnissystem <strong>in</strong> Zeiten relativer Stabilität nicht erschüttern, erwies sich jedoch<br />

als fatal für die Nachfolger <strong>der</strong> GTU während <strong>der</strong> Revolution und des Bürgerkriegs.<br />

Nach <strong>der</strong> Februarrevolution 1917 leerten sich die Gefängnisse: E<strong>in</strong>e <strong>der</strong> ersten<br />

Amtshandlungen <strong>der</strong> Provisorischen Regierung war e<strong>in</strong>e umfassende Amnestie, doch nicht<br />

selten befreite <strong>der</strong> Mob auch jene, die nicht unter dieser Amnestie fielen 2 . Obwohl sich die<br />

Gefängnisse schon bald mit neuen Häftl<strong>in</strong>gen 3 füllten, war ihre Zahl weiterh<strong>in</strong> rückläufig und<br />

betrug im September 1917 34.083 Personen 4 .<br />

In den ersten Monaten nach <strong>der</strong> Februarrevolution wurden sämtliche Behörden des<br />

Innenm<strong>in</strong>isteriums abgeschafft, die an <strong>der</strong> Gefängnisverwaltung beteiligt waren 5 . Somit<br />

1 Svod Zakonov Rossijsskoj Imperii [Gesetzessammlung des Russischen Reiches]. St. Petersburg, 1911, Bd. 1, S.<br />

225-256, Bd. 2, S. 3425-3436, 3439-3443.<br />

2 M. N. Gernet: Istorija carskoj tjur'my v 5 t. [Geschichte des zaristischen Gefängnisses <strong>in</strong> 5 Bänden] Bd. 4, S.<br />

45. P. Klimyšk<strong>in</strong>: K amnistii [Über die Amnestie]. In: Katorga i ssylka [Katorga und Verbannung]. 1921, S. 8-<br />

20. G. Sandomirski: Na poslednej stupeni [Auf <strong>der</strong> letzten Stufe]. Ebenda, S. 41-44. M. G. Detkov: So<strong>der</strong>žanie<br />

penitenciarnoj politiki Rossijskogo gosudarstva i eë realizacija v sisteme ispolnenija ugolovnogo nakazanija v<br />

vide lišenija svobody v period 1917-1930 godov [Inhalt <strong>der</strong> Strafrechtspolitik des Russischen Staates und ihre<br />

Umsetzung im Rahmen <strong>der</strong> Strafvollzugs <strong>in</strong> Form des Freiheitsentzugs von 1917-1930]. Moskau 1992, S. 8.<br />

3 Nachdem sie <strong>in</strong> den lokalen Sowjets an die Macht gelangt waren, begannen die Revolutionäre bereits im März<br />

1917 sowohl jene e<strong>in</strong>zusperren, von denen sie zu Zarenzeiten verfolgt worden waren (Polizisten, Offiziere,<br />

Beamte) als auch marodierende Soldaten und Arbeiter. W. H. Ščul'g<strong>in</strong>: Dni [Tage]. In: Sovremennik<br />

[Zeitgenosse]. Moskau 1989, S. 198-203. Chamberl<strong>in</strong> W.H. The Russian Revolution. 1917–1921. London, New<br />

York, 1935, Bd. 1, S. 44. Nachdem <strong>der</strong> Regierungsputsch im Juli 1917 gescheitert war, wurden die<br />

bolschewistischen Anführer <strong>in</strong>s Gefängnis gesperrt. (L. D. Trockij: Istorija russkoj revoljucii [Geschichte <strong>der</strong><br />

Russischen Revolution]. Berl<strong>in</strong> 1933, Bd. 2, S. 360f. S. Utevskij: Sovetskaja ispravitel'no-trudovaja politika [Die<br />

Sowjetische Besserungsarbeitspolitik]. In: Sovetskoe zakonodatelstvo [Sowjetische Gesetzgebung]. Moskau<br />

1934, S. 70-74).<br />

4 B. S. Utevskij: a.a.O. S. 84. Zum Vergleich: Die höchsten vorrevolutionären Häftl<strong>in</strong>gszahlen beliefen sich 1912<br />

auf 184.000 Gefangene; bis 1916 fiel diese Zahl durch die massenhafte E<strong>in</strong>berufung junger Männer (jener<br />

Altersgruppe also, die nach Geschlecht und Alter statistisch gesehen die meisten Verbrechen begeht) auf<br />

142.000 Gefangene (M. N. Gernet: a.a.O. Bd. 4, S. 23). Laut M. G. Detkov (a.a.O. S. 11) betrug die Insassenzahl<br />

zum 1. September 1917 36.468 Personen.<br />

5 R. P. Brow<strong>der</strong>, A. F. Kerensky: The Russian Provisional Government: Documents. Stanford, 1961, Bd. 1, S.<br />

217-219. N. A. Lenskij: Milicija [Die Miliz]. Petrograd, 1917, S. 8-26.<br />

3


wurde <strong>der</strong> wichtigste Helfer und gleichzeitig potentielle Rivale <strong>der</strong> zentralen<br />

Gefängnisbehörde des Justizm<strong>in</strong>isteriums ausgeschaltet. Letztere wurde <strong>in</strong> Hauptverwaltung<br />

für Haftanstalten (GUMS) 6 umbenannt, und die lokalen Behörden erhielten die Bezeichnung<br />

Gefängnis<strong>in</strong>spektionen 7 . Obwohl die Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) im<br />

Unterschied zur Gefängnishauptverwaltung (GTU) die alle<strong>in</strong>ige Zuständigkeit über die<br />

Haftanstalten erhielt, verlor sie de facto schon bald die Kontrolle über die Gefängnisse <strong>in</strong> den<br />

Prov<strong>in</strong>zen.<br />

Nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution wurde das Justizm<strong>in</strong>isterium <strong>in</strong> das Volkskommissariat für Justiz<br />

(NKJu) umbenannt und behielt die Leitung über die GUMS. Allerd<strong>in</strong>gs ignorierte das NKJu<br />

<strong>in</strong> den ersten fünf Monaten die GUMS – wahrsche<strong>in</strong>lich zweifelte es an ihrer Loyalität 8 . Im<br />

Zusammenspiel mit <strong>der</strong> sich im Land immer weiter ausbreitenden Anarchie führte dies zu<br />

e<strong>in</strong>em weiteren Kontrollverlust des Zentralapparats über die Gefängnisse vor Ort. Auch muss<br />

beachtet werden, dass ab Ende 1917 auf Grund nationalistischer Bewegungen und des<br />

beg<strong>in</strong>nenden Zerfalls Russlands und noch später <strong>in</strong> Folge des Friedensvertrages von Brest-<br />

Litowsk und des Bürgerkriegs die bolschewistische Regierung <strong>der</strong> RSFSR die Kontrolle über<br />

weite Teile des ehemaligen Russischen Reiches verlor.<br />

Zeitgleich mit dem Umzug <strong>der</strong> Regierung von Petrograd nach Moskau im April 1918 löste<br />

das NKJu die GUMS auf und schuf an ihrer Stelle die Zentrale Strafabteilung (ZKO) 9 . Im Juli<br />

1918 veröffentlichte die ZKO e<strong>in</strong>e "Provisorische Anweisung des NKJu", die die Schaffung<br />

e<strong>in</strong>es komplexen <strong>System</strong>s von Strafanstalten vorschrieb. Dieses <strong>System</strong> sollte die beiden<br />

Hauptpr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> neuen Gefängnispolitik verwirklichen:<br />

• Kostendeckung (E<strong>in</strong>nahmen aus <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gsarbeit sollen die Staatsausgaben zum<br />

Unterhalt <strong>der</strong> Haftanstalten decken);<br />

• die vollständige Umerziehung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge 10 .<br />

An dieser Stelle muss betont werden, dass die Zarenregierung das Gefängnissystem<br />

subventionierte, ke<strong>in</strong>e Kostendeckung anstrebte und nicht mit <strong>der</strong> Besserung aller Gefangenen<br />

rechnete 11 .<br />

Tatsächlich wurde die "Provisorische Anweisung" <strong>der</strong> Lage im Land nicht gerecht. We<strong>der</strong><br />

konnte die Zentrale Strafabteilung (ZKO) den Häftl<strong>in</strong>gen Arbeit beschaffen (1918 arbeiteten<br />

nur 2% <strong>der</strong> Gefangenen 12 ) noch die lokalen Verwaltungen zw<strong>in</strong>gen, ihre Anweisungen zu<br />

6 GARF. f. 393. op. 1. d. 92. l. 44.<br />

7 Telegramm des Volkskommissars für Justiz. In: Adm<strong>in</strong>istrativnyj vestnik [Verwaltungsmitteilungen]. 1928, 10.<br />

S. 1.<br />

8 P. I. Stučka, I. Apeter: Perechod ot pr<strong>in</strong>uditel'nogo truda po prigovoru suda k dobrovol'nomu trudu [Übergang<br />

von <strong>der</strong> gerichtlich angeordneten Zwangsarbeit zur freiwilligen Arbeit]. In: Sovetskoe gosudarstvo i revoljucija<br />

prava [Der Sowjetische Staat und die Revolution des Rechts]. 1931, Nr. 7. S. 124. Dieser bürokratische Fehler<br />

ist mit <strong>der</strong> personellen Unterbesetzung sowie <strong>der</strong> Unerfahrenheit <strong>der</strong> Mitarbeiter des Volkskommissariats für<br />

Justiz (NKJu) zu erklären. Alle E<strong>in</strong>richtungen des Volkskommissariats für Justiz (NKJu) waren zu dieser Zeit<br />

e<strong>in</strong>em <strong>in</strong>ternen Kollegium unterstellt, das aus fünf Personen bestand (Sobranie uzakonenij RSFSR<br />

[Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1917. Nr. 12. S. 171), die sich wegen Überlastung nicht ernsthaft mit<br />

Gefängnisfragen beschäftigen konnten. <strong>Das</strong> Kollegium des Volkskommissariats für Justiz richtete am<br />

06.01.1918 e<strong>in</strong> Gefängniskollegium e<strong>in</strong>, dem drei Volkskommissare, Petrogra<strong>der</strong> Volksrichter, <strong>der</strong> Kommissar<br />

<strong>der</strong> Petrogra<strong>der</strong> Gefängnisse und <strong>der</strong> Direktor <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftorte (GUMS) angehörten. <strong>Das</strong><br />

Kollegium arbeitete mit Unterbrechungen. Die operative Leitung wurde dem Büro des Gefängniskollegiums<br />

übertragen, <strong>in</strong> dem drei Personen gleichzeitig die Reform des Gefängnissystems vorbereiten mussten. (Sobranie<br />

uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1918. Nr. 15. S. 223). Für drei Personen war <strong>der</strong><br />

Arbeitsumfang e<strong>in</strong>fach zu groß.<br />

9 GARF. f. 4042. op. 8. d. 1. l. 21.<br />

10 Ebenda.<br />

11 Bjudžet Rossijskoj imperii [Staatshaushalt des Russischen Reiches]. Petrograd 1917. S. 93-94.<br />

12 Tjuremnoe delo v 1921 godu [<strong>Das</strong> Gefängnissystem von 1921]. Moskau 1921. S. 22.<br />

4


efolgen. Die ZKO hatte fast ke<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong> die Prov<strong>in</strong>z. Angesichts fehlen<strong>der</strong><br />

materieller Unterstützung durch die ZKO sahen sich die Mitarbeiter <strong>in</strong> den Gefängnissen vor<br />

Ort nach Nebenverdiensten um. Von e<strong>in</strong>er "Überwachung" konnte ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>. Der<br />

Volkskommissar für Justiz P. I. Stutschka schrieb später, dass nur jene nicht wegliefen, die<br />

dazu zu faul gewesen seien 13 . In e<strong>in</strong>em <strong>der</strong> damaligen Petrogra<strong>der</strong> Gefängnisse nächtigten<br />

Obdachlose, die abends kamen und morgens g<strong>in</strong>gen. Die Wache bemerkte nichts o<strong>der</strong> wollte<br />

nichts von diesen Besuchen bemerken 14 .<br />

Parallel zu den Aktivitäten des NKJu bildete sich sofort nach <strong>der</strong> Oktoberrevolution 1917 e<strong>in</strong><br />

Strafanstaltssystem bei <strong>der</strong> WTschK (Allrussische Außerordentliche Kommission) heraus,<br />

welches für die Verwahrung aktiver politischer Gegner <strong>der</strong> neuen Macht vorgesehen war.<br />

Dieses <strong>System</strong> besaß ke<strong>in</strong> eigenes Führungsorgan. Bis 1921 stand es unter <strong>der</strong> direkten<br />

Leitung des Kollegiums <strong>der</strong> WTschK (oberstes Organ <strong>der</strong> gesamten Organisation), später <strong>der</strong><br />

Leitung <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>abteilung, die auch an<strong>der</strong>e Funktionen <strong>in</strong>nehatte 15 . Vor Ort <strong>in</strong> <strong>der</strong> Prov<strong>in</strong>z<br />

wurden Kommandanturen bei den lokalen Außerordentlichen Kommissionen <strong>der</strong><br />

Gouvernements (GubTschK) e<strong>in</strong>gerichtet 16 .<br />

Mit Beg<strong>in</strong>n des Bürgerkriegs im Mai 1918 gewannen die Haftanstalten <strong>der</strong> WTschK<br />

wesentlich an Bedeutung. Die bolschewistische Regierung konnte ihre Fe<strong>in</strong>de nicht <strong>in</strong> die<br />

unbewachten Gefängnisse des NKJu setzen. Deshalb griff man auf paramilitärische<br />

Organisationen zurück: die WTschK und die am 27. April 1918 gegründete Zentralstelle für<br />

Kriegsgefangene und Flüchtl<strong>in</strong>ge (Zentroplenbesch, im folgenden Zentralstelle) des<br />

Volkskommissariats für Militärische Angelegenheiten <strong>der</strong> RSFSR 17 . Diese Zentralstelle<br />

verfügte über e<strong>in</strong> ausgedehntes Netz von Konzentrationslagern für Kriegsgefangene aus dem<br />

Ersten Weltkrieg, <strong>in</strong> denen Anfang 1918 2,2 Millionen Menschen e<strong>in</strong>saßen 18 . Nach Abschluss<br />

des Friedensvertrages von Brest-Litowsk begann e<strong>in</strong> umfassen<strong>der</strong><br />

Kriegsgefangenenaustausch. Bis zum Sommer 1918 waren e<strong>in</strong>ige Konzentrationslager <strong>der</strong><br />

Zentralstelle geräumt, und sie wurden für die Verwahrung von Kriegsgefangenen des<br />

Bürgerkriegs verwendet 19 .<br />

In den ersten Monaten kamen Ausbrüche aus den Konzentrationslagern <strong>der</strong> Zentralstelle fast<br />

genauso häufig vor wie aus den Haftanstalten <strong>der</strong> Zentralen Strafabteilung des NKJu. Im<br />

Laufe des Sommers verstärkte das Volkskommissariat für Militärische Angelegenheiten se<strong>in</strong>e<br />

Bemühungen um e<strong>in</strong>e Verbesserung des Wachschutzes 20 . Hilfe <strong>in</strong> dieser Angelegenheit<br />

erhielt die Zentralstelle von den unter <strong>der</strong> Kontrolle des NKWD stehenden lokalen Sowjets 21 .<br />

Somit begannen die Außerordentlichen Kommissionen (TschK o<strong>der</strong> Tscheka), die bis dah<strong>in</strong><br />

die Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> eigenen Gefängnissen verwahrt hatten, im Herbst 1918 mit <strong>der</strong>en Verlegung<br />

<strong>in</strong> Konzentrationslager <strong>der</strong> Zentralstelle 22 . Gleichzeitig begann man mit <strong>der</strong> Schaffung von<br />

13 P. I. Stučka, I. Apeter: a.a.O. S. 125.<br />

14 Stanford University. Hoover Institution. Boris I. Nicolaevsky Collection. Box 417. Fol<strong>der</strong> 7.<br />

15 G. S. Agabekov: Zapiski čekista [Notizen e<strong>in</strong>es Tschekisten]. Berl<strong>in</strong>: Strela, 1925. S. 14-15.<br />

16 Stanford University. Hoover Institution. Boris I. Nicolaevsky Collection. Box 417. Fol<strong>der</strong> 7.<br />

17 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1918. Nr. 34. S. 451; GARF. f. 3333. op. 1. d.<br />

4. l. 64, 72, 80.<br />

18 GARF. f. 3333. op. 1. d. 3. l. 35; op. 2. d. 11. l. 63; op. 23. d. 1. l. 13.<br />

19 Ebenda. op. 23. d. 1. l. 20.<br />

20 Ebenda. op. 1. d. 3. l. 38, 44.<br />

21 Ebenda. l. 38. Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1917. Nr. 12. S. 179.<br />

22 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1918. Nr. 65. S. 710; Stanford University.<br />

Hoover Institution. Boris I. Nicolaevsky Collection. Box 417. Fol<strong>der</strong> 7; V. I. Len<strong>in</strong>: Polnoe sobranie soč<strong>in</strong>enij<br />

[Gesammelte Aufsätze]. Bd. 50. S. 143–144.<br />

5


Konzentrationsarbeitslagern unter <strong>der</strong> direkten Leitung <strong>der</strong> Außerordentlichen Kommissionen<br />

<strong>in</strong> den Gouvernements 23 .<br />

Um die Bemühungen <strong>der</strong> Zentralstelle, <strong>der</strong> WTschK und des NKWD zu koord<strong>in</strong>ieren, wurde<br />

auf Beschluss des Allrussischen Zentralen Exekutivkomitees vom 15. April 1919 e<strong>in</strong>e neue<br />

Behörde <strong>in</strong>nerhalb des NKWD e<strong>in</strong>gerichtet 24 . Nach mehreren Anläufen e<strong>in</strong>igte sich das<br />

Zentrale Exekutivkomitee am 17. Mai 1919 auf die Bezeichnung Abteilung für Zwangsarbeit<br />

(OPR) 25 . E<strong>in</strong>e Woche später, am 24. Mai 1919, wurde die Zentralstelle per Dekret des Rates<br />

<strong>der</strong> Volkskommissare dem NKWD übergeben 26 . Die WTschK wurde mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung von<br />

Zwangsarbeitslagern (Bezeichnung für die Haftanstalten <strong>der</strong> Abteilung für Zwangsarbeit) <strong>in</strong><br />

jedem Gouvernement und – wenn erfor<strong>der</strong>lich – auch <strong>in</strong> den Landkreisen beauftragt, um diese<br />

anschließend <strong>der</strong> Abteilung für Zwangsarbeit zu übergeben 27 .<br />

Offiziell existierten fünf Typen von Zwangsarbeitslagern: Lager beson<strong>der</strong>er Verwendung,<br />

allgeme<strong>in</strong>e Konzentrationslager, Produktionslager, Kriegsgefangenenlager und Transitlager 28 .<br />

Allerd<strong>in</strong>gs wurden <strong>in</strong> den Unterlagen des NKWD die Bezeichnungen "Zwangsarbeitslager"<br />

und "Konzentrationslager" häufig synonym verwendet, und auch die Bezeichnung<br />

"Konzentrationsarbeitslager" taucht auf 29 , so dass die Unterscheidung <strong>in</strong> Typen eher formaler<br />

Natur war. Außerdem wurden bei Bedarf – so zum Beispiel bei <strong>der</strong> Nie<strong>der</strong>schlagung des<br />

Aufstandes von Tambow – provisorische Feldlager e<strong>in</strong>gerichtet 30 .<br />

Somit entstand e<strong>in</strong> weiteres Haftanstaltssystem, das sich auf drei Behörden stützte: das<br />

Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten, die Allrussische Außerordentliche<br />

Kommission und die Zentralstelle. Es sei angemerkt, dass dieses <strong>System</strong> bis zu se<strong>in</strong>er<br />

Auflösung 1922 drei Mal umbenannt wurde (siehe Tabelle 1). Die längste Zeit davon lief es<br />

unter <strong>der</strong> Bezeichnung Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) (die Aufwertung zur<br />

Hauptverwaltung erfolgte im Mai 1920) 31 . Der E<strong>in</strong>fachheit halber wird diese Abkürzung für<br />

den gesamten Zeitraum von 1919 bis 1922 verwendet.<br />

Die Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) leitete dieses <strong>System</strong> wie gesagt <strong>in</strong><br />

Kooperation mit <strong>der</strong> WTschK (die ihre eigenen Haftanstalten hatte) und <strong>der</strong> Zentralstelle. Die<br />

enge Zusammenarbeit wurde durch den Umstand erleichtert, dass von 1919 bis 1922 das Amt<br />

des Volkskommissars für Innere Angelegenheiten und das Amt des Vorsitzenden <strong>der</strong><br />

WTschK <strong>in</strong> Personalunion von Felix E. Dsersch<strong>in</strong>ski ausgeübt wurden, <strong>der</strong> NKWD und<br />

WTschK als e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit leitete 32 . Die führenden Tschekisten waren gleichzeitig Leiter <strong>der</strong><br />

GUPR (siehe Tabelle 1) und <strong>der</strong> Zentralstelle (I. S. Unschlicht 33 , A. W. Eiduk 34 ). Die<br />

23 Siehe z.B. die Verfügung des Präsidiums des Moskauer Stadtrats vom 27.12.1918 "O koncentracionnom<br />

trudovom lagere" [Über das Konzentrationsarbeitslager] (Večernie izvestija Mos. Soveta rab. i krest. deputatov.<br />

30.12. 1918.). Nach dieser Verfügung wurde das Lager (<strong>in</strong> Moskau) von WTschK und MTschK e<strong>in</strong>gerichtet,<br />

ohne die Zuständigkeit ausdrücklich festzulegen. Es wurde lediglich darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass (Punkt 9) "die<br />

Kontrolle über die Richtigkeit des Vollzugs <strong>in</strong> die Zuständigkeit <strong>der</strong> Volksrichter, des Moskauer<br />

Gewerkschaftsbundes, <strong>der</strong> Hauptverwaltungsabteilung des Moskauer Stadtrats und <strong>der</strong> MTschK fällt".<br />

24 Dektrety Sovetskoj vlasti. [Dekrete <strong>der</strong> Sowjetmacht] Bd. 5. Moskau 1971. Nr. 38. S. 69.<br />

25 Ebenda. Nr. 97. S. 174.<br />

26 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1919. Nr. 24. S. 279.<br />

27 Dektrety Sovetskoj vlasti. [Dekrete <strong>der</strong> Sowjetmacht] Bd. 5. Nr. 97. S. 174.<br />

28 GARF. f. 393. op. 13. d. 1v. l. 112.<br />

29 Ebenda. f. 4042. op. 8. d. 12. l. 37.<br />

30 Ebenda. op. 2. d. 1. l. 71–75. Nach Angaben <strong>der</strong> Abteilung Tambow <strong>der</strong> Gouvernementsverwaltung des<br />

NKWD durchliefen nach Nie<strong>der</strong>schlagung des Aufstandes von 1921 ca. 45.000 Häftl<strong>in</strong>ge die provisorischen<br />

Feldlager. (ebenda. d. 19b. l. 10-11ob.).<br />

31 Ebenda. op. 8. d. 5. l. 45. Es sei angemerkt, dass <strong>der</strong> Status jenes Organs, welches die Haftorte des NKJu<br />

leitete, nicht verän<strong>der</strong>t wurde – es blieb weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e "Abteilung". In den Jahren 1920–1922 befand sie sich<br />

zwei Hierarchiestufen unter <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR).<br />

32 I. I. Kizilov: NKVD RSFSR (1917–1930). Moskau 1969. S. 52–55.<br />

33 GARF. f. 3333. op. 1. d. 3. l. 67.<br />

6


Ausgaben für den Unterhalt <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den Haftanstalten <strong>der</strong> WTschK wurden im<br />

Haushaltsplan des NKWD ausgewiesen 35 . Dieser engen Zusammenarbeit zwischen NKWD<br />

und WTschK ist es offensichtlich auch geschuldet, dass, entgegen dem Beschluss des<br />

Zentralen Exekutivkomitees vom 17. Mai 1919 36 , die Übergabe jener Lager im Gebiet<br />

Archangelsk, die sofort nach <strong>der</strong> Machtergreifung <strong>der</strong> Bolschewiki dort e<strong>in</strong>gerichtet worden<br />

waren, an die GUPR nicht erfolgte, son<strong>der</strong>n diese neben weiteren Haftanstalten unter Leitung<br />

<strong>der</strong> WTschK verblieben 37 .<br />

Somit waren die Haftanstalten Ende 1919 auf drei Behörden verteilt: die Hauptverwaltung für<br />

Zwangsarbeit (GUPR) des NKWD, die Allrussische Außerordentliche Kommission<br />

(WTschK) und die Zentrale Strafabteilung (ZKO) des Volkskommissariats für Justiz (NKJu).<br />

1920 befanden sich <strong>in</strong> den Lagern <strong>der</strong> GUPR 25.336 Häftl<strong>in</strong>ge (die Bürgerkriegsgefangenen<br />

nicht e<strong>in</strong>gerechnet) 38 , und <strong>in</strong> den Gefängnissen <strong>der</strong> ZKO waren 47.863 Personen 39 <strong>in</strong>haftiert.<br />

Am 1. Januar 1921 waren es 51.158 Häftl<strong>in</strong>ge (darunter 24.400 Kriegsgefangene) 40 <strong>in</strong> den<br />

GUPR-Lagern und 55.422 Gefangene 41 <strong>in</strong> den ZKO-Gefängnissen. Für Dezember 1921<br />

betrugen die Insassenzahlen <strong>in</strong> den GUPR-Lagern 40.913 Personen (Kriegsgefangene<br />

e<strong>in</strong>geschlossen) 42 , im November 1921 zählte man 73.194 Personen 43 <strong>in</strong> den ZKO-<br />

Gefängnissen. Dabei s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gefängnisstatistik des NKJu sowohl zu Lagerstrafen<br />

verurteilte Gefangene als auch Untersuchungshäftl<strong>in</strong>ge, <strong>der</strong>en Anteil 40–50% betrug,<br />

e<strong>in</strong>bezogen. In den Haftanstalten <strong>der</strong> WTschK saßen Ende 1921/Anfang 1922 ungefähr<br />

50.000 Häftl<strong>in</strong>ge 44 e<strong>in</strong>.<br />

Nach Auffassung <strong>der</strong> bolschewistischen Regierung sollten die Haftanstalten <strong>der</strong> Zentralen<br />

Strafabteilung beim NKJu, zu denen Gefängnisse, Besserungsanstalten, geschlossene<br />

Erziehungsanstalten für M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige und landwirtschaftliche Kolonien gehörten, den<br />

Krim<strong>in</strong>ellen vorbehalten se<strong>in</strong>, während die Lager <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Zwangsarbeit des<br />

NKWD <strong>der</strong> Isolation realer und potentieller Fe<strong>in</strong>de <strong>der</strong> Sowjetmacht dienten 45 . Faktisch<br />

wurde allerd<strong>in</strong>gs die Entscheidung darüber, wer e<strong>in</strong> Politischer und wer e<strong>in</strong> Krim<strong>in</strong>eller ist,<br />

von den Außerordentlichen Kommissionen und den Revolutionstribunalen gefällt, die sich<br />

größtenteils aus Personen mit niedrigem Bildungsgrad zusammensetzten. Es fehlte e<strong>in</strong>e<br />

34 Ebenda. d. 8. l. 83.<br />

35 Bjulleten' Narodnogo komissariata vnutrennich del. [Bullet<strong>in</strong> des Volkskommissariats für Innere<br />

Angelegenheiten] 1921. Nr. 2. S. 6.<br />

36 Dektrety Sovetskoj vlasti. [Dekrete <strong>der</strong> Sowjetmacht] Bd. 5. Nr. 97. S. 174.<br />

37 GARF. f. А-353. op. 5. d. 331. l. 78.<br />

38 Ebenda. f. 393. op. 13. d. 1v. l. 112.<br />

39 Ebenda. f. 9414. op. 1. d. 2877. l. 177, 178.<br />

40 Ebenda. f. 4042. op. 2. d. 1. l. 71–75; Vlast' Sovetov. [Macht <strong>der</strong> Räte] 1922. Nr. 1–2. S. 41. E<strong>in</strong>e erheblich<br />

ger<strong>in</strong>gere Anzahl, nämlich 35.703 Personen, wird im Buch Statističeskij ježegodnik [Statistisches Jahrbuch],<br />

1918–1920, Bd. 8, Teil 2, S. 58 angegeben. Es ist nicht auszuschließen, dass diese Zahl den Insassenzahlen <strong>der</strong><br />

unmittelbar <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) unterstellten Lager entspricht, während die beiden<br />

ersten Statistiken auch jene Lager berücksichtigen, die <strong>der</strong> WTschK (o<strong>der</strong> den GubTschK) adm<strong>in</strong>istrativ<br />

unterstellt waren, aber durch die Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) des NKWD f<strong>in</strong>anziert wurden.<br />

41 Tjuremnoe delo v 1921 g. [<strong>Das</strong> Gefängnissystem von 1921] Moskau 1921. S. 8.<br />

42 GARF. f. 4042. op. 2. d. 1. l. 71–75.<br />

43 Tjuremnoe delo v 1921 g. [<strong>Das</strong> Gefängnissystem von 1921] Moskau 1921. S. 8.<br />

44 GARF. f. 4042. op. 4. d. 1053. l. 17–19. Berechnet nach <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Rationen, die von <strong>der</strong> WTschK im<br />

Dezember 1921 (25.000) und Januar 1922 (21.600) ausgegeben wurden. In <strong>der</strong> Quelle wird vermerkt, dass die<br />

Rationen <strong>in</strong> beiden Fällen nicht e<strong>in</strong>mal für die Hälfte <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge ausreichten. Es sei festgestellt, dass dieselben<br />

Dokumente für die Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) im Dezember 1921 e<strong>in</strong>e Zuteilung von 23.000<br />

Rationen und im Januar 1922 von 19.500 Rationen vermerkten, womit ebenfalls weniger als die Hälfte <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>ge versorgt werden konnte.<br />

45 GARF. f. 4042. op. 8. d. 4. l. 89.<br />

7


Strafgesetzgebung. Somit konnte man auch wegen ger<strong>in</strong>gfügiger Delikte wie zum Beispiel<br />

Schwarzfahren als "Politischer" verurteilt werden 46 .<br />

Die Unterlagen <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) bezeugen jedoch: Die<br />

Tatsache, dass die Aufteilung <strong>der</strong> Gefangenen <strong>in</strong> die unterschiedlichen Zuständigkeiten von<br />

NKWD und NKJu nicht <strong>der</strong> ursprünglichen Idee entsprach, war nicht nur durch das Fehlen<br />

qualifizierten Personals vor Ort begründet. So setzten sich – gemäß dem Rechenschaftsbericht<br />

<strong>der</strong> GUPR für die zweite Jahreshälfte 1921 – z.B. die Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den ihr unterstellten Lagern<br />

folgen<strong>der</strong>maßen zusammen: Krim<strong>in</strong>elle 28,5%, "gesellschaftsfe<strong>in</strong>dliche Delikte" (Trunksucht,<br />

Prostitution, Müßiggang u.a.) 18,3%, "Konterrevolutionäre" 16,9%, Amtsvergehen 8,7%,<br />

Fahnenflucht 8,5%, illegaler Grenzübertritt 2,1%, Spionage 1,9%, weitere Verbrechen 9,7%<br />

und Untersuchungshäftl<strong>in</strong>ge (<strong>in</strong> <strong>der</strong> TschK) 5,4% 47 . Dokumente <strong>der</strong> GUPR mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung<br />

o<strong>der</strong> Bitte, jene Gefangenen, die nicht dem "Profil" entsprachen, den NKJu-Haftanstalten<br />

zuzuführen, wurden jedoch nicht gefunden. Im Gegenteil, bereits 1920 schlug das NKWD<br />

vor, alle Vollzugse<strong>in</strong>richtungen des Landes im NKWD zu konzentrieren 48 . Dem NKJu gelang<br />

es jedoch damals, die Unabhängigkeit se<strong>in</strong>er Gefängnisbehörde zu verteidigen, aber <strong>der</strong><br />

Machtkampf <strong>der</strong> Behörden um die Leitung <strong>der</strong> Haftanstalten g<strong>in</strong>g weiter.<br />

Die Hauptfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Regierung an die Haftanstalten blieben bestehen: Kostendeckung<br />

und vollständige Umerziehung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge. E<strong>in</strong> Regierungsbeschluss legte fest, dass sich<br />

die Arbeitsbed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge (darunter <strong>der</strong> Arbeitslohn) nicht von den<br />

gewerkschaftlich vere<strong>in</strong>barten Konditionen für normale Arbeiter unterscheiden dürften 49 . Da<br />

diese komb<strong>in</strong>ierte For<strong>der</strong>ung vor dem H<strong>in</strong>tergrund <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Lage im Land,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e angesichts <strong>der</strong> durch die Neue Ökonomische Politik (NEP) ausgelösten<br />

Arbeitslosigkeit, utopisch war, musste man sich für e<strong>in</strong>en Schwerpunkt entscheiden. Die<br />

Zentrale Strafabteilung des NKJu betonte, dass die Hauptaufgabe <strong>in</strong> <strong>der</strong> Umerziehung liege<br />

(es also besser wäre, <strong>in</strong> Zukunft gänzlich auf Gefängnisse verzichten zu können, statt sie<br />

kostenfrei zu machen). Diese E<strong>in</strong>stellung schlug sich sogar <strong>in</strong> <strong>der</strong> Neubezeichnung <strong>der</strong><br />

Abteilung im Oktober 1921 nie<strong>der</strong>, als die Zentrale Strafabteilung des NKJu <strong>in</strong> Zentrale<br />

Besserungsarbeitsabteilung (ZITO) umbenannt wurde. Da das Volkskommissariat für Justiz<br />

über besser ausgebildetes Personal für die Umerziehung von Verbrechern verfügte, schlug es<br />

vor, sämtliche Haftanstalten im Lande <strong>in</strong> die Verantwortlichkeit se<strong>in</strong>er eigenen<br />

Gefängnisbehörde zu überführen 50 . Die Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) des<br />

NKWD argumentierte mit zügiger Kostendeckung <strong>der</strong> Haftanstalten und völliger<br />

Unabhängigkeit von Subventionen 51 . (Übrigens zeigt <strong>der</strong> im Dezember 1921 dem Kollegium<br />

des NKWD vorgelegte schriftliche Bericht <strong>der</strong> GUPR die größtenteils unverhohlen<br />

demagogische Argumentation im Zusammenhang mit <strong>der</strong> Entkoppelung <strong>der</strong> GUPR-Lager von<br />

<strong>der</strong> staatlichen Versorgung 52 .) Die GUPR verweist <strong>in</strong> ihren Unterlagen wie<strong>der</strong>holt darauf,<br />

dass die eigenen Mitarbeiter zu e<strong>in</strong>em hohen Prozentsatz aus Kommunisten und Angehörigen<br />

<strong>der</strong> Arbeiterklasse bestünden, woh<strong>in</strong>gegen das NKJu-<strong>System</strong> im wesentlichen von altem<br />

46 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1917, Nr. 4. S. 50; 12, S. 170; 1919, 66. S. 590.<br />

47 GARF. f. 4042. op. 2. d. 1. l. 71–75.<br />

48 Ebenda. f. 393. op. 1. d. 19. l. 7.<br />

49 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1918, Nr. 53. S. 598.<br />

50 P. N.: O revoljucionnoj zakonnosti i organizacii bor'by s prestupnost'ju. [Über die revolutionäre<br />

Rechtsordnung und den Kampf gegen das Verbrechen] In: Eženedel'nik sovetskoj justicii. [Wochenblatt <strong>der</strong><br />

sowjetischen Justiz] 1922. Nr. 4. S. 9-10.<br />

51 B. P.: Ob organizacii tjurem na načalach samookupaemosti. [Über den Aufbau von Gefängnissen auf dem<br />

Pr<strong>in</strong>zip <strong>der</strong> Kostendeckung] In: Ebenda. Nr. 14/15. S. 8–9; M. K-F.: Novaja ėkonomičeskaja politika i lageri<br />

pr<strong>in</strong>uditel'nych rabot. [Die neue Wirtschaftspolitik und die Zwangsarbeitslager] In: Vlast' Sovetov. [Macht <strong>der</strong><br />

Räte] 1922. Nr. 3. S. 18; GARF. f. 4042. op. 2. d. 1. l. 60–61, 71–75, 179, 180.<br />

52 GARF. f. 4042. op. 2. d. 1. l. 97-101.<br />

8


Gerichts- und Gefängnispersonal geprägt sei 53 . Die WTschK unterstützte die For<strong>der</strong>ung des<br />

NKWD, alle Haftanstalten <strong>in</strong> die Zuständigkeit <strong>der</strong> GUPR zu überführen 54 .<br />

Für den Unterhalt <strong>der</strong> Haftanstalten gewann die Häftl<strong>in</strong>gsarbeit zunehmend an Bedeutung.<br />

<strong>Das</strong> erklärte sich nicht nur aus dem Machtkampf <strong>der</strong> Behörden, son<strong>der</strong>n auch aus <strong>der</strong><br />

chronischen Unterf<strong>in</strong>anzierung durch den Staat, was zu e<strong>in</strong>er drastischen Verschlechterung<br />

<strong>der</strong> materiellen Versorgung <strong>in</strong> den meisten Haftanstalten führte. Häufig g<strong>in</strong>g es ums nackte<br />

Überleben. 1922 hungerten <strong>in</strong> vielen Anstalten <strong>der</strong> ZITO die Häftl<strong>in</strong>ge: bei 27% enthielt die<br />

Verpflegung weniger als 1.000 Kalorien pro Person und Tag (bei 3,1% waren es sogar<br />

weniger als 600 Kalorien!), bei 45,4% zwischen 1.000 und 1.500 Kalorien, bei 19,5%<br />

zwischen 1.500 und 2.000 Kalorien und nur bei 8,1% mehr als 2.000 Kalorien 55 . Nicht viel<br />

besser war die Situation des Gefängnispersonals, so dass e<strong>in</strong>ige Besserungsanstalten nur noch<br />

von e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen verbliebenen Aufseher bewacht wurden; "die Übrigen wechselten zu<br />

e<strong>in</strong>er besser bezahlten Arbeitsstelle" 56 . Ebenso verhielt es sich <strong>in</strong> den Lagern <strong>der</strong> GUPR 57 . Als<br />

direkte Folge dieser Situation arbeiteten 1920 nicht mehr 2%, son<strong>der</strong>n ca. 50% aller<br />

Gefangenen, und 1921 waren es ungefähr 55% aller Häftl<strong>in</strong>ge 58 . Als 1922 per<br />

Regierungsbeschluss bis auf fünfzehn Ausnahmen sämtliche Haftanstalten <strong>in</strong> die lokale<br />

F<strong>in</strong>anzierung und Kostendeckung überführt wurden, setzte die GUPR 70-75% aller<br />

Häftl<strong>in</strong>ge 59 zu Arbeiten e<strong>in</strong> und die ZITO 35-45% 60 .<br />

Es gab mehrere Gründe für den unterschiedlich hohen Anteil an Häftl<strong>in</strong>gsarbeit. Die<br />

Haftanstalten des Volkskommissariats für Justiz hatten generell große Schwierigkeiten bei <strong>der</strong><br />

E<strong>in</strong>richtung von Arbeitsplätzen, da es sowohl an Ausrüstungen, Werkzeuge, Betriebsmitteln<br />

als auch an Absatzmöglichkeiten fehlte. Um Häftl<strong>in</strong>ge für Arbeiten außerhalb <strong>der</strong> Haftanstalt<br />

<strong>in</strong> fremden E<strong>in</strong>richtungen e<strong>in</strong>zusetzen (was unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit an<br />

sich schon problematisch war), benötigte man verlässliches Wachpersonal und somit<br />

zusätzliche Mitarbeiter. E<strong>in</strong> markantes Bild liefert die Statistik <strong>der</strong> Fluchtversuche: <strong>in</strong> den drei<br />

Sommermonaten des Jahres 1922 flüchteten 6.882 Personen – also fast je<strong>der</strong> Zehnte – aus den<br />

Haftanstalten, die <strong>der</strong> Zentralen Besserungsarbeitsabteilung (ZITO) unterstellt waren, wobei<br />

die Flucht zumeist vom Arbeitsplatz außerhalb <strong>der</strong> Gefängnismauern erfolgte 61 . Die<br />

Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) wie<strong>der</strong>um konnte dieses Problem teilweise lösen,<br />

da man ihr <strong>in</strong> Zeiten von Massenarbeitslosigkeit e<strong>in</strong>e Reihe ziemlich großer Betriebe<br />

(hauptsächlich Ziegeleien) zur Pacht überließ 62 . Außerdem machten sich 1921 die<br />

Außerordentlichen Kommissionen die Rechtsfreiheit zu Nutze und wiesen <strong>in</strong> "ihre"<br />

Haftanstalten vermehrt junge und gesunde Häftl<strong>in</strong>ge 63 e<strong>in</strong>, also die leistungsfähigsten<br />

Arbeitskräfte. Als 1922 e<strong>in</strong> Strafgesetzbuch e<strong>in</strong>geführt wurde, welches die Lagerhaft nicht<br />

vorsah, verm<strong>in</strong><strong>der</strong>te sich die Häftl<strong>in</strong>gszahl <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Zwangsarbeit,<br />

und die Behörde verspürte Schwierigkeiten h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> ihr zur Verfügung stehenden<br />

Arbeitskräfte (siehe z.B. das Anschreiben <strong>der</strong> GUPR an die ZITO mit <strong>der</strong> Bitte um teilweise<br />

Verlegung von arbeitsfähigen Häftl<strong>in</strong>gen zur Auslastung <strong>der</strong> eigenen Betriebe) 64 . Im selben<br />

Jahr wurde <strong>der</strong> Beschluss des Zentralen Exekutivkomitees <strong>der</strong> Sowjetunion vom 12.<br />

53 Ebenda. l. 60-61.<br />

54 Ebenda. l. 188.<br />

55 Ebenda. d. 8. l. 84.<br />

56 Ebenda. l. 66ob.<br />

57 Ebenda. d. 1. l. 4, 30, 97-101.<br />

58 Tjuremnoe delo v 1921 g. [<strong>Das</strong> Gefängnissystem von 1921] Moskau 1921. S. 21-23.<br />

59 GARF. f. 4042. op. 2. d. 1. l. 71-75.<br />

60 Ebenda. d. 8. l. 76ob.<br />

61 Ebenda. l. 72.<br />

62 Ebenda. d. 1. l. 71-75, 108.<br />

63 Tjuremnoe delo v 1921 g. [<strong>Das</strong> Gefängnissystem von 1921] Moskau 1921. S. 10.<br />

64 GARF. f. 4042. op. 2. d. 9b. l. 92, 99, 106, 158.<br />

9


Dezember 1921 umgesetzt und die GUPR-Lager von arbeitsunfähigen Häftl<strong>in</strong>gen befreit,<br />

<strong>in</strong>dem man ihre Lagerhaft entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> Ausweisung o<strong>der</strong> Verbannung umwandelte 65 .<br />

Die Regierung bezog <strong>in</strong> diesem Streit zwischen beiden Volkskommissariaten ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>deutige<br />

Position. Als am 9. Februar 1922 die WTschK aufgelöst und <strong>in</strong>nerhalb des NKWD die<br />

Politische Hauptverwaltung (GPU) e<strong>in</strong>gerichtet wurde, beschloss gleichzeitig das Zentrale<br />

Exekutivkomitee, sämtliche Haftanstalten des NKWD zum 1. Juli 1922 <strong>in</strong> die Verantwortung<br />

<strong>der</strong> ZITO des NKJu zu übergeben 66 . Dabei handelte es sich um Haftanstalten sowohl <strong>der</strong><br />

GUPR als auch <strong>der</strong> GPU, die von <strong>der</strong> WTschK e<strong>in</strong>ige Gefängnisse und m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e<br />

Lagerverwaltung – nämlich die Nördlichen Zwangsarbeitslager <strong>der</strong> GPU mit ihrem Zentrum<br />

<strong>in</strong> Archangelsk 67 – übernommen hatte. Man g<strong>in</strong>g davon aus, dass <strong>der</strong> GPU nur noch e<strong>in</strong><br />

Gefängnis <strong>in</strong> Moskau und e<strong>in</strong>es <strong>in</strong> Petrograd verbleiben würde 68 . Aber nach Protesten des<br />

NKWD wurde die Umsetzung dieses Beschlusses gestoppt und später e<strong>in</strong> Kompromiss<br />

gefunden. Am 25. Juli 1922 ordnete <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Volkskommissare an, alle Haftanstalten des<br />

NKJu dem NKWD zu unterstellen 69 . E<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>samer Beschluss des NKJu und NKWD vom<br />

12. Oktober 1922 wandelte die ZITO des NKWD <strong>in</strong> die Hauptverwaltung für Haftanstalten<br />

(GUMS) des NKWD und ihre lokalen Organe <strong>in</strong> die lokalen Verwaltungen <strong>der</strong> Haftanstalten<br />

bei den Gouvernementbehörden des NKWD um. Die Hauptverwaltung für Zwangsarbeit<br />

(GUPR) des NKWD und ihre lokalen Verwaltungen wurden abgeschafft 70 . Auf diese Weise<br />

wurden die Haftanstalten <strong>der</strong> ZITO des NKJu und <strong>der</strong> GUPR des NKWD dem ehemaligen<br />

ZITO-Verwaltungsapparat mit Jewsei Schirw<strong>in</strong>dt an <strong>der</strong> Spitze unterstellt (während das<br />

ehemalige GUPR-Führungspersonal <strong>in</strong> <strong>der</strong> neuen Behörde von untergeordneter Bedeutung<br />

war), diese Leitungsstruktur jedoch unterstand wie<strong>der</strong>um dem NKWD. Die GPU h<strong>in</strong>gegen<br />

behielt weiterh<strong>in</strong> ihre Haftanstalten, was weitreichende Folgen hatte.<br />

Die Dokumente <strong>der</strong> Zentralarchive erlauben ke<strong>in</strong> genaues Bild des Strafvollzugssystems <strong>in</strong><br />

den unabhängigen Republiken (Ukra<strong>in</strong>e, Transkaukasische Fö<strong>der</strong>ation u.a.) und den<br />

autonomen Republiken <strong>der</strong> RSFSR. Es sei lediglich angemerkt, dass <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e und den<br />

autonomen Republiken <strong>der</strong> RSFSR (1921 <strong>in</strong> <strong>der</strong> Tataristan, Baschkirien, Dagestan, Kirgisien<br />

und Gorski sowie zusätzlich 1922 <strong>in</strong> den Autonomen Republiken Krim, Turkestan und<br />

Jakutien) die allgeme<strong>in</strong>en Vollzugsanstalten dem Volkskommissariat für Justiz untergeordnet<br />

waren, während die Zwangsarbeitslager den e<strong>in</strong>zelnen Volkskommissariaten für Innere<br />

Angelegenheiten <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Republiken unterstellt waren 71 . E<strong>in</strong>e zentrale statistische<br />

Erfassung dieser Republiken <strong>in</strong> Moskau erfolgte nicht 72 . Auch konnten sich auf dem<br />

Territorium <strong>der</strong> autonomen Republiken Lager bef<strong>in</strong>den, die <strong>der</strong> GUPR des NKWD <strong>der</strong><br />

RSFSR (möglicherweise unter doppelter Zuständigkeit) unterstellt waren 73 . Dabei war die<br />

Verlegung von Häftl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Lager <strong>der</strong> RSFSR nicht nur aus autonomen, son<strong>der</strong>n auch aus<br />

65 Ebenda. d. 1. l. 4, 30.<br />

66 GARF. f. А–353. op. 1. d. 331. l. 76.<br />

67 GARF. f. 4042. op. 2. d. 9b. l. 148, 430. Dokumente, die die Anfänge des Gefängnis- und Lagersystems <strong>der</strong><br />

WTschK-GPU des NKWD <strong>der</strong> RSFSR belegen, wurden nicht gefunden. Insbeson<strong>der</strong>e ist unklar, wie die<br />

Häftl<strong>in</strong>ge zwischen WTschK und <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Zwangsarbeit (GUPR) aufgeteilt wurden, welchen<br />

E<strong>in</strong>fluss das Ende des Bürgerkriegs und die Verabschiedung des Strafgesetzbuches auf die Zahl jener Häftl<strong>in</strong>ge<br />

hatten, die <strong>der</strong> WTschK unterstanden und welche Verän<strong>der</strong>ungen es bei <strong>der</strong> Umwandlung <strong>der</strong> WTschK <strong>in</strong> die<br />

Politische Hauptverwaltung (GPU) des NKWD gab. Was die WTschK-Lager im Gouvernement Archangelsk<br />

angeht, so wurden daraus offenbar die Nördlichen Lager <strong>der</strong> GPU und <strong>der</strong> GUPR.<br />

68 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1922. Nr. 53. S. 675.<br />

69 GARF. f. А–353. op. 5. d. 331. l. 164.<br />

70 Ebenda. f. 4042. op. 2. d. 1. l. 233.<br />

71 Ebenda. d. 18b. l. 1–16; d. 1. l. 114, 115; d. 9а. l. 571.<br />

72 Ebenda. d. 9а. l. 316.<br />

73 Ebenda. d. 19b. l. 3, 7.<br />

10


se<strong>in</strong>erzeit unabhängigen Republiken möglich (siehe zum Beispiel den Briefwechsel über die<br />

geplante Häftl<strong>in</strong>gsverlegung aus den transkaukasischen Republiken <strong>in</strong> die RSFSR 74 ).<br />

1923–1930<br />

Anfang 1923 waren sämtliche Haftanstalten <strong>der</strong> RSFSR dem NKWD unterstellt. Der Großteil<br />

<strong>der</strong> Verurteilten und viele Untersuchungsgefangene (Ende 1922 betrug ihre Zahl 80.559 75 ;<br />

zum September 1923 waren es 79.947 Personen 76 ) waren <strong>in</strong> E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> NKWD-<br />

Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) untergebracht. E<strong>in</strong>ige wenige Gefängnisse und<br />

Lager unterstanden <strong>der</strong> GPU des NKWD <strong>der</strong> RSFSR 77 . E<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong><br />

Untersuchungsgefangenen befand sich <strong>in</strong> Haftanstalten <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Arbeiterund<br />

Bauernmiliz des NKWD 78 .<br />

Auf Gouvernements- bzw. Gebietsebene erfolgte die Leitung <strong>der</strong> GUMS durch die bei den<br />

regionalen Verwaltungsabteilungen <strong>der</strong> Exekutivkomitees angesiedelten Inspektionen für<br />

Haftanstalten. Neben den eigentlichen Haftanstalten waren diesen Inspektionen auch die<br />

Büros für Zwangsarbeit ohne Verhaftung unterstellt. In den autonomen Republiken gab es<br />

eigene Vollzugsverwaltungen unter <strong>der</strong> Leitung von regionalen Volkskommissariaten für<br />

Innere Angelegenheiten, sowie Vollzugsverwaltungen, die dem NKWD <strong>der</strong> RSFSR direkt<br />

unterstanden 79 . Diese Doppelstruktur wurde <strong>in</strong> allen an<strong>der</strong>en Sowjetrepubliken ebenfalls<br />

e<strong>in</strong>geführt. Zu den Vollzugsanstalten für die Verwahrung verurteilter Häftl<strong>in</strong>ge gehörten<br />

folgende E<strong>in</strong>richtungen: Isolatoren beson<strong>der</strong>er Verwendung, Besserungsarbeitshäuser,<br />

Arbeitskolonien (landwirtschaftlicher, handwerklicher und <strong>in</strong>dustrieller Ausrichtung),<br />

Arbeitshäuser für m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige Gesetzesbrecher, Arbeitshäuser für Gesetzesbrecher aus <strong>der</strong><br />

Arbeiter- und Bauernjugend, Kolonien für psychisch Kranke, für Häftl<strong>in</strong>ge, die an<br />

Tuberkulose litten, und für Häftl<strong>in</strong>ge mit an<strong>der</strong>en Erkrankungen 80 . Im Laufe des Jahres 1923<br />

wurden die Zwangsarbeits- und Konzentrationslager aufgelöst und somit die For<strong>der</strong>ungen des<br />

1922 verabschiedeten Strafgesetzbuches sowie <strong>der</strong> Strafprozessordnung erfüllt. Im April 1923<br />

wurden die Arreste<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> Miliz an die GUMS übergeben 81 . Im April 1927 wurde<br />

die Struktur <strong>der</strong> GUMS aus Kostengründen vere<strong>in</strong>facht: Die Gouvernements- bzw.<br />

Gebiets<strong>in</strong>spektionen sowie die Bezirks- bzw. Kreis<strong>in</strong>spektionen wurden aufgelöst und die<br />

Vollzugsanstalten direkt <strong>der</strong> GUMS des NKWD unterstellt; parallel dazu erhielten die<br />

Anstaltsleiter erweiterte Befugnisse. Die Inspektionen für Haftanstalten wurden <strong>in</strong><br />

Vollzugsabteilungen unter <strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> Gouvernements- bzw. Gebietsexekutivkomitees<br />

umgewandelt und gewährleisteten somit e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Leitung und politische Kotrolle vor<br />

Ort 82 . Dieses <strong>System</strong> blieb ohne wesentliche Verän<strong>der</strong>ungen bis zur Auflösung <strong>der</strong> GUMS<br />

des NKWD am 15. Dezember 1930 bestehen 83 .<br />

<strong>Das</strong> parallel dazu etablierte <strong>System</strong> <strong>der</strong> Haftanstalten <strong>der</strong> GPU des NKWD <strong>der</strong> RSFSR<br />

verfügte anfangs lediglich über e<strong>in</strong>ige Gefängnisse – die so genannten Politisolatoren – und<br />

74 Ebenda. l. 3, 7–9.<br />

75 Ebenda. f. 4042. op. 2. d. 8. l. 67.<br />

76 Ebenda. f. 393. op. 39. d. 48. l. 13.<br />

77 Ebenda. f. А–353. op. 5. d. 331. l. 78.<br />

78 Ebenda. f. 4042. op. 2. d. 8. l. 64.<br />

79 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1924. Nr. 86. S. 870.<br />

80 Ebenda.<br />

81 GARF. f. 4042. op. 2. d. 8. l. 23.<br />

82 Ebenda. op. 1. d. 36. l. 19–20; D. Blauberg: Organy upravlenija [Verwaltungsorgane] In: Ot tjurem k<br />

vospitatel'nym učreždenijam [Von Gefängnissen zu Erziehungsanstalten]. A. Ja. Vyš<strong>in</strong>skij (Hrsg.). Moskau, 1934. S.<br />

409–414.<br />

83 GARF. f. 393. op. 84. d. 115. l. 505; Sobranie uzakonenij SSSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1930, Nr.<br />

60. S. 640.<br />

11


offenbar e<strong>in</strong>e Lagerverwaltung (Verwaltung <strong>der</strong> Nördlichen Lager <strong>der</strong> GPU 84 ).<br />

Wahrsche<strong>in</strong>lich wurde <strong>der</strong> Erhalt dieser GPU-Haftanstalten durch den Umstand begünstigt,<br />

dass während <strong>der</strong> Umstrukturierung Ende 1922 Felix Dsersch<strong>in</strong>ski immer noch<br />

Volkskommissar für Innere Angelegenheiten und Leiter <strong>der</strong> GPU <strong>in</strong> Personalunion war. Am<br />

6. Juli 1923, e<strong>in</strong> halbes Jahr nach Gründung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>, wurden die Politischen<br />

Hauptverwaltungen <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen Unionsrepubliken aus den jeweiligen Volkskommissariaten<br />

für Innere Angelegenheiten ausgeglie<strong>der</strong>t und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>igten Staatlichen Politischen<br />

Verwaltung (OGPU) zusammengefasst, die wie<strong>der</strong>um dem Rat <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong><br />

<strong>UdSSR</strong> direkt unterstellt war 85 . Sämtliche Haftanstalten <strong>der</strong> GPU <strong>der</strong> RSFSR wurden <strong>der</strong><br />

OGPU übergeben. Per Beschluss des Rats <strong>der</strong> Volkskommissare vom 13. Oktober 1923<br />

(Protokoll Nr. 15) wurden kurze Zeit später die Nördlichen Lager <strong>der</strong> GPU aufgelöst und an<br />

ihrer Stelle die OGPU-Verwaltung <strong>der</strong> Solowezki-Zwangsarbeitslager beson<strong>der</strong>er<br />

Verwendung (USLON o<strong>der</strong> SLON) 86 e<strong>in</strong>gerichtet. Auf diese Weise manifestierte <strong>der</strong><br />

politische Unterdrückungsapparat endgültig die Autonomie se<strong>in</strong>er Haftanstalten und entzog<br />

sie somit e<strong>in</strong>em von <strong>der</strong> OGPU wenigstens relativ unabhängigen Kontrollorgan. Die Versuche<br />

des Leiters <strong>der</strong> Verwaltung für Haftanstalten Jewsei Schirw<strong>in</strong>dts, die OGPU-Haftanstalten<br />

unter se<strong>in</strong>e Leitung zu br<strong>in</strong>gen, blieben erfolglos 87 .<br />

