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soziologie und gesellschaftliche entwicklung (35 mb) - ISF München

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Soziologie <strong>und</strong><br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung<br />

Verhandlungen des 22. Deutschen Soziologentages<br />

in Dortm<strong>und</strong> 1984<br />

Herausgegeben im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für Soziologie<br />

von Burkart Lutz<br />

Campus Verlag<br />

Frankfurt/New York<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung<br />

!<br />

1<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek<br />

Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung :<br />

Verhandlungen d. 22. Dt. Soziologentages in<br />

Dortm<strong>und</strong> 1984 / hrsg. im Auftr. d. Dt. Ges. für<br />

Soziologie von Burkart Lutz. - Frankfurt/Main ;<br />

New York : Campus Verlag, 1985.<br />

ISBN 3-593-32829-1<br />

NE: Lutz, Burkart [Hrsg.]; Deutscher Soziologentag<br />

<br />

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung <strong>und</strong> Verbreitung sowie<br />

der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form<br />

(durch Photokopie, Mikrofilm oder ein anderes Verfahren) ohne schriftliche<br />

Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer<br />

Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.<br />

Copyright © 1985 Campus Verlag G<strong>mb</strong>H, Frankfurt/Main<br />

Umschlaggestaltung: Atelier Warminski, Büdingen<br />

Satz: Heinz Breynk, Kirchweiler<br />

Druck <strong>und</strong> Bindung: Beltz Offsetdruck, Hemsbach<br />

Printed in Germany<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


INHALT<br />

Vorwort 11<br />

Burkart Lutz<br />

PLENARVORTRÄGE<br />

Zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung der Soziologie:<br />

Überlegungen zu zukünftigen Chancen <strong>und</strong> Problemlagen 17<br />

Burkart Lutz<br />

Die <strong>gesellschaftliche</strong> Dynamik als theoretische Herausforderung 27<br />

Renate Mayntz<br />

Die unbekannte Zukunft <strong>und</strong> die Kunst der Prognose 45<br />

Reinhart Koselleck<br />

The Social Fo<strong>und</strong>ations of Monetarism and "Bastard"<br />

Keynesianism: the Shrivelling of Neo-Conservatism 60<br />

Paolo Leon<br />

Gesellschaftliche Entwicklung oder Entwicklung des<br />

Weltsystems? 76<br />

Immanuel Wallerstein<br />

Die heutigen <strong>gesellschaftliche</strong>n Syndrome der osteuropäischen<br />

Gesellschaften <strong>und</strong> Entwicklungsalternativen 91<br />

Andras Hegedüs<br />

THEMENBEREICH I:<br />

GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG<br />

VON LEBENSZUSAMMENHÄNGEN<br />

Einleitung 103<br />

Eckart Pankoke<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Moderne familiale Lebensformen als Herausforderung<br />

der Soziologie 110<br />

Kurt Lüscher<br />

Unentgeltliche Arbeit im Lebenszusammenhang von Frauen<br />

<strong>und</strong> deren Reflexion in den Sozialwissenschaften 128<br />

Ursula Beer<br />

Zur Entwicklung lokaler Lebenszusammenhänge als<br />

Gegenstand stadtsoziologischer Forschung 145<br />

Ulfert Herlyn<br />

Zur Dynamik <strong>und</strong> Potentialität städtischer Lebensformen 152<br />

Karl-Dieter Keim<br />

Die <strong>gesellschaftliche</strong> Organisation von Arbeit als Problem<br />

der Sozialpolitik 160<br />

Fritz Böhle<br />

Marginalisierung als sozialpolitische Alternative? 169<br />

Barbara Riedmüller<br />

Diskussionsbeiträge zu den Referaten von<br />

Lüscher, Herlyn, Keim <strong>und</strong> Böhle<br />

Rosemarie Nave-Herz, Adalbert Evers, Thomas Krämer-<br />

Badoni, Marianne Weg, Helgard Ulshoefer, Georg Vobruba,<br />

Rolf Rosenbrock 177<br />

THEMENBEREICH II: PROGNOSEN IM BILDUNGSBEREICH<br />

Einleitung 207<br />

Ansgar Weymann<br />

Prognosen über Bildung <strong>und</strong> Arbeit — eine Bilanz aus<br />

soziologischer Sicht 209<br />

Ulrich Teichler<br />

Bildung <strong>und</strong> Wertwandel 224<br />

Helmut Klages<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Bildungsprognosen: Scheitern ohne Ende oder<br />

„Aufbruch zu neuen Ufern"? 242<br />

Ansgar Weymann<br />

Politikberatung durch Bildungsforschung?<br />

Einleitung 250<br />

Friedhelm Gehrmann<br />

Politikberatung durch Berufsbildungsforschung 252<br />

Laszlo Alex<br />

Ergebnisse der Forschung über Hochschulen als Gr<strong>und</strong>lage<br />

hochschulpolitischer Entscheidungen — Erfahrungen<br />

von HIS 262<br />

Heinz Griesbach<br />

Zur Politikberatung durch Bildungsforschung im Bereich<br />

der Weiterbildung 271<br />

Wolfgang Schulenberg<br />

Weiterbildung <strong>und</strong> Politikberatung 278<br />

Wolfgang Zapf<br />

Bildung <strong>und</strong> Wertwandel: Am Beispiel von „Leistung"<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland zwischen 1950<br />

<strong>und</strong> 1980 282<br />

Heiner Meulemann<br />

Daten, Erklärungen, Prognosen — Wege der Annäherung<br />

Einleitung 292<br />

Manfred Küchler<br />

Experimental-Pläne in sozialwissenschaftlicher Forschung 295<br />

Martin Irle<br />

Fragen der Erklärung <strong>und</strong> Prognose in qualitativen Untersuchungen.<br />

Dargestellt am Beispiel der „Arbeitslosen von<br />

Marienthal" 303<br />

Christel Hopf<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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THEMENBEREICH III: TERRORISMUS IN DER BUNDES­<br />

REPUBLIK DEUTSCHLAND<br />

Einleitung 319<br />

Günter Albrecht<br />

Große Wirkungen kleiner Reize — sy<strong>mb</strong>olisch vermittelt.<br />

Zur Soziologie des Terrorismus 322<br />

Friedhelm Neidhardt<br />

Zur Soziologie des Terrorismus 334<br />

Fritz Sack<br />

THEMENBEREICH IV: GESELLSCHAFTLICHE VORAUS­<br />

SETZUNGEN VON TECHNIK­<br />

ENTWICKLUNG<br />

Einleitung <strong>35</strong>3<br />

Hartmut Neuendorff, Gert Schmidt<br />

Technologie<strong>entwicklung</strong> zwischen Eigendynamik <strong>und</strong> öffentlichem<br />

Diskurs. Kernenergie, Mikroelektronik <strong>und</strong> Gentechnologie<br />

in vergleichender Perspektive <strong>35</strong>5<br />

Bernward Joerges, Gotthard Bechmann, Rainer Hohlfeld<br />

Kommentare zum Beitrag von Joerges/Bechmann/Hohlfeld<br />

Hartmut Neuendorff, Walther Ch. Zimmerli 375<br />

Industriearbeit im U<strong>mb</strong>ruch — Versuch einer Voraussage 382<br />

Horst Kern, Michael Schumann<br />

Kommentare zum Beitrag von Kern/Schumann<br />

Klaus Düll, Rudi Schmidt 398<br />

Technologie<strong>entwicklung</strong>: Autonomer Prozeß <strong>und</strong><br />

industrielle Strategie 411<br />

Wolfgang Krohn, Werner Rammert<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Gewerkschaftliche Technologiepolitik zwischen Statussicherung<br />

<strong>und</strong> Arbeitsgestaltung<br />

Eckart Hildebrandt, Rüdiger Seltz<br />

THEMENBEREICH V:<br />

THEORIEN DER GESELLSCHAFTLICHEN<br />

ENTWICKLUNG DER MODERNE<br />

Einleitung 451<br />

Bernhard Giesen<br />

Wege der Moderne. Zwischen Tradition <strong>und</strong> Modernität, Partikularismus<br />

<strong>und</strong> Universalismus, Routine <strong>und</strong> Revolution, Konformität<br />

<strong>und</strong> Entfremdung 453<br />

Richard Münch<br />

Versozialwissenschaftlichung der Identitätsformation <strong>und</strong><br />

Verweigerung von Lebenspraxis: Eine aktuelle Variante der<br />

Dialektik der Aufklärung 463<br />

Ulrich Oevermann<br />

Bemerkungen zu Gesellschaftsstruktur, Bewußtseinsformen<br />

<strong>und</strong> Religion in der modernen Gesellschaft 475<br />

Thomas Luckmann<br />

Der Kapitalismus — ein unvollendbares Projekt? 485<br />

Johannes Berger<br />

Mobilisierung der Laien - Deprofessionalisierung der Hilfen.<br />

Ein Verlust an <strong>gesellschaftliche</strong>r Rationalität? 497<br />

Christian von Ferber<br />

Märkte, Käuflichkeit <strong>und</strong> Moralökonomie 509<br />

Georg Elwert<br />

Theorien der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung zur Moderne<br />

Einleitung 520<br />

Klaus Eder<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Formale Rationalität als Kern der Weberschen<br />

Modernisierungstheorie 523<br />

Rainer Döbert<br />

Rationalisierung <strong>und</strong> Enthierarchisierung. Zur Kritik der<br />

Weberschen Ägyptisierungsthese 530<br />

Hans Haferkamp<br />

Die Modernisierung der Zeit <strong>und</strong> die Zeit nach der Moderne 537<br />

Hanns-Georg Brose<br />

Die zögernde Begrüßung der Moderne. Zu Georg Simmeis<br />

Diagnose moderner Lebensstile 543<br />

Georg Lohmann<br />

Wissen — Orientierung — Handlung<br />

Subjektives Erlebnis <strong>und</strong> das Institut der Konversion 549<br />

Walter M. Sprondel<br />

Soziale <strong>und</strong> biographische Konstitution chronischer<br />

Krankheit 559<br />

Wolfram Fischer<br />

Entwicklung <strong>und</strong> Diskontinuität<br />

Einleitung 570<br />

Georg Elwert<br />

Volkszählung <strong>und</strong> bürokratische Herrschaft in Bauernstaaten 572<br />

Gerd Spittler<br />

Strategische Gruppen, Klassenbildung <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklungen 576<br />

Hans-Dieter Evers, Tilman Schiel<br />

Entwicklung, Hegemoniekrise <strong>und</strong> Friedensfähigkeit in<br />

der Gegenwart 580<br />

Dieter Senghaas<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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VORWORT<br />

Burkart Lutz<br />

Vor einigen Jahren hat sich mit der Entscheidung der DGS, Soziologentage<br />

in zweijährigem Turnus zu veranstalten, das Prinzip eingespielt, daß Soziologentage<br />

jeweils abwechselnd eindeutig themenzentriert vom Vorstand ausgerichtet<br />

<strong>und</strong> mit wesentlich offenerer Thematik maßgeblich von den Sektionen<br />

gestaltet werden sollen. Nach den themenzentrierten Soziologentagen<br />

von 1979 in Berlin <strong>und</strong> von 1982 in Ba<strong>mb</strong>erg lag es nahe, 1984, wie<br />

vier Jahre zuvor in Bremen, den Sektionen die Hauptverantwortung für die<br />

Organisation des Soziologentags zu übertragen.<br />

Einer nahezu beliebig offenen Themenwahl stand freilich entgegen, daß<br />

die Jahreszahl 1984 mit Konnotationen beladen ist (war), die von der Soziologie<br />

nicht einfach übersehen werden kann.<br />

Angesichts dessen entschloß sich der Vorstand für eine Struktur des<br />

22. Deutschen Soziologentags, die sich an drei Absichten orientierte:<br />

Die eine Absicht bestand darin, die Herausforderung des Orwell-Jahres<br />

aufgreifend, aber sie bewußt in soziologisch bearbeitbare Kategorien übersetzend,<br />

zu fragen, inwieweit Soziologie gegenwärtig in der Lage ist, wichtige<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklungen genau <strong>und</strong> zuverlässig zu beobachten,<br />

die sie bestimmenden Tendenzen herauszuarbeiten <strong>und</strong> neue Perspektiven<br />

<strong>und</strong> Problemlagen so frühzeitig zu identifizieren, daß sich die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Praxis rechtzeitig auf sie einstellen kann. Hierbei war — sofern angebracht:<br />

durchaus selbstkritisch — zu prüfen, wo angesichts dieser Aufgabe<br />

die Stärken <strong>und</strong> Schwächen des Faches liegen <strong>und</strong> welche Felder <strong>und</strong> Fragen<br />

es in Zukunft vordringlich zu bearbeiten bzw. zu entwickeln gelte.<br />

Die zweite Absicht war, die Sektionen in den Mittelpunkt der Veranstaltungen<br />

zu stellen <strong>und</strong> ihnen Gelegenheit zu geben, sich mit charakteristischen<br />

Leistungen vor der Öffentlichkeit der Soziologie zu präsentieren.<br />

Deshalb hatte der Vorstand schon im Sommer 1983 alle Sektionen aufgefordert,<br />

für sich allein oder in Zusammenarbeit mit anderen Sektionen je<br />

eine Plenarveranstaltung mit anschließenden Arbeitssitzungen zu planen,<br />

in denen gezeigt werden sollte, was aus den spezialisierten Forschungs<strong>und</strong><br />

Diskussionszusammenhängen, die in erster Linie in den Sektionen zu<br />

Hause sind, zum übergreifenden Thema — der Bestimmung von Grenzen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten retrospektiver <strong>und</strong> prognostischer Erfassung <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Entwicklung — beigetragen werden kann.<br />

Mit dieser Aufforderung verband der Vorstand eine dritte Absicht: Die<br />

Entwicklung der Soziologie ist gegenwärtig durch eine starke Tendenz zur<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Herausbildung spezialisierter Forschungsrichtungen geprägt, die sich in den<br />

Sektionen mehr oder minder genau abbilden. Zwar ist diese Tendenz sicherlich<br />

eine unvermeidliche Folge von Entwicklungen, die, für sich genommen,<br />

jeweils sehr positiv zu werten sind, wie z.B. verstärkte empirische Professionalisierung<br />

(die notwendig feld- <strong>und</strong>/oder methodenzentriert ist) oder engerer<br />

Kontakt mit gleichfalls jeweils spezifischer <strong>gesellschaftliche</strong>r Praxis.<br />

Doch hatte <strong>und</strong> hat Spezialisierung auch Nebenwirkungen, die ein erhebliches<br />

Risiko für die Einheit des Faches bedeuten <strong>und</strong> nicht zuletzt in der<br />

Entstehung spezieller soziologischer Subkulturen bestehen, die einander<br />

kaum mehr wahrnehmen, geschweige denn, daß sie noch miteinander kommunizierten.<br />

Nun ist jedoch die Einheit des Faches offenk<strong>und</strong>ig eine unverzichtbare<br />

Voraussetzung dafür, die Unabhängigkeit der Wissenschaft gegenüber<br />

rasch wechselnden Modeströmungen oder Bestrebungen zu ihrer kurzschlüssigen<br />

Instrumentalisierung zu wahren; auch sind viele der heute oder<br />

in Zukunft notwendigen thematischen, konzeptuellen <strong>und</strong> methodischen<br />

Innovationen nur im größeren Zusammenhang des Faches als Ganzem zu<br />

leisten. Indem er den Sektionen Gelegenheit zu Auftritten in der soziologischen<br />

Öffentlichkeit gab <strong>und</strong> eine Reihe von Sektionen veranlaßte, gemeinsame<br />

Plenarveranstaltungen zu organisieren, hoffte der Vorstand auch,<br />

die innere Einheit des Faches wieder etwas stärker ins Blickfeld zu rücken.<br />

Wieweit diese Absichten eingelöst oder verfehlt, die mit ihnen verknüpften<br />

Hoffnungen begründet oder illusorisch waren, läßt sich auch ex<br />

post nicht eindeutig bestimmen.<br />

Die Zusammenfassung" von Vorträgen aus verschiedenen Sektionen zu<br />

einer gemeinsamen Veranstaltung ist in einzelnen Fällen wider Erwarten<br />

gut gelungen, da die Beteiligten viel Mühe in die vorherige Abstimmung<br />

<strong>und</strong> Planung investiert hatten. Vielleicht wurden hier über den konkreten<br />

Anlaß hinausreichende Beziehungen zwischen Spezial<strong>soziologie</strong>n angeknüpft,<br />

die bisher kaum Kontakt miteinander hatten. In anderen Fällen<br />

konnten auch Sektionen, die benachbarte Sachgebiete bearbeiten <strong>und</strong> über<br />

Doppelmitgliedschaften miteinander verb<strong>und</strong>en sind, nichts anderes zustande<br />

bringen, als ihre Referate ohne wechselseitigen Bezug <strong>und</strong> ernsthafte Absprache<br />

im gleichen Raum abzuwickeln.<br />

Sicher ist, daß Organisation <strong>und</strong> Ablauf des Dortm<strong>und</strong>er Soziologentags<br />

viel Kritik fanden. Ein Teil der Kritik mag Ausdruck der allgemeinen<br />

Verdrossenheit gegenüber dem eigenen Fach sein, die gegenwärtig unter<br />

Soziologen — <strong>und</strong> wohl vor allem unter den ehemaligen „68ern" — weitverbreitet<br />

ist. Andere Kritikpunkte sind jedoch sehr ernst zu nehmen. Sie<br />

richten sich vor allem darauf, daß:<br />

• auf den Veranstaltungen zu viele <strong>und</strong> zu lange Referate gehalten wurden;<br />

• mit ganz wenigen Ausnahmen (die dann auch — so die Scheuch-Tenbruck-Debatte<br />

— sehr großen Zulauf fanden) keine Diskussionen zustande<br />

kamen.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Daß entgegen den ursprünglichen Intentionen beides zutraf, ist nicht zu<br />

leugnen. Die Gründe hierfür sind vielfältig <strong>und</strong> liegen sicher nicht nur in der<br />

mangelnden Fähigkeit vieler Soziologen, das Verhältnis zwischen Seitenzahl<br />

<strong>und</strong> Zeitbedarf ihrer Referate richtig einzuschätzen, eine wissenschaftliche<br />

Argumentation schnell auf den Punkt zu bringen <strong>und</strong> in einem Vortrag zwei<br />

oder drei gutdurchdachte Thesen eingängig darzustellen. Ganz offensichtlich<br />

sehen sich sehr viele Kollegen der jüngeren Generation starkem Druck<br />

ausgesetzt, auf Soziologentagen mit einem Referat präsent zu sein (wobei<br />

die Sorge um die berufliche Zukunft sich mit der weitverbreiteten Praxis<br />

deutscher Universitätsverwaltungen ko<strong>mb</strong>iniert, Reisekostenzuschüsse zum<br />

Besuch wissenschaftlicher Tagungen nur dem zu gewähren, der ein Referat<br />

hält). Und die Sektionen <strong>und</strong> ihre Sprecher sind ebenso offensichtlich aufgr<strong>und</strong><br />

der typischen Sozialstrukturen, in denen sich die Sektionsarbeit vollzieht,<br />

kaum in der Lage, rationierend <strong>und</strong> selektierend in das Angebot an<br />

Referaten einzugreifen. Was dann an Tagungszeit überhaupt noch für Diskussion<br />

zur Verfügung gestanden hätte, wurde überdies oft schon deshalb<br />

nicht zu wirklichen Debatten genutzt, weil offenbar viele Soziologen glauben,<br />

daß in dem offen soziologenfeindlichen Klima, das heute vielfach<br />

herrscht, ernsthafte Kritik an Kollegen gänzlich inopportun sei.<br />

Allerdings ist die Hoffnung nicht ganz unberechtigt, daß diese Schwächen<br />

in der jetzt vorgelegten schriftlichen Fassung der Dortm<strong>und</strong>er Verhandlungen<br />

weitgehend in den Hintergr<strong>und</strong> treten. So sehr brillante Kontroversen<br />

die Stimmung eines Kongresses erhellen <strong>und</strong> seinen Ablauf beleben,<br />

so groß ist doch die Gefahr, daß sie bei der anschließenden Drucklegung<br />

einen Gutteil ihrer Spannung verlieren. Deshalb leidet auch der Tagungsband<br />

weniger darunter, daß es sie nicht gab. Und manche der Referate,<br />

die in Dortm<strong>und</strong> unter hohem Zeitdruck vom Blatt gelesen wurden,<br />

präsentieren sich nunmehr dem aufmerksamen Leser als sehr aufschlußreiche,<br />

interessante <strong>und</strong> gut verständliche Texte.<br />

Der Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Soziologie möchte all den<br />

Sprechern <strong>und</strong> Mitgliedern seiner Sektionen, die aktiv an den oftmals aufwendigen<br />

<strong>und</strong> mühevollen Vorbereitungen dieses Soziologentags beteiligt<br />

waren, sehr herzlich danken. Sein Dank gilt vor allem aber auch den Gastgebern,<br />

der Stadt <strong>und</strong> der Universität Dortm<strong>und</strong>. Dortm<strong>und</strong> hat ja in der<br />

Entwicklung der deutschen Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg eine<br />

bedeutende Rolle gespielt. Zahlreiche angesehene Soziologen haben hier<br />

wenigstens einige Jahre — an der Sozialforschungsstelle oder anderswo —<br />

gearbeitet. Viele wichtige Untersuchungen fanden in Dortm<strong>und</strong> <strong>und</strong> in seinem<br />

Umland statt. Es war seit langem an der Zeit, einen Soziologentag in<br />

Dortm<strong>und</strong> zu veranstalten. Daß dies nunmehr möglich wurde, ist nicht zuletzt<br />

der Gesellschaft zur Förderung der Sozialforschung in Dortm<strong>und</strong> zu<br />

verdanken, der die Hauptlast der organisatorischen Vorbereitung zugefallen<br />

war.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Plenarvorträge<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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ZUR GESELLSCHAFTLICHEN ENTWICKLUNG DER SOZIOLOGIE:<br />

ÜBERLEGUNGEN ZU ZUKÜNFTIGEN CHANCEN UND<br />

PROBLEMLAGEN<br />

Burkart Lutz<br />

Es habe sich eingebürgert, so sagte Joachim Matthes vor zwei Jahren in<br />

Ba<strong>mb</strong>erg, daß der amtierende Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für<br />