E<strong>in</strong> genaues Bild <strong>der</strong> Organisationsstruktur <strong>der</strong> OGPU-Haftanstalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zeit ihres<br />

Bestehens konnte nicht gewonnen werden, da <strong>der</strong> Zugang zu den notwendigen<br />

Archivmaterialien unterbunden war. Bis zur Gründung <strong>der</strong> Lagerverwaltung (ULAG) <strong>der</strong><br />

OGPU 1930 war das Solowezki-Lager <strong>der</strong> 3. Abteilung bei <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>abteilung <strong>der</strong> OGPU<br />

unterstellt 88 . Die Gefängnisabteilung <strong>der</strong> OGPU, die wie<strong>der</strong>um <strong>der</strong> Verwaltungsabteilung <strong>der</strong><br />

OGPU unterstellt war, verwaltete anfangs offenbar nur e<strong>in</strong>en Teil <strong>der</strong> Politisolatoren. Am 14.<br />

Mai 1925 wurden die Politisolatoren von Werchne-Uralsk, Susdal, Tobolsk, Tscheljab<strong>in</strong>sk<br />

und Jaroslawl <strong>der</strong> Gefängnisabteilung <strong>der</strong> OGPU unterstellt, "um alle Politisolatoren unter <strong>der</strong><br />

Führung <strong>der</strong> OGPU zu vere<strong>in</strong>en". Während <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Gefängnisabteilung weiterh<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

allgeme<strong>in</strong>en Verwaltungsabteilung unterstellt war, so folgte er im geheim-operativen Bereich<br />

den Weisungen <strong>der</strong> Geheimabteilung <strong>der</strong> OGPU 89 .<br />

Da Archivunterlagen zu diesem Punkt nicht zugänglich s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d auch genaue Angaben zu<br />

Häftl<strong>in</strong>gszahlen <strong>in</strong> OGPU-Haftanstalten kaum möglich. Veröffentlichten Schätzungen zufolge<br />

war ihre Zahl anfangs (1923) nicht hoch und betrug weniger als 7.000 Personen bzw. ca. 10%<br />

aller Inhaftierten <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) <strong>der</strong> RSFSR 90 . Die<br />

durchschnittliche Insassenzahl des Solowezki-Lagers betrug im vierten Quartal 1923 2.557<br />

Personen und im ersten Quartal 1924 3.531 91 . Gemäß den bis Ende <strong>der</strong> 1920er Jahre<br />

geltenden Bestimmungen wurden <strong>in</strong> die Haftanstalten <strong>der</strong> OGPU "politische Verbrecher" und<br />

beson<strong>der</strong>s gefährliche Straftäter e<strong>in</strong>gewiesen 92 . Dabei betraf die E<strong>in</strong>weisung <strong>in</strong> Politisolatoren<br />

"ausschließlich jene Häftl<strong>in</strong>ge, welche dazu vom Son<strong>der</strong>ausschuss (OSO) <strong>der</strong> OGPU und den<br />

84 GARF. f. 4042. op. 2. d. 9b. l. 148; d. 9v. l. 429, 430.<br />

85 Sobranie uzakonenij SSSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1923. Nr. 12. S. 105.<br />

86 GARF. f. 5446. op. 1. d. 2. l. 31, 43. Der Erhalt <strong>der</strong> Lager wi<strong>der</strong>sprach dem gültigen Strafgesetzbuch. Wie<br />

bereits erwähnt, wurden sie <strong>in</strong>nerhalb des NKWD-<strong>System</strong>s <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Jahreshälfte 1923 aufgelöst.<br />

Möglicherweise führte die Ungesetzlichkeit dieser E<strong>in</strong>richtungen zur Umbenennung <strong>der</strong> OGPU-Lager <strong>in</strong> "Lager<br />

beson<strong>der</strong>er Verwendung".<br />

87 GARF. f. 393. op. 1. l. 15-17.<br />

88 Zentralarchiv des FSB. f. 2. op. 8. d. 104. l. 27-28.<br />

89 Befehl 125/60 <strong>der</strong> OGPU vom 14.05.1925. Möglicherweise h<strong>in</strong>g diese Umstrukturierung <strong>der</strong> Verwaltung für<br />

Politisolatoren mit <strong>der</strong> Verlegung von politischen Häftl<strong>in</strong>gen aus dem USLON im Sommer 1925 zusammen.<br />

90 D. Dall<strong>in</strong>, B. Nicolaevsky: Forced Labor <strong>in</strong> the Soviet Russia. New Haven, CT: Yale University Press, 1947.<br />

S. 173.<br />

91 Zentralarchiv des FSB. f. Statistiki. d. 13. l. 1.<br />

92 GARF. f. 393. op. 1. d. 83. l. 1-2.<br />

12


Gerichten (Oberster Gerichtshof <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> und Oberster Gerichtshof <strong>der</strong> RSFSR) verurteilt<br />

worden waren" 93 .<br />

Ursprünglich beschränkte sich <strong>der</strong> Wirkungsbereich <strong>der</strong> Verwaltung <strong>der</strong> Solowezki-Lager<br />

beson<strong>der</strong>er Verwendung (USLON) auf die Solowezki-Inseln; <strong>in</strong> Karelien (Kem) befand sich<br />

lediglich e<strong>in</strong> Transit- und Versorgungslager. Innerhalb kürzester Frist breiteten sich jedoch<br />

Ableger dieser Verwaltung auf dem Festland aus: zunächst <strong>in</strong> den Küstenregionen Kareliens,<br />

1926 im nördlichen Uralvorland (Wischera-Abteilung) und nach weiteren zwei, drei Jahren<br />

auf <strong>der</strong> Halb<strong>in</strong>sel Kola 94 . Mit <strong>der</strong> territorialen Expansion g<strong>in</strong>g e<strong>in</strong> rascher Anstieg <strong>der</strong><br />

Gefangenenzahlen <strong>in</strong>nerhalb des OGPU-Vollzugssystems e<strong>in</strong>her. Zum 1. Oktober 1927 zählte<br />

man alle<strong>in</strong> im USLON-Lagersystem 12.896 Häftl<strong>in</strong>ge 95 .<br />

Auch <strong>in</strong> den Vollzugsanstalten, die den Hauptverwaltungen für Haftanstalten <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Sowjetrepubliken unterstanden, stiegen die Inhaftiertenzahlen. Die GUMS des NKWD <strong>der</strong><br />

RSFSR (ohne E<strong>in</strong>beziehung <strong>der</strong> Haftanstalten <strong>der</strong> autonomen Republiken <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

RSFSR) zählte im Oktober 1924 77.784 Inhaftierte, im Oktober 1925 betrug ihre Zahl 92.947,<br />

im Juli 1926 122.665 und im Juli 1927 111.202 (die Angaben von 1927 berücksichtigen nicht<br />

die Inhaftiertenzahlen <strong>der</strong> Region Fernost 96 ). In <strong>der</strong> RSFSR lebten ca. 60% <strong>der</strong><br />

Gesamtbevölkerung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> 97 ohne Berücksichtigung <strong>der</strong> Bewohner <strong>der</strong> autonomen<br />

Republiken. Stellt man die Inhaftiertenzahlen <strong>in</strong> den GUMS-Vollzugsanstalten <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en<br />

Sowjetrepubliken <strong>in</strong>s Verhältnis zur Bevölkerungszahl, so kann man für Mitte 1927 die<br />

Gefangenenzahlen <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> auf ca. 200.000 Personen hochrechnen. Zehn Jahre nach <strong>der</strong><br />

Oktoberrevolution war somit die Zahl <strong>der</strong> Gefangenen genauso hoch wie 1912, wobei sich<br />

das Territorium im Vergleich zum zaristischen Russland verr<strong>in</strong>gert hatte.<br />

Die wachsenden Häftl<strong>in</strong>gszahlen wi<strong>der</strong>sprachen den Ankündigungen des Marxismus. Doch<br />

die Hauptschwierigkeit war nicht ideologischer, son<strong>der</strong>n f<strong>in</strong>anzieller Natur. Unter den<br />

Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Neuen Ökonomischen Politik (NEP) waren die Unternehmen <strong>der</strong> GUMS<br />

nicht konkurrenzfähig. Sie hatten ke<strong>in</strong>en stabilen Absatzmarkt, die Qualität <strong>der</strong> Produkte ließ<br />

weiterh<strong>in</strong> zu wünschen übrig, die Produktionskosten waren zu hoch, was teilweise mit den<br />

hohen Ausschussraten zu tun hatte 98 . E<strong>in</strong>e Wirtschaftlichkeit <strong>der</strong> Vollzugsanstalten wurde<br />

nicht erreicht, und für jeden neuen Häftl<strong>in</strong>g mussten zusätzliche Mittel aufgebracht werden.<br />

Diese Mittel wurden jedoch für die geplante Industrialisierung gebraucht.<br />

Die Leitung <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftanstalten begriff, dass ohne den massenhaften<br />

E<strong>in</strong>satz von Häftl<strong>in</strong>gen bei ungelernten Arbeiten e<strong>in</strong>e Wirtschaftlichkeit nicht erreicht werden<br />

konnte. Die Beschaffung <strong>der</strong>artiger Arbeiten erwies sich jedoch unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />

Neuen Ökonomischen Politik als ausgesprochen schwierig. Der e<strong>in</strong>zige praktische Schritt <strong>in</strong><br />

diese Richtung war <strong>der</strong> Beschluss des Obersten Rates für Volkswirtschaft <strong>der</strong> RSFSR vom 19.<br />

Dezember 1926 "Über den E<strong>in</strong>satz von Häftl<strong>in</strong>gen bei <strong>der</strong> Holzgew<strong>in</strong>nung" 99 . Der Beschluss<br />

sah vor, dass "zum verstärkten E<strong>in</strong>satz von Arbeitskräften und zur Senkung <strong>der</strong> Arbeitskosten<br />

im Holze<strong>in</strong>schlag" alle staatlichen Organisationen e<strong>in</strong>e "maximale Anzahl von Häftl<strong>in</strong>gen"<br />

e<strong>in</strong>setzen sollten. Übrigens f<strong>in</strong>det man auch <strong>in</strong> diesem Dokument das E<strong>in</strong>geständnis, dass "bei<br />

<strong>der</strong> praktischen Umsetzung <strong>der</strong> vorgeschlagenen Maßnahme e<strong>in</strong>ige H<strong>in</strong><strong>der</strong>nisse entstehen<br />

könnten". Bis 1929 wurden Häftl<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> GUMS nur teilweise im Holze<strong>in</strong>schlag<br />

93 Befehl 125/60 <strong>der</strong> OGPU vom 14.05.1925.<br />

94 Zentralarchiv des FSB. f. Statistiki. d. 13. l. 1; GARF. f. 393. op. 1. d. 2919. l. 2, 39, 42, 65; f. 9414. op. 1. d.<br />

2818. l. 65, 155.<br />

95 GARF. f. 9414. op. 1. d. 2818. l. 3.<br />

96 Ebenda. d. 2877. l. 177, 178.<br />

97 D. Šelestov: Vremja Alekseja Rykova [Die Epoche des Alexei Rykow]. Moskau 1990. S. 329.<br />

98 GARF. f. 4042. op. 1а. d. 39. l. 46-47.<br />

99 Ebenda. l. 171.<br />

13


e<strong>in</strong>gesetzt 100 . E<strong>in</strong> möglicher Grund ist die Lage <strong>der</strong> meisten GUMS-Vollzugsanstalten <strong>in</strong> dicht<br />

besiedelten Gebieten, wo es ke<strong>in</strong>en Arbeitskräftemangel gab. Ähnliche Vorschläge <strong>der</strong><br />

GUMS, wie z.B. die Verwendung von Häftl<strong>in</strong>gen für schwere Erdarbeiten beim<br />

Eisenbahnbau <strong>in</strong> Turkestan, worüber 1927 verhandelt wurde 101 , fanden ke<strong>in</strong>e Zustimmung.<br />

E<strong>in</strong>e Analyse <strong>der</strong> Regierungsprotokolle macht deutlich, dass bis 1930 Häftl<strong>in</strong>ge nicht als<br />

billige Arbeitskräfte galten, son<strong>der</strong>n man bestenfalls davon ausg<strong>in</strong>g, mit ihrer Arbeitskraft die<br />

Staatsausgaben für den Unterhalt <strong>der</strong> Vollzugsanstalten decken zu können. Tatsächlich wurde<br />

im 1928 beschlossenen ersten Fünfjahresplan die durch Häftl<strong>in</strong>ge hergestellte Produktion<br />

nicht e<strong>in</strong>mal erwähnt. Anlässlich des 10. Jahrestages <strong>der</strong> Oktoberrevolution wurde im Herbst<br />

1927 e<strong>in</strong>e umfassende Amnestie verkündet, <strong>der</strong>en Grundidee <strong>in</strong> <strong>der</strong> drastischen Reduzierung<br />

<strong>der</strong> Inhaftiertenzahlen bestand. Von Mitte November 1927 bis Ende Februar 1928 wurden im<br />

Rahmen <strong>der</strong> Amnestie alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> RSFSR ca. 51.000 Häftl<strong>in</strong>ge 102 entlassen – also fast die<br />

Hälfte aller für Juli 1927 erfassten Häftl<strong>in</strong>ge. E<strong>in</strong>e Regierungsanweisung vom März 1928<br />

verlangte von den Volksgerichten faktisch, Kle<strong>in</strong>krim<strong>in</strong>elle zu Zwangsarbeit ohne<br />

Inhaftierung zu verurteilen. Gleichzeitig wurde <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftanstalten e<strong>in</strong>e<br />

Verschärfung <strong>der</strong> Lagerordnung <strong>in</strong> den Vollzugsanstalten vorgeschrieben 103 . Somit stieg <strong>der</strong><br />

Anteil <strong>der</strong> zu Zwangsarbeit Verurteilten an den Gesamtverurteilungen durch die<br />

Volksgerichte (d.h. ohne E<strong>in</strong>beziehung <strong>der</strong> "Verurteilten" durch die OGPU-Organe) von 15,3<br />

% <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Jahreshälfte 1928 auf 57,7 % <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Jahreshälfte 1929 und betrug im<br />

ersten Halbjahr 1930 über 50% 104 . Der Druck auf die Richter war so stark, dass 1930 <strong>der</strong><br />

Anteil <strong>der</strong> Verurteilten zu Zwangsarbeit ohne Inhaftierung aufgeschlüsselt nach Delikten bei<br />

den Verurteilungen wegen Mordes 20%, wegen Sexualverbrechen 31%, wegen Raubes 46,2%<br />

und wegen Diebstahls 69,7% betrug 105 .<br />

Diese Maßnahmen zeigten ke<strong>in</strong>en nachhaltigen Effekt. Bereits gegen Ende <strong>der</strong><br />

Amnestiephase (zum 1. November 1928), als die Zahl <strong>der</strong> vorzeitig Entlassenen 58.654<br />

betrug 106 , zählte die Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) des NKWD <strong>der</strong> RSFSR<br />

111.962 Häftl<strong>in</strong>ge, also sogar etwas mehr als im Sommer 1927. Bis Januar 1929 erhöhte sich<br />

die Zahl <strong>der</strong> Gefangenen auf 118.179 Personen und betrug im Januar 1930 an die 179.000<br />

Personen 107 . Noch schneller stiegen die Insassenzahlen <strong>in</strong> den Haftanstalten <strong>der</strong> OGPU. Alle<strong>in</strong><br />

die Verwaltung <strong>der</strong> Solowezki-Lager beson<strong>der</strong>er Verwendung (USLON) hatte im<br />

Geschäftsjahr 1928/29 e<strong>in</strong>e durchschnittliche Insassenzahl von 21.900 Personen und wies<br />

zum 1. Juli 1930 63.000 Gefangene auf 108 .<br />

100 E.G.Širv<strong>in</strong>dt, B.S.Utevskij: Sovetskoe ispravitel'no-trudovoe pravo [Sowjetisches Besserungsarbeitsrecht]. 2.<br />

Auflage. Moskau 1931. S. 91.<br />

101 GARF. f. 4042. op. 3. d. 494. l. 10, 24.<br />

102 Ebenda. op. 1. d. 73. l. 63–91.<br />

103 O karatel'noj politike i sostojanii mest zaključenija: Postanovlenie WZIK i SNK RSFSR po dokladam NKJU i<br />

NKWD ot 26.03.28 [Zur Strafpolitik und zum Zustand <strong>der</strong> Haftanstalten: Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees<br />

<strong>der</strong> Sowjetunion und des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> RSFSR zu den Vorgängen des NKJu und des NKWD vom<br />

26.03.1928]. In: Eženedel'nik sovetskoj justizii [Wochenblatt <strong>der</strong> Sowjetischen Justiz]. 1928. Nr. 14. Die Leitung<br />

<strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) befand e<strong>in</strong>e erhebliche Verschärfung des Regimes nicht für<br />

notwendig, was den Unwillen <strong>der</strong> Regierung hervorrief (Prenija po dokladu Traskoviča [Diskussion zum Vortrag<br />

Traskowitschs] Ebenda. 1929, 9/10. S. 228).<br />

104 Reč' t. Jansona na 3-m soveščanii sudebno-prokurorskich rabotnikov [Rede des Gen. Janson auf <strong>der</strong> 3.<br />

Tagung <strong>der</strong> Mitarbeiter des Gerichts und <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft]. In: Sovetskaja justicija [Sowjetische Justiz].<br />

1930, Nr. 24/25. S. 1–2.<br />

105 Ispravitel'no-trudovaja politika rekonstruktivnogo perioda [Die Besserungsarbeitspolitik zur Zeit des<br />

Wie<strong>der</strong>aufbaus]. Ebenda. 1931, Nr. 25. S. 25.<br />

106 GARF. f. 4042. op. 1. d. 73. l. 63–91.<br />

107 Ebenda. f. 9414. op. 1. d. 2877. l. 177, 178. Zudem verbüßten im Januar 1930 etwa 300.000 Personen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

RSFSR e<strong>in</strong>e Strafe <strong>in</strong> Form von Zwangsarbeit ohne Inhaftierung. (Ispravitel'no-trudovaja politika<br />

rekonstruktivnogo perioda. In: Sovetskaja justicija. 1931, 25. S. 25)<br />

108 GARF. f. 9414. op. 1. d. 2919. l. 2, 42.<br />

14


Nachdem sich die Regierung davon überzeugt hatte, dass sie auf diese Weise die Ausgaben<br />

für den Unterhalt <strong>der</strong> Haftanstalten kurzfristig nicht würde senken können, betonte sie im<br />

Sommer 1929 erneut, dass die Produktivität <strong>der</strong> Gefangenenarbeit erhöht werden müsse. Zu<br />

diesem Zeitpunkt hatte die OGPU bereits viele Erfahrungen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Organisation von<br />

Gefangenenarbeit <strong>in</strong> entfernten Regionen und verschiedenen Wirtschaftsbereichen, u.a. bei<br />

<strong>der</strong> Holzgew<strong>in</strong>nung gesammelt (siehe auch "SOLOWEZKI-ITL DER OGPU"). Damals war<br />

Holz e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigsten Exportartikel <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>. Und während früher <strong>der</strong> Unterhalt <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>ge den Staatshaushalt belastet hatte, so konnten nun aus <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> im<br />

Holze<strong>in</strong>schlag e<strong>in</strong>gesetzten Häftl<strong>in</strong>ge (beson<strong>der</strong>s <strong>in</strong> jenen Regionen, <strong>in</strong> denen nur e<strong>in</strong> äußerst<br />

begrenztes Kont<strong>in</strong>gent an freien Arbeitern zur Verfügung stand) Devisen gewonnen werden,<br />

welche für die Erfüllung des Fünfjahresplanes dr<strong>in</strong>gend benötigt wurden 109 . Mit den<br />

Vorbereitungen zur Uchta-Expedition für die Erschließung von Erdölvorkommen <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

ASSR <strong>der</strong> Komi 110 unternahm die OGPU im Frühjahr 1929 e<strong>in</strong>en wichtigen Schritt, um die<br />

E<strong>in</strong>beziehung von Häftl<strong>in</strong>gsarbeit im Fünfjahresplan zu verankern.<br />

Im Juli 1929 gab die Regierung e<strong>in</strong>e Verordnung heraus, die <strong>der</strong> OGPU den vermehrten<br />

E<strong>in</strong>satz von Häftl<strong>in</strong>gen bei <strong>der</strong> Holzgew<strong>in</strong>nung <strong>in</strong> entlegenen Regionen vorschrieb 111 .<br />

Gleichzeitig verabschiedete <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Volkskommissare am 11. Juli 1929 e<strong>in</strong>en Erlass, <strong>der</strong><br />

die Entwicklung des <strong>System</strong>s <strong>der</strong> Haftanstalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> für viele Jahrzehnte bestimmte.<br />

"Zum Zweck <strong>der</strong> Besiedlung" entlegener Regionen "und <strong>der</strong> Ausbeutung ihrer natürlichen<br />

Ressourcen" wurde die Schaffung e<strong>in</strong>es Netzes von <strong>Besserungsarbeitslager</strong>n (ITL) <strong>der</strong> OGPU<br />

befohlen 112 . Diesem Erlass gemäß mussten alle Verurteilten mit Freiheitsstrafen von drei<br />

Jahren und mehr <strong>in</strong> diese Lager verbracht werden. In den Haftanstalten unter <strong>der</strong> Leitung des<br />

NKWD befanden sich nur noch Gefangene mit Freiheitsstrafen von unter drei Jahren. Diese<br />

Regelung war für die OGPU von beträchtlichem Vorteil, da die Langzeithäftl<strong>in</strong>ge – <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Hoffnung auf Haftverkürzung aufgrund guter Arbeitsleistungen – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel härter<br />

arbeiteten; zudem hatten sie Zeit, neue berufliche Fertigkeiten zu erwerben.<br />

Die Hauptverwaltungen für Haftanstalten trugen ebenfalls zur Erfüllung des Fünfjahresplans<br />

bei. Ende Oktober 1929 machte die Allunionskonferenz <strong>der</strong> aus allen Republiken<br />

versammelten GUMS-Mitarbeiter den Vorschlag, Gefangene für bestimmte Arbeiten und <strong>in</strong><br />

bestimmten Regionen zu verwenden, die von freien Arbeitern wegen <strong>der</strong> Art des<br />

Arbeitse<strong>in</strong>satzes und <strong>der</strong> Entfernung des Arbeitsplatzes gemieden wurden. Die Resolution<br />

unterstrich die beson<strong>der</strong>e Bedeutung <strong>der</strong> Arbeiten bei <strong>der</strong> Holzgew<strong>in</strong>nung. Jewsei Schirw<strong>in</strong>dt<br />

erklärte, dass durch die Umsetzung <strong>der</strong> Vorhaben dieses Fünfjahresplanes die Umerziehung<br />

<strong>der</strong> Gefangenen stärker als vorher geför<strong>der</strong>t würde, da die Gefangenen nicht zu Gegnern <strong>der</strong><br />

freien Arbeiter, son<strong>der</strong>n Teil des landesweiten Arbeitskollektivs würden 113 . Jedoch war das<br />

Schicksal <strong>der</strong> Hauptverwaltungen für Haftanstalten (GUMS) <strong>in</strong> den Republiken faktisch<br />

schon besiegelt.<br />

109 D. Dall<strong>in</strong>, B. Nicolaevsky: a.a.O. S. 217–230.<br />

110 A. N. Kaneva: Uchtpečlag, 1929-1938 gg. In: Istoričeskij al'manach [Historischer Almanach]. Teil 1. Zven'ja:<br />

Moskau 1991. S. 331–354.<br />

111 Adm<strong>in</strong>istrativnyj vestnik [Verwaltungsmitteilungen]. 1929, Nr. 9. S. 56–57.<br />

112 GARF. f. 5446. op. 1. d. 48. l. 210–212. Per Beschluss des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates <strong>der</strong><br />

Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 16.11.1929 wurden <strong>der</strong> Begriff "<strong>Besserungsarbeitslager</strong>" und die Festsetzung<br />

des Strafmaßes <strong>in</strong> Form e<strong>in</strong>er "Freiheitsstrafe <strong>in</strong> <strong>Besserungsarbeitslager</strong>n" <strong>in</strong> die "Grundzüge <strong>der</strong><br />

Strafgesetzgebung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> und <strong>der</strong> Unionsrepubliken" aufgenommen (Sobranie uzakonenij SSSR<br />

[Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1929. Nr. 72). Für E<strong>in</strong>zelheiten zur Entwicklung des Lagersystems <strong>der</strong> OGPU<br />

siehe Beitrag "Haftanstalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>. 1929–1960".<br />

113 E. Širv<strong>in</strong>dt: K dvenadcatiletiju sovetskoj ispravitel'no-trudovoj politiki [Anlässlich des 12. Jahrestags <strong>der</strong><br />

sowjetischen Besserungsarbeitspolitik]. In: Eženedel'nik sovetskoj justicii [Wochenblatt <strong>der</strong> Sowjetischen Justiz].<br />

1929, Nr. 4. S. 1087–1089.<br />

15


Bereits 1928 machte sich die Führung des Volkskommissariats für Justiz die Unzufriedenheit<br />

<strong>der</strong> Regierung mit <strong>der</strong> GUMS zu Nutze und schlug vor, die Haftanstalten vom NKWD an das<br />

NKJu zu übergeben 114 . Als e<strong>in</strong>e Art Testlauf gestattete die Regierung e<strong>in</strong>e <strong>der</strong>artige<br />

Umstrukturierung <strong>in</strong> Turkmenistan. Aber die NKJu-E<strong>in</strong>richtungen <strong>in</strong> Turkmenistan waren bei<br />

<strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong> Haftanstalten auf die Hilfe <strong>der</strong> lokalen NKWD-Organe angewiesen, sodass<br />

sie nach e<strong>in</strong>igen Wochen wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Leitung des turkmenischen Volkskommissariats für<br />

Innere Angelegenheiten unterstellt wurden 115 . Doch das Volkskommissariat für Justiz setzte<br />

se<strong>in</strong>e Kampagne gegen das NKWD fort. Insbeson<strong>der</strong>e unterstellte die Führung des NKJu <strong>der</strong><br />

Leitung <strong>der</strong> GUMS des NKWD <strong>der</strong> RSFSR e<strong>in</strong>e "Rechtsabweichung" (Unterstützung<br />

Buchar<strong>in</strong>s) 116 . Daher wurden auf geme<strong>in</strong>samen Erlass des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare und<br />

des Zentralen Exekutivkomitees vom 15. Dezember 1930 die Volkskommissariate für Innere<br />

Angelegenheiten <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Sowjetrepubliken aufgelöst und gleichzeitig sämtliche von<br />

den GUMS geleiteten Haftanstalten nunmehr den Volkskommissariaten für Justiz <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>zelnen Republiken unterstellt 117 . In <strong>der</strong> Transkaukasischen SFSR, wo es ke<strong>in</strong> fö<strong>der</strong>ales<br />

Volkskommissariat für Justiz gab, waren die Verwaltungen für Haftanstalten <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen<br />

Republiken an<strong>der</strong>en Behörden angeschlossen: In <strong>der</strong> Georgischen SSR unterstand die<br />

Hauptverwaltung <strong>der</strong> Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> GPU, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Aserbaidschanischen<br />

SSR dem Obersten Gericht (und die lokalen Organe den Volksgerichten), und <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Armenischen SSR wurde e<strong>in</strong>e Besserungsarbeitsabteilung des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare<br />

gebildet 118 .<br />

Quellen:<br />

• Dekrety Sovetskoj vlasti. Bd. 5. Moskau 1971, Nr. 38 S. 69.<br />

• Ebenda, Nr. 97, S. 174.<br />

• Eženedel'nik sovetskoj justicii, 1922, Nr. 37/38, S. III, Anhang.<br />

• B. S. Utevskij: Sovetskaja ispravitel'no-trudovaja politika. Moskau 1934 S. 69.<br />

• GARF. f. А-353, op. 1. d. 92. l. 16, 17, 44, 86, 87; op. 5, d. 1. l. 35, 37; f. 4042, op. 2. d. 1.<br />

l. 233, 235; d. 9а. l. 270; d. 9b. l. 125, 146, 147; op. 8. d. 1. l. 21, 22, 106, 122, 137; d. 4. l.<br />

8; d. 5. l. 45, 64–66, 79, 80; d. 9. l. 70, 89, 200; d. 12. l. 37; d. 31. l. 96; d. 43. l. 2, 3.<br />

114 N. Lagovier: Nabolevšie voprosy ugolovno-sudebnoj i ispravitel'no-trudovoj praktiki [Dr<strong>in</strong>gende Fragen zur<br />

Strafgerichtsbarkeit und dem Besserungsarbeitsvollzug]. Ebenda. 1928, 40/41. S. 1078. Die Unzufriedenheit<br />

ergab sich aus den Me<strong>in</strong>ungsverschiedenheiten zwischen <strong>der</strong> Regierung und <strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> Hauptverwaltung<br />

für Haftanstalten (GUMS), die mit e<strong>in</strong>er Verschärfung <strong>der</strong> Haftbed<strong>in</strong>gungen nicht e<strong>in</strong>verstanden war.<br />

115 Prenija po dokladu Traskoviča [Diskussion zum Vortrag Traskowitschs]. In: Eženedel'nik sovetskoj justicii<br />

[Wochenblatt <strong>der</strong> Sowjetischen Justiz]. 1929, Nr. 9/10. S. 228.<br />

116 Programma pravogo opportunizma v ugolovnoj politike: K proektu UK t. Širv<strong>in</strong>dta [<strong>Das</strong> Programm des<br />

Rechtsopportunismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> Politik des Strafrechts: Zum Projekt des Strafrechts des Gen. Schirw<strong>in</strong>dt]. In:<br />

Sovetskoe gosudarstvo i revoljucija prava [Sowjetischer Staat und Revolution des Rechts]. 1930, Nr. 11/12. S.<br />

106–109; A. P., N. L. Pravyj uklon v karatel'noj politike [Rechtsabweichung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Strafpolitik]. In Eženedel'nik<br />

sovetskoj justicii [Wochenblatt <strong>der</strong> Sowjetischen Justiz]. 1930, Nr. 3. S. 14–17.<br />

117 GARF. f. 393. op. 84. d. 115. l. 505; Sobranie uzakonenij SSSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1930, Nr.<br />

60. S. 640. Schirw<strong>in</strong>dt wurde entlassen und an e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Stelle versetzt. 1936 wurde er verhaftet und erst 1955<br />

aus <strong>der</strong> Haft entlassen. (siehe: Evsej Gustavovič Širv<strong>in</strong>dt. In: Sovetskoje gosudarstvo i pravo [Sowjetischer Staat<br />

und Revolution des Rechts]. 1958. Nr. 12. S. 130).<br />

118 D. Blauberg: a.a.O. S. 409–414.<br />

16


Tabelle 1<br />

Zentrale<strong>in</strong>richtungen des Volkskommissariats für Justiz (NKJu) und des<br />

Volkskommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) <strong>der</strong> RSFSR für die<br />

Verwaltung <strong>der</strong> Haftanstalten 1917–1930<br />

Vollständige Bezeichnung Abkürzung Leiter<br />

(Berufungsdatum)<br />

Volkskommissariat für Justiz (NKJu)<br />

Hauptverwaltung für Haftanstalten GUMS W. Spunde 1<br />

(10.1917–05.1918)<br />

Zentrale Strafabteilung<br />

(05.1918–10.1921)<br />

Zentrale Besserungsarbeitsabteilung<br />

(10.1921–12.10.22)<br />

ZKO<br />

ZITO<br />

Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten (NKWD)<br />

Zentralverwaltung für Zwangsarbeitslager 3 ZULPR<br />

(15.04.1919–17.05.1919)<br />

Abteilung für Zwangsarbeit OPR<br />

(17.05.1919–18.05.1920)<br />

Hauptverwaltung für Zwangsarbeit<br />

(18.05.1920–09.1920)<br />

Hauptverwaltung für gesellschaftliche<br />

Arbeiten und Verpflichtungen<br />

(09.1920–02.1921 4 )<br />

Hauptverwaltung für Zwangsarbeit<br />

(02.1921 5 –12.10.1922)<br />

Hauptverwaltung für Haftanstalten<br />

(12.10.22–15.12.30)<br />

Politische Hauptverwaltung<br />

(09.02.22–06.07.23)<br />

Anmerkungen zur Tabelle:<br />

GUPR<br />

GUOPR<br />

GUPR<br />

GUMS<br />

GPU<br />

(10.1917 (?))<br />

L. A. Sawrassow<br />

(18.05.1918)<br />

L. A. Sawrassow<br />

(10.1921)<br />

J. G. Schirw<strong>in</strong>dt<br />

(13.06.1922 2 )<br />

M. S. Kedrow<br />

(15.04.1919)<br />

M. S. Kedrow<br />

(17.05.1919)<br />

B. W. Popow (<strong>in</strong>terimistisch)<br />

(06.1919)<br />

W. F. Medwed<br />

(09.1919)<br />

S. G. Sangwil<br />

(10.02.1920)<br />

S. G. Sangwil<br />

(18.05.1920)<br />

S. G. Sangwil<br />

(09.1920)<br />

W. F. Uschazki<br />

(10.02.1921)<br />

S. O. Rodnjanski<br />

(13.01.1922)<br />

J. G. Schirw<strong>in</strong>dt<br />

(12.10.1922)<br />

F. E. Dsersch<strong>in</strong>ski<br />

(09.02.1922)<br />

1 Ernennungsdatum unbekannt. Die früheste Erwähnung von W. Spunde als Leiter <strong>der</strong> Hauptverwaltung für<br />

Haftanstalten (GUMS) erfolgte am 28.02.1918 (GARF. f. А-353. op. 1. d. 92. l. 87); se<strong>in</strong> Vorgänger A.<br />

Schilischenko, <strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Provisorischen Regierung Leiter <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftanstalten war, wurde<br />

letztmalig am 09.10.1917 erwähnt (ebenda. l. 86); nach Utevski wurde Schilischenko jedoch gleich nach <strong>der</strong><br />

Oktoberrevolution se<strong>in</strong>es Amtes enthoben.<br />

2 Es wurden das Entlassungsdatum Sawrassows als Leiter <strong>der</strong> Zentralen Besserungsarbeitsabteilung (ZITO) und<br />

das Ernennungsdatum Schirw<strong>in</strong>dts als Kommissarischer Leiter angeführt. (GARF. f. 4042. op. 2. d. 9a. l. 270).<br />

Zum Leiter <strong>der</strong> Besserungsarbeitsabteilung wurde Schirw<strong>in</strong>dt am 22.06.1922 ernannt (ebenda. op. 8. d. 4. l. 8).<br />

3 In den Unterlagen des NKWD wird häufig e<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>e Bezeichnung gebraucht: Hauptverwaltung für<br />

Zwangsarbeit (GUPR).<br />

4 Ke<strong>in</strong>e Angaben über den Leiter zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Umbenennung.<br />

5 Ke<strong>in</strong>e Angaben über den Leiter zum Zeitpunkt <strong>der</strong> Umbenennung.<br />

17


M. B. Smirnow, S. P. Sigatschow, D. W Schkapow<br />

DAS SYSTEM DER HAFTANSTALTEN DER UDSSR 1929-1960<br />

Die Auffassung <strong>der</strong> Sowjetregierung vom Strafvollzug war <strong>in</strong> den 20er Jahren ausgesprochen<br />

konservativ: Professionelle Strafverbrecher sollten isoliert und die restlichen Gesetzesbrecher<br />

erzogen werden, politische Opponenten erlebten den Strafvollzug als e<strong>in</strong>e dem<br />

Repressionsapparat untergeordnete Institution. E<strong>in</strong>e Neuerung war die Vorstellung, auf <strong>der</strong><br />

Grundlage von Arbeit, genauer gesagt, e<strong>in</strong>er Mischung aus Arbeitslehre und produktiver Arbeit,<br />

erzieherisch wirksam zu werden. Im Zusammenspiel aus ideologischen Vorgaben und<br />

chronischem Geldmangel des Staates ergab sich die zw<strong>in</strong>gende Hauptaufgabe beim Aufbau <strong>der</strong><br />

Vollzugsanstalten: sie mussten rentabel se<strong>in</strong>.<br />

Es gilt zu berücksichtigen, dass das Vollzugssystem des Jahres 1929 unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong><br />

Neuen Ökonomischen Politik (NEP) entstanden war, also <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit, als<br />

Massenarbeitslosigkeit herrschte und <strong>in</strong>dustrielle Großprojekte fehlten, da privates Großkapital<br />

vernichtet worden war, <strong>der</strong> Staat ke<strong>in</strong> Geld für eigene Großprojekte hatte und Produzenten nicht<br />

eigenständig über den Vertrieb ihrer Produkte und die <strong>in</strong>dustrielle Versorgung entscheiden<br />

konnten. Ökonomische Gründe liefern somit die Erklärung dafür, dass das Vollzugssystem<br />

se<strong>in</strong>en Ursprung <strong>in</strong> relativ kle<strong>in</strong>en Arbeitskolonien, Besserungsarbeitshäusern und an<strong>der</strong>en<br />

Haftanstalten nahm, <strong>der</strong>en Belegung <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel 100 – 600/700, maximal 2.000 Personen betrug<br />

und die für unterschiedliche Häftl<strong>in</strong>gsgruppen ("Kategorien") vorgesehen waren 1 . Dieselben<br />

Gründe erklären auch die begrenzten Funktionen <strong>der</strong> zentralen Leitung. Die meisten<br />

Haftanstalten wurden von den Exekutivkomitees <strong>in</strong> den Gouvernements, Gebieten und Kreisen<br />

f<strong>in</strong>anziert. Außerdem fehlte e<strong>in</strong> zentrales <strong>System</strong> zur Produktionsversorgung und für den Absatz<br />

jener Produkte, die <strong>in</strong> den Haftanstalten hergestellt wurden. <strong>Das</strong> e<strong>in</strong>zige große Vollzugssystem<br />

unter völliger Zentralverwaltung, die sich u.a. auch auf die Produktionstätigkeit erstreckte, stand<br />

unter Leitung <strong>der</strong> OGPU: Die Verwaltung <strong>der</strong> Lager auf den Solowezki-Inseln, die im<br />

Geschäftsjahr 1928/29 e<strong>in</strong>e durchschnittliche Belegung von 21.900 Häftl<strong>in</strong>gen aufwies 2 .<br />

Die Verabschiedung <strong>der</strong> "beschleunigten Variante" des ersten Fünfjahrplanes Mitte 1929 sowie<br />

die radikale Kollektivierung <strong>in</strong> den Jahren 1930-1932 verän<strong>der</strong>ten die Situation im Lande<br />

grundlegend. Bereits 1929 g<strong>in</strong>g die Arbeitslosigkeit stark zurück und war 1930 komplett<br />

ausgemerzt. Um die Pläne <strong>der</strong> KPdSU <strong>in</strong> den 30er Jahren umzusetzen, mussten alle bedeutenden<br />

Ressourcen (so auch die Arbeitskräfte) auf den Baustellen <strong>der</strong> großen Industrie- und<br />

Transportprojekte konzentriert werden. Die Verstaatlichung faktisch <strong>der</strong> gesamten Produktion<br />

gebar automatisch zentralisierte Verteilungssysteme für Ressourcen (sowohl Rohstoffe als auch<br />

Arbeitskräfte), Produktionsaufträge und den Absatz von Fertigerzeugnissen.<br />

Vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er Wirtschaft im ständigen Wandel vollzog sich von 1929 bis 1941 e<strong>in</strong>e<br />

Reihe von Reformen im Strafvollzug.<br />

Als am 11. Juli 1929 <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Volkskommissare den Beschluss "Über die Verwendung <strong>der</strong><br />

Arbeitskraft krim<strong>in</strong>eller Strafgefangener" 3 annahm, wurde damit <strong>der</strong> Grundste<strong>in</strong> für die erste<br />

1 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1924. 86. S. 870; GARF. F. 4042. Op. 1. D. 73. L.<br />

75–91.<br />

2 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2919. L. 2<br />

3 Ebenda. F. 5446. Op. 1. D. 48. L.210–212. Wichtigste Unterlagen zum Beschluss über die Reform des<br />

Vollzugsystems 1929 aus den Geschäftsunterlagen des ZK <strong>der</strong> KPdSU(B), herausgegeben von S. А. Krasil'nikov<br />

18


Reform gelegt, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit die globale Richtung für die gesamte Entwicklung des<br />

<strong>System</strong>s bestimmte. <strong>Das</strong> Dokument sah die E<strong>in</strong>richtung zweier Parallelsysteme für den<br />

Strafvollzug vor: e<strong>in</strong>erseits unter <strong>der</strong> Leitung <strong>der</strong> OGPU <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> und an<strong>der</strong>erseits unter <strong>der</strong><br />

Leitung des NKWD <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Sowjetrepubliken.<br />

Die Grundlage für das erste <strong>System</strong> bildeten große <strong>Besserungsarbeitslager</strong>, die <strong>in</strong> entlegenen und<br />

dünn besiedelten Regionen e<strong>in</strong>zurichten waren, wobei bestehende Lager gleichzeitig ausgebaut<br />

werden sollten 4 . Diese Lager sollten als Zentren angelegt werden, von denen die Besiedlung <strong>der</strong><br />

umliegenden Region ausgehen sollte. Man beabsichtigte e<strong>in</strong>e gezielte Ansiedlung von<br />

Häftl<strong>in</strong>gen, und zwar jener, die ihre Haftstrafe verbüßt hatten o<strong>der</strong> jener, die wegen "guter<br />

Führung o<strong>der</strong> ausgezeichneter Arbeitsleistung" mit vorzeitiger Entlassung belohnt und "mit <strong>der</strong><br />

notwendigen Unterstützung" <strong>in</strong> "die freie Ansiedlung" überführt wurden 5 . Gleichzeitig wurde an<br />

die Lager die systematische "Gew<strong>in</strong>nung <strong>der</strong> natürlichen Rohstoffe mit Hilfe <strong>der</strong> Arbeitskraft von<br />

Gefangenen" als Produktionsaufgabe ausgegeben. Auf Befehl sollte je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> auch nur im<br />

Ger<strong>in</strong>gsten zu physischer Arbeit taugte und dessen Haftzeit ab drei Jahren aufwärts betrug, zu<br />

Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt werden.<br />

<strong>Das</strong> zweite <strong>System</strong> entstand im Rahmen <strong>der</strong> bereits existierenden Hauptverwaltungen für<br />

Haftanstalten (GUMS) des NKWD <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Sowjetrepubliken. Die Hauptverwaltungen<br />

für Haftanstalten erhielten die Aufgabe, "ihr Anstaltsnetz zu überarbeiten, um gemäß den<br />

folgenden Bestimmungen e<strong>in</strong>e territorial ausgewogene Aufteilung vorzunehmen: a)<br />

Vollzugsanstalten für Personen mit e<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe unter drei Jahren; b) Vollzugsanstalten<br />

für Untersuchungsgefangene und c) Transitlager". Die bestehenden Haftanstalten mussten auf e<strong>in</strong><br />

M<strong>in</strong>imum reduziert werden und "für die verbleibenden Haftanstalten lediglich die Funktionen als<br />

Isolatoren für Personen <strong>in</strong> Untersuchungshaft sowie als Transitlager erhalten bleiben". Für<br />

Inhaftierte mit e<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe von e<strong>in</strong>em bis drei Jahren sollten spezielle landwirtschaftliche<br />

und Industriekolonien e<strong>in</strong>gerichtet werden. Es sei darauf h<strong>in</strong>gewiesen, dass mit diesem Beschluss<br />

faktisch e<strong>in</strong>e neue Begrenzung <strong>der</strong> M<strong>in</strong>destfreiheitsstrafe (e<strong>in</strong> Jahr) e<strong>in</strong>geführt wurde 6 .<br />

(siehe Roždenie GULAGa: Diskussii v verhnich ėšelonach vlasti [Die Geburt des GULAG: Diskussionen <strong>in</strong> den<br />

obersten Machtsphären] In: Istoričeskij archiv [Historisches Archiv]. 1997. Nr. 4. S. 142–156).<br />

4 Als <strong>der</strong> Erlass unterschrieben wurde, verfügte die OGPU über zwei <strong>Besserungsarbeitslager</strong> (ITL): <strong>Das</strong><br />

SOLOWEZKI-ITL und das WISCHERA-ITL, <strong>in</strong> dem weitaus weniger Personen <strong>in</strong>haftiert waren als im<br />

erstgenannten (siehe entsprechende Lagere<strong>in</strong>träge).<br />

5 Mehr über die Besiedlung von Regionen mit Hilfe von Lagern siehe "Vremennoe Položenie o kolonizacionnych<br />

posëlkach ITL OGPU" [Provisorische Verordnung über die Siedlungskolonien <strong>der</strong> ITL <strong>der</strong> OGPU], veröffentlicht<br />

am 14. September 1932 per Befehl 890s <strong>der</strong> OGPU.<br />

6 Früher waren die meisten Häftl<strong>in</strong>ge im Vollzug <strong>der</strong> GUMS Verurteilte zu kurzen Haftstrafen (unter e<strong>in</strong>em Jahr).<br />

Die Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees <strong>der</strong> Sowjetunion und des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare vom<br />

26.03.28 (O karatel'noj politike i sostojanii mest zaključenija: Postanovlenie WZIK i SNK RSFSR po dokladam<br />

NKJU i NKVD ot 26.03.28 [Zur Strafpolitik und zum Zustand <strong>der</strong> Haftanstalten: Verordnung des Zentralen<br />

Exekutivkomitees <strong>der</strong> Sowjetunion und des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> RSFSR zu den Vorgängen des NKJu<br />

und des NKWD vom 26.03.1928]. In: Eženedel'nik sovetskoj justicii [Wochenblatt <strong>der</strong> Sowjetischen Justiz]. 1928.<br />

Nr. 14.) schrieb vor, dass die Strafverbüßung dieser Personen <strong>in</strong> Zwangsarbeit ohne Haft bestehen sollte. Der letzte<br />

Regierungserlass, <strong>der</strong> die Begrenzung <strong>der</strong> m<strong>in</strong>imalen Haftstrafe auf e<strong>in</strong> Jahr behandelte, war die Verordnung des<br />

Zentralen Exekutivkomitees <strong>der</strong> Sowjetunion und des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare vom 20.05.30 über Än<strong>der</strong>ungen<br />

des Artikels 28 des StGB <strong>der</strong> RSFSR (Mehr dazu, siehe A. Ėstr<strong>in</strong>, V. Trachterev: Razvitie sovetskoj ispravitel'notrodovoj<br />

politiki kak časti sovetskoj ugolovnoj politiki [Entwicklung <strong>der</strong> sowjetischen Besserungsarbeitspolitik als<br />

Teil <strong>der</strong> sowjetischen Strafpolitik]. In: Ot tjurem k vospitatel'nym učreždenijam [Von Gefängnissen zu<br />

Erziehungsanstalten]. A. Ja. Vyš<strong>in</strong>skij (Hrsg.). Moskau, 1934. S. 59).<br />

19


Die Umsetzung dieses Beschlusses zeigte schnell ökonomische Auswirkungen, da die<br />

Unterhaltskosten für die Häftl<strong>in</strong>ge sanken. E<strong>in</strong>erseits musste man ke<strong>in</strong>e alten Vollzugsanstalten<br />

sanieren o<strong>der</strong> neue, solide Vollzugsanstalten bauen, an<strong>der</strong>erseits waren Lagerbauten und<br />

–unterkünfte, die mit weitaus ger<strong>in</strong>geren Auflagen bereits den Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> Kolonien<br />

entsprachen, wesentlich kostengünstiger. Des Weiteren führte die E<strong>in</strong>teilung <strong>der</strong> Gefangenen <strong>in</strong><br />

beson<strong>der</strong>s gefährliche und weniger gefährliche zu E<strong>in</strong>sparungen im Wachpersonal, da erstere <strong>in</strong><br />

unbewohnte Gebiete ausgewiesen wurden und somit die Fluchtgefahr <strong>in</strong> den dünn besiedelten<br />

Regionen des Nordens und <strong>in</strong> Sibirien im Vergleich zu den Zentralregionen erheblich abnahm.<br />

Aber das Hauptziel des Beschlusses des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare vom 11. Juli 1929 war e<strong>in</strong><br />

an<strong>der</strong>es: Innerhalb des Zwangsarbeitssystems wurden zwei untergeordnete <strong>System</strong>e e<strong>in</strong>gerichtet.<br />

Beide sollten auf eigene, völlig autonome Ressourcen zurückgreifen. <strong>Das</strong> erste Lagersystem<br />

sollte die Arbeitskraft jener Gefangenen e<strong>in</strong>setzen, die vom Staat als gefährlich e<strong>in</strong>gestuft<br />

wurden. Diese Häftl<strong>in</strong>gskategorie wurde <strong>der</strong> Leitung e<strong>in</strong>er Organisation – <strong>der</strong> OGPU – unterstellt<br />

und räumlich vom Rest <strong>der</strong> Bevölkerung getrennt. In unbewohnten Gebieten sollte somit e<strong>in</strong><br />

enormes Arbeitskräftepotenzial zusammengezogen und zentralisierte Leitungsorgane aufgebaut<br />

werden um Großprojekte umzusetzen. Durch gezielte Ansiedlung hätte man jene Arbeitskräfte<br />

dort verankert und ihre künftige Reproduktion sichergestellt. Zur Hauptaufgabe <strong>der</strong> Lagerleitung<br />

wurde <strong>der</strong> wirtschaftlich s<strong>in</strong>nvolle E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gsarbeitskraft. Die Umerziehung <strong>der</strong><br />

Gefangenen wird <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em Dokument <strong>der</strong> Jahre 1929 bis 1930, e<strong>in</strong>schließlich des vom Rat <strong>der</strong><br />

Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> am 21. April 1930 verabschiedeten Beschlusses Nr. 11/337<br />

"Verordnung zu den <strong>Besserungsarbeitslager</strong>n" 7 , als Aufgabe <strong>der</strong> Lagerverwaltung erwähnt.<br />

<strong>Das</strong> zweite Lagersystem sollte die als wenig gefährlich e<strong>in</strong>gestuften Häftl<strong>in</strong>ge verwenden. Die<br />

relativ kurzen Freiheitsstrafen machten deshalb e<strong>in</strong>e Verlegung über große Entfernungen<br />

unrentabel. Es war zweckmäßig, die Arbeiten am Wohnort <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge zu ermöglichen.<br />

Deshalb konzentrierten sich die Haftanstalten für die aus Sicht <strong>der</strong> Sowjetmacht m<strong>in</strong><strong>der</strong><br />

gefährlichen Gesetzesbrecher hauptsächlich <strong>in</strong> dicht besiedelten Regionen. Für die Häftl<strong>in</strong>ge<br />

dieses Lagersystems blieb die Aufgabe <strong>der</strong> Umerziehung und Arbeitserziehung bestehen 8 . Dieses<br />

Vollzugssystem war weniger zentralistisch aufgebaut, und die Leitung lag <strong>in</strong> den Händen <strong>der</strong><br />

Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) beim NKWD <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Sowjetrepubliken.<br />

Es sei angemerkt, dass dieselben Hauptverwaltungen für Haftanstalten auch an <strong>der</strong> Spitze des<br />

dritten Lagersystems standen, <strong>in</strong> dem die Verurteilten Zwangsarbeit ohne Inhaftierung verrichten<br />

mussten 9 . Die Verantwortungsbereiche <strong>der</strong> beiden Vollzugssysteme unter Leitung <strong>der</strong><br />

Hauptverwaltungen überschnitten sich <strong>in</strong> vielem, was später auch die allgeme<strong>in</strong>e Entwicklung<br />

des Vollzugssystems <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> bee<strong>in</strong>flusste.<br />

7 GARF. F. 5446. Op. 1. D. 54. L.52–67.<br />

8 E. Širv<strong>in</strong>dt: K dvenadcatiletiju sovetskoj ispravitel'no-trudovoj politiki [Anlässlich des 12. Jahrestags <strong>der</strong><br />

sowjetischen Besserungsarbeitspolitik]. In: Eženedel'nik sovetskoj justicii [Wochenblatt <strong>der</strong> Sowjetischen Justiz].<br />

1929, Nr. 4. S. 1087–1089; P. I. Stučka, I. Apeter: Perechod ot pr<strong>in</strong>uditel'nogo truda po prigovoru suda k<br />

dobrovol'nomu trudu [Übergang von <strong>der</strong> gerichtlich angeordneten Zwangsarbeit zur freiwilligen Arbeit]. In:<br />

Sovetskoe gosudarstvo i revoljucija prava [Der Sowjetische Staat und die Revolution des Rechts]. 1931, Nr. 7. S.<br />

137–139. E<strong>in</strong>e ausführliche Darstellung <strong>der</strong> Aufgaben f<strong>in</strong>det sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rede Postyschews auf <strong>der</strong> 6. Versammlung<br />

<strong>der</strong> Justizmitarbeiter <strong>der</strong> RSFSR.<br />

9 Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 60. S. 462; A. Ėstr<strong>in</strong>, V. Trachterev: Razvitie<br />

sovetskoj ispravitel'no-trodovoj politiki kak časti sovetskoj ugolovnoj politiki [Entwicklung <strong>der</strong> sowjetischen<br />

Besserungsarbeitspolitik als Teil <strong>der</strong> sowjetischen Strafpolitik]. In: Ot tjurem k vospitatel'nym učreždenijam [Von<br />

Gefängnissen zu Erziehungsanstalten]. A. Ja. Vyš<strong>in</strong>skij (Hrsg.). Moskau, 1934. S. 51, 58–60.<br />

20


Trotz <strong>der</strong> Bedeutung, die <strong>der</strong> Beschluss vom 11. Juli 1929 hatte, waren e<strong>in</strong>zelne Punkte höchst<br />

allgeme<strong>in</strong> gehalten. So wird von jenen Regionen, <strong>in</strong> denen neue Lager errichtet werden sollen,<br />

lediglich e<strong>in</strong>e konkret benannt ("auf dem Territorium von Uchta") und die Häftl<strong>in</strong>gsarbeit <strong>in</strong><br />

knappe Worte gefasst: "um… die natürlichen Rohstoffe zu erschließen". Wahrsche<strong>in</strong>lich g<strong>in</strong>g<br />

man davon aus, dass konkrete Fragen zu Organisation und Produktion später geme<strong>in</strong>sam von den<br />

OGPU-Organen und <strong>der</strong> Regierung und den Behörden vor Ort abgestimmt und gelöst würden.<br />

Die Umsetzung des M<strong>in</strong>isterratsbeschlusses vom Juli 1929 begann schon vor se<strong>in</strong>er<br />

Unterzeichung. Unter Berufung auf diesen Beschluss richtete die OGPU am 28. Juni 1929 die<br />

Verwaltung <strong>der</strong> Nördlichen Lager zur beson<strong>der</strong>en Verwendung (USEWLON) e<strong>in</strong>. Zunächst hatte<br />

diese ihren Sitz <strong>in</strong> Ust-Syssolsk (heute Syktywkar) 10 , 1939 wurde sie nach Kotlas verlegt, wo die<br />

Zentrale zur Erschließung des Petschora-Beckens entstand 11 . Bereits zum 1. Oktober 1929 gab es<br />

im Lager 9.250 Häftl<strong>in</strong>ge, und am 1. Januar 1930 erreichte ihre Zahl 20.276 Personen 12 . Bis Ende<br />

1929 wurden das Zwangsarbeitslager FERNÖSTLICHES ITL mit Verwaltungssitz <strong>in</strong><br />

Chabarowsk und e<strong>in</strong>em Wirkungsbereich, <strong>der</strong> den gesamten Süden <strong>der</strong> Region Fernost (heute:<br />

das Gebiet Amur sowie die Regionen Chabarowsk und Primorje) umfasste, und das SIBIRISCHE<br />

ITL mit Verwaltungssitz <strong>in</strong> Nowossibirsk (Wirkungsbereich – südliches Westsibirien)<br />

e<strong>in</strong>gerichtet. Anfang 1930 kamen noch die Lager KASACHSTAN-ITL (Verwaltung <strong>in</strong> Alma-<br />

Ata) und ZENTRALASIATISCHES ITL (Taschkent) h<strong>in</strong>zu. Parallel dazu erreichte die<br />

Häftl<strong>in</strong>gszahl im Lager SOLOWEZKI-ITL zum 1. Januar 1930 53.123 Personen 13 , und am<br />

1. Juni desselben Jahres waren es bereits 63.000 14 .<br />

Insgesamt waren zum 1. Juli 1929 <strong>in</strong> den Lagern <strong>der</strong> OGPU 22.848 Personen <strong>in</strong>haftiert, zum 1.<br />

Januar 1930 stieg ihre Zahl auf 95.064 15 . Bis zum 1. Juni wuchs die Insassenzahl nochmals um<br />

10 Befehl 136/68 <strong>der</strong> OGPU vom 28.06.29. Dieser Befehl erschien e<strong>in</strong>en Tag nach Annahme <strong>der</strong> Verordnung des<br />

Politbüros des ZK <strong>der</strong> KPdSU(B) "Über den E<strong>in</strong>satz von Strafgefangenenarbeit"; <strong>der</strong> Inhalt des Anhangs 8 zu<br />

diesem Befehl ist mit dem Inhalt <strong>der</strong> Verordnung des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare vom 11.07.29 identisch (siehe<br />

Roždenie GULAGa: Diskussii v verhnich ėšelonach vlasti [Die Geburt des GULAG: Diskussionen <strong>in</strong> den obersten<br />

Machtsphären] Hrsg. S. А. Krasil'nikov In: Istoričeskij archiv [Historisches Archiv]. 1997. Nr. 4. S. 152–153).<br />

11 Befehl 387/181 <strong>der</strong> OGPU vom 14.11.30.<br />

12 Zentralarchiv des FSB. F. 2. Op. 8. D. 104. L. 27–28, 37–40, 54, 55.<br />

13 GARF. F. 9401. Op. 1a. D. 14. L. 225.<br />

14 Ebenda. F. 9414. Op. 1. D. 2919. L. 42.<br />

15 Zentralarchiv des FSB. F. 2. Op. 8. D. 104. L. 27–28. Folgt man den Publikationen A. N. Dug<strong>in</strong>s (siehe z.B.: A. N.<br />

Dug<strong>in</strong>: Neizvestnye dokumenty o repressijach 30–50-h godov (po fondam CGAOR) [Unbekannte Dokumente über<br />

die Repressionen <strong>der</strong> 30er-50er Jahre (aus den Beständen des Zentralen Staatsarchivs <strong>der</strong> Oktoberrevolution<br />

(ZGAOR)] In: Adm<strong>in</strong>istrativno-komandnaja sistema upravlenija: Problemy i fakty [Verwaltungs- und<br />

Kommandostruktur des Leitungssystems: Probleme und Fakten. Moskau 1992], S. 69–87), <strong>der</strong>en Schlussfolgerungen<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> Folgezeit auch von an<strong>der</strong>en Autoren übernommen werden (siehe z.B. S. Wheatcroft: The scale and nature of<br />

german and soviet repression and mass kill<strong>in</strong>gs, 1930–1945. In: Europe-Asia Studies. 1996. Vol. 48. 8. P. 1319–<br />

1353), so waren zum 01.01.30 <strong>in</strong> den Lagern <strong>der</strong> OGPU 179.000 Personen <strong>in</strong>haftiert. Gemäß den Unterlagen des<br />

GARF (F. 9414. Op. 1. D. 2877. L.177, 178) trifft die Zahl von 179.000 Gefangenen im Januar 1930 auf die<br />

Vollzugsanstalten <strong>der</strong> GUMS des NKWD <strong>der</strong> RSFSR zu. Lei<strong>der</strong> fehlen <strong>in</strong> den Artikeln von A. N. Dug<strong>in</strong> genaue<br />

Quellenangaben. Unsere Angaben haben wir <strong>in</strong> zwei Quellen gefunden: GARF (früher: ZGAOR [ЦГАОР]). F. 9414.<br />

Op. 1. D. 1155. L. 1 und D. 1180. L. 1. Die erste Quelle wird auch von W. N. Semskow zitiert. (V. N. Zemskov:<br />

"Zaključënnye v 1930-e gody: social'no-demografičeskie problemy" In: Otečestvennaja istorija [Vaterländische<br />

Geschichte]. 1997. Nr. 4. S. 54–79). Beide Dokumente s<strong>in</strong>d faktisch Sekundärquellen, da es sich um Berichte<br />

handelt, die Ende <strong>der</strong> 1940er Jahre von <strong>der</strong> Erfassungs- und Verteilungsabteilung (URO) <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong><br />

Lager (GULAG) erstellt wurden. Es hat sich herausgestellt, dass sie fehlerhaft s<strong>in</strong>d; z.B. wurden im ersten Bericht<br />

für das Jahr 1932 folgende Gefangenenzahlen <strong>in</strong> den OGPU-Lagern angegeben: zum 1. Januar — 268.700 Personen,<br />

Jahresdurchschnitt — 271.000 Personen. Wie aus den Unterlagen <strong>der</strong> Produktionsabteilung des GULAG (GARF. F.<br />

21


60.000 16 , sodass sich alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> dem e<strong>in</strong>en Jahr nach Inkrafttreten <strong>der</strong> Juli-Verordnung die<br />

Gesamtzahl <strong>der</strong> Lagerhäftl<strong>in</strong>ge fast verdoppelte und sich mit <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Gefangenen <strong>in</strong> den<br />

Haftanstalten <strong>der</strong> republikanischen NKWD vergleichen ließ (Anfang 1930: 250.000 – 300.000<br />

Gefangene 17 ). Für die Leitung des Lagersystems wurde auf Beschluss des Rates <strong>der</strong><br />

Volkskommissare vom 7. April 1930 18 am 25. April 1930 die Lagerverwaltung <strong>der</strong> OGPU<br />

(ULAG <strong>der</strong> OGPU) 19 e<strong>in</strong>gerichtet, die <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es knappen Jahres den Status e<strong>in</strong>er<br />

Hauptverwaltung (GULAG <strong>der</strong> OGPU) 20 erhielt.<br />

Ungeachtet <strong>der</strong> rasanten Ausweitung des Lagersystems zeigten jedoch die <strong>in</strong> den Jahren 1930 und<br />

Anfang 1931 erzielten Ergebnisse, dass die E<strong>in</strong>richtung von Lagern das Problem des vom<br />

staatlichen Standpunkt rationalen E<strong>in</strong>satzes von Häftl<strong>in</strong>gen nicht löste. So waren die<br />

Arbeitskräfte des KASACHSTAN-ITL auf viele Objekten verteilt, sodass e<strong>in</strong>e zentralisierte<br />

Führung dafür offensichtlich nicht notwendig war. Die Auflösung des KASACHSTAN-ITL im<br />

September 1931 und die E<strong>in</strong>richtung des landwirtschaftlich ausgerichteten KARAGANDA-ITL<br />

an neuem Standort kann als faktisches E<strong>in</strong>geständnis des Misserfolgs gewertet werden. Die<br />

E<strong>in</strong>richtung des letztgenannten Lagers entstand im Ergebnis e<strong>in</strong>er Expedition des<br />

Volkskommissariats für Landwirtschaft, die 1930 <strong>in</strong> Nordkasachstan die Bodenbeschaffenheit<br />

auf Brauchbarkeit für die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Großsowchose untersuchte. Doch ungeachtet <strong>der</strong><br />

riesigen Flächen 21 , die man dem neuen ITL zuwies, entwickelte sich das Lager nur langsam: Erst<br />

Ende 1932 erreichte die Zahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge Zehntausend 22 . Um mit <strong>der</strong> landwirtschaftlichen<br />

Produktion so schnell wie möglich beg<strong>in</strong>nen zu können, bedurfte es e<strong>in</strong>er entsprechenden<br />

Infrastruktur, die unmöglich <strong>in</strong> "Bestarbeiterzeit" zu erreichen war.<br />

In e<strong>in</strong>er ähnlichen Situation befand sich das FERNÖSTLICHE LAGER, <strong>in</strong> dem Ende 1932 10-<br />

20.000 Personen <strong>in</strong>haftiert waren, sodass das Lager ke<strong>in</strong>e bedeutende Rolle spielte, als <strong>in</strong> jener<br />

Zeit die "Naturreichtümer" dieser riesigen Region erschlossen wurden 23 .<br />

Im USEWLON, dem e<strong>in</strong>zigen neuen Lager, dessen Wirkungsbereich im Beschluss von 1929<br />

ausdrücklich def<strong>in</strong>iert wurde, stieg 1930 durch das Wirken <strong>der</strong> OGPU die Zahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge auf<br />

9414. Op. 1. D. 2920. L. 148, 178) hervorgeht, entspricht die letzte Zahl fast <strong>der</strong> m<strong>in</strong>imalen Insassenzahl für das<br />

angegebene Jahr (zum 1. Januar — 272.500, zum 1. Februar — 270.300, zum 1. März — 274.700, zum 1. April —<br />

278.500; von da ab ist e<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Zunahme <strong>der</strong> Gefangenenzahl bis zu 314.500 Personen am 1. Dezember<br />

zu verzeichnen; siehe Abbildung 1).<br />

16 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2919. L. 1.<br />

17 Die Schätzung beruht auf <strong>der</strong> Gefangenenzahl <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) <strong>der</strong> RSFSR<br />

(179.000 Personen) (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2877. L. 177, 178) und auf <strong>der</strong> Annahme, dass das Verhältnis von<br />

Häftl<strong>in</strong>gen zur Gesamtbevölkerung <strong>in</strong> den größten Republiken annähernd gleich ist.<br />

18 Sobranie uzakonenij SSSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1930. Nr. 22. S. 248.<br />

19 Befehl 130/63 <strong>der</strong> OGPU vom 25.04.30. 20<br />

20 "Über die Umwandlung des ULAG (Verwaltung <strong>der</strong> Lager) <strong>in</strong> GULAG (Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager), siehe<br />

entsprechenden E<strong>in</strong>trag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager".<br />

21 GARF. F. 9414. Op. 2. D. 108. L.15–15ob.<br />

22 Ebenda. Op. 1. D. 2920. L. 179.<br />

23 Ebenda. D. 2919. L.42; D. 2920. L.179; Zentralarchiv des FSB. F. 2. Op. 8. D. 104. L. 27. Zum Vergleich: Von<br />

1935 bis 1937 gab es <strong>in</strong> dieser Region alle<strong>in</strong> 250.000 Gefangene ohne Berücksichtigung an<strong>der</strong>er<br />

"Son<strong>der</strong>kont<strong>in</strong>gente" (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 20). Dabei sei vermerkt, dass bezüglich <strong>der</strong><br />

Haupt<strong>in</strong>dustriezweige, <strong>in</strong> denen Gefangene e<strong>in</strong>gesetzt wurden, <strong>der</strong> Anteil des Fernen Lagers (DalLag) an <strong>der</strong><br />

Produktion <strong>der</strong> Region Fernost Ende 1930 sehr hoch war: das Lager stellte 52% aller Arbeitskräfte <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Holzgew<strong>in</strong>nung und mehr als 20% <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kohleför<strong>der</strong>ung (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 13, 14).<br />

22


is zu 50.000 24 . Aber die überwiegende Mehrheit <strong>der</strong> Gefangenen wurde entlang <strong>der</strong> Nördlichen<br />

Dw<strong>in</strong>a, darunter Archangelsk, und im Bereich <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zigen funktionierenden Eisenbahnstrecke<br />

Wjatka – Kotlas e<strong>in</strong>gesetzt, was sich nicht direkt auf die Ausführung <strong>der</strong> dem Lager gestellten<br />

Aufgabe bezog: die Erschließung des Petschora-Beckens und als Hauptaufgabe die Erschließung<br />

<strong>der</strong> Erdölvorkommen <strong>in</strong> Uchta. Bereits im Juni 1931 wurde <strong>der</strong> USEWLON aufgelöst. An se<strong>in</strong>er<br />

Stelle wurde direkt für die Arbeiten im Uchta-Petschora-Becken (nach Entdeckung <strong>der</strong><br />

Kohlevorkommen <strong>in</strong> Workuta!) das UCHTA-PETSCHORA-ITL 25 e<strong>in</strong>gerichtet, dessen<br />

Häftl<strong>in</strong>gszahl nur e<strong>in</strong> Zehntel im Vergleich zum USEWLON betrug 26 . Um die Arbeiten<br />

südöstlich von Kotlas fortzusetzen (Schwerpunkte: Bau <strong>der</strong> Eisenbahnl<strong>in</strong>ie P<strong>in</strong>jug – Syktywkar<br />

und <strong>der</strong> Fernstraße Syktywkar – Uchta), wurde das UST-WYM-ITL mit e<strong>in</strong>er Häftl<strong>in</strong>gszahl von<br />

23.056 Personen (Stand: 1. Juli 1931) gegründet 27 . Aber auch das UST-WYM-ITL existierte nur<br />

neun Monate. Die Arbeiten an <strong>der</strong> Eisenbahnl<strong>in</strong>ie wurden e<strong>in</strong>gestellt und nicht wie<strong>der</strong><br />

aufgenommen 28 . Obwohl laut Auflösungsbefehl des Lagers die wichtigsten Arbeiten an <strong>der</strong><br />

Autobahntrasse Syktywkar – Uchta angeblich abgeschlossen waren, war die Kiesdecke noch<br />

nicht aufgetragen, sodass auch im Sommer/Herbst 1932 dieser Abschnitt nicht befahrbar war 29 .<br />

Außerdem blieb ohne die Eisenbahnstrecke ab Syktywkar diese Straße bedeutungslos für die<br />

Erschließung des Territoriums von Uchta. Somit waren die Versuche, das riesige Gebiet ohne<br />

jedwede Infrastruktur "im Sturm" (im S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> beschleunigten Variante des 1. Fünfjahresplans)<br />

zu erschließen, selbst um den Preis <strong>der</strong> brutalen Ausbeutung des für damalige Verhältnisse<br />

gigantischen Häftl<strong>in</strong>gsheeres nicht von Erfolg gekrönt.<br />

Schlussendlich wurde auch die Anweisung, "die bestehenden Lager auszuweiten", nicht<br />

vollständig erfüllt: <strong>Das</strong> Lager WISCHERA-ITL behielt im Laufe des gesamten Jahres 1930 e<strong>in</strong>e<br />

ger<strong>in</strong>ge Häftl<strong>in</strong>gszahl bei.<br />

In den ersten zwei Jahren seit Bestehen <strong>der</strong> Lager blieb das Ziel des Arbeitse<strong>in</strong>satzes von<br />

Häftl<strong>in</strong>gen dasselbe wie vor <strong>der</strong> Reform – die wirtschaftliche Selbstständigkeit 30 . Auch die<br />

Pr<strong>in</strong>zipien <strong>der</strong> Arbeitsorganisation blieben unverän<strong>der</strong>t. Es gab ke<strong>in</strong>e großen Produktionsstätten,<br />

die direkt <strong>der</strong> OGPU unterstanden. Nach Art und Umfang <strong>der</strong> Produktion unterschieden sich die<br />

Industrieunternehmen <strong>der</strong> Lager nicht von jenen <strong>der</strong> GUMS/GUITU <strong>in</strong> den Sowjetrepubliken 31 .<br />

In <strong>der</strong> Regel waren es kle<strong>in</strong>e und mittlere Werkstätten (für Näh-, Tischler-, Schmiedearbeiten<br />

24 Jahresdurchschnitt für 1930 — 42.832 Gefangene (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2919. L. 3, 65.); zum 01.01.31 —<br />

49.716 Personen (Zentralarchiv des FSB. F. 2. Op. 9. D. 955. L. 79).<br />

25 Befehl 296/173 <strong>der</strong> OGPU vom 06.06.31. Mehr über die anfängliche Erschließung des Petschorabeckens mit Hilfe<br />

von Gefangenen siehe A. N. Kaneva: Uchtpečlag, 1929-1938. In: Zven'ja. 1. Ausgabe, Moskau 1991. S. 331–354.<br />

26 Die Schätzung beruht auf <strong>der</strong> durchschnittlichen Insassenzahl von Juni – Dezember 1932 (9.012 Personen), dem<br />

Jahresdurchschnitt für 1933 (20.886 Personen) (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2740. L.4, 8) und <strong>der</strong> Insassenzahl im<br />

Dezember 1932 (13.400 Personen) (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L.179).<br />

27 Zentralarchiv des FSB. F. 2. Op. 9. D. 955. L. 91.<br />

28 Befehl 197s <strong>der</strong> OGPU vom 05.03.32.<br />

29 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L.156.<br />

30 Siehe Unterlagen <strong>der</strong> Planungsgruppe des GULAG für 1931 und die Versammlungsprotokolle beim Leiter des<br />

GULAG für 1931 (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 6–38, 66–162).<br />

31 Gleichzeitig mit den NKWD-Verwaltungen <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Republiken wurden am 15. Dezember 1930 auch die<br />

Hauptverwaltungen für Haftanstalten (GUMS) aufgelöst und die entsprechenden Vollzugsanstalten unter die Leitung<br />

<strong>der</strong> Hauptverwaltung für Besserungsarbeitsanstalten des Volkskommissariats für Justiz (GUITU NKJu) <strong>in</strong> den<br />

jeweiligen Republiken gestellt. (GARF. F. 393. Op. 84. D. 115. L. 505; Sobranie uzakonenij SSSR<br />

[Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1930. Nr. 60. S. 640; Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong><br />

RSFSR]. 1932. Nr. 53. S. 237). Mehr über die Auflösung <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftanstalten siehe Abschnitt<br />

"SYSTEM DER HAFTANSTALTEN DER RSFSR UND UDSSR 1917 – 1930".<br />

23


usw.), die e<strong>in</strong>fachste Waren herstellten 32 . Die Landwirtschafts- und Fischereibetriebe waren auch<br />

unbedeutend 33 . Für die Herstellung von landwirtschaftlichen Erzeugnissen wurde faktisch erst<br />

1931 das Lager KARAGANDA-ITL gegründet, aber die ersten Ergebnisse waren kläglich 34 . Der<br />

gesamte Anteil <strong>der</strong> Arbeiten <strong>in</strong> den lagereigenen Produktionsstätten betrug 20-30% sowohl von<br />

<strong>der</strong> gesamten Lagerproduktion als auch von <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> Beschäftigten 35 .<br />

Die Rolle <strong>der</strong> OGPU beschränkte sich hauptsächlich darauf, Arbeitskräfte zu "besitzen" und diese<br />

für Vertragsarbeiten an Produktionsstätten <strong>der</strong> Wirtschaftsabteilungen <strong>in</strong> den jeweiligen<br />

Volkskommissariaten zu entleihen. In vielen Fällen nahm sich die Lagerleitung <strong>der</strong> Suche nach<br />

Vertragspartnern persönlich an, wobei <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie die Höhe <strong>der</strong> Bezahlung für die überlassene<br />

Arbeitskraft sowie die Bereitstellung von Wohn-, Versorgungs- und Ausrüstungsmöglichkeiten<br />

auf Seiten des Auftraggebers ausschlaggebend waren. <strong>Das</strong> führte dazu, dass das "arbeitsfähige<br />

Kont<strong>in</strong>gent" zerrieben wurde 36 . Die zentrale Leitung erschöpfte sich dar<strong>in</strong>, an die vielen<br />

vertraglich vere<strong>in</strong>barten Objekte ausreichend Arbeitskräfte zu entsenden, <strong>in</strong>dem man die<br />

Gefangenen abhängig von ihrer physischen Kondition ("Kategorien <strong>der</strong> Arbeitsfähigkeit") den<br />

e<strong>in</strong>zelnen Objekten zuordnete. Es ist offensichtlich, dass diese Funktionen auch von den<br />

E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> GUMS/GUITU <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Sowjetrepubliken übernommen werden<br />

konnten. In den Jahren 1929-30 wurden durchschnittlich 60-65% aller Häftl<strong>in</strong>ge zu bezahlten<br />

Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt. Damit war ihr Anteil genauso hoch wie früher <strong>in</strong> den Vollzugsanstalten <strong>der</strong><br />

GUMS. 37 .<br />

Die den Autoren zugänglichen Dokumente lassen den Schluss zu, dass <strong>der</strong> relativ ger<strong>in</strong>ge E<strong>in</strong>satz<br />

von Gefangenen als Arbeitskräfte durchaus nicht mit <strong>der</strong> Menschenfreundlichkeit <strong>der</strong><br />

Lagerleitung zu erklären ist. Sogar <strong>in</strong> den Unterlagen <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG)<br />

f<strong>in</strong>den sich genügend Beweise dafür, dass oftmals sowohl die tägliche Arbeitszeit über das<br />

vorgeschriebene Maß verlängert als auch freie Tage gestrichen wurden. Allerd<strong>in</strong>gs wurden die<br />

Lagerleiter für diese Verstöße von <strong>der</strong> GULAG-Leitung nicht zur Verantwortung gezogen 38 . Die<br />

Planungsabteilung des GULAG trug ständig dafür Sorge, den Anteil <strong>der</strong> "arbeitsfähigen<br />

Gefangenen" zu erhöhen (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e bei den wichtigsten Vertragsarbeiten, was <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

zulasten des Baus von Lagerunterkünften g<strong>in</strong>g). Deshalb teilte sie möglichst viele Gefangene <strong>der</strong><br />

obersten Kategorie <strong>der</strong> Arbeitsfähigkeit zu und kümmerte sich um den Arbeitse<strong>in</strong>satz von<br />

"Invaliden und m<strong>in</strong><strong>der</strong>wertigen Arbeitskräften" 39 . Auch die folgenden Fakten geben Auskunft<br />

über die grausame Ausbeutung bereits <strong>in</strong> den ersten beiden Jahren seit Bestehen des<br />

32 So wurden z.B. 1930 im ZENTRALASIATISCHEN ITL die Gefangenen, <strong>der</strong>en Gesamtzahl ca. 2.500 Personen<br />

betrug, nicht nur zu Vertragsarbeiten e<strong>in</strong>gesetzt, son<strong>der</strong>n auch <strong>in</strong> den sieben Lagerwerkstätten, wo sie Handschuhe,<br />

Schuhe, Holzkisten, Fässer usw. herstellten. (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2919. L. 7). Nur das SIBIRISCHE ITL<br />

verfügte über e<strong>in</strong>e Ziegelei (Ebenda. L. 45).<br />

33 Ebenda. L. 7, 40, 42, 44, 45, 47.<br />

34 Im Bericht über die Wirtschaftslage <strong>in</strong> den Lagern <strong>der</strong> OGPU wird für das I. Quartal 1932 vermerkt, dass, "aus<br />

wirtschaftlicher Perspektive betrachtet, das KARAGANDA-ITL wahrsche<strong>in</strong>lich das unrentabelste aller Lager ist",<br />

wo wegen Futtermangels ca. 20% aller Tiere getötet werden mussten und ca. 5% des Bestands durch Viehseuchen<br />

starb. (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 158).<br />

35<br />

Siehe z.B. Monatsbericht und an<strong>der</strong>e Zusammenstellungen über die Wirtschaftstätigkeit <strong>der</strong> OGPU-Lager für das<br />

Jahr 1931 (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 6–143) sowie die wichtigsten Wirtschaftskennziffern <strong>der</strong> Lager für die<br />

Jahre 1929–1930 (Ebenda. D. 2919. L. 1–48).<br />

36 Ebenda.<br />

37 Ebenda. Über die Verwendung von Häftl<strong>in</strong>gsarbeit durch die Hauptverwaltungen für Haftanstalten des NKWD <strong>in</strong><br />

den 1920-er Jahren siehe Abschnitt "SYSTEM DER HAFTANSTALTEN DER RSFSR UND UDSSR 1917 – 1930".<br />

38 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 17, 140.<br />

39 Ebenda. L. 8, 24, 133–135. 40<br />

24


Lagersystems: als sich die Lager im zweiten Quartal 1931 nicht arbeitsfähiger Gefangener<br />

entledigen wollten, sollten 26.000 Personen wegen Invalidität entlassen werden, wobei die<br />

Gesamtzahl <strong>der</strong> Inhaftierten zum 15. April 1931 234.600 Personen 40 betrug; 1931 starben 7.283<br />

Gefangene (Jahresdurchschnitt 2,9%) 41 . Aus dem Gesagten folgt: <strong>der</strong> relativ ger<strong>in</strong>ge E<strong>in</strong>satz von<br />

Häftl<strong>in</strong>gsarbeitskraft wurde <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von objektiven wirtschaftlichen Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />

und den Führungsqualitäten des Staatsapparats bestimmt 42 .<br />

Was die Erschließung dünn besiedelter Regionen angeht (e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> Hauptaufgaben <strong>der</strong> Lager<br />

gemäß dem Beschluss von 1929), ist offensichtlich: bereits seit 1930, nachdem die<br />

Entkulakisierung und Verbannung großer Bevölkerungsteile <strong>in</strong> Son<strong>der</strong>siedlungen e<strong>in</strong>setzte, kam<br />

diese auch ohne die E<strong>in</strong>richtung riesiger Lagerstrukturen aus 43 .<br />

Aus dieser Bestandsaufnahme des Lagersystems <strong>in</strong> den ersten beiden Jahren se<strong>in</strong>es Bestehens<br />

wird ersichtlich, dass alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Beschluss aus dem Jahre 1929 die Entwicklungsrichtung für das<br />

Vollzugsystem <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> noch nicht endgültig festlegte. Damit die Lager wie auch immer<br />

geartete Aufgaben von allgeme<strong>in</strong>em staatlichem Interesse erfüllen konnten, die über die re<strong>in</strong>e<br />

Abschreckungsfunktion h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>gen 44 , war e<strong>in</strong> Geflecht von Zusatzbed<strong>in</strong>gungen erfor<strong>der</strong>lich,<br />

das sich <strong>in</strong> den folgenden Jahren herausbildete. Mit gewissen E<strong>in</strong>schränkungen trifft das auf den<br />

Zeitraum von 1931-1934 zu.<br />

Die sich schnell ausbreitende Kommandowirtschaft und die damit e<strong>in</strong>hergehende<br />

Zentralversorgung <strong>der</strong> Produktion <strong>in</strong> Form <strong>der</strong> später allseits bekannten "Fonds" gewann Anfang<br />

<strong>der</strong> dreißiger Jahre für die Volkswirtschaft im allgeme<strong>in</strong>en wie auch für die Lagerwirtschaft im<br />

beson<strong>der</strong>en zunehmend an Bedeutung. Für die davon betroffenen Objekte und Organisationen<br />

än<strong>der</strong>ten sich die Prioritäten ihres wirtschaftlichen Handelns: an Stelle <strong>der</strong> Rentabilität – bzw. im<br />

Falle <strong>der</strong> Vollzugsanstalten <strong>der</strong> wirtschaftlichen Selbstständigkeit – stand nun an erster Stelle die<br />

Erfüllung <strong>der</strong> Planvorgaben unter Beachtung festgesetzter Fonds und begrenztem<br />

Arbeitskräftee<strong>in</strong>satz, wobei die Zahl <strong>der</strong> Beschäftigten, nicht jedoch die Höhe <strong>der</strong> zu leistenden<br />

40 Ebenda. L. 39, 40. Es sei angemerkt, dass den Lagern nur Personen von körperlich gesun<strong>der</strong> Konstitution<br />

zugeführt werden sollten (GARF. F. 5446. Op. 1. D. 48. L. 210–212).<br />

41 Ebenda. F. 9414. Op. 1. D. 2740. L. 1. Von den Gefangenen des Zentralasiatischen ITL starben jährlich 10,6% des<br />

Jahresdurchschnitts (ebenda).<br />

42 Objektiv betrachtet lag <strong>in</strong> dem unausweichlichen Wettbewerb zweier Vollzugssysteme <strong>der</strong> Vorteil e<strong>in</strong>deutig auf<br />

Seiten <strong>der</strong> OGPU. So war <strong>der</strong> Bedarf an Arbeitskräften <strong>in</strong> den unbewohnten Regionen und <strong>in</strong> Zentralasien (wo die<br />

Qualifikation und Arbeitskultur <strong>der</strong> E<strong>in</strong>heimischen nicht den staatlichen Anfor<strong>der</strong>ungen entsprach) ganz klar höher<br />

als <strong>in</strong> den Zentralbezirken des Landes. Alle<strong>in</strong> dieser Umstand sollte <strong>der</strong> OGPU erlauben, für die bereitgestellten<br />

Arbeitskräfte e<strong>in</strong>e Vergütung e<strong>in</strong>zufor<strong>der</strong>n, die über <strong>der</strong> durchschnittlichen Vergütung für Vollzugsanstalten unter<br />

republikanischer Leitung lag. Der Vorteil <strong>der</strong> OGPU lag auch dar<strong>in</strong>, dass sie e<strong>in</strong>em Betrieb per Vertrag sofort<br />

Arbeitskräfte <strong>in</strong> nahezu unbegrenzter Anzahl, überall und je<strong>der</strong>zeit zur Verfügung stellen konnte und somit dem<br />

"Arbeitgeber" e<strong>in</strong>e ganze Reihe von Organisations- und Wirtschaftsproblemen ersparte.<br />

43 <strong>Das</strong> folgt z.B. aus <strong>der</strong> gängigen Praxis bei <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung von Son<strong>der</strong>siedlungen für die Verbannten <strong>der</strong> Jahre<br />

1930–1933 (siehe: Verordnungen des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare 130ss vom 01.07.31, 174s vom 16.08.31 und<br />

775/146s vom 20.04.33 sowie den Befehl 890/s <strong>der</strong> OGPU vom 14.09.32, <strong>der</strong> die "Vorübergehende Anordnung zu<br />

den Siedlungskolonien <strong>der</strong> ITL <strong>der</strong> OGPU" e<strong>in</strong>führte). Die Zahl <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>siedler (zum 01.01.32 betrug sie<br />

1.317.022 Personen, siehe V. N. Zemskov: "Kulackaja ssylka" v 30-e gody ["Kulakenverbannung" <strong>in</strong> den 30-er<br />

Jahren] In: Sociologičeskie issledovanija [Soziologische Forschungen]. 1991. Nr. 10. S. 3–21) überstieg die Zahl <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>ge um e<strong>in</strong> Mehrfaches.<br />

44 In dieser Funktion waren sie unverb<strong>in</strong>dlich und die Regierung war sich dessen sehr wohl bewusst: als Zeiten <strong>der</strong><br />

Massenerschießungen gelten die Jahre <strong>der</strong> Kollektivierung, <strong>der</strong> Höhepunkt des Terrors (1937–1938) und die ersten<br />

Kriegsjahre.<br />

25


Personenstunden begrenzt war! Sämtliche Wirtschaftssubjekte agierten beständig vor dem<br />

H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>es totalen Ressourcendefizits 45 .<br />

E<strong>in</strong>en folgenschweren Son<strong>der</strong>fall, <strong>der</strong> richtungweisend für die Entwicklung des sowjetischen<br />

Lagersystems war, stellte 1931 <strong>der</strong> Baubeg<strong>in</strong>n des Weißmeer-Ostsee-Kanals auf ehemaligem<br />

Lagergebiet dar 46 , e<strong>in</strong>es gigantischen Projekts, das <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von militärstrategischer<br />

Bedeutung war. <strong>Das</strong> Hauptaugenmerk lag auf <strong>der</strong> schnellstmöglichen Inbetriebnahme des Kanals.<br />

Jedoch entbehrte die Baubegründung e<strong>in</strong>er Rentabilitätsprüfung dieses Projekts; selbst die<br />

Arbeitskosten wurden nur "ungefähr" angegeben 47 . Neben an<strong>der</strong>en Gründen waren es<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die kurzen Fristen 48 , die den Ausschlag dafür gaben, als wichtigste Arbeitskräfte<br />

Häftl<strong>in</strong>ge aus den Lagern <strong>der</strong> OGPU e<strong>in</strong>zusetzen. E<strong>in</strong>erseits gab es ke<strong>in</strong>e an<strong>der</strong>en Arbeiter <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Gegend rund um den Bauabschnitt, an<strong>der</strong>erseits konnte man Freie schon deshalb nicht schnell für<br />

diese Arbeiten gew<strong>in</strong>nen, da jegliche Unterbr<strong>in</strong>gungsmöglichkeiten fehlten. Alle<strong>in</strong> die<br />

Beteiligung am Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals erhöhte den <strong>in</strong>formellen Status <strong>der</strong><br />

Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) und bot gleichzeitig die Chance "sich zu bewähren".<br />

Zudem war es das erste Projekt, welches <strong>der</strong> Organisationsstruktur des GULAG – dem<br />

gewaltigen, hierarchisch aufgebauten, zentralen Führungsapparat – entsprach.<br />

Die ursprünglichen Pläne beschränkten die Funktion des GULAG ausschließlich auf die<br />

Versorgung <strong>der</strong> Kanalbaustelle des Volkskommissariats für Verkehr (NKPS) mit Arbeitskräften,<br />

was sowohl die wirtschaftliche Rolle als auch die Möglichkeiten <strong>der</strong> OGPU e<strong>in</strong>geschränkte. E<strong>in</strong>e<br />

wichtige Bedeutung für die Zukunft des Lagersystems <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> hatte offenbar die Ende<br />

1931 völlig rout<strong>in</strong>emäßige Übergabe <strong>der</strong> Bauverwaltung des Nord-Abschnitts des Weißmeer-<br />

Ostsee-Kanals vom NKPS an die OGPU, verbunden mit <strong>der</strong>en Umwandlung <strong>in</strong> die<br />

Bauverwaltung des Weißmeer-Ostsee-Wasserweges und <strong>der</strong> gleichzeitigen Gründung e<strong>in</strong>es<br />

spezialisierten Zwangsarbeitslagers – des WEISSMEER-OSTSEE-ITL 49 . Dieser Verwaltungsakt<br />

verankerte faktisch die 1931 e<strong>in</strong>setzende Transformation <strong>der</strong> ökonomischen Funktionen <strong>der</strong><br />

OGPU, <strong>in</strong> <strong>der</strong>en Folge sie sich von e<strong>in</strong>em re<strong>in</strong>en Arbeitskräftelieferanten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en direkten<br />

45 Die verän<strong>der</strong>ten Prioritäten spiegeln sich auch <strong>in</strong> den Unterlagen <strong>der</strong> Planungsgruppe des GULAG für die Jahre<br />

1930–1932 wi<strong>der</strong>: zu den wichtigsten Kennziffern werden 1932 die Höhe <strong>der</strong> Planerfüllung und <strong>der</strong> prozentuale<br />

Anteil von Gefangenen, die zu allgeme<strong>in</strong>en Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt wurden (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2919. L. 1–61; D.<br />

2120. L. 1–188).<br />

46 Der Beschluss über den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals wurde am 03.06.30 vom Rat für Arbeit und<br />

Verteidigung (STO) getroffen (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1806. L. 4), doch die Vermessungs- und<br />

Vorbereitungsarbeiten zogen sich bis <strong>in</strong> die zweite Jahreshälfte 1930 h<strong>in</strong> und nahmen m<strong>in</strong>destens das gesamte I.<br />

Quartal 1931 <strong>in</strong> Anspruch (siehe Lagere<strong>in</strong>trag zum SOLOWEZKI-ITL; siehe ebenfalls: GARF. F. 9414. Op. 1. D.<br />

2920. L. 2–3ob, 10, 11, 26, 27). Unterlagen zur Geschichte <strong>der</strong> Lager auf dem Gebiet <strong>der</strong> Karelischen ASSR siehe<br />

auch: GULAG v Karelii: Sbornik dokumentov i materialov, 1930–1941. [GULAG <strong>in</strong> Karelien. Dokumente und<br />

Materialien. 1930-1941. Sammelband.] Petrosawodsk 1992.<br />

47 Siehe Erläuterungen zur Verfügung des Rates für Arbeit und Verteidigung über den Bau des Weißmeer-Ostsee-<br />

Kanals (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1806. L. 1–4).<br />

48 Für den eigentlichen Kanalbau waren lediglich zwei Jahre vorgesehen, im Sommer 1933 wurde <strong>der</strong> Kanal <strong>in</strong><br />

Betrieb genommen (siehe WEISSMEER-OSTSEE-ITL, SOLOWEZKI-ITL).<br />

49 Befehl 667/359 <strong>der</strong> OGPU vom 16.11.31; GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2. L. 49 (Befehl zum GULAG 59 vom<br />

20.11.31). Die Bauverwaltung des Nordabschnitts des BelomorStroi des Volkskommissariats für Verkehr stand ab<br />

April 1931 faktisch unter <strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong> OGPU, als zu <strong>der</strong>en Leiter A. A. Iwantschenko, <strong>der</strong> gleichzeitig Leiter<br />

des SOLOWEZKI-ITL war, ernannt wurde (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1806. L. 24; D. 2. L. 34 ob).<br />

26


Bauleiter wandelte und die alle<strong>in</strong>ige Verantwortung für die Erfüllung <strong>der</strong> Planvorgaben<br />

übernahm 50 .<br />

Die dadurch hervorgerufenen Verän<strong>der</strong>ungen betrafen sämtliche Funktionen des OGPU-<br />

Apparats. Tatsächlich h<strong>in</strong>g unter den Bed<strong>in</strong>gungen <strong>der</strong> Kommandowirtschaft <strong>der</strong> Erfolg <strong>in</strong> erster<br />

L<strong>in</strong>ie von den Mobilisierungsmöglichkeiten des Auftragnehmers ab. Im Vergleich zu an<strong>der</strong>en<br />

Volkskommissariaten, die für Industriefragen zuständig waren, verfügte die OGPU <strong>in</strong> dieser<br />

H<strong>in</strong>sicht über e<strong>in</strong>zigartige Möglichkeiten. Die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) war <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Lage, b<strong>in</strong>nen kurzer Zeit e<strong>in</strong>e Vielzahl unqualifizierter Arbeitskräfte 51 dort zu konzentrieren, wo<br />

man sie brauchte, ohne sich ernsthaft um die Lebensbed<strong>in</strong>gungen dieser Menschen zu kümmern.<br />

Beschränkungen ergaben sich lediglich aus <strong>der</strong> Durchlässigkeit <strong>der</strong> Zufahrtswege (<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie<br />

für die Versorgung mit Lebensmitteln und Kleidung). Wenn sich 1932 die durchschnittliche<br />

Inhaftiertenzahl <strong>in</strong> den Lagern <strong>der</strong> OGPU um 16,8% sich erhöhte, so betrug die Zunahme auf <strong>der</strong><br />

Kanalbaustelle ungefähr 50%, sodass Ende 1932 im WEISSMEER-OSTSEE-ITL 107.900<br />

Gefangene 52 konzentriert waren. Dabei gilt zu beachten, dass die OGPU als allumfassendes<br />

Straforgan <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage war, über das Son<strong>der</strong>kollegium mit e<strong>in</strong>igen E<strong>in</strong>schränkungen die Zahl <strong>der</strong><br />

ihr zur Verfügung stehenden Arbeitskräfte selbstständig zu erhöhen. <strong>Das</strong> war beson<strong>der</strong>s wichtig,<br />

um die Lager mit den erfor<strong>der</strong>lichen Fachkräften (hoher und mittlerer Qualifikation) zu<br />

komplettieren 53 . <strong>Das</strong> Vermögen, erstklassige Fachleute zu "mobilisieren", war e<strong>in</strong>e <strong>der</strong><br />

"Trumpfkarten" <strong>der</strong> OGPU. Schließlich verfügte die OGPU im gesamten Land über e<strong>in</strong><br />

flächendeckendes Netz von lokalen und Transportvertretungen, die mit außerordentlich<br />

weitreichenden Vollmachten ausgestattet waren. Dadurch hatte die OGPU die direkte Kontrolle<br />

über Produktion, Verladung und Transport sämtlicher für die Versorgung mit Material und<br />

Technik erfor<strong>der</strong>lichen Bestandteile, die für die <strong>in</strong> den Staatsplan aufgenommenen<br />

Produktionsstätten gebraucht wurden. Und selbst wenn die vorhandenen Ressourcen nicht den<br />

geplanten Erfor<strong>der</strong>nissen entsprachen, konnte die OGPU diese Ressourcen offensichtlich zu<br />

ihrem eigenen Nutzen umverteilen 54 . Seit 1932 wurde <strong>in</strong> die Direktiven von OGPU-NKWD-<br />

50 Als Beg<strong>in</strong>n dieses Prozesses könnte die Gründung <strong>der</strong> Sowchose "Gigant" <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Jahreshälfte 1931 gelten<br />

(GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2919. L. 1, L. 65; Op. 2. D. 108. L. 1–278; Befehl 527/285 <strong>der</strong> OGPU vom 17.09.31)<br />

sowie im Sommer/Herbst 1931 die E<strong>in</strong>richtung von Lagern (TEMNIKOWSKI-ITL und SWIR-ITL), die auf die<br />

Holzgew<strong>in</strong>nung für die zentrale Brennholzbelieferung nach Moskau und Len<strong>in</strong>grad spezialisiert waren (Befehl<br />

296/173 <strong>der</strong> OGPU vom 06.06.31; Befehl 529/287 <strong>der</strong> OGPU vom 17.09.31).<br />

51 Ungelernt <strong>in</strong> dem S<strong>in</strong>ne, dass die e<strong>in</strong>gesetzten Personen über ke<strong>in</strong>e entsprechende Ausbildung verfügten (als<br />

Erdarbeiter konnte je<strong>der</strong> arbeiten – ob Bauer, Philologe, Tischler o<strong>der</strong> professioneller Dieb).<br />

52 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 148, 178.<br />

53 So sah das Rundschreiben 13482 <strong>der</strong> OGPU vom 19.07.30 vor: "An alle bevollmächtigten Vertretungen <strong>der</strong><br />

OGPU und Leiter <strong>der</strong> Baschkirischen und Tatarischen OGPU ... Zur Lösung <strong>der</strong> Arbeitskräftefrage beim Kanalbau<br />

wird Ihnen <strong>der</strong> Vorschlag gemacht, bezüglich sämtlicher arbeitsfähiger Elemente, die Ihre Troika durchlaufen<br />

(Kulaken und an<strong>der</strong>e Kategorien mit Ausnahme von Mitglie<strong>der</strong>n antisowjetischer Parteien), und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong><br />

Bezug auf Facharbeiter mit Hochschul-, Fachschul- und Berufsausbildung adm<strong>in</strong>istrative Verbannungen zu<br />

unterb<strong>in</strong>den und auf diese Weise die Maßnahmen zum sozialen Schutz <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Verurteilung zu Konzentrationslager<br />

umzuwandeln" (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1133. L. 86). H<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Auffüllung mit Spezialisten siehe z.B. den<br />

Bericht vom 29.11.30 an den stellvertretenden Vorsitzenden <strong>der</strong> OGPU Jagoda, unterzeichnet vom Assistenten des<br />

Leiters <strong>der</strong> Verwaltung <strong>der</strong> Lager (ULAG) Rapoport und dem Assistenten des Leiters <strong>der</strong> Gefängnisabteilung <strong>der</strong><br />

OGPU Kischk<strong>in</strong> über die Verlegung von ausgebildeten Tiefbauarbeitern <strong>in</strong> das SOLOWEZKI-ITL, <strong>der</strong> wie folgt<br />

endet: "während des Untersuchungsprozesses werden noch weitere passende [geme<strong>in</strong>t s<strong>in</strong>d qualifizierte] Personen<br />

zusätzlich verhaftet" (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1805. L. 66, 66ob).<br />

54 Nach den Prozessen von 1929–1930, als e<strong>in</strong>e Reihe <strong>der</strong> bedeutendsten Spezialisten verhaftet worden war, musste<br />

je<strong>der</strong> Betriebsleiter bei Konflikten mit Vertretern <strong>der</strong> OGPU-Leitung die drohenden Konsequenzen beachten, die<br />

sich ungeachtet aller Gründe bei Nichterfüllung <strong>der</strong> Pläne ergaben.<br />

27


MWD, welche die E<strong>in</strong>richtung immer neuer Produktionsstätten vorsahen, e<strong>in</strong>e Bestimmung<br />

aufgenommen, <strong>der</strong>en genaue Formulierung sich im Punkt 8 des Befehls über die E<strong>in</strong>richtung des<br />

Lagers BAIKAL-AMUR-ITL wie<strong>der</strong>f<strong>in</strong>det (gleichzeitig verkündete <strong>der</strong> Befehl den Entschluss<br />

des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare, die Verantwortung für den Bau <strong>der</strong> Baikal-Amur-Magistrale an<br />

die OGPU zu übergeben):<br />

"Der Bau <strong>der</strong> Baikal-Amur-Magistrale verlangt une<strong>in</strong>geschränkte Aufmerksamkeit. Er kann und<br />

wird unter aktiver Beteiligung und Mitwirkung sämtlicher Organe <strong>der</strong> OGPU durchgeführt<br />

werden.<br />

Alle bevollmächtigten Vertretungen <strong>der</strong> OGPU, die staatlichen politischen Verwaltungen <strong>der</strong><br />

Republiken, sämtliche Transportorgane <strong>der</strong> OGPU, die Vertretungen <strong>der</strong> OGPU <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen<br />

Städten und Regionen haben <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) <strong>der</strong> OGPU und beim Bau<br />

<strong>der</strong> Baikal-Amur-Magistrale une<strong>in</strong>geschränkt Hilfe zu leisten.<br />

Beson<strong>der</strong>s:<br />

a. bei Fragen des Transports und <strong>der</strong> Lieferung von Gütern, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e ihrer<br />

schnellstmöglichen Beför<strong>der</strong>ung zum Bauobjekt;<br />

b. bei <strong>der</strong> Durchsetzung von Fonds und Or<strong>der</strong>n für die allgeme<strong>in</strong>e und technische<br />

Versorgung;<br />

c. bei <strong>der</strong> Bereitstellung von Arbeits- und Fachkräften für die BAM;<br />

d. bei <strong>der</strong> Bereitstellung von ungenutzten Ausrüstungen und Werkzeugen und <strong>der</strong>en<br />

Zustellung an die BAM" 55 .<br />

Beim Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals konnte die OGPU ihre Möglichkeiten demonstrieren.<br />

Die Aufgabe wurde durch e<strong>in</strong>ige Beson<strong>der</strong>heiten des Bauprojekts und des Arbeitsgebiets vor Ort<br />

begünstigt. Drei von ihnen s<strong>in</strong>d nach Ansicht <strong>der</strong> Autoren zu nennen. Zum e<strong>in</strong>en die günstige<br />

geographische Lage <strong>der</strong> Trasse: ihre relative Nähe zu Industriezentren (Petrosawodsk,<br />

Len<strong>in</strong>grad), e<strong>in</strong> ausgebautes Verkehrsnetz, <strong>in</strong>klusive e<strong>in</strong>er zuverlässigen Eisenbahnverb<strong>in</strong>dung<br />

für das gesamte Arbeitsgebiet 56 , Zugang zu Seen (Onegasee, Wygsee) und zum Meer<br />

(Archangelsk-Soroka, heute Belomorsk) sowie e<strong>in</strong> Funknetz. Des weiteren die relative<br />

Unabhängigkeit des Bauvorhabens von Zuliefermaterialien. Und drittens e<strong>in</strong>e Arbeitsplanung, die<br />

überwiegend den E<strong>in</strong>satz von Muskelkraft (anstelle mechanisierter Hilfsmittel) vorsah, was von<br />

<strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong> Arbeiter nur e<strong>in</strong>e unbedeutende Qualifikation verlangte.<br />

Der letzte Umstand hatte die direkte Abhängigkeit zwischen dem Grad <strong>der</strong> Planerfüllung und <strong>der</strong><br />

Höhe <strong>der</strong> geleisteten Personenstunden zur Folge. Die Leitung <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager<br />

(GULAG) verlegte sämtliche neuen Häftl<strong>in</strong>ge aus fast allen an<strong>der</strong>en <strong>Besserungsarbeitslager</strong>n<br />

(ITL) an den Bau des Weißmeer-Ostsee-Kanals und nahm bewusst e<strong>in</strong> Defizit an Arbeitskräften<br />

<strong>in</strong> den betroffenen Lagern <strong>in</strong> Kauf, um gleichzeitig die lokalen Lagerverwaltungen zu e<strong>in</strong>er<br />

Intensivierung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gsarbeit zu zw<strong>in</strong>gen 57 . Die Zentralleitung for<strong>der</strong>te ständig e<strong>in</strong>e<br />

Erhöhung <strong>der</strong> Arbeitsnormen 58 , e<strong>in</strong>en größeren Anteil von Häftl<strong>in</strong>gen, die allgeme<strong>in</strong>e Arbeiten<br />

verrichten mussten, sowie den "rationalen" E<strong>in</strong>satz <strong>der</strong> Arbeitskraft von Invaliden. Somit betrug<br />

55 Befehl 1020s <strong>der</strong> OGPU vom 10.11.32.<br />

56 Der maximale Abstand zwischen <strong>der</strong> Murmansker Eisenbahnl<strong>in</strong>ie und dem Kanal beträgt weniger als 30 km.<br />

Nördlich des Wygsees, wo <strong>der</strong> größte Arbeitsaufwand betrieben wurde, beträgt dieser Abstand nicht mehr als 5 km.<br />

57 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 153, 154.<br />

58 Ebenda. L. 139–141, 149, 151 u.a.<br />

28


am 1. Januar 1933 im GULAG <strong>der</strong> durchschnittliche Anteil aller <strong>in</strong> <strong>der</strong> Produktion Beschäftigten<br />

81% aller registrierten Häftl<strong>in</strong>ge, 11% waren mit Aufgaben außerhalb <strong>der</strong> Produktion beschäftigt,<br />

und nur 8% arbeiteten nicht 59 . Sogar die Planer des GULAG betrachteten dies als äußerste<br />

Belastung 60 .<br />

Dieser Sachverhalt spiegelte sich deutlich <strong>in</strong> den statistischen Berichten <strong>der</strong> Abteilung für<br />

Mediz<strong>in</strong> und Sanitätswesen wi<strong>der</strong>: Während 1931 die durchschnittliche Todesrate unter den<br />

Häftl<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Arbeitsbesserungslager 2,9% betrug (niedrigster Wert im FERNEN LAGER mit<br />

1,4%, höchster Wert mit 10,6% im ZENTRALASIATISCHEN ITL), so stieg die Todesrate im<br />

Folgejahr auf 4,8% (Untergrenze 1,5%, Obergrenze 26,3%), und 1933 starben 67.247 Häftl<strong>in</strong>ge –<br />

also mehr als 15% aller im Jahresdurchschnitt registrierten Häftl<strong>in</strong>ge – wobei fast 10% alle<strong>in</strong> <strong>in</strong><br />

dem kle<strong>in</strong>en Lager SAROW-ITL starben und die höchste Todesrate mit ca. 34,5% im<br />

WISCHERA-ITL gemessen wurde. Gleichzeitig sei angemerkt, dass die Sterblichkeit <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

zweiten Jahreshälfte 1933 <strong>in</strong> den Lagern wie<strong>der</strong> abnahm. Im April und Mai starben im<br />

Monatsdurchschnitt mehr als 2% aller Häftl<strong>in</strong>ge 61 . Doch auf die Gesamtbewertung des GULAG<br />

durch die oberste Führung hatte das ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss.<br />

Für 1932 wird e<strong>in</strong>e fast 100%-ige Arbeitserfüllung ausgewiesen 62 . Während e<strong>in</strong>er Überprüfung<br />

<strong>der</strong> Bauarbeiten am Weißmeer-Ostsee-Kanal im Sommer 1932 drückte <strong>der</strong> stellvertretende<br />

Vorsitzende <strong>der</strong> OGPU, Genrich G. Jagoda, se<strong>in</strong>e Zufriedenheit aus 63 . Die Planerfüllung <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Holzgew<strong>in</strong>nung und -verladung, dem zweitwichtigsten Wirtschaftsbereich des Lagers, betrug<br />

1932 ca. 95%, während das Volkskommissariat für Forstwirtschaft bei ähnlichen Arbeiten nur<br />

70% <strong>der</strong> Planvorgaben bewältigte 64 . Dort jedoch, wo ausgebildete Fachkräfte vonnöten waren,<br />

sahen die Kennziffern <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager weitaus nüchterner aus: 1932 wurde <strong>der</strong><br />

Plan für Erdölbohrungen vom UCHTA-PETSCHORA-ITL nur zu 40,9% erfüllt 65 .<br />

Die hohe Wertschätzung, die die Wirtschaftsergebnisse <strong>der</strong> OGPU durch die Regierung erfuhren,<br />

manifestierte sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> konsequenten Ausweitung <strong>der</strong> Wirtschaftstätigkeit <strong>der</strong> Lager: Im<br />

Frühjahr 1932 wurde für den Dalstroi das NORDÖSTLICHE ITL e<strong>in</strong>gerichtet, und im Herbst<br />

wurde die OGPU mit dem Bau des Moskwa-Wolga-Kanals (wofür das DMITROW-ITL<br />

gegründet wurde) und dem Bau <strong>der</strong> Baikal-Amur-Magistrale beauftragt, mit dem vorher das<br />

Volkskommissariat für Verkehr betraut gewesen war und <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Gründung des BAIKAL-<br />

59 Ebenda. L. 179.<br />

60 Ebenda. L. 149.<br />

61 Ebenda. D. 2740. L. 1–8. Alle Angaben ohne Berücksichtigung des NORDÖSTLICHEN ITL und <strong>der</strong><br />

WAIGATSCH-EXPEDITION DER OGPU, da hierfür die Daten fehlen. Es sei angemerkt, dass die Sterblichkeit im<br />

BelomorStroi unter <strong>der</strong> durchschnittlichen Kennziffer <strong>der</strong> Lager lag (ebenda).<br />

62 Ebenda. D. 2920. L. 179, 180.<br />

63 Befehl 580 <strong>der</strong> OGPU vom 20.06.32.<br />

64 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 182. Übrigens gestattet e<strong>in</strong>e gründlichere Analyse <strong>der</strong> Planerfüllung nach<br />

e<strong>in</strong>zelnen Arbeiten die Annahme, dass die Lagerberichte e<strong>in</strong>e gehörige Portion Schönfärberei enthielten. So waren<br />

z.B. die Arbeiten im Holze<strong>in</strong>schlag konstant über dem Plansoll, blieben knapp darunter beim Abtransport von <strong>der</strong><br />

Schlagfläche und konnten beim Verladen das Plansoll <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht erfüllen, da oftmals die Transportmittel u.ä.<br />

fehlten (ebenda. L. 12, 26, 27, 180–182).<br />

65 Ebenda. L. 184.<br />

29


AMUR-ITL e<strong>in</strong>herg<strong>in</strong>g 66 . Ab Dezember 1932 setzt e<strong>in</strong> beschleunigter Anstieg <strong>der</strong><br />

Gefangenenzahl <strong>in</strong> den Lagern <strong>der</strong> OGPU e<strong>in</strong> (Abb. 1) 67 .<br />

Abbildung 1 Entwicklung <strong>der</strong> Gefangenenzahlen 1929 – 1938 (<strong>in</strong> Mio.)<br />

Die obere L<strong>in</strong>ie zeigt den Verlauf für die <strong>Besserungsarbeitslager</strong> (ITL), die untere für die Vollzugsanstalten<br />

<strong>der</strong> Abteilung für Haftanstalten (OMS) des NKWD<br />

Es sei angemerkt, dass aus Regierungssicht die Beschleunigung <strong>der</strong> genannten Projekte de facto<br />

e<strong>in</strong>e Zwangsmaßnahme darstellte. <strong>Das</strong> gilt zum<strong>in</strong>dest für die Arbeiten des Dalstroi und den Bau<br />

<strong>der</strong> BAM. Tatsächlich konnte Holz als Hauptexportartikel jener Zeit nicht mehr den steigenden<br />

F<strong>in</strong>anzbedarf decken, um die Mo<strong>der</strong>nisierung <strong>der</strong> Industrie voranzutreiben. Die Erschließung<br />

weiterer Exportartikel erfor<strong>der</strong>te jedoch erheblichen Kapital- und Zeitaufwand. E<strong>in</strong>zig <strong>der</strong><br />

Oberlauf <strong>der</strong> Kolyma bot <strong>in</strong> den 1930er Jahren ausgezeichnete, geologisch fundierte Perspektiven<br />

für Goldlagerstätten. H<strong>in</strong>sichtlich des Baus <strong>der</strong> BAM war die Dr<strong>in</strong>glichkeit dieser Arbeiten mit<br />

den plötzlichen militärstrategischen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> Fernost und <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region<br />

Primorje begründet. 1930/31 wurde die Mandschurei durch die Japaner besetzt, damit e<strong>in</strong>her g<strong>in</strong>g<br />

<strong>der</strong> Verlust <strong>der</strong> Ostch<strong>in</strong>esischen Eisenbahn, <strong>der</strong> wichtigsten Magistrale, die den e<strong>in</strong>zigen<br />

66 Befehl 287/s <strong>der</strong> OGPU vom 01.04.32; Befehl 889/s <strong>der</strong> OGPU vom 14.09.32; Erlass des Rates <strong>der</strong><br />

Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> 1639/333ss vom 25.10.32 (GARF. F. 5446. Op. 57. D. 21. L. 23); Befehl 1020/s <strong>der</strong><br />

OGPU vom 10.11.32.<br />

67 Für die Darstellung <strong>der</strong> Insassenzahlen wurden die Angaben des Zentralarchivs des FSB (F. 2. Op. 8. D. 104. L.<br />

27; F. 3. D. 312. L. 94) und des GARF (F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 1, 20–22; D. 2740. L. 17–57; D. 2919. L. 48; D.<br />

2920. L. 40, 148, 178; D. 2922. L. 2) verwendet.<br />

30


Großhafen <strong>in</strong> Fernost sowie die Basis <strong>der</strong> Pazifikflotte <strong>in</strong> Wladiwostok mit Sibirien und den<br />

zentralen Regionen des Landes verband (<strong>der</strong> offizielle Verkauf <strong>der</strong> Eisenbahn erfolgte etwas<br />

später). Die verbliebene Transsibirische Eisenbahn war vielerorts nicht nur e<strong>in</strong>gleisig, son<strong>der</strong>n<br />

verlief zudem auf über 1.000 km direkt an <strong>der</strong> Staatsgrenze zur Mandschurei. Bedenkt man<br />

außerdem, dass das südliche Sachal<strong>in</strong> zu Japan gehörte, wird die strategische Bedeutung des<br />

zweiten, von <strong>der</strong> Grenze weit entfernten Zugangs zur Pazifikküste verständlich. Deshalb entbehrt<br />

die landläufige Me<strong>in</strong>ung darüber, die größten Bauprojekte <strong>der</strong> dreißiger Jahre hätten dem E<strong>in</strong>satz<br />