Soziologie zur Eröffnung eines Soziologentags einen professionspolitischen<br />

Vortrag halte. Zwar war ich, als ich dies hörte, zunächst etwas verw<strong>und</strong>ert,<br />

daß ausgerechnet die Soziologen, die ja bislang nachgerade ihre Identität<br />

auf Traditionskritik gegründet hatten, Wert darauf legen sollten, in so kurzer<br />

Zeit, im Rhythmus weniger Soziologentage, eine eigene Tradition gestiftet<br />

zu haben. Aber bei näherem Nachdenken leuchtete mir die Sache<br />

doch zunehmend ein. Der Vorsitzende einer, wie man früher so schön sagte,<br />

gelehrten Gesellschaft, die auf das Prinzip der Ehrenamtlichkeit gestellt<br />

ist <strong>und</strong> keine Ressourcen zu verteilen hat, verfügt ja nur über sehr wenig<br />

institutionelle Möglichkeiten, auf die Entwicklung des Faches Einfluß zu<br />

nehmen. Um so ernster muß er die Deutungsmacht nehmen, die ihm anläßlich<br />

einer solchen Gelegenheit wie der Eröffnungsveranstaltung eines Soziologentags<br />

zufallen könnte, <strong>und</strong> um so überlegter muß er mit ihr umgehen.<br />

In diesem Sinne möchte ich mit einer These beginnen:<br />

I<br />

Der Soziologie geht es gegenwärtig erheblich besser, als man dies angesichts<br />

der allgemeinen Befindlichkeit <strong>und</strong> Stimmungslage der Soziologen,<br />

der seit einigen Jahren in Mode gekommenen Unken-, ja Kassandrarufe<br />

prominenter Kollegen <strong>und</strong> des mitleidsvollen oder böswilligen Tenors mancher<br />

Pressekommentare glauben könnte.<br />

Hier einige Belege für diese These:<br />

1. Im Zuge des allgemeinen Ausbaus der Hochschulen hat sich die Zahl der<br />

Hochschullehrerstellen für Soziologie von 1960 bis zur Mitte der 70er Jahre<br />

etwa verzwanzigfacht. Die Personalausstattung der Soziologie ist heute besser<br />

als die wesentlich älterer Fächer prinzipiell ähnlicher Natur, wie z.B. die<br />

Psychologie. Wenngleich es natürlich in jüngster Zeit immer wieder zu versuchten<br />

oder vollzogenen Stelleneinziehungen kommt, trifft dies doch zumeist<br />

die Soziologie nicht stärker als andere vergleichbare Fächer; <strong>und</strong> mei-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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nes Wissens wird hierdurch nirgendwo die Substanz des Personalbestands<br />

wirklich ernsthaft bedroht.<br />

2. Die Forschungsstruktur <strong>und</strong> -infrastruktur der deutschen Soziologie ist<br />

zwar, wie mit Recht immer wieder beklagt wird, institutionell ganz unzureichend<br />

konsolidiert. Aber sie existiert, produziert viel Ordentliches <strong>und</strong><br />

gelegentlich sogar einiges Außerordentliche. Und entgegen einer weitverbreiteten<br />

Befürchtung hatten weder die Haushaltskürzungen noch die politische<br />

Tendenzwende der letzten Jahre bisher wirklich lebensbedrohende<br />

Konsequenzen für sie, obwohl der Stellenbestand in der Forschung weitaus<br />

verletzlicher ist als an den Hochschulen.<br />

3. Das soziologische Veröffentlichungswesen funktioniert auf eine Art <strong>und</strong><br />

Weise, die noch vor zehn Jahren kaum vorstellbar gewesen wäre. Trotz gelegentlicher<br />

Klagen über mangelndes Angebot an guten Manuskripten nimmt<br />

der Umfang der für Soziologen wichtigen Zeitschriften, rechnet man die<br />

zum Teil vorzüglichen Sonderbände mit, eher zu als ab. Daß ein sehr angesehener<br />

deutscher Verlag seine farblich fein abgestimmte Taschenbuchreihe<br />

nicht mehr so großzügig wie bisher für soziologische Manuskripte öffnet,<br />

hat bisher in Quantität <strong>und</strong> Qualität der soziologischen Buchproduktion<br />

keine dramatischen Spuren hinterlassen. Auch das eher karge tägliche Brot<br />

soziologischer Forschung läßt sich, wie das Beispiel des Campus Verlags<br />

zeigt, vermarkten. Und neuerdings scheint sogar das Interesse größerer<br />

Verlage an soziologischen Veröffentlichungen wieder zuzunehmen.<br />

4. Die großen politisch-theoretischen Konflikte <strong>und</strong> Kontroversen, die untrennbar<br />

mit der Entwicklung der Soziologie in den letzten 20 Jahren verb<strong>und</strong>en<br />

sind, haben trotz gegenteiliger Befürchtungen, zu denen es viele Anlässe<br />

gab, das Fach nicht auseinanderbrechen lassen. Wenngleich viele der<br />

großen Auseinandersetzungen nicht wirklich ausgetragen, d.h. bis zu dem<br />

Punkt getrieben worden wären, an dem sich die in ihnen angesammelte<br />

Spannung wissenschaftlich produktiv entladen könnte, hat doch die Soziologie<br />

die für die späten 60er <strong>und</strong> frühen 70er Jahre so charakteristischen<br />

Überlagerungen von innerwissenschaftlichen <strong>und</strong> politisch-ideologischen<br />

Frontstellungen alles in allem weitaus besser verarbeitet, als zu erwarten<br />

war. Zwar kann ich mir immer noch nicht vorstellen, daß, sagen wir einmal,<br />

Offe <strong>und</strong> Tenbruck gemeinsam einen Sammelband herausgeben. Aber<br />

wenn essentielle Interessen des Faches auf dem Spiele stünden, wäre ich mir<br />

ganz sicher, daß Habermas <strong>und</strong> Scheuch ohne Berührungsängste zusammen<br />

aufzutreten bereit wären.<br />

5. Endlich hat sich, auch nachdem die Planungseuphorie vergangen <strong>und</strong> die<br />

kritisch-emanzipatorische Stimmungslage in Politik <strong>und</strong> Verwaltung gänzlich<br />

verschw<strong>und</strong>en ist, sozialwissenschaftliches Wissen in den verschiedensten<br />

Formen als wichtiges Instrument <strong>gesellschaftliche</strong>r Praxis erwiesen.<br />

Sicher sind die Zeiten vorbei, in denen man ein fachfremdes Publikum bereits<br />

durch geschickte Handhabung soziologischer Gr<strong>und</strong>begriffe beein-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


drucken konnte. Doch hat sich die Nutzung sozialwissenschaftlicher Forschungsergebnisse<br />

<strong>und</strong> typisch sozialwissenschaftlicher Argumentationsweisen<br />

inzwischen in vielen Bereichen <strong>gesellschaftliche</strong>r Praxis ganz selbstverständlich<br />

eingebürgert, wenngleich es uns vielfach nicht gelungen ist, dafür<br />

Sorge zu tragen, daß dies dann auch tatsächlich der Soziologie gutgeschrieben<br />

wird.<br />

Vielleicht müßten wir die deutsche Soziologie <strong>und</strong> ihre Lage öfter von<br />

außen betrachten. Vielfach wird ja erst mit fremden Augen als Indikator<br />

kräftiger <strong>und</strong> ges<strong>und</strong>er Konstitution sichtbar, was einem selbst ganz banal<br />

<strong>und</strong> nicht des Aufhebens wert erscheint: ein recht kontinuierlicher Strom<br />

soziologischer Wissensproduktion, der jenseits der unvermeidlichen Red<strong>und</strong>anz<br />

auf einer ganzen Reihe von Teilgebieten Wichtiges <strong>und</strong> Neues zustande<br />

gebracht hat, das trotz der Sprachbarriere zunehmend auch im Ausland<br />

mit großem Interesse zur Kenntnis genommen wird; gute Ansätze zu fachlicher<br />

Professionalisierung, wobei der Verlust an emphatischer Begeisterung,<br />

der wohl einmal den Aufbruch in die Soziologie begleitet hatte, als unverzichtbarer<br />

Preis der Konsolidierung akzeptiert werden muß; eine breite<br />

Ausstrahlung auf benachbarte Fächer, wobei man fälschlicherweise meist<br />

nur die oberflächliche Soziologisierung, die sich in deren Begrifflichkeit<br />

vollzog, im Auge hat, obwohl doch der wirklich wichtige Einfluß der Soziologie<br />

darin bestand oder besteht, bisher primär normativ oder klassifikatorisch<br />

orientierten Wissenschaften zu helfen, sich eine systematische<br />

empirische F<strong>und</strong>ierung zu geben.<br />

II<br />

An sich müßte Soziologie also sehr gut dafür gerüstet sein, die Herausforderungen<br />

aufzunehmen, die mit einiger Wahrscheinlichkeit in Zukunft auf sie<br />

zukommen werden.<br />

Wenn meine eigenen, kürzlich veröffentlichten <strong>und</strong> in vieler Hinsicht<br />

noch durchaus vorläufigen <strong>und</strong> unscharfen Überlegungen zur Entwicklung<br />

industriell-marktwirtschaftlicher Gesellschaften vom Typ der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

in den kommenden zwei oder drei Jahrzehnten auch nur einigermaßen<br />

zutreffend sind, dann werden diese Gesellschaften zunehmend mit<br />

Problemlagen konfrontiert sein, deren Bewältigung einen massiv wachsenden<br />

Bedarf an typisch sozialwissenschaftlichen Leistungen impliziert. Gesellschaften<br />

dieser Art sind meiner Meinung nach in der Tat seit etwa einem<br />

Jahrzehnt in ein Entwicklungsstadium eingetreten, in dem sie einem<br />

wachsenden, vielleicht sogar kumulativen Risiko systemischer Destabilisierung<br />

ausgesetzt sind, dem Risiko von Gleichgewichtsstörungen, die mit<br />

mehr oder minder langen, oftmals sehr langen Zeitverzögerungen von einem<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Teilbereich auf andere übergreifen oder überspringen. Die<br />

heute noch ganz überwiegend bereichsspezifischen Instrumente politischer<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Intervention <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>r Steuerung sind angesichts solcher systemischer<br />

Destabilisierungsprozesse machtlos; ja, sie tragen durch die ihnen<br />

immanenten Praktiken der Problemverlagerung <strong>und</strong> portionierten Problemverarbeitung<br />

vielfach noch dazu bei, sie zu verstärken.<br />

Die steuernde oder präventive Beherrschung solcher systemischer Gleichgewichtsstörungen<br />

wird zweifellos nicht möglich sein, wenn die zentralen<br />

Politikinstanzen nicht auf eine hochentwickelte Kompetenz für die Analyse<br />

komplexer <strong>gesellschaftliche</strong>r Zusammenhänge, Strukturen <strong>und</strong> Prozesse<br />

zurückgreifen können. Dies muß keineswegs bedeuten, daß es zu einer in<br />

vieler Hinsicht höchst fatalen Vermengung von politischer Steuerungs- <strong>und</strong><br />

Gestaltungsverantwortung <strong>und</strong> Wissenschaft kommen müßte. Doch wird<br />

vermutlich gerade ein selbstbewußtes <strong>und</strong> effizientes politisch-administratives<br />

System einen Bedarf an unabhängiger <strong>und</strong> kritischer wissenschaftlicher<br />

Analyse <strong>und</strong> Diagnose haben, der nach Quantität <strong>und</strong> Qualität weit über das<br />

jetzt Bekannte hinausgeht. Zwar ist sicherlich Soziologie nicht das einzige<br />

Fach, das sich zur Deckung dieses Bedarfs anbieten wird. Doch wenn sich<br />

unser Fach auch nur einigermaßen im wissenschaftlichen Wettbewerb zu behaupten<br />

weiß, sollte sich hiermit genuin soziologischer Arbeit ein Betätigungsfeld<br />

eröffnen, das ein auch gegenüber dem heutigen Stand substantiell<br />

angewachsenes Personal tragen könnte.<br />

III<br />

Allerdings gibt es gute Gründe für die Befürchtung, daß die Soziologie diese<br />

Herausforderung nicht adäquat aufzunehmen <strong>und</strong> die von ihr implizierte<br />

Chance höchstens sehr beschränkt zu nutzen verstehen wird.<br />

Diese Befürchtung resultiert in erster Linie aus dem, was man die Sozialstruktur<br />

der Soziologie nennen könnte, <strong>und</strong> aus den in ihr angelegten Problemen,<br />

deren Lösung vermutlich die Zukunft der Soziologie wie der Soziologen<br />

stark bestimmen wird. Da sich dieser Zusammenhang sehr wohl mit<br />

spezifisch soziologischen Kategorien analysieren läßt, bedarf es auch nicht<br />

des Rekurses auf psychologische oder moralische Begriffe, die allzu häufig<br />

in Reflexionen von Soziologen über die eigene Wissenschaft dominieren.<br />

Lassen Sie mich wenigstens in rohen Strichen skizzieren, wie eine solche<br />

soziologische Analyse der Sozialstruktur der Soziologie <strong>und</strong> der in ihr<br />

angelegten Entwicklungsengpässe <strong>und</strong> Probleme aussehen <strong>und</strong> zu welchen<br />

Ergebnissen sie — auf einer empirischen Gr<strong>und</strong>lage, die im Detail überwiegend<br />

noch zu schaffen wäre — führen könnte:<br />

1. Zunächst einmal weist die Soziologie gegenwärtig eine demographische<br />

Struktur auf, die mutatis mutandis mit der Altersstruktur eines extrem armen<br />

Entwicklungslandes vergleichbar ist: einigen Dutzend Geronten, die<br />

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zumeist vor nicht allzu langer Zeit ihren 50sten Geburtstag gefeiert hatten,<br />

stehen einige h<strong>und</strong>ert 40jährige <strong>und</strong> einige tausend 30jährige gegenüber.<br />

Und in den Universitäten drängen sich gegenwärtig, gewissermaßen als Kinder<br />

in wissenschaftlich noch unmündigem Alter, weit über 20.000 Hauptfachstudenten.<br />

Ich glaube nicht, daß es noch eine andere Disziplin mit so extremen<br />

Generationsrelationen gibt, aufgr<strong>und</strong> derer in der Soziologie gegenwärtig<br />

etwa vier- bis fünfmal soviel Studierende wie aktiv Berufstätige gezählt werden<br />

<strong>und</strong> in den nächsten Jahren, kommt es nicht zu einer dramatischen Abkehr<br />

vom Soziologiestudium, auf jeden Pensionierungs- oder Emeritierungsfall<br />

mehrere h<strong>und</strong>ert Studienanfänger treffen werden.<br />

2. Diese Soziologengenerationen befinden sich gegenwärtig in ganz unterschiedlichen<br />

beruflichen Situationen:<br />

Die 50jährigen haben wohl alle auf die eine oder andere Weise reüssiert.<br />

Sie haben die prestigereichsten Lehrstühle des Faches inne <strong>und</strong> konnten<br />

sich noch die meisten Fußnotenprivilegien <strong>und</strong> sonstigen fringe benefits<br />

der alten Ordinarienuniversität sichern.<br />

Die 40jährigen halten ihrerseits den Kernbestand der Positionen besetzt,<br />

auf denen institutionelle Stabilität <strong>und</strong> Kontinuität einer Wissenschaftsdisziplin<br />

beruhen: als Lebenszeitprofessoren an den Hochschulen<br />

oder mit vergleichbaren Stellungen in der Forschung bzw. in den wissenschaftsbezogenen<br />

Teilen der <strong>gesellschaftliche</strong>n Praxis. Ihre berufliche Lage<br />

ist vielleicht nicht immer so günstig wie die der 50jährigen, aber doch, vor<br />

allem als Folge der massiven Expansion soziologischer Lehre zwischen den<br />

späten 60er <strong>und</strong> den späten 70er Jahren, alles in allem sehr komfortabel.<br />

Ganz anders sieht die Lage bei der großen Mehrzahl der 30jährigen aus.<br />

Wenngleich mir hierfür keine umfassenden <strong>und</strong> zuverlässigen Daten vorliegen,<br />

scheint mir doch außer Frage zu stehen, daß allenfalls eine Minderheit<br />

von ihnen eine auskömmliche Beschäftigung mit dauerhafter Perspektive<br />

gef<strong>und</strong>en hat. Befristete Arbeitsverträge, nicht selten mit explizitem Ausschluß<br />

von Weiterbeschäftigung beim gleichen Arbeitgeber, intermittierende<br />

Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> vielfältige Formen von Selbstausbeutung sind die<br />

typischen Merkmale der aktuellen beruflichen Situation dieser Generation.<br />

3. Diese Differenzen sind nicht einfach Ausdruck unterschiedlicher biographischer<br />

Stationen, die von allen Generationen nacheinander durchlaufen<br />

werden müssen. Sie lassen sich auch nicht bloß als eine Extremform<br />

von intergenerationeller Chancenungleichheit interpretieren, die es als solche<br />

immer wieder gegeben hat. In diesen Differenzen schlagen sich vielmehr<br />

auch tiefgreifende Brüche in Karrieremuster <strong>und</strong> Karriereperspektiven<br />

von Soziologen nieder:<br />

Für die Mehrzahl der 50jährigen war die Entscheidung für Soziologie<br />

als Beruf sicherlich keine bequeme <strong>und</strong> selbstverständliche Entscheidung.<br />

Für viele bedeutete sie, Existenzbedingungen zu akzeptieren, wie sie traditionell<br />

mit den Begriffen des Privatgelehrten oder Privatdozenten assoziiert<br />

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werden, wenngleich ihnen fast ausnahmslos das an sich hierzu vorausgesetzte<br />

eigene Vermögen fehlte. Ihr Weg in die Soziologie führte also im Regelfall<br />

über lange Jahre eher niedrigen Einkommens <strong>und</strong> unsicherer Zukunft,<br />

über Zwang zu unvorhersehbarem Ortswechsel <strong>und</strong> oft auch über die Notwendigkeit,<br />

sich mit schwer erträglicher Abhängigkeit von den Launen eines<br />

Patrons zu arrangieren. Und nur am Rande sei, mit Blick auf die Jüngeren,<br />

gesagt, daß sich auf diesem Hintergr<strong>und</strong> ganz gut verstehen läßt, warum<br />

manche der 50jährigen, die ja Ende der 60er Jahre erst kurz zuvor damit<br />

hatten beginnen können, sich auf ihrem ersten Lehrstuhl etwas bequemer<br />

einzurichten, mit solcher Heftigkeit <strong>und</strong> Erbitterung auf die ganz naive Kritik<br />

der damals Jungen, heute 40jährigen, an der Ordinarien-Universität <strong>und</strong><br />

ihren Privilegien reagiert haben.<br />

Ganz anders sieht das typische Karrieremuster der 40jährigen aus. Ihnen<br />

boten sich, sobald sie ihr Studium abgeschlossen hatten, weitreichende<br />

Möglichkeiten wissenschaftlicher oder wissenschaftsbezogener Tätigkeiten.<br />

Insbesondere ko<strong>mb</strong>inierten sich für sie generelle Hochschulexpansion <strong>und</strong><br />

spezieller Aufschwung der Soziologie in einer Weise, die für ein knappes<br />

Jahrzehnt durchaus den Eindruck entstehen lassen konnte, daß schon der<br />

halbwegs erfolgreiche Abschluß eines Soziologie-Studiums nahezu selbstverständlich<br />

auch den Zugang zu herausgehobenen Lebenszeitpositionen im<br />

akademischen Bereich sicherte.<br />

Die 30jährigen mußten hingegen in den letzten Jahren die bittere Erfahrung<br />

machen, daß dieses Karrieremuster, das für die meisten von ihnen<br />

fast evidenter Hintergr<strong>und</strong> ihrer Studien- <strong>und</strong> Berufswahlentscheidung war,<br />

für sie nicht mehr gilt. Dies bedeutet, wie sich nunmehr mit zunehmender<br />

Deutlichkeit herausstellt, nicht einfach eine graduelle Verschlechterung der<br />

Chancen in dem Sinn, daß sich nun wieder die Muster wissenschaftlicher<br />

Biographie durchsetzen würden, denen sich die 50jährigen ja auch hatten<br />

unterwerfen müssen. Von den 30jährigen wissen wir sicher, daß nur wenige<br />

von ihnen überhaupt die Chance haben, irgendwann einmal auf eine Stelle<br />

als C 3- oder C 4-Professor zu gelangen. Möglicherweise wird es für die Mehrheit<br />

von ihnen sogar unmöglich sein, auf Dauer ihren Lebensunterhalt in den<br />

Berufsfeldern zu verdienen, in denen die Mehrzahl der Älteren heute tätig ist.<br />

Und welche beruflichen Karriereperspektiven mit welchen Chancen <strong>und</strong><br />

Risiken sich den heutigen Hauptfachstudierenden der Soziologie einmal bieten<br />

werden, wenn sie — aus gutem Gr<strong>und</strong> immer später <strong>und</strong> immer zögernder<br />

— die Universität verlassen werden, ist im günstigsten Fall ungewiß.<br />

4. Berufliche Lage <strong>und</strong> Karriereperspektiven begründen ihrerseits Interessenorientierungen<br />

von Soziologen, die, so fürchte ich, zunehmend heterogen,<br />

divergent, vielleicht sogar zwischen jeweils größeren Gruppen offen widersprüchlich<br />

werden. Ich möchte dies an einem sehr evidenten <strong>und</strong> für die<br />

nächsten Jahre vermutlich zunehmend aktueller werdenden Sachverhalt illustrieren,<br />

nämlich der Entwicklung der soziologischen Lehre im Hauptfachstudium:<br />

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Das soziologische Establishment der 40- <strong>und</strong> 50jährigen Professoren<br />

muß ein vorrangiges Interesse daran haben, den Lehrbetrieb so zu organisieren,<br />

daß er möglichst störungsfrei funktioniert. Hiervon hängt nicht nur<br />

ab, wie erträglich ihre persönliche Arbeitssituaton ist; nur wenn es ihnen<br />

gelingt, auch in einer Zeit scharfer Mittelrestriktionen <strong>und</strong> tendenziell noch<br />

weiter wachsender Studentenzahlen mit ihren Vorlesungs- <strong>und</strong> Prüfungsverpflichtungen<br />

einigermaßen gut über die R<strong>und</strong>en zu kommen, haben sie<br />

überhaupt noch eine Chance, forschend <strong>und</strong> publizierend einen ernsthaften<br />