<strong>der</strong> riesigen Gefangenen- und Verbanntenzahl gedient, je<strong>der</strong> Grundlage, zum<strong>in</strong>dest für den<br />

untersuchten Zeitraum. Nicht umsonst wird <strong>in</strong> <strong>der</strong> bereits erwähnten Verfügung Nr. 1639/333ss<br />

des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 25. Oktober 1932 68 für die Erfüllung <strong>der</strong><br />

Hauptaufgaben (es folgt e<strong>in</strong>e Aufzählung von sechs Objekten) unter an<strong>der</strong>em das direkte Verbot<br />

ausgesprochen, die OGPU "mit irgendwelchen neuen Arbeiten " zu beauftragen.<br />

In <strong>der</strong> Literatur f<strong>in</strong>det sich auch e<strong>in</strong>e gewissermaßen entgegengesetzte These. Vere<strong>in</strong>facht<br />

ausgedrückt besteht diese dar<strong>in</strong>, dass die Regierung mit ihrer Verfolgungspolitik die für die<br />

Planerfüllung <strong>der</strong> OGPU-NKWD erfor<strong>der</strong>liche Gefangenenzahl lieferte. Derartige Behauptungen<br />

s<strong>in</strong>d umstritten. Zweifellos gab es e<strong>in</strong>e angenehme Wechselwirkung zwischen den<br />

Wirtschaftsergebnissen <strong>der</strong> Lager und <strong>der</strong> Zahl <strong>der</strong> zu Zwangsarbeit Verurteilten. Diese wurde<br />

dar<strong>in</strong> deutlich, dass durch die "erfolgreiche" Bautätigkeit <strong>der</strong> Lager die Regierung sich veranlasst<br />

sah, die <strong>in</strong> den 1920er Jahren geltende Beschränkung <strong>der</strong> zulässigen Häftl<strong>in</strong>gszahl aufzuheben<br />

(siehe Abschnitt "SYSTEM DER HAFTANSTALTEN DER RSFSR UND UDSSR 1917 –<br />

1930"). Indirekt wurde dadurch die von <strong>der</strong> Regierung verordnete staatliche Repressionspolitik<br />

verschärft und wirkte sich folglich auf das Wachstumstempo <strong>der</strong> Insassenzahlen aus. <strong>Das</strong><br />

schnelle Wachstum des Lagersystems 1933 – 1934 (Abb. 1) stützte sich zu e<strong>in</strong>em großen Teil auf<br />

die zu trauriger Berühmtheit gelangte Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates<br />

<strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 7. August 1932 "Über den Schutz des Vermögens von<br />

staatlichen Unternehmen , Kolchosen, Kooperativen und über die Stärkung des öffentlichen<br />

(sozialistischen) Eigentums" 69 sowie auf weitere repressive Gesetze, die als Strafmaß<br />

Lagerstrafen vorsahen. Allerd<strong>in</strong>gs folgt daraus nicht, dass ohne die Existenz des Lagersystems<br />

die entsprechenden Wirtschaftsvorhaben entwe<strong>der</strong> nicht realisiert worden wären, o<strong>der</strong> für <strong>der</strong>en<br />

Umsetzung freie Arbeiter hätten e<strong>in</strong>gesetzt werden müssen. Den Machthabenden stand alle<strong>in</strong><br />

mehr als e<strong>in</strong>e Million Son<strong>der</strong>siedler und ihnen gleich gestellte Kategorien von<br />

"Son<strong>der</strong>kont<strong>in</strong>genten" zur Verfügung. Ihr E<strong>in</strong>satz zu Lagerarbeiten wurde <strong>in</strong> allen<br />

Grundsatzbefehlen <strong>der</strong> ersten Hälfte <strong>der</strong> 1930er Jahre über die Organisation <strong>der</strong> Lagerproduktion<br />

verankert 70 . <strong>Das</strong>s ihr Anteil an <strong>der</strong> eigentlichen Lagerproduktion ger<strong>in</strong>g war, erklärt sich am<br />

ehesten damit, dass Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> ausreichen<strong>der</strong> Zahl vorhanden waren. Hätten letztere gefehlt,<br />

hätte dem Aufbau von zentralisierten Produktionsstrukturen, die, analog zu den Lagerstrukturen,<br />

68 GARF. F. 5446. Op. 57. D. 21. L. 23.<br />

69 Sobranie zakonov SSSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1932. Nr. 62. S. 360. Nach dieser Verordnung, die als<br />

Strafmaß entwe<strong>der</strong> 10 Jahre Haft o<strong>der</strong> die Todesstrafe vorsah, wurden <strong>in</strong> den Jahren 1932–1933 alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> RSFSR<br />

mehr als 125.000 Personen verurteilt (V. P. Popov: Gosudarstvennyj terror v sovetskoj Rossii, 1923-1953<br />

[Staatsterror <strong>in</strong> Sowjetrussland. 1923-1953]. In: Otečestvennyj archiv [Vaterländisches Archiv]. 1992. Nr. 2. S. 20–<br />

31).<br />

70 Siehe z.B. Befehl 1020/s <strong>der</strong> OGPU vom 10.11.32 über die E<strong>in</strong>richtung des BAM-Lag; Verfügung 1423/423ss des<br />

Rates für Arbeit und Verteidigung vom 16.11.32 über die E<strong>in</strong>richtung des Uchta-Petschora-Komb<strong>in</strong>ats <strong>der</strong> OGPU<br />

(GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1812. L. 24–29).<br />

31


auf <strong>der</strong> Zwangsarbeit <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>sie<strong>der</strong> beruht hätten, trotzdem nichts entgegengestanden 71 .<br />

Deshalb muss gerechterweise von e<strong>in</strong>em komplexen Beziehungsgeflecht gesprochen werden, das<br />

sich auf den Entscheidungsprozess <strong>der</strong> führenden Machtorgane sowohl im Bereich <strong>der</strong><br />

Bautätigkeit <strong>der</strong> Lager als auch im Bereich <strong>der</strong> Repressionspolitik auswirkte, und je<strong>der</strong> E<strong>in</strong>zelfall<br />

bedarf e<strong>in</strong>er geson<strong>der</strong>ten Analyse 72 . Für die weiteren Ausführungen muss konstatiert werden,<br />

dass im Laufe des Jahres 1933 die <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) <strong>der</strong> OGPU<br />

zugeordneten Lager den Typ <strong>der</strong> Vollzugsanstalten im Land dom<strong>in</strong>ierten.<br />

Tatsächlich befanden sich am 1. Januar 1934 vierzehn <strong>Besserungsarbeitslager</strong> (sowie die<br />

Waigatsch-Expedition) unter <strong>der</strong> direkten Zuständigkeit des GULAG. Die meisten davon,<br />

<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die größten, betreuten Produktionse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> OGPU, die von <strong>der</strong> Regierung<br />

mit äußerst wichtigen Aufgaben betraut worden waren. Dazu gehörten das Weißmeer-Ostsee-<br />

Komb<strong>in</strong>at <strong>der</strong> OGPU, das Uchta-Petschora-Komb<strong>in</strong>at <strong>der</strong> OGPU, die Bauverwaltung <strong>der</strong> BAM<br />

<strong>der</strong> OGPU u.a. Am 23. Mai 1930 wurde alle diese Lagere<strong>in</strong>richtungen formal an die<br />

bevollmächtigten Vertretungen (PP) <strong>der</strong> OGPU vor Ort übergeben. Doch da gemäß diesem<br />

Befehl die bevollmächtigen Vertretungen <strong>der</strong> OGPU e<strong>in</strong>erseits über ke<strong>in</strong>e eigenen<br />

Leitungsstrukturen verfügten und an<strong>der</strong>erseits die Leitung <strong>der</strong> F<strong>in</strong>anzen, Produktion sowie<br />

Verwaltung und Haushaltsführung <strong>der</strong> ITL <strong>der</strong> Lagerverwaltung übertragen wurden, hatten<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich bereits 1930 die bevollmächtigten Vertretungen <strong>der</strong> OGPU nur noch e<strong>in</strong>en<br />

unbedeutenden E<strong>in</strong>fluss auf das Wirken <strong>der</strong> Lager 73 . Dieser E<strong>in</strong>fluss nahm weiter ab, nachdem im<br />

Februar 1931 die Leitung <strong>der</strong> gesamten tschekistischen Arbeit <strong>in</strong> den ITL <strong>der</strong> OGPU an die<br />

Geheime Operative Verwaltung <strong>der</strong> OGPU übergeben wurde. Diese wie<strong>der</strong>um hatte die Leitung<br />

"über den Leiter des GULAG <strong>der</strong> OGPU und des ihm unterstellten Apparats" auszuüben 74 . Auch<br />

das NORDÖSTLICHE ITL, das Arbeitskräfte für den "Dalstroi" 75 lieferte und diesem <strong>in</strong> allen<br />

wichtigen Fragen unterstellt war, befand sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Zuständigkeit des GULAG, nahm jedoch<br />

e<strong>in</strong>e Son<strong>der</strong>stellung e<strong>in</strong>.<br />

Am 1. Januar 1934 waren 510.309 Menschen <strong>in</strong> den Lagern <strong>in</strong>haftiert, ohne Berücksichtigung<br />

jener Häftl<strong>in</strong>ge, die sich auf Transport befanden 76 . Somit hatte sich im Vergleich zum Juli 1929<br />

die Insassenzahl <strong>in</strong> den Lagern ungefähr um das Dreiundzwanzigfache erhöht und im Vergleich<br />

71 Zum Vergleich: zum 1. Januar 1932 waren <strong>in</strong> den Lagern <strong>der</strong> OGPU 272.500 Personen <strong>in</strong>haftiert (Arbeitsunfähige<br />

e<strong>in</strong>gerechnet) (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2920. L. 148), gleichzeitig befanden sich <strong>in</strong> den Son<strong>der</strong>siedlungen<br />

1.317.022 Personen, von denen mehr als 400.000 den Arbeitsfähigen zuzurechnen s<strong>in</strong>d (V. N. Zemskov: "Kulackaja<br />

ssylka" v 30-e gody ["Kulakenverbannung" <strong>in</strong> den 30-er Jahren] In: Sociologičeskie issledovanija [Soziologische<br />

Forschungen]. 1991. 10. S. 3–21). Es sei ebenfalls angemerkt, dass <strong>in</strong> den 1940-er Jahren ähnliche E<strong>in</strong>richtungen<br />

Erfolge aufwiesen (siehe z.B. BAKAL-ITL und WEISSMEERBAU UND ITL).<br />

72 Es wurde bereits vermerkt, dass im Rahmen <strong>der</strong> gültigen Rechtsnormen die OGPU E<strong>in</strong>fluss hatte auf die Zahl <strong>der</strong><br />

zu Lagerhaft Veruteilten. Bei Bedarf konnte sie auch Prozesse gegen entsprechende Fachleute anstrengen (siehe auch<br />

Fußnote 53), doch davon war <strong>der</strong> Großteil aller Häftl<strong>in</strong>ge nicht betroffen.<br />

73 Befehl 169/81 <strong>der</strong> OGPU vom 23.05.30.<br />

74 Befehl 73/37 <strong>der</strong> OGPU vom 15.02.31.<br />

75 Der Dalstroi war zunächst dem Rat für Arbeit und Verteidigung (STO) untergeordnet und nach dessen Auflösung<br />

dem Rat <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> (siehe Lagere<strong>in</strong>trag "BAUHAUPTVERWALTUNG FÜR DEN FERNEN<br />

NORDEN").<br />

76 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 22. Die "Besche<strong>in</strong>igung über die Insassenzahl <strong>in</strong> den Lagern des NKWD (für<br />

den Zeitraum vom 01.01.34 bis 01.01.39)" stammt von 1939. Aber wahrsche<strong>in</strong>lich enthalten die Angaben für 1934<br />

nicht nur die Gefangenen, son<strong>der</strong>n auch die <strong>in</strong> den ITL <strong>in</strong>haftierten Zwangs- und Son<strong>der</strong>siedler. Vgl. Angaben und<br />

Gesamtmonatsdurchschnitt für Januar 1934, <strong>der</strong> die o.a. Siedler be<strong>in</strong>haltet und 509.400 Personen betrug (Ebenda. D.<br />

2922. L. 2).<br />

32


zum Beg<strong>in</strong>n <strong>der</strong> Hauptarbeiten am Weißmeer-Ostsee-Kanal mehr als verdoppelt 77 . Die größte<br />

Rolle <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Lagerstrukturen spielten die Riesenlager: Fast die Hälfte aller Häftl<strong>in</strong>ge<br />

(221.039 Personen) war <strong>in</strong> den größten drei ITL (DMITROW-ITL, WEISSMEER-OSTSEE-ITL<br />

und BAIKAL-AMUR-ITL) konzentriert. Parallel dazu gab es auch kle<strong>in</strong>e Lager mit e<strong>in</strong>er<br />

Belegung von bis zu 5.000 Häftl<strong>in</strong>gen 78 . Die Hauptwirtschaftsbereiche waren <strong>in</strong> dieser Zeit <strong>der</strong><br />

Bau wichtiger Verkehrswege (hauptsächlich Kanäle und ab 1934 Eisenbahnstrecken) sowie die<br />

Holzgew<strong>in</strong>nung. Außerdem gewannen die Landwirtschaft (e<strong>in</strong>schließlich <strong>der</strong><br />

landwirtschaftlichen Hilfswirtschaften), die För<strong>der</strong>ung von Bodenschätzen und <strong>der</strong> Industriebau<br />

an Bedeutung. Die Produktion von Konsumgütern und die Fischerei entwickelten sich weiter 79 .<br />

Allmählich verän<strong>der</strong>t sich auch die Geographie des Lagerkomplexes. Immer mehr Lager<br />

entstanden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe bedeuten<strong>der</strong> Industriezentren. Als wichtigster Schritt galt 1931 die<br />

E<strong>in</strong>richtung des SWIR-ITL <strong>in</strong> 200 km Entfernung von Len<strong>in</strong>grad und des TEMNIKOWSKI-ITL<br />

400 km von Moskau entfernt. Mit dem Beschluss über die E<strong>in</strong>richtung des DMITROW-ITL, <strong>in</strong><br />

dessen Tätigkeitsbereich auch Objekte im Zentrum Moskaus fielen, wurden die geographischen<br />

Beschränkungen beim E<strong>in</strong>satz von Gefangenenarbeit faktisch aufgehoben. Anfang 1934 waren <strong>in</strong><br />

den drei letztgenannten Lagern mehr als 30% aller Lagerhäftl<strong>in</strong>ge konzentriert; zum 1. Januar<br />

1934 betrug ihre Zahl 157.845 80 .<br />

Die zentrale Leitungsstruktur <strong>der</strong> Haftanstalten <strong>der</strong> OGPU nahm an Umfang und Komplexität zu.<br />

Gemäß dem seit November 1932 geltenden Personalplan standen <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager<br />

und Arbeitssiedlungen (GULAGiTP) e<strong>in</strong> Leiter <strong>der</strong> Zentralbehörde, e<strong>in</strong> Stellvertreter, zwei<br />

Assistenten des Leiters, e<strong>in</strong> Sekretariat und zehn Abteilungen zu, also <strong>in</strong>sgesamt 253 81 gegenüber<br />

87 Personalstellen im Sommer 1930 82 .<br />

Neben den Lagern wurden ab Mitte 1931 alle Son<strong>der</strong>siedler und später auch alle vergleichbaren<br />

Kategorien unter die Leitung des GULAG gestellt. Dabei wurde <strong>der</strong> GULAG 1931–1933 zwei<br />

Mal umbenannt (siehe E<strong>in</strong>trag zu "HAUPTVERWALTUNG DER OGPU-NKWD-MWD-<br />

LAGER" <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager"), und im Zentralapparat wurde e<strong>in</strong>e Abteilung für Son<strong>der</strong>siedler<br />

e<strong>in</strong>gerichtet 83 . Teilweise wurden Son<strong>der</strong>siedler auf jenen großen Objekten <strong>der</strong> OGPU e<strong>in</strong>gesetzt,<br />

wo Lagerhäftl<strong>in</strong>ge die Hauptarbeitskraft waren (Weißmeer-Ostsee-Komb<strong>in</strong>at, Bauverwaltung <strong>der</strong><br />

BAM u.a.). Doch <strong>der</strong> größte Teil verteilte sich auf e<strong>in</strong>e Vielzahl von Spezialsiedlungen und<br />

77 Hauptgrund für diesen Anstieg <strong>der</strong> Gefangenenzahl war die allgeme<strong>in</strong>e Machtpolitik, die e<strong>in</strong>en Großteil <strong>der</strong><br />

Bevölkerung sämtlicher Lebensgrundlagen beraubte. Es sei an den Hunger <strong>der</strong> Jahre 1932–1933 er<strong>in</strong>nert, an die<br />

Massenflucht <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>siedler (alle<strong>in</strong> 1932 und 1933 flohen 420.000 Son<strong>der</strong>siedler, von denen ca. 90.000 wie<strong>der</strong><br />

gefangen wurden; siehe V. N. Zemskov: "Kulackaja ssylka" v 30-e gody ["Kulakenverbannung" <strong>in</strong> den 30-er Jahren]<br />

In: Sociologičeskie issledovanija [Soziologische Forschungen]. 1991. Nr. 10. S. 3–21) und an die<br />

Massenverbannungen im Zuge <strong>der</strong> "Säuberung <strong>der</strong> Staatsgrenze" und bei <strong>der</strong> Ausstellung von Personalausweisen.<br />

78 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 20. Zum 1. Januar 1934 gab es im DMITROW-ITL 88.534 Gefangene, im<br />

SAROWO-SONDERQUARANTÄNELAGER DER OGPU — 1.936 und im Lager <strong>der</strong> WAIGATSCH-<br />

EXPEDITION — 1.422 Personen.<br />

79 Ebenda. D. 2919. L.1–48; D. 2920. L. 1–188; D. 2922. L. 9–29; Zentralarchiv des FSB. F. 2. Op. 8. D. 104. L. 27–<br />

40. Siehe auch entsprechende Lagere<strong>in</strong>träge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager".<br />

80 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 22.<br />

81 Befehl 271 <strong>der</strong> OGPU vom 25.11.32.<br />

82 Befehl 2 <strong>der</strong> Lagerverwaltung (ULAG) <strong>der</strong> OGPU vom 19.07.30.<br />

83 Befehl 330/198 <strong>der</strong> OGPU vom 02.06.31. Mehr über die Son<strong>der</strong>siedler siehe V. N. Zemskov: "Kulackaja ssylka" v<br />

30-e gody ["Kulakenverbannung" <strong>in</strong> den 30-er Jahren] In: Sociologičeskie issledovanija [Soziologische<br />

Forschungen]. 1991. Nr. 10. S. 3–21.<br />

33


wurde entwe<strong>der</strong> <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>en, mit Hilfe des GULAG erbauten Werkstätten o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landwirtschaft<br />

zu Vertragsarbeiten e<strong>in</strong>gesetzt.<br />

Somit führte die Entwicklung des GULAG bis 1934 dazu, dass die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verfügung von 1929<br />

enthaltene Vorgabe, alle Haftanstalten <strong>in</strong> zwei unabhängige und klar abgegrenzte <strong>System</strong>e (Lager<br />

und Kolonien) aufzuteilen, nachhaltig verletzt wurde. Mit <strong>der</strong> Ausweitung se<strong>in</strong>er Tätigkeit auf<br />

die zentralen Regionen, <strong>der</strong> Proklamation über die erfolgreiche Umerziehung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge<br />

("Umschmiedung" 84 ) und <strong>der</strong> Leitung zahlreicher dezentralisierter Son<strong>der</strong>siedlungen eroberte <strong>der</strong><br />

GULAG all jene Nischen, die diese Verfügung den Haftanstalten unter Leitung <strong>der</strong><br />

Volkskommissariate <strong>der</strong> Republiken zugewiesen hatte.<br />

Wie im Beitrag "SYSTEM DER HAFTANSTALTEN DER RSFSR UND UDSSR 1917 – 1930"<br />

erwähnt, wurden nach Auflösung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen NKWD <strong>in</strong> den Unionsrepubliken am<br />

15. Dezember 1930 diese Haftanstalten den republikanischen Volkskommissariaten für Justiz<br />

(NKJu) unterstellt, die hierfür Hauptverwaltungen für Besserungsarbeitsanstalten (GUITU)<br />

schufen 85 . Ziel dieser Neuordnung war es, all jene Strukturen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Behörde<br />

zusammenzuführen, die für die Festsetzung von Strafmaßnahmen sowie <strong>der</strong>en Vollzug an als<br />

wenig gefährlich e<strong>in</strong>gestuften Verurteilten verantwortlich war. Auf diese Weise wurde die<br />

Regulierung jener Häftl<strong>in</strong>gsströme vere<strong>in</strong>facht, für die folgende Vollzugsarten <strong>in</strong> Frage kamen:<br />

- Haftanstalt (bei relativ kurzen Haftstrafen bis zu drei Jahren),<br />

- Zwangsarbeit (im Sprachgebrauch <strong>der</strong> Volkskommissariate für Justiz als Besserungsarbeit<br />

bezeichnet) ohne Freiheitsentzug 86 .<br />

E<strong>in</strong>e Zustandsbeschreibung <strong>der</strong> GUITU ist aufgrund <strong>der</strong> dürftigen Quellenlage nur <strong>in</strong><br />

allgeme<strong>in</strong>en Zügen möglich 87 . Ende 1934 waren <strong>der</strong> GUITU des NKJu <strong>der</strong> RSFSR 524<br />

Haftanstalten unterstellt, die vor Ort von den Gebiets- o<strong>der</strong> Regionalverwaltungen <strong>der</strong><br />

Besserungsarbeitsanstalten (UITU) geleitet wurden 88 . In den Besserungsarbeitsanstalten (ITU)<br />

waren 205.710 zu Freiheitsstrafen Verurteilte <strong>in</strong>haftiert (ohne Berücksichtigung M<strong>in</strong><strong>der</strong>jähriger),<br />

von denen 69.595 <strong>in</strong> so genannten geschlossenen ITU (d.h. Gefängnissen) e<strong>in</strong>saßen. Davon saßen<br />

61.424 ihre Haftstrafe ab, und 8.171 befanden sich auf Transport. Außerdem befanden sich <strong>in</strong><br />

84 Siehe Erlass des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare vom 02.08.33 (Izvestija vom 05.08.1933) und Erlass des Zentralen<br />

Exekutivkomitees vom 04.08.33 (Pravda vom 05.08.1933).<br />

85 GARF. F. 393. Op. 84. D. 115. L.505; Sobranie uzakonenij SSSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1930. Nr. 60.<br />

S. 640; Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1932. Nr. 53. S. 237. In <strong>der</strong><br />

Transkaukasischen SFSR sah die Leitungsstruktur <strong>der</strong> Vollzugsanstalten an<strong>der</strong>s aus (siehe Abschnitt "SYSTEM<br />

DER HAFTANSTALTEN DER RSFSR UND UDSSR 1917 – 1930").<br />

86 A. Ėstr<strong>in</strong>, V. Trachterev: Razvitie sovetskoj ispravitel'no-trodovoj politiki kak časti sovetskoj ugolovnoj politiki<br />

[Entwicklung <strong>der</strong> sowjetischen Besserungsarbeitspolitik als Teil <strong>der</strong> sowjetischen Strafpolitik]. In: Ot tjurem k<br />

vospitatel'nym učreždenijam [Von Gefängnissen zu Erziehungsanstalten]. A. Ja. Vyš<strong>in</strong>skij (Hrsg.). Moskau, 1934. S.<br />

17–71.<br />

87 Im GARF wurden folgende Bestände analysiert: Volkskommissariat für Justiz (NKJu) <strong>der</strong> RSFSR (F. 353),<br />

Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) <strong>der</strong> RSFSR (F. 4042) (die Dokumente <strong>der</strong> Volkskommissariate aus den<br />

an<strong>der</strong>en Sowjetrepubliken fehlen <strong>in</strong> den Moskauer Archiven) sowie <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) des<br />

NKWD-MWD (F. 9414). In den Beständen <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Besserungsarbeitsanstalten (GUITU) des NKJu<br />

<strong>der</strong> RSFSR wurden lediglich Unterlagen gefunden, die <strong>der</strong>en Auflösung Ende 1934 und die Übergabe <strong>der</strong><br />

Haftanstalten an die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> dokumentieren. Die<br />

Veröffentlichungen jener Jahre s<strong>in</strong>d wenig <strong>in</strong>formativ und tendenziös.<br />

88 GARF. F. 353. Op. 10. D. 60. L. 2; Sobranie uzakonenij RSFSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> RSFSR]. 1932. Nr. 53. S.<br />

237.<br />

34


denselben "Institutionen" 51.400 Untersuchungshäftl<strong>in</strong>ge 89 . In den Dokumenten f<strong>in</strong>den sich ke<strong>in</strong>e<br />

Angaben über m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige Häftl<strong>in</strong>ge. Für sie waren maximal 9.573 Plätze 90 <strong>in</strong> geson<strong>der</strong>ten<br />

Vollzugsanstalten vorgesehen. Da <strong>in</strong> den an<strong>der</strong>en Haftanstalten <strong>der</strong> GUITU des NKJu <strong>der</strong><br />

RSFSR das Verhältnis zwischen Belegungsplätzen und tatsächlicher Belegung annähernd gleich<br />

war (z.B. waren für das geschlossene ITU 115.883 Plätze vorgesehen, während die tatsächliche<br />

Belegung 121.240 Personen betrug 91 ), kann man wahrsche<strong>in</strong>lich von annähernd 10.000<br />

m<strong>in</strong><strong>der</strong>jährigen Häftl<strong>in</strong>gen ausgehen. Somit verbüßten Ende 1934 <strong>in</strong>sgesamt ca. 216.000<br />

Verurteilte ihre Haftstrafe <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> GUITU des NKJu <strong>der</strong> RSFSR; und unter<br />

Berücksichtigung <strong>der</strong> Untersuchungshäftl<strong>in</strong>ge ergibt sich e<strong>in</strong>e Zahl von etwa 267.000 Personen.<br />

Ausgehend von diesen Angaben und unter Berücksichtigung des Anteils <strong>der</strong> RSFSR an <strong>der</strong><br />

Bevölkerung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> sowie des Umstandes, dass wegen <strong>der</strong> Konzentration von Lagern und<br />

Verbannungsorten von Son<strong>der</strong>siedlern auf dem Territorium <strong>der</strong> RSFSR <strong>der</strong> prozentuale Anteil<br />

von Gefangenen an <strong>der</strong> Gesamtbevölkerung über dem Durchschnitt <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion lag 92 ,<br />

kann man e<strong>in</strong>e Gesamtzahl von 400.000 Gefangenen <strong>in</strong> allen ITU <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> annehmen, von<br />

denen 300.000 rechtskräftig verurteilte Häftl<strong>in</strong>ge waren. In den durch die Verordnung von 1929<br />

zur Hauptvollzugsart erklärten Kolonien h<strong>in</strong>gegen waren landesweit ca. 200.000 Personen<br />

<strong>in</strong>haftiert.<br />

Ende 1934 gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong> RSFSR 668.841 Verurteilte zu Besserungsarbeiten ohne Inhaftierung,<br />

die den Besserungsarbeitsabteilungen (OITR) <strong>der</strong> entsprechenden regionalen UITU unterstellt<br />

waren. Davon galten 80.581 Personen als vorläufig registriert (d.h. sie waren bereits verurteilt,<br />

hatten aber noch ke<strong>in</strong>e Anordnung <strong>der</strong> OITR zur Arbeitsaufnahme erhalten), nach 164.781<br />

Personen wurde noch gefahndet, und 423.779 Personen wurden <strong>in</strong> den operativen Listen geführt,<br />

d.h. sie verbüßten bereits ihr Strafmaß. Von den operativ erfassten Verurteilten waren 406.273<br />

Personen zu Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt: davon 338.641 (die überwiegende Mehrheit) an ihrem<br />

Arbeitsplatz, 54.526 zu Vertragsarbeiten mit Wirtschaftsorganisationen und nur 13.106 <strong>in</strong><br />

OITR-eigenen Betrieben 93 .<br />

<strong>Das</strong> ger<strong>in</strong>ge Wachstum <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gszahlen im Laufe von fünf Jahren und <strong>der</strong> hohe Anteil <strong>der</strong><br />

Verurteilten zu Besserungsarbeiten ohne Inhaftierung erklärt sich durch die wirtschaftliche Lage<br />

<strong>der</strong> e<strong>in</strong>zelnen GUITU, die große Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> Erschließung eigener Arbeitsbereiche<br />

hatten. Gemäß den e<strong>in</strong>zigen auff<strong>in</strong>dbaren Angaben hatten am 1. August 1932 26,3% aller<br />

Verurteilten zu Freiheitsstrafen überhaupt ke<strong>in</strong>e Arbeit, 16,2% waren Arbeiten zum Unterhalt<br />

89 GARF. F. 353. Op. 10. D. 60. L. 2, 13, 14. Die Genauigkeit <strong>der</strong> gemachten Angaben ist trügerisch, da im selben<br />

Dokument (L. 13) als Gesamtzahl aller Gefangenen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Besserungsarbeitsanstalt geschlossenen Typs 121.240<br />

angegeben wird, während die Summe aller verurteilten Häftl<strong>in</strong>ge, Untersuchungs- und Transitgefangenen <strong>in</strong>sgesamt<br />

120.995 Personen ergibt.<br />

90 Ebenda. L. 54. Es sei angemerkt, dass e<strong>in</strong>ige Artikel des Strafgesetzbuches für M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige ab 12 Jahren e<strong>in</strong>e<br />

Haftstrafe von mehr als drei Jahren mit Verbüßung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ITL vorsahen und diese daher nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er getrennten<br />

Statistik geführt wurden.<br />

91 Ebenda. L. 13.<br />

92 E<strong>in</strong> höherer Anteil an Häftl<strong>in</strong>gen an <strong>der</strong> Gesamtzahl aller Gefangenen <strong>der</strong> ehemaligen GUITU des NKJu <strong>der</strong><br />

RSFSR im Vergleich zu ähnlichen E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Unionsrepubliken wird <strong>in</strong> den statistischen Berichten<br />

<strong>der</strong> OMS des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> für das gesamte Jahr 1935 gleichmäßig verzeichnet (GARF. F. 9414. Op. 1. D.<br />

2740. L. 17, 29, 30).<br />

93 GARF. F. 353. Op. 10. D. 60. L. 117.<br />

35


<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Haftanstalten zugeordnet und nur 57,5% arbeiteten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Produktion 94 . Die<br />

Betriebe <strong>der</strong> GUITU waren lokal angebunden, und alle<strong>in</strong> dieser Umstand setzte sie, im Vergleich<br />

zu den führenden Bauvorhaben, auf denen Arbeitskräfte aus den Lagern <strong>der</strong> OGPU e<strong>in</strong>gesetzt<br />

wurden, wesentlich schlechteren Bed<strong>in</strong>gungen aus. Somit war auch die Planerfüllung <strong>in</strong> diesen<br />

Betrieben weitaus ger<strong>in</strong>ger. Diese betrug für alle GUITU des NKJu <strong>der</strong> RSFSR nicht mehr als<br />

70% und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Textil<strong>in</strong>dustrie 20%. Die Arbeitsproduktivität <strong>in</strong> den Kolonien mit<br />

landwirtschaftlichem Schwerpunkt betrug nur 60% im Vergleich zur Produktivität von<br />

Kolchosen 95 . E<strong>in</strong> noch aufschlussreicheres Bild über die Haupte<strong>in</strong>nahmequelle <strong>der</strong> GUITU liefert<br />

uns das Verhältnis zwischen den Verurteilten zu Besserungsarbeiten ohne Inhaftierung, die ihr<br />

Strafmaß am eigenen Arbeitsplatz verbüßten (<strong>in</strong> diesem Fall lief das Strafmaß auf e<strong>in</strong>e Geldstrafe<br />

h<strong>in</strong>aus, die sich jedoch nicht <strong>in</strong> absoluten Ziffern, son<strong>der</strong>n <strong>in</strong> prozentualen Abzügen vom<br />

Arbeitslohn ausdrückte) und jenen, die <strong>in</strong> OITR-eigenen Betrieben arbeiteten. Ende 1934 betrug<br />

z.B. dieses Verhältnis <strong>in</strong> <strong>der</strong> RSFSR 26:1! Und da die GUITU und die Gerichte demselben<br />

Volkskommissariat unterstanden, hatte das Auswirkungen auf die gerichtliche Praxis. Ende 1934<br />

betrug somit die Insassenzahl <strong>in</strong> den republikanischen GUITU weniger als die Hälfte im<br />

Vergleich zur Insassenzahl <strong>in</strong> den Lagern des GULAG. Wie aus <strong>der</strong> Abb. 1 ersichtlich, stieg dort<br />

h<strong>in</strong>gegen auch 1934 die Zahl <strong>der</strong> Gefangenen mit <strong>der</strong>selben Geschw<strong>in</strong>digkeit an wie 1933 (ca.<br />

300.000 Personen im Gewahrsam <strong>der</strong> GUITU gegenüber 700.000 im GULAG) 96 . Nicht e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>ziges großes Wirtschaftsprojekt wurde von den Haftanstalten des NKJu <strong>in</strong> Eigenregie<br />

durchgeführt 97 . Berücksichtigt man die oben beschriebene Expansion des GULAG, stellt sich die<br />

Übergabe aller Haftanstalten 98 (und gleichzeitig auch <strong>der</strong> Verurteilten zu Zwangsarbeiten ohne<br />

94 M. Kessler, V. Olejnik: Trud v ispravitel'no-trudovych učreždenijach SSSR [Arbeit <strong>in</strong> Besserungsarbeitsanstalten<br />

<strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. In: Ot tjurem k vospitatel'nym učreždenijam [Von Gefängnissen zu Erziehungsanstalten]. A. Ja.<br />

Vyš<strong>in</strong>skij (Hrsg.). Moskau, 1934. S. 120, 126.<br />

95 O. Gemppfer: Vyše tempy po vypolneniju programmy ITU po vypusku predmetov širpotreba [Schnellere<br />

Erfüllung des Programms <strong>der</strong> Besserungsarbeitsanstalten für die Herstellung von Konsumgütern]. In: Sovetskaja<br />

justicija [Sowjetische Justiz]. 1932. Nr. 30. S. 19; Auf <strong>der</strong> Versammlung <strong>der</strong> Agronomen aus<br />

Besserungsarbeitskolonien. In: Ebenda. 1934. Nr. 6. S. 10, 13. Auf diese Publikationen wurden die Autoren<br />

freundlicherweise von M. Jacobson h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

96 Zum 01.10.34 — 685.337, zum 01.01.35 — 725.483 Personen (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 20–22). Unsere<br />

Schätzungen <strong>der</strong> Gefangenen <strong>in</strong> den Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> NKJu <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Sowjetrepubliken<br />

entsprechen annähernd den Insassenzahlen, die <strong>der</strong> Abteilung für Haftanstalten (OMS) des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong><br />

unterstanden (ohne Berücksichtigung geson<strong>der</strong>ter Vollzugsanstalten für M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige): zum 01.01.35 — 293.506<br />

Gefangene, davon <strong>in</strong> <strong>der</strong> RSFSR — 201.107 (Ebenda. D. 2740. L. 29, 30); entsprechend beträgt <strong>der</strong><br />

Monatsdurchschnitt für Januar 1935 307.093 und 216.336 Personen (Ebenda. L. 17; alle Angaben wurden auf <strong>der</strong><br />

Grundlage <strong>der</strong> ebendort angeführten Quellendaten für die e<strong>in</strong>zelnen Regionen gemacht). Ausgehend von <strong>der</strong><br />

steigenden Insassenzahl <strong>in</strong> den Jahren 1935–1939 berücksichtigte die Abteilung für Haftanstalten des NKWD <strong>der</strong><br />

<strong>UdSSR</strong> jedoch nicht nur Verurteilte, son<strong>der</strong>n auch Untersuchungsgefangene, die sich <strong>in</strong> den ihr unterstellten<br />

Gefängnissen aufhielten (siehe auch Befehl 00122 des NKWD vom 29.10.34). Somit bedarf diese Frage weiterer<br />

Klärung.<br />

97 Die Entscheidung über die Verwendung von Häftl<strong>in</strong>gen, die <strong>der</strong> GUITU unterstellt waren, beim Bau des<br />

Magnitogorsker Metallurgiekomb<strong>in</strong>ats wurde erst im Sommer 1932 getroffen und sah die Entsendung von 15.000<br />

Personen vor (L. I. G<strong>in</strong>cberg: Po stranicam "osobych papok" Politbjuro CK KPSS(b). In: Voprosy istorii. [Die Seiten<br />

<strong>der</strong> „Son<strong>der</strong>mappen“ des Politbüros des ZK <strong>der</strong> KPdSU (B). In: Fragen <strong>der</strong> Geschichte]. 1996. Nr. 8. S. 16–30).<br />

Aber auch hier trat die GUITU lediglich als Arbeitskräftelieferant für MagnitogorStroi auf, und war dabei noch nicht<br />

e<strong>in</strong>mal <strong>der</strong> wichtigste, da bereits im Februar 1932 dem MagnitogorStroi mehr als 40.000 Son<strong>der</strong>siedler überstellt<br />

wurden (siehe die von I. E. Plotnikov herausgegebene Dokumentensammlung: Ssylka krest'jan na Ural v 1930-e<br />

gody [Die Verbannung von Bauern <strong>in</strong> den Ural <strong>in</strong> den 1930er Jahren]. In: Otečestvennaja istorija [Vaterländische<br />

Geschichte]. 1995. Nr. 1. S. 175).<br />

98 Genauer gesagt fast alle, da die Isolatoren <strong>der</strong> OGPU nach <strong>der</strong> Umstrukturierung 1934 nicht mehr <strong>der</strong><br />

Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) unterstanden (siehe Abschnitt "DAS GEFÄNGNISSYSTEM").<br />

36


Inhaftierung) an die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager sowie die Auflösung <strong>der</strong> GUITU <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

Volkskommissariate für Justiz <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Sowjetrepubliken als e<strong>in</strong>e durchaus logische<br />

Maßnahme dar.<br />

Die Zusammenführung aller Haftanstalten unter Leitung e<strong>in</strong>er Behörde erfolgte <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten<br />

Jahreshälfte 1934 <strong>in</strong> zwei Etappen. Auf Verfügung des Zentralen Exekutivkomitees <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong><br />

vom 10. Juli 1934 wurde das NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> gebildet. Die OGPU g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> das NKWD <strong>in</strong><br />

Form von drei Zentralbehörden über, von denen e<strong>in</strong>e die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager und<br />

Arbeitssiedlungen (GULAGiTP) war 99 . Dreie<strong>in</strong>halb Monate später wurden auf Verfügung des<br />

Zentralen Exekutivkomitees und des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 27. Oktober<br />

1934 die GUITU <strong>der</strong> NKJu <strong>in</strong> den Sowjetrepubliken aufgelöst und ihre Haftanstalten an den<br />

GULAG des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> übergeben 100 . Am 29. Oktober 1934 erhielt die Zentralbehörde<br />

e<strong>in</strong>e neue Bezeichnung: Hauptverwaltung für Lager, Arbeitssiedlungen und Haftanstalten des<br />

NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> (GULTPiMS o<strong>der</strong> GUITLTPiMS); <strong>in</strong>nerhalb dieser Behörde wurde die<br />

Abteilung für Haftanstalten (OMS) geschaffen. In den Republiken, Regionen und Gebieten<br />

wurden für die direkte Leitung <strong>der</strong> übernommenen Besserungsarbeitsanstalten <strong>in</strong> den<br />

entsprechenden NKWD und NKWD-Verwaltungen Leitungsorgane geschaffen, die man<br />

ebenfalls "Abteilungen für Haftanstalten" (OMS) bezeichnete 101 .<br />

Im Ergebnis <strong>der</strong> durchgeführten Neuordnung waren Anfang 1935 sämtliche Haftanstalten <strong>der</strong><br />

<strong>UdSSR</strong> e<strong>in</strong>em Volkskommissariat unterstellt – dem NKWD. Zusammen mit den Haftanstalten<br />

wurden auch verschiedene Produktionsobjekte dem NKWD übergeben – von Großbauten (BAM,<br />

Moskwa-Wolga-Kanal) bis h<strong>in</strong> zu kle<strong>in</strong>en landwirtschaftlichen Betrieben <strong>in</strong> Kolonien. Somit war<br />

das NKWD bereits seit se<strong>in</strong>er Gründung e<strong>in</strong> bedeutendes Wirtschafts- und Volkskommissariat.<br />

Anfang 1935 befanden sich somit die meisten Haftanstalten unter Zuständigkeit <strong>der</strong><br />

GUITLTPiMS. E<strong>in</strong>zig die Politisolatoren (<strong>in</strong> Susdal, Werchne-Uralsk, Jaroslawl, Tscheljab<strong>in</strong>sk<br />

und Tobolsk), die früher unter direkter Leitung <strong>der</strong> OGPU standen, <strong>der</strong> Innere Isolator beson<strong>der</strong>er<br />

Verwendung sowie <strong>der</strong> Butyrka- und Sretenka-Isolator <strong>in</strong> Moskau gehörten nicht dazu 102 .<br />

Gemäß dem am 10. Juli 1934 e<strong>in</strong>geführten Stellenplan waren für den Zentralapparat dieser<br />

Behörde folgende Personalstellen vorgesehen: e<strong>in</strong> Leiter, se<strong>in</strong>e zwei Stellvertreter und drei<br />

Assistenten, das Sekretariat, e<strong>in</strong>e Funksprechstelle und e<strong>in</strong>e Telefonzentrale sowie acht<br />

Abteilungen (Personalwesen, Erfassung und Verteilung, Wache, Kultur und Erziehung,<br />

Versorgung, Arbeitssiedlungen, Mediz<strong>in</strong> und Sanitätswesen sowie Kontrollen und Inspektionen),<br />

die Abteilung für Produktion und Bauwesen und die im Oktober 1934 zusätzlich geschaffene<br />

Abteilung für Haftanstalten. Insgesamt gab es ca. 380 Personalstellen 103 .<br />

99 Sobranie zakonov SSSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1934. Nr. 36. S. 283; Befehl 1 des NKWD vom<br />

11.07.34; Befehl 2 des NKWD vom 11.07.34; Befehl 0044 des NKWD vom 21.08.34.<br />

100 Sobranie zakonov SSSR [Gesetzessammlung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1934. Nr. 56. S. 421.<br />

101 Befehl 00122 des NKWD vom 29.10.34. Siehe auch Befehl 00175 des NKWD vom 16.12.34 und Befehl 001 des<br />

NKWD vom 13.07.34.<br />

102 Mehr dazu siehe Abschnitt "DAS GEFÄNGNISSYSTEM".<br />

103 Die ab 10.07.34 e<strong>in</strong>geführte Stellenbelegung, die für den Zentralapparat <strong>der</strong> Behörde e<strong>in</strong>en Personalbedarf von<br />

366 Personen vorschrieb, wurde per Befehl 56 AChU [АХУ] des NKWD vom 15.09.34 herausgegeben. In den<br />

Dokumenten, die die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er Abteilung für Haftanstalten <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Lager,<br />

Arbeitssiedlungen und Haftanstalten vorsahen, s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Angaben zum Personalbedarf <strong>der</strong> neuen Abteilung<br />

enthalten (siehe Befehl 00122 des NKWD vom 29.10.34; Befehl 00175 des NKWD vom 16.12.34 und Befehl 001<br />

des NKWD vom 13.07.34); ab 16.08.35 wurden <strong>der</strong> Abteilung 16 Personalstellen zugewiesen (Befehl 193 AChU<br />

[АХУ] des NKWD vom 22.08.35).<br />

37


Der von <strong>der</strong> OGPU übernommene Aufbau <strong>der</strong> Lagerleitung stellte sich als ziemlich kompliziert<br />

heraus. Ungeachtet <strong>der</strong> o.a. Übergangslösung blieben die Lager unter <strong>der</strong> territorialen<br />

Zuständigkeit <strong>der</strong> NKWD und NKWD-Verwaltungen auf Unions-, Regional- und Gebietsebene.<br />

Gleiches galt jedoch nicht für ihre Abteilungen für Haftanstalten (OMS)! Im Februar 1935 wurde<br />

<strong>in</strong> Usbekistan die Abteilung für Haftanstalten des usbekischen NKWD mit <strong>der</strong> Verwaltung des<br />

ZENTRALASIATISCHEN ITL zusammengeführt. Ziel dieser Umstrukturierung war jedoch die<br />

verbesserte Arbeit <strong>der</strong> usbekischen Haftanstalten und ke<strong>in</strong>eswegs die Schaffung e<strong>in</strong>er<br />

Lagerleitung vor Ort 104 . Gleichzeitig fungierten die Leiter des DMITROW-ITL und des<br />

Weißmeer-Ostsee-Komb<strong>in</strong>ats als stellvertretende Leiter des GULAG 105 . E<strong>in</strong>e Son<strong>der</strong>stellung<br />

nahm das NORDÖSTLICHE ITL e<strong>in</strong>, das weiterh<strong>in</strong> vollständig dem Dalstroi unterstellt blieb.<br />

Zu den 13 von <strong>der</strong> OGPU aufgenommenen ITL gesellten sich am 1. Januar 1935 noch das<br />

SAROWO-ITL und das ACHUN-ITL 106 . Am 1. Januar 1935 waren <strong>in</strong> den Lagern ca. 725.500<br />

Personen 107 direkt <strong>in</strong>haftiert und e<strong>in</strong>ige zehntausend Häftl<strong>in</strong>ge befanden sich wahrsche<strong>in</strong>lich auf<br />

Transport 108 .<br />

Die OMS <strong>der</strong> lokalen NKWD und NKWD-Verwaltungen leiteten ITK und Gefängnisse, <strong>in</strong> denen<br />

Gefangene jeden Typs <strong>in</strong>haftiert waren: Untersuchungshäftl<strong>in</strong>ge und rechtskräftig verurteilte<br />

Gefangene, Häftl<strong>in</strong>ge, die gegen ihr Urteil Berufung e<strong>in</strong>gelegt hatten, und solche, die sich auf<br />

Transport befanden 109 . Am 1. Januar 1935 betrug die Gesamtzahl aller Gefangenen unter Leitung<br />

<strong>der</strong> OMS 293.506 Personen 110 .<br />

Somit überschritt am 1. Januar 1935 die Häftl<strong>in</strong>gszahl <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> die Marke von e<strong>in</strong>er<br />

Million.<br />

Die meisten Gefangenen wurden <strong>in</strong> Großbetrieben e<strong>in</strong>gesetzt, die vollständig unter Leitung des<br />

NKWD standen. Gleichzeitig sah sich die Führung des GULAG nach <strong>der</strong> Übernahme <strong>der</strong><br />

Kolonien gezwungen, nach E<strong>in</strong>satzmöglichkeiten für jene Gefangenen zu suchen, die über e<strong>in</strong><br />

riesiges Territorium verstreut und teilweise regional gebunden waren, da wegen <strong>der</strong> kurzen<br />

Haftstrafen <strong>der</strong> Arbeitse<strong>in</strong>satz jener Gefangenen <strong>in</strong> den Verwaltungsgrenzen ihrer zuständigen<br />

OMS vorgeschrieben war.<br />

104 Befehl 0051 des NKWD vom 08.02.35. Es ist bezeichnend, dass im Unterschied zur e<strong>in</strong>ige Monate später<br />

erfolgten Umstrukturierung <strong>der</strong> Apparat des zusammengefassten Führungsorgans auf <strong>der</strong> Grundlage des<br />

Lagerapparats aufgebaut war: <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Abteilung für Haftanstalten wurde vom stellvertretenden Leiter <strong>der</strong><br />

Verwaltung des ZENTRALASIATISCHEN ITL ernannt; für die Leitung <strong>der</strong> Außenstellen wurde angeordnet, dass<br />

mit Ausnahme zweier Sektionen bei den entsprechenden Abteilungen <strong>der</strong> Lagerverwaltung ke<strong>in</strong>e zusätzlichen<br />

Strukturen e<strong>in</strong>gerichtet werden durften.<br />

105 Befehl 8 des NKWD vom 15.07.34. Der Leiter des WEISSMEER-OSTSEE-ITL war stellvertreten<strong>der</strong><br />

Komb<strong>in</strong>atsdirektor (siehe entsprechenden Lagere<strong>in</strong>trag).<br />

106 Befehl 0044 des NKWD vom 21.08.34; Befehl 0048 des NKWD vom 22.08.34; Befehl 10 <strong>der</strong> Hauptverwaltung<br />

für Lager, Arbeitssiedlungen und Haftanstalten (GUITLTPiMS) vom 13.12.34 (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 5. L. 44).<br />

107 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 20–22; D. 2930. L. 3. Zum 01.01.35 betrug die von den Autoren errechnete<br />

Insassenzahl aller im ersten Dokument aufgeführten <strong>Besserungsarbeitslager</strong> <strong>in</strong>sgesamt 724.792 Personen. Dabei<br />

wurde jedoch nicht das ACHUN-ITL berücksichtigt, <strong>in</strong> dem gemäß dem zweiten Dokument Anfang Januar 1935 700<br />

Personen <strong>in</strong>haftiert waren. Gemäß dem ersten Dokument betrug die Gesamtzahl aller Gefangenen 725.483 und<br />

gemäß dem zweiten — 725.700 Personen.<br />

108 Siehe z.B. Angaben für Mitte Juli 1934 (Zentralarchiv des FSB. F. 3. Op. 1. D. 312. L. 94).<br />

109 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2740. L. 16.<br />

110 Ebenda. L. 29, 30.<br />

38


Nachdem dem GULAG viele Objekte <strong>in</strong> bewohnten Regionen übergeben worden waren,<br />

verschärfte sich <strong>der</strong> Kampf gegen Fluchtversuche 111 .<br />

Die Bed<strong>in</strong>gungen, unter denen sich das Wirken des GULAG von 1935 bis <strong>in</strong> die erste<br />

Jahreshälfte 1937 entfaltete, unterschieden sich merklich von jenen <strong>der</strong> vorangegangenen<br />

Periode. E<strong>in</strong>erseits wurde <strong>der</strong> Machtkampf <strong>in</strong> den höchsten Führungskreisen des Landes immer<br />

erbitterter, wozu auch die Ermordung Sergej M. Kirows im Dezember 1934 gehörte. An<strong>der</strong>erseits<br />

verlangsamte sich entgegen <strong>der</strong> landläufigen Me<strong>in</strong>ung ausgerechnet ab Anfang 1935 <strong>der</strong> für die<br />

Jahre 1933 – 1934 charakteristische Anstieg <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gszahl. Seit Anfang 1936 kam er dann<br />

vollständig zum Erliegen, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten Hälfte des Jahres 1937 g<strong>in</strong>g er sogar leicht zurück<br />

(Abb. 1), sodass sich zum 1. Juli 1937 <strong>in</strong> den Lagern 788.584 Gefangene befanden 112 . E<strong>in</strong>e<br />

ähnliche Tendenz kann auch für das Vollzugssystem <strong>der</strong> OMS verzeichnet werden, allerd<strong>in</strong>gs mit<br />

dem Unterschied, dass hier <strong>der</strong> Tiefpunkt Anfang 1937 erreicht wurde: am 1. Januar 1937 gab es<br />

375.376 Häftl<strong>in</strong>ge 113 . Auch die Zunahme von <strong>Besserungsarbeitslager</strong>n (ITL) war ger<strong>in</strong>g. Seit<br />

Anfang 1935 wurden <strong>in</strong> zweie<strong>in</strong>halb Jahren fünf Lager e<strong>in</strong>gerichtet und zwei aufgelöst (siehe<br />

ACHUN-, WETLUGA-, WOLGA-, WJASMA-, KALUGA-, NORILSKER und SAROWO-<br />

ITL).<br />

Aus den Archivunterlagen geht hervor, dass <strong>in</strong> dieser Phase <strong>der</strong> relativ stabilen<br />

Gefangenenzahlen die Führung des NKWD und GULAG e<strong>in</strong>e Reihe von Umstrukturierungen<br />

vornahm, um die Verwaltung im Bereich <strong>der</strong> Zwangsarbeit zu optimieren. Dieser Versuch sollte<br />

die endgültige Struktur des Lagersystems <strong>der</strong> Stal<strong>in</strong>zeit maßgeblich prägen.<br />

Als erstes wurde das Verwaltungssystem <strong>in</strong> den Lagern neu geordnet. Im Mai 1935 wurden jene<br />

Lager, die mit <strong>der</strong> Durchführung volkswirtschaftlicher Schlüsselprojekte betraut und vollständig<br />

dem NKWD unterstellt waren (also das BAIKAL-AMUR-, WEISSMEER-OSTSEE-,<br />

DMITROW- und UCHTA-PETSCHORA-ITL, ebenso das TEMNIKOWSKI-ITL, welches<br />

Moskau mit Brennholz versorgte) direkt <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) unterstellt.<br />

Die Leitung <strong>der</strong> übrigen Lager wurde den Leitern des NKWD und <strong>der</strong> NKWD-Verwaltungen vor<br />

Ort direkt übertragen. Innerhalb dieser lokalen Organe wurden für die dort bef<strong>in</strong>dlichen<br />

Vollzugsanstalten für "Son<strong>der</strong>kont<strong>in</strong>gente" (Häftl<strong>in</strong>ge und Arbeitssiedler) Abteilungen für Lager<br />

und Haftanstalten o<strong>der</strong> Abteilungen für Lager, Haftanstalten und Arbeitssiedlungen e<strong>in</strong>gerichtet.<br />

Die Apparate <strong>der</strong> Lagerverwaltungen blieben erhalten. Die NKWD-Verwaltung bzw. das NKWD<br />

trugen die volle Verantwortung für die operative Lagerverwaltung, wozu <strong>der</strong> Arbeitse<strong>in</strong>satz <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>ge, die operativ-tschekistische Arbeit, <strong>der</strong> Kampf gegen Fluchtversuche, <strong>der</strong> Bereich für<br />

Kultur und Erziehung sowie <strong>der</strong> mediz<strong>in</strong>isch-sanitäre Bereich usw. gehörten, und waren<br />

gleichzeitig für die Ausarbeitung von Produktions- und Wirtschaftsplänen verantwortlich. In<br />

allen Arbeitsbereichen waren die NKWD-Verwaltungen gegenüber dem GULAG<br />

rechenschaftspflichtig. In Bezug auf diese Lager übernahm <strong>der</strong> GULAG lediglich allgeme<strong>in</strong>e<br />

Kontrollfunktionen, traf globale Entscheidungen h<strong>in</strong>sichtlich Lagertyp und Produktionstätigkeit<br />

(u.a. maximale Insassenzahl und <strong>der</strong>en planmäßiger Anteil an Lagerarbeiten, Reihenfolge <strong>der</strong><br />

Projekte, Kostenpläne usw.), stellte die Versorgung gemäß den beschlossenen Plänen und<br />

entsprechenden Mitteln sowie den Nachschub von neuen Gefangenen sicher. 114<br />

111 Siehe z.B. Befehl 0074 des NKWD vom 10.09.34; Befehl 039 des NKWD vom 13.04.35; Befehl 00327 des<br />

NKWD vom 07.09.35.<br />

112 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 20–22.<br />

113 Ebenda. D. 2740. L. 41.<br />

114 Befehl 00169 des NKWD vom 08.05.35.<br />

39


Natürlich verfolgte diese Neuordnung mehrere Schlüsselziele. Offensichtlich ermöglichte sie es<br />

dem Zentralapparat des GULAG, se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit auf jene Objekte zu konzentrieren, die<br />

für die Beurteilung <strong>der</strong> Wirtschaftstätigkeit des NKWD von zentraler Bedeutung waren.<br />

Gleichzeitig wurde bei <strong>der</strong> Erfüllung <strong>der</strong> Produktionsaufgaben <strong>der</strong> gesamte NKWD-Apparat vor<br />

Ort direkt e<strong>in</strong>bezogen. Wahrsche<strong>in</strong>lich war auch <strong>der</strong> E<strong>in</strong>satz desselben Apparates beim Kampf<br />

gegen Fluchtversuche von erheblicher Bedeutung 115 . Vom Standpunkt <strong>der</strong> zukünftigen<br />

Entwicklung <strong>der</strong> Ereignisse jedoch bestand das wichtigste Ziel dar<strong>in</strong>, im Zentralapparat des<br />

GULAG die Leitung <strong>der</strong> Wirtschaftstätigkeit aus technischer Sicht zu verstärken. Und tatsächlich<br />

waren bei <strong>der</strong> Bestätigung <strong>der</strong> neuen Mitarbeiter des Zentralapparates des GULAG statt e<strong>in</strong>er<br />

Produktions- und Bauabteilung die E<strong>in</strong>richtung von acht auf Industriezweige spezialisierten<br />

Sektionen vorgesehen (Wasserbau, Straßenbau, Bergbau, Holzwirtschaft, Zivil- und Industriebau,<br />

Auftragsarbeiten und Landwirtschaft). Von den 527 Personalstellen des GULAG waren alle<strong>in</strong><br />

hierfür <strong>in</strong>sgesamt 102 Stellen vorgesehen. 116 Diese Personalverteilung im Zentralapparat des<br />

GULAG sowie die Neuordnungen im Mai legen <strong>in</strong>sgesamt den Schluss nahe, dass die Führung<br />

des NKWD und des GULAG e<strong>in</strong>e Trennung herbeiführen wollten zwischen dem direkten<br />

Arbeitse<strong>in</strong>satz von Häftl<strong>in</strong>gen und <strong>der</strong> <strong>in</strong>genieurtechnischen Versorgung <strong>der</strong> Produktion, mit <strong>der</strong><br />

man entsprechende Fachleute beauftragte. Diese Annahme wird auch vom folgenden (und bis<br />

Mitte 1937 letzten) Schritt gestützt, den das NKWD für den Arbeitse<strong>in</strong>satz von Gefangenen<br />

unternahm: Ende 1935 wird im NKWD zum ersten Mal e<strong>in</strong>e ausschließlich auf die Produktion<br />

spezialisierte Zentralbehörde e<strong>in</strong>gerichtet.<br />

Per Verfügung des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong><br />

vom 28. Oktober 1935 117 wird dem NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> die Zentralverwaltung für Straßenbau<br />

und Kraftverkehr (ZUDORTRANS), <strong>in</strong> <strong>der</strong> das landesweite Straßenwesen vom Bau über die<br />

Instandhaltung bis h<strong>in</strong> zum Betrieb konzentriert war, übergeben. Die lokalen Organe <strong>der</strong><br />

ZUDORTRANS wurden den entsprechenden NKWD bzw. NKWD-Verwaltungen vor Ort<br />

unterstellt. E<strong>in</strong> Befehl vom Januar 1936 sah für die Produktionsobjekte die Entlassung aller freien<br />

Arbeiter sowie den E<strong>in</strong>satz von speziell für jedes Objekt e<strong>in</strong>gerichteten und <strong>der</strong> lokalen Abteilung<br />

für Haftanstalten (OMS) des GULAG unterstellten Kolonien vor 118 . E<strong>in</strong>en Monat später wurden<br />

für die Bereitstellung von Arbeitskräften auf dem Bau <strong>der</strong> strategisch bedeutenden Fernstraßen<br />

Moskau – M<strong>in</strong>sk und Moskau – Kiew entsprechend das WJASMA- und KALUGA-ITL<br />

e<strong>in</strong>gerichtet – beide unter direkter Zuständigkeit des GULAG 119 . Mit <strong>der</strong> Durchführung bei<strong>der</strong><br />

Straßenbauprojekte wurde die ZUDORTRANS (die kurz darauf <strong>in</strong> GUSchossDor umbenannt<br />

wurde) beauftragt.<br />

Aus Sicht des NKWD war die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>er <strong>der</strong>artigen Zentralbehörde offensichtlich<br />

s<strong>in</strong>nvoll. Auf diese Weise hätte man durch die Bereitstellung von Arbeitskräften für das gesamte<br />

sowjetische Straßenwesen <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie das Problem des Arbeitse<strong>in</strong>satzes <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den<br />

lokalen Abteilungen für Haftanstalten des GULAG gelöst und sogar die Erledigung<br />

115 Die mangelnde Aufmerksamkeit <strong>der</strong> lokalen NKWD-Organe bei <strong>der</strong> Bekämpfung von Fluchtversuchen wurde<br />

bereits im Befehl 0074 des NKWD vom 10.09.34 vermerkt. Dieser Befehl schrieb allen NKWD-Organen auch die<br />

E<strong>in</strong>beziehung <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heimischen Bevölkerung bei <strong>der</strong> Suche nach Flüchtl<strong>in</strong>gen vor.<br />

116 Befehl 193 AChU [АХУ] des NKWD vom 22.08.35; Personal ab 16.08.35.<br />

117 Pravda vom 29.10.1935.<br />

118 Befehl 0012 des NKWD vom 10.01.36. Mehr über die Funktion, Struktur und Aufgaben des ZUDORTRANS<br />

(GUSchossDor) siehe E<strong>in</strong>trag "HAUPTVERWALTUNG FÜR FERNSTRASSEN DES NKWD-MWD DER<br />

UDSSR" <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager".<br />

119 Befehl 0050 des NKWD vom 05.02.36.<br />

40


unqualifizierter Arbeiten durch kranke Gefangene nach den im GULAG geltenden Normen<br />

ermöglicht. Die GUSchossDor verfügte über ke<strong>in</strong>e Haftanstalten. Ihre Unterabteilungen waren<br />

für die <strong>in</strong>genieurtechnische Absicherung (Projektdokumentation und Kostenpläne<br />

e<strong>in</strong>geschlossen) und die Bereitstellung von Fachleuten aus den Reihen freier Arbeiter<br />

verantwortlich, während aus den Besserungsarbeitskolonien <strong>der</strong> Abteilung für Haftanstalten des<br />

GULAG unqualifizierte Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt wurden. Die Kostenpläne<br />

wie<strong>der</strong>um, die <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Zahlungen an den GULAG für die bereitgestellten Arbeitskräfte<br />

enthielten, wurden von <strong>der</strong> NKWD-Leitung bestätigt. War e<strong>in</strong>e hohe Zahl an Arbeitern<br />

notwendig, so verfuhr man nach e<strong>in</strong>em ähnlich bewährten Pr<strong>in</strong>zip: Es wurden e<strong>in</strong> ITL unter <strong>der</strong><br />

Leitung des GULAG sowie e<strong>in</strong>e Bauverwaltung unter Leitung des GUSchossDor e<strong>in</strong>gerichtet,<br />

und für die Koord<strong>in</strong>ation bei<strong>der</strong> Organisationen wurde <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong> Bauverwaltung gleichzeitig<br />

zum Leiter des ITL ernannt.<br />

Es sei bereits an dieser Stelle angemerkt, dass sich zum<strong>in</strong>dest für die Durchführung von<br />

Großprojekten diese Verwaltungsstruktur als uneffektiv herausstellte. Wenn bei <strong>der</strong><br />

Durchführung kle<strong>in</strong>erer Objekte sowohl die Abteilung (Verwaltung) für Fernstraßen <strong>der</strong><br />

GUSchossDor als auch die Besserungsarbeitskolonien <strong>der</strong> Abteilung für Strafanstalten (OMS)<br />

des GULAG zur selben lokalen NKWD-Verwaltung gehörten (und folglich e<strong>in</strong>em Leiter<br />

unterstanden, <strong>der</strong> die volle Verantwortung für die Arbeitsergebnisse trug), so entstanden beim<br />

Zusammenwirken zwischen Bauverwaltungen und den unmittelbar ihren Zentralbehörden<br />

unterstellten ITL zahlreiche organisatorische Probleme. <strong>Das</strong> beweisen die ständigen<br />

Umstrukturierungen <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Führungsstruktur von bedeutenden Bauprojekten im Laufe <strong>der</strong><br />

Jahre 1936 – 1938 (siehe folgende E<strong>in</strong>träge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager": HAUPTVERALTUNG FÜR<br />

FERNSTRASSEN DES NKWD-MWD DER UDSSR, WJASMA-ITL und SCHOSSDORLAG).<br />

Als Beweis für diese missliche Situation sei die im Frühjahr 1937 im Zuge e<strong>in</strong>es neuen<br />

Stellenplans des GULAG gegründete Abteilung für Straßenbau genannt. Fast alle übrigen<br />

Unterabteilungen des GULAG, die für e<strong>in</strong>zelne Industriezweige verantwortlich waren, hatten<br />

weiterh<strong>in</strong> den Status von Referaten 120 . Die uneffektive Arbeit e<strong>in</strong>er Zentralbehörde, die über<br />

ke<strong>in</strong>e eigenen Lager verfügte, wurde im Zuge <strong>der</strong> radikalen Umstrukturierung des Lagersystems<br />

<strong>in</strong> den Jahren 1940-1941 e<strong>in</strong>deutig berücksichtigt.<br />

Ab Mitte 1937 galten für das <strong>System</strong> <strong>der</strong> Haftanstalten neue Bed<strong>in</strong>gungen. Die Staatsmacht<br />

entfesselte e<strong>in</strong>en Massenterror <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en schrecklichsten Formen. Es sei nur angemerkt, dass sich<br />

die Zahl <strong>der</strong> Erschießungen im Jahre 1936 von 1.118 auf 353.074 im Jahre 1937 erhöhte 121 . E<strong>in</strong><br />

nie da gewesener Häftl<strong>in</strong>gsstrom überschwemmte die Haftanstalten. Innerhalb von neun Monaten<br />

(vom 1. Juli 1937 bis 1. April 1938) stieg die Häftl<strong>in</strong>gszahl im GULAG um mehr als 800.000 und<br />

übertraf die Marke von zwei Mio. 122 . In <strong>der</strong> zweiten Jahreshälfte 1937 und 1938 stand die<br />

Straffunktion <strong>der</strong> Haftanstalten für die Führung des Landes an erster Stelle. Hier wurden jene<br />

"abgeladen", die <strong>der</strong> Erschießung entgangen waren. Die Hauptprobleme des GULAG waren<br />

nunmehr die Aufnahme, Unterbr<strong>in</strong>gung und Bewachung; außerdem musste wenigstens <strong>der</strong><br />

Ansche<strong>in</strong> erweckt werden, diesen gigantischen Menschenstrom zu Arbeiten e<strong>in</strong>zusetzen.<br />

120 Befehl 209 AChU [АХУ] des NKWD vom 15.04.37.<br />

121 30 oktjabrja [30. Oktober] (Son<strong>der</strong>ausgabe <strong>der</strong> Zeitung "Memorial-Aspekt"), Moskau 1996.<br />

122 Zum 01.07.37 waren <strong>in</strong> den Lagern 788.584 Personen <strong>in</strong>haftiert (ohne Berücksichtigung jener Gefangenen, die<br />

sich auf dem Transport von e<strong>in</strong>em Lager <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es befanden) zum 01.04.38 betrug ihre Zahl 1.149.779, d.h. e<strong>in</strong><br />

Anstieg um 361.195 Personen (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1155. L. 20–22). In den Haftanstalten, die den lokalen<br />

GULAG-Organen unterstellt waren, betrugen die Insassenzahlen zum 01.07.37 und 01.04.38 entsprechend 451.463<br />

und 899.635 Personen (Anstieg um 448.172 Personen) (Ebenda. D. 2740. L. 41, 47).<br />

41


Die erste Folge <strong>der</strong> neuen Repressionspolitik war die überstürzte E<strong>in</strong>richtung von sieben (!)<br />

Lagern für die Holzgew<strong>in</strong>nung bereits im August 1937 (IWDEL-, KARGOPOL-, KULOI-,<br />

LOKTSCHIM-, TAISCHET-, TOMSK-ASSINO- und UST-WYM-ITL) und die gleichzeitige<br />

Umstrukturierung des Forstsektors des GULAG <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Forstabteilung 123 . Bereits im Oktober<br />

1937 tauchen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Abteilung für Mediz<strong>in</strong> und Sanitätswesen des GULAG erste Belege über die<br />

Häftl<strong>in</strong>gssterblichkeit <strong>in</strong> diesen Lagern auf 124 . Zum 1. Januar 1938 waren <strong>in</strong> diesen Lagern mehr<br />

als 80.000 Personen <strong>in</strong>haftiert. Anfang 1938 kommen weitere sechs Waldlager h<strong>in</strong>zu<br />

(WJATSKER ITL, KRASNOJARSKER ITL, ONEGA-, NORDURAL-, UNSCHA- und das<br />

SOLIKAMSKER ITL) 125 . Man kann davon ausgehen, dass <strong>der</strong> Beschluss, gerade Waldlager<br />

e<strong>in</strong>zurichten, auf re<strong>in</strong> ökonomischen Gründen beruhte. Die Arbeiten zur Holzgew<strong>in</strong>nung<br />

verlangten zum<strong>in</strong>dest im Anfangsstadium ke<strong>in</strong>erlei Kapital<strong>in</strong>vestition, vorbereitende<br />

Projektdokumentationen o<strong>der</strong> Ausgabenaufstellungen, die Lager konnten unter hauptsächlicher<br />

Verwendung vorgefundener Baumaterialien erbaut werden, die riesigen Waldflächen im<br />

europäischen Teil <strong>der</strong> Sowjetunion und <strong>in</strong> Sibirien gestatteten e<strong>in</strong>e teilweise Verteilung <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>ge. Bei genauerer Untersuchung <strong>der</strong> Lagerstandorte kommt man zu dem Schluss, dass sie<br />

alle <strong>in</strong> Regionen angesiedelt wurden, die den damaligen Ansprüchen an ausreichen<strong>der</strong><br />

Verkehrsanb<strong>in</strong>dung entsprachen.<br />

Ungeachtet <strong>der</strong> vorübergehenden Gründe, die den sprunghaften Anstieg <strong>der</strong> Lagerforstwirtschaft<br />

bed<strong>in</strong>gten, erwies sie sich als außerordentlich lebensfähig. Die meisten <strong>der</strong> 1937–1938<br />

gegründeten Waldlager überlebten sämtliche Neuordnungen und waren sogar bis 1960 <strong>in</strong> Betrieb.<br />

Für das NKWD-MWD blieb dieser Wirtschaftszweig immer e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigsten.<br />

Neben den Waldlagern wurden 1937–1938 neun weitere Lager "mitten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wildnis"<br />

gegründet: das ARCHANGELSKER ITL, das UST-BOROWSKI-ITL, das JAGRINSKI-ITL<br />

(Industriebau), das LUGA-ITL (Bau e<strong>in</strong>es militärischen Flottenstützpunktes), das PODOLSKER<br />

ITL (Flugplatzbau), das SAMARA-ITL (Bau e<strong>in</strong>es Wasserkraftwerks), das SOROKA-ITL<br />

(Eisenbahnbau), <strong>der</strong> BAU 210 UND ITL sowie <strong>der</strong> BAU 211 UND ITL (Bau von Autostraßen).<br />

Jedoch die Hälfte davon blieb bis zu ihrer Auflösung unbedeutend, da für die volle Entwicklung<br />

von Industriebaulagern Zeit und hohe Kapital<strong>in</strong>vestitionen erfor<strong>der</strong>lich waren.<br />

Die neu geschaffenen Lager konnten nicht den gesamten Häftl<strong>in</strong>gsstrom aufnehmen. Zum<br />

1. Oktober 1938 waren <strong>in</strong> diesen Lagern 309.350 Personen <strong>in</strong>haftiert, während sich vom 1. Juli<br />

1937 bis zum 1. Oktober 1938 die Zahl aller Lagerhäftl<strong>in</strong>ge um mehr als 521.000 erhöhte 126 , die<br />

Sterblichkeit betrug alle<strong>in</strong> 1938 durchschnittlich ca. 6,7% aller registrierten Häftl<strong>in</strong>ge 127 . Deshalb<br />

123 Befehl 078 des NKWD vom 16.08.37. Die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es Netzes von Lagern, die <strong>der</strong> Holzgew<strong>in</strong>nung dienten,<br />

war bereits im Erlass 1244–286ss des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 01.08.37 vorgesehen (Archiv des<br />

Präsidenten <strong>der</strong> RF. F. 3. Op. 58. D. 212. L. 80) und wurde vom Beschluss P51/442 des Politbüro des ZK <strong>der</strong><br />

KPdSU(B) vom 31.07.37 (Ebenda. L. 52–54) und gleichzeitig per Befehl 00447 des NKWD vom 30.07.37 über die<br />

Durchführung e<strong>in</strong>er Massenoperation gegen "Kulaken, Verbrecher und an<strong>der</strong>e antisowjetische Elemente" bestätigt.<br />

Die Eile, die bei <strong>der</strong> Entscheidungsf<strong>in</strong>dung e<strong>in</strong>e Rolle spielte, wird auch durch den Umstand bestätigt, dass von den<br />

ersten sieben Waldlagern vier (KULOI-, LOKTSCHIM-, TAISCHET- und TOMSK-ASSINO-ITL) bereits vor<br />

Kriegsausbruch aufgelöst wurden, e<strong>in</strong> weiteres (KARGOPOL-ITL) musste nach zwei Jahren verlegt werden und nur<br />

zwei Lager (IWDEL- und UST-WYM-ITL) bestanden über längere Zeit unverän<strong>der</strong>t. Im Gegensatz dazu war allen<br />

sechs Lagern <strong>der</strong> "zweiten Generation" e<strong>in</strong> langes Leben beschieden.<br />

124 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2740. L. 42.<br />

125 Befehl 020 des NKWD vom 05.02.38.<br />

126 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1140. L. 140–141; D. 1155. L. 20–22.<br />

127 Ebenda. D. 2740. L. 62, 63. Im Bericht fehlen Angaben zum NORDÖSTLICHEN ITL, <strong>in</strong> dem sich 1938<br />

durchschnittlich ca. 9% aller Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den sowjetischen Lagern befanden, weiterh<strong>in</strong> blieben Erschießungen<br />

42


wurden viele Gefangene <strong>in</strong> alte Lager e<strong>in</strong>gewiesen, die <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie wichtige Industrieobjekte<br />

des NKWD durchführten (BAIKAL-AMUR-ITL, UCHTA-PETSCHORA-ITL, WEISSMEER-<br />

OSTSEE-ITL, FERNES LAGER, SIBIRISCHES ITL, NORDÖSTLICHES ITL 128 ). Die ohneh<strong>in</strong><br />

enormen Lager, <strong>der</strong>en Wirken sich über endlose Territorien erstreckte, blähten sich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Folge<br />

<strong>der</strong>art auf, dass sich die NKWD-Führung gezwungen sah sie zu verkle<strong>in</strong>ern. Zur Illustration: Im<br />

FERNEN LAGER waren zum 1. Oktober 1937 157.375 Personen <strong>in</strong>haftiert, im BAIKAL-<br />

AMUR-ITL waren es 268.637 Gefangene zum 1. April 1938. In e<strong>in</strong>em ersten Schritt wurde am<br />

26. November 1937 aus dem mit außerordentlich vielen Industriezweigen befassten FERNEN<br />

LAGER e<strong>in</strong> auf den Straßenbau spezialisiertes ITL – das SCHOSSDORLAG – ausgeglie<strong>der</strong>t 129 .<br />

Im April 1938 wurde aus dem überwiegend landwirtschaftlich geprägten SIBIRISCHEN ITL das<br />

GORNAJA-SCHORIJA-ITL ausgeglie<strong>der</strong>t, das sich dem Bau e<strong>in</strong>er Eisenbahnl<strong>in</strong>ie nach<br />

Taschtagol widmete 130 . Anfang Mai 1938 wurde das diversifizierte UCHTA-PETSCHORA-ITL<br />

aufgelöst, und auf <strong>der</strong> Grundlage se<strong>in</strong>er Lagerunterabteilungen wurden vier spezialisierte Lager<br />

e<strong>in</strong>gerichtet: das WORKUTA-ITL (Grubenbau und Kohleför<strong>der</strong>ung), das UCHTA-ISCHMA-<br />

ITL (Ölför<strong>der</strong>ung und Gew<strong>in</strong>nung von Radium), das NÖRDLICHE EISENBAHN-ITL (Bau <strong>der</strong><br />

Eisenbahnstrecke Kotlas – Workuta) und das UST-WYM-ITL (Holzgew<strong>in</strong>nung) 131 .<br />

Etwas an<strong>der</strong>s war die Lage im BAIKAL-AMUR-ITL. Dieses Lager hatte die höchste<br />

Insassenzahl und gleichzeitig e<strong>in</strong>e genaue Ausrichtung auf den Eisenbahnbau (die restlichen<br />

Arbeiten trugen hauptsächlich Hilfscharakter). Deshalb wurden im Zuge <strong>der</strong> Verkle<strong>in</strong>erung auf<br />

<strong>der</strong> Grundlage se<strong>in</strong>er Lagerunterabteilungen sechs relativ kompakte ITL mit Ausrichtung auf den<br />

Eisenbahnbau gegründet, von denen jedes auf e<strong>in</strong>er o<strong>der</strong> mehreren zusammenhängenden<br />

Strecken arbeitete. Auf <strong>der</strong> Basis des BAIKAL-AMUR-ITL und <strong>der</strong> Bauverwaltung <strong>der</strong> BAM<br />

wurde e<strong>in</strong>e zwischen GULAG und ITL angesiedelte E<strong>in</strong>richtung geschaffen: Die<br />

Eisenbahnbauverwaltung des GULAG des NKWD im Fernen Osten (SchDSU na DW), <strong>der</strong> die<br />

unmittelbare Leitung <strong>der</strong> Produktionstätigkeit <strong>in</strong> den ihr unterstellten Lagern und die<br />

Verantwortung für die Erfüllung <strong>der</strong> Produktionspläne übertragen wurde 132 .<br />

Die Organisationsformen jener Lager, die gemäß <strong>der</strong> Verfügung von 1929 <strong>der</strong> komplexen<br />

Erschließung <strong>der</strong> riesigen, dünn besiedelten Regionen dienen sollten, erwiesen sich somit unter<br />

den neuen Bed<strong>in</strong>gungen als nicht lebensfähig. Sie wurden von relativ kompakten Lagern mit<br />

mehr o<strong>der</strong> weniger stark ausgeprägter Spezialisierung abgelöst, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel an e<strong>in</strong>em o<strong>der</strong><br />

mehreren zusammenhängenden Objekten arbeiteten. Natürlich ist damit die wirtschaftliche<br />

Hauptausrichtung geme<strong>in</strong>t, da auch <strong>in</strong> diesen Lagern – wie <strong>in</strong> jedem an<strong>der</strong>en unter<br />

planwirtschaftlichen Bed<strong>in</strong>gungen tätigen Großbetrieb – e<strong>in</strong>e hohe Anzahl von Nebenbetrieben<br />

bestand (Landwirtschaften für die Selbstversorgung mit Lebensmitteln, verschiedene<br />

Reparaturwerkstätten sowie eigene Ste<strong>in</strong>brüche, Ziegeleien usw. für die Bauarbeiten). Die<br />

Spezialisierung ließ die Zahl <strong>der</strong> Lager rapide ansteigen und erfor<strong>der</strong>te gleichzeitig die<br />

<strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Lager unberücksichtigt. Es sei angemerkt, dass diesem Schicksal auch viele GULAG-Leiter – sowohl<br />

aus dem Zentralapparat als auch aus den e<strong>in</strong>zelnen Lagerleitungen – zum Opfer fielen, was die durch den<br />

Massenterror und rapiden Anstieg <strong>der</strong> Gefangenenzahlen ausgelösten Wirren erhöhte und somit auch die ohneh<strong>in</strong><br />

schwierige Lage jener Menschen, die sich plötzlich h<strong>in</strong>ter Stacheldraht wie<strong>der</strong>fanden, zusätzlich verschlechterte.<br />

128 Im März 1938 wurde <strong>der</strong> Dalstroi an das NKWD übergeben (siehe E<strong>in</strong>trag " BAUHAUPTVERWALTUNG FÜR<br />

DEN FERNEN NORDEN" <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager").<br />

129 Befehl 00749 des NKWD vom 26.11.37.<br />

130 Befehl 075 des NKWD vom 25.04.38.<br />

131 Befehl 090 des NKWD vom 10.05.38.<br />

132 Befehl 0100 des NKWD vom 22.05.38.<br />

43


E<strong>in</strong>richtung von Organen, die <strong>in</strong> Produktionsfragen als Ansprechpartner für gleichartige und über<br />

das ganze Land verstreute Lager fungieren sollten. Dafür hätte man jedoch <strong>in</strong> diesen Organen<br />

Fachleute mit entsprechen<strong>der</strong> beruflicher Qualifikation zusammenführen müssen. Es ist klar, dass<br />

das NKWD vor Ort diese Aufgabe nicht bewältigen konnte. Höchstwahrsche<strong>in</strong>lich war das e<strong>in</strong>er<br />

<strong>der</strong> Gründe, Ende 1937 alle <strong>Besserungsarbeitslager</strong> dem GULAG zu unterstellen. 133<br />

Abbildung 2. Entwicklung <strong>der</strong> Gefangenenzahlen 1939 – 1953 (<strong>in</strong> Mio.)<br />

a) <strong>in</strong> den OITK-UITLK<br />

133 Befehl 0128 des NKWD vom 21.10.37.<br />

44


Abbildung 2. Entwicklung <strong>der</strong> Gefangenenzahlen 1939 – 1953 (<strong>in</strong> Mio.)<br />

b) <strong>in</strong> den Lagern zentraler Unterstellung<br />

Auch nachdem sich die Insassenzahlen <strong>der</strong> Lager relativ stabilisiert hatten, setzte sich <strong>der</strong>en<br />

Spezialisierung weiter fort (Abb. 2 134 ). Im Frühjahr 1939 wurde das FERNE LAGER endgültig<br />

geschlossen und auf se<strong>in</strong>er Grundlage mehrere Lager e<strong>in</strong>gerichtet, <strong>der</strong>en Produktionsprofil klar<br />

abgesteckt war 135 . Aus dem WEISSMEER-OSTSEE-ITL wurden ab 1939 mehrere Bauvorhaben<br />

aus Großbetrieben ausgeglie<strong>der</strong>t und auf <strong>der</strong>en Grundlage selbstständige ITL gegründet<br />

(SEGESCHA-ITL – 1939, MONTSCHEGORSKER ITL – 1940 sowie BAU UND ITL<br />

MATKOSCHNENSKOJE – 1941) 136 . Seitdem türmten sich die Schwierigkeiten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Verwaltung, <strong>der</strong> Personalbedarf im Zentralapparat nahm zu und se<strong>in</strong>e Struktur verkomplizierte<br />

sich (Abb. 3 137 ).<br />

134 Für die Abbildung 2 wurden folgende Quellen hauptsächlich genutzt: GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1138. L. 21, 31,<br />

36, 37; D. 1140. L. 6, 7, 91–93, 108, 116, 123, 140–142, 235–236; D. 1155. L. 22, 29–44, 52–59, 70–74; D. 1170. L.<br />

170; D. 1171. L. 2, 20; D. 1180. L. 1; D. 1181. L. 2, 6, 11–13, 24, 33, 34, 53; D. 1190. L. 2–3ob, 14–15ob, 26–27ob,<br />

29–36ob; D. 1230, L. 51; D. 1232. L. 2, 2ob, 3, 3ob; D. 1258. L. 2, 3; D. 1259. L. 4; D. 1289. L. 2, 3; D. 1319. L. 2–<br />

3ob, 5–6ob, 8–9ob, 11, 11ob, 14, 14ob, 16–17, 19, 19ob, 23, 23ob, 26, 26ob; D. 1326. L. 2–3ob, 6, 6ob, 8–9ob; D.<br />

1320. L. 6ob, 28ob, 54ob, 72ob; D. 1341. L. 6, 25, 43; D. 1356. L. 1ob, 43ob, 75ob, 107ob, 139ob; D. 1359, L. 4ob,<br />

5, 16ob-17ob, 29–30ob, 32ob-33ob, 40ob-41; D. 1412, L.2–3ob; D. 2740. L. 17, 18, 29, 30, 56, 57.<br />

135 Befehl 00370 des NKWD vom 13.04.39.<br />

136 Befehl 001273 des NKWD vom 21.10.39; Befehl 017 des NKWD vom 14.01.40; Befehl 0222 des NKWD vom<br />

30.04.41.<br />

137 Siehe: Befehl 2 <strong>der</strong> Lagerverwaltung (ULAG) <strong>der</strong> OGPU vom 19.07.30; Befehl 271 <strong>der</strong> Geschäftsleitung <strong>der</strong><br />

OGPU vom 25.11.32; Befehl 56 AChU [АХУ] des NKWD vom 15.09.34; Befehl 193 AChU [АХУ] des NKWD<br />

45


Abb. 3 Personal des Zentralapparates des GULAG 1930 bis 1939<br />

Legende: – Gesamtanzahl; □ – Zahl <strong>der</strong> mit Führungsaufgaben im Produktionsbereich betrauten<br />

Planstellen <strong>in</strong> den Unterabteilungen; ○ – Anteil an <strong>der</strong> gesamten Belegschaft<br />

Ab Frühjahr 1938 wurden <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) die ersten<br />

spezialisierten Produktionsverwaltungen e<strong>in</strong>gerichtet 138 . Der am 13. Juni 1939 e<strong>in</strong>geführte<br />

Stellenplan des Zentralapparates des GULAG enthielt bereits 42 e<strong>in</strong>zelne Unterabteilungen, dabei<br />

handelte es sich um Verwaltungen, Sektionen, Abteilungen und e<strong>in</strong> Archiv. Neun von ihnen<br />

hatten e<strong>in</strong>e re<strong>in</strong>e produktionsspezifische Ausrichtung. Dazu gehörten: die Verwaltung für<br />

Forstwirtschaft, die Verwaltung <strong>der</strong> ITK und landwirtschaftlichen Lager, die 1. Abteilung für<br />

Eisenbahnbau (Region Fernost), die 2. Abteilung für Eisenbahnbau, die Abteilung für<br />

Wasserbau, die Abteilung für Seebau, Abteilung für Brennstoff<strong>in</strong>dustrie, Abteilung für<br />

Buntmetallurgie sowie die Abteilung für Papier- und Zellstoff<strong>in</strong>dustrie. Insgesamt gab es 1.562<br />

Planstellen, von denen 581 <strong>in</strong> re<strong>in</strong>en produktionsspezifischen Verwaltungsstrukturen angesiedelt<br />

waren. Zum 1. Januar 1940 war das Personal im GULAG auf 2.040 Planstellen angewachsen 139 .<br />

In dieser Lage versucht das NKWD im I. Quartal 1939, dem GULAG wenigstens die<br />

unmittelbare Leitung über die am weitesten entfernten Lager im Fernen Osten zu entziehen. Im<br />

bereits erwähnten Befehl über die Auflösung des FERNEN LAGERS war die Unterstellung <strong>der</strong><br />

neu geschaffenen und früher auf dem Gebiet <strong>der</strong> Region Chabarowsk angesiedelten Lager unter<br />

die UITLK <strong>der</strong> NKWD-Verwaltung Region Chabarowsk, <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>richtung <strong>in</strong> demselben Befehl<br />

angeordnet wurde, vorgesehen 140 . Auch die Eisenbahnbauverwaltung Fernost (SchDSU na DW)<br />

vom 22.08.35; Befehl 209 AChU [АХУ] des NKWD vom 15.04.37; Befehl 00762 des NKWD vom 08.12.37; Befehl<br />

00676 des NKWD vom 13.06.39.<br />

138 Per Befehl 00205 des NKWD vom 09.03.38 wurde die Abteilung für Waldarbeiten des GULAG umgewandelt <strong>in</strong><br />

die Verwaltung für Holzwirtschaft des GULAG.<br />

139 Befehl 00676 des NKWD vom 13.06.39. A. I. Kokur<strong>in</strong>, N. V. Petrov: Lubjanka: VČK – OGPU – NKVD – NKGB<br />

– MGB – MVD – KGB, Moskau 1997. S. 25.<br />

140 Befehl 00370 des NKWD vom 13.04.39.<br />

46


wurde umstrukturiert. In <strong>der</strong> am 28. Februar 1939 verabschiedeten Verfügung über die<br />

Eisenbahnbauverwaltungen und <strong>Besserungsarbeitslager</strong> des GULAG des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Region Fernost (die neue Bezeichnung dieser Organisation war: USchDS na DW) wurde<br />

direkt darauf verwiesen, dass die USchDS "die volle Verantwortung über den Zustand ihrer<br />

Lager (Wache, Lagerkategorie, Besserungsarbeitspolitik) und über die Erfüllung <strong>der</strong><br />

Produktionsaufgaben <strong>in</strong> den gesetzten Fristen trägt". Die USchDS bestätigte selbstständig die<br />

Pläne für die Lager, Abteilungen und die größten Bauvorhaben, erarbeitete alle<br />

Leistungsanfor<strong>der</strong>ungen, erörterte die angetragenen Bauvorhaben, erstellte technische<br />

Projektbeschreibungen und Kostenpläne für die Bauvorhaben, richtete Betriebe für<br />

Hilfswirtschaften usw. e<strong>in</strong> und führte sogar "die für e<strong>in</strong>en Bau erfor<strong>der</strong>lichen wissenschaftlichen<br />

Forschungsarbeiten" durch. Von grundlegen<strong>der</strong> Bedeutung war die Tatsache, dass <strong>der</strong> USchDS<br />

das Recht e<strong>in</strong>geräumt wurde, selbstständige Entscheidungen zu "allen Human-, Material- und<br />

F<strong>in</strong>anzressourcen <strong>der</strong> eigenen Lager" zu treffen, d.h. nach eigenem Ermessen Arbeitskräfte (u.a.<br />

auch Fachleute), Material und Gel<strong>der</strong> von e<strong>in</strong>em Lager <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es zu verlegen. Außerdem<br />

hatte die USchDS volle Entscheidungsfreiheit h<strong>in</strong>sichtlich des Haftregimes und <strong>der</strong><br />

Gefangenenbewachung. Für die Führung <strong>der</strong> Lager wurde e<strong>in</strong> Zentralapparat <strong>der</strong> USchDS <strong>in</strong><br />

Fernost mit 29 Sektionen geschaffen. Der Leiter <strong>der</strong> USchDS <strong>in</strong> Fernost war gegenüber dem<br />

Volkskommissariat direkt rechenschaftspflichtig und – hauptsächlich bei <strong>der</strong> Bestätigung<br />

allgeme<strong>in</strong>er Pläne und Listen – gegenüber dem GULAG (wobei letzterer natürlich die<br />

Entscheidungshoheit bezüglich <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Rechtsgrundlagen für den E<strong>in</strong>satz von<br />

Gefangenen zu Arbeiten, <strong>der</strong>en mediz<strong>in</strong>ischer Betreuung etc. sowie bei <strong>der</strong> Verlegung von<br />

Gefangenen <strong>in</strong> die Lager <strong>der</strong> USchDS <strong>in</strong>nehatte) 141 . Diese Maßnahmen waren jedoch ke<strong>in</strong>e<br />

Rettung, da <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Verkehrs- und Transportanb<strong>in</strong>dung nur schwach entwickelt war<br />

(Ende 1938 gab es 50 ITL, Ende 1939 waren es 58 und Ende 1940 mehr als 70).<br />

All diese Umstrukturierungen zeugen von <strong>der</strong> Krise, <strong>in</strong> <strong>der</strong> sich 1938–1940 sowohl das<br />

Lagersystem als auch das gesamte NKWD befanden. Die Ursache <strong>der</strong> Krise bestand im<br />

dramatischen Anwachsen des Gefangenenstroms <strong>in</strong> den Jahren 1937–1938. Die sprunghafte<br />

Zunahme von Lagern und gleichzeitig die Aufnahme immer neuer Produktionsbereiche, <strong>in</strong> denen<br />

sie e<strong>in</strong>gesetzt wurden (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Durchführung von immer komplizierteren technischen<br />

Projekten z.B. im Industriebau und <strong>der</strong> För<strong>der</strong>ung von Bodenschätzen), führten zwangsweise zu<br />

e<strong>in</strong>em Umbau <strong>der</strong> Lager (d.h. sie spezialisierten sich und mussten folglich verkle<strong>in</strong>ert werden)<br />

und ihres Leitungssystems. Hierfür wurden die f<strong>in</strong>anzielle und <strong>in</strong>genieurtechnische Betreuung<br />

verstärkt (d.h. Verbesserung <strong>der</strong> vorbereitenden Projekt- und Kostenplanung sowie <strong>der</strong><br />

operativen <strong>in</strong>genieurtechnischen Unterstützung). <strong>Das</strong> wie<strong>der</strong>um führte zu e<strong>in</strong>er explosionsartigen<br />

Zunahme des Personals im GULAG-Zentralapparat und verkomplizierte se<strong>in</strong>e Struktur.<br />

Versuche, das Problem zu lösen, <strong>in</strong>dem man <strong>in</strong> Regionen mit hoher Lagerdichte autonome<br />

Verwaltungen (Dalstroi, USchDS) e<strong>in</strong>richtete, hätten bei <strong>der</strong> damaligen schwachen Verkehrsund<br />

Transportanb<strong>in</strong>dung den Verlust <strong>der</strong> zentralen Kontrolle über die Haftanstalten als Ganzes<br />

bedeutet, was den allgeme<strong>in</strong>en Regierungsvorstellungen wi<strong>der</strong>sprach, nach denen auf allen<br />

Gebieten e<strong>in</strong>e äußerste Zentralisierung angestrebt wurde. Diese Entscheidung war auch deshalb<br />

nicht wegweisend, da die Lager für e<strong>in</strong>en Produktionsbereich <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht ausreichend<br />

kompakt <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Region konzentriert waren. So konnte z.B. selbst 1939 mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung <strong>der</strong><br />

USchDS <strong>in</strong> Fernost nicht das Führungsproblem aller im Eisenbahnbau tätigen Lager gelöst<br />

werden. <strong>Das</strong> NÖRDLICHE EISENBAHN-ITL <strong>in</strong> <strong>der</strong> ASSR <strong>der</strong> Komi, das SOROKA-ITL im<br />

141 Befehl 043 des NKWD vom 28.02.39; siehe auch Befehl 001029 des NKWD vom 31.08.39.<br />

47


Gebiet Archangelsk und <strong>der</strong> Karelischen ASSR und das GORNAJA-SCHORIJA-ITL auf dem<br />

Territorium des früheren Gebiets Kemerowo waren ihr nicht unterstellt. Nicht ohne Grund<br />

existierten im Zentralapparat des GULAG zwei Sektionen für Eisenbahnbau, was vom<br />

Standpunkt des Aufbaus jeglicher bürokratischen Struktur uns<strong>in</strong>nig ist.<br />

Die Krise entwickelte sich unter den Vorzeichen <strong>der</strong> Kriegsvorbereitung und Militarisierung <strong>der</strong><br />

Sowjetunion, wofür neue Industriezweige zügig entwickelt und die Leistungsfähigkeit schwach<br />

entwickelter Bereiche gesteigert werden mussten 142 . E<strong>in</strong>gedenk des streng zentralisierten und<br />

hierarchischen Staatsaufbaus gab es nur zwei Lösungsmöglichkeiten: 1. die Umstrukturierung<br />

des GULAG <strong>in</strong>nerhalb des NKWD (dabei hätte man alle o<strong>der</strong> die meisten branchenspezifischen<br />

Zentralbehörden und – unter Berücksichtigung <strong>der</strong> Erfahrung mit GUSchossDor – auch alle <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Produktion tätigen Lager unter die direkte Zuständigkeit des Volkskommissariats gestellt)<br />

o<strong>der</strong> 2. die Ausglie<strong>der</strong>ung des GULAG aus dem NKWD und die Gründung e<strong>in</strong>es<br />

Volkskommissariats auf se<strong>in</strong>er Basis. Der 1940 e<strong>in</strong>geschlagene Reformweg g<strong>in</strong>g <strong>in</strong> die 1.<br />

Richtung: Aus <strong>der</strong> USchDS na DW des GULAG und <strong>der</strong> Sektion für Eisenbahnbau des GULAG<br />

g<strong>in</strong>g am 4. Januar 1940 die Hauptverwaltung für Eisenbahnbau des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> hervor,<br />

und am 13. September 1940 entstand aus <strong>der</strong> Sektion für Wasserbau des GULAG die<br />

Hauptverwaltung für Wasserbau, die kurze Zeit später umbenannt wurden <strong>in</strong> Hauptverwaltung<br />

<strong>der</strong> Lager für Eisenbahnbau (GULSchDS) und Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager für Wasserbau<br />

(GULGTS) 143 . <strong>Das</strong> NKWD behielt dabei sowohl die Verantwortung für die gesamte staatliche<br />

Strafverfolgung als auch für den Vollzug. Darüber h<strong>in</strong>aus war es zuständig für die umfassende<br />

Bewachung des Staatsgebiets (Grenztruppen, Begleitmannschaften, Verteidigung des Luftraums,<br />

Feuerwehr usw.), und es war gleichzeitig e<strong>in</strong>es <strong>der</strong> wichtigsten Volkskommissariate mit<br />

wirtschaftlicher Bedeutung. Wäre dieser Weg weiter beschritten worden, wäre die Krise<br />

wahrsche<strong>in</strong>lich nicht gelöst, son<strong>der</strong>n auf e<strong>in</strong>e höhere Verwaltungsebene übertragen worden.<br />

Deshalb war es ke<strong>in</strong> Zufall, dass die radikale Reform des Lagersystems zeitlich mit <strong>der</strong><br />

Umstrukturierung des gesamten NKWD zusammenfiel.<br />

Der Präsidiumserlass des Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 3. Februar 1941 spaltete den NKWD<br />

<strong>in</strong> zwei Volkskommissariate: den NKWD und das Volkskommissariat für Staatssicherheit<br />

(NKGB) 144 . Am 26. Februar 1941 wurde die neue Struktur des NKWD bekannt gegeben, die<br />

außer <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) noch neun spezialisierte Zentralbehörden und<br />

Verwaltungen umfasste. Zu den Zentralbehörden gehörten: Hauptverwaltung für Wasserbau<br />

(GULGTS), Hauptverwaltung für Bergbau- und metallurgische Industrie (GULGMP),<br />

Hauptverwaltung für Eisenbahnbau (GULSchDS), Hauptverwaltung für Industriebau (GULPS),<br />

Bauhauptverwaltung für den Fernen Norden (GUSDS, Dalstroi) und die Hauptverwaltung für<br />

Fernstraßen (GUSchossDor). Zu den Verwaltungen gehörten: die Verwaltung für Forstwirtschaft<br />

(ULLP), <strong>der</strong> Brennstoff<strong>in</strong>dustrie (UTP) und für den Bau <strong>der</strong> Kuibyschewer Betriebe<br />

142 An dieser Stelle seien die Alum<strong>in</strong>iumproduktion und die für diese Zweck gebauten Kraftwerke, die Entwicklung<br />

des Mar<strong>in</strong>eschiffbaus für die Nordmeerflotte und die Schaffung e<strong>in</strong>es strategischen Transportnetzes (Straßen,<br />

Eisenbahn, B<strong>in</strong>nenwasserstraßen) als e<strong>in</strong> Zweig genannt, <strong>der</strong> <strong>in</strong> direkter Beziehung mit <strong>der</strong> dargelegten Struktur<br />

stand.<br />

143 Befehl 0014 des NKWD vom 04.01.40 und Befehl 001159 des NKWD vom 13.09.40.<br />

144 MVD Rossii (Hrsg.): Organy i vojska MVD Rossii: Kratkij istoričeskij očerk [Organe und Truppen des MWD<br />

Russlands. E<strong>in</strong> kurzer historischer Abriss]. Moskau 1996. S. 456. A. I. Kokur<strong>in</strong>, N. V. Petrov: Lubjanka: VČK –<br />

OGPU – NKVD – NKGB – MGB – MVD – KGB. Moskau 1997. S. 26–27. Es sei auf den offenkundigen<br />

Zusammenhang zwischen dem sprunghaften Anstieg <strong>der</strong> Insassenzahl (Abbildung 2) und <strong>der</strong> Umstrukturierung des<br />

NKWD h<strong>in</strong>gewiesen.<br />

48


(OssobStroi) 145 . Kurz darauf kamen noch die Hauptverwaltung für Flugplatzbau (GUAS), die<br />

ursprünglich über ke<strong>in</strong>e Haftanstalten verfügte, sowie die Verwaltung <strong>der</strong> Lager für den Bau von<br />

Eisenhüttenbetrieben (UPSPTschM) h<strong>in</strong>zu 146 .<br />

Die Reform vom 1941 war die letzte auf dem geme<strong>in</strong>samen Entwicklungsweg von<br />

Vollzugsanstalten und Sowjetstaat. In <strong>der</strong> Folgezeit kam es natürlich zu Korrekturen. So än<strong>der</strong>te<br />

sich die Zahl und die Wirtschaftsspezialisierung <strong>der</strong> Hauptverwaltungen, die Aufgabenverteilung<br />

zwischen GULAG und Hauptverwaltungen, o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>ige Aufgaben des GULAG wurde von Zeit<br />

zu Zeit an Territorialorgane übergeben. Auch die Verteilung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge zwischen den<br />

<strong>Besserungsarbeitslager</strong>n und OITK-UITLK än<strong>der</strong>te sich; da letztere für die Bereitstellung von<br />

Arbeitskräften für wichtige aber nicht arbeits<strong>in</strong>tensive Objekte immer häufiger E<strong>in</strong>zellagerpunkte<br />

und Lagerabteilungen gründeten, <strong>in</strong> denen sich dieselben Häftl<strong>in</strong>gs-"Kont<strong>in</strong>gente" befanden wie<br />

<strong>in</strong> den Lagern 147 . Aber das Hauptaufbaupr<strong>in</strong>zip – die Zusammenlegung von Produktions- und<br />

Lagerkomplexen zu e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>heitlichen hierarchischen Lagerproduktionsstruktur – blieb bis 1953<br />

unverän<strong>der</strong>t. Als wichtigste Bestimmungen s<strong>in</strong>d zu nennen: Von den Haftanstalten verblieben die<br />

auf Landwirtschaft, Fischfang und die Konsumgüterproduktion spezialisierten ITL als auch<br />

sämtliche OITK-UITLK im GULAG. Zu den Hauptaufgaben des GULAG gehörten außerdem<br />

die Erarbeitung von Gesetzesvorlagen zu Fragen des Haftregimes und des Wachschutzes, die<br />

zentralisierte Erfassung und Verteilung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge und die Gesamtkontrolle über die<br />

Haftanstalten (u.a. Kontrolle des sanitären Zustands und <strong>der</strong> kulturellen Erziehungsarbeit) 148 . Den<br />

Produktionshauptverwaltungen unterstanden Produktions- und Lagerverwaltungen (mitunter<br />

Abteilungen), wobei im Laufe <strong>der</strong> Zeit die Schaffung von e<strong>in</strong>heitlichen Verwaltungen üblich<br />

wurde ("Bauverwaltung... und ITL"). Sie trugen die volle Verantwortung für die Erfüllung <strong>der</strong><br />

Produktionspläne und übernahmen praktisch die gesamte Geschäftsführung <strong>in</strong> den unterstellten<br />

Lagern und wurden somit zur wichtigsten Stütze im Lager- und Wirtschaftssystem.<br />

Die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager" erfassten Lagere<strong>in</strong>träge stellen e<strong>in</strong>e genaue Detailbeschreibung dieser<br />

Struktur und ihrer e<strong>in</strong>zelnen Elemente dar, sodass <strong>der</strong> folgende historische Abriss zu den<br />

Haftanstalten lediglich Schlüsselelemente beleuchten wird. Es sei angemerkt, dass diese Periode<br />

bisher ungenügend untersucht wurde, sodass <strong>in</strong> vielen Fällen nur vorläufige Annahmen gemacht<br />

werden konnten.<br />

Nach Kriegsausbruch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion än<strong>der</strong>ten sich die Prioritäten des Staates, und auf das<br />

schnelle Wachstum des Lagersystems folgte se<strong>in</strong>e ebenso schnelle Abwicklung. Die<br />

Bereitstellung sämtlicher materiellen Ressourcen für dr<strong>in</strong>gende militärische Bedürfnisse bed<strong>in</strong>gte<br />

die Stilllegung vieler Projekte. In erster L<strong>in</strong>ie waren davon langfristige Großprojekte betroffen,<br />

an denen naturgemäß die meisten Häftl<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>gesetzt wurden. Bereits am 28. Juni 1941 wurden<br />

alle Wasserbauarbeiten, <strong>der</strong> Bau von Alum<strong>in</strong>iumfabriken im europäischen Landesteil, <strong>der</strong><br />

Autostraßenbau und e<strong>in</strong>e Reihe weiterer Projekte (<strong>in</strong>sgesamt 60 Objekte), für die das NKWD<br />

145 Befehl 00212 des NKWD vom 26.02.41. Siehe auch den entsprechenden E<strong>in</strong>trag <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager".<br />

146 Befehl 00328 des NKWD vom 27.03.41; Befehl 00576 des NKWD vom 14.05.41.<br />

147 Wahrsche<strong>in</strong>lich gehört <strong>der</strong> Befehl 458 des NKWD vom 22.07.39 zu den frühesten Befehlen, <strong>in</strong> denen<br />

Lagerpunkte (und nicht Kolonien!) erwähnt werden, die <strong>der</strong> Abteilung für Haftanstalten unterstanden. In diesem<br />

Befehl fand sich die For<strong>der</strong>ung, "für e<strong>in</strong>en Durchbruch bei den Bauarbeiten" von elf Wohnhäusern <strong>in</strong> Moskau, die<br />

auf Veranlassung <strong>der</strong> Regierung errichtet wurden, bei diesen Baustellen an den Straßen Sadowo-Sucharewskaja,<br />

Sadowo-Tschernogrjaskaja, Bolschaja Sadowaja und Kaluschskaja sowie an den Uferpromenaden Kotelnitscheskaja<br />

und Frunsenskaja sowie "für den Bauhof Nr. 1 <strong>in</strong> Perowo" Lagerpunkte e<strong>in</strong>zurichten.<br />

148 Befehl 00256 des NKWD vom 07.03.41; siehe auch E<strong>in</strong>trag "HAUPTVERWALTUNG DER OGPU-NKWD-<br />

MWD-LAGER" <strong>in</strong> <strong>der</strong> Rubrik "Lager".<br />

49


verantwortlich zeichnete, e<strong>in</strong>gestellt 149 . Kurze Zeit später wurde <strong>der</strong> Bau <strong>der</strong> Baikal-Amur-<br />

Magistrale vorübergehend stillgelegt.<br />

Der Zentralapparat <strong>der</strong> Lagerleitung konnte nun verkle<strong>in</strong>ert werden: Sofort nach Kriegsausbruch<br />

wurden GULGMP, UTP und ULSPTschM <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Hauptverwaltung zusammengefasst 150 ; im<br />

Herbst 1941 wurde die GULGTS aufgelöst und die Restarbeiten an die GULPS übergeben 151 .<br />

Durch e<strong>in</strong>en Präsidiumserlass des Obersten Sowjets wurden am 20. Juli 1941 NKGB und NKWD<br />

zu e<strong>in</strong>em Volkskommissariat – dem NKWD – zusammengefasst 152 .<br />

Neue Projekte wurden nur <strong>in</strong> den Fällen durchgeführt, wenn davon strategische Aufgaben <strong>der</strong><br />

Kriegsführung betroffen waren (z.B. <strong>der</strong> Bau <strong>der</strong> Eisenbahnl<strong>in</strong>ien entlang <strong>der</strong> Wolga Swijaschsk<br />

– Uljanowsk und Saratow – Stal<strong>in</strong>grad, von Lagerbehältern für Treibstoffe, <strong>der</strong> Tscheljab<strong>in</strong>sker<br />

Metallurgiefabrik und e<strong>in</strong>ige mehr, siehe z.B. VERWALTUNG DES EISENBAHNBAUS<br />

SARATOW — STALINGRAD, BAKAL-ITL, WOLGA-EISENBAHN-ITL, ITL DES<br />

TSCHELJAB-METALLURG-STROI, NÖRDLICHE DWINA-ITL, BAU 1001 UND ITL). Die<br />

Tatsache, dass die Abwicklung des <strong>System</strong>s <strong>der</strong> Haftanstalten <strong>in</strong> den Kriegsjahren vor allem<br />

wirtschaftlich begründet war, belegen auch die unterschiedlichen Häftl<strong>in</strong>gszahlen <strong>in</strong> den ITL und<br />

den OITK-UITLK (Abb. 2). Da die letztgenannten vor allem für kle<strong>in</strong>ere Projekte e<strong>in</strong>zelnen<br />

Betrieben Arbeitskräfte auf Vertragsbasis zur Verfügung stellten, wurde <strong>der</strong> Rückgang <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>gszahlen <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Hälfte 1941 schnell von e<strong>in</strong>em Anstieg abgelöst, sodass bereits<br />

Mitte 1943 <strong>in</strong> diesem Vollzugssystem wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Vorkriegsstand erreicht wurde. Die<br />

Insassenzahlen <strong>in</strong> den ITL wie<strong>der</strong>um waren bis zum Frühjahr 1944 rückläufig.<br />

Auch die Mobilmachung für die Armee war e<strong>in</strong> drängendes Problem. Die katastrophalen Verluste<br />

<strong>der</strong> Roten Armee bereits <strong>in</strong> den ersten Kriegsmonaten mussten teilweise mit vorzeitig entlassenen<br />

Häftl<strong>in</strong>gen kompensiert werden, die <strong>der</strong> Armee übergeben wurden (bis Ende 1941 waren es<br />

420.000 Personen) 153 . Auch <strong>in</strong> den Folgejahren gab es e<strong>in</strong>en ungebrochenen Bedarf an<br />

Verstärkung. Neben <strong>der</strong> E<strong>in</strong>berufung von Häftl<strong>in</strong>gen hatte auch die gängige Urteilspraxis,<br />

anstelle e<strong>in</strong>er Freiheitsstrafe die Versetzung an die Front zu verhängen, E<strong>in</strong>fluss auf den<br />

Rückgang <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gszahlen.<br />

Für die verbliebenen Wirtschaftsbereiche wurden die Planziele <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel erhöht. Im<br />

Zusammenspiel mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>berufung von Häftl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> die Armee führte das zu e<strong>in</strong>em<br />

Arbeitskräftedefizit <strong>in</strong> den Lagern und Kolonien, welches man zunächst durch die Verlängerung<br />

<strong>der</strong> Arbeitswoche und die Erhöhung <strong>der</strong> Arbeitsnorm zu kompensieren versuchte. Gleichzeitig<br />

verschlechterten sich die Haftbed<strong>in</strong>gungen erheblich. <strong>Das</strong> führte bereits im Herbst 1941 zu e<strong>in</strong>em<br />

sprunghaften Anstieg <strong>der</strong> Sterblichkeit <strong>in</strong> den Lagern und Kolonien. In e<strong>in</strong>zelnen ITL starben<br />

monatlich mehr als 10% <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge. So starben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verwaltung des ITL UND DES BAUS<br />

1001 im November 1941 15,6%, also zwei von dreizehn Häftl<strong>in</strong>gen 154 . Da die Führung des<br />

GULAG offensichtlich befürchtete ihre Arbeitskräfte zu verlieren, war sie gezwungen, e<strong>in</strong>en<br />

149 Befehl 0311 des NKWD vom 28.06.41. E<strong>in</strong>ige Lager mussten aufgelöst werden, da sie sich unmittelbar auf<br />

Kriegsgebiet befanden (zu den im Befehl Nr. 0311 des NKWD vom 28.06. 41 nicht erwähnten ITL siehe z.B.<br />

BELOKOROWITSCHI-LAGER und WEISSMEER-OSTSEE-ITL).<br />

150 Befehl 00855 des NKWD vom 02.07.41.<br />

151 Befehl 0450 des NKWD vom 24.10.41.<br />

152 MVD Rossii (Hrsg.): Organy i vojska MVD Rossii: Kratkij istoričeskij očerk [Organe und Truppen des MWD<br />

Russlands. E<strong>in</strong> kurzer historischer Abriss]. Moskau 1996. S. 456.<br />

153 V. N. Zemskov: GULAG: Istoriko-sociologičeskij aspekt [GULAG: Historisch-soziologischer Aspekt]. In:<br />

Sociologičeskie issledovanija [Soziologische Forschungen]. 1991. Nr. 6. S. 10–27.<br />

154 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2784. L. 10.<br />

50


Lagerleiter und se<strong>in</strong>en Stellvertreter sogar anzuklagen 155 . Auch im Folgejahr blieb die Situation<br />

sehr angespannt. 1942 starben <strong>in</strong> den <strong>Besserungsarbeitslager</strong>n 248.877 Personen, während die<br />

Häftl<strong>in</strong>gszahl im Jahresdurchschnitt 1.096.876 Personen 156 betrug. In allen Lagern,<br />

E<strong>in</strong>zellagerpunkten und Kolonien zusammengenommen lag die Sterblichkeit bei ca. 25% des<br />

Jahresdurchschnitts (<strong>in</strong> absoluten Zahlen waren es 351.360 Personen 157 , also ungefähr genauso<br />

viele, wie 1937 erschossen wurden 158 ). Die erste Jahreshälfte war die schwierigste. So starben<br />

z.B. im Januar 1942 im KIMPERSAI-ITL 13,1% aller im Monatsdurchschnitt verzeichneten<br />

Häftl<strong>in</strong>ge, und im ONEGA-ITL starben im April 13,7% 159 . Diese Verluste im Vollzugssystem<br />

wie<strong>der</strong> schnell zu kompensieren und den allgeme<strong>in</strong>en Trend <strong>der</strong> s<strong>in</strong>kenden Insassenzahlen 160<br />

umzukehren – das war bis Mitte 1944 we<strong>der</strong> möglich und noch erfor<strong>der</strong>lich.<br />