Beitrag zur Wissenschaft zu leisten.<br />

Dem steht nun gegenüber, daß die 30jährigen, wenngleich sie vielerorts<br />

als Assistenten oder wissenschaftliche Mitarbeiter die Hauptlast des<br />

Lehrbetriebs zu tragen haben, ihre beruflichen Chancen nicht mehr in der<br />

Lehre <strong>und</strong> den hierbei erworbenen Qualifikationen, sondern ganz anderswo<br />

suchen müssen. Auch wenn viele der 30jährigen individuell noch darauf<br />

setzen mögen, irgendwann noch eine Lebenszeitstellung an einer Hochschule<br />

zu ergattern, hat sich doch ihr kollektives Interesse, das sich meinem Eindruck<br />

nach zunehmend im Berufsverband zu artikulieren versucht, vorrangig<br />

darauf zu richten, die Verwendbarkeit der Soziologenqualifikation außerhalb<br />

der Universität <strong>und</strong> in möglichst vielen Feldern <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Praxis nachhaltig zu erhöhen.<br />

Die sich aus diesem Interesse folgerichtig ergebende Forderung nach<br />

einem Studiengang, der für ein breites Spektrum von Aufgaben in der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Praxis möglichst berufsfertig qualifiziert, ist, wenn überhaupt,<br />

woran ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt meine Zweifel habe, nur<br />

dann erfüllbar, wenn es zu tiefgreifenden Veränderungen im Lehrbetrieb<br />

der meisten deutschen Hochschulen kommt. Und es ist ganz offenk<strong>und</strong>ig, daß<br />

solche Veränderungen, zu deren Bewältigung jetzt <strong>und</strong> in absehbarer Zeit<br />

kaum zusätzliche Ressourcen verfügbar sein werden, schwerlich mit den Interessen<br />

an einem funktionierenden Lehrbetrieb auf einen Nenner gebracht<br />

werden können.<br />

IV<br />

Es ist evident, daß eine solche Sozialstruktur, wie ich sie eben zu skizzieren<br />

versucht habe, die weitere Entwicklung des Faches mit dem hohen Risiko<br />

schwerer Probleme belastet <strong>und</strong> insoweit seine Fähigkeit stark beeinträchtigen<br />

kann, neue Chancen zu nutzen. Drei solche denkbare Probleme möchte<br />

ich hier wenigstens nennen:<br />

1. Zunächst einmal ist zu befürchten, daß sich aus den stark divergierenden<br />

Interessen der jüngeren <strong>und</strong> älteren Soziologen ein offener intergenerationeller<br />

Konflikt entwickelt, der einen Gutteil der Kräfte <strong>und</strong> Ressourcen absorbiert<br />

oder blockiert, die eigentlich dringend für die weitere Entwicklung<br />

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des Faches <strong>und</strong> dafür benötigt würden, die neu auf das Fach zukommenden<br />

Herausforderungen aufzunehmen. Mir scheint die Gefahr dafür, daß sich<br />

Soziologen in den nächsten Jahren mit möglicherweise großem Engagement<br />

in fachinternen Auseinandersetzungen verzetteln <strong>und</strong> damit die im<br />

Interesse der Soziologie <strong>und</strong> der Soziologen eigentlich erstrangigen Aufgaben<br />

vernachlässigen, um so größer, als ja manche der Konfliktgegenstände<br />

<strong>und</strong> Konfliktfronten, die sich heute bereits abzuzeichnen beginnen,<br />

scheinbar durchaus solche langfristigen Entwicklungsperspektiven<br />

berühren, wenn es sich etwa um Fragen der Reform des Soziologiestudiums<br />

oder um Beschäftigungsflexibilisierung im Hochschulbereich handelt.<br />

2. Weiterhin dürften wir — jenseits der unbestreitbaren <strong>und</strong> sehr ernst zu<br />

nehmenden beruflichen Schwierigkeiten, denen sich die 30jährigen heute<br />

<strong>und</strong> in absehbarer Zukunft gegenübersehen — das Problem der langfristigen<br />

personellen Reproduktion des Faches nicht aus den Augen verlieren, die<br />

von der extremen Instabilität der Karrieremuster <strong>und</strong> Karriereperspektiven<br />

von <strong>und</strong> für Soziologen stark bedroht ist.<br />

Wie gut die Produktion eines Studiengangs <strong>und</strong> wie hoch damit auch<br />

die Qualität des Nachwuchses ist, auf den das Fach rechnen kann, hängt,<br />

nach allem, was wir wissen, keineswegs nur von der Qualität des Lehrangebots<br />

ab, sondern auch von den komplizierten Selektions- <strong>und</strong> Motivationsprozessen,<br />

die sich mit Studien- <strong>und</strong> Berufswahlentscheidungen<br />

verbinden. Berufswahl- <strong>und</strong> Arbeitsmarktverhalten ihrerseits werden jedoch<br />

ganz offenbar stark durch die Berufschancen <strong>und</strong> Karrieremuster<br />

gesteuert, die etwa zeitgleich an älteren Berufsangehörigen zu beobachten<br />

sind. Und ein Fach, bei dem kaum Gewißheit darüber besteht, welche<br />

Berufsperspektiven mit dem Studienabschluß verb<strong>und</strong>en sind, läuft immer<br />

Gefahr, bei der Konkurrenz um den wissenschaftlichen Nachwuchs gegenüber<br />

anderen Fächern ins Hintertreffen zu geraten.<br />

Dabei geht es keineswegs allein, ja vielleicht nicht einmal in erster<br />

Linie darum, ob von einem Studiengang besonders gute <strong>und</strong>/oder gesicherte<br />

Arbeitsmarktchancen eröffnet werden; im Grenzfall kann ein Fach vielleicht<br />

sogar gerade deshalb besonders wertvolle, leistungsfähige <strong>und</strong> engagierte<br />

Studenten anziehen, weil seine Wahl stark risikobehaftet ist.<br />

Die eigentliche Gefahr scheint mir vielmehr eine Studentenpopulation<br />

der Soziologie zu sein, die ganz unterschiedliche <strong>und</strong> möglicherweise sogar<br />

noch kurzfristig stark variierende Erwartungen intrinsischer oder<br />

instrumenteller Art an ihr jeweiliges Studium stellt. Eine solche Studentenschaft<br />

wäre gewiß kein besonders günstiges Milieu für die Heranbildung<br />

eines hochqualifizierten <strong>und</strong> motivierten Soziologennachwuchses, wie<br />

immer das Verhältnis zwischen Studentenzahl <strong>und</strong> Reproduktionsbedarf<br />

des Faches im engeren Sinne (<strong>und</strong> die damit vorgegebene Selektionsquote),<br />

aussehen mag.<br />

3. Das weitaus gravierendste Risiko scheint mir allerdings darin zu liegen,<br />

daß unter dem Druck von Problemen der eben skizzierten Art kontinuier-<br />

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liehe <strong>und</strong> systematische Forschung kaum mehr zustande kommt. Soziologie<br />

hat sich ja in der Phase ihrer rapiden Expansion an den Hochschulen vor<br />

allem als ein Lehrfach <strong>und</strong> kaum als ein Forschungsfach etabliert. So<br />

wäre es nicht verw<strong>und</strong>erlich, wenn sich in dem eben genannten Konflikt<br />

zwischen den beiden für sich jeweils hochlegitimen Interessen an einem<br />

funktionierenden Lehrbetrieb einerseits, an einer effizienten Ausbildung<br />

für Praxis außerhalb der Hochschule andererseits, im Alltag der Hochschulinstitute<br />

ein pragmatischer Kompromiß durchsetzt, dem von allen Beteiligen<br />

fast unbemerkt die letzten noch verfügbaren Ressourcen für Forschung<br />

zum Opfer fallen. Die Entwicklung der Psychologie in den letzten<br />

zwei Jahrzehnten, wo unter dem Druck beschäftigungsbezogener Interessen<br />

der jüngeren Psychologen <strong>und</strong> der Studenten an vielen Hochschulen<br />

die Vermittlung praktisch verwertbarer — „klinischer" — Fähigkeiten so<br />

sehr die Oberhand gewann, daß für Forschung kaum mehr Raum noch<br />

Interesse verblieb, sollte von den Soziologen sehr ernst genommen werden,<br />

zumal sie sich unter prinzipiell für Forschung sehr viel günstigeren Bedingungen<br />

vollzog.<br />

Im Unterschied zur Psychologie würde allerdings ein solcher Kompromiß<br />

auf Kosten der Forschung nicht nur die langfristige Zukunft des<br />

Faches <strong>und</strong> seine Fähigkeit in Frage stellen, neue Herausforderungen aufzunehmen;<br />

er würde — vermutlich schon viel früher — auch die beruflichen<br />

Chancen von Soziologen fast überall außerhalb von Hochschule <strong>und</strong> Forschung<br />

massiv verschlechtern. Auch wer der Meinung ist, daß ich die neuen<br />

Problemlagen, mit denen ich die Zukunftsaufgaben der Soziologie wie<br />

ihre zukünftigen Wirkungsmöglichkeiten begründe, stark überzeichnet<br />

habe, wird doch zugestehen müssen, daß der gegenwärtige Wissensbestand<br />

der Soziologie auf sehr vielen Gebieten nicht ausreicht, um eine sozialwissenschaftliche<br />

Praxeologie zu begründen, die im Zuge einer durchstrukturierten<br />

Lehre in professionelle Handlungskompetenz mit effektiven<br />

Arbeitsmarktchancen umgesetzt werden könnte.<br />

V<br />

Zwar wäre vermutlich auch ein wesentlich stärkeres Fach mit der Aufgabe<br />

überfordert, Probleme der eben genannten Art aus eigener Kraft wirklich<br />

befriedigend zu lösen, würde dies doch Ressourcen materieller <strong>und</strong> organisatorischer<br />

Art voraussetzen, die nicht auf der Ebene von einzelnen Fächern,<br />

sondern allenfalls auf der Ebene von Großinstitutionen verfügbar oder<br />

mobilisierbar sind. Andererseits ist die gegenwärtige Lage der Soziologie<br />

gewiß nicht so schlecht, daß sie die heute in Kollegenkreisen weithin um<br />

sich greifende, gelegentlich sogar heroisch stilisierte resignative Untätigkeit<br />

rechtfertigen würde. Ob das Fach — in erster Linie auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

von Forschungsleistungen tendenziell sehr innovativer Art — eine<br />

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Zukunft hat oder sich am Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts in der Abseitsposition<br />

eines eher feuilletonistischen Nebenfachs für Lehramtsbewerber <strong>und</strong><br />

Sozialarbeiter wiederfinden wird, ob sich Soziologie gegen die Konkurrenz<br />

anderer Disziplinen mit klarerem Bewußtsein der Interessen ihres Faches<br />

<strong>und</strong> ihrer Absolventen <strong>und</strong> mit größeren Fähigkeiten zu ihrer Durchsetzung<br />

wird behaupten können oder nicht — dies wird zumindest im Sinne einer<br />

notwendigen (wenngleich nicht hinreichenden) Bedingung von den Soziologen<br />

selbst abhängen.<br />

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DIE GESELLSCHAFTLICHE DYNAMIK ALS THEORETISCHE<br />

HERAUSFORDERUNG<br />

Renate Mayntz<br />

Auf dem letzten Soziologentag war viel von der Krise der modernen Gegenwartsgesellschaft<br />

die Rede, wobei am Ende offenblieb, ob die empf<strong>und</strong>ene<br />

Krise wirklich eine ist. Unbestreitbar ist aber wohl die Existenz einer verbreiteten<br />

Furcht vor krisenhaften Entwicklungen, die möglich scheinen, ob­<br />

1<br />

wohl niemand sie will. Man braucht auch nicht erst die bekannten Schreckgespenste<br />

der ausufernden Massenarbeitslosigkeit, der irreversiblen Umwelt­<br />

2<br />

schädigung, des Zusammenbruchs der Weltwirtschaft oder des Atomkriegs<br />

heraufzubeschwören. Die letzte Dekade hat uns eine Vielzahl weniger apokalyptischer<br />

Entwicklungen beschert, die unerwünscht <strong>und</strong> meist auch unerwartet<br />

waren <strong>und</strong> dazu führten, daß die Planungseuphorie der späten<br />

60er <strong>und</strong> 70er Jahre von einem f<strong>und</strong>amentalen Mißtrauen in unsere Fähigkeit<br />

abgelöst wurde, die Dynamik sozialer, technischer <strong>und</strong> ökonomischer<br />

Entwicklungen zu beherrschen. Die Konjunktur des Themas der Regierbarkeit<br />

bzw. Unregierbarkeit ist ein Indikator für dieses Ohnmachtsgefühl, das<br />

sich paradoxerweise in einer Epoche ausbreitet, in der weltweit in einem nie<br />

vorher dagewesenen Maß versucht wird, die genannten Entwicklungen<br />

steuernd in den Griff zu bekommen.<br />

Als Sozialwissenschaftler betrifft uns dies alles nicht nur vital, sondern<br />

auch im Kern unseres professionellen Selbstverständnisses. Der Politiker wie<br />

jeder, der Entwicklungen handelnd zu beeinflussen sucht, kann sich am Ende<br />

immer damit entschuldigen, daß ihm Macht <strong>und</strong> Mittel fehlten, um eine<br />

bestimmte Wirkung hervorzubringen oder etwas Gefürchtetes zu verhindern.<br />

Vom Sozialwissenschaftler aber wird erwartet, bzw. wir erwarten von<br />

uns selbst, daß wir die <strong>gesellschaftliche</strong> Dynamik, die zu Wertewandel <strong>und</strong><br />

neuen sozialen Bewegungen, zur kontraintuitiven Wirkung mancher staatlichen<br />

Intervention oder auch zu gefürchteten künftigen Ereignissen führt,<br />

wenigstens verstehen. Hier erzeugt jedoch ein summarischer Blick über das,<br />

was unsere Disziplin leistet, ein mindestens a<strong>mb</strong>ivalentes Gefühl. Einerseits<br />

scheint es, daß wir ein außerordentlich hohes Reflexionsniveau erreicht haben.<br />

Die Sozialwissenschaften registrieren viele <strong>gesellschaftliche</strong> Vorgänge<br />

<strong>und</strong> Veränderungen recht sensibel <strong>und</strong> machen sie sofort nach ihrem Auftreten<br />

zum Gegenstand intensiver Analysen; man braucht sich nur einmal<br />

zu vergegenwärtigen, wieviel in den vergangenen Jahren über neue soziale<br />

Bewegungen, Wertewandel, die Auswirkungen moderner Technologien, unkonventionelle<br />

Formen politischer Partizipation <strong>und</strong> andere aktuelle Themen<br />

mehr geschrieben worden ist. Andererseits muß die Tatsache irritieren,<br />

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daß viele Entwicklungen <strong>und</strong> Ereignisse, die wir post factum zumindest zu<br />

unserer eigenen Zufriedenheit erklären können, uns in ihrem Auftreten fast<br />

immer überraschen.<br />

Vordergründig kann man derartige Überraschungserlebnisse mit dem<br />

Hinweis auf prinzipielle Grenzen der Prognostizierbarkeit spezifischer Ereignisse<br />

abtun. Die Geschichte ist, in den Worten von Michel Serres, der<br />

„Ort der zureichenden Ursachen ohne Wirkung, der gewaltigen Wirkungen<br />

aus unbedeutenden Gründen, der starken Folgen aus schwachen Ursachen,<br />

der strikten Effekte aus zufälligen Gründen". Spezifische Entwicklungspfade<br />

erscheinen oft nur retrospektiv als notwendiges Ergebnis der jeweili­<br />

3<br />

gen Umstände. Aber auch, wenn wir im einzelnen nicht vorhersagen können,<br />

sollten wir — sofern es überhaupt sinnvoll ist, nach einer Gesellschafts­<br />

4<br />

theorie (im Unterschied zu einer Theorie sozialen Verhaltens) zu suchen —<br />

doch wenigstens in der Lage sein, die uns überraschenden Entwicklungen als<br />

individuelle Erscheinungsformen eines generelleren Musters zu erkennen.<br />

Auch in dynamischen <strong>und</strong> nicht voll determinierten Systemen sollte in anderen<br />

Worten möglich sein, was von Hajek als pattern prediction bezeichnet<br />

hat. Tatsächlich aber scheinen unsere Analysen nicht nur den realen Entwicklungen<br />

hinterherzuhinken; wir haben aus ihnen auch erstaunlich wenig<br />

5<br />

für ein prinzipielles Verständnis der besonderen Dynamik hochkomplexer<br />

sozialer Systeme gelernt. Dadurch aber erhalten auch zunächst befriedigende<br />

Ad-hoc-Erklärungen überraschender Entwicklungen einen beunruhigenden<br />

Grad an Beliebigkeit: so wie sie sind, leuchten sie ein, aber man fragt<br />

sich, ob es sich wirklich um mehr als prinzipiell austauschbare Deutungen<br />

handelt. Das Eingeständnis jedoch, kein Wissen, sondern nur wechselnde<br />

Situationsdefinitionen zu produzieren, muß zwangsläufig das Vertrauen in<br />

die Erklärungskraft unserer theoretischen Paradigmen zerstören.<br />

Ein derart skeptisches Urteil kann allerdings höchstens die Makro<strong>soziologie</strong><br />

betreffen, <strong>und</strong> auch sie ganz speziell hinsichtlich des Anspruchs, Prozesse<br />

<strong>und</strong> Entwicklungen erklären zu können, die als Ergebnis der Verflechtung<br />

zahlreicher Einzelhandlungen ungeplant auftreten. In der Mikro<strong>soziologie</strong><br />

<strong>und</strong> in den Bindestrich<strong>soziologie</strong>n findet dagegen zweifellos nicht nur<br />

ein Wechsel von theoretischen Ansätzen, sondern auch ein Wachstum empirisch<br />

zunehmend gesicherter Theorien mittlerer Reichweite statt. 6 Aus unserem<br />

Verständnis der Vorgänge in Familie <strong>und</strong> Betrieb, von kommunalen<br />

Machtstrukturen <strong>und</strong> bei politischen Wahlen folgt jedoch nicht ohne weiteres<br />

die Einsicht in die spezifische Dynamik des <strong>gesellschaftliche</strong>n Makrosystems.<br />

Ähnliches gilt für strukturelle Forschungsansätze, die mit aggregierten<br />

Individualdaten arbeiten, wie z.B. die Schichtungsforschung, die<br />

eher ein bestimmtes Resultat <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklung nachzeichnet<br />

als unser Verständnis der Systemdynamik zu erhöhen.<br />

Das Fehlen einer erklärungskräftigen Theorie <strong>gesellschaftliche</strong>r Dynamik<br />

ist nun allerdings kaum die Folge einer leicht vermeidbaren, sozusagen<br />

schuldhaften Ignoranz. Die Leichtigkeit, mit der wir in abstrakten Begriffen<br />

über Gesellschaften, ja über die Weltgesellschaft sprechen können, täuscht<br />

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über die kognitiven Probleme hinweg, die sich uns angesichts eines Gegenstands<br />

stellen, der unsere Möglichkeiten direkter Erfahrung so weit übersteigt,<br />

wie es das Ganze einer modernen Gesellschaft tut. Vielleicht haben<br />

einige von Ihnen den Science-Fiction-Film gesehen, in dem ein mutiger Abwehrspezialist<br />

sich soweit miniaturisieren läßt, daß er mit einer Injektionsnadel<br />

in die Blutbahn eines genialen Wissenschaftlers gebracht werden kann,<br />

der durch eine Thro<strong>mb</strong>ose akut gefährdet ist. Was den Film faszinierend<br />

macht, sind die langen Passagen mit Aufnahmen aus dem Inneren des<br />

menschlichen Körpers, vor allem von Blutgefäßen verschiedenen Durchmessers,<br />

die dem miniaturisierten Agenten wie ein verwirrendes System von Kanälen,<br />

Schleusen <strong>und</strong> Strudeln erscheinen, in dem er sich nur deshalb einigermaßen<br />

orientieren kann, weil er als ausgewachsener Mensch den Bauplan<br />

des Körpers kannte. Wir aber sind, wenn Sie mir diese organizistische Metapher<br />

nachsehen, in der Lage einer ganz normalen Zelle, von der man verlangt,<br />

sich aus dem, was aus ihrer Mikroperspektive an Erfahrung möglich<br />

ist, ein zutreffendes Bild des Körpers als einem funktionierenden Ganzen zu<br />

machen. Gegenstände wie die Familie, Organisationen oder auch das Funktionieren<br />

des Wahlsystems können wir noch direkt erfahren; die Gesellschaft<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik oder der USA können wir uns aber beim besten<br />

Willen nicht mehr konkret vorstellen.<br />

Der Gr<strong>und</strong> für diese kognitiven Schwierigkeiten liegt nicht schon in der<br />

Größe des Gegenstands, sondern im wesentlichen in der enormen Komplexität<br />

seines Aufbaus <strong>und</strong> der damit zusammenhängenden spezifischen Dynamik.<br />

Die modernen Gegenwartsgesellschaften sind gleichzeitig segmentär<br />

differenziert, in mehrfacher Hinsicht geschichtet <strong>und</strong> hochgradig arbeitsteilig,<br />

so daß sie sich als ein System komplex ineinander geschachtelter, einander<br />

überlagernder <strong>und</strong> miteinander verwobener Handlungssysteme präsentieren.<br />

Dabei war es ganz wesentlich die technische Entwicklung, die einerseits<br />

die Arbeitsteilung beschleunigt <strong>und</strong> die Organisationsbildung gefördert<br />

hat, darüber hinaus aber auch unmittelbar neue Verflechtungszusammenhänge<br />

in Gestalt jener extensiven sozio-technischen Systeme erzeugt hat,<br />

die sich auf der Gr<strong>und</strong>lage der modernen Energie-, Verkehrs- <strong>und</strong> Kommunikationstechniken<br />

gebildet haben. Diese Art des strukturellen Aufbaus hat<br />

wichtige Folgen für die interne Dynamik derartiger Gesellschaften. Wie<br />

schon Herbert Spencer wußte, wächst mit dem Maß der funktionellen Differenzierung<br />

die Interdependenz zwischen den Teilen eines Ganzen, ein Prozeß,<br />

bei dem auch die erhöhte Kommunikationsdichte in modernen Gesellschaften<br />

eine wichtige Rolle spielt. Allerdings sind die verschiedenen Teilsysteme<br />

zwar interdependent, gleichzeitig aber oft nur lose miteinander ge­<br />

7<br />

koppelt. In derartigen Systemen haben Einzelereignisse typischerweise vielfache<br />