Tatsächlich war die von <strong>der</strong> Führung <strong>der</strong> Sowjetunion kontrollierte Bevölkerungszahl <strong>in</strong> den<br />

Jahren 1942-1943 erheblich niedriger als vor dem Krieg. Gleichzeitig führte die Mobilisierung<br />

von Arbeitskräften zu e<strong>in</strong>er weiten Verbreitung an<strong>der</strong>er Formen <strong>der</strong> Zwangsarbeit. Mit Hilfe<br />

e<strong>in</strong>iger Präsidiumserlasse des Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> <strong>in</strong> den Jahren 1941-1944 wurde<br />

"freien Arbeitern" das eigenmächtige Verlassen des Arbeitsplatzes <strong>in</strong> Betrieben mit<br />

Verteidigungsaufgaben (militärische, Kohle- Textil<strong>in</strong>dustrie usw.) verboten 161 . Ab 1942 füllte<br />

sich <strong>der</strong> GULAG mit "zur Arbeit mobilisierten" Sowjetbürgern – hauptsächlich Angehörigen <strong>der</strong><br />

deutschen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit –, die <strong>in</strong> so genannten Arbeitskolonien zusammengefasst wurden. Diese<br />

Personen galten zwar nicht als Häftl<strong>in</strong>ge, wurden aber <strong>in</strong> denselben Lagern kaserniert und zu<br />

denselben Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt wie die an<strong>der</strong>en GULAG-"Kont<strong>in</strong>gente". In den Kriegsjahren<br />

wurden mehr als 400.000 Menschen <strong>in</strong> diese Kolonien e<strong>in</strong>berufen 162 . Mitunter arbeiteten <strong>in</strong> den<br />

ITL fast ausschließlich Zwangsmobilisierte, während es nur e<strong>in</strong>ige Dutzend Häftl<strong>in</strong>ge gab (siehe<br />

z.B. BAKAL-ITL). Beim Bau e<strong>in</strong>iger bedeuten<strong>der</strong> Objekte (z.B. <strong>der</strong> Eisenbahnstrecke Saratow –<br />

Stal<strong>in</strong>grad 1942-1943) wurden bei vielen Arbeiten neben Häftl<strong>in</strong>gen auch militärische Bautrupps<br />

e<strong>in</strong>gesetzt 163 .<br />

Während zu Kriegsbeg<strong>in</strong>n ungefähr 2,35 Mio. Menschen <strong>in</strong> den ITL und den Haftanstalten <strong>der</strong><br />

OITK-UITLK <strong>in</strong>haftiert waren (jene Häftl<strong>in</strong>ge, die sich auf Transport befanden, mit<br />

e<strong>in</strong>gerechnet), so war ihre Zahl Anfang 1944 ungefähr auf die Hälfte gesunken 164 . 1942-1943<br />

waren nur 55-65 ITL <strong>in</strong> Betrieb.<br />

155 Befehl 00184 des NKWD vom 26.01.42.<br />

156 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1179. L.1, 1ob; D. 1178. L. 1.<br />

157 Ebenda. D. 2784. L. 86. Die Statistik <strong>der</strong> Abteilung für Mediz<strong>in</strong> und Sanitätswesen des GULAG berücksichtigte<br />

nicht die erschossenen Häftl<strong>in</strong>ge.<br />

158 1937 wurden 353.074 Personen erschossen (siehe 30 oktjabrja [30. Oktober]. Son<strong>der</strong>ausgabe <strong>der</strong> Zeitung<br />

"Memorial-Aspekt", Moskau 1996.).<br />

159 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2784. L.18, 26.<br />

160 Es soll die allgeme<strong>in</strong>e Tendenz aufgezeigt werden, da sich z.B. vom 1. Juli bis 1. Oktober 1942 die Insassenzahl<br />

<strong>in</strong> den ITL und OITK-UITLK um ca. 30.000 Personen erhöhte (Abbildung 2).<br />

161 Sämtliche Erlasse s<strong>in</strong>d im Präsidiumserlass des Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 31.05.48 aufgeführt, <strong>der</strong> diese<br />

außer Kraft setzte (siehe Befehl 0335/138s des Innenm<strong>in</strong>isters und des Generalstaatsanwaltes <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom<br />

05.06.48).<br />

162 Befehl 001021 des NKWD vom 21.06.43; V. N. Zemskov: GULAG: Istoriko-sociologičeskij aspekt [GULAG:<br />

Historisch-soziologischer Aspekt]. In: Sociologičeskie issledovanija [Soziologische Forschungen]. 1991. Nr. 6. S.<br />

10–27.<br />

163 Befehl 00372 des NKWD vom 22.02.42. Siehe auch: VERWALTUNG DES EISENBAHNBAUS SARATOW —<br />

STALINGRAD.<br />

164 Ebenda. Op. 1d. D. 371. L. 57; Op. 1. D. 1171. L.2, 20; D. 1190. L. 3, 3ob.<br />

51


Zwei Beschlüsse <strong>der</strong> obersten Staatsmacht, die im April 1943 verabschiedet wurden, verdienen<br />

beson<strong>der</strong>e Aufmerksamkeit.<br />

Per Erlass des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare vom 14. April 1943 wurde das NKWD <strong>in</strong> NKWD,<br />

NKGB und "SMERSCH" („Tod den Spionen“ - militärische Gegenspionage) aufgeteilt 165 . Fünf<br />

Tage später, am 19. April 1943, bestätigte das Politbüro des ZK <strong>der</strong> KPdSU(B) den vom<br />

Präsidium des Obersten Sowjets erarbeiteten Erlass "Über Strafmaßnahmen gegen die deutschfaschistischen<br />

Verbrecher, die des Mordes und <strong>der</strong> Folter an <strong>der</strong> sowjetischen Zivilbevölkerung<br />

und gefangenen Rotarmisten schuldig s<strong>in</strong>d, gegen Spione und Vaterlandsverräter unter den<br />

Sowjetbürgern und ihre Helfershelfer". Neben <strong>der</strong> öffentlichen H<strong>in</strong>richtung durch den Strang<br />

wurde durch diesen Erlass e<strong>in</strong> weiteres neues Strafmaß e<strong>in</strong>geführt: die Verbannung "zu Katorga-<br />

Arbeiten für 15 bis 20 Jahre" 166 . Für die zu Katorga-Arbeiten Verurteilten wurden spezielle<br />

Lagerabteilungen <strong>in</strong> bestehenden Lagern und später auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen UITLK e<strong>in</strong>gerichtet, aber<br />

auch eigene <strong>Besserungsarbeitslager</strong>. Für diese Lagerstrukturen war e<strong>in</strong> beson<strong>der</strong>es Regime – e<strong>in</strong>e<br />

Mischung aus Lager und Gefängnis – vorgesehen 167 .<br />

Im NKWD hatte es immer Anweisungen über die Verlegung bestimmter Häftl<strong>in</strong>gsgruppen <strong>in</strong><br />

Lager entsprechend dem Artikel des Strafgesetzbuches, nach dem sie verurteilt worden waren,<br />

gegeben. Als Beispiel sei das <strong>in</strong> den 1930er Jahren gültige Verbot angeführt, wonach die<br />

Verlegung von Verurteilten wegen "Terrors, Spionage und Banditentums" <strong>in</strong> das DMITROW-<br />

ITL nicht gestattet war 168 , o<strong>der</strong> die verbotene Verlegung von Verurteilten wegen<br />

"konterrevolutionärer Verbrechen", Raubüberfalls, Diebstahls, vorsätzlichen Mordes und von<br />

Wie<strong>der</strong>holungstätern <strong>in</strong> die Lager <strong>der</strong> GULPS. Dieses Verbot wurde 1946 e<strong>in</strong>geführt, nachdem<br />

sich die Hauptverwaltung auf Arbeiten am staatlichen Atomprojekt 169 spezialisiert hatte.<br />

Umgekehrt gab es auch Befehle, "beson<strong>der</strong>s gefährliche Verbrecher" <strong>in</strong> bestimmte Lager zu<br />

verlegen, die weit entfernt waren von Ortschaften und Verkehrsanb<strong>in</strong>dungen 170 . Es gab jedoch<br />

bis 1943 ke<strong>in</strong> pr<strong>in</strong>zipielles Verbot für die geme<strong>in</strong>same Unterbr<strong>in</strong>gung von Häftl<strong>in</strong>gen,<br />

unabhängig vom Artikel, nach dem sie verurteilt worden waren. Zum ersten Mal wurden für e<strong>in</strong>e<br />

streng def<strong>in</strong>ierte Häftl<strong>in</strong>gsgruppe – die zu Katorga-Arbeiten Verurteilten – geson<strong>der</strong>te<br />

Lagerunterabteilungen e<strong>in</strong>gerichtet.<br />

165 MVD Rossii (Hrsg.): Organy i vojska MVD Rossii: Kratkij istoričeskij očerk [Organe und Truppen des MWD<br />

Russlands. E<strong>in</strong> kurzer historischer Abriss]. Moskau 1996. S. 456. Für die Führung <strong>der</strong> militärischen Gegenspionage<br />

wurden die Hauptverwaltung für Gegenspionage "SMERSch" des Volkskommissariats für Verteidigung und die<br />

Verwaltung für Gegenspionage "SMERSch" des Volkskommissariats <strong>der</strong> Kriegsmar<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>gerichtet. Es sei ebenfalls<br />

angemerkt, dass im Gegensatz zum Februar 1941 die Aufteilung des NKWD <strong>in</strong> NKWD und NKGB im April 1943<br />

offensichtlich nicht mit <strong>der</strong> wachsenden wirtschaftlichen Rolle des NKWD, son<strong>der</strong>n politisch begründet war.<br />

Gleichzeitig wurde somit e<strong>in</strong>e Reserve angelegt, die es <strong>in</strong> den Nachkriegsjahren gestattete, ziemlich schnell den<br />

Lager- und Wirtschaftskomplex wie<strong>der</strong>aufzubauen.<br />

166 Zentralarchiv des FSB. F. 3. Op. 57. D. 40. L. 1–4.<br />

167 Siehe Lagere<strong>in</strong>träge zu: WORKUTA-ITL, KARAGANDA-ITL, NORILSKER ITL, PONYSCH-ITL,<br />

NORDÖSTLICHES ITL, SIBIRISCHES ITL, TAISCHET-ITL DER UITLK DER NKWD-VERWALTUNG FÜR<br />

DAS GEBIET IRKUTSK und Abschnitt "Territorialverwaltungen / Abteilungen <strong>der</strong> Haftanstalten" des vorliegenden<br />

Beitrags.<br />

168 Siehe z.B. Befehl 0092 des NKWD vom 27.09.34.<br />

169 Als typisch sei an dieser Stelle <strong>der</strong> Befehl 001064 des MWD vom 21.11.49 genannt.<br />

170 Befehl 001461 des NKWD vom 10.12.39. Ähnliche Befehle wurden seit Anfang <strong>der</strong> 1930er Jahre mehrfach<br />

erlassen.<br />

52


Die Häftl<strong>in</strong>gszahl <strong>in</strong> diesen Lagere<strong>in</strong>richtungen war relativ niedrig 171 , sodass sich <strong>der</strong> Erlass vom<br />

April 1943 we<strong>der</strong> auf die allgeme<strong>in</strong>en Insassenzahlen noch auf den Umfang o<strong>der</strong> die<br />

Organisation <strong>der</strong> Wirtschaftstätigkeit <strong>in</strong> den Lagern auswirkte. Er hatte jedoch richtungsweisende<br />

Bedeutung. Im Januar 1944 wird ausschließlich für die Unterbr<strong>in</strong>gung aller "Personen, die sich<br />

'Volksdeutsche' aus <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e nennen", das TSCHERNOGORSKER SONDER-ITL<br />

e<strong>in</strong>gerichtet 172 . (Die entscheidenden Ereignisse bei <strong>der</strong> Gründung von spezialisierten Lagern für<br />

bestimmte Häftl<strong>in</strong>gsgruppen begannen 1948 mit <strong>der</strong> Annahme des Beschlusses über die<br />

Gründung e<strong>in</strong>es Netzes von Son<strong>der</strong>lagern.)<br />

1944-1946 war das <strong>System</strong> <strong>der</strong> Haftanstalten mehreren entscheidenden und dabei unterschiedlich<br />

ausgerichteten Faktoren ausgesetzt. Gegen Ende des Sommers 1943 bis Herbst 1944 waren die<br />

deutschen Truppen gezwungen, sich aus den dicht besiedelten Gebieten <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong><br />

zurückzuziehen. Immer mehr Menschen standen nun wie<strong>der</strong> unter <strong>der</strong> Kontrolle <strong>der</strong><br />

Sowjetregierung, was – wenn auch mit e<strong>in</strong>er gewissen Verspätung und alle<strong>in</strong> schon wegen <strong>der</strong><br />

verbreiteten "alltäglichen" Krim<strong>in</strong>alität – zwangsläufig zur Erhöhung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gszahlen führte.<br />

E<strong>in</strong> Beleg für den starken E<strong>in</strong>fluss dieses Faktors ist auch <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>te Anteil an Ukra<strong>in</strong>ern und<br />

Weißrussen unter den Gefangenen (1942-1943 stark rückläufig und <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Hälfte 1944<br />

schnell ansteigend) 173 . Als 1945 die massenhafte Rückkehr von Sowjetbürgern <strong>in</strong> ihre Heimat<br />

e<strong>in</strong>setzte (bis Ende 1945 waren es über zwei Mio. Menschen) 174 , von denen die meisten Personen<br />

aus den genannten Gebieten waren, die man zur Arbeit nach Deutschland verschleppt hatte, sollte<br />

e<strong>in</strong> ähnlicher, wenngleich offenbar erheblich ger<strong>in</strong>gerer E<strong>in</strong>fluss davon ausgehen.<br />

1945 jedoch verfügte <strong>der</strong> Staat über riesige, durch den Krieg verursachte und deshalb vorläufige<br />

"Son<strong>der</strong>kont<strong>in</strong>gente". Dazu gehörten Kriegsgefangene, Internierte, <strong>in</strong> Arbeitsbataillonen<br />

Mobilisierte und Heimkehrer, die <strong>in</strong> Prüf- und Filtrationslagern überprüft wurden 175 . E<strong>in</strong>e<br />

Vorstellung vom Ausmaß dieser stürmischen Zunahme an Zwangsarbeitern <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>, die<br />

sich aus diesen Kont<strong>in</strong>genten rekrutierten und <strong>der</strong>en Lage sich kaum von jener <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge<br />

unterschied, vermitteln folgende Angaben: Während zum 1. Januar 1944 <strong>in</strong>sgesamt 32.161<br />

Kriegsgefangene zu Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt wurden 176 , waren es zum 1. Januar 1946 alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den<br />

ITL bereits 170.000 177 , <strong>in</strong>sgesamt wurden 1946 nach Stefan Karner durchschnittlich mehr als 1,8<br />

171 So gab es z.B. zum 1. September 1945 <strong>in</strong>sgesamt 38.568 zu Katorga-Arbeiten Verurteilte, davon im WORKUTA-<br />

ITL —14.162, im TAISCHET-ITL — 9.001, im NÖRDÖSTLICHEN ITL — 7.988, im NORILSKER ITL — 3.023<br />

und im KARAGANDA-ITL — 172 Personen; außerdem waren <strong>in</strong> den Gefängnissen 4.222 Personen <strong>in</strong>haftiert.<br />

(GARF. F. 9414. Op. 1. D. 76. L. 11).<br />

172 Befehl 0013 des NKWD vom 07.01.44. Gemäß diesem Befehl mussten alle "Volksdeutschen" durch e<strong>in</strong>en<br />

Son<strong>der</strong>ausschuss verurteilt werden.<br />

173 V. N. Zemskov: GULAG: Istoriko-sociologičeskij aspekt [GULAG: Historisch-soziologischer Aspekt]. In:<br />

Sociologičeskie issledovanija [Soziologische Forschungen]. 1991. Nr. 7. S. 3–16.<br />

174 P. M. Poljan: Žertvy dvuch diktatur: Ostarbaitery i voennoplennye v Tret'em Reiche i ich repratriacija [Opfer<br />

zweier Diktaturen: Ostarbeiter und Kriegsgefangene im Dritten Reich und ihre Rückführung <strong>in</strong> die Heimat],<br />

Moskau1996. S. 228–258, 275–277, 297–299.<br />

175 Neben diesen Häftl<strong>in</strong>gskategorien zählten zu diesen Kont<strong>in</strong>genten auch jene ehemaligen Häftl<strong>in</strong>ge, die per<br />

Verfügung des Staatlichen Verteidigungsausschusses "bis Kriegsende" <strong>in</strong> den Lagern zurückgehalten wurden.<br />

176 I. V. Bezborodova: Organizacija trudoispol'zovanija voennoplennych, <strong>in</strong>ternirovannych v lagerjach NKVD-MVD<br />

SSSR v gody vtoroj mirovoj vojny [Organisation des Arbeitse<strong>in</strong>satzes von Kriegsgefangenen und Internierten <strong>in</strong> den<br />

Lagern des NKWD-MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> <strong>in</strong> den Jahren des Zweiten Weltkrieges]. In: Problema voennogo plena:<br />

Istorija i sovremennost': Materialy Meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii, 23-25 oktjabra 1997 [Problem<br />

<strong>der</strong> Kriegsgefangenschaft: Geschichte und Gegenwart: Dokumente <strong>der</strong> Internationalen wiss. Konferenz vom 23. bis<br />

25. Oktober 1997]. 2. Teil. Wologda 1997. S. 50–58.<br />

177 GARF. F. 9414. Op. 1d. D. 447. L. 2–4.<br />

53


Mio. Menschen zu Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt (wahrsche<strong>in</strong>lich Internierte e<strong>in</strong>gerechnet) 178 , und<br />

<strong>in</strong>sgesamt befanden sich <strong>in</strong> den Lagern, den Son<strong>der</strong>arbeitsbataillonen und den<br />

Spezialkrankenhäusern <strong>der</strong> GUPWI ca. 2,5 Mio. Kriegsgefangene 179 . Im Laufe des Jahres 1945<br />

und im W<strong>in</strong>ter 1946 wurden mehr als 600.000 Heimkehrer 180 und ungefähr 150.000 <strong>in</strong>ternierte<br />

Deutsche 181 <strong>in</strong> Arbeitsbataillone deportiert. Ungefähr weitere 150.000 bis 350.000 Personen (<strong>in</strong><br />

verschiedenen Monaten) bildeten die "Kont<strong>in</strong>gente" <strong>der</strong> Prüf- und Filtrationslager 182 . Dafür<br />

reichten die Ressourcen des Lagersystems (Unterkünfte, Führungspersonal, Wachschutz,<br />

Produktionse<strong>in</strong>richtungen usw.) nicht aus. Deshalb wurden <strong>der</strong> GUSchossDor ab Herbst 1945<br />

Arbeitskräfte aus Kriegsgefangenenlagern bereitgestellt. In e<strong>in</strong>igen ITL machte <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>ge weniger als 10% aller Arbeiter aus, und <strong>in</strong>sgesamt reduzierte sich bis 1. Januar 1946<br />

(nach <strong>der</strong> Amnestie von 1945) die Häftl<strong>in</strong>gszahl <strong>in</strong> den ITL unter zentraler Leitung 183 bis auf fast<br />

600.000 Personen. <strong>Das</strong> war das niedrigste Niveau seit 1935 und machte nur ca. 47% aller<br />

"Arbeitskraftkont<strong>in</strong>gente " dieser ITL aus 184 .<br />

Vom Des<strong>in</strong>teresse <strong>der</strong> Regierung an <strong>der</strong> Erhöhung <strong>der</strong> Insassenzahl zeugt auch das Schicksal <strong>der</strong><br />

so genannten Wlassow-Soldaten (hierzu gehörten nicht nur die Soldaten <strong>der</strong> vere<strong>in</strong>ten Russischen<br />

Befreiungsarmee, son<strong>der</strong>n auch an<strong>der</strong>er deutscher Armee- und Polizeitruppen, die sich aus<br />

Sowjetbürgern rekrutierten). Nach <strong>der</strong> damals gültigen Gesetzgebung hätte man sie e<strong>in</strong>fach zu<br />

Verbrechern ("Vaterlandsverrat") erklären können, unabhängig von ihrer konkreten Tätigkeit <strong>in</strong><br />

diesen Truppenteilen, und das hätte automatisch m<strong>in</strong>destens e<strong>in</strong>e Verurteilung zu langjähriger<br />

Lagerhaft bedeutet. Aber gemäß <strong>der</strong> Verfügung 9871s des Staatlichen Verteidigungsausschusses<br />

178 S. Karner: Deutsche Kriegsgefangene und Internierte <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion 1941–1956 In: Problema voennogo<br />

plena: Istorija i sovremennost': Materialy Meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii, 23-25 oktjabra 1997<br />

[Problem <strong>der</strong> Kriegsgefangenschaft]. 2. Teil. Wologda 1997. S. 14–33.<br />

179 Ebenda; I. V. Bezborodova: Inostrannye voennoplennye i <strong>in</strong>ternirovannye v SSSR: Iz istorii dejatelnosti<br />

Upravlenija po delam voennoplennych i <strong>in</strong>ternirovannych NKVD-MVD SSSR v poslevoennyj period (1945-1953)<br />

[Ausländische Kriegsgefangene und Internierte <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>: Zur Geschichte <strong>der</strong> Verwaltung für Kriegsgefangene<br />

und Internierte des NKWD-MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit (1945-1953)] In: Otečestvennaja istorija<br />

[Vaterländische Geschichte]. 1997. Nr. 5. S. 165–173; V. B. Konasov: Sud'by nemeckich voennoplennych v SSSR:<br />

Diplomatičeskie, pravovye i političeske aspekty problemy: Očerki i dokumenty [Schicksale deutscher<br />

Kriegsgefangener <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. Wolgoda 1996. S. 8, 123–244; V. P. Galickij: Vražeskie voennoplennye v SSSR<br />

(1941-1945) [Fe<strong>in</strong>dliche Kriegsgefangene <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. In: Voenno-istoričeskij žurnal [Militärhistorische<br />

Zeitschrift]. 1990. Nr. 9. S. 39–46. Es sei angemerkt, dass die veröffentlichten Daten über den Zuwachs <strong>der</strong><br />

Kriegsgefangenen fragmentarisch und wi<strong>der</strong>sprüchlich s<strong>in</strong>d.<br />

180 P. M. Poljan: Žertvy dvuch diktatur: Ostarbaitery i voennoplennye v Tret'em Reiche i ich repratriacija [Opfer<br />

zweier Diktaturen: Ostarbeiter und Kriegsgefangene im Dritten Reich und ihre Rückführung <strong>in</strong> die Heimat],<br />

Moskau1996. S. 299.<br />

181 P. M. Poljan: "Reparacii trudom": Motivy i predystorija poslevoennogo trudoispolzovanija <strong>in</strong>ternirovannych i<br />

mobilizovannych – nemezkich graždanskich lic v SSSR [Reparationszahlungen <strong>in</strong> Form von Arbeit] In: Problema<br />

voennogo plena: Istorija i sovremennost': Materialy Meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii, 23-25<br />

oktjabra 1997 [Problem <strong>der</strong> Kriegsgefangenschaft]. 2. Teil. Wologda 1997. S. 59–67; I. Ju. Gorbunov: Prebyvanie<br />

nemeckich voennoplennych v SSSR: Uslovija so<strong>der</strong>žanija, medic<strong>in</strong>skoe obespečenie (po dokumentam GARF) [Der<br />

Aufenthalt deutscher Kriegsgefangener <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. In: Ebenda. S. 134–143.<br />

182 V. N. Zemskov: GULAG: Istoriko-sociologičeskij aspekt [GULAG: Historisch-soziologischer Aspekt]. In:<br />

Sociologičeskie issledovanija [Soziologische Forschungen]. 1991. Nr. 7. S. 3–16. P. M. Poljan: Žertvy dvuch<br />

diktatur: Ostarbaitery i voennoplennye v Tret'em Reiche i ich repratriacija [Opfer zweier Diktaturen: Ostarbeiter<br />

und Kriegsgefangene im Dritten Reich und ihre Rückführung <strong>in</strong> die Heimat], Moskau1996. S. 302. Es sei angemerkt,<br />

dass die Abteilung für Prüf- und Filtrationslager des NKWD per Befehl 0075 des NKWD vom 22. Januar 1946<br />

aufgelöst und <strong>der</strong>en Funktionen <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) übertragen wurden.<br />

183 D. h. jene ITL, die den Hauptverwaltungen und den Verwaltungen des NKWD-MWD direkt unterstanden.<br />

184 GARF. F. 9414. Op. 1d. D. 447. L. 1–28.<br />

54


vom 18. August 1945 und weiteren Verfügungen des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong><br />

wurden viele von ihnen für sechs Jahre <strong>in</strong> Son<strong>der</strong>siedlungen verbannt 185 .<br />

Die Wirtschaftslage <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion 1945-1946 beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te ebenfalls die Ausweitung <strong>der</strong><br />

Haftanstalten und die Steigerung <strong>der</strong> Produktionskapazität. Wie bereits erläutert, war die<br />

wichtigste Wirtschaftsnische <strong>der</strong> Lager die schnelle Durchführung von großen<br />

Investitionsprojekten <strong>in</strong> Regionen mit unzureichend entwickelter Infrastruktur, <strong>der</strong>en Bedeutung<br />

<strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie nicht ökonomischer, son<strong>der</strong>n militärstrategischer o<strong>der</strong> politischer Natur war o<strong>der</strong><br />

bei <strong>der</strong>en Durchführung hauptsächlich unqualifizierte Arbeitskräfte benötigt wurden. Da die<br />

nötigen Mittel fehlten, konnte <strong>der</strong> Staat ähnliche Projekte nur <strong>in</strong> Ausnahmefällen <strong>in</strong>itiieren.<br />

Zweifellos bestand die vordr<strong>in</strong>glichste Aufgabe des Staates im Wie<strong>der</strong>aufbau e<strong>in</strong>es m<strong>in</strong>imalen<br />

Versorgungssystems und <strong>in</strong> <strong>der</strong> gleichzeitigen Wie<strong>der</strong>belebung von Industrie und Landwirtschaft<br />

<strong>in</strong> den vormals okkupierten Gebieten, alle<strong>in</strong> schon aus dem Grund, weil diese Gebiete die<br />

potentiell wichtigste Grundlage <strong>der</strong> landwirtschaftlichen und (teilweise) <strong>in</strong>dustriellen Produktion<br />

des Landes bildeten. Diese früher am dichtesten besiedelten Regionen, <strong>in</strong> denen durch die totalen<br />

Zerstörungen und immensen Menschenverluste die Arbeitskräfte äußerst rar geworden waren,<br />

konnten nicht wie <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorkriegszeit die "Geberregionen" für den Lager- und Industriekomplex<br />

se<strong>in</strong>. Im Gegenteil: die Behörden mussten Arbeiter aus an<strong>der</strong>en Regionen anwerben. Beispielhaft<br />

sei das Schicksal <strong>der</strong> repatriierten Ingermanlän<strong>der</strong> erwähnt, denen Ende 1944 / Anfang 1945 nach<br />

ihrer Rückkehr aus F<strong>in</strong>nland <strong>in</strong> die Sowjetunion die Ansiedlung <strong>in</strong> den Heimatorten (Gebiet<br />

Len<strong>in</strong>grad und <strong>in</strong> Karelien) nicht mehr gestattet wurde, die sich jedoch <strong>in</strong> <strong>der</strong> "Nachbarschaft"<br />

nie<strong>der</strong>lassen durften, vor allem <strong>in</strong> den vom Krieg am stärksten betroffenen Gebieten Welikije<br />

Luki, Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>, Nowgorod und Pskow 186 .<br />

Die aufgezählten Faktoren dienen nach Ansicht <strong>der</strong> Autoren als erste Annäherung, um die Lage<br />

<strong>der</strong> Haftanstalten und die Häftl<strong>in</strong>gszahlen von 1944 bis 1946 (Abb. 2) zu erklären. <strong>Das</strong> schnelle<br />

Wachstum <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Jahreshälfte 1944, das hauptsächlich durch e<strong>in</strong>e Zunahme <strong>der</strong><br />

Gefangenen <strong>in</strong> den Haftanstalten <strong>der</strong> Territorialorgane bed<strong>in</strong>gt war, wurde <strong>in</strong> <strong>der</strong> ersten<br />

Jahreshälfte 1945 von e<strong>in</strong>er relativen Stabilisierung abgelöst. Darauf folgte im Sommer 1945 die<br />

Amnestie, die neben dem offensichtlichen politischen Effekt e<strong>in</strong>e Ressourcenfreisetzung bereits<br />

im August/September ermöglichte, als <strong>der</strong> Strom <strong>der</strong> Kriegsgefangenen und Heimkehrer <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

zweiten Hälfte 1945 se<strong>in</strong>en Höhepunkt erreichte. Danach wurden die meisten Verurteilten <strong>in</strong> die<br />

Haftanstalten <strong>der</strong> Territorialorgane verbracht. Wegen ihrer ausreichenden Mobilität konnten sie<br />

situativ und "punktgenau" e<strong>in</strong>gesetzt werden und führten sowohl Arbeiten vor Ort als auch<br />

kle<strong>in</strong>ere, aber wichtige Aufträge höherer (bis h<strong>in</strong> zu Regierungs-)Instanzen aus. Die<br />

Insassenzahlen <strong>in</strong> den ITL blieben jedoch bis Mitte 1946 unverän<strong>der</strong>t, sodass für die Dauer von<br />

zwanzig Jahren die Zeit von Mitte 1946 bis Anfang 1947 die e<strong>in</strong>zige Epoche war, als <strong>in</strong> den<br />

Haftanstalten <strong>der</strong> Territorialorgane wesentlich mehr Personen <strong>in</strong>haftiert waren als <strong>in</strong> den Lagern.<br />

Dabei gehörten per 1. Juli 1946 von 806.193 Häftl<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> den UITLK-OITK 506.289 zum<br />

"Lagerkont<strong>in</strong>gent" (d. h. sie hatten e<strong>in</strong> Strafmaß von mehr als drei Jahren Freiheitsentzug, und sie<br />

mussten ihre Haft <strong>in</strong> Lagerunterabteilungen verbüßen), während die Gesamtzahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong><br />

den Lagern unter zentraler Leitung (Häftl<strong>in</strong>ge auf Transport e<strong>in</strong>gerechnet) zu diesem Zeitpunkt<br />

660.135 betrug 187 . Somit waren die Haftanstalten <strong>in</strong> <strong>der</strong> UITLK-OITK im Pr<strong>in</strong>zip e<strong>in</strong>e wichtige<br />

185 P. M. Poljan: Žertvy dvuch diktatur: Ostarbaitery i voennoplennye v Tret'em Reiche i ich repratriacija [Opfer<br />

zweier Diktaturen: Ostarbeiter und Kriegsgefangene im Dritten Reich und ihre Rückführung <strong>in</strong> die Heimat],<br />

Moskau1996. S. 302.<br />

186 Ebenda. S. 222.<br />

187 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1259. L. 9.<br />

55


operative Reserve, um alte Lager aufzufüllen und neue, große Lagerstrukturen nach Bedarf<br />

aufzubauen, obwohl, wie später gezeigt wird, dieses Potential bis 1950 nicht e<strong>in</strong>gesetzt wurde.<br />

Es ist klar, dass die genannten Faktoren, die die Wie<strong>der</strong>herstellung des Vorkriegszustandes <strong>der</strong><br />

Haftanstalten, <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e des ITL-<strong>System</strong>s, beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten, lediglich vorübergehen<strong>der</strong> Natur<br />

waren. <strong>Das</strong> Staatssystem h<strong>in</strong>gegen hatte sich seit <strong>der</strong> Vorkriegszeit nicht geän<strong>der</strong>t. Ihm zugrunde<br />

lag weiterh<strong>in</strong> die Zwangsarbeit <strong>in</strong> ihren verschiedenen Formen (durch Häftl<strong>in</strong>ge, Son<strong>der</strong>siedler,<br />

militärische Bauarbeiter, Kolchosbauern usw.) und Bestrafung (bzw. Strafandrohung) als<br />

wichtigster Antrieb jeglicher Tätigkeit. Es nimmt nicht wun<strong>der</strong>, dass seit Mitte 1946 neben dem<br />

rasanten Anstieg <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gszahlen <strong>in</strong> <strong>der</strong> UITLK-OITK sowohl die Zahl <strong>der</strong> ITL<br />

kont<strong>in</strong>uierlich zunahm (zum 1. Januar 1946 gab es 44 und Ende 1948 79 Lager und<br />

Lagerabteilungen unter Zentralverwaltung) als auch die Häftl<strong>in</strong>gszahl (Abb. 2).<br />

Bis Frühjahr/Sommer 1950 stieg die Gesamtzahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge mal schneller, mal langsamer<br />

weiter an (vorübergehend stagnierte sie sogar), dann hatte sie ihren absoluten Höhepunkt erreicht:<br />

2,6 Mio. Personen waren <strong>in</strong> Lagern und Kolonien <strong>in</strong>haftiert 188 (die Zahl <strong>der</strong> Gefängnis<strong>in</strong>sassen<br />

schwankte außerdem zwischen 170.000 bis 190.000 189 , und mehrere Zehntausend befanden sich<br />

auf Transport, sodass die maximale Häftl<strong>in</strong>gszahl <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> mehr als 2,8 Mio. Personen<br />

betrug). In den folgenden an<strong>der</strong>thalb Jahren g<strong>in</strong>g sie etwas zurück und pendelte sich bis Mitte<br />

1952 bei 2,5 Mio. Personen (<strong>in</strong> Lagern und Kolonien) e<strong>in</strong>. Betrachtet man jedoch die<br />

Häftl<strong>in</strong>gszahlen <strong>in</strong> den zwei wichtigsten Untersystemen <strong>der</strong> Haftanstalten, bietet sich e<strong>in</strong> weitaus<br />

komplexeres Bild (Abb. 2). In den UITLK-OITK setzte sich das kont<strong>in</strong>uierliche Wachstum nur<br />

zwei Jahre lang (1946-1947) fort. Danach schwankte die Häftl<strong>in</strong>gszahl unregelmäßig <strong>in</strong> den<br />

Jahren 1948-1949 um die erreichte Höchstzahl, worauf e<strong>in</strong> zweijähriger Rückgang <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>gszahlen bis auf das Niveau vor <strong>der</strong> Amnestie 1945 e<strong>in</strong>setzte. Die Häftl<strong>in</strong>gszahlen <strong>in</strong> den<br />

Lagern unter Zentralverwaltung stiegen h<strong>in</strong>gegen ab Mitte 1946 ziemlich lange konstant an (bis<br />

Ende 1951), dann pendelten sie sich etwa auf dem Höchststand <strong>der</strong> Vorkriegszeit e<strong>in</strong>. Die<br />

unterschiedlichen Entwicklungen <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gszahlen <strong>in</strong> den Jahren 1946-1953 belegen, dass bei<br />

<strong>der</strong> Entwicklung <strong>der</strong> Haftanstalten offenbar e<strong>in</strong>e Reihe verschiedenartiger, vorübergehen<strong>der</strong><br />

sowie ständiger, Faktoren e<strong>in</strong>e Rolle spielte.<br />

Bevor diese Faktoren im e<strong>in</strong>zelnen untersucht werden, ist zunächst e<strong>in</strong>e Frage geson<strong>der</strong>t zu<br />

behandeln, an <strong>der</strong> sich bis heute h<strong>in</strong>sichtlich <strong>der</strong> Lager <strong>der</strong> Nachkriegszeit die Geister scheiden.<br />

Dabei geht es um das von 1948-1953 unter MWD-Leitung aufgebaute Netz von Son<strong>der</strong>lagern<br />

(OssobLag).<br />

Diese politische Maßnahme wurde mit <strong>der</strong> Verfügung 416-159ss des M<strong>in</strong>isterrats <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong><br />

vom 21. Februar 1948 e<strong>in</strong>geleitet. Die gemäß dieser Verfügung gegründeten Son<strong>der</strong>lager (sowie<br />

die Son<strong>der</strong>gefängnisse <strong>in</strong> Wladimir, Aleksandrowsk und Werchne-Uralsk) waren Verurteilten<br />

wegen Spionage, Diversion und Terror vorbehalten, außerdem Trotzkisten, Reaktionären,<br />

Menschewiken, Sozialrevolutionären, Anarchisten, Nationalisten, Revolutionsflüchtl<strong>in</strong>gen,<br />

Mitglie<strong>der</strong>n antisowjetischer Organisationen und Gruppen sowie "Personen, die durch ihre<br />

antisowjetischen Verb<strong>in</strong>dungen e<strong>in</strong>e Gefahr darstellen" (vor allem Häftl<strong>in</strong>gen, die ihre Haftzeit<br />

188 Verschiedene Quellen, die <strong>in</strong> <strong>der</strong> Fußnote 134 aufgeführt wurden, machen Größenangaben, die um 20.000<br />

Personen schwanken. Vielleicht ist das damit begründet, dass es ke<strong>in</strong>e Absprachen dazu gab, ob die Gefangenen, die<br />

sich auf dem Transport von e<strong>in</strong>em Lager <strong>in</strong> e<strong>in</strong> an<strong>der</strong>es befanden, auch dazu zu zählen s<strong>in</strong>d o<strong>der</strong> nicht. Die Autoren<br />

haben Durchschnittsdaten angeführt. Genauere Schätzungen bedürfen zusätzlicher Forschung.<br />

189 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2877. L. 140.<br />

56


ereits abgesessen hatten) 190 . Häftl<strong>in</strong>ge, die diesen Kategorien nicht entsprachen, dem so<br />

genannten allgeme<strong>in</strong>en Kont<strong>in</strong>gent angehörten und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel nicht mehr unter Bewachung<br />

standen, konnten <strong>in</strong> E<strong>in</strong>zelfällen <strong>in</strong> den Son<strong>der</strong>lagern bleiben und wurden dort zu Arbeiten<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, die dem "Son<strong>der</strong>kont<strong>in</strong>gent" verboten waren (z.B. Fahrdienste, Wartung von<br />

Elektroanlagen usw.). Die "Kont<strong>in</strong>gente" <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>lager sollten vollständig von den an<strong>der</strong>en<br />

Häftl<strong>in</strong>gen isoliert werden (auch <strong>in</strong> den Arbeitszonen), und als Personal, das aus freien Arbeitern<br />

bestand, waren nur jene <strong>in</strong> den Arbeitszonen zugelassen, die e<strong>in</strong>e "Son<strong>der</strong>prüfung" bestanden<br />

hatten. Wohn- und Arbeitszonen mussten so e<strong>in</strong>gerichtet se<strong>in</strong>, dass e<strong>in</strong>e Flucht ausgeschlossen<br />

war. Die Bed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong> den Wohnzonen ähnelten <strong>der</strong> Gefängnishaft (vergitterte Fenster, die<br />

Baracken wurden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nacht abgeschlossen, <strong>in</strong> <strong>der</strong> arbeitsfreien Zeit durfte man die Baracken<br />

nicht verlassen); "zeitweise" betrug <strong>der</strong> M<strong>in</strong>destwohnraum 1 m² pro Person – die Hälfte dessen,<br />

was für das ITL galt. Die Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den Son<strong>der</strong>lagern sollten zu beson<strong>der</strong>s schweren Arbeiten<br />

e<strong>in</strong>gesetzt werden. Mit <strong>der</strong> Bewachung wurden die Begleittruppen beauftragt (und nicht die<br />

bewaffnete Wache wie <strong>in</strong> den ITL).<br />

Ursprünglich wurden fünf Son<strong>der</strong>lager (Nr. 1-5) 191 e<strong>in</strong>gerichtet und Ende Sommer 1948 e<strong>in</strong><br />

weiteres 192 . Als maximale Belegung legte die Regierung 145.000 Personen fest 193 . Aber die<br />

Entwicklung dieses Son<strong>der</strong>lagernetzes vollzog sich unter großen Schwierigkeiten. E<strong>in</strong>erseits<br />

wurden 1948 von e<strong>in</strong>er Spezialkommission des MWD rund 175.000 Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den Lagern und<br />

Kolonien bestimmt, die für e<strong>in</strong>e Verlegung <strong>in</strong> die Son<strong>der</strong>lager vorgesehen waren. Außerdem wies<br />

das MGB ständig neue Verurteilte dieser Kategorie <strong>in</strong> die Lager e<strong>in</strong> (durchschnittlich 2.500<br />

Personen pro Monat, zum 1. März 1949 gab es 24.722 Neue<strong>in</strong>weisungen). Somit übertraf bereits<br />

e<strong>in</strong> Jahr nach Annahme <strong>der</strong> Verfügung über die E<strong>in</strong>richtung von Son<strong>der</strong>lagern die Zahl <strong>der</strong> davon<br />

betroffenen Häftl<strong>in</strong>ge die maximal erlaubte Belegung um ca. 54.000 Personen 194 . An<strong>der</strong>erseits<br />

verzögerte sich wegen fehlen<strong>der</strong> Materialien <strong>der</strong> Umbau <strong>der</strong> e<strong>in</strong>fachen Lagere<strong>in</strong>richtungen<br />

entsprechend den Anfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>lager (so betrug alle<strong>in</strong> <strong>der</strong> Bedarf an Stacheldraht<br />

1.000 t, <strong>der</strong> jedoch nicht e<strong>in</strong>mal zur Hälfte gedeckt werden konnte). Beson<strong>der</strong>s schlecht sah es<br />

mit <strong>der</strong> Umrüstung <strong>der</strong> Produktionszonen aus. Es fehlte an Personal für die Begleitmannschaften<br />

<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>lager, die Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>der</strong> Wachmannschaften war problematisch 195 . Außerdem<br />

arbeiteten die Son<strong>der</strong>lager auch e<strong>in</strong> Jahr nach ihrer E<strong>in</strong>richtung mit Verlusten: Den<br />

Jahresausgaben 1949 <strong>in</strong> Höhe von. 701 Mio. Rubel (Wachdienst nicht e<strong>in</strong>gerechnet, da die<br />

Hauptverwaltung <strong>der</strong> Konvoitruppen geson<strong>der</strong>t f<strong>in</strong>anziert wurde!) standen geplante E<strong>in</strong>nahmen <strong>in</strong><br />

Höhe von 443 Mio. Rubel gegenüber 196 . Da es an Begleitmannschaften fehlte und sich <strong>der</strong>en<br />

Leiter weigerten, die Gefangenen <strong>in</strong> Arbeitszonen zu eskortieren, <strong>der</strong>en E<strong>in</strong>richtung nicht den<br />

Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>lager entsprach, wurden viele Häftl<strong>in</strong>ge nicht zur Arbeit geführt 197 .<br />

190 Befehl 00279/00108/72ss des MWD/MGB/<strong>der</strong> Staatsanwaltschaft vom 16.03.48.<br />

191 Befehl 00219 des MWD vom 28.02.48. Die Tarnbezeichnungen, unter denen die Son<strong>der</strong>lage allgeme<strong>in</strong> bekannt<br />

wurden, wurden ihnen erst später verliehen (geordnet nach Nummer: MINERALLAGER, BERGLAGER,<br />

EICHENHAINLAGER, STEPPENLAGER und UFERLAGER).<br />

192 Befehl 001040 des MWD vom 27.08.48 (Son<strong>der</strong>lager Nr. 6 ist das FLUSSLAGER).<br />

193 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1845. L. 206.<br />

194 Ebenda. L. 18, 19, 206.<br />

195 Ebenda. L. 71–77.<br />

196 Ebenda. L. 302.<br />

197 Ebenda. L. 71–77, 88, 89, 206. Während die Lagerwache zur Belegschaft gehörte und dem Lagerleiter gegenüber<br />

weisungsgebunden war, so waren Teile <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Konvoitruppen teilweise von <strong>der</strong> Lagerstruktur<br />

unabhängig. Wenn somit e<strong>in</strong> Lagerleiter vor die Wahl zwischen Nichterfüllung des Produktionsplans wegen<br />

Arbeitsverweigerung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge o<strong>der</strong> <strong>der</strong>en Massenausbruch gestellt war, konnte er auf eigene Verantwortung die<br />

57


Somit waren zum 1. März 1949, e<strong>in</strong> Jahr nach E<strong>in</strong>richtung <strong>der</strong> ersten Lager, nur 106.573<br />

Personen <strong>in</strong> den Son<strong>der</strong>lagern <strong>in</strong>haftiert (38.000 unter Maximalbelegung), also gut die Hälfte<br />

aller Gefangenen, auf die die Verfügung von 1948 zutraf 198 . Die Verlegung des Großteils <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> die Son<strong>der</strong>lager zog sich über mehrere Jahre h<strong>in</strong>. Unter E<strong>in</strong>berechnung des<br />

"allgeme<strong>in</strong>en Kont<strong>in</strong>gents", dessen Anteil ca. 10% betrug, waren am 1. Januar 1950 <strong>in</strong> den<br />

Son<strong>der</strong>lagern rund 185.000 Personen <strong>in</strong>haftiert, am 1. Januar 1951 betrug ihre Zahl 215.000, am<br />

1. Januar 1952 257.000 und am 1. Februar 1953 234.000 Personen 199 . <strong>Das</strong> letzte, Ende 1952<br />

gegründete Son<strong>der</strong>lager mit <strong>der</strong> Nummer 12, das "WASSERSCHEIDELAGER", kam praktisch<br />

nicht mehr dazu, se<strong>in</strong>e Arbeit aufzunehmen 200 . Der Vorschlag, die Führung aller Son<strong>der</strong>lager <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>er speziell dafür geschaffenen Verwaltung <strong>in</strong>nerhalb des GULAG zu bündeln, wurde<br />

abgelehnt 201 . Im Ergebnis stand die Hälfte aller Lager unter <strong>der</strong> Zuständigkeit des GULAG, und<br />

für die übrigen waren e<strong>in</strong>ige Produktionshauptverwaltungen zuständig, sodass die Existenz <strong>der</strong><br />

Son<strong>der</strong>lager ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf den Aufbau des Lager- und Produktionskomplexes hatte.<br />

Die Son<strong>der</strong>lager hatten auch ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf die Insassenzahlen <strong>in</strong> den Haftanstalten. <strong>Das</strong> ist<br />

verständlich, da bei <strong>der</strong> Entwicklung des Son<strong>der</strong>lagernetzes <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel auf dieselben<br />

Lagere<strong>in</strong>richtungen und dasselbe Lagerpersonal zurückgegriffen wurde. Die meisten Gefangenen<br />

<strong>der</strong> Son<strong>der</strong>lager waren aus ITL dorth<strong>in</strong> verlegt worden, sodass die E<strong>in</strong>richtung <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>lager<br />

hauptsächlich zur Umverteilung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge zwischen den Lagern führte.<br />

Die Schaffung e<strong>in</strong>es Subsystems von Son<strong>der</strong>lagern, wie auch an<strong>der</strong>er Subsysteme für bestimmte<br />

"Kont<strong>in</strong>gente" (z.B. die o.a. Katorga-Lager o<strong>der</strong> die 1946-1951 bestehenden so genannten<br />

Krankenlager für arbeitsuntaugliche Häftl<strong>in</strong>ge, siehe z.B. KRANKENLAGER<br />

MEDWESCHJEGORSK), war lediglich e<strong>in</strong>es von mehreren Elementen, die die B<strong>in</strong>nenstruktur<br />

des Lager- und Produktionskomplexes bestimmten, jedoch ke<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>fluss auf dessen<br />

Entwicklungsgeschw<strong>in</strong>digkeit o<strong>der</strong> -ausrichtung hatten.<br />

Nun soll jedoch die Geschichte des Lager- und Industriekomplexes <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit<br />

e<strong>in</strong>gehend untersucht werden.<br />

Von den Faktoren, die 1947-1949 Auswirkungen auf den Anstieg <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gszahlen und somit<br />

auf alle an<strong>der</strong>en Bereiche des Vollzugssystems hatten, war <strong>der</strong> wichtigste offensichtlich <strong>der</strong><br />

Rückgang <strong>der</strong> ausländischen Arbeitskräfte. Die Kriegsgefangenen und Internierten waren<br />

größtenteils nicht <strong>in</strong> <strong>der</strong> Lage, sich an die Haftbed<strong>in</strong>gungen anzupassen und wurden schnell<br />

arbeitsunfähig. Die Alliierten <strong>der</strong> Anti-Hitler-Koalition – <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die USA, die ke<strong>in</strong><br />

Interesse an Arbeitskräften hatten und 1947 die letzten Kriegsgefangenen entließen – setzten<br />

regelmäßig die Frage nach e<strong>in</strong>er schnellen Freilassung <strong>der</strong> Kriegsgefangenen auf die<br />

Tagesordnung. Somit begann die Rückkehr <strong>der</strong> Kriegsgefangenen und Internierten bereits 1946<br />

ihm unterstellten Wachen mit <strong>der</strong> Ausführung <strong>der</strong> Gefangenen zur Arbeit beauftragen. E<strong>in</strong> Kommandeur <strong>der</strong><br />

Begleittruppen hatte nicht mit diesem Dilemma zu kämpfen. Er war nur für die Bewachung verantwortlich – wozu<br />

auch die Überwachung des ordnungsgemäßen Zustandes <strong>der</strong> Ausrüstungen <strong>in</strong> den bewachten Objekten sowie <strong>der</strong><br />

Abgleich zwischen se<strong>in</strong>em Personalbedarf im Verhältnis zur Zahl <strong>der</strong> bewachten Objekte und Menschen gehörte –<br />

und konnte sich weigern, die Gefangenen e<strong>in</strong>es Son<strong>der</strong>lagers zur Arbeit h<strong>in</strong>auszuführen, sobald irgende<strong>in</strong>e<br />

Bed<strong>in</strong>gung o<strong>der</strong> Vorschrift nicht e<strong>in</strong>gehalten wurde.<br />

198 Ebenda. L. 18.<br />

199 Berechnungsgrundlagen siehe: UFERLAGER, WASSERSCHEIDELAGER, BERGLAGER, FERNES LAGER,<br />

EICHENHAINLAGER, SCHILFLAGER, WIESENLAGER, MINERALLAGER, SEELAGER, SANDLAGER,<br />

FLUSSLAGER, STEPPENLAGER.<br />

200 Befehl 00869 des MWD vom 25.10.52; Siehe auch WASSERSCHEIDELAGER.<br />

201 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1845. L. 271–281, 302–303.<br />

58


und nahm 1947-1949 rasant zu. Danach gab es <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowjetunion relativ wenige verurteilte<br />

Kriegsgefangene, die für die Volkswirtschaft ke<strong>in</strong>e Bedeutung mehr hatten 202 .<br />

Anzahl <strong>der</strong> Kriegsgefangenen <strong>in</strong> den Jahren 1946 bis 1953 (<strong>in</strong> Tsd.)<br />

Datum 01.46 02.47 01.48 01.49 01.50 01.53<br />

Insassenzahl 2.400–2.700 1.800 1.200 550 37 19<br />

Im Ergebnis sank z.B. die Zahl <strong>der</strong> Kriegsgefangenen <strong>in</strong> den ITL unter Zentralverwaltung von<br />

Anfang 1946 bis Ende 1947 um mehr als die Hälfte, während <strong>der</strong> Anteil <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge an <strong>der</strong><br />

Gesamtzahl <strong>der</strong> Arbeiter von 47% auf 71% stieg 203 . 1948-1949 wurden für die GUSchossDor<br />

erneut Häftl<strong>in</strong>ge als Arbeitskräfte e<strong>in</strong>gesetzt, wofür zehn ITL e<strong>in</strong>gerichtet wurden, von denen<br />

acht Lager früher <strong>der</strong> GUPWI unterstellt gewesen waren 204 .<br />

Bis Anfang 1948 beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten die Humanressourcen des Landes we<strong>der</strong> die Zunahme <strong>der</strong><br />

Häftl<strong>in</strong>ge noch die Geschw<strong>in</strong>digkeit, mit <strong>der</strong> die Lagerproduktion wie<strong>der</strong>aufgenommen wurde.<br />

Diese Vermutung legen zum<strong>in</strong>dest die steigenden Häftl<strong>in</strong>gszahlen sowohl <strong>in</strong> den ITL unter<br />

Zentralverwaltung als auch <strong>in</strong> den Haftanstalten <strong>der</strong> UITLK-OITK nahe (Abb. 2). <strong>Das</strong> bedeutete<br />

gleichzeitig, dass die Konzentration von Häftl<strong>in</strong>gen für die Durchführung wichtiger Objekte, die<br />

i.d.R. zentralen Lagerverwaltungen unterstellt waren, nicht notwendig war.<br />

Die Haftanstalten füllten sich im Wesentlichen ke<strong>in</strong>eswegs mit Personen, die man, wenn auch<br />

mit Mühe, als "Politische" bezeichnen konnte. 1945-1946 blieben <strong>der</strong> Hauptteil des Territoriums<br />

und <strong>der</strong> Bevölkerung des Landes von irgendwelchen speziellen Aktionen verschont, trotzdem<br />

wuchs die Häftl<strong>in</strong>gszahl <strong>in</strong> den Lagern und Kolonien von rund 1 Mio. (1. Oktober 1945) bis auf<br />

fast 1,7 Mio. (Anfang 1947). Nachdem sich <strong>der</strong> Anstieg <strong>der</strong> Insassenzahlen verlangsamte (ca.<br />

150.000 pro Halbjahr), wurden ke<strong>in</strong>e neuen Massenverurteilungen von "Spionen", "Diversanten"<br />

o<strong>der</strong> "Anhängern Trotzkis, S<strong>in</strong>owjews o<strong>der</strong> Buchar<strong>in</strong>s" mehr fabriziert 205 . Angesichts <strong>der</strong><br />

verarmten Bevölkerung und des totalen Defizits an Konsumgütern <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachkriegszeit wurde<br />

am 4. Juni 1947 <strong>der</strong> Präsidiumserlass des Obersten Sowjets "Über die strafrechtliche<br />

Verantwortlichkeit wegen Diebstahls von staatlichem und gesellschaftlichem Eigentum"<br />

verabschiedet 206 . Die von diesem Erlass vorgesehene M<strong>in</strong>deststrafe betrug fünf Jahre Lagerhaft.<br />

Die Bedeutung dieses Erlasses für den Anstieg <strong>der</strong> Insassenzahlen <strong>in</strong> den Haftanstalten wird aus<br />

202 V. B. Konasov: Sud'by nemeckich voennoplennych v SSSR: Diplomatičeskie, pravovye i političeske aspekty<br />

problemy: Očerki i dokumenty [Schicksale deutscher Kriegsgefangener <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. Wolgoda 1996. S. 8, 123–<br />

244; I. V. Bezborodova: Inostrannye voennoplennye i <strong>in</strong>ternirovannye v SSSR: Iz istorii dejatelnosti Upravlenija po<br />

delam voennoplennych i <strong>in</strong>ternirovannych NKVD-MVD SSSR v poslevoennyj period (1945-1953) [Ausländische<br />

Kriegsgefangene und Internierte <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. In: Otečestvennaja istorija [Vaterländische Geschichte]. 1997. Nr.<br />

5. S. 165–173. Diesen Quellen zufolge begann die Repatriierung bereits 1945, damals wurden jedoch überwiegend<br />

<strong>in</strong>valide Häftl<strong>in</strong>ge mit offenen Wunden etc. entlassen, die nicht arbeiteten und auch <strong>in</strong> Zukunft nicht zu Arbeiten<br />

e<strong>in</strong>gesetzt werden konnten.<br />

203 GARF. F. 9414. Op. 1d. D. 447. L. 1–28, 45–48; D. 457. L. 1–48.<br />

204 Befehl 00950 des MWD vom 12.10.49; Befehl 00414 des MWD vom 30.04.49.<br />

205 Weith<strong>in</strong> bekannte Prozesse Anfang <strong>der</strong> 1950er Jahre, wie z.B. <strong>der</strong> "Len<strong>in</strong>gra<strong>der</strong> Prozess", <strong>der</strong> "M<strong>in</strong>grelien-<br />

Prozess", <strong>der</strong> "Prozess gegen das Jüdische Antifaschistische Komitee" u.a., hatten ke<strong>in</strong>e Auswirkungen auf die<br />

Gefangenenzahlen. Insgesamt wurde <strong>in</strong> diesen Prozessen nur e<strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Teil zu Zwangsarbeit verurteilt; die<br />

meisten Angeklagten wurden entwe<strong>der</strong> erschossen o<strong>der</strong> verbannt.<br />

206 Vedomosti VS SSSR [Mitteilungen des Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>]. 1947. Nr. 19.<br />

59


<strong>der</strong> Gegenüberstellung folgen<strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>gszahlen <strong>in</strong> den Lagern und Kolonien deutlich. Als <strong>der</strong><br />

Erlass verabschiedet wurde, gab es rund 1,8 Mio. Häftl<strong>in</strong>ge; <strong>der</strong> Höhepunkt war im<br />

Frühjahr/Sommer 1950 mit rund 2,6 Mio. erreicht; am 1. Januar 1953 gab es ca. 2,5 Mio.<br />

Gefangene, von denen die Hälfte nach dem Erlass vom 4. Juni 1947 verurteilt worden war<br />

(hauptsächlich wegen kle<strong>in</strong>erer Diebstähle) 207 .<br />

Sicherlich gab es auch politische Faktoren, die die Zahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> <strong>der</strong> zweiten Hälfte <strong>der</strong><br />

1940er Jahre ansteigen ließen. Als prägnantes Beispiel sei hierfür das Wirken <strong>der</strong> sowjetischen<br />

Staatsorgane <strong>in</strong> den 1939-1945 annektierten Gebieten genannt, das die Anpassung <strong>der</strong> sozialen<br />

und Wirtschaftsbed<strong>in</strong>gungen an das Niveau <strong>in</strong> gesamten Land und den Kampf gegen<br />

nationalistische Organisationen (Organisation Ukra<strong>in</strong>ischer Nationalisten u.a.) zum Ziel hatte.<br />

Gleichzeitig führte das Festhalten an früheren Staatsaufgaben und <strong>der</strong>en Ausweitung<br />

zwangsläufig zur Wie<strong>der</strong>belebung von alten und zur Entwicklung neuer bedeuten<strong>der</strong><br />

Investitionsprojekte mit militärstrategischer Bedeutung, was wie<strong>der</strong>um über kurz o<strong>der</strong> lang zum<br />

Wachstum des Lager- und Produktionskomplexes führte. Bereits Ende 1945 wurde <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong><br />

GULSchDS <strong>der</strong> Grundste<strong>in</strong> für die Fortsetzung <strong>der</strong> Bauarbeiten an <strong>der</strong> Baikal-Amur-Magistrale<br />

gelegt, und bereits 1946 wurde an ihrem Ost- und Westabschnitt gearbeitet, wobei hauptsächlich<br />

japanische Kriegsgefangene e<strong>in</strong>gesetzt wurden. Im Frühjahr 1947 wurden Häftl<strong>in</strong>ge als<br />

Arbeitskräfte für e<strong>in</strong> neues Bauvorhaben – die Eisenbahnstrecke zum Obbusen – e<strong>in</strong>gesetzt 208 .<br />

Natürlich wurde das MWD e<strong>in</strong>bezogen, als es galt das "Atomprojekt" voranzutreiben. Hierfür<br />

wurde im Herbst 1946 die GULPS umgewandelt und zur "Son<strong>der</strong>organisation für den Bau von<br />

Betrieben und E<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> 1. Hauptverwaltung des M<strong>in</strong>isterrats <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>" erklärt 209 .<br />

Zum selben Zeitpunkt übernahm das MWD das Monopol über die Goldgew<strong>in</strong>nung: Sämtliche<br />

Goldför<strong>der</strong>betriebe wurden vom M<strong>in</strong>isterium für Buntmetallurgie an die wie<strong>der</strong>gegründete<br />

Hauptverwaltung (Son<strong>der</strong>hauptverwaltung des MWD) übergeben 210 . Die Lager, die hierfür die<br />

Arbeitskräfte bereitstellten, wurden hauptsächlich 1947 e<strong>in</strong>gerichtet. Im Laufe <strong>der</strong> Jahre 1947-<br />

1948 wurden die Auswirkungen dieser Schritte auf die Größe und Anzahl <strong>der</strong> ITL und die Zahl<br />

<strong>der</strong> dort Inhaftierten immer deutlicher. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass 1946-1948 weitaus<br />

weniger Industriebereiche von den Lagern abgedeckt wurden als <strong>in</strong> <strong>der</strong> Vorkriegszeit. <strong>Das</strong> waren<br />

im Wesentlichen: Holzgew<strong>in</strong>nung, Eisenbahnbau, Bergbau und Metallurgie, För<strong>der</strong>ung von Gold<br />

und Z<strong>in</strong>n, Landwirtschaft und Industriebau. Obwohl Ende 1947 e<strong>in</strong>e spezialisierte<br />

Hauptverwaltung 211 gegründet wurde, blieb das Bauvolumen im Wasserbau bis Ende 1949 (bis<br />

zur vollen Entfaltung <strong>der</strong> Arbeiten am Wolga-Don-Kanal) unerheblich. Beim Autostraßenbau<br />

wurden, wie bereits erwähnt, vor allem Kriegsgefangene e<strong>in</strong>gesetzt. Neben <strong>der</strong> GULPS wurden<br />

die wie<strong>der</strong>eröffneten ITL hauptsächlich bei <strong>der</strong> Fertigstellung von Projekten aus <strong>der</strong><br />

207 A. I. Kokur<strong>in</strong>, A. I. Požarov (Hrsg.): "Novyj kurs" L. P. Berii 1953 ["Der neue Kurs" L. P. Berijas 1953]. In:<br />

Istoričeskij archiv [Historisches Archiv]. 1996. Nr. 4. S. 143–144.<br />

208 Siehe: HAUPTVERWALTUNG DER LAGER FÜR EISENBAHNBAU DES NKWD–MWD DER UDSSR und<br />

NÖRDLICHE VERWALTUNG DER LAGER FÜR EISENBAHNBAU.<br />

209 Befehl 00932 des MWD vom 19.10.46. Die Erste Hauptverwaltung beim M<strong>in</strong>isterrat <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> wurde auf<br />

Verfügung 9887ss des Staatlichen Verteidigungsausschusses (GKO) vom 20. August 1945 e<strong>in</strong>gerichtet, um<br />

sämtliche Arbeiten zur Nutzung von Kernenergie und zur Herstellung e<strong>in</strong>er Atombombe unter e<strong>in</strong>e Führung zu<br />

stellen. (siehe V. N. Michailov (Hrsg.): Sozdanie pervoj sovetskoj ja<strong>der</strong>noj bomby [Der Bau <strong>der</strong> ersten sowjetischen<br />

Atombombe]. Moskau 1995. S. 52–54). Es sei angemerkt, dass die Forcierung dieses Projekts durch den<br />

e<strong>in</strong>setzenden Kalten Krieg diktiert wurde.<br />

210 Der Dalstroi, <strong>der</strong> den Hauptanteil an <strong>der</strong> sowjetischen Goldgew<strong>in</strong>nung hatte, blieb e<strong>in</strong>e unabhängige<br />

Zentralbehörde des MWD.<br />

211 Befehl 0688 des MWD vom 10.11.47.<br />

60


Vorkriegszeit e<strong>in</strong>gesetzt o<strong>der</strong> für Arbeiten, die ke<strong>in</strong>er größeren Investitionen bedurften<br />

(Holzgew<strong>in</strong>nung, Wie<strong>der</strong>aufbau und Betrieb von Kohleschächten usw.).<br />

Nachdem 1949 das Ende <strong>der</strong> "Wie<strong>der</strong>aufbauepoche" deklariert worden war, wurden die Arbeiten<br />

an immer neuen Objekten, für die gewaltige Investitionen erfor<strong>der</strong>lich waren, zügig<br />

aufgenommen. Bereits 1949-1950 begannen Häftl<strong>in</strong>ge mit den breit angelegten Arbeiten zur<br />

Verlegung des Wolga-Don-Kanals und zur Errichtung <strong>der</strong> Zimljansker Stauanlage, mit dem Bau<br />

des Wasserkraftwerks Kuibyschew und <strong>der</strong> riesigen petrochemischen Komb<strong>in</strong>ate <strong>in</strong> Baschkirien<br />

und dem Gebiet Irkutsk etc. Seit Ende 1949 wurden, wie bereits gesagt, <strong>der</strong> GUSchossDor<br />

Häftl<strong>in</strong>ge als Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt. Wie im Fall von Dalstroi wurde für die<br />

Erschließung von Lagerstätten von Bunt- und Edelmetallen im Süden <strong>der</strong> Region Krasnojarsk <strong>der</strong><br />

JenisseiStroi des MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> gegründet. Diese Expansion führte 1949 dazu, dass von den<br />

E<strong>in</strong>richtungen des MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> mehr als 10% <strong>der</strong> Brutto<strong>in</strong>dustrieproduktion des Landes<br />

erwirtschaftet wurden 212 .<br />

Der Prozess gewann an Fahrt. 1951-1952 wurden im Eisenbahnbau die Arbeiten an den<br />

bestehenden Bauvorhaben fortgesetzt und parallel dazu e<strong>in</strong> Netz von neuen ITL für Eisenbahnbau<br />

auf <strong>der</strong> Halb<strong>in</strong>sel Kola, im Gebiet Archangelsk und im Fernen Osten (<strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e für den<br />

Tunnelbau unter dem Tatarischen Sund) und von Lagern für Wasserbau (Wolga-Ostsee-Kanal,<br />

mehrere Stauanlagen <strong>in</strong> Zentralasien) aufgebaut sowie zahlreiche ITL im Gebiet Moskau u.a.<br />

e<strong>in</strong>gerichtet. Im MWD entstanden neue Industriezweige für das M<strong>in</strong>isterium, wie die Asbest- und<br />

Glimmer<strong>in</strong>dustrie. E<strong>in</strong> Großteil dieser Vorhaben war militärstrategisch ausgerichtet (z.B. <strong>der</strong><br />

Eisenbahnbau im europäischen Norden des Landes, <strong>der</strong> Tunnel unter dem Tatarischen Sund und<br />

viele Arbeiten im Gebiet Moskau) 213 .<br />

Somit erhöhte sich alle<strong>in</strong> 1949 die Zahl <strong>der</strong> Lager und Lagerabteilungen unter Zentralverwaltung<br />

von 79 auf 90 und bis Anfang 1953 auf 166. Weitere fünf ITL unterstanden<br />

Territorialverwaltungen und 82 UITLK-OITK wurden direkt von <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager<br />

(GULAG) geleitet. Anfang 1953 waren dem MWD 16 Produktionshauptverwaltungen und<br />

-verwaltungen (darunter auch die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager – GULAG) direkt unterstellt, die<br />

über Lager verfügten. Außerdem unterstand e<strong>in</strong> Lager <strong>der</strong> Wirtschaftsverwaltung des MWD, und<br />

die 4. Spezialabteilung des MWD leitete Spezialgefängnisse ("Scharaschkas"), <strong>in</strong> denen<br />

Häftl<strong>in</strong>ge Konstruktionsarbeiten durchführten. Weitere zehn Verwaltungen und Referate des<br />

M<strong>in</strong>isteriums, denen ke<strong>in</strong>e Haftanstalten unterstanden, waren entwe<strong>der</strong> mit eigenen<br />

Produktionsvorhaben betraut (z.B. <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>straßenbaukomplex des MWD) o<strong>der</strong> waren für die<br />

Koord<strong>in</strong>ation, Aufsicht o<strong>der</strong> Unterstützung <strong>der</strong> Produktionshauptverwaltungen und -<br />

verwaltungen des MWD verantwortlich (z.B. die Geologische Verwaltung des MWD, das<br />

Wasserbauprojekt des MWD o<strong>der</strong> die 6. Spezialabteilung des MWD) 214 .<br />

In den letzten Regierungsjahren Stal<strong>in</strong>s verwandelte sich das MWD <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en veritablen<br />

Alleskönner: sobald e<strong>in</strong>e neue Aufgabe gestellt wurde o<strong>der</strong> sich die Lage <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er bestehenden<br />

Produktion verschärfte, wurden ihm grundsätzlich die entsprechenden Arbeiten übergeben. Wenn<br />

212 G. M. Ivanova: GULAG v sisteme totalitarnogo gosudarstva [Der GULAG im totalitären Staatssystem]. Moskau<br />

1997. S. 136.<br />

213 Siehe: ITL "ASch", ITL "BSch", ITL "WTsch", ITL "GA", ITL "GB", ITL "DT", ITL "JeJa", ITL "JeSchtsch",<br />

ITL "JeJa", ITL "SchK", ITL "SchR", ITL "IN", ITL "KA", BAU 6 UND ITL, BAU 506 UND ITL, BAU 509 UND<br />

ITL, BAU 510 UND ITL, BAU 511 UND ITL, BAU 513 UND ITL, BAU 565 UND ITL.<br />

214 A. I. Kokur<strong>in</strong>, N. V. Petrov: Lubjanka. VČK-OGPU-NKVD-NKGB-MGB-MVD-KGB, 1917-1960. Spravočnik.<br />

Moskau 1997. S. 46–72.<br />

61


<strong>in</strong> den obersten Regierungskreisen Vorhaben beschlossen wurden, so wurde nicht nur ihre<br />

ökonomische Zweckmäßigkeit ignoriert (das belegt sowohl die sofort nach Stal<strong>in</strong>s Tod<br />

beschlossene Regierungsverfügung über die E<strong>in</strong>stellung <strong>der</strong> Arbeiten an den meisten <strong>in</strong> jenen<br />

Jahren begonnenen Objekten, als auch die im MWD gängige Praxis, Arbeiten sogar auf<br />

Großbaustellen ohne technisches Konzept und Wirtschaftlichkeitsprüfung <strong>in</strong> Angriff zu<br />

nehmen 215 ), son<strong>der</strong>n es bestand häufig auch e<strong>in</strong> Ungleichgewicht zwischen Fristen und<br />

bereitgestellten Arbeitskräften und Mitteln 216 . Es wurde, wie schon früher, auf die<br />

Mobilisierungsmöglichkeiten des MWD gesetzt. <strong>Das</strong> wird auch dadurch belegt, dass man<br />

angesichts zu vieler ITL (die E<strong>in</strong>richtung e<strong>in</strong>es weiteren ITL konnte nicht automatisch die<br />

Aufmerksamkeit <strong>der</strong> M<strong>in</strong>isteriumsspitze auf sich ziehen, und folglich konnte man auch nicht mit<br />

dem E<strong>in</strong>satz des Potentials des gesamten MWD o<strong>der</strong> e<strong>in</strong>es wichtigen Teils rechnen, wenn<br />

Schwierigkeiten bei <strong>der</strong> Durchführung von Produktionsaufträgen entstanden) für die<br />

Durchführung von beson<strong>der</strong>s wichtigen Aufgaben dazu überg<strong>in</strong>g, anstelle von ITL<br />

Produktionshauptverwaltungen o<strong>der</strong> -verwaltungen unter direkter Leitung des MWD zu gründen.<br />

Es war unwichtig, dass es sich dabei um Zwergverwaltungen handelte, denen gerade e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>es ITL mit wenigen Häftl<strong>in</strong>gen unterstand. Wichtig war angesichts des vollständig<br />

zentralisierten <strong>System</strong>s, dass die e<strong>in</strong>zelnen Leiter <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Hierarchie direkten Zugang zur<br />

MWD-Führungsspitze hatten.<br />

So wurde 1950 per Verfügung 1405-514s des M<strong>in</strong>isterrates <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 28. April 1950<br />

"Über dr<strong>in</strong>gende Maßnahmen zur Unterstützung <strong>der</strong> Glimmer<strong>in</strong>dustrie" die Verwaltung für<br />

Glimmer<strong>in</strong>dustrie <strong>der</strong> SGU des MWD umgewandelt <strong>in</strong> die Hauptverwaltung für<br />

Glimmerför<strong>der</strong>ung und -verarbeitung des MWD und dort e<strong>in</strong> ITL e<strong>in</strong>gerichtet 217 . E<strong>in</strong>en Monat<br />

später wie<strong>der</strong>holten sich die Ereignisse: Um den Asbestbedarf zu decken, wurde die aus dem<br />

M<strong>in</strong>isterium für Baustoffe ausgeglie<strong>der</strong>te Zentralbehörde <strong>in</strong> die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Asbest<strong>in</strong>dustrie des MWD umgewandelt und dort e<strong>in</strong> ITL e<strong>in</strong>gerichtet 218 . Um das neue, eben<br />

erst entdeckte Erdölvorkommen <strong>in</strong> Baschkirien und Tatarstan so schnell wie möglich zu<br />

erschließen und den Bau von Betrieben zur Produktion von künstlichem Brennstoff zu<br />

beschleunigen (zu <strong>der</strong> Zeit war noch nicht bekannt, dass das neue Erdölvorkommen über<br />

Ölvorräte verfügte, die die Produktion von künstlichem Brennstoff überflüssig machten), wurde<br />

1951 die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager für den Bau von erdölverarbeitenden Betrieben und<br />

Betrieben zur Herstellung flüssiger künstlicher Brennstoffe des MWD organisiert 219 . Absurde<br />

Ausmaße nahm die Lage im Wasserbau an: Ende 1951 beschäftigte er fünf (!) Zentralbehörden<br />

und Verwaltungen unter <strong>der</strong> direkten Zuständigkeit des MWD.<br />

<strong>Das</strong> alles er<strong>in</strong>nerte an die Krise von 1939-1940, allerd<strong>in</strong>gs war es viel schwieriger, e<strong>in</strong>en Ausweg<br />

zu f<strong>in</strong>den, da im Vergleich zur Vorkriegszeit das <strong>System</strong> aus wesentlich mehr E<strong>in</strong>heiten<br />

(Zentralbehörden, Verwaltungen usw.) bestand. Beson<strong>der</strong>s große Schwierigkeiten <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Verwaltung waren auf <strong>der</strong> M<strong>in</strong>isterebene zu erwarten. Davon zeugt auch die Tatsache, dass<br />

Anfang 1953 als direkte Ansprechpartner für die Zentralbehörden und Verwaltungen des Lager-<br />

215 Folgende für die Lagerwirtschaft bedeutende Bauprojekte seien an dieser Stelle genannt: Weißmeer-Ostsee-<br />

Kanal, Baikal-Amur-Magistrale (BAM), Eisenbahnmagistrale Tschum – Nowy Port und <strong>der</strong>en Verlängerung<br />

Tschum – Salechard – Igarka.<br />

216 Mehr zu den unrealistischen Planvorgaben siehe z.B.: G. M. Ivanova: GULAG v sisteme totalitarnogo<br />

gosudarstva [Der GULAG im totalitären Staatssystem]. Moskau 1997. S. 119.<br />

217 Befehl 0288 des MWD vom 28.04.50.<br />

218 Verfügung des M<strong>in</strong>isterrats <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> 2124–828s vom 20.05.50; Befehl 0361 des MWD vom 25.05.50.<br />

219 Verfügung des M<strong>in</strong>isterrats <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> 3719–1726s vom 02.10.51; Befehl 0720 des MWD vom 06.10.51.<br />

62


und Produktionskomplexes <strong>der</strong> Innenm<strong>in</strong>ister sowie sieben se<strong>in</strong>er acht Stellvertreter<br />

fungierten 220 .<br />

Auch <strong>der</strong> ab 1948 e<strong>in</strong>setzende Arbeitskräftemangel <strong>in</strong>nerhalb des MWD-<strong>System</strong>s führt zu e<strong>in</strong>er<br />

Verschlechterung <strong>der</strong> Lage. Für e<strong>in</strong> halbes Jahr – von April bis Oktober 1948 – blieb die<br />

Gesamtzahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge unverän<strong>der</strong>t bei etwas unter 2,35 Mio. Personen (ohne<br />

Gefängnis<strong>in</strong>sassen und Transithäftl<strong>in</strong>gen). Es setzte e<strong>in</strong>e Umverteilung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge zugunsten<br />

<strong>der</strong> Lager unter Zentralverwaltung e<strong>in</strong>. Von 1949 bis Frühjahr 1950 gab es nur ger<strong>in</strong>ge Zuwächse<br />

bei den Insassenzahlen (Quartalsdurchschnitt ca. 60.000 Personen gegenüber 130.000 Personen<br />

1946-1947), wobei die Häftl<strong>in</strong>ge ausschließlich <strong>in</strong> Lager unter Zentralverwaltung e<strong>in</strong>gewiesen<br />

wurden. Seit Sommer 1950 musste das MWD die Arbeitskräfte immer stärker auf Großbetriebe<br />

und -bauten konzentrieren: Die Gesamtzahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge verr<strong>in</strong>gerte sich allmählich um<br />

durchschnittlich 10.000 Personen pro Quartal, und um den weiter steigenden Bedarf an<br />

Arbeitskräften für bedeutende Vorhaben zu decken, wurden die absoluten Insassenzahlen <strong>in</strong> den<br />

Haftanstalten <strong>der</strong> Territorialorgane reduziert (Abb. 2).<br />

Da die menschliche Arbeitskraft schon immer die wichtigste Ressource <strong>der</strong> Lagerwirtschaft<br />

gewesen war, führte <strong>der</strong> Mangel daran diese fast <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Katastrophe. Da die Häftl<strong>in</strong>ge auf<br />

jegliche Technik verzichten mussten, konnte folglich we<strong>der</strong> die Arbeitsproduktivität erhöht noch<br />

die Arbeitszeit verkürzt werden. Nicht e<strong>in</strong>e <strong>der</strong> großen Produktionsverwaltungen des MWD<br />

erfüllte 1951-1952 den Plan. <strong>Das</strong> <strong>System</strong> <strong>der</strong> Haftanstalten befand sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er tiefen Krise 221 .<br />

Deshalb ist es nicht verwun<strong>der</strong>lich, dass sofort nach Stal<strong>in</strong>s Tod e<strong>in</strong> grundlegen<strong>der</strong> Umbau dieses<br />

<strong>System</strong>s e<strong>in</strong>setzte.<br />

Im Laufe e<strong>in</strong>es Monats nach dem 5. März 1953 verabschiedete <strong>der</strong> M<strong>in</strong>isterrat <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong><br />

mehrere äußerst folgenreiche Gesetze zum <strong>System</strong> <strong>der</strong> Haftanstalten.<br />

Zunächst beendete die Verfügung 895-383ss des M<strong>in</strong>isterrates vom 25. März 1953 mehrere große<br />

Bauvorhaben, bei denen Häftl<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>gesetzt wurden und für die ke<strong>in</strong> "dr<strong>in</strong>gen<strong>der</strong><br />

volkswirtschaftlicher Bedarf" bestand. Von den Stilllegungen waren solche militärstrategischen<br />

Bauvorhaben betroffen, wie <strong>der</strong> Turkmenische Hauptkanal, <strong>der</strong> Wolga-Ostsee-Kanal, die<br />

Eisenbahnstrecken <strong>in</strong> Nordwestsibirien, auf <strong>der</strong> Halb<strong>in</strong>sel Kola, im Gebiet Archangelsk, <strong>in</strong> den<br />

Regionen Krasnojarsk und Primorje, <strong>der</strong> Tunnel unter dem Tatarischen Sund, die Werke für<br />

künstlichen Brennstoff <strong>in</strong> Tschernogorsk und Aralitschewo u.a. 222 . Laut Plan sollte 1953 <strong>der</strong><br />

Gesamtumfang <strong>der</strong> Kapital<strong>in</strong>vestitionen <strong>in</strong> diese Objekte ca. 3,5 Milliarden Rubel betragen 223 .<br />

E<strong>in</strong>e Kürzung von Bauvorhaben und Arbeitsumfang ähnlichen Ausmaßes hatte es bislang <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Geschichte <strong>der</strong> Sowjetunion nur zu Beg<strong>in</strong>n des Großen Vaterländischen Krieges gegeben.<br />

Danach wurden per Verfügung 832-370ss und 934-400ss des M<strong>in</strong>isterrates <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 18.<br />

respektive 28. März 1953 alle fünfzehn Produktionshauptverwaltungen und –verwaltungen des<br />

MWD, die über Lager verfügten, aufgelöst. Die Produktionse<strong>in</strong>richtungen und –objekte wurden<br />

größtenteils an an<strong>der</strong>e M<strong>in</strong>isterien übergeben, und die dazugehörenden ITL wurden geme<strong>in</strong>sam<br />

mit den verbliebenen, meist kle<strong>in</strong>eren Produktionsobjekten unter die Leitung <strong>der</strong><br />

220 A. I. Kokur<strong>in</strong>, N. V. Petrov: Lubjanka. VČK-OGPU-NKVD-NKGB-MGB-MVD-KGB, 1917-1960. Spravočnik.<br />

Moskau 1997. S. 70–72.<br />

221 G. M. Ivanova: GULAG v sisteme totalitarnogo gosudarstva [Der GULAG im totalitären Staatssystem]. Moskau<br />

1997. S. 142–144. Mehr zu den Wirtschaftsergebnissen des NKWD-MWD siehe ebenda. S. 82–147.<br />

222 Verfügung des M<strong>in</strong>isterrats 895–383ss vom 25.03.53 (zum Vorhaben dieser Verfügung siehe Istoričeskij archiv<br />

[Historisches Archiv]. Nr. 4, 1996. S. 142).<br />

223 Istoričeskij archiv [Historisches Archiv]. Nr. 4, 1996. S. 140–142.<br />

63


Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) gestellt. Die Leitung <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>lager und <strong>der</strong> Lager für<br />

verurteilte Kriegsverbrecher wurde <strong>der</strong> Gefängnisverwaltung des MWD übertragen 224 . Am<br />

2. April wurden folgende Behörden aus dem MWD an die Justizm<strong>in</strong>isterien übergeben: "die<br />

Hauptverwaltung für die <strong>Besserungsarbeitslager</strong> und -kolonien (GULAG), die Abteilung für<br />

K<strong>in</strong><strong>der</strong>kolonien (ODK), die Verwaltungen und Abteilungen für die <strong>Besserungsarbeitslager</strong> und<br />

-kolonien (UITLK-OITK) und die Abteilungen für K<strong>in</strong><strong>der</strong>kolonien (ODK) <strong>in</strong> den Republiken,<br />

Regionen und Gebieten ... sowie die Besserungsarbeits<strong>in</strong>spektionen mit allen dazugehörenden<br />

Ämtern und Unterabteilungen sowie Industriebetrieben, Bauunternehmen und Hilfswirtschaften,<br />

ebenfalls die Lehranstalten zur Ausbildung von Fachkräften für das <strong>System</strong> <strong>der</strong> Hauptverwaltung<br />

<strong>der</strong> <strong>Besserungsarbeitslager</strong> und -kolonien" 225 . <strong>Das</strong> war gleichermaßen <strong>der</strong> Rückkehr des<br />

sowjetischen Lagersystems zu se<strong>in</strong>en Anfängen, als es noch nicht über eigene wirtschaftliche<br />

Großprojekte verfügte.<br />

Entscheidenden E<strong>in</strong>fluss auf das Lagersystem hatte auch <strong>der</strong> Amnestieerlass des Präsidiums des<br />

Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 27. März 1953, wonach <strong>in</strong>nerhalb von drei bis vier Monaten<br />

Personen mit e<strong>in</strong>er Haftstrafe von bis zu fünf Jahren wegen Dienstvergehen, Wirtschafts- und<br />

e<strong>in</strong>iger Kriegsverbrechen sowie Schwangere und Frauen mit Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong><strong>der</strong>n, M<strong>in</strong><strong>der</strong>jährige, ältere<br />

Männer und Frauen sowie unheilbar Kranke entlassen wurden. Verurteilte wegen<br />

konterrevolutionärer Verbrechen wurden von <strong>der</strong> Amnestie nicht erfasst 226 .<br />

Damit beendete das MWD se<strong>in</strong> <strong>Das</strong>e<strong>in</strong> als Produktionsorganisation. Die Zahl <strong>der</strong> Lager nahm<br />

drastisch ab. Anfang März 1953 existierten o<strong>der</strong> befanden sich im Stadium <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung: 175<br />

ITL, Son<strong>der</strong>lager und e<strong>in</strong>zelne Lagerabteilungen. Bis Anfang Mai sank ihre Zahl auf 81 und bis<br />

Ende 1953 auf 68 227 . <strong>Das</strong>selbe Bild bot sich auch bei <strong>der</strong> Insassenzahl. Am 1. Januar 1953 waren<br />

2.472.247 Personen <strong>in</strong> den Lagern und Kolonien <strong>in</strong>haftiert sowie weitere 152.614 <strong>in</strong> den<br />

Gefängnissen. Am 1. Juli 1953 befanden sich <strong>in</strong> den Lagern und Kolonien des GULAG des<br />

Justizm<strong>in</strong>isteriums 1.044.420 Gefangene sowie rund 250.000 Personen <strong>in</strong> den Lagern und<br />

Gefängnissen <strong>der</strong> Gefängnisverwaltung des MWD 228 .<br />

Zur selben Zeit machte Innenm<strong>in</strong>ister Lawrenti P. BERIJA den Vorschlag, "die<br />

Strafgesetzgebung zu än<strong>der</strong>n, das Strafmaß für e<strong>in</strong>ige Wirtschafts-, Dienst-, Alltags- und an<strong>der</strong>e<br />

weniger gefährliche Verbrechen durch Verwaltungs- und Diszipl<strong>in</strong>armaßnahmen zu ersetzen und<br />

ebenfalls das Strafmaß für bestimmte Verbrechen zu mil<strong>der</strong>n". Die Notwendigkeit dieses<br />

Schrittes begründete er damit, dass, "wenn dies unterlassen wird, die Gesamtzahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge<br />

<strong>in</strong>nerhalb von e<strong>in</strong> bis zwei Jahren erneut 2,5-3 Mio. Personen betragen wird" 229 . Er machte auch<br />

den Vorschlag, die Rechte des Son<strong>der</strong>ausschusses beim MWD e<strong>in</strong>zuschränken 230 . Gleichzeitig<br />

begann man auf Initiative des MWD die ersten politischen Häftl<strong>in</strong>ge freizulassen 231 .<br />

224 Befehl 0013 des MJu vom 02.04.53; GARF. F. 9401. Op. 2. D. 416. L. 9–12; Istoričeskij archiv [Historisches<br />

Archiv]. Nr. 4, 1996. S. 138–139, 151.<br />

225 Befehl 0013 des MJu vom 02.04.53.<br />

226 Pravda vom 28. März 1953.<br />

227 Befehl 0038 des MJu vom 29.04.53; GARF. F. 9414. Op. 1. D. 205. L. 23–24; D. 728. L. 728.<br />

228 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2877. L. 140; D. 1310. L. 38.<br />

229 Istoričeskij archiv [Historisches Archiv]. Nr. 4, 1996. S. 145. Die Präsidiumserlasse des Obersten Sowjets über<br />

die Strafmil<strong>der</strong>ung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Reihe von Verbrechen wurden erst <strong>in</strong> den Jahren 1954–1956 und nach <strong>der</strong> Erschießung<br />

Lawrenti P. Berijas angenommen.<br />

230 Ebenda. S. 160–161. Nach <strong>der</strong> Verhaftung Berijas wurde <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>ausschuss komplett abgeschafft (siehe<br />

Präsidiumserlass des Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 1. September 1953 In: Sbornik zakonodatel'nych aktov o<br />

64


Neben vielen politischen Ursachen war <strong>der</strong> Hauptgrund offensichtlich die niedrige<br />

Arbeitsproduktivität <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge 232 und die sich daraus ergebende Unrentabilität <strong>der</strong> meisten<br />

Lager 233 , was unter den neuen Bed<strong>in</strong>gungen nicht mehr tragbar war.<br />

Ab Juli 1953 setzte jedoch e<strong>in</strong>e Gegenentwicklung e<strong>in</strong>. Am 1. Oktober stieg die Häftl<strong>in</strong>gszahl <strong>in</strong><br />

den Lagern und Kolonien um 11.000 und im folgenden Quartal um knapp weitere 80.000 234 . Im<br />

Januar 1954 wurde beschlossen, die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) an das MWD<br />

zurückzugeben 235 , nur kurze Zeit später wurden die Son<strong>der</strong>lager von <strong>der</strong> Gefängnisverwaltung an<br />

den GULAG übergeben 236 .<br />

Allmählich wurden die Lager- und Produktionskomplexe teilweise wie<strong>der</strong>hergestellt. Als erster<br />

Schritt wurden dafür die Leitungen <strong>der</strong> produktiven und ihr zuarbeitenden Lagerstrukturen<br />

zusammengeführt und <strong>in</strong> Personalunion geleitet. Zum Lagerleiter wurde <strong>der</strong> Leiter <strong>der</strong><br />

Wirtschaftse<strong>in</strong>heit ernannt. So stand im September 1953 I. L. MITRAKOW, Leiter des Dalstroi<br />

des M<strong>in</strong>isteriums für Hütten<strong>in</strong>dustrie, an <strong>der</strong> Spitze <strong>der</strong> erneut e<strong>in</strong>gerichteten Verwaltung <strong>der</strong><br />

Nordöstlichen <strong>Besserungsarbeitslager</strong> des M<strong>in</strong>isteriums für Justiz, <strong>der</strong> jene Lager angehörten, aus<br />

denen sich die Arbeitskräfte des Dalstroi rekrutierten (siehe: VERWALTUNG DER<br />

NORDÖSTLICHEN BESSERUNGSARBEITSLAGER) 237 . Per Verfügung 408-178ss des<br />

M<strong>in</strong>isterrates <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 10. März 1954 wurden aus dem M<strong>in</strong>isterium für Mittleren<br />

Masch<strong>in</strong>enbau (MSM o<strong>der</strong> M<strong>in</strong>SredMasch) die Produktionse<strong>in</strong>heiten des GlawPromStroi und<br />

des GlawSpezStroi, <strong>in</strong> denen Häftl<strong>in</strong>ge und militärische Bautrupps des MWD arbeiteten, an das<br />

MWD übergeben 238 . Die Lager wurden weiterh<strong>in</strong> von <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG)<br />

geleitet, aber zu ihren Leitern wurden die Leiter <strong>der</strong> entsprechenden Bauvorhaben <strong>in</strong><br />

Personalunion ernannt 239 .<br />

Im nächsten Schritt wurden die Lager nun den wie<strong>der</strong> zum MWD gehörenden Produktionshauptverwaltungen<br />

unterstellt, wobei diese anfangs nur für Produktionsfragen zuständig waren.<br />

Am 24. Februar 1954 wurde die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager <strong>in</strong> <strong>der</strong> Forstwirtschaft<br />

wie<strong>der</strong>e<strong>in</strong>gerichtet, und sämtliche Waldlager wurden ihr übergeben (siehe:<br />

HAUPTVERWALTUNG DER LAGER IN DER FORSTWIRTSCHAFT), im Februar 1955<br />

wurden dem GlawPromStroi und GlawSpezStroi Lager unterstellt 240 .<br />

Im Februar 1955 unternahm das Lagersystem e<strong>in</strong>en letzten Versuch, um sich <strong>der</strong> landesweiten<br />

Kampagne zu wi<strong>der</strong>setzen. In Kasachstan wurde auf Neulandgebiet e<strong>in</strong> ITL für den Bau von<br />

repressijach i reabilitacii žertv političeskich repressij [Gesetzessammlung über Repressionen und die<br />

Rehabilitierung von Opfern politischer Repressionen]. Moskau 1993. S. 71).<br />

231 Siehe z.B.: Istoričeskij archiv [Historisches Archiv]. Nr. 4, 1996. S. 136, 137, 140, 152.<br />

232 Etwa 30% <strong>der</strong> Gefangenen, die zu allgeme<strong>in</strong>en Arbeiten e<strong>in</strong>gesetzt wurden, erfüllten nicht die Arbeitsnorm<br />

(GARF. F. 9401. Op. 1а. D. 503. L. 437).<br />

233 Siehe z.B.: GARF. F. 9414. Op. 1. D. 180. L. 3, 18.<br />

234 Ebenda. D. 1310. L. 38. Nach Aussage des Leiters <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) I. I. Dolgich<br />

"beg<strong>in</strong>gen <strong>der</strong> Großteil <strong>der</strong> amnestierten Gefangenen bereits nach kurzer Zeit erneut e<strong>in</strong>e Straftat, wofür sie wie<strong>der</strong><br />

<strong>in</strong>s Lager kamen " (Ebenda. F. 9401. Op. 1а. D. 543. L. 487ob).<br />

235 Verfügung 109–65ss des M<strong>in</strong>isterrats <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 21.01.54; Befehl 005/0041 des MJu und MWD vom<br />

28.01.54.<br />

236 Befehl 0095 des MWD vom 08.02.54.<br />

237 Befehl 00202 des MJu vom 03.09.53.<br />

238 Befehl 265ss/00217 des M<strong>in</strong>isteriums für Mittleren Masch<strong>in</strong>enbau (MSM) und des MWD vom 16.03.54.<br />

239 Befehl 0196 des MWD vom 10.04.54.<br />

240 Befehl 0054 des MWD vom 03.02.55; Befehl 0056 des MWD vom 02.02.55.<br />

65


Sowchosen und Getreidespeichern e<strong>in</strong>gerichtet (siehe: ITL UND BAU VON SOWCHOSEN<br />

UND GETREIDESPEICHERN) 241 .<br />

Mit <strong>der</strong> verän<strong>der</strong>ten Organisationsstruktur g<strong>in</strong>g auch e<strong>in</strong>e Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Lagerproduktion nach<br />

Industriezweigen e<strong>in</strong>her. Anfang 1954 waren von 68 Lagern fast 2/3 (42 Lager) <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Holz<strong>in</strong>dustrie, im Bau von "Atom-" und an<strong>der</strong>en Militärobjekten und für den Dalstroi beschäftigt.<br />

Verglichen mit Anfang 1953 war die Zahl <strong>der</strong> Lager, die Bauvorhaben für die chemische<br />

Industrie und die Eisenbahn realisierten o<strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Goldför<strong>der</strong>ung und im Wasserbau e<strong>in</strong>gesetzt<br />

wurden, drastisch gesunken. Die o.a. Industriezweige ausgeschlossen, wurden die auf Zivil- und<br />

Industriebau spezialisierten Lager vollständig aufgelöst. Ende 1954 waren mehr als 75% <strong>der</strong><br />

Lagerunterabteilungen und Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Holzbeschaffung, im Atombau und im Dalstroi<br />

konzentriert. Von vierzehn neu eröffneten Lagerunterabteilungen gehörten zwei zur GULLP und<br />

zehn stellten Arbeitskräfte für den GlawPromStroi und GlawSpezStroi bereit. Die Gesamtzahl<br />

<strong>der</strong> Lager blieb mit 65 am 31. Dezember 1954 nahezu unverän<strong>der</strong>t.<br />

Die rückläufige Bewegung war we<strong>der</strong> konsequent noch hielt sie an. Nur zwei Monate, nachdem<br />

die Lager für Atombau an den GlawPromStroi übergeben worden waren, wurden se<strong>in</strong>e eigenen<br />

Produktionse<strong>in</strong>richtungen dem M<strong>in</strong>isterium für Mittleren Masch<strong>in</strong>enbau zurückgegeben, und die<br />

Lager wurden wie<strong>der</strong> von <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) geleitet 242 . Nach den<br />

Lageraufständen 1953-1954 wurden die Son<strong>der</strong>lager bereits im Sommer 1954 aufgelöst. In <strong>der</strong><br />

"Verordnung über die <strong>Besserungsarbeitslager</strong> und -kolonien des Innenm<strong>in</strong>isteriums <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>"<br />

fehlen Son<strong>der</strong>lager, trotzdem ist davon die Rede, Verurteilte wegen konterrevolutionärer<br />

Verbrechen von den übrigen Häftl<strong>in</strong>gen zu isolieren 243 . Gleichzeitig mit dem geme<strong>in</strong>samen<br />

Befehl mehrerer Behörden, <strong>der</strong> "<strong>in</strong> Ausführung des Beschlusses <strong>der</strong> Direktivorgane" ausgegeben<br />

wurde, begann man, sämtliche Strafrechtsverfahren wegen konterrevolutionärer Verbrechen 244 zu<br />

überprüfen und das Strafmaß für weitere Häftl<strong>in</strong>gskategorien zu mil<strong>der</strong>n 245 . In <strong>der</strong> Folgezeit sank<br />

die Gesamtzahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge von 1.360.303 am 1. April 1954 auf 1.075.280 am 1. Januar<br />

1955 246 .<br />

Ab Mitte 1955 begannen die Regierung und die Führung des MWD, wenn auch nicht immer<br />

konsequent, mit <strong>der</strong> Dezentralisierung des <strong>System</strong>s <strong>der</strong> Haftanstalten. <strong>Das</strong> zeigte sich sowohl <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> geän<strong>der</strong>ten Zuständigkeit <strong>der</strong> republikanischen Innenm<strong>in</strong>isterien für die ITL als auch <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Auflösung <strong>der</strong> Lagerverwaltungen und <strong>der</strong> Übergabe ihrer Lagerunterabteilungen an<br />

Territorialorgane, wobei die Häftl<strong>in</strong>gszahlen relativ stabil blieben 247 . So wurden im Oktober 1955<br />

die auf dem Gebiet <strong>der</strong> ASSR <strong>der</strong> Komi stationierten Lager <strong>in</strong> die Zuständigkeit des<br />

Innenm<strong>in</strong>isteriums dieser Sowjetrepublik übergeben 248 , und Ende des Jahres wurden vier<br />

241 Befehl 0071 des MWD vom 10.02.55.<br />

242 Befehl 00135 des MWD vom 24.03.55.<br />

243 Befehl 00610 des MWD vom 17.07.54. Über die Auswirkungen <strong>der</strong> Lageraufstände <strong>in</strong> den Son<strong>der</strong>lagern auf<br />

<strong>der</strong>en Schicksal siehe N. G. Ochot<strong>in</strong>: Otraženie lagernych vosstanij 1953–1954 v dokumentach Politbjuro CK KPSS<br />

[Die Lageraufstände von 1953–1954 im Spiegel <strong>der</strong> Dokumente des Politbüros des ZK <strong>der</strong> KPdSU]. In: Volja:<br />

Žurnal uznikov totalitarnych sistem [Freiheit: Zeitschrift <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge totalitärer <strong>System</strong>e]. 1994. Nr. 2/3. S. 200–<br />

203.<br />

244 Befehl 96ss/0016/00397/00252 des Generalstaatsanwaltes, des MJu, MWD und KGB vom 19.05.54.<br />

245 Siehe Erlasse des Präsidiums des Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 24.04.54 und 14.07.54.<br />

246 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 1310. L. 43.<br />

247 Bis Anfang 1959 schwankte die Gefangenenzahl: von 840.000 (Anfang 1958) bis über e<strong>in</strong>e Million (Anfang<br />

1959) (GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2877. L. 178).<br />

248 Befehl 00396 des MWD vom 07.10.55.<br />

66


Waldlager (UNSCHA-ITL, WJATSKER ITL, KARGOPOL-ITL und MECHRENG-ITL) unter<br />

die Zuständigkeit des MWD <strong>der</strong> RSFSR unterstellt 249 . <strong>Das</strong> Bemühen um die Reduzierung <strong>der</strong><br />

Lager zeigte sich z.B. <strong>in</strong> <strong>der</strong> Schließung von erst kürzlich e<strong>in</strong>gerichteten Lager des<br />

GlawSpezStroi. Ende 1955 blieben von sieben zwei erhalten, und selbst die wurden, wie auch die<br />

Hauptverwaltung (siehe: HAUPTVERWALTUNG FÜR SPEZIALBAU DES MWD DER<br />

UDSSR), im folgenden Jahr aufgelöst. Bis Oktober 1956 blieben 37 Lagerabteilungen unter<br />

Zentralverwaltung und <strong>Besserungsarbeitslager</strong> übrig. Es sei angemerkt, dass zu den bis Ende<br />

1957 aufgelösten Lagern auch das bekannte NORILSKER und das NORDÖSTLICHE ITL<br />

gehörten 250 .<br />

Diese Auflösungsbemühungen wurden <strong>in</strong> <strong>der</strong> Verfügung 1443-719s des ZK <strong>der</strong> KPdSU und des<br />

M<strong>in</strong>isterrates <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 25. Oktober 1956 festgehalten, die e<strong>in</strong>gestand, dass "<strong>der</strong> weitere<br />

Bestand <strong>der</strong> ITL des MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> unzweckmäßig ist, da die wichtigste Staatsaufgabe,<br />

nämlich die Umerziehung <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge durch Arbeit, von ihnen nicht erfüllt wird". Die<br />

Verfügung sah die Übergabe sämtlicher <strong>Besserungsarbeitslager</strong> des MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> an die<br />

MWD <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Unionsrepubliken (nach territorialer Zugehörigkeit) und <strong>der</strong>en<br />

anschließende Umwandlung <strong>in</strong> Besserungsarbeitskolonien vor. E<strong>in</strong>en Tag später erhielt die<br />

Hauptverwaltung e<strong>in</strong>e neue Bezeichnung: Hauptverwaltung <strong>der</strong> Besserungsarbeitskolonien<br />

(GUITK) des MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> 251 .<br />

Aber dem Lagersystem war e<strong>in</strong>e ungeheure Trägheit zueigen, und es existierte noch mehrere<br />

Jahre. Außerdem wurde 1957 das ORLOWKA-ITL <strong>in</strong> <strong>der</strong> Region Krasnojarsk, 1958 die<br />

PAWLOWSKER LAGERABTEILUNG im Gebiet Moskau e<strong>in</strong>gerichtet, und Anfang 1957<br />

wurde umgekehrt e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Lager unmittelbar <strong>der</strong> GUITK des MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> unterstellt 252 ,.<br />

sodass erst im November 1957 dem MWD <strong>der</strong> RSFSR sämtliche auf dem Gebiet <strong>der</strong><br />

Unionsrepublik bef<strong>in</strong>dlichen Lager unterstellt wurden 253 .<br />

1958-1959 beschränkte sich die Rolle <strong>der</strong> GUITK im Wesentlichen auf die Koord<strong>in</strong>ation <strong>der</strong><br />

republikanischen Haftanstalten. Die Zahl <strong>der</strong> großen Lagere<strong>in</strong>richtungen nahm weiter ab, und<br />

Ende 1959 gab es nur noch 25 Lager. 1959 war auch das Jahr, als sich zum vierten Mal <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Geschichte des Lagersystems die Gefangenenzahl beträchtlich reduzierte, nämlich um das rund<br />

1,5-fache 254 .<br />

Am 13. Januar 1960 wurden auf Präsidiumserlass des Obersten Sowjets sowohl die<br />

Hauptverwaltung <strong>der</strong> Besserungsarbeitskolonien (GUITK) des MWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> als auch das<br />

sowjetische Innenm<strong>in</strong>isterium aufgelöst 255 . Die zentralisierte Leitung über alle Haftanstalten hatte<br />

landesweit für e<strong>in</strong>ige Zeit aufgehört zu existieren.<br />

249 Befehl 00442 des MWD vom 14.11.55; Befehl 00484 des MWD vom 14.12.55.<br />

250 Die Schließung dieser Lager kam praktisch e<strong>in</strong>er Absage an die Erschließungspolitik unbesiedelter Regionen<br />

mithilfe von Gefangenen gleich.<br />

251 Befehl 500 des MWD vom 27.10.56.<br />

252 Befehl 075 des MWD vom 31.01.57.<br />

253 Befehl 0622 des MWD vom 10.11.57.<br />

254 GARF. F. 9414. Op. 1. D. 2877. L. 141.<br />

255 Befehl 020 des MWD vom 25.01.60.<br />

67


* * *<br />

Die Analyse <strong>der</strong> Entwicklung des <strong>System</strong>s <strong>der</strong> Haftanstalten gestattet nach Auffassung <strong>der</strong><br />

Autoren, se<strong>in</strong>e Geschichte <strong>in</strong> mehrere Abschnitte e<strong>in</strong>zuteilen.<br />

1918-1922: "die Zeit des Bürgerkriegs", die gekennzeichnet ist von organisatorischem Chaos und<br />

dem erbitterten Kampf mehrerer Behörden um die Führung über die Haftanstalten angesichts<br />

e<strong>in</strong>er allgeme<strong>in</strong> schwachen Staatsmacht, fehlen<strong>der</strong> Organisation <strong>in</strong> Wirtschaft und<br />

Transportwesen, Hungersnot und massenhafter Arbeitslosigkeit. In dieser Zeit wurden erste<br />

Versuche unternommen, grundlegende Verordnungen des sowjetischen Strafvollzugs zu<br />

formulieren. Für die weitere Entwicklung des <strong>System</strong>s wurde die Wirtschaftlichkeit <strong>der</strong><br />

Haftanstalten zur wichtigsten Richtl<strong>in</strong>ie.<br />

1923-1929 kann man mit E<strong>in</strong>schränkungen als die Zeit <strong>der</strong> "republikanischen GUMS"<br />

bezeichnen, da sie fast sämtliche Haftanstalten im Land leiteten. Den Auftakt bildeten die<br />

Verfügung des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> RSFSR vom 25. Juli 1922 und die geme<strong>in</strong>same<br />

Verfügung des Volkskommissariat für Justiz und des Volkskommissariats für Innere<br />

Angelegenheiten <strong>der</strong> RSFSR vom 12. Oktober 1922, wonach alle Haftanstalten <strong>der</strong> RSFSR unter<br />

die Leitung <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Haftanstalten (GUMS) des NKWD <strong>der</strong> RSFSR gestellt<br />

wurden. Diese GUMS war aus <strong>der</strong> Zentralen Besserungsarbeitsabteilung des NKJu<br />

hervorgegangen und führte zur Auflösung <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Zwangsarbeiten des NKWD<br />

<strong>der</strong> RSFSR sowie ihrer Zwangsarbeitslager. Kennzeichnend für diese Epoche ist die relativ<br />

dezentralisierte Organisationsstruktur des <strong>System</strong>s <strong>der</strong> Haftanstalten, während die grundlegenden<br />

Leitungsfunktionen sowie die materielle Versorgung den lokalen Organen übertragen wurden. Es<br />

wird <strong>der</strong> (misslungene) Versuch unternommen, gleichzeitig zwei Aufgaben zu lösen: dem<br />

Großteil <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge jene Arbeitsfertigkeiten zu vermitteln, die ihnen nach ihrer Entlassung<br />

zunutze se<strong>in</strong> könnten, und durch produktive Arbeit <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge die Wirtschaftlichkeit <strong>der</strong><br />

Haftanstalten zu erreichen. Von Zeit zu Zeit werden Bemühungen unternommen, die Zahl <strong>der</strong><br />

Gefangenen zu reduzieren. <strong>Das</strong> geschieht vor dem H<strong>in</strong>tergrund e<strong>in</strong>er weiterh<strong>in</strong> bestehenden<br />

Arbeitslosigkeit und e<strong>in</strong>er relativen wirtschaftlichen Selbstständigkeit <strong>der</strong> Wirtschaftsakteure.<br />

Parallel dazu erstarkt unter <strong>der</strong> Ägide <strong>der</strong> OGPU <strong>der</strong> Keim des Lagersystems – das<br />

SOLOWEZKI-ITL.<br />

1930-1940: - "die Epoche des GULAG", die mit <strong>der</strong> Verfügung des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare<br />

<strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 11. Juli 1929 "Über den Arbeitse<strong>in</strong>satz krim<strong>in</strong>eller Häftl<strong>in</strong>ge" und <strong>der</strong> darauf<br />

folgenden Organisation erster ITL e<strong>in</strong>geleitet wird. Es ist die Entstehungs- und Expansionszeit<br />

des Lagersystems, als große Lager das Hauptelement <strong>der</strong> allgeme<strong>in</strong>en Organisationsstruktur <strong>der</strong><br />

Haftanstalten werden. Die Häftl<strong>in</strong>ge werden als strategische Arbeitskraftquelle und die OGPU-<br />

NKWD als wichtigstes Wirtschafts- und Volkskommissariat angesehen, das wichtige staatliche<br />

Produktionsprojekte realisiert. Hauptaufgabe ist es, den maximalen Nutzen durch Häftl<strong>in</strong>gsarbeit<br />

zu erhalten. E<strong>in</strong>e kont<strong>in</strong>uierliche Zentralisierung <strong>der</strong> Führung des Vollzugssystems f<strong>in</strong>det statt,<br />

sodass diese Epoche <strong>in</strong> zwei Abschnitte zerfällt, <strong>der</strong>en Zäsur im Herbst 1934 die Zeit <strong>der</strong><br />

Konzentration sämtlicher Haftanstalten unter <strong>der</strong> Ägide <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager<br />

(GULAG) bildet. Kennzeichnend für diese Zeit ist die aktive Suche nach Möglichkeiten <strong>der</strong><br />

Zusammenarbeit zwischen dem Lager- und Produktionssektor. Die Entwicklung des<br />

Vollzugsystems vollzieht sich unter den Bed<strong>in</strong>gungen e<strong>in</strong>er entstehenden zentralisierten<br />

Planwirtschaft, e<strong>in</strong>es immer härteren Kampfes <strong>in</strong> den obersten Machtkreisen sowie regelmäßiger<br />

Massenverfolgungen (Kollektivierung, Massendeportationen 1937-1938).<br />

68


1941-1953: "die Epoche des Lager- und Produktionskomplexes". Se<strong>in</strong> Beg<strong>in</strong>n ist mit <strong>der</strong><br />

Februarreform von 1941 verbunden, als das NKWD aufgeteilt wurde <strong>in</strong> NKGB (Staatssicherheit)<br />

und das stark wirtschaftlich ausgeprägte NKWD, <strong>in</strong>nerhalb dessen mehrere Lager- und<br />

Produktionshauptverwaltungen entstehen. Deutlich s<strong>in</strong>d die "Kriegszeit" (Juli 1941 bis Herbst<br />

1946), <strong>der</strong> "Wie<strong>der</strong>aufbau" (Ende 1946 bis 1948) und die "Zeit <strong>der</strong> größten Ausdehnung" (1949<br />

bis März 1953) auszumachen. Ungeachtet aller Kriegserschütterungen ist das die Zeit, als sich<br />

<strong>der</strong> Lager- und Produktionskomplex endgültig als e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> wichtigsten Wirtschaftsfaktoren des<br />

Landes herausbildet. Kennzeichnend für ihn ist die <strong>in</strong>nige Verflechtung von Lager- und<br />

Produktionse<strong>in</strong>richtungen auf allen Hierarchieebenen.<br />

1953-1960. Der letzte Zeitabschnitt, <strong>der</strong> mit Stal<strong>in</strong>s Tod e<strong>in</strong>setzte und mit <strong>der</strong> Auflösung des<br />

sowjetischen MWD ungefähr beendet war (die weitere Entwicklung des Vollzugsystems sprengt<br />

den historischen Zeitrahmen <strong>der</strong> vorliegenden Untersuchung), kann als Übergangszeit bezeichnet<br />

werden. Der Lager- und Produktionskomplex verfällt <strong>in</strong> diesen Jahren zusehends, teilweise ist<br />

e<strong>in</strong>e Rückkehr zu alten Organisationsformen zu beobachten, und es beg<strong>in</strong>nt die Suche nach<br />

e<strong>in</strong>em neuen Platz und e<strong>in</strong>er neuen Rolle für das <strong>System</strong> <strong>der</strong> Haftanstalten <strong>in</strong>nerhalb des Staates.<br />

69


TERRITORIALVERWALTUNGEN VON HAFTANSTALTEN.<br />

DAS GEFÄNGNISSYSTEM<br />

1. Territorialverwaltungen / Abteilungen <strong>der</strong> Haftanstalten<br />

Vor <strong>der</strong> Entstehung <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) wurden die Haftanstalten <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vorrangig territorial verwaltet. Am 15. Dezember 1930 wurden die territorialen<br />

Unterabteilungen <strong>der</strong> Hauptverwaltungen für Haftanstalten (GUMS) des NKWD <strong>der</strong><br />

Unionsrepubliken umstrukturiert <strong>in</strong> Gebiets-, bzw. Regionsverwaltungen <strong>der</strong><br />

Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen (ITU). Sie wurden nunmehr den Hauptverwaltungen <strong>der</strong><br />

Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen unterstellt, die <strong>in</strong>nerhalb <strong>der</strong> Volkskommissariate für Justiz<br />

(NKJu) <strong>der</strong> Unionsrepubliken gebildet worden waren. Auf Grund <strong>der</strong> Verfügung des<br />

Zentralen Exekutivkomitees und des Rates <strong>der</strong> Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 27.<br />

September 1934 wurden die Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen <strong>der</strong> NKJu den territorialen<br />

NKWD-Organen übertragen. Für ihre Leitung wurde <strong>in</strong>nerhalb des GULAG die Abteilung für<br />

Haftanstalten geschaffen sowie für die unmittelbare Leitung <strong>in</strong> den Regionen die Abteilungen<br />

für Haftanstalten <strong>in</strong> den NKWD <strong>der</strong> Unionsrepubliken und den NKWD-Verwaltungen <strong>der</strong><br />

autonomen Republiken, Regionen und Gebiete [1]. Am 8. Mai 1935 wurden die Funktionen<br />

<strong>der</strong> Abteilungen für Haftanstalten erheblich erweitert. In ihre Zuständigkeit fielen jetzt auch<br />

die Arbeitssiedlungen und acht <strong>Besserungsarbeitslager</strong>. (Unmittelbar dem GULAG unterstellt<br />

blieben die <strong>Besserungsarbeitslager</strong> BAIKAL-AMUR, DMITROW, UCHTA-PETSCHORA,<br />

TEMNIKOWSKI und das WEISSMEER-OSTSEE-ITL) [2]. In den NKWD-Verwaltungen<br />

des Gebiets Len<strong>in</strong>grad, und <strong>der</strong> Regionen Fernost, Westsibirien, Nord und Gorki, <strong>der</strong><br />

Kasachischen ASSR sowie im NKWD <strong>der</strong> Usbekischen SSR wurden Abteilungen für Lager,<br />

Arbeitssiedlungen und Haftanstalten e<strong>in</strong>gerichtet. In <strong>der</strong> NKWD-Verwaltung <strong>der</strong> Region<br />