Folgen <strong>und</strong> vor allem schwer vorhersehbare Fernwirkungen. Die charakteristische<br />

Binnenstruktur der modernen Gesellschaften bedeutet zugleich,<br />

daß es eine große Vielzahl von Akteuren oder Handlungszentren<br />

gibt, von denen viele in erheblichem Maße über Ressourcen <strong>und</strong> technische<br />

Instrumente zur Verfolgung ihrer Ziele verfügen. Was daraus an Wechsel-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Wirkungen entsteht, ist weder spontan abgestimmt noch 'gesetzmäßig' determiniert.<br />

Die Existenz von Handlungsspielräumen für eine große Zahl von<br />

Akteuren erhöht vielmehr trotz aller Abstimmungsbemühungen die Wahrscheinlichkeit,<br />

daß z.B. aus dem Zusammentreffen von absichtsvoller politischer<br />

Intervention mit dem an eigenen Zielen orientierten Handeln von<br />

Organisationen <strong>und</strong> Einzelpersonen etwas resultiert, was von keinem der<br />

Beteiligten beabsichtigt <strong>und</strong> i.d.R. auch nicht vorhergesehen wurde. Die<br />

8<br />

uns oft überraschende <strong>und</strong> politische Steuerungsbemühungen frustrierende<br />

Dynamik moderner Gegenwartsgesellschaften, die anscheinende Indeterminiertheit<br />

mancher <strong>gesellschaftliche</strong>n Vorgänge ist insofern das Ergebnis<br />

ganz bestimmter historischer Entwicklungen — kein Merkmal alles Sozialen<br />

schlechthin, sondern das Spezifikum eines bestimmten Gesellschaftstyps.<br />

Hält man trotz dieser Eigenart unseres Erkenntnisgegenstandes am Ziel<br />

einer empirisch f<strong>und</strong>ierten, erklärungskräftigen Gesellschaftstheorie fest,<br />

die nicht nur etwas über Beschaffenheit <strong>und</strong> Bildung sozialer Ordnungen<br />

oder auch Konfliktstrukturen zu sagen weiß, sondern auch zum Verständnis<br />

dynamischer Vorgänge in komplexen sozialen Systemen führt, dann<br />

muß man fragen, warum die heute vorherrschenden theoretischen Paradigmen<br />

diesem Erkenntnisinteresse offensichtlich nicht genügen.<br />

Angesichts der besonderen Fragestellung, um die es hier geht, könnte<br />

man versucht sein, den zentralen Mangel in einer Vernachlässigung von Prozeßtheorien<br />

im Bereich der heutigen Makro<strong>soziologie</strong> zu suchen. Dagegen<br />

9<br />

spricht allerdings die Konjunktur von Modernisierungstheorien in den 60er<br />

Jahren ebenso wie die neuere Renaissance evolutionstheoretischer Ansätze,<br />

ganz zu schweigen von dem lebhaften Interesse für besondere Veränderungsprozesse<br />

wie den technischen Wandel, die Rationalisierung oder die Entwicklung<br />

einer postindustriellen Gesellschaft. Das Defizit liegt also nicht im<br />

Verkennen von Wandlungsvorgängen, sondern eher in einer unzureichenden<br />

Analyse der Prozeßmechanismen sowie in dem vorherrschenden Interesse<br />

für längerfristige, mehr oder weniger lineare Trends in der Veränderung einzelner<br />

Systemmerkmale. Es ist diese Betrachtungsweise, die uns manche<br />

der eingangs angesprochenen Überraschungen beschert hat. Wie unerwartet<br />

schnell ist z.B. die skeptische Generation abgetreten, hat sich das Ende der<br />

Ideologie in sein Gegenteil verkehrt, sind im Schoß der auf Wissen <strong>und</strong> Information<br />

basierenden postindustriellen Gesellschaft neue Irrationalismen<br />

entstanden. Die Fixierung auf lineare Trends hat dazu geführt, daß uns<br />

Entwicklungen wie die Ausbreitung der informellen Ökonomie, die Entdifferenzierungsphänomene<br />

z.B. im medizinischen Bereich oder auch die<br />

10<br />

Renaissance des Regionalismus in ihrem scheinbar plötzlichen Auftreten<br />

überrascht haben. Nicht, daß es keine Trends z.B. einer wachsenden Differenzierung,<br />

Bürokratisierung oder Verwissenschaftlichung gäbe. Sie sind<br />

aber, wie Norbert Elias am Beispiel der politischen Zentralisierung so schön<br />

gezeigt hat , oft bloß das Ergebnis der zeitweiligen Dominanz einer Tendenz<br />

im Widerspiel gegenläufiger Kräfte <strong>und</strong> neigen schon deshalb zu Brü­<br />

11<br />

chen <strong>und</strong> Umkehrungen.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Die Konzentration auf langfristige Veränderungen führt außerdem zur<br />

Vernachlässigung dessen, was man den prozessualen Mikrobereich nennen<br />

könnte, d.h. die Vielzahl kurzfristiger, sich häufig konterkarierender Abläufe<br />

<strong>und</strong> das, was ihnen an Wirkungsmechanismen zugr<strong>und</strong>eliegt. Gewiß wird<br />

bei der Betrachtung längerfristiger <strong>gesellschaftliche</strong>r Veränderungen oft<br />

nach den zentralen Antriebskräften des Prozesses gefragt, ob man diese nun<br />

im Klassenantagonismus, den evolutionären Prinzipien von Anpassung <strong>und</strong><br />

Auslese oder der immanenten Logik einer kognitiven oder moralisch-praktischen<br />

Entwicklung sieht. Zur Erklärung kurzfristiger dynamischer Vorgänge,<br />

die aus der Summierung <strong>und</strong> Verflechtung zahlreicher Handlungen unter<br />

bestimmten strukturellen Bedingungen hervorgehen, reicht der Hinweis<br />

auf einen zentralen Antriebsfaktor jedoch nicht aus. Sowohl die Fragestellungen<br />

wie die analytische Perspektive vieler Wandlungstheorien sind insofern<br />

wenig geeignet, unser Verständnis für die Systemdynamik der Gegenwartsgesellschaften<br />

entscheidend zu erweitern.<br />

Raymond Boudon, der sich vor einigen Jahren ebenfalls einmal mit dem<br />

Problem der mangelhaften Erklärungskraft der Soziologie beschäftigt hat,<br />

riet damals, es den von ihm für wesentlich erfolgreicher gehaltenen Bevölkerungs-<br />

<strong>und</strong> Wirtschaftswissenschaften nachzutun, die ihren Gegenstand präzise<br />

abgrenzen, sich auf die Erfassung weniger Variablen beschränken <strong>und</strong> die<br />

empirische Forschung auf der Basis einer kleinen Anzahl logischer Paradigmen<br />

organisieren. 12 Die amerikanische Makro<strong>soziologie</strong> geht heute teilweise<br />

diesen Weg, was nicht zufällig mit der Wiederauferstehung des Homo Oeconomicus<br />

etwa in der Public-choice-Theorie oder auch in tauschtheoretischen Ansätzen<br />

verb<strong>und</strong>en ist. 13 Meiner Ansicht nach ist diese Rezeptur jedoch verfehlt<br />

<strong>und</strong> man braucht, um das zu sehen, nicht einmal auf die offensichtliche<br />

Erklärungsschwäche der gängigen ökonomischen Theorien zu verweisen. Niemand<br />

wird bestreiten, daß wir mit unseren beschränkten kognitiven Fähigkeiten<br />

gar nicht anders können, als zu vereinfachen. Dadurch werden aber Reduktion<br />

<strong>und</strong> Selektivität nicht schon zum Königsweg der Erkenntnis. Der<br />

Satz von der notwendigen Eigenkomplexität gilt auch für theoretische Systeme,<br />

mit denen man eine in struktureller <strong>und</strong> dynamischer Hinsicht komplexe<br />

<strong>und</strong> komplizierte Wirklichkeit erfassen will. Angesichts der Eigenart hochentwickelter<br />

Gegenwartsgesellschaften erscheint so jedes reduktionistische Forschungsprogramm,<br />

erscheinen alle Versuche der Beschränkung auf einige wenige<br />

Wirkungsprinzipien oder Strukturaspekte von vornherein als Irrwege. Die<br />

theoretische Herausforderung liegt ganz im Gegenteil darin, die Überlagerung<br />

verschiedener Strukturen <strong>und</strong> die Vielfalt von Abhängigkeitsbeziehungen zu<br />

erfassen <strong>und</strong> die vielen, manchmal isoliert voneinander ablaufenden, dann<br />

wieder sich gegenseitig beeinflussenden Prozesse gleichzeitig zu sehen. Gemessen<br />

an dieser Forderung ist gerade die theoretisch anspruchsvolle Makro<strong>soziologie</strong><br />

zu abstrakt <strong>und</strong> zu selektiv, was ich hier am Beispiel der Systemtheorie<br />

erläutern will — womit nicht gesagt ist, daß makrosoziologische Ansätze<br />

politökonomischer <strong>und</strong> kommunikationstheoretischer Provenienz in<br />

dieser Hinsicht weniger problematisch wären.<br />

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Die Vereinfachung findet zum einen auf der Abbildungsdimension statt.<br />

Niemand wird bestreiten, daß selbst ein vierfach ineinandergeschachteltes<br />

AGIL-Schema noch eine grobe Vereinfachung der Wirklichkeit ist. Nun ist<br />

Abstraktion, d.h. das Denken in Kategorien ohne unmittelbaren Bezug zur<br />

Alltagserfahrung, sicher unabweislich. Ebenso unabweislich für eine erklärungskräftige<br />

Theorie ist aber der Brückenschlag zurück zur Erfahrungsebene.<br />

Das AGIL-Schema, um bei diesem Beispiel zu bleiben, bezieht sich zwar<br />

auf Wirklichkeit, beansprucht aber keine deskriptive Gültigkeit, sondern<br />

dient eher als analytisches Ordnungsschema. Das ist in sich keineswegs zu<br />

kritisieren. Der Erkenntnisprozeß beginnt mit der kategorialen Ordnung<br />

der Welt; begriffliche Ordnungsschemata sind deshalb eigenständige wissenschaftliche<br />

Leistungen von hohem Wert. Das gilt auch für die Identifikation<br />

genereller Prinzipien, ob diese nun Interpenetration, Komplexitätsreduktion,<br />

Differenzierung oder Grenzziehung heißen. Aber wenn nicht einmal<br />

versucht wird, die Ordnungsschemata mit Empirie auszufüllen <strong>und</strong> die behaupteten<br />

Mechanismen <strong>und</strong> Entwicklungstendenzen an der Wirklichkeit<br />

zu überprüfen, dann bleibt die Theoriebildung auf halbem Wege stecken.<br />

Gleichzeitig vermitteln die umfassenden Abstraktionen leicht den falschen<br />

Eindruck, wir hätten die Struktur <strong>und</strong> Dynamik unserer Gesellschaften<br />

schon begriffen. Jeder, der in der bekannten systemtheoretischen Sprache<br />

argumentiert, meint wohl im Zweifelsfall, daß er über Wirklichkeit redet.<br />

Trotzdem können wir auf dieser Abstraktionsebene oft nicht mehr sicher<br />

sein, ob wir nicht nur in den Ästen semantischer Bäume herumturnen <strong>und</strong><br />

als eine Art Scholastiker des 20. Jhdts. die Glöckchen eines begrifflichen<br />

Glasperlenspiels klingen lassen. So kann es kommen, daß wir vielleicht nicht<br />

einmal merken, wie wenig wir z.B. die konkrete Binnenstruktur verschiedener<br />

funktioneller Teilsysteme — vielleicht mit Ausnahme des politischen —<br />

<strong>und</strong> ihre derzeitigen Veränderungstendenzen kennen. Ähnliches gilt für<br />

Prozesse wie die behauptete Verselbständigung von Teilsystemen, die Entwicklung<br />

spezifischer Teilrationalitäten oder auch die gegenläufige Tendenz<br />

der Interpenetration.<br />

Systemtheoretische Ansätze sind aber nicht nur durch das Maß ihrer<br />

Abstraktion von der Wirklichkeit, sondern auch durch eine in inhaltlicher<br />

Hinsicht selektive Perspektive gekennzeichnet. Parsons selbst, der hier eher<br />

in der Nachfolge Durkheims als Webers steht, war bekanntlich vom Problem<br />

sozialer Ordnung fasziniert. Seinem Ansatz ist immer schon kritisch entgegengehalten<br />

worden, daß er es kaum erlaube, Wandlungsprozesse, zumal<br />

solche, die mit Konflikten zu tun haben, adäquat zu behandeln. Daß Gleichgewichtsmodelle<br />

für die Analyse sozialer Prozesse durchaus fruchtbar sein<br />

können, hat Neil Smelser gezeigt. Was dagegen bei Parsons' Ansatz den<br />

15<br />

Zugang zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Dynamik verstellt, ist die selektive Berücksichtigung<br />

normativer Strukturen. Dieser Strukturbegriff betont in erster<br />

Linie den Aspekt des relativ Stabilen statt der Besonderheit von Anordnungsmustern,<br />

<strong>und</strong> was die Beziehungen zwischen den Elementen des Ganzen<br />

betrifft, geraten vor allem normativ geregelte Interaktionen in den Blick.<br />

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Für das Verständnis dynamischer Vorgänge sind jedoch gerade nicht normativ<br />

geregelte Beziehungen <strong>und</strong> vor allem die weit verästelten <strong>und</strong> nicht mit<br />

stabilen Interaktionsbeziehungen zusammenfallenden funktionellen Abhängigkeiten<br />

von ganz besonderer Bedeutung. Eine weitere Folge des auf dem<br />

Wege über die Rollentheorie für einen großen Teil der heutigen Soziologie<br />

bestimmend gewordenen normativen Paradigmas ist die Vernachlässigung<br />

reaktiver Verhaltensprägungen, die ebenfalls für die soziale Dynamik von<br />

ganz besonderer Bedeutung sind.<br />

Die neuere deutsche Systemtheorie folgt Parsons zwar nicht in seiner<br />

selektiven Betonung normativer Strukturen, aber indem sie ihren Kernbegriff<br />

des Handlungssystems als Zusammenhang sinnhaft miteinander verb<strong>und</strong>ener<br />

Handlungen versteht, vernachlässigt auch sie zwangsläufig jene<br />

wichtigen indirekten Abhängigkeitsbeziehungen, die z.B. dazu führen können,<br />

daß als Folge der amerikanischen Gesetzgebung zur Lebensmittelkennzeichnung<br />

über mehrere Schritte hinweg am Ende die Zahl der Badetouristen<br />

in Hawaii zurückgeht. 15 Die Dynamik komplexer sozialer Systeme wird zu<br />

einem guten Teil von aggregativen <strong>und</strong> kumulativen Effekten, von Neben<strong>und</strong><br />

Fernwirkungen menschlichen Handelns bestimmt, die typischerweise<br />

jenseits des individuellen Sinnhorizonts liegen. Ein selektives Interesse für<br />

Sinnzusammenhänge geht an diesen Phänomenen leicht vorbei.<br />

Eine weitere folgenschwere Selektivität des Begriffs des Handlungssystems<br />

liegt darin, daß er von konkreten Personen abstrahiert, die der Systemumwelt<br />

zugerechnet werden (was ähnlich für Parsons' Begriff des "social<br />

System" gilt). Obwohl gerade die soziologische Systemtheorie in all ihren<br />

Varianten immer wieder Anstrengungen gemacht hat, die mikrosoziologische<br />

Analyse sozialen Handelns mit der makrosoziologischen Analyse <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Prozesse zu verbinden, sind diese Versuche weithin bei bloßen<br />

begrifflichen Lösungen stehengeblieben. Handlungstheorie <strong>und</strong> Systemtheorie<br />

können aber nicht schon deshalb als miteinander integriert gelten,<br />

weil auf beiden Ebenen dieselben analytischen Kategorien benutzt werden.<br />

Ebensowenig kann eine Gesellschaftstheorie, in der zwar Handlungen vorkommen,<br />

aber in der nicht zu erklären versucht wird, warum bestimmte<br />

Akteure unter gegebenen Umständen auf eine bestimmte Weise handeln,<br />

jemals die Frage beantworten, warum ganz spezifische Selektionen <strong>und</strong> damit<br />

auch Strukturbildungen stattfinden. So gilt auch für diese Ansätze, was<br />

Karl Martin Bolte kürzlich im Zusammenhang mit einem Plädoyer für eine<br />

stärker subjektorientierte Soziologie gesagt hat: „Obwohl jeder theoretische<br />

Ansatz der Soziologie letztlich irgendwie die Tatsache im Blick hat, daß Gesellschaft<br />

von Menschen 'gemacht' wird <strong>und</strong> daß Menschen in ihrem Denken<br />

<strong>und</strong> Handeln zu einem nicht unerheblichen Teil Produkte von Gesellschaft<br />

sind, lenken bestimmte Theorieansätze ... den Blick des Forschers<br />

aber geradezu von dieser Tatsache fort <strong>und</strong> lassen sie über die Betonung anderer<br />

Aspekte fast in Vergessenheit geraten." 16 Die Integration von Handlungs-<br />

<strong>und</strong> Gesellschaftstheorie ist dabei speziell im Hinblick auf die Erklärung<br />

von Makrophänomenen prekär. Die Wirkung des jeweiligen sozialen<br />

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Kontextes für das Handeln von Individuen, aber auch für Struktur <strong>und</strong> Verhalten<br />

von Organisationen wird viel eher systematisch berücksichtigt als die<br />

umgekehrte Richtung, das Entstehen von Makrophänomenen aus der Verflechtung<br />

<strong>und</strong> Summierung motivierten Handelns.<br />

Das Unbehagen über die mangelnde Erklärungskraft von dominanten<br />

theoretischen Paradigmen speziell für bestimmte dynamische Phänomene<br />

manifestiert sich in jüngster Zeit u.a. in einer Renaissance des Interesses am<br />

Phänomen unbeabsichtigter Handlungsfolgen. Nun sind derartige unbeabsichtigte<br />

Handlungsfolgen sowohl „ein trivialer Alltagstatbestand" als<br />

18<br />

17<br />

auch ein in den Sozialwissenschaften von Anfang an thematisiertes Phänomen,<br />

das, von Popper 1961 zum zentralen Thema sozialwissenschaftlicher<br />

Forschung erhoben, schon von den schottischen Moralphilosophen angesprochen<br />

wurde. Die Renaissance des Themas hat gewiß etwas mit dem<br />

19<br />

Erlebnis mißlungener ökonomischer <strong>und</strong> gesellschaftspolitischer Steuerung<br />

in jüngerer Zeit zu tun. Unbeabsichtigte Handlungsfolgen sind für individuelle<br />

<strong>und</strong> kollektive, private <strong>und</strong> staatliche Akteure in dem Maße ein prak­<br />

20<br />

tisches Problem, wie sie zielorientiert handeln, was heißt, daß dieses praktische<br />

Problem auf <strong>gesellschaftliche</strong>r Ebene mit dem Maß unseres Steuerungsanspruchs<br />

wächst. Daß dies nicht nur ein spezifisch politischer Steuerungsanspruch<br />

sein muß, zeigt symptomatisch das in den USA viel beachtete<br />

Buch des Journalisten Richard Louv, in dem er argumentiert, daß die Amerikaner<br />

als Volk dabei sind, eine Art von Gesellschaft zu schaffen, die sie so<br />

überhaupt nicht wollen. Es ist gerade die hier zum Ausdruck kommende<br />

21<br />

Spannung zwischen kollektiver Verursachung oder <strong>gesellschaftliche</strong>r Eigendynamik<br />

einerseits <strong>und</strong> Steuerungsansprüchen andererseits, die dem Thema<br />

der unbeabsichtigten Handlungsfolgen seine dauerhafte Faszinationskraft<br />

verleiht. Trotzdem ist van den Daele zuzustimmen, wenn er die diesem<br />

22<br />

Thema gewidmeten Beiträge des 20. Soziologentags dahingehend zusammenfaßt,<br />

daß die theoretische Bedeutung des Konzepts unbeabsichtigter<br />

Handlungsfolgen für die Soziologie marginal sei, da die Tatsache des Unbeabsichtigtseins<br />

für das, was da geschieht, von eher nebensächlicher Bedeutung<br />

ist. Die Diskussion unbeabsichtigter Handlungsfolgen ist theoretisch<br />

allerdings insofern durchaus von Interesse, als sie die Aufmerksamkeit auf<br />

das Problem der Transformation individueller Handlungen in kollektive<br />

Phänomene lenkt. Die relevanten Aggregateffekte usw. können jedoch genausogut<br />

auftreten, wenn zweckrational handelnde Individuen ihre Ziele<br />

23<br />

erreichen bzw. wenn überhaupt kein intentionales Handeln stattfindet, sondern<br />

Routineverhalten, Regelbefolgung oder affektive Reaktionen.<br />

Das Konzept der unbeabsichtigten Handlungsfolgen greift als Erklärungsansatz<br />

auch deshalb zu kurz, weil nicht systematisch danach gefragt<br />

wird, aufgr<strong>und</strong> welcher motivationalen <strong>und</strong> strukturellen Bedingungen bestimmte<br />

Arten kollektiver Phänomene entstehen. Hier führen die theoretischen<br />

Ansätze von Norbert Elias, Raymond Boudon <strong>und</strong> Crozier <strong>und</strong> Friedberg<br />

weiter 24 , die unabhängig voneinander entwickelt wurden, aber alle<br />

gleicherweise von der Beobachtung kontraintuitiver oder paradoxer Effekte<br />

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zw. unbeabsichtigter kollektiver Folgen individuellen Handelns angeregt<br />

wurden. Alle genannten Autoren setzen sich ausdrücklich vom normativen<br />

Paradigma ab <strong>und</strong> wollen mit einer gewissen Emphase den menschlichen<br />

Aktor wieder in die soziologische Theorie zurückholen. Gemeinsam ist ihnen<br />

schließlich vor allem, daß sie sich für strukturelle Konfigurationen interessieren,<br />

die sowohl das Handeln selbst wie auch das — typischerweise<br />

unbeabsichtigte — Produkt dieses Handelns prägen.<br />

Am umfassendsten <strong>und</strong> vermutlich auch bekanntesten ist der Ansatz<br />

von Norbert Elias, der einerseits in seiner Zivilisationstheorie zeigt, wie<br />

strukturelle Bedingungen die menschlichen Handlungsorientierungen beeinflussen,<br />

in seiner Schrift „Was ist Soziologie" aber zugleich versucht, systematisch<br />

eine Morphologie von Verflechtungszusammenhängen zu begründen,<br />

die neben einer strukturellen auch eine historisch-dynamische Komponente<br />

haben. Die Art des Verflechtungszusammenhangs prägt dabei nicht<br />

nur das Handeln, sondern wirkt sich zugleich auf das kollektive Handlungsergebnis<br />

aus. Eine der von ihm hierzu formulierten Regeln besagt z.B., daß<br />

je zahlreicher die beteiligten Handelnden <strong>und</strong> je geringer die Machtunterschiede<br />

zwischen ihnen sind, das Ergebnis ihrer Interaktion um so weniger<br />

zur Realisierung der Ziele irgendeines der Handelnden führen wird. 25 Diese<br />

<strong>und</strong> ähnliche Regeln mögen relativ leer erscheinen; Elias' Analyse des Königsmechanismus,<br />

der wesentlich an der Entstehung absolutistischer Territorialstaaten<br />

beteiligt war, zeigt aber, welches Erklärungspotential seinem<br />

Ansatz im Prinzip innewohnt. 26<br />

Ähnliches gelingt Boudon am Beispiel der paradoxen Auswirkungen verbesserter<br />

Bildungschancen auf die soziale Ungleichheit. Boudon unterscheidet<br />

im übrigen systematisch zwischen normativ regulierten <strong>und</strong> durch<br />

27<br />

faktische Abhängigkeit gekennzeichneten Interdependenzsystemen <strong>und</strong><br />

konzentriert sich sodann auf die letzteren. Das ist insofern wichtig, als<br />

28<br />

es sehr häufig Abhängigkeitsbeziehungen genau dieser Art sind, die zu den<br />

uns überraschenden Ergebnissen <strong>gesellschaftliche</strong>r Eigendynamik führen.<br />

Typischerweise spielen dabei — oft vielgliedrige — Handlungsketten eine<br />

Rolle, in denen zwischen den Handlungsergebnissen von A <strong>und</strong> den Handlungsmöglichkeiten<br />

von B Abhängigkeiten bestehen, die als solche gar nicht<br />

beabsichtigt <strong>und</strong> auch nicht sozial normiert sind; derartige Abhängigkeitsbeziehungen<br />

können am Ende als Verstärkung, Bumerangeffekt oder Selffulfilling<br />

prophecy gleichsam zu ihrem Anfangspunkt zurückkehren oder<br />

sich auch, wie Wellenkreise im Wasser, immer weiter davon entfernen.<br />

Während Boudon sich zunächst vor allem für unerwartete Aggregateffekte<br />

<strong>und</strong> weniger für den Einfluß struktureller Konfigurationen auf das Handeln<br />

des Einzelnen interessierte , ist die Akzentuierung bei Crozier <strong>und</strong><br />

29<br />

Friedberg fast umgekehrt. Für sie ist die Handlungssituation sowohl für die<br />

Wahl unmittelbarer Handlungszwecke wie auch für die Wahl von Strategien<br />

entscheidend; sie bietet dem Aktor sozusagen einerseits mögliche Ziele für<br />

sein Handeln an <strong>und</strong> legt ihm andererseits nahe, welche Mittel er einsetzen<br />

kann. Diese handlungstheoretische Perspektive ist deshalb so wichtig, weil<br />

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zur Erklärung kollektiver Phänomene nicht nur Einsicht in Handlungsverflechtungen<br />

<strong>und</strong> -summierungen, sondern auch in die Genese von spezifischen<br />

Handlungsweisen nötig ist. Tatsächlich werden wir nicht nur durch<br />

unerwartete Ergebnisse kollektiven Handelns, sondern oft auch durch dieses<br />

Handeln selbst überrascht, ob es dabei um das Investitionsverhalten von<br />

Firmen, den plötzlichen Vandalismus von Jugendlichen oder den Umschwung<br />

in der Einstellung zur modernen Technik geht. Verführt vom normativen<br />

Paradigma auf der einen <strong>und</strong> der Survey-Forschung auf der anderen<br />

Seite, die Meinungen <strong>und</strong> Handlungsweisen gern mit demographischen <strong>und</strong><br />

sozio-ökonomischen Merkmalen von Individuen korreliert, verstehen wir<br />

oft zu wenig, wie Menschen in einem bestimmten biographischen Kontext<br />

auf spezifische Situationen reagieren bzw. in ihnen agieren. Dabei hat sich<br />

ein auf die Beschaffenheit der Handlungssituation abstellender Erklärungsansatz<br />

hier <strong>und</strong> da schon hervorragend bewährt, so z.B. bei der Erforschung<br />

abweichenden Verhaltens , sozialer Bewegungen oder auch der Informationsnutzung.<br />

Ein adäquates Verständnis sozialer Dynamik verlangt also<br />

32<br />

30 31<br />

nicht nur eine Struktur-<strong>und</strong>-Prozeß-Theorie auf der Makroebene, sondern<br />

auch die systematische Integration der Lebensweltperspektive, allerdings<br />

nicht, wie das Randall Collins will , um Makrophänomene mikrosoziologisch<br />

aufzulösen, sondern ganz im Gegenteil, um sie als ihren Bestimmungs-<br />

3 3<br />

gr<strong>und</strong> zu sehen. Eine solche Forderung mag alte Berührungsängste der Soziologie<br />

gegenüber der Psychologie wachrufen. Wir sollten uns dadurch aber<br />

nicht zur Blindheit gegenüber der Tatsache verleiten lassen, daß es nicht selten<br />

unsere grob vereinfachten anthropologischen Prämissen gewesen sind,<br />

die zu Fehlprognosen <strong>und</strong> Fehlinterpretationen kollektiver Phänomene geführt<br />

haben. Unser Verständnis von Vorgängen wie z.B. dem in der Implementationsforschung<br />

oft beobachteten Auftreten von massiertem Wi­<br />

34<br />

derstand <strong>und</strong> Verweigerung, wo infolge regulierender Interventionen wachsende<br />

Konformität erwartet wurde, wäre etwa bei Berücksichtigung der<br />

psychologischen Reactance-Theorie von vornherein besser gewesen; dasselbe<br />

gilt für die soziologische Erforschung komplexer Entscheidungsprozes-<br />

<strong>35</strong><br />

se <strong>und</strong> die neuere kognitive Psychologie. 36<br />

Ko<strong>mb</strong>iniert man die theoretischen Ansätze von Elias, Boudon <strong>und</strong><br />

Crozier, dann zeichnen sich die Konturen eines analytischen Paradigmas<br />

ab, das sich speziell für die Erklärung dynamischer Vorgänge in hochkomplexen<br />

sozialen Systemen eignet. Dabei geht es im Kern darum, Systemprozesse<br />

nicht nur in ihrer strukturverändernden Wirkung, sondern auch<br />

als Folge bestimmter struktureller Konfigurationen <strong>und</strong> der in ihnen beschlossenen<br />

Abhängigkeitsbeziehungen zu begreifen. Der strukturelle Kontext<br />

beeinflußt dabei einerseits das konkrete Handeln von Individuen, bestimmt<br />

aber gleichzeitig die Aggregateffekte, Nebenwirkungen usw. dieses<br />

Handelns. Es geht also darum, gleichzeitig <strong>und</strong> gleichgewichtig Struktur<br />

<strong>und</strong> Dynamik, Handeln <strong>und</strong> System miteinander zu verknüpfen, <strong>und</strong><br />

37<br />

zwar dergestalt, daß die dynamischen Konsequenzen von Strukturen<br />

über das Handeln von Individuen, die Rückwirkung dynamischer Vor-<br />

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gänge auf Strukturen über die Systemeffekte individuellen Handelns erfolgen:<br />

System<br />

Um den skizzierten Ansatz gesellschaftstheoretisch fruchtbar zu machen,<br />

ist es notwendig, ihn sowohl in systematischer Hinsicht weiterzuentwickeln,<br />

wie auch zugleich bezogen auf moderne Gegenwartsgesellschaften zu konkretisieren.<br />

Es gibt auch bereits eine ganze Reihe von Einzelarbeiten <strong>und</strong><br />

38<br />

Forschungsrichtungen, die als Bausteine einer empirisch f<strong>und</strong>ierten Theorie<br />

sozialer Dynamik dienen können. Am ehesten überzeugen dabei vermutlich<br />

historisch gesättigte Monographien, die — im Gegensatz zu den meisten eher<br />

formalen analytischen Ansätzen — jenes Maß an Komplexität erreichen, das<br />

nötig ist, um den Eindruck von Wirklichkeitsnähe zu vermitteln. Ein gutes<br />

Beispiel solcher Monographien ist die neueste Arbeit von Burkart Lutz,<br />

der die Ursachen verschiedener ökonomischer Wachstumsschübe in den<br />

westlichen Industriegesellschaften untersucht hat. Gute empirische Beispiele<br />

speziell für das Wechselspiel zwischen Steuerungsversuchen <strong>und</strong> Ei­<br />

39<br />

gendynamik liefert die Implementationsforschung, wenn sie die Reaktivität<br />

politischer Handlungsfelder aufzeigt, die durch die Veränderung der Handlungssituation<br />

von Gesetzesadressaten <strong>und</strong> Vollzugsträgern entsteht. Reiches<br />

Material bieten auch Untersuchungen über die „Entwicklungsdilem­<br />

40<br />

mas" des Wohlfahrtsstaates sowie die Analysen von komplexen Entscheidungsprozessen,<br />

in denen zwischen dem auslösenden Entscheidungsproblem<br />

41<br />

<strong>und</strong> dem schließlichen Entscheidungsergebnis nur noch eine lockere Beziehung<br />

besteht. Gerade derartigen empirischen Studien fehlt jedoch<br />

42<br />

leicht das generalisierende Element, so daß sie mehr zu unserem Verständnis<br />

einzelner konkreter Abläufe als zur Entwicklung einer über sie hinausgehenden<br />

Theorie beitragen. Was deshalb notwendig erscheint, ist der bewußte<br />

Versuch eines Brückenschlags zwischen historisch gesättigten empirischen<br />

Studien einerseits <strong>und</strong> einer systematischen Weiter<strong>entwicklung</strong> des skizzierten<br />

Paradigmas andererseits. Auch hierzu gibt es bei näherem Zusehen eine<br />

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ganze Reihe von Anknüpfungspunkten in den analytischen Kategorien <strong>und</strong><br />

Fragestellungen bestimmter neuerer Forschungsrichtungen.<br />

Zur Fortführung von Elias' Versuch einer systematischen Analyse der<br />

Struktur von Verflechtungszusammenhängen läßt sich etwa auf den organisationssoziologischen<br />

Ansatz interorganisatorischer Netzwerke (ION) wie<br />

auch auf andere Formen der Netzwerkanalyse sowie auf die mit durchaus<br />

ähnlichen Konzepten operierenden Arbeiten zur Politikverflechtung <strong>und</strong><br />

zum Neokorporatismus zurückgreifen. So unterschiedlich das anstoßgebende<br />

Erkenntnisinteresse der genannten Forschungsrichtungen ursprünglich<br />

auch gewesen sein mag, so bewußt ist man sich inzwischen der über das<br />

Netzwerkkonzept vermittelten Berührungspunkte geworden. Den Arbeiten<br />

in den genannten Gebieten ist gemeinsam, daß sie sowohl empirisch wie<br />

43<br />

auch auf Generalisierung bedacht sind. Sie beschränken sich auch nicht etwa<br />

auf morphologische Überlegungen, sondern interessieren sich speziell<br />

für die dynamischen Konsequenzen bestimmter struktureller Konfigurationen.<br />

So wird z.B. zu zeigen versucht, wie neokorporatistische Entscheidungsstrukturen<br />

sich auf die wirtschaftliche Entwicklung auswirken oder<br />

44<br />

wie der Netzwerkcharakter der am Vollzug eines Gesetzes beteiligten Implementationsinstanzen<br />

den Ablauf <strong>und</strong> Erfolg von Koordinations- <strong>und</strong><br />

Steuerungsversuchen, aber auch von kooperativen Handlungsergebnissen<br />

beeinflußt. Wichtig ist, daß in derartigen Untersuchungen nicht nur gefragt<br />

wird, wie bestimmte strukturelle Konfigurationen kollektive Hand­<br />

45<br />

lungsergebnisse beeinflussen, sondern auch, wie die Netzwerkposition der<br />

einzelnen Akteure (zu der natürlich ihre Abhängigkeit von anderen Akteuren<br />

gehört) ihre Handlungsstrategien prägt. Vom Ansatz her werden diese<br />

Forschungsrichtungen damit der zuvor skizzierten doppelten Fragestellung<br />

gerecht.<br />

Allerdings sind nicht nur die einschlägigen Forschungsergebnisse noch<br />

lückenhaft. Auch die Ansätze selbst greifen bei der Analyse von realen Verflechtungszusammenhängen<br />

insofern noch zu kurz, als es sich bei den untersuchten<br />

Netzwerkbeziehungen i.d.R. um — vorgeschriebene oder faktische<br />

— Interaktionsbeziehungen oder über Personalunion vermittelte Verknüpfungen<br />

handelt; die so wichtigen indirekten Abhängigkeitsbeziehungen<br />

bleiben dabei meist ausgespart. Genau diese Abhängigkeitsbeziehungen<br />

müssen jedoch einbezogen werden, wenn wir verstehen wollen, wie sich in<br />

den modernen Gegenwartsgesellschaften die Abhängigkeitsmuster verändert<br />

haben — man denke in diesem Zusammenhang nur einmal an die schon<br />

erwähnten, umfassenden sozio-technischen Systeme, die teilweise zu einer<br />

Zentralisierung der Abhängigkeitsbeziehungen bei gleichzeitigem Verlust<br />

eingebauter Pufferzonen oder Red<strong>und</strong>anzen <strong>und</strong> damit zu einer ganz bestimmten<br />

Art von Verw<strong>und</strong>barkeit bestimmter Funktionsbereiche geführt<br />

haben, die u.a. für das Auftreten gewisser Arten von Katastrophen entscheidend<br />

sind. 46<br />

Auch in anderer Hinsicht ist der Ansatz interorganisatorischer Netzwerke<br />

erweiterungsbedürftig. So werden die untersuchten Netze gewöhnlich<br />

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um einen zentralen Prozeß oder Zweck herum konstruiert, der als Abgrenzungskriterium<br />

dient. Es wäre aber wichtig, Verflechtungszusammenhänge<br />

als Netzwerk aus Netzwerken zu sehen, als Ergebnis der Überlagerung verschiedener<br />

Handlungssysteme. Schließlich bestehen die analysierten Netzwerke<br />

i.d.R. auch nur aus formalen Organisationen, während die nicht or­<br />

47<br />

ganisierten Bestandteile realer Verflechtungszusammenhänge, die Wechselbeziehungen<br />

der Organisationen mit dem je eigenen Publikum aus Haushalten<br />

<strong>und</strong> Einzelpersonen fehlen.<br />

Wenn der Netzwerkansatz entsprechend erweitert würde, ließe er sich<br />

auch für die vergleichende empirische Analyse der Binnenstruktur verschiedener<br />

funktioneller Teilsysteme <strong>und</strong> ihres Wandels verwenden. Da die in sozialen<br />

Netzwerken ablaufenden Interaktionen die ganz konkreten Wechselwirkungsprozesse<br />

nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen verschiedenen<br />

funktionellen Teilsystemen der Gesellschaft darstellen, ist der Ansatz<br />

schließlich auch geeignet, das systemtheoretische Gesellschaftsmodell empirisch<br />

zu konkretisieren. Die Analyse der Struktur einzelner Politiksektoren<br />

(policy sectors) ist ein Schritt auf diesem Wege. Dabei läßt sich dann<br />

48<br />

auch die Rolle von Vermittlungsinstanzen berücksichtigen, die an der Grenze<br />

zwischen mehreren Teilsystemen angesiedelt sind <strong>und</strong> die in jüngster Zeit<br />

auch außerhalb des Kreises der Neokorporatismusforscher Aufmerksamkeit<br />

gef<strong>und</strong>en haben. 49<br />

•Die Analyse verzweigter <strong>und</strong> mehrgliedriger Abhängigkeitsbeziehungen,<br />

die zu nicht ohne weiteres vorhersehbaren Neben- <strong>und</strong> Fernwirkungen einzelner<br />

Ereignisse führen, haben sich andere Forschungsrichtungen zum Thema<br />

gewählt, für die hier die Technologiefolgenabschätzung (TA) stehen<br />

kann. Wenn auch in vielen der auf praktische Politikberatung abzielenden<br />

TA-Studien die Bewertung <strong>und</strong> gegenseitige Aufrechnung positiver <strong>und</strong> negativer<br />

Technikfolgen im Zentrum der Aufmerksamkeit steht, geht es doch<br />

prinzipiell um Versuche der Rekonstruktion oder auch Antizipation jener<br />

Kausalketten, die die Ausbreitung <strong>und</strong> die Folgen der Nutzung einer neuen<br />

Technik bestimmen. Das zuvor skizzierte Paradigma paßt auf diese Prozesse<br />

insofern besonders gut, als die interessierenden Technikfolgen Aggre­<br />

50<br />

gateffekte <strong>und</strong> mittelbare Wirkungen des motivierten Handelns von Produzenten<br />

<strong>und</strong> Anwendern sind, die mit ihrem Tun auf die Gegebenheiten der<br />

eigenen Handlungssituation reagieren. Die <strong>gesellschaftliche</strong>n Folgewirkungen<br />

ihres Handelns sind von diesen Motiven entkoppelt <strong>und</strong> werden weitgehend<br />

von anderen, den Nutzungsmodus prägenden Kontextfaktoren bestimmt.<br />

Allerdings schenken die meisten TA-Studien dem strukturellen<br />

Substrat <strong>und</strong> dem Prozeßcharakter der von ihnen untersuchten Auswirkungen<br />

keine besondere Aufmerksamkeit. Die Prozesse hängen, sozialwissenschaftlich<br />

gesprochen, in der Luft, wodurch Abschätzungen des Auftretens<br />

oder Ausbleibens bestimmter, bereits vorher als abhängige Variable definierter<br />

Folgewirkungen dem Leser auch leicht als unzureichend begründet, ja<br />

als Resultat der Methode „II x Daumen" erscheinen. Es käme also darauf<br />

an, das Nachzeichnen vielgliedriger Wirkungsketten systematisch mit einer<br />

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Analyse der sozialen Strukturen, der Netzwerke aus organisierten <strong>und</strong><br />

nicht-organisierten Akteuren zu verbinden, deren Handeln dabei eine Rolle<br />

spielt. Entsprechende Brückenschläge werden neuerdings bereits versucht,<br />

so etwa in LaPortes Konzept von Technik als sozialer Organisation. 51<br />

Was in sozialen Systemen geschieht, ist natürlich nicht nur eine komplexe<br />

Aufsummierung bloßer Anpassungsreaktionen, wie sie bei TA-Studien im<br />

Vordergr<strong>und</strong> stehen. Erlebte Abhängigkeiten, erduldete Schädigungen<br />

durch das Tun von Akteuren, mit denen man noch nicht einmal in direkter<br />

Beziehung steht, lösen Gegenwehr aus <strong>und</strong> Versuche, die betreffenden Abhängigkeitsbeziehungen<br />

umzugestalten. Staatliche Steuerungsbemühungen,<br />

aber auch das Entstehen formaler Organisationen <strong>und</strong> ihre Verknüpfung<br />

zu interorganisatorischen Netzwerken mit geregelten Interaktionsbeziehungen<br />

oder die Entwicklung neokorporatistischer Entscheidungsstrukturen<br />

sind allesamt das Ergebnis derartiger Handlungsstrategien. Es erübrigt sich<br />

52<br />

fast zu betonen, daß die neu geschaffenen Strukturen die Handlungssituation<br />

der Akteure in einer oft kaum vorausgesehenen Art verändern <strong>und</strong> so<br />

am Ende z.B. neben oder sogar anstatt der erstrebten Handlungskoordination<br />

eine gegenseitige Blockierung bewirken.<br />

Negative Externalitäten oder Fernwirkungen als Folge indirekter Abhängigkeitsbeziehungen<br />

wie auch Aggregateffekte, die durch die schlichte<br />

Aufsummierung paralleler Einzelhandlungen entstehen, sind nur zwei —<br />

<strong>und</strong> zudem eher simple — Varianten, dynamischer Effekte. Theoretisch<br />

interessanter sind die von ThQmas Schelling so genannten interaktiven Effekte,<br />

die durch unbeabsichtigte wechselseitige Beeinflussung Zustandekommen<br />

bzw. die von Boudon analysierten Kompositionseffekte. Diesem<br />

53<br />

zentralen Teil des skizzierten Paradigmas ist bisher in den Sozialwissenschaften<br />

noch relativ wenig Aufmerksamkeit geschenkt worden, was wesentlich<br />

mit der Konzentration auf Interaktionsbeziehungen zusammenhängt.<br />

Selbst Boudon hat nicht versucht, die verschiedenen Typen der<br />

54<br />

von ihm analysierten Kompositionseffekte systematisch mit der Struktur<br />

von Verflechtungszusammenhängen zu verknüpfen <strong>und</strong> die Prozeßmechanismen<br />

zu identifizieren, die dabei eine Rolle spielen. Dabei gibt es viele<br />

vorzügliche, vor allem auch empirische Analysen sozialer Prozesse, in denen<br />

derartige Mechanismen dargestellt werden. In der Literatur über soziale Bewegungen<br />

findet sich z.B. reichhaltiges Material über Eskalationsmechanismen<br />

im Rahmen von Konfliktprozessen, die aus antagonistischen Strukturen<br />

erwachsen. Von anderer Art sind die Mechanismen <strong>und</strong> strukturellen<br />

55<br />

Ausgangsbedingungen kumulativer Prozesse, bei denen bestimmte Sättigungseffekte<br />

oder das Überschreiten von Schwellenwerten eine Rolle spielen.<br />

Den eher im Mikrobereich liegenden Beispielen, die Schelling hier zur<br />

Illustration benutzt — Veränderung räumlicher Verteilungsmuster <strong>und</strong><br />

56<br />

Besuchsfrequenzen von Veranstaltungen — könnte man auf <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Ebene die von Offe analysierten Mechanismen an die Seite stellen, die<br />

dazu führen, daß Recht <strong>und</strong> Geld als Steuerungsmittel infolge kumulierender<br />

negativer Nebenwirkungen an Wirksamkeit verlieren. Von großer Be-<br />

57<br />

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deutung sind auch strukturelle Spannungen, die sich aus der Gleichzeitigkeit<br />

von Bedürfnissen oder Handlungszielen ergeben, deren Maximierung<br />

sich gegenseitig ausschließt, so wie das bei Zentralisierung <strong>und</strong> Dezentralisierung,<br />

Koordination <strong>und</strong> Autonomie oder Flexibilität <strong>und</strong> Dauerhaftigkeit<br />

ist. Derartige strukturelle A<strong>mb</strong>ivalenzen können entweder zu einem<br />

Nebeneinander von Trend <strong>und</strong> Gegenbewegung oder auch zu Oszillationen<br />

führen; Norbert Elias' bereits erwähnte Analyse des Wechselspiels von Zentralisierung<br />

<strong>und</strong> Dezentralisierung im Prozeß der Staatenbildung ist eines<br />

von vielen möglichen Beispielen. Analytisch besonders anspruchsvoll sind<br />

schließlich bestimmte Arten von Ko<strong>mb</strong>inationseffekten, die sich entweder<br />

aus dem zufälligen (d.h. möglichen, aber nicht notwendigen, keiner Regel<br />

folgenden) Zusammentreffen verschiedener Umstände in einer Situation<br />

oder aus der wechselseitigen Beeinflussung mehrerer gleichzeitiger, aber im<br />

wesentlichen getrennt nebeneinanderlaufender Prozesse ergeben. Für den<br />

ersten Typ können Katastrophen 58 , für den zweiten der von Max Weber<br />

analysierte abendländische Rationalisierungsprozeß, aber auch die von<br />

Burkart Lutz untersuchten Wachstumsschübe, die jeweils auf ganz besonderen<br />

Faktorenkonstellationen beruhen, als Beispiele dienen. 59<br />

Gerade die zuletzt genannten Ko<strong>mb</strong>inationseffekte erinnern nachdrücklich<br />

an den kontingenten Charakter eigendynamischer, also nicht geplanter<br />

sozialer Abläufe. Unfälle <strong>und</strong> Katastrophen, aber auch Entdeckungen <strong>und</strong><br />

Erfindungen, Revolutionen <strong>und</strong> Kriege werden durch die jeweiligen Umstände<br />

ermöglicht, vielleicht sogar nahegelegt, aber wann, ja sogar ob sie<br />

stattfinden, ist nicht determiniert. Je eher dabei -ein bestimmtes Ereignis<br />

erwartbar ist <strong>und</strong> je deutlicher es entweder wiederholte, nicht darauf abzielende<br />

Handlungen oder einzelne, das Ereignis bewußt anstrebende Handlungen<br />

voraussetzt, um so eher läßt sich ihr Eintreten verhindern. Erkennbar<br />

zu irreversiblen Umweltschädigungen führendes Verhalten läßt sich, wenn<br />

diese Folge nicht zu plötzlich auftritt, unterbinden, revolutionäre Situationen<br />

können entschärft <strong>und</strong> Eskalationen gestoppt werden. Gesellschaftliche<br />

Entwicklung ist das Resultat des ständigen Wechselspiels von Eigendynamik<br />

<strong>und</strong> Steuerungsversuchen. Ob wir diese Entwicklung besser zu beherrschen<br />

lernen, hängt nicht nur von guten Absichten, sondern auch von<br />

rechtzeitigen Einsichten ab. Die Theorie sozialer Dynamik, die dieses leisten<br />

könnte, liegt noch nicht ausformuliert vor, aber es gibt einen Weg, der<br />

dahin führt, <strong>und</strong> viele von uns sind auf ihm bereits unterwegs. Die Soziologie<br />

hat die theoretische Herausforderung erkannt <strong>und</strong> aufgenommen.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Peter Berger, „Die Krise, sofern es sie gibt Soziale Welt, Jg. 34/1983, S. 228-251.<br />

2 Hans Jonas bringt diese Gr<strong>und</strong>stimmung gut zum Ausdruck, wenn er von einer<br />

„apokalyptischen Situation" spricht; vgl. seinen Aufsatz "Responsibility Today.<br />

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The Ethics of an Endangered Future", Social Research, 43/1976, S. 77-97, insbes.<br />

S. 82.<br />

3 Michel Serres, Der Parasit, Frankfurt/M. 1984 (1981), S. 38.<br />

4 Vgl. Baruch Fischhoff, "For those condemned to study the past: Heuristics and<br />

biases in hindsight", in: D. Kahnemann, P. Slovic, A. Tversky, Judgment <strong>und</strong>er<br />

uncertainty: Heuristics and biases, Ca<strong>mb</strong>ridge Mass. 1982, S. 341-349.<br />

5 F. v. Hajek, Die Theorie komplexer Phänomene, Tübingen 1972.<br />

6 Vgl. speziell hierzu auch die Beispiele des Theoriewachstums bei David G. Wagner<br />

<strong>und</strong> Joseph Berger, Do Sociological Theories Grow?, Bericht des Laboratory for<br />

Social Research, Stanford University, Septe<strong>mb</strong>er 1983.<br />

7 Henry Mintzberg zitiert in diesem Zusammenhang ausführlich Anthony Jay, der die<br />

Tatsache, daß das Römische Reich so groß werden konnte <strong>und</strong> so lange überlebte,<br />

unmittelbar mit den damaligen — wenig entwickelten — Verkehrs- <strong>und</strong> Kommunikationsmöglichkeiten<br />

in Zusammenhang bringt, die eine größere Selbständigkeit der<br />

einzelnen Reichsgebiete erlaubten <strong>und</strong> erforderten; vgl. H. Mintzberg, The Structuring<br />

of Organizations, Englewood Cliffs N.J. 1979, S. 420.<br />

8 Vgl. hierzu auch Norbert Elias, Was ist Soziologie?, <strong>München</strong> 1981, S. 74: „Die zunehmende<br />

Undurchschaubarkeit, die wachsende Komplexität der Verflechtungen,<br />

die offensichtlich verringerte Möglichkeit irgendeines einzelnen, selbst des nominell<br />

mächtigsten Menschen, für sich allein <strong>und</strong> unabhängig von anderen Entscheidungen<br />

zu treffen, das ständige Hervorgehen von Entscheidungen im Zuge von mehr<br />

oder weniger regulierten Machtproben <strong>und</strong> Machtkämpfen vieler Menschen <strong>und</strong><br />

Gruppen, alle diese Erfahrungen bringen es Menschen stärker zum Bewußtsein, daß<br />

es anderer, unpersönlicherer Denkmittel bedarf, um diese wenig transparenten <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Zusammenhänge zu begreifen oder gar zu kontrollieren."<br />

9 Das meint etwa Martin Broicher: Zu den Begriffen „Sozialer Prozeß" <strong>und</strong> „Eigendynamik"<br />

in: Birgitta Nedelmann (Hg), Eigendynamische soziale Prozesse, vervielfältigtes<br />

Manuskript, Freiburg 1982, S. 74-92.<br />

10 Heinrich Bollinger, Joachim Hohl, „Auf dem Weg von der Profession zum Beruf.<br />

Zur Deprofessionalisierung des Ärzte-Standes", in: Soziale Welt 4/1981, S. 440-<br />

464.<br />

11 Norbert Elias, Über den Prozeß der Zivilisation, Bd. 2, Wandlungen der Gesellschaft,<br />

Frankfurt/M., 1976.<br />

12 Raymond Boudon, Widersprüche sozialen Handelns, Darmstadt/Neuwied 1979,<br />

S. 31.<br />

13 Stellvertretend für viele können hier das Buch von Mancur Olson, The Rise and<br />

Decline of Nations: Economic Growth, Stagflation, and Social Rigidities, New<br />

Haven Conn. 1982, <strong>und</strong> die Studie von John Chubb, Enterest Arups and Ahe<br />

Bureaucracy. The Kolitis Bf Energy, Stanford CA 1982, stehen.<br />

14 Neil J. Smelser, "Toward a General Theory of Social Change", in: ders., Essays<br />

in Sociological Explanation, Englewood Cliffs N.J. 1968.<br />

15 Dieses Beispiel findet sich bei Maurice N. Richter, Technology and Social Complexity,<br />

Albany 1982, S. 91.<br />

16 Karl-Martin Bolte, Erhard Treutner (Hg), Subjektorientierte Arbeits- <strong>und</strong> Berufs<strong>soziologie</strong>,<br />

Frankfurt/M. 1980, S. 15.<br />

17 Vgl. die Beiträge in: Lebenswelt <strong>und</strong> soziale Probleme. Verhandlungen des 20.<br />

Deutschen Soziologentags zu Bremen 1980, hg. von J. Matthes, Frankfurt/M.<br />

1981.<br />

18 Wolfgang van den Daele, „'Unbeabsichtigte Folgen' sozialen Handelns — Anmerkungen<br />

zur Karriere des Themas", in: Matthes 1981 [Anm. 17], S. 237.<br />

19 Reinhard Wippler, „Erklärungen unbeabsichtigter Handlungsfolgen: Ziel oder Meilenstein<br />

soziologischer Theoriebildung", in: Matthes 1981 [Anm. 17], S. 246-261.<br />

20 So auch Wolfgang Zapf, „Zur Theorie u. Messung von 'side effects'", in: Matthes<br />

1981 [Anm. 17], S. 275.<br />

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21 Richard Louv, America II, J.P. Tarcher Verlag Los Angeles 1983.<br />

22 Wolfgang van den Daele, [Anm. 18], S. 238.<br />

23 So argumentiert auch Reinhard Wippler in seinem Beitrag, [Anm. 19], S. 246-261.<br />

24 Norbert Elias, Was ist Soziologie?, [Anm. 8]; ders., Über den Prozeß der Zivilisation,<br />

[Anm. 11]; Raymond Boudon, La Logique du Social, Paris 1979; Michel<br />

Crozier, E. Friedberg, L'Acteur et le Systeme, Paris 1977.<br />

25 In der Formulierung von Reinhard Wippler, „Nicht-intendierte soziale Folgen individueller<br />

Handlungen", Soziale Welt, Jg. 29/1978, S. 160.<br />

26 Norbert Elias, Uber den Prozeß der Zivilisation, [Anm. Ii].<br />

27 Raymond Boudon, [Anm. 12], Kap. 5, S. 108-143.<br />

28 Ähnliche Unterscheidungen findet man auch sonst gelegentlich in der Literatur; vgl.<br />

den abschließenden Beitrag von Fritz W. Scharpf in dem von Kenneth Hanf <strong>und</strong><br />

ihm herausgegebenen Band Inter-Organizational Policy-Making. Limits to Coordination<br />

and Central Control, London/Beverly Hills 1978, vor allem S. <strong>35</strong>1, oder<br />

auch Jeffrey Pfeffer, Gerald R. Salancik, The External Control of Organizations,<br />

New York usw. 1978, S. 41, die zwischen Outcome interdependence and Behaviour<br />

interdependence unterscheiden.<br />

29 Das gilt nicht mehr für Raymond Boudons neuestes Buch: La place du de'sordre,<br />

Paris 1984, das hier nicht mehr berücksichtigt werden konnte.<br />

30 Abweichendes Verhalten wird hierbei als von situativen Gelegenheiten mitbestimmt<br />

gesehen; vgl. Richard A. Cloward, „Illegitime Mittel, Anomie <strong>und</strong> abweichendes<br />

Verhalten", in: Fritz Sack, Rene König (Hg.), Kriminal<strong>soziologie</strong>, Frankfurt/M., S.<br />

314-338.<br />

31 Sehr deutlich wird diese Perspektive bei Frances F. Piven <strong>und</strong> Richard A. Cloward,<br />

Poor People's Movements, New York 1979.<br />

32 Brenda Dervin, "Communication Gaps and Inequities. Moving Toward a Reconceptualization",<br />

in: dies, <strong>und</strong> Melvin J. Voigt (Hg), Progress in Communication<br />

Sciences, Bd. 2, Norwood N.J. 1980, Kap. 3.<br />

33 Randall Collins, "On the Microfo<strong>und</strong>ations of Macrosociology", AJS 86/1981, S.<br />

984-1014.<br />

34 In der Mikro<strong>soziologie</strong>, speziell in der Sozialisationsforschung, werden die psychologischen<br />

Voraussetzungen sozialer Vorgänge verständlicherweise sehr viel eher systematisch<br />

berücksichtigt.<br />

<strong>35</strong> Vgl. D. Dickenberger, G. Gniech, "The Theory of Psychological Reactance", in:<br />

Martin Irle (ed), Studies in Decision Making, Berlin/New York 1982, S. 311-341.<br />

36 Diese Forschungsrichtung wird etwa repräsentiert durch den Band von John S.<br />

Carroll, John W. Payne, Cognition and Social Behaviour, New York usw. 1976 <strong>und</strong><br />

durch neuere Arbeiten über die "judgmental heuristics", die in dem Sammelband<br />

von D. Kahnemann u.a., [Anm. 4] dargestellt werden.<br />

37 In seinem neuesten Buch faßt Raymond Boudon sein sehr ähnliches Paradigma in<br />

die Formel M = M { m ES (M')3) , in Worten: Das makrosoziologische Phänomen<br />

M „est une fonction des actions m, lesquelles dependent de la Situation S de l'acteur,<br />

cette Situation etant elle-meme affectee par des donnees macrosociales M\"; La<br />

place du de'sordre, [Anm. 29], S. 40.<br />

38 Boudon, Crozier <strong>und</strong> Friedberg konzentrieren sich auf die Erläuterung <strong>und</strong> beispielhafte<br />

Verdeutlichung eines generellen Ansatzes, wobei vor allem die letzteren<br />

durchweg unterhalb der <strong>gesellschaftliche</strong>n Makroebene bleiben. Elias argumentiert<br />

zwar systematisch, gesamtgesellschaftlich <strong>und</strong> historisch, verknüpft diese Aspekte<br />

jedoch nur teilweise <strong>und</strong> wendet seinen Ansatz auch nicht auf heutige Gesellschaften<br />

an.<br />

39 Burkart Lutz, Der kurze Traum immerwährender Prosperität. Eine Neuinterpretation<br />

der industriell-kapitalistischen Entwicklung, Frankfurt/M. 1984.<br />

40 Siehe etwa Eugene Bardach, Robert A. Kagan, Going by the Book. The Problem<br />

of Regulatory Unreasonableness, Philadelphia 1982, vor allem Kap. 4.<br />

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41 Wolfgang Zapf, „Entwicklungsdilemmas <strong>und</strong> Innovationspotentiale in modernen<br />

Gesellschaften", in: Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21. Deutschen<br />

Soziologentags in Ba<strong>mb</strong>erg 1982, hg. v. J. Matthes, Frankfurt/M. 1983, S.<br />

293-308.<br />

42 Das sind die sog. garbage can decision processes; vgl. das allgemeine Modell <strong>und</strong> die<br />

empirischen Beispiele bei James G. March <strong>und</strong> Johan P. Olsen, A<strong>mb</strong>iguity and<br />

Choice in Organizations, Bergen 1976.<br />

43 Vgl. K. Hanf <strong>und</strong> F.W. Scharpf (Hg), Inter-Organizational Policy-Making, [Anm.<br />

28]; Gerhard Leh<strong>mb</strong>ruch, "Concertation and the Structure of Corporatist Networks",<br />

in: J. Goldthorpe (ed), Order and Conflict in Contemporary Capitalism<br />

Studies in the Political Economy of West European Nations, Oxford (im Druck).<br />

44 David R. Cameron, Social Democracy, Corporatism, and Labor Quiescence in Advanced<br />

Capitalistic Societies, paper prepared for the SSRC Conference on Order<br />

and Conflict in Western Capitalism, Buchenbach b. Freiburg 1983.<br />

45 Dieter Grunow, „Interorganisationsbeziehungen im Implementationsfeld <strong>und</strong> ihre<br />

Auswirkungen auf die Umsetzung <strong>und</strong> die Zielerreichung politischer Programme",<br />

in: R. Mayntz (Hg), Implementation politischer Programme II, Ansätze zur Theoriebildung,<br />

Opladen 1983, S. 142-167.<br />

46 Hierzu Patrick Lagadec, Le risque technologique majeur, Paris usw. 1981.<br />

47 Grunow, [Anm. 45], verweist bereits auf die daraus resultierenden „sek<strong>und</strong>ären<br />

Verpflichtungen".<br />

48 Siehe z.B. David Knoke <strong>und</strong> Edward Laumann, "The Social Organization of National<br />

Policy Domains", in: P.V. Marsden <strong>und</strong> N. mLin (Hg), Social Structure and Network<br />

Analysis, Beverly Hills 1982, S. 255-270; W. Richard Scott <strong>und</strong> John W.<br />

Meyer, The Organization of Institutional Sectors, Project Report Nr. 82-A14,<br />

Stanford University, July 1982.<br />

49 Theoretisch etwa bei Helmut Willke, Entzauberung des Staates. Überlegungen zu<br />

einer Sozietäten Steuerungstheorie, Königstein/Ts. 1983; empirisch bei Ulla Foemer,<br />

Zum Problem der Integration komplexer Sozialsysteme am Beispiel des Wissenschaftsrats,<br />

Berlin 1981.<br />

50 Zwei Beispiele sind: Ithiel de Sola Pool (ed), The Social Impact of the Telephone,<br />

Ca<strong>mb</strong>ridge/London 1977; BMFT (Hg), Technologie, Wirtschaftswachstum <strong>und</strong> Beschäftigung,<br />

Bonn 1983.<br />

51 Todd LaPorte, Technology as Social Organization, ISG Studies in Public Organization<br />

WorkingPapers No. 84-1, Berkeley, CA 1984.<br />

52 Die spontan weniger naheliegende Anwendung dieser Perspektive auf Organisationen<br />

findet sich besonders deutlich bei Pfeffer <strong>und</strong> Salancik, [Anm. 28J, die verschiedene<br />

Strategien behandeln, wie Organisationen ihre Abhängigkeitsbeziehungen<br />

umgestalten können.<br />

53 Thomas C. Schelling,Micromotives andMacrobehaviour, New York/London 1978.<br />

54 Eine wichtige Ausnahme stellt die — charakteristischerweise nicht publizierte — Arbeit<br />

von Birgitta Nedelmann dar, die unter Mitwirkung von Martin Broicher <strong>und</strong><br />

Karl-Heinz Korn eine vorzügliche Textsammlung zusammengestellt <strong>und</strong> eingeleitet<br />

hat: Eigendynamik <strong>und</strong> soziale Prozesse, als Manuskript vervielfältigt, Köln 1982.<br />

55 Ein gutes Beispiel für ein anspruchsvolles theoretisches Konzept zur Analyse sozialer<br />

Bewegungen, das in vieler Hinsicht dem hier skizzierten analytischen Paradigma<br />

entspricht, ist die Arbeit von Charles Tilly, From Mobilization to Revolution,<br />

Reading, Mass. 1978.<br />

56 Thomas C. Schelling, [Anm. 53].<br />

57 Claus Offe, Berufsbildungsreform. Eine Fallstudie über Reformpolitik, Frankfurt/<br />

M. 1975, Kapitel 3.<br />

58 Barry A. Turner, Man-Made Disasters, London 1978.<br />

59 Burkart Lutz, [Anm. 39].<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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DIE UNBEKANNTE ZUKUNFT UND DIE KUNST DER PROGNOSE<br />

Reinhart<br />

Koselleck<br />

„Kann man das Vergangene erkennen, wenn man das Gegenwärtige nicht<br />

einmal versteht? Und wer will vom Gegenwärtigen richtige Begriffe nehmen,<br />

ohne das Zukünftige zu wissen? Das Zukünftige bestimmt das Gegenwärtige<br />

<strong>und</strong> dieses das Vergangene". Diese Worte stammen von Johann<br />

Georg Hamann. Für jeden Leser, der die Zeit metaphorisch als Linie deutet,<br />

die aus der Vergangenheit durch den fiktiven Punkt der Gegenwart in die<br />

offene Zukunft führt, ist diese Feststellung Hamanns unsinnig. Für den Geisteshistoriker<br />

ist es schnell ersichtlich, daß Hamanns Worte von der heilsgeschichtlichen<br />

Erwartung zehren, die durch die Offenbarung zugänglich, ein<br />

Wissen von der Zukunft bereitstellt, die jeden persönlich, aber auch die<br />

Weltgeschichte im ganzen betrifft. Für den politischen oder den Sozialhistoriker,<br />

der sich professionell mit Vergangenem beschäftigt, der etwa das<br />

Vergangene nach Kausalketten befragt, die in die Gegenwart führen, bleibt<br />

die Zukunft methodisch ausgespart. Allenthalben wird er erkenntnistheoretisch<br />

oder psychologisch einräumen, daß eigene Erwartungshaltungen seine<br />

Fragestellungen beeinflussen mögen, die ihm das sogenannte Erkenntnisinteresse<br />

stimulieren. Ein wenig Zukunft wird er dulden, ohne seine Berufsqualität<br />

geschmälert zu finden. Mehr gefordert sind heute die ausdifferenzierten<br />

Wissenschaftsfelder der Politologie, der Ökonomie <strong>und</strong> der Soziologie,<br />

sofern sie nicht Einzelfälle, sondern Strukturen hochrechnen, um Zukunftstrends<br />

aus ihnen abzuleiten.<br />

Es gehört nun zum Bef<strong>und</strong> historisch überlieferter Quellen, daß Zukunftsvoraussagen<br />

jedweder Art unzählbar sind. Wir brauchen nicht im Jahre<br />

1984 zu leben, um an die Legion der Zeitutopien zu denken, mehr negativer<br />

als positiver Art, die Gegenwärtiges hochgerechnet haben, oder, mit<br />

Hamann zu reden, aus der Zukunft heraus Gegenwart diagnostizieren. Aber<br />

der Reigen führt weiter, etwa zu den Wahlprognosen, die die tatsächlichen<br />

Wahlen beeinflussen, sei es durch Zustimmung oder durch Widerspruch, den<br />

sie hervorrufen; oder unser Reigen führt zu den Planungsziffern einer Produktionsserie,<br />

die von den Marktanalysen künftig zu erschließender Möglichkeiten<br />

abhängen; oder zu den computergespeicherten Alternativen aller<br />

denkbaren Entscheidungen im geplanten Atomkrieg; oder zu den Voraussagen<br />

des Club of Rome, inzwischen verstärkt durch die umweltbewußten<br />

Grünen, die ihre Furcht in politische Zukunftsrationalität zu transponieren<br />

trachten; oder zu dem üblichen Geschäft jeder Diplomatie, die ohne Kalkül<br />

künftiger Handlungen gar nicht existieren würde; bis hin zum Alltag, in dem<br />

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die finanziellen Folgen einer Kindsgeburt bedacht werden, <strong>und</strong> das um so<br />

mehr, als Arbeitslosigkeit oder Einkommenskürzung Zukunftsdaten enthalten,<br />

mit denen gerechnet werden muß. Schließlich sei nicht zu vergessen der<br />

Traum, dem schon in der Kanonisierung durch Artemidor eine weissagende<br />

Kraft zugemessen wird, die auch in die Diagnosen heutiger Analysen eingeht,<br />

indem sie therapeutisch, also auch prognostisch genutzt wird. Die Beispielreihe<br />

läßt sich beliebig verlängern. Sie reicht also vom Alltag der Individuen<br />

bis zur großen Politik <strong>und</strong> greift darüber hinaus in den Zeitraum<br />

nicht-steuerbarer Prozesse, auch wenn deren Randbedingungen änderbar<br />

sind. Ich erinnere an die Hochrechnung der Energiereserven korreliert mit<br />

der demographischen Kurve der Erdbevölkerung, die beide langfristige Daten<br />

bereitstellen, die ihrerseits zunehmend auf die mittel- <strong>und</strong> kurzfristigen<br />

Planungsdaten in Politik <strong>und</strong> Wirtschaft zurückwirken. Hamanns Worte,<br />

daß das Zukünftige auf das Gegenwärtige einwirke, kann in dieser Allgemeinheit<br />

also kaum bestritten werden.<br />

Der Status des Zukünftigen entspricht nun nicht r<strong>und</strong>um dem Status<br />

des Vergangenen. Vergangenes ist in unserer Erfahrung enthalten <strong>und</strong> empirisch<br />

verifizierbar. Zukünftiges entzieht sich gr<strong>und</strong>sätzlich unserer Erfahrung<br />

<strong>und</strong> ist demnach empirisch nicht verifizierbar. Gleichwohl gibt es<br />

Voraussagen, die mit größerer oder minderer Plausibilität aus der Erfahrung<br />

in die Erwartung transponiert werden können. Hierbei handelt es sich, um<br />

einen scharfen Kontrahenten von Hamann zu bemühen, um das Vorhersehungsvermögen,<br />

um die Praevisio. „Dieses Vermögen zu besitzen", sagt<br />

Kant, „interessiert mehr als jedes andere: weil es die Bedingung aller möglichen<br />

Praxis <strong>und</strong> der Zwecke ist, worauf der Mensch den Gebrauch seiner<br />

Kräfte bezieht. Alles Begehren enthält ein (zweifelhaftes oder gewisses)<br />

Voraussehen dessen, was durch diese möglich ist. Das Zurücksehen aufs<br />

Vergangene (Erinnern) geschieht nur in der Absicht, um das Voraussehen<br />

des Künftigen dadurch möglich zu machen: indem wir im Standpunkte der<br />

Gegenwart überhaupt um uns sehen, um etwas zu beschließen oder worauf<br />

gefaßt zu sein". 1<br />

Kant führt die geschichtlichen Zeitdimensionen auf ihren anthropologischen<br />

Kern zurück. Die Konzentration auf den handelnden Menschen, anders<br />

als in Augustins Reduktion der Zeitdimension auf den inneren Menschen,<br />

ähnlich dagegen schon in Chladenius' Historischer Hermeneutik,<br />

stellt uns anthropologische <strong>und</strong> insofern metahistoische Kategorien zur Verfügung,<br />

die die Bedingungen möglicher Geschichte definieren. Kant spricht<br />

innerhalb der drei Zeitdimensionen der Zukunft <strong>und</strong> dem ihr zugeordneten<br />

Vorhersehungsvermögen eindeutig das größere Gewicht zu.<br />

Der Bef<strong>und</strong> ist klar. Begehren, wie Kant sagt, aber auch Ängste <strong>und</strong><br />

Hoffnungen, Wünsche <strong>und</strong> Befürchtungen sowie rationale Planungen, Berechnungen<br />

<strong>und</strong> eben Voraussagungen — alle diese Weisen der Erwartung<br />

gehören zu unserer Erfahrung, oder besser gesagt, korrespondieren mit unserer<br />

Erfahrung. Der Mensch als weltoffenes Wesen, genötigt, sein Leben zu<br />

führen, bleibt auf Zukunftssicht verwiesen, um existieren zu können. Die<br />

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empirische Unerfahrbarkeit seiner Zukunft muß er, um handeln zu können,<br />

einplanen. Er muß sie, ob zutreffend oder nicht, voraussehen. Mit diesem<br />

Paradox sind wir im Zentrum unserer Fragestellung.<br />

Was sieht der Mensch voraus, was kann er voraussehen? Die kommende<br />

Wirklichkeit — oder nur Möglichkeiten? Eine Möglichkeit, mehrere oder<br />

viele? Ist die Voraussicht geleitet von Furcht oder von Vernunft oder, mit<br />

Hobbes zu sprechen, von beiden zugleich? Ist sie geführt vom Glauben an<br />

eine Prophetie oder abgesichert durch den Rückgriff auf eine geschichtsphilosophisch<br />

begründete Notwendigkeit oder gespeist aus Kritik oder<br />

Skepsis? Ist sie an Vorzeichen mantischer oder magischer Art geb<strong>und</strong>en<br />

oder an ein Zeichensystem geschichtlicher Deutungen oder an die Versuche<br />

wissenschaftlicher Analysen?<br />

Die historischen Antworten lassen sich nun eingrenzen, wenn man die<br />

Voraussagen auf einige Gr<strong>und</strong>typen zurückführt, die sich im Laufe der Geschichte,<br />

einander überholend, aber auch überlappend, aufweisen lassen.<br />

Außerdem lassen sich die Antworten reduzieren, wenn nur nach den Voraussetzungen<br />

gefragt wird, wann <strong>und</strong> warum welche Prognosen eingetroffen<br />

sind oder nicht. Mit dieser letzten Frage werde ich mich im folgenden<br />

beschäftigen <strong>und</strong> dabei einer groben Typologie nicht entraten können.<br />

Bei der Fülle eingetroffener <strong>und</strong> bei der ebenso großen, vielleicht größeren<br />

Fülle nicht eingetroffener <strong>und</strong> deshalb vergessener Prognosen, läßt<br />

sich eine Alternative denken. Entweder handelte es sich um ein reines<br />

Glücks- oder Zufallsspiel, warum eine Prognose sich bewahrheitet hat <strong>und</strong> eine<br />

andere nicht. Oder es lassen sich Kriterien finden; warum die eine Prognose<br />

eher eingetroffen ist als die andere, warum die eine sich hat verifizieren<br />

lassen, die andere nicht. Ich werde versuchen, einige Kriterien aus Beispielen<br />

politischer Prognosen zu entwickeln.<br />

Sieht man von jeder historischen Erfahrung ab, so läßt sich sagen, entweder<br />

ist die Zukunft völlig unbekannt — dann ist jede Prognose ein Würfelspiel<br />

des Zufalls. Oder es gibt, <strong>und</strong> dafür spricht die historische Erfahrung,<br />

Grade der größeren oder geringeren Wahrscheinlichkeit, mit der die kommende<br />

Wirklichkeit vorausgesehen werden kann. Es gibt Bündel von Möglichkeiten,<br />

die einzeln oder zusammengenommen verschiedene Chancen<br />

ihrer Verwirklichung indizieren: Dann muß es auch eine Kunst der Prognose<br />

geben, die wenigstens minimale Regeln ihres Gelingens enthält.<br />

Rein formal läßt sich folgende Regel aufstellen: Die Skala der Zukunftsaussagen<br />

reicht von absolut sicheren Prognosen zu solchen höchst unwahrscheinlichen<br />

Inhalts. So muß es als absolut sicher gelten, daß unser Globus<br />

die Katastrophe überdauert, die ein Atomkrieg für die ganze Menschheit<br />

herbeiführen kann. Andererseits ist es völlig unsicher, ob eine atomare Katastrophe<br />

durch Zufall, durch Versehen oder durch Absicht herbeigeführt<br />

wird, oder ob sie gar verhindert werden kann. D.h., je weiter wir uns von<br />

langfristigen Daten naturaler Vorgegebenheiten entfernen <strong>und</strong> unsere Voraussagen<br />

auf politische Entscheidungssituationen konzentrieren, desto<br />

schwieriger wird die Kunst der Prognose. Der tastende Lichtstrahl suchen-<br />

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der Prognostik oszilliert zwischen sicheren <strong>und</strong> gewissen Rahmenbedingungen<br />

<strong>und</strong> solchen, die sich prozessual verändern, um im Feld politischer Aktionen<br />

vergleichsweise unsicher zu sein. Aber allemal zieht Prognostik ihre<br />

Evidenz aus der bisherigen Erfahrung, die wissenschaftlich verarbeitet wird<br />

<strong>und</strong> die hochzurechnen eine Kunst der Ko<strong>mb</strong>ination vielfältiger Erfahrungsdaten<br />

darstellt.<br />

Als Historiker sind wir in der Lage, eingetroffene Prognosen daraufhin<br />

zu befragen, warum sie sich erfüllt haben. Als Historiker wissen wir aber<br />

auch, daß in der Geschichte immer mehr geschieht oder weniger als in den<br />

Vorgegebenheiten enthalten ist. Insofern ist die Geschichte immer neu <strong>und</strong><br />

überraschungsschwanger. Wenn es gleichwohl eintreffende Voraussagen<br />

gibt, so folgt daraus, daß die Geschichte nie völlig neu ist, daß es offensichtlich<br />

längerfristige Bedingungen oder gar dauerhafte Bedingungen gibt, in<br />

deren Spielraum sich das jeweils Neue einzustellen pflegt. Jede einzelne Geschichte,<br />

in die wir verstrickt sind, erfahren wir als einmalig, aber die Umstände,<br />

unter denen sich die Einmaligkeit einstellt, sind selber keineswegs<br />

neu. Es gibt Strukturen, die sich durchhalten <strong>und</strong> es gibt Prozesse, die anwähren:<br />

Beide bedingen <strong>und</strong> überdauern die jeweiligen Einzelereignisse, in<br />

denen sich Geschichte vollzieht. Anders gewendet, es gibt verschiedene<br />

Geschwindigkeiten des Wandels.<br />

Geographische Bedingungen wandeln sich gar nicht oder nur kraft der<br />

technischen Beherrschung eben dieser geographischen Voraussetzungen<br />

menschlichen Tuns. Rechtliche <strong>und</strong> institutionelle Bedingungen wandeln<br />

sich ebenfalls langsamer als die politischen Aktionen, die sich dieser rechtlichen<br />

<strong>und</strong> institutionellen Bedingungen bedienen. Verhaltensweisen <strong>und</strong><br />

Mentalitäten wandeln sich ebenfalls langsamer als die Kunst, sie ideologisch<br />

oder propagandistisch zu verändern. Politische Machtkonstellationen wandeln<br />

sich ebenfalls langfristiger als ihre tatsächliche Veränderung in Kriegen<br />

oder Revolutionen auf beschleunigte Weise sichtbar macht.<br />

Auch wenn die konkrete Geschichte jeweils einmalig bleibt, gibt es verschiedene<br />

Schichten der Veränderungsgeschwindigkeit, die wir theoretisch<br />

auseinanderhalten müssen, um Einmaligkeit <strong>und</strong> Überdauern aneinander<br />

messen zu können. Wenn wir aber davon sprechen, daß sich geographische,<br />

institutionelle, rechtliche oder mentalitätsgeb<strong>und</strong>ene Bedingungen durchhalten,<br />

so sind wir genötigt, ihnen im konkreten Vollzug der diachronen<br />

Zeitverläufe den Charakter der Wiederholung zuzumessen. Der Brief, den<br />

ich morgens um 9.00 Uhr empfange, mag eine freudige oder traurige Nachricht<br />

enthalten, die unüberholbar oder unüberbietbar ist. Aber die Postauslieferung<br />

morgens um 9.00 Uhr vollzieht sich von Tag zu Tag, dahinter steht<br />

eine Organisation, deren Stabilität in der Wiederholung ihrer eingespielten Regeln<br />

enthalten ist, deren finanzielles Polster durch die wiederholte Fortschreibung<br />

der budgetmäßig erfaßten postalen Einnahmen ermöglicht wird. Dieses<br />

Beispiel läßt sich auf alle Bereiche des menschlichen Lebens ausdehnen.<br />

Um meine These zu präzisieren: Prognosen sind nur möglich, weil es<br />

formale Strukturen in der Geschichte gibt, die sich wiederholen, auch wenn<br />

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ihr konkreter Inhalt jeweils einmalig <strong>und</strong> überraschend für die Betroffenen<br />

bleibt. Ohne Konstanten verschiedener Dauerhaftigkeit im Faktorenbündel<br />

kommender Ereignisse wäre es unmöglich, überhaupt etwas vorauszusagen.<br />

Lassen Sich mich eine Beispielreihe aus dem Umfeld neuzeitlicher Revolutionen<br />

bringen.<br />

1. Der Begriff der Revolution ist ein geschichtstheoretisch geradezu exemplarisch<br />

zu nennender Begriff, der uns das Wechselspiel zwischen Einmaligkeit<br />

<strong>und</strong> Wiederholung erläutert. Gewiß, jede Revolution, die stattfindet,<br />

ist für die Betroffenen einzigartig, verheerend oder ein erhofftes Glück stiftend.<br />

Aber im Begriff der Revolution ist auch die Wiederholung enthalten,<br />

die Rückkehr oder gar der Kreislauf. Diese Bedeutung ist nun keineswegs<br />

ein zufälliger Rest des dem Lateinischen entlehnten Wortes revolutio. Der<br />

Begriff enthält vielmehr eine Strukturaussage über Revolutionen schlechthin,<br />

wie wir sie in zahlreichen Varianten auf diesem Globus immer wieder<br />

kennenlernen. Die Wiederkehrlehre, die theoretisch im Revolutionsbegriff<br />

enthalten ist, impliziert sowohl diachrone Verlaufszwänge, die sich analog<br />

wiederholen wie auch parallelisierbare Akte bestimmter Handlungen. So<br />

ist in dem Begriff enthalten die Gewaltausübung jenseits der Legalität, bei<br />

ihrem Gelingen ein Wechsel der Herrschaftsweisen oder der Verfassungsformen;<br />

ein Austausch, meist nur partieller Art, der Eliten; ein Besitzwechsel<br />

durch Aufruhr, Enteignung <strong>und</strong> Umverteilung der Gewinne. Ferner enthält<br />

der Begriff altbekannte Verhaltensweisen: der Feigheit, des Mutes, der<br />

Furcht, der Hoffnung, des Terrors aus Angst oder aus Übermut, der Parteibildung<br />

<strong>und</strong> der Parteispaltung, der Rivalität der Führer, der Akklamationsfähigkeit<br />

der Massen <strong>und</strong> ihrer Akklamationsbedürftigkeit. Kurzum, in jeder<br />

Revolution sind sowohl Faktoren synchroner Art, die sich analog wiederholen,<br />

wie auch Wirkungsketten diachroner Art enthalten, die im Einzelfall<br />

einmalig sind, deren formale Struktur aber immer wiederkehrende Elemente<br />

aufweisen. Anders ausgedrückt: Die Geschichte verläuft nicht nur einmalig<br />

in diachroner Reihe, sie enthält immer auch Wiederholungen, metaphorisch<br />

gesagt eben Revolutionen, die einmaligen Wandel <strong>und</strong> Wiederkehr des<br />

analogisch Gleichen oder Ähnlichen, jedenfalls des Vergleichbaren enthalten.<br />

Der Verlauf der Französischen Revolution von 1787 bis 1815 gleicht in<br />

vieler Hinsicht, nicht nur im Prozeß gegen den König, der zu seiner Hinrichtung<br />

führte, dem Ablauf der Englischen Revolution von 1640 bis 1660/88.<br />

Und so kann es nicht verw<strong>und</strong>ern, daß die Voraussagen der Französischen<br />

Revolution immer wieder auf das Beispiel der Englischen zurückgriffen <strong>und</strong><br />

daß die Diagnosen im Verlauf der Französischen Revolution immer wieder<br />

von Analogieschlüssen aus der englischen Parallele zehrten, um glaubwürdig<br />

zu sein. Cromwell war die diktatorische Figur, die Robespierre zu werden<br />

vermeiden wollte, die dann aber von Napoleon überboten wurde.<br />

2. Für die Schlüsse aus der Vergangenheit in die Zukunft, die auf einer<br />

strukturellen Wiederholbarkeit beruhen, seien drei Beispiele genannt,<br />

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die mit zunehmender Konkretion die Diktatur Napoleons voraussagten.<br />

D'Argenson sagte als einer der ersten die kommenden Ereignisse glänzend<br />

voraus, als er die Ko<strong>mb</strong>ination von Monarchie <strong>und</strong> Demokratie als<br />

wahrscheinlich <strong>und</strong> als zukunftsträchtig definierte. 2 In der aristotelischen<br />

Topologie war ihm die Aristokratie das eigentliche Hindernis kommenden<br />

Ausgleichs, der über kurz oder lang zu einer Verfassungsänderung führen<br />

müsse. Eine sozialgeschichtliche <strong>und</strong> prozessuale Auslegung der aristotelischen<br />

Herrschaftskategorien ermöglichte es d'Argenson, die Zusammenarbeit<br />

des Monarchen mit den aufsteigenden bürgerlichen Schichten vorauszusagen,<br />

um im Falle ihrer Verhinderung die Revolution zu prognostizieren.<br />

Die Destruktion der Nobilität <strong>und</strong> die democratie royale entsprachen<br />

einander. Die Prognose beruhte auf einer neuen, verzeitlichten Ko<strong>mb</strong>ination<br />

überkommender Begriffe <strong>und</strong> Einsichten.<br />

Die Ergiebigkeit der geschichtlichen Voraussage hing von den verschiedenen<br />

geschichtlichen Schichten ab, von den zeitlichen Tiefenstaffelungen,<br />

die aus der historischen Erfahrung in die Zukunftsaussage transponiert wurden.<br />

Die räumliche Metaphorik, die in unserem Wort 'Geschichte' enthalten<br />

ist, mag hier hilfreich sein, um zu fragen, welche Schicht der Erfahrung<br />

jeweils abgerufen wird. Das wird sehr viel deutlicher bei der zweiten Prognose<br />

aus dem Jahre 1780. Sie stammt von Diderot. Und sie lautet: „Unter<br />

dem Despotismus wird das über seine lange Leidenszeit erbitterte Volk keine<br />

Gelegenheit versäumen, seine Rechte wieder an sich zu nehmen. Aber da<br />

es weder ein Ziel noch einen Plan hat, gerät es von einem Augenblick zum<br />

andern aus der Sklaverei in die Anarchie. Inmitten dieses allgemeinen Durcheinanders<br />

ertönt ein einziger Schrei — Freiheit. Aber wie sich des kostbaren<br />

Gutes versichern? Man weiß es nicht. Und schon ist das Volk in die verschiedensten<br />

Parteien aufgespalten, aufgeputscht von sich widersprechenden<br />

Interessen ... Nach kurzer Zeit gibt es nur noch zwei Parteien im Staat;<br />

sie unterscheiden sich durch zwei Namen, die, wer sich auch immer dahinter<br />

verbergen mag, nur noch lauten können 'Royalisten' <strong>und</strong> 'Antiroyalisten'.<br />

Das ist der Augenblick der großen Erschütterungen, der Augenblick der<br />

Komplotte <strong>und</strong> Verschwörungen ... Der Royalismus dient dabei ebenso als<br />

Vorwand wie der Antiroyalismus. Beides sind Masken für Ehrgeiz <strong>und</strong> Habgier.<br />

Die Nation ist jetzt nur noch eine von einem Haufen von Verbrechern<br />

<strong>und</strong> Bestochenen abhängige Masse. In dieser Lage bedarf es nur noch einen<br />

Mannes <strong>und</strong> eines geeigneten Augenblicks, um ein völlig unerwartetes Ergebnis<br />

eintreten zu lassen. Kommt dieser Augenblick, erhebt sich auch<br />

schon der große Mann ... Er spricht zu den Menschen, die gerade noch alles<br />

zu sein glaubten: Ihr seid nichts. Und sie sprechen: Wir sind nichts.<br />

Und er spricht zu ihnen: Ich bin der Herr. Und sie sprechen wie aus einem<br />

M<strong>und</strong>e: Ihr seid der Herr. Und er spricht zu ihnen: Hier sind die Bedingungen,<br />

unter denen ich euch zu unterwerfen bereit bin. Und sie sprechen:<br />

Wir nehmen sie an ... Wie wird die Revolution weitergehen? Man weiß es<br />

nicht". 3<br />

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Diderots Prognose war der Aufklärungstaktik entsprechend anonym<br />

in das Werk von Raynal über die koloniale Expansion Europas eingeschmuggelt<br />

worden. Sie gehört zu den erstaunlichsten Voraussagen über<br />

den mittelfristigen Verlauf der kommenden Revolution, die sich in groben<br />

Zügen vollständig bewahrheitet hat. Sie ist weit konkreter als eine ähnlich<br />

scharfsinnige Prognose Friedrich des Großen. Dieser hatte den kommenden<br />

Bürgerkrieg in Frankreich als Ergebnis der Aufklärung vorausgesagt,<br />

4<br />

aber Diderot ging als Aufklärer der Aufklärung noch einen Schritt weiter<br />

<strong>und</strong> konnte die Dialektik von Herr <strong>und</strong> Knecht in eine politische Strukturaussage<br />

ummünzen, die eine freiwillig akzeptierte Diktatur zum Ergebnis<br />

hatte.<br />

In die Voraussage Diderots gingen nun zahlreiche Schichten geschichtlicher<br />

Erfahrung ein. Zeitgenössisch bot ihm die schwedische Revolution<br />

Gustav III. von 1772 den Einstieg in die Analyse mit dem Ergebnis einer<br />

überparlamentarischen Monarchie, das er für die französische Zukunft<br />

als mögliche Parallele hochrechnete.<br />

Aber historisch liegen tiefere Schichten seiner Voraussage zugr<strong>und</strong>e,<br />

es gingen mehrere strukturell wiederholbare Elemente in sie ein. Es handelt<br />

sich um Argumentationsfiguren, die Diderot aus der römischen Geschichte<br />

ableitete, speziell aus Tacitus <strong>und</strong> seiner Analyse des Bürgerkriegs im<br />

Dreikaiserjahr. Wie die Parole, ja der Wunsch nach Freiheit in die Sehnsucht<br />

nach freiwilliger Unterwerfung umschlagen könne, das war aus den<br />

aufgeklärten Prämissen, die Diderot teilte, nicht ableitbar. Dahinter standen<br />

Erfahrungen, die auf die römischen Bürgerkriege zurückführten <strong>und</strong> auf<br />

die Bürgerkriege in der Kaiserzeit. Außerdem stand noch Polybios' Kreislaufmodell<br />

Pate, das seinerseits in der sophistischen Tradition, von Herodot<br />

überliefert , den Weg in eine Monarchie als zwangsläufig deutbar machte.<br />

5<br />

Die Treffsicherheit von Diderots Prognose beruhte also auf einer geschichtlichen<br />

Tiefenstaffelung, in die einmal ausformulierte historische Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> ihre theoretischen Verarbeitungen eingegangen waren. Obwohl<br />

Diderot einräumte, nicht zu wissen, wie die Revolution weitergehe,<br />

bezog sich die Scharfsichtigkeit seiner Analyse auf die Wiederholbarkeit<br />

historischer Erfahrungssätze.<br />

Das gleiche gilt nun für eine Voraussage Wielands. Er prognostizierte,<br />

nunmehr in den konkreten kurzfristigen Ereigniszusammenhang der Französischen<br />

Revolution eingeb<strong>und</strong>en, daß Napoleon Bonaparte die Diktatur<br />

in Frankreich ergreifen werde. Eineinhalb Jahre vor dem Staatsstreich<br />

sagte er diesen voraus <strong>und</strong> fügte hinzu, daß er die beste Lösung sein werde,<br />

die der französische Bürgerkrieg finden könne. Wieland geriet deshalb in<br />

nicht geringe Schwierigkeiten, weil er in Weimar als Jakobiner <strong>und</strong> Bonapartist,<br />

wenn es das Wort schon gegeben hätte, verschrieen wurde.<br />

Die Sicherheit seiner eingetroffenen Prognose beruht nun nicht nur<br />

auf politischem Instinkt oder Zufallsspiel, sondern zunächst auf der großen<br />

Parallele, die er zur Englischen Revolution immer wieder zog, <strong>und</strong> darüber<br />

hinaus auf seiner antiken Bildung, die ihn disponierte, den Verfassungs-<br />

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wandel im Schema der polybianischen Kreislauflehre zu sehen sowie auf<br />

der Kenntnis des römischen Bürgerkrieges, der schließlich in die Diktatur<br />

Cäsars einmündete. Das, was Wielands konkrete Prognose auszeichnet,<br />

beruht also auf der theoretischen Prämisse, daß sich im Verlauf einer<br />

Revolution bestim<strong>mb</strong>are Verläufe wiederholen können, so daß es möglich<br />

wurde, auch einen Einzelfall, nämlich die Diktatur von Napoleon<br />

persönlich daraus abzuleiten. 6<br />

Wir sind nun in der glücklichen Lage, eine andere Prognose Wielands<br />

zitieren zu können, die nicht eingetroffen ist. Nach der Einberufung der<br />

Notablen-Versammlung 1787 sagte er voraus, daß sich die kommende<br />

Revolution in Frankreich milde, wohltätig <strong>und</strong> vernunftgeleitet, friedlich<br />

<strong>und</strong> glücksspendend vollziehen werde. Wörtlich: „Auch in diesen wichtigen<br />

<strong>und</strong> zum Glück der Völker so wesentlichen Stücken scheint sich<br />

(wenn uns unser Vertrauen nicht betrügt) der gegenwärtige Zustand von<br />

Europa einer wohltätigen Revolution zu nähern; einer Revolution, die<br />

nicht durch wilde Empörungen <strong>und</strong> Bürgerkriege, sondern durch ruhige,<br />

unerschütterliche standhafte Beharrlichkeit bei einem pflichtmäßigen<br />

Widerstand — nicht durch das verderbliche Ringen der Leidenschaften<br />

mit Leidenschaften, der Gewalt mit Gewalt, sondern durch die sanfte,<br />

überzeugende <strong>und</strong> zuletzt unwiderstehliche Übermacht der Vernunft,<br />

bewirkt werden wird: kurz, eine Revolution, die, ohne Europa mit Menschenblut<br />

zu überschwemmen <strong>und</strong> in Feuer <strong>und</strong> Flammen zu setzen,<br />

das bloße wohltätige Werk der Belehrung der Menschen über ihr wahres<br />

Interesse, über ihre Rechte <strong>und</strong> Pflichten, über den Zweck ihres Daseins<br />

<strong>und</strong> die einzigen Mittel, wodurch derselbe sicher <strong>und</strong> unfehlbar erreicht<br />

werden kann, sein wird." 7<br />

Für unsere Fragestellung wird eines sofort deutlich: Die sanfte <strong>und</strong> vertrauensvolle<br />

Voraussage beruhte darauf, daß Wieland alle bisherige Erfahrung<br />

durch die selbstgewisse Vorm<strong>und</strong>schaft der Aufklärung außer<br />

Kraft zu setzen sich fähig glaubte. Beflügelt durch die optimierende Aufklärungshoffnung<br />

sagte Wieland eine Revolution voraus, die sich von allen<br />

bisherigen Revolutionen dadurch unterscheiden werde, daß sie ohne Bürgerkrieg<br />

vollzogen werden könnte. Zugunsten der Einmaligkeit geschichtlicher<br />

Progression verzichtete Wieland, seinem eigenen Vertrauen trauend, auf jeden<br />

Analogieschluß, den er aus der früheren Geschichte hätte ziehen können<br />

<strong>und</strong> den er zehn Jahre später gezogen hat. Es war gerade die geschichtliche<br />

Einmaligkeit <strong>und</strong> die lineare Hochrechnung des aufgeklärten Optimismus,<br />

die ihn eine Voraussage formulieren ließ, die binnen kurzem von den<br />

politischen Ereignissen desavouiert wurde.<br />

Das erste Kriterium, das wir damit erprobt haben, liegt also in der<br />

Testfrage enthalten, ob eine Prognose auf Möglichkeiten geschichtlicher<br />

Wiederholung rekurriert oder ob sie eine absolute Einmaligkeit des geschichtlichen<br />

Verlaufes unterstellt. Dort wo Wieland Analogieschlüsse<br />

aus der Erfahrung zog, hat er recht behalten, dort wo er die Geschichte<br />

als unvergleichbar neu definierte, blieb er im Unrecht.<br />

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Halten wir als erstes Zwischenergebnis fest: Je mehr zeitliche Schichten<br />

möglicher Wiederholung in die Prognose eingegangen sind, desto zutreffender<br />

war die Voraussage. Je mehr sich die Voraussage auf die Unvergleichbarkeit<br />

<strong>und</strong> Einmaligkeit der kommenden Revolution bezog, desto<br />

weniger hat sie sich erfüllt. Es gibt kaum eine Revolution, die so oft <strong>und</strong><br />

so zutreffend in ihrem tatsächlichen Kommen vorausgesagt wurde wie<br />

die Französische. Aber ebenso häufig sind die illusionären Auskünfte über<br />

ihren kommenden Verlauf gewesen. Ich erinnere an die belle revolution,<br />

die herbeizuwünschen <strong>und</strong> anzupreisen Voltaire nie müde wurde. Er erblickte<br />

in der herbeigewünschten Umwälzung nichts anderes als die Vollstreckung<br />

einer moralischen Gerechtigkeit, die als Philosoph er polemisch<br />

einzufordern niemals aufgab. Gelegentlich sind die Voraussagen so exakt<br />

<strong>und</strong> präzise formuliert worden wie von Friedrich, Diderot oder Rousseau,<br />

die den linearen Fortschritt in die Einmaligkeit hinein relativiert hatten.<br />

So ist der Anteil geschichtlicher Erfahrung jeweils verschieden dosiert<br />

in die Prognosen eingegangen. Dort wo die Chancen geschichtlicher Wiederholung<br />

negiert wurden, gerieten die Voraussagen in das Umfeld großer<br />

Wünschbarkeit, während dort, wo die Wiederholbarkeit geschichtlicher<br />

Möglichkeiten ernstgenommen wurde, die Prognosen eine größere Chance<br />

hatten einzutreffen. Um die Erfolgsträchtigkeit von Voraussagen beurteilen<br />

zu können, kommt es also darauf an, die zeitliche Mehrschichtigkeit<br />

geschichtlicher Erfahrung herauszuarbeiten, aus denen sich Voraussagen<br />

zusammensetzen.<br />

Zur Erläuterung sei eine andere Beispielreihe vorgeführt, die unserer<br />

eigenen Vergangenheit angehört <strong>und</strong> auf den Ausbruch des Zweiten Weltkrieges<br />

hinweist. Dabei werde ich drei Typen vorführen, die unsere These<br />

von der geschichtlichen Tiefenstaffelung als Voraussetzung erfolgreicher<br />

Prognosen erläutert. Am 16. Nove<strong>mb</strong>er 1937 schrieb Benesch, damals<br />

Präsident der Tschechoslowakei: „Ich weiß, daß die Lage ernst ist, bin<br />

aber dennoch Optimist. Ich glaube unentwegt, daß wir den Frieden erhalten<br />

werden. Ich glaube nicht, daß in absehbarer Zeit ein europäischer<br />

Krieg möglich ist. Ich bin vielmehr der Hoffnung, daß er nicht kommen<br />

wird." Man müsse sich nur auf die Verteidigung vorbereiten. „Für die<br />

Tschecholowakei fürchte ich nichts". Ein Jahr später befand sich Benesch<br />

8<br />

im Exil zu London.<br />

Es handelt sich hier um eine Wunschprognose, gespeist zugegebenerweise<br />

aus Optimismus, um eine Meinungsäußerung, die über einen Politiker<br />

in dieser Position zu dieser Zeit nur Erstaunen auslösen kann. Nun gehört<br />

es freilich zu jeder Voraussage, daß die eigene Einstellung zur Zukunft<br />

als Faktor in die Prognose eingeht. Aber die Chancen der Erfüllung steigen<br />

erst mit der Macht, die groß genug ist, um die Erfüllung einer sich selbst<br />

gestellten Prognose herbeizuführen.<br />

In dieser Lage befand sich damals Hitler. Sieben Tage nach der optimistischen<br />

Äußerung von Benesch rief Hitler vor der Ortsgruppe der NSDAP<br />

in Augsburg aus: „Es ist doch etwas W<strong>und</strong>erbares, wenn das Schicksal<br />

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Menschen ausersehen hat, für ihr Volk sich einsetzen zu dürfen. Heute<br />

stehen uns neue Aufgaben bevor. Denn der Lebensraum unseres Volkes<br />

ist zu eng. Die Welt wird eines Tages unsere Forderungen berücksichtigen<br />

müssen. Ich zweifle keine Sek<strong>und</strong>e daran, daß wir genauso, wie es uns<br />

möglich war, die Nation im Innern emporzuführen, auch die äußeren gleichen<br />

Lebensrechte wie die anderen Völker uns verschaffen werden." 9<br />

Kaum verschleiert kündigt Hitler sein Expansionsprogramm an, ohne den<br />

möglichen Krieg beim Namen zu nennen. Insofern handelt es sich auch<br />

hier um eine Wunschprognose. Aber die Elemente, aus denen sich seine<br />

Zukunftsvoraussage zusammensetzt, sind vielschichtiger als bei Benesch.<br />

Hitler beschwor, wie er es immer tat, den innenpolitischen Aufstieg<br />

als Unterpfand für den künftigen Erfolg auch auf dem Feld der Außenpolitik.<br />

Es handelt sich um den typischen Fall einer linearen Hochrechnung<br />

mittelfristiger Art aus der Vergangenheit in die Zukunft wie wir<br />

sie auch bei Wieland kennengelernt haben, ohne neu hinzukommende<br />

Faktoren der Weltpolitik in Europa zu benennen, selbst wenn Hitler sie<br />

als Politiker bedacht haben mochte. Hier liegt die Stoßkraft der anfänglichen<br />

Erfolge Hitlers, aber zugleich die tiefsitzende Fehlerquelle verborgen,<br />

die seinen Untergang <strong>und</strong> mit ihm den des alten Deutschland herbeiführen<br />

half. Die lineare Hochrechnung war einschichtig. Hinzu kommt die<br />

Berufung auf das Schicksal, ein Ideologiestreifen, der in die deutsche<br />

Geistesgeschichte zurückreicht, jenes Schicksal, an dem Hitler keine Sek<strong>und</strong>e<br />

zweifelte, wie er autosuggestiv versicherte. Die Struktur dieser Prognose<br />

enthüllt sich damit als eine ultimative Zwangsprognose. Hitler hat sie sich<br />

immer wieder selbst gestellt. Sie korrespondiert jener linearen Hochrechnung,<br />

die keine Alternativen zuläßt, vielmehr ausschließt. In der Ausschließlichkeit<br />

lag ihre Zwanghaftigkeit beschlossen, die Hitler durch das Bewußtsein<br />

seiner Auserwähltheit autosuggestiv absicherte. Seine Prognose nähert<br />

sich der Struktur prophetischer Weissagungen.<br />

Konfrontieren wir die Wunschprognose von Benesch <strong>und</strong> die ultimative<br />

Zwangsprognose von Hitler mit einem dritten Typus. Am 27. Nove<strong>mb</strong>er<br />

1932 erklärte Churchill im House of Commons: „Es wäre sicherer, die<br />

Danziger Frage <strong>und</strong> des polnischen Korridors, heikel <strong>und</strong> schwierig wie<br />

sie ist, neu aufzurollen, mit kaltem Blut <strong>und</strong> in ruhiger Atmosphäre <strong>und</strong><br />

solange die Siegermächte noch ihre breite Überlegenheit innehätten, anstatt<br />

zu warten <strong>und</strong> dahinzutreiben, Schritt für Schritt <strong>und</strong> Stufe um Stufe,<br />

bis noch einmal eine große Konfrontation zustande kommt, in der wir<br />

in gleicher Weise kämpfend einander gegenüberstehen." 10<br />

Selbstredend gehen auch in diese Prognose Wünsche ein, <strong>und</strong> auch ein<br />

ultimativer Handlungszwang liegt in ihr beschlossen, aber mit dem Ziel,<br />

einen zweiten Weltkrieg zu verhindern. Es handelt sich um eine alternative<br />

Bedingungsprognose, die Handlungsanweisungen enthält. Was diese Prognose<br />

auszeichnet, ist die klare Formulierung zweier Möglichkeiten, deren<br />

eine auf die dauerhafte Erfahrung des Ersten Weltkrieges zurückgreift,<br />

deren andere aber die Einmaligkeit der sich ändernden Nachkriegssituation<br />

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in Rechnung stellt. Ihre Struktur ist mehrschichtig. Die Diagnose beruht auf<br />

der anhaltenden Erfahrung der Katastrophe von 1914, um für den schwindenden<br />

Handlungsspielraum 1932 eine Alternative zu formulieren. Die Warnung<br />

vor der Wiederkehr des Weltkrieges evoziert eine Anweisung, ihn zu<br />

verhüten.<br />

Nun mag man die schlichte Alternative auf die Suggestionskraft von<br />

Churchills Rhetorik zurückführen, — er wird auch weitere Möglichkeiten<br />

im Hinterkopf gehabt haben. Die Katastrophe, die zu vermeiden Churchill<br />

politisch vorschlug, ist gemäß seiner Voraussage eingetroffen. Die Erfahrung<br />

des Kriegsausbruches von 1914 mit dem daraus abgeleiteten Analogieschluß<br />

hat ihn nicht getrogen. Aber bei Churchill handelt es sich nicht<br />

um eine lineare Hochrechnung unentrinnbarer Zukunft, sondern diese Hochrechnung<br />

setzte eine Bedingung möglicher Wiederholung, um in actu dagegen<br />

anzukämpfen. Die Richtigkeit der Prognose gründet also in der handlungsanleitenden<br />

Verwendung mehrerer geschichtlicher Tiefendimensionen,<br />

deren Ko<strong>mb</strong>ination die Treffsicherheit hervorgebracht hat.<br />

Unsere Fragestellung nach den geschichtlichen Zeitschichten ermöglicht<br />

es uns, die Prognostik aus dem Bezugsrahmen der reinen Anthropologie<br />

oder gar der Psychologie der jeweiligen Agenten herauszuführen. Nicht<br />

der rührende Optimismus eines Benesch, nicht die Autosuggestion von<br />

Hitler <strong>und</strong> auch nicht die phantasievolle Nüchternheit von Churchill liefern,<br />

uns den Schlüssel für die Richtigkeit oder Falschheit ihrer Voraussagen.<br />

Die objektivierbaren Kriterien liegen in der zeitlichen Tiefenstaffelung, die<br />

argumentativ für die Prognose herangezogen wurde.<br />

Es ist nicht nur die formale Wiederholbarkeit möglicher Geschichte,<br />

die ein Minimum an prognostischer Sicherheit garantiert, sondern es kommt<br />

ebenso darauf an, die Mehrschichtigkeit historischer Zeitverläufe einzukalkulieren.<br />

Deshalb möchte ich in einem zweiten Durchgang unsere Frage nach den<br />

verschiedenen Zeitschichten präzisieren. Theoretisch lassen sich drei Zeitebenen<br />

unterscheiden, die verschieden abrufbar sind, um Prognosen zu ermöglichen.<br />

Erstens gibt es die kurzfristige Sukzession des Vorher <strong>und</strong> Nachher, die<br />

unsere alltäglichen Handlungszwänge kennzeichnet. Immer situationsbezogen<br />

ändern sich die Voraussetzungen für die beteiligten Agenten in früher<br />

oder später erfahrbaren Fristen, in Jahren, Monaten, Wochen, St<strong>und</strong>en, ja<br />

sogar von Minute zu Minute. In diesem Zusammenhang ist es besonders<br />

schwierig, exakte Prognosen zu stellen, nicht zuletzt deshalb, weil niemals<br />

alle Reaktionen <strong>und</strong> Aktionen zugleich überblickt oder gar erkannt werden<br />

können. Es ist wie beim Schachspiel, wo erst nach einer bestimmten Summe<br />

von Zügen die Lage so weit geklärt ist, daß Prognosen mit großer, schließlich<br />

absoluter Treffsicherheit gestellt werden können.<br />

Zweitens gibt es die Ebene mittelfristiger Trends, von Geschehensabläufen,<br />

in die eine Fülle von Faktoren eingehen, die sich der Verfügung der jeweils<br />

Handelnden entziehen. Hier wirken die zahlreichen transpersonalen<br />

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Bedingungen in das Geschehen ein, die sich selber nur mit einer langsameren<br />

Geschwindigkeit ändern als die Aktionen der Handelnden selbst. In diesen<br />

Bereich gehören z.B. ökonomische Krisen oder Abläufe eines Krieges<br />

oder eines Bürgerkrieges oder die längerfristigen Wandlungen, die durch<br />

die Einführung neuer Produktionstechniken hervorgerufen werden oder<br />

jene Vorgänge, die von den Betroffenen als Verfall der Sitten oder als Dekadenz<br />

einer politischen Handlungsgemeinschaft begriffen werden. Immer<br />

handelt es sich um Verlaufsfiguren, die von den transpersonalen Rahmenbedingungen<br />

beeinflußt werden, die aber schließlich so weit reichen können,<br />

auch die Rahmenbedingungen selbst zu verändern. Es handelt sich um<br />

prozessuale Verläufe, die aller Innovation zum Trotz so viel Analogieschlüsse<br />

zulassen, wie die Beispielreihe unserer Revolutionsprognosen gezeigt hat.<br />

Drittens gibt es eine Ebene von gleichsam metahistorischer Dauer, die<br />

deshalb noch nicht zeitlos ist. Man kann auf dieser Ebene hypothetisch solche<br />

anthropologische Konstanten ansiedeln, die sich mehr als alle anderen<br />

Faktoren dem geschichtlichen Wandlungsdruck entziehen. Aus diesem Bereich<br />

stammt eine Fülle von Erfahrungssätzen, die sich gr<strong>und</strong>sätzlich wiederholen<br />

lassen, die immer <strong>und</strong> immer wieder applikabel sind. Es handelt<br />

sich dann um Erfahrungssätze, denen eo ipso eine prognostische Wahrheit<br />

innewohnt.<br />

Hierhin gehört die einfache Form des Sprichwortes, die oft mit gegenläufigen<br />

Nutzanweisungen versehen wird, aber immer anwendungsfähig<br />

bleibt. Übermut kommt vor den Fall. Viele H<strong>und</strong>e sind des Hasen Tod.<br />

Viele Köche verderben den Brei. Freilich hängt die Anwendbarkeit davon<br />

ab, ob man sich auf Seiten der H<strong>und</strong