Stal<strong>in</strong>grad entstand e<strong>in</strong>e Abteilung für Lager und Haftanstalten. In den NKWD-Verwaltungen<br />

<strong>der</strong> Gebiete Swerdlowsk, Orenburg, Tscheljab<strong>in</strong>sk und Omsk sowie <strong>der</strong> Regionen Ostsibirien,<br />

Nordkaukasus, Kirow, Krasnojarsk und Kuibyschew, <strong>der</strong> Baschkirischen, Kirgisischen und<br />

Jakutischen ASSR sowie <strong>in</strong>nerhalb des NKWD <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>ischen und Tadschikischen SSR<br />

wurden Abteilungen für Arbeitssiedlungen und Haftanstalten gegründet. In den übrigen<br />

Territorien blieben die Abteilungen für Haftanstalten bestehen. Am 21. Oktober 1937 wurden<br />

alle <strong>Besserungsarbeitslager</strong> wie<strong>der</strong> unmittelbar dem GULAG unterstellt [3].<br />

Ab dem 1. Januar 1939 wurden die Gefängnisse aus den lokalen Verwaltungen und<br />

Abteilungen <strong>der</strong> Haftanstalten <strong>in</strong> die Gefängnisabteilungen des NKWD und <strong>der</strong> NKWD-<br />

Verwaltungen überführt. Bei dieser Gelegenheit wurden auch die am 21. Dezember 1938<br />

bestehenden Verwaltungen und Abteilungen <strong>der</strong> Haftanstalten <strong>in</strong> Abteilungen für<br />

Besserungsarbeitskolonien, Besserungsarbeiten und Arbeitssiedlungen (OITK) umstrukturiert<br />

[4]. Danach wurden etliche dieser Abteilungen und Unterabteilungen immer wie<strong>der</strong> <strong>in</strong><br />

Verwaltungen für <strong>Besserungsarbeitslager</strong> und –kolonien (UITLK) umgewandelt. Dies<br />

geschah, sobald die Häftl<strong>in</strong>gszahl soweit angestiegen war, um den Status dieser<br />

Unterabteilungen zu erhöhen, o<strong>der</strong> nachdem <strong>in</strong> den entsprechenden Territorien<br />

<strong>Besserungsarbeitslager</strong> (o<strong>der</strong> Lagerabteilungen) entstanden waren, die den territorialen<br />

GULAG-Organen unterstanden. Von 1939 bis 1942 fand die Abkürzung für<br />

<strong>Besserungsarbeitslager</strong> „ITL“ E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong> e<strong>in</strong>ige ihrer Bezeichnungen, z. B. „Verwaltung <strong>der</strong><br />

Kola-ITL und -ITK <strong>der</strong> NKWD-Verwaltung im Gebiet Murmansk“. Die Struktur dieser<br />

territorialen Organe war ziemlich flexibel, und es fanden auch Wechsel <strong>in</strong> umgekehrter<br />

Richtung statt (aus Verwaltungen – UITLK – wurden Abteilungen – OITK). Mitunter, wenn<br />

die Gefangenenzahl relativ kle<strong>in</strong> war, machte man aus den Abteilungen für<br />

Besserungsarbeitskolonien kle<strong>in</strong>ere Verwaltungse<strong>in</strong>heiten, gelegentlich auch noch kle<strong>in</strong>ere<br />

territoriale Unterabteilungen – Inspektionen <strong>der</strong> Besserungsarbeitskolonien. 1956, als die<br />

„Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager“ („GULAG“) <strong>in</strong> „Hauptverwaltung für Besserungsarbeits-<br />

70


kolonien“ („GUITK“) umbenannt wurde, wurde das Wort „Lager“ aus den Bezeichnungen<br />

<strong>der</strong> territorialen GUITK-Organe entfernt (obwohl e<strong>in</strong>igen von ihnen die<br />

<strong>Besserungsarbeitslager</strong> selbst unterstellt waren). Die UITLK wurden nunmehr als UITK<br />

bezeichnet. 1959 wurden sie wie<strong>der</strong> umbenannt, und zwar <strong>in</strong> Verwaltungen und Abteilungen<br />

für Haftanstalten (UMS und OMS).<br />

Im Zeitraum von 1943 bis e<strong>in</strong>schließlich 1955 unterstanden folgende <strong>Besserungsarbeitslager</strong><br />

den territorialen GULAG-Organen: ALDAN, AMUR, BALEI, BERJOSOWSKI, BIRA,<br />

BOGOSLOWSKI, BODAIBO, BUREPOLOMSKI, WANINO, DSCHIDA,<br />

DSCHUGDSCHUR, DONLAG, JENISSEI, das KASPISCHE ITL, KITOI,<br />

KLJUTSCHEWSKI, KUSJA, das MOSKAU-KOHLE-ITL, NEFTESTROILAG, die ITL<br />

UNTERER AMUR, PONYSCH, PRIMORJE, SACHALIN, SWIR, SWOBODNY,<br />

SREDNE-BELAJA, das ITL UND DER BAU VON SOWCHOSEN UND<br />

GETREIDESPEICHERN, <strong>der</strong> BAU 201 UND ITL, die ITL TAGIL, TAISCHET, TOMSK,<br />

TOM-USSINSKI, TUIMASY, UMALTA, URAL, USSOLJE, das CHAKASSISCHE ITL,<br />

TSCHELJABINSK, das TSCHERNOGORSKER SONDER-ITL, TSCHISTJUNGSKI,<br />

SCHACHTY und JAGRINSKI, etliche Lagerabteilungen und E<strong>in</strong>zellagerpunkte, die<br />

wirtschaftlich <strong>der</strong> SGU (Son<strong>der</strong>hauptverwaltung <strong>der</strong> Hauptverwaltung für Buntmetallurgie)<br />

des MWD unterstellt waren (1947-1953). 1946 fiel auch das Prüf- und Filtrationslager Nr.<br />

283 <strong>in</strong> Stal<strong>in</strong>ogorsk <strong>in</strong> die Zuständigkeit <strong>der</strong> UITLK <strong>der</strong> MWD-Verwaltung im Gebiet<br />

Moskau.<br />

Die territorialen Unterabteilungen waren unmittelbar dem GULAG unterstellt. Sie existierten<br />

de facto <strong>in</strong> jedem Gebiet <strong>der</strong> RSFSR (s. Tab. 1) seit Anbeg<strong>in</strong>n. E<strong>in</strong>zige Ausnahme war das<br />

Gebiet Magadan, wo bis 1957 alle Haftanstalten (außer dem UFERLAGER) <strong>der</strong> Verwaltung<br />

<strong>der</strong> Nordöstlichen <strong>Besserungsarbeitslager</strong> zugeordnet waren. In den an<strong>der</strong>en<br />

Unionsrepubliken wurden die territorialen Unterabteilungen unmittelbar auf Republikebene<br />

geschaffen und unterstanden den entsprechenden Abteilungen (Verwaltungen) des GULAG<br />

des NKWD-MWD (bzw. von 1953-1954 dem Justizm<strong>in</strong>isterium) <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>. In <strong>der</strong> Ukra<strong>in</strong>e,<br />

<strong>in</strong> Kasachstan und <strong>in</strong> Weißrussland entstanden <strong>in</strong> den Nachkriegsjahren immer wie<strong>der</strong><br />

Gebietsunterabteilungen <strong>der</strong> ITK (<strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Gebieten), die den jeweiligen UITLK <strong>der</strong><br />

Republiken unterstellt waren.<br />

Im folgenden werden die Daten <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung und Schließung sowie die Postanschriften <strong>der</strong><br />

Territorialorgane des GULAG aufgeführt (e<strong>in</strong> Strich im Feld „Schließung“ besagt, dass die<br />

E<strong>in</strong>richtung am 1. Januar 1960 noch existierte). Die Leitung <strong>der</strong> territorialen GULAG-<br />

Unterabteilungen hatte ihren Sitz <strong>in</strong> den Verwaltungszentren <strong>der</strong> Republiken, Regionen und<br />

Gebiete. Bis 1953 hatten diese Unterabteilungen meist ke<strong>in</strong>e Postanschriften, deshalb s<strong>in</strong>d<br />

diese, von eigens vermerkten Ausnahmen abgesehen, mit Datum vom 30. Mai 1953<br />

angegeben.<br />

71


Tabelle 1. Verzeichnis <strong>der</strong> Territorialverwaltungen und –abteilungen <strong>der</strong><br />

Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen<br />

E<strong>in</strong>richtung Schließung Postanschrift 1<br />

RSFSR 2<br />

Region Asow-<br />

Schwarzes Meer<br />

1934 1937 ?<br />

Region Altai 1937 — Barnaul, PF UB-14, PF 14 {15}<br />

Region Amur 1949 — Blagoweschtschensk, PF UB-14<br />

Gebiet Arsamas 1954 1957 Arsamas, PF ? 3<br />

Gebiet Archangelsk 1937 — Archangelsk, PF UG-42, PF 115 {15}<br />

Gebiet Astrachan 1944 ?- Astrachan, PF UD-249<br />

Gebiet Balaschow 1954 1957 Balaschow, PF JuR-320 [5]<br />

Baschkirische ASSR 1934 — Ufa, PF UJe-394; PF 110 {15}<br />

Gebiet Belgorod 1954 — Belgorod, PF JuS-321 [7]<br />

Gebiet Brjansk 1944 — Brjansk, PF OB-21<br />

Burjat-Mongolische<br />

ASSR<br />

1937 — Ulan-Ude, PF OW-94<br />

Gebiet Welikije Luki 1944 1957 Welikije Luki, PF OG-27<br />

Gebiet Wladimir 1944 — Wladimir, PF OD-1<br />

Gebiet Wologda 1937 — Wologda, PF OJe-256<br />

Gebiet Woronesch 1934 — Woronesch, PF OSch [ОЖ]-118<br />

Region Ostsibirien 1934 1937 ?<br />

Gebiet Gorki 1936 — Gorki, Hauptpostamt, PF US-62; PF 62<br />

{15}<br />

Region Gorki 1934 1936 ?<br />

Gebiet Grosny 1944 1957 Grosny, PF IS-36<br />

Dagestanische ASSR 1937 — Machatschkala, PF OI-92<br />

Region Fernost 1934 1938 ?<br />

Gebiet West 1934 1937 ?<br />

Region Westsibirien 1934 1937 ?<br />

Gebiet Iwanowo 1934 — Iwanowo, PF OK-3<br />

1 Die Buchstaben <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nummer des PF entsprechen dem Lagerkode <strong>der</strong> Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtung.<br />

2 In <strong>der</strong> RSFSR existierten bis 1957 auf Republikebene ke<strong>in</strong>e zentralen Verwaltungsorgane für Haftanstalten.<br />

3 In den untersuchten Dokumenten war die Anschrift nicht zu f<strong>in</strong>den. Die Gebiete Arsamas, Belgorod,<br />

Balaschow, Kamenski und Lipezk entstanden zu gleicher Zeit. Die Postfachnummern <strong>der</strong> Abteilungen für<br />

Besserungsarbeitskolonien (OITK) <strong>der</strong> MWD-Verwaltung <strong>der</strong> vier letztgenannten Gebiete waren jeweils JuR-<br />

320, JuS-321, JuT-322 und JuU-323. Möglicherweise hatte die OITK <strong>der</strong> MWD-Verwaltung im Gebiet Arsamas<br />

die Postfachnummer JuP-319.<br />

72


Gebiet Irkutsk 1937 — Irkutsk 3, PF UK-272; PF 272 {11}<br />

ASSR <strong>der</strong><br />

Kabard<strong>in</strong>er und<br />

Balkaren<br />

1937 1944 Naltschik, PF OL-49 [6]<br />

Kabard<strong>in</strong>ische ASSR 1944 1957 Naltschik, PF OL-49<br />

Kasachische ASSR 1934 1936 ?<br />

Gebiet Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad 1946 — Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad, PF OM-216<br />

Gebiet Kal<strong>in</strong><strong>in</strong> 1934 — Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>, PF ON-55<br />

Kalmückische ASSR 1937<br />

1957<br />

1944<br />

Gebiet Kaluga 1944 — Kaluga, PF IT-55 [6]<br />

Gebiet Kamenski 1954 1957 Schachty, PF JuT-322 [8]<br />

Gebiet Kamtschatka 1957 ?- Petropawlowk-Kamtschatski, PF JuF-<br />

326 [6]<br />

Kara-Kalpakische<br />

ASSR<br />

Karelische ASSR 1938<br />

1956<br />

—<br />

1934 1936 ?<br />

1940<br />

—<br />

?<br />

Petrosawodsk, PF UM-220 [6]<br />

Gebiet Kemerowo 1943 — Kemerowo, PF UN-1612<br />

Kirgisische ASSR 1934 1936 ?<br />

Gebiet Kirow 1936 — Kirow, PF OR-216<br />

Region Kirow 1934 1936 ?<br />

ASSR <strong>der</strong> Komi 1937 — Syktywkar, PF OS-34<br />

Gebiet Kostroma 1944 — Kostroma, PF OT-15<br />

Region Krasnodar 1937 — Krasnodar, Hauptpostamt, PF UO-68<br />

Gebiet Krasnojarsk 1934 1935 ?<br />

Region Krasnojarsk 1935 — Krasnojarsk, PF UP-288; PF 288 {15}<br />

Krim ASSR 1934 1945 ?<br />

Gebiet Krim 1945 1954 Simferopol, PF OU-85<br />

Gebiet Kuibyschew 1936 — Kuibyschew, PF UR-65; PF 65 {15}<br />

Region Kuibyschew 1935 1936 ?<br />

Gebiet Kurgan 1943 — Kurgan, PF OF-73<br />

Gebiet Kursk 1934 — Kursk, PF Och [ОХ]-30<br />

Gebiet Len<strong>in</strong>grad 1954 — Len<strong>in</strong>grad 63, PF US-20; PF 20 {11}<br />

Gebiet Lipezk 1954 — Lipezk, PF JuU-323 [9]<br />

73


Gebiet Magadan 1957 — Magadan, PF AW-261 [6]<br />

ASSR <strong>der</strong> Mari 1937 — Joschkar-Ola, PF Osch [ОШ]-25<br />

Gebiet Molotow 1940 1957 Molotow, PF UT-389; PF 389 {15}<br />

Mordw<strong>in</strong>ische ASSR 1937 — Saransk, PF OE-20<br />

Gebiet Moskau 1934 — Moskau 9, PF UU-163; ul.<br />

Tschernyschewskowo, 26 {11}; ul.<br />

Gerzena, 8 {17}<br />

Gebiet Murmansk 1938 — Murmansk, PF OJu-241; PF 241 {11}<br />

Wolga-Deutsche<br />

ASSR<br />

1937 1941 ?<br />

Gebiet Nowgorod 1944 — Nowgorod, PF OJa-22<br />

Gebiet Nowossibirsk 1937 — Nowossibirsk 15, PF UF-91; PF 247<br />

{11}<br />

Gebiet Omsk 1934 — Omsk, PF UCh [УХ]-16; PF 16 {15}<br />

Region<br />

Ordschonikidse<br />

1937 1944 Woroschilowsk {13}<br />

Gebiet Orenburg<br />

1934 1938 ?<br />

1957 — Orenburg, PF JuK-25 [6]<br />

Gebiet Orjol 1937 — Orjol, PF JaI-22<br />

Gebiet Pensa 1939 — Pensa, PF JaK-7<br />

Gebiet Perm 1938<br />

1957<br />

1940<br />

—<br />

Perm, PF UT-389 [6]<br />

Region Primorje 1938 — Wladiwostok, PF UZ-267; 2-ja retschka,<br />

PF 267 {13}<br />

Gebiet Pskow 1944 — Pskow, PF JaL-61<br />

Gebiet Rostow 1937 — Rostow am Don, PF UTsch-398<br />

Gebiet Rjasan 1937 — Rjasan, PF JaM-401<br />

Gebiet Saratow 1935 — Saratow, PF USch [УШ]-382; PF 382<br />

{15}<br />

Region Saratow 1934 1935 ?<br />

Gebiet Sachal<strong>in</strong> 1947 — Juschno-Sachal<strong>in</strong>sk, PF JuO-171<br />

Gebiet Swerdlowsk 1934 — Swerdlowsk, PF USchtsch [УЩ]-349;<br />

PF 750 {15}<br />

Region Nord 1934 1937 ?<br />

Region<br />

Nordkaukasus<br />

1934 1937 ?<br />

74


Nordossetische<br />

ASSR<br />

1937 — Dsaudschikau, PF JaN-68<br />

Gebiet Smolensk 1937 — Smolensk, PF JaO-100<br />

Region Stawropol 1944 — Stawropol, PF JaP-17<br />

Gebiet Stal<strong>in</strong>grad 1936 — Stal<strong>in</strong>grad, PF JaR-154<br />

Region Stal<strong>in</strong>grad 1934 1936 ?<br />

Gebiet Tambow 1937 — Tambow, PF JaT-30<br />

Tatarische ASSR 1934 — Kasan, PF UE-148; PF 148 {15}<br />

Gebiet Tomsk 1944 — Tomsk, PF JaU-114<br />

Autonomes Gebiet<br />

Tuwa<br />

1945 — Kysyl, PF JaF-306<br />

Gebiet Tula 1937 — Tula, PF UJu-400<br />

Gebiet Tjumen 1944 — Tjumen, PF JaZ-34<br />

Udmurtische ASSR 1937 — Ischewsk, PF JaTsch [ЯЧ]-91<br />

Gebiet Uljanowsk 1943 — Uljanowsk, PF JuI-78<br />

Region Chabarowsk 1938 — Chabarowsk, PF JaB-257<br />

Gebiet Tscheljab<strong>in</strong>sk 1934 — Tscheljab<strong>in</strong>sk, PF JaW-48<br />

Tschetscheno-<br />

Inguschische ASSR<br />

1937 1944 Grosny, PF IS-36 [6]<br />

Gebiet Tschita 1937 — Tschita, PF JaG-14<br />

Gebiet Tschkalow 1937 1957 Tschkalow, PF JuK-25<br />

Tschuwaschische<br />

ASSR<br />

1937 — Tscheboxary, PF JuL-34<br />

Jakutische ASSR 1934 — Jakutsk, PF JaD-40<br />

Gebiet Jaroslawl 1936 — Jaroslawl, PF JuN-83<br />

Aserbaidschanische<br />

SSR<br />

1936 — Baku, PF UA-38; PF 38 {15}<br />

Armenische SSR 1936 — Jerewan, PF OA-18<br />

Weißrussische SSR 1934 — M<strong>in</strong>sk, PF USch [УЖ]-15; PF 35 {15}<br />

Georgische SSR 1936 — Tbilissi, PF UI-123; PF 262 {15}<br />

Transkaukasische<br />

SSR<br />

1934 1936 ?<br />

Kasachische SSR 1936 — Alma-Ata, PF UL-154<br />

75


Karelo-F<strong>in</strong>nische<br />

SSR<br />

1940 1956 Petrosawodsk, PF UM-220<br />

Kirgisische SSR 1936 — Frunse, PF OP-36<br />

Lettische SSR 1944 — Riga, PF OZ-78<br />

Litauische SSR 1944 — Vilnius, PF OTsch [ОЧ]-12<br />

Moldauische SSR 1945 — Kisch<strong>in</strong>jow, PF OSchtsch [ОЩ]-29<br />

Tadschikische SSR 1934 — Stal<strong>in</strong>abad, PF JaS-3<br />

Turkmenische SSR 1934 — Aschchabad, PF JaCh [ЯХ]-55<br />

Usbekische SSR 1934 — Taschkent, PF UJa-64; PF 123/124 {11}<br />

Ukra<strong>in</strong>ische SSR 1934 — Kiew, PF JaA-128; PF 202 {15}<br />

Estnische SSR 1945 — Tall<strong>in</strong>n, PF JuM-422<br />

Praktisch jedes dieser Territorialorgane des GULAG hatte <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Besserungsarbeitskolonien (ITK) auch Lagerunterabteilungen, die Landwirtschaft betrieben<br />

und Konsumgüter produzierten, auch für den Lagerbedarf selbst. In den meisten bestanden<br />

Unterabteilungen, die Vertragsarbeiten im Auftrag verschiedener Volkskommissariate<br />

(M<strong>in</strong>isterien) und Behörden ausführten. Der Kreis <strong>der</strong> Institutionen, die die Arbeit von<br />

Gefangenen <strong>der</strong> Territorialorgane des GULAG nutzten, war außerordentlich groß: er reichte<br />

von den Bezirks-Sowjets bis zum Obersten Sowjet <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>; von den für die lokale<br />

Industrie zuständigen M<strong>in</strong>isterien <strong>in</strong> den Unionsrepubliken bis zum M<strong>in</strong>isterium für den Bau<br />

von Schwer<strong>in</strong>dustriebetrieben (MSPTI) <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>, <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> und<br />

dem Zentralkomitee <strong>der</strong> KPdSU (B).<br />

Als Beispiel sei die Wirtschaftstätigkeit von e<strong>in</strong>er <strong>der</strong> kle<strong>in</strong>eren OITK, Orjol, sowie e<strong>in</strong>er <strong>der</strong><br />

großen UITLK, Moskau, im Jahre 1947 angeführt. Die Häftl<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> OITK <strong>der</strong> MWD-<br />

Verwaltung Orjol befanden sich <strong>in</strong> vier <strong>in</strong>dustriellen, e<strong>in</strong>er landwirtschaftlichen und drei<br />

Besserungsarbeitskolonien (ITK), die für Vertragspartner arbeiteten, sowie <strong>in</strong> dem<br />

Transitgefängnis von Orjol. Die Industriekolonien <strong>in</strong> Orjol und Jelez betrieben e<strong>in</strong>e Gießerei.<br />

Die Kolonie im Dorf Malaja Bystraja stellte Konsumgüter her, und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kolonie <strong>in</strong><br />

Dmitrowsk wurde Holz verladen und verarbeitet. Auf Vertragsbasis mit dem MWD sanierte<br />

die ITK <strong>in</strong> Orjol Gebäude <strong>der</strong> MWD-Verwaltung, die Häftl<strong>in</strong>ge <strong>der</strong> Kolonie <strong>in</strong> Jelez<br />

arbeiteten für das M<strong>in</strong>isterium für Eisenhütten<strong>in</strong>dustrie im Ste<strong>in</strong>bruch, ebenso die <strong>der</strong> Kolonie<br />

an <strong>der</strong> Station Roschdestwo, diese im Auftrag des M<strong>in</strong>isteriums für Nahrungsmittel<strong>in</strong>dustrie.<br />

Die landwirtschaftliche Kolonie am 24. km von Orjol betrieb Hilfswirtschaften <strong>der</strong> OITK [10.<br />

Bl. 47, 47ob.]<br />

Zur UITLK <strong>der</strong> MWD-Verwaltung im Gebiet Moskau gehörten am 1. Januar 1947 fünf<br />

Industrie- und zwei landwirtschaftliche ITK, e<strong>in</strong>e Lagerabteilung, 24 E<strong>in</strong>zellagerpunkte, e<strong>in</strong><br />

Transitgefängnis, das Gebietskrankenhaus, das Serbski-Institut, das Prüf- und Filtrationslager<br />

Nr. 283 und die erste Abteilung des Prüf- und Filtrationslagers Nr. 174.<br />

Die Industriekolonie an <strong>der</strong> ul. Schabolowka 46 produzierte Le<strong>der</strong>waren. In <strong>der</strong> Kolonie an<br />

<strong>der</strong> Station Krjukowo befand sich e<strong>in</strong>e Stanzerei, die Kolonie an <strong>der</strong> Station Presnja<br />

(R<strong>in</strong>gbahn) produzierte Möbel, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kolonie im Dorf Nikolskoje nordwestlich von Moskau<br />

wurde Holz verladen, im ITK an <strong>der</strong> Station Sikejewo wurde es geschlagen.<br />

76


In folgenden Kolonien wurden die Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> <strong>der</strong> Landwirtschaft e<strong>in</strong>gesetzt:<br />

- im Dorf Lip<strong>in</strong>o, Taldomski-Bezirk, und an <strong>der</strong> Station Gagar<strong>in</strong>o – für den Bedarf <strong>der</strong><br />

UITLK,<br />

- <strong>in</strong> den E<strong>in</strong>zellagerpunkten an den Stationen Dorochowo, Saraisk, Belyje Stolby, Griwno<br />

und im Wyssok<strong>in</strong>itscheski-Bezirk, Gebiet Moskau – für die Wirtschaftsverwaltung <strong>der</strong><br />

lokalen MWD-Verwaltung,<br />

- an <strong>der</strong> Station Don<strong>in</strong>o – für die Wirtschaftsverwaltung <strong>der</strong> Staatsanwaltschaft <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>,<br />

- an <strong>der</strong> Station Koss<strong>in</strong>o und <strong>in</strong> Ljuberzy – für das Sowchosenkomb<strong>in</strong>at des Moskauer<br />

Exekutivkomitees (MosOblSowchosTrest MosGorIspolKom),<br />

- an <strong>der</strong> Station Lopasnja – für das Kraftfahrzeugwerk „Stal<strong>in</strong>“,<br />

- <strong>in</strong> <strong>der</strong> Sowchose „Gorodischtsche“ <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Stadt Woskressensk – für das<br />

M<strong>in</strong>isterium für Fleisch-und Milchwirtschaft.<br />

Folgende Bauarbeiten wurden ausgeführt:<br />

- für die MWD-Verwaltung für materielle und technische Versorgung – an <strong>der</strong> Station<br />

Beskudnikowo;<br />

- für das MWD – an <strong>der</strong> ul. Bolschaja Kaluschskaja 30 <strong>in</strong> Ismailowo (Poscharny Projesd 2)<br />

und <strong>in</strong> <strong>der</strong> Siedlung Len<strong>in</strong>o-Datschnoje,<br />

- für das M<strong>in</strong>isterium für den Bau von Brennstoffbetrieben – <strong>in</strong> Ismailowo und <strong>in</strong><br />

Pokrowsko-Streschnewo,<br />

- für das M<strong>in</strong>isterium für den Bau von Rüstungs- und Mar<strong>in</strong>ebetrieben – <strong>in</strong> <strong>der</strong> ul.<br />

Perwomajskaja 49, an den Stationen Ostank<strong>in</strong>o, Frjas<strong>in</strong>o und Sokolowskaja,<br />

- für das Rüstungsm<strong>in</strong>isterium – <strong>in</strong> Kolomna und Sagorsk,<br />

- für die Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Station<br />

Kanattschikowo und des Botanischen Gartens,<br />

- für die Geschäftsführung des ZK <strong>der</strong> KPdSU (B) – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong><br />

Landwirtschaftsausstellung,<br />

- für das Kraftfahrzeugwerk „Stal<strong>in</strong>“ – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Siedlung Kolomenskoje des „Stal<strong>in</strong>“-Werks,<br />

- für das Werk „Ordschonikidse“ des M<strong>in</strong>isteriums für Werkzeugmasch<strong>in</strong>enbau – <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />

Straße Donskoi Projesd 21 (Gefangene wurden auch im Werk e<strong>in</strong>gesetzt),<br />

- für das M<strong>in</strong>isterium für Luftfahrt<strong>in</strong>dustrie – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Station Otdych,<br />

- für das M<strong>in</strong>isterium für Chemie<strong>in</strong>dustrie – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Stadt Woskressensk;<br />

- und für das M<strong>in</strong>isterium für Schwer<strong>in</strong>dustrie – <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Station Mytischtschi.<br />

Gefangene arbeiteten auch <strong>in</strong> dem Betrieb für Bauteile Nr. 2 des MWD an <strong>der</strong> Station<br />

Chowr<strong>in</strong>o und stellten Panzerschränke aus Metallerzeugnissen <strong>der</strong> Wirtschaftsverwaltung des<br />

MWD <strong>in</strong> Karatscharowo her. Sie arbeiteten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Kupawn<strong>in</strong>sker Fabrik des M<strong>in</strong>isteriums für<br />

Textil<strong>in</strong>dustrie, im Werk „Kuibyschew“ <strong>in</strong> Kolomenskoje des M<strong>in</strong>isteriums für<br />

Transportmasch<strong>in</strong>enbau, <strong>in</strong> <strong>der</strong> Ziegelproduktion für das M<strong>in</strong>isterium für Chemie<strong>in</strong>dustrie, <strong>in</strong><br />

dem Bezirks<strong>in</strong>dustriekomb<strong>in</strong>at <strong>der</strong> Stadt Woskressensk sowie im Betrieb Nr. 40 des<br />

M<strong>in</strong>isteriums für Kraftfahrzeug<strong>in</strong>dustrie <strong>in</strong> Mytischtschi.<br />

In <strong>der</strong> Nähe <strong>der</strong> Station Tomil<strong>in</strong>o för<strong>der</strong>ten die Gefangenen Quarzsand für das M<strong>in</strong>isterium<br />

für Baustoff<strong>in</strong>dustrie, und <strong>in</strong> Ljuberzy gewannen und verluden sie Bitumen für das Werk Nr.<br />

413 des M<strong>in</strong>isteriums für Chemie<strong>in</strong>dustrie. Be- und Entladearbeiten verrichteten die<br />

Gefangenen an <strong>der</strong> Station Karatscharowo für das M<strong>in</strong>isterium für Eisenhütten<strong>in</strong>dustrie, das<br />

Handelsm<strong>in</strong>isterium und für die Hauptverwaltung für den nördlichen Seeweg, sowie an <strong>der</strong><br />

Station Tomil<strong>in</strong>o für das M<strong>in</strong>isterium für Luftfahrt<strong>in</strong>dustrie.<br />

Die Häftl<strong>in</strong>ge des Transitgefängnisses sortierten und verluden Gemüse für das Moskauer<br />

Obst- und Gemüsehandelsunternehmen (MosPlodoOwoschtschTorg). Die Gefangenen des<br />

77


Prüf- und Filtrationslagers Nr. 83 <strong>in</strong> Stal<strong>in</strong>ogorsk waren am Bau des Bezirkskraftwerks von<br />

Stal<strong>in</strong>ogorsk Nr. 10 des M<strong>in</strong>isteriums für Kraftwerke beteiligt, arbeiteten außerdem im<br />

Chemiekomb<strong>in</strong>at „Stal<strong>in</strong>“ des M<strong>in</strong>isteriums für Chemie<strong>in</strong>dustrie und <strong>in</strong> den Schächten des<br />

M<strong>in</strong>isteriums für Kohle<strong>in</strong>dustrie <strong>der</strong> Westbezirke und <strong>in</strong> denen des M<strong>in</strong>isteriums für den Bau<br />

von Brennstoffbetrieben. Die erste Abteilung des Prüf- und Filtrationslagers Nr. 174<br />

(Twerskoi-Jamskoi Pereulok 12) betrieb Schnei<strong>der</strong>- und Schusterarbeiten für das<br />

Handelsm<strong>in</strong>isterium [10. Bl. 29-34].<br />

In Tabelle 2 wird die Zahl <strong>der</strong> Häftl<strong>in</strong>ge <strong>in</strong> den GULAG-Territorialorganen angeführt. Für<br />

1935 und 1937 ist <strong>der</strong> Monatsdurchschnitt für Januar angegeben, für die übrigen Jahre die<br />

Zahl vom 1. Januar des jeweiligen Jahres. Für die RSFSR ist für die Jahre 1957 und 1960 nur<br />

e<strong>in</strong>e Gesamtzahl genannt, weil sich <strong>in</strong> den Dokumenten <strong>der</strong> URO, auf denen diese Tabelle<br />

basiert, nur Angaben zu den Unionsrepubliken f<strong>in</strong>den.<br />

Tabelle 2. Anzahl <strong>der</strong> Gefangenen <strong>in</strong> Besserungsarbeitse<strong>in</strong>richtungen, die den<br />

Territorialorganen <strong>der</strong> Hauptverwaltung <strong>der</strong> Lager (GULAG) unterstellt waren<br />

1935<br />

01.<br />

1937<br />

01.<br />

1939<br />

01.01.<br />

1941<br />

01.01.<br />

1945<br />

01.01.<br />

1949<br />

01.01.<br />

1953<br />

01.01.<br />

1953<br />

01.05.<br />

1957<br />

01.01.<br />

1960<br />

01.01.<br />

RSFSR 231.246 211.862<br />

Region Asow-<br />

Schwarzes Meer<br />

11.137 14.277 — — — — — —<br />

Region Altai — — 3.506 5.151 16.876 12.883 9.088 3.041<br />

Region Amur — — — — — 21.147 4 17.681 13.462<br />

Gebiet Arsamas — — — — — — — — 565 5<br />

Gebiet Archangelsk — — 13.579 6.298 6 13.027 22.329 16.287 8.743<br />

Gebiet Astrachan — — — — 1.638 3.320 4.975 1.902<br />

Gebiet Balaschow — — — — — — — — 611 7<br />

Baschkirische ASSR 4.185 4.670 7.639 8.367 17.320 18.309 11.752 5.706<br />

Gebiet Belgorod — — — — — — — — 650 8<br />

Gebiet Brjansk — — — — 857 3.595 2.622 1.035<br />

Burjat-Mongolische<br />

ASSR<br />

— — 7.081 4.281 4.452 5.694 3.598 1.361<br />

Gebiet Welikije Luki — — — — 636 2.963 2.541 979<br />

Gebiet Wladimir — — — — 4.502 5.303 3.124 1.164<br />

Gebiet Wologda — — 5.107 6.258 8.864 10.983 8.358 9 4.213 10<br />

Gebiet Woronesch 3.630 10.975 4.740 7.669 9.434 11.459 6.977 2.390<br />

Region Ostsibirien 7.510 19.018 — — — — — —<br />

Gebiet Gorki — 13.622 7.722 9.451 18.654 19.875 16.302 6.505<br />

Region Gorki 7.610 — — — — — — —<br />

4 zum 01.03.49.<br />

5 zum 28.01.54 [8].<br />

6 zum 01.02.41.<br />

7 zum 01.04.54 [3].<br />

8 zum 15.05.54 [4].<br />

9 darunter 648 zu Katorga-Arbeiten Verurteilte.<br />

10 darunter 643 zu Katorga-Arbeiten Verurteilte.<br />

78


Gebiet Grosny — — — — 3.311 3.303 1.469 241<br />

Dagestanische ASSR — — 1.083 2.214 4.956 5.793 2.298 1.127<br />

Region Fernost 3.524 5.135 — — — — — —<br />

Gebiet West 6.978 12.407 — — — — — —<br />

Region Westsibirien 13.709 8.212 — — — — — —<br />

Gebiet Iwanowo 7.306 7.326 6.495 6.518 4.688 6.503 4.205 1.401<br />

Gebiet Irkutsk — — 9.457 10.069 17.450 22.130 18.460 10.488<br />

ASSR <strong>der</strong> Kabard<strong>in</strong>er<br />

und Balkaren<br />

— — 1.384 1.615 1.022 2.697 1.440 464<br />

Kasachische ASSR 7.847 — — — — — — —<br />

Gebiet Kal<strong>in</strong><strong>in</strong>grad — — — — — 4.326 1.347 255<br />

Gebiet Kal<strong>in</strong><strong>in</strong> 7.001 6.863 6.000 11 6.837 4.906 7.861 5.488 1.373<br />

Kalmückische ASSR — — — — — — — —<br />

Gebiet Kaluga — — — — 893 5.031 3.363 1.456<br />

Gebiet Kamenski — — — — — — — — 420 12<br />

Gebiet Kamtschatka — — — — — — — —<br />

Kara-Kalpakische<br />

ASSR<br />

1.337 — — — — — — —<br />

Karelische ASSR s. Karelo-F<strong>in</strong>nische SSR<br />

Gebiet Kemerowo — — — — 16.523 31.697 13.022 7.089<br />

Kirgisische ASSR 2.531 — — — — — — —<br />

Gebiet Kirow — 6.468 4.448 6.195 13.407 11.767 6.355 2.423<br />

Region Kirow 6.518 — — — — — — —<br />

ASSR <strong>der</strong> Komi — — 932 2.325 2.471 3.036 2.503 1.136 1.794<br />

Gebiet Kostroma — — — — 238 4.250 2.203 574<br />

Region Krasnodar — — 12.089 10.183 8.712 20.464 9.568 3.169<br />

Gebiet Krasnojarsk 7.309 — — — — — — —<br />

Region Krasnojarsk — 6.764 4.782 3.882 17.665 18.618 14.177 5.321<br />

Krim ASSR (Gebiet) 2.899 2.813 2.711 4.064 648 3.324 837 0<br />

Gebiet Kuibyschew — 11.461 10.731 7.414 12.988 25.601 18.779 7.965<br />

Gebiet Kurgan — — — — 5.707 4.195 328? 716<br />

Gebiet Kursk 5.226 7.572 1.603 3.648 13 2.399 6.849 4.290 960<br />

Gebiet Len<strong>in</strong>grad 26.822 22.359 43.786 34.214 7.011 26.151 10.201 2.235<br />

Gebiet Lipezk — — — — — — — — 1.421 14<br />

Gebiet Magadan — — — — — — — —<br />

11 zum 01.04.39.<br />

12 zum 01.05.54 [5].<br />

13 zum 01.02.41.<br />

14 zum 27.04.54 [6].<br />

79


ASSR <strong>der</strong> Mari — — 941 1.302 15 2.238 2.067 1.461 697<br />

Gebiet Molotow<br />

(Gebiet Perm)<br />

— — 5.636 7.832 23.514 34.102 22.739 16 9.388 17<br />

Mordw<strong>in</strong>ische ASSR — — 1.586 2.653 4.058 2.782 2.093 589<br />

Gebiet Moskau 11.157 17.112 8.498 14.004 30.156 31.692 18.750 5.504<br />

Gebiet Murmansk — — 1.550 — 374 2.520 7.342 2.968<br />

Wolga-Deutsche ASSR — — 1.000 1.020 — — — —<br />

Gebiet Nowgorod — — — — 727 5.469 3.465 1.259<br />

Gebiet Nowossibirsk — — 9.842 7.962 17.877 15.188 9.692 3.926<br />

Gebiet Omsk 3.328 5.452 4.284 5.749 16.080 10.725 7.285 2.641<br />

Region Ordschonikidse s. Region Stawropol<br />

Gebiet Orenburg s. Gebiet Tschkalow<br />

Gebiet Orjol — — 3.160 3.939 2.035 3.777 3.004 1.259<br />

Gebiet Pensa — — 1.402 4.932 18 6.477 6.241 3.968 1.150<br />

Gebiet Perm – s. Gebiet Molotow<br />

Region Primorje — — 2.009 1.031 19 8.642 9.510 12.609 7.088<br />

Gebiet Pskow — — — — 129 1.618 1.348 403<br />

Gebiet Rostow — — 8.691 8.536 6.629 13.095 8.140 2.760<br />

Gebiet Rjasan — — 2.449 4.291 5.031 5.608 5.092 1.402<br />

Gebiet Saratow — 9.640 4.852 5.389 16.464 17.380 9.132 3.081<br />

Region Saratow 6.229 — — — — — — —<br />

Gebiet Sachal<strong>in</strong> — — — — — 3.824 4.41 1.772<br />

Gebiet Swerdlowsk 10.589 9.764 10.070 11.859 3.381 63.330 35.674 17.602<br />

Region Nord 7.074 1.4761 — — — — — —<br />

Region Nordkaukasus 7.454 11.755 — — — — — —<br />

Nordossetische ASSR — — 1.788 1.049 1.505 2.004 1.186 299<br />

Gebiet Smolensk — — 3.966 4.406 3.043 4.840 2.95 698<br />

Region Stawropol — — 2.069 4.547 4.619 9.565 4.043 1.601<br />

Gebiet Stal<strong>in</strong>grad — 5.405 7.542 7.968 5.040 10.978 6.448 2.229<br />

Region Stal<strong>in</strong>grad 5.164 — — — — — — —<br />

Gebiet Tambow — — 2.100 3.564 6.017 5.030 3.510 1.004<br />

Tatarische ASSR 3.239 4.398 4.854 10.512 25.484 15.342 11.321 3.958<br />

Gebiet Tomsk — — — — 10.943 4.732 3.712 1.058<br />

Autonomes Gebiet<br />

Tuwa<br />

— — — — 885 20 1.078 1.019 562<br />

15 zum 01.02.41.<br />

16 darunter 2.033 zu Katorga-Arbeiten Verurteilte.<br />

17 darunter 2.011 zu Katorga-Arbeiten Verurteilte.<br />

18 zum 01.02.41.<br />

19 zum 01.02.41.<br />

80


Gebiet Tula — — 6.314 7.861 4.185 9.894 5.230 1.472<br />

Gebiet Tjumen — — — — 4.253 5.682 2.846 917<br />

Udmurtische ASSR — — 2.695 2.683 21 12.056 6.308 4.496 1.160<br />

Gebiet Uljanowsk — — — — 7.857 5.436 5.436 1.569<br />

Region Chabarowsk — — 5.307 4.656 34.604 37.576 22.134 22 14.323<br />

Gebiet Tscheljab<strong>in</strong>sk 15.370 17.001 12.733 7.872 25.040 27.682 16.155 7.494<br />

Tschetscheno-<br />

Inguschische ASSR<br />

— — 734 1.817 — — — —<br />

Gebiet Tschita — — 6.104 7.569 9.452 13.281 7.612 3.678<br />

Gebiet Tschkalow 8.589 7.406 6.305 7.840 13.561 10.178 5.860 2.319<br />

Tschuwaschische<br />

ASSR<br />

— — 3.080 3.154 6.119 5.123 2.847 886<br />

Jakutische ASSR 477 1.620 1.825 2.602 23 3.030 10.296 5.579 2.906<br />

Gebiet Jaroslawl — 9.293 5.820 7.283 11.529 12.327 5.508 1.807<br />

Aserbaidschanische<br />

SSR<br />

— 5.639 3.760 9.478 14.055 22.261 21.635 9.497 5.601 3.180<br />

Armenische SSR — — 1.239 1.977 4.003 4.401 4.471 1.162 1.373 1.428<br />

Weißrussische SSR 6.769 10.994 5.174 8.544 5.835 27.817 17.272 7.925 5.606 4.786<br />

Georgische SSR — 7.658 3.107 9.140 12.001 26.665 24.716 9.085 7.588 5.224<br />

Transkaukasische<br />

SSR<br />

10.426 — — — — — — —<br />

Kasachische SSR — 7.03 7.756 10.088 24.433 30.566 27.171 13.741 10.175 22.459<br />

Karelo-F<strong>in</strong>nische SSR — — 2.711 1.547 2.013 25.249 6.594 2.401<br />

Kirgisische SSR — 3.888 4.203 3.075 9210 8.912 5.087 1.512 2.988 2.894<br />

Lettische SSR — — — — 217 8.895 4.314 1.319 2.033 2.553<br />

Litauische SSR — — — — 545 24 8.862 7.080 1.789 1.083 2.791<br />

Moldauische SSR — — — — 411 25 7.348 3.049 739 1.776 2.031<br />

Tadschikische SSR 3.022 5.597 3.849 3.487 4.467 5.585 2.781 927 1.296 1.728<br />

Turkmenische SSR 3.367 4.804 3.923 4.183 10.229 8.255 3.609 1.556 1.246 1.725<br />

Usbekische SSR 9.605 8.107 9.088 12.174 26 34.487 37.447 19.107 8.638 9.047 102.58<br />

Ukra<strong>in</strong>ische SSR 57.568 47.657 42.690 58.396 38.381 156.825 89.261 31.083 32.611 31.076<br />

Estnische SSR — — — — 36 4.177 7.886 3.775 2.213 2.443<br />

Insgesamt 307.093 3753.76 381.581 434.624 745.171 113.9874 741.643 307.472 315.882 306.438<br />

20 zum 11.07.45.<br />

21 zum 01.02.41.<br />

22 darunter 1.422 zu Katorga-Arbeiten Verurteilte.<br />

23 zum 01.02.41.<br />

24 zum 11.01.45.<br />

25 zum 21.01.45.<br />

26 zum 01.02.41.<br />

81


Quellen:<br />

1. Befehl 00122 des NKWD vom 29.10.193.<br />

2. Befehl 00169 des NKWD vom 08.05.1936.<br />

3. Befehl 0128 des NKWD vom 21.10.1937.<br />

4. Befehl 00807 des NKWD vom 21.12.1938.<br />

5. GARF. F. 9414. Op. 1d. D. 343.<br />

6. Ebenda. Op. 1. D. 318. L. 30.<br />

7. Ebenda. Op. 1d. D. 344.<br />

8. Ebenda. D. 345.<br />

9. Ebenda. D. 346.<br />

10. Ebenda. Op. 1. D. 1276.<br />

82


2. <strong>Das</strong> Gefängnissystem 1934 – 1960<br />

Mit Gründung des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> 1934 wurde die Gefängnisabteilung <strong>der</strong> OGPU <strong>der</strong><br />

Wirtschaftsverwaltung des NKWD zugeordnet. Leiter <strong>der</strong> Gefängnisabteilung wurde M. W.<br />

Popow (Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 10.07.34). Diese<br />

Gefängnisabteilung übernahm sämtliche ehemaligen Politisolatoren <strong>der</strong> OGPU: diejenigen<br />

zur beson<strong>der</strong>en Verwendung sowie die Politisolatoren Butyrka, Sretenka, Tscheljab<strong>in</strong>sk,<br />

Werchne-Uralsk, Susdal und Jaroslawl.<br />

Auf Grund <strong>der</strong> Verordnung des Zentralen Exekutivkomitees und des Rates <strong>der</strong><br />

Volkskommissare <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 27. September 1934 sowie des NKWD-Befehls Nr. 00122<br />

vom 29. Oktober 1934 wurden <strong>in</strong> die Überführung aller Haftanstalten aus dem NKJu <strong>in</strong> das<br />

NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> auch alle Gefängnisse (die als „Isolatoren“ bezeichnet wurden)<br />

e<strong>in</strong>bezogen. <strong>Das</strong> galt ebenso für die so genannten Hafthäuser, die den Gefängnissen im<br />

Vollzug <strong>in</strong> etwa gleichkamen. Zur Leitung aller vom NKJu übernommenen Haftanstalten<br />

wurde <strong>in</strong>nerhalb des GULAG die Abteilung für Haftanstalten (OMS) des GULAG – und <strong>in</strong><br />

den Regionen die OMS des NKWD bzw. <strong>der</strong> NKWD-Verwaltung – geschaffen. Leiter <strong>der</strong><br />

OMS des GULAG des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> wurde G. P. Matson. Am 11. November 1935<br />

wurden die Politisolatoren und die Isolatoren des NKWD umbenannt <strong>in</strong> Gefängnisse des<br />

NKWD (auf Grund des NKWD-Befehls Nr. 00403). Damit war die Gefängnisverwaltung auf<br />

zwei NKWD-Abteilungen verteilt.<br />

Der NKWD-Befehl Nr. 0383 vom 28. November 1936 sah vor, auf <strong>der</strong> Basis <strong>der</strong> Gefängnis-<br />

Abteilung <strong>der</strong> NKWD-Wirtschaftsverwaltung <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> e<strong>in</strong>e Gefängnis-Abteilung <strong>der</strong><br />

Hauptabteilung für Staatssicherheit (GUGB) des NKWD e<strong>in</strong>zurichten. Am 25. Dezember<br />

desselben Jahres erhielt diese die Bezeichnung „10. Abteilung <strong>der</strong> GUGB des NKWD <strong>der</strong><br />

<strong>UdSSR</strong>“ (NKWD-Befehl Nr. 00411 vom 25.12.36). Ihr Leiter wurde <strong>der</strong> Stabsmajor für<br />

Staatssicherheit Ja. M. We<strong>in</strong>schtok. An<strong>der</strong>thalb Jahre später wurde <strong>der</strong> Status dieser<br />

Abteilung angehoben: Auf Befehl Nr. 0362 des NKWD vom 9. Juni 1938 wurde sie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

Gefängnis-Abteilung des NKWD unter Leitung des Majors <strong>der</strong> Staatssicherheit N. I.<br />

Antonow-Grizjuk umgewandelt.<br />

Am 29. September 1938 wurde aus <strong>der</strong> Gefängnis-Abteilung des NKWD und <strong>der</strong> OMS des<br />

GULAG die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Gefängnisse (GTU) des NKWD (NKWD-Befehl Nr.<br />

00641). In dieser war die Leitung aller Gefängnise<strong>in</strong>richtungen des Landes zusammengefasst.<br />

Den ersten GTU Leiter, Oberst W. M. Botschkow (ernannt durch NKWD-Befehl Nr. 2433<br />

vom 2. November 1938), löste bereits am 13. Januar 1939 Major A. G. Galk<strong>in</strong> ab (NKWD-<br />

Befehl Nr. 80). Seit dem 14. März 1940 leitete P. N. Sujew die GTU (NKWD-Befehl Nr.<br />

344).<br />

Am 17. Dezember 1939 unterstanden <strong>der</strong> GTU die zentralen Gefängnisse <strong>der</strong> GUGB des<br />

NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> (das Innere Gefängnis, die Butyrka, Lefortowo, Suchanowka, das<br />

Gefängnis zu spezieller Verwendung und die Gefängnispsychiatrie <strong>in</strong> Kasan), zwei<br />

Gefängnisse <strong>der</strong> GUGB des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> für bereits Verurteilte (Wladimir und Orjol),<br />

die allgeme<strong>in</strong>en Gefängnisse, die <strong>in</strong>neren Gefängnisse und die Gefängniszellen von NKWD<br />

und NKWD-Verwaltung sowie die Gefängnisse zu beson<strong>der</strong>er Verwendung und <strong>in</strong>neren<br />

Gefängniszellen <strong>der</strong> Transportabteilungen (NKWD-Befehl Nr. 001486 vom 17.12.39). Ab<br />

1939 wurde e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Gefängnisse aus <strong>der</strong> GTU schrittweise <strong>in</strong> die Zuständigkeit des<br />

GULAG überführt und als Transitgefängnisse bzw. -punkte genutzt.<br />

Durch die Aufteilung des NKWD <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> <strong>in</strong> zwei Volkskommissariate (NKWD und<br />

NKGB <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong>) wurde im Februar 1941 e<strong>in</strong> Teil <strong>der</strong> Gefängnisse (z. B. <strong>in</strong> Moskau das<br />

Innere, Lefortowo und Suchanowka) vom NKWD <strong>in</strong> die Zuständigkeit des NKGB überführt.<br />

Dort kamen sie unter die Leitung <strong>der</strong> zweiten Abteilung (Registrier- und Archiv-Abteilung)<br />

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des NKGB (NKWD/NKGB-Befehl Nr. 03/0115 vom 06.03.41). Abteilungsleiter war L. F.<br />

Baschtakow.<br />

Am 26. Februar 1941 wurde <strong>in</strong>nerhalb des NKWD die Gefängnisverwaltung des NKWD<br />

geschaffen, <strong>der</strong>en Leiter M. I. Nikolski wurde (NKWD-Befehl Nr. 00212).<br />

Nach Kriegsausbruch wurden NKWD und NKGB wie<strong>der</strong> zu e<strong>in</strong>em Volkskommissariat – dem<br />

NKWD – vere<strong>in</strong>igt, und die Leitung <strong>der</strong> NKWD-Gefängnisse oblag (laut Präsidiumserlass des<br />

Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 20. Juli 1941) erneut <strong>der</strong> Gefängnisverwaltung des NKWD<br />

(abgesehen von den Transitgefängnissen, die dem GULAG unterstellt blieben).<br />

Der Präsidiumserlass des Obersten Sowjets <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 14. April 1943 teilte das NKWD<br />

dann wie<strong>der</strong> <strong>in</strong> zwei Volkskommissariate auf, NKWD und NKGB. Die Leitung <strong>der</strong> NKGB-<br />

Gefängnisse oblag nun <strong>der</strong> Abteilung „A“ des NKGB. Am 27. September 1946 entstand auf<br />

Befehl Nr. 00396 des MGB die Gefängnisabteilung des MGB unter Leitung von Oberst A. M.<br />

Bojarski. 1949-1953 bekleidete diesen Posten Oberst F. Ja. Jewsen<strong>in</strong>. Die Leitungsstruktur<br />

<strong>der</strong> MWD-Gefängnisse än<strong>der</strong>te sich nicht wesentlich.<br />

Ab 25. Oktober 1946 wurde Oberst M. W. Kusnezow Leiter <strong>der</strong> Gefängnisverwaltung des<br />

MWD (MWD-Befehl Nr. 1462ls).<br />

Am 14. März 1953 wurden durch den Zusammenschluss von MGB und MWD zu e<strong>in</strong>em<br />

M<strong>in</strong>isterium – dem MWD – auch die Gefängnisabteilung des MGB und die<br />

Gefängnisverwaltung des MWD zu e<strong>in</strong>er Gefängnisverwaltung des MWD zusammengelegt<br />

(MWD-Befehl Nr. 002). Sie stand unter Leitung von Oberst M. W. Kusnezow (MWD-Befehl<br />

Nr. 12 vom 17.03.53). Am 1. September 1953 unterstanden <strong>der</strong> MWD-Gefängnisverwaltung<br />

587 Gefängnisse mit e<strong>in</strong>er maximalen Kapazität von 249.000 Plätzen: zwei Gefängnisse mit<br />

zentraler Unterstellung (Butyrka und Lefortowo), drei beson<strong>der</strong>e (Wladimir, Alexandrowsk<br />

und Werchne-Uralsk), zwei Spezialgefängnisse, drei Gefängnispsychiatrien (Kasan,<br />

Tschistopol und Len<strong>in</strong>grad), 437 allgeme<strong>in</strong>e und 140 <strong>in</strong>nere Gefängnisse (GARF. F. 9412.<br />

Op. 1. D. 128. L. 85).<br />

Mit <strong>der</strong> Übertragung <strong>der</strong> Zuständigkeit für den GULAG vom MWD ans MJu fiel die Leitung<br />

<strong>der</strong> MWD-Son<strong>der</strong>lager (laut Verordnung Nr. 934-400ss des M<strong>in</strong>isterrats <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> vom 28.<br />

März 1953) an die Gefängnisverwaltung des MWD. Am 18. Mai 1953 kam mit <strong>der</strong> Auflösung<br />

<strong>der</strong> MWD-Verwaltung für Kriegsgefangene und Internierte noch die Verwaltung <strong>der</strong> Lager<br />

für diesen Personenkreis h<strong>in</strong>zu (MWD-Befehl Nr. 00277).<br />

Am 8. Februar 1954 wurde mit <strong>der</strong> Rückführung des GULAG aus dem MJu an das MWD die<br />

Leitung <strong>der</strong> Son<strong>der</strong>lager von <strong>der</strong> MWD-Gefängnisverwaltung an den GULAG des MWD<br />

übertragen (MWD-Befehl Nr. 0095).<br />

Am 18. März 1954 wurde mit <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtung des Komitees für Staatssicherheit (KGB) beim<br />

M<strong>in</strong>isterrat <strong>der</strong> <strong>UdSSR</strong> <strong>in</strong>nerhalb des KGB e<strong>in</strong>e Gefängnisabteilung e<strong>in</strong>gerichtet, zu <strong>der</strong>en<br />

Leiter Oberst A. P. Kleimenow ernannt wurde (KGB-Befehl Nr. 006 vom 18.03.54). Am 23.<br />

Juni 1959 wurde diese Abteilung an die Registrier- und Archiv-Abteilung des KGB<br />

übergeben (KGB-Befehl Nr. 00153).<br />

Mit dem MWD-Befehl Nr. 00826 vom 30. Oktober 1954 wurde die MWD-<br />

Gefängnisverwaltung <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Gefängnis-Abteilung umgebildet, die am 27. März 1959 (MWD-<br />

Befehl Nr. 097) an die Hauptverwaltung <strong>der</strong> Haftanstalten (GUMS) des MWD übergeben<br />

wurde. Am 8. April 1955 wurde Oberst P. S. Bulanow Leiter dieser Abteilung (MWD-Befehl<br />

Nr. 471).<br />

1956 unterstanden <strong>der</strong> Gefängnis-Abteilung des MWD 415 Gefängnisse (GARF. F. 9412. Op.<br />

1. D. 211. Bl. 1), 1958 waren es 381 (Ebd., D. 238. Bl. 72).<br />

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Zahl <strong>der</strong> <strong>in</strong> den Gefängnissen des NKWD-MWD <strong>in</strong>haftierten Personen:<br />

01.01.39: 352.508<br />

01.01.40: 186.278<br />

01.01.41: 470.693<br />

01.01.42: 268.532<br />

01.01.43: 237.534<br />

01.01.44: 151.296<br />

01.01.45: 275.510<br />

01.01.46: 245.146<br />

01.01.47: 293.135<br />

01.01.48: 280.374<br />

01.01.49: 231.047<br />

01.01.50: 198.744<br />

01.01.51: 164.679<br />

01.01.52: 152.614<br />

01.01.53: 152.290<br />

01.01.54: 149.082<br />

01.01.55: 118.329<br />

01.01.56: 143.509<br />

01.01.57: 141.703<br />

01.01.58: 139.456<br />

01.01.59: 160.893<br />

01.01.60: 71.084<br />

(GARF. F. 9413. Op. 1. D. 6, 42, 48, 62, 128, 162, 163, 196, 211, 238, 269).<br />

A. Kokur<strong>in</strong><br />

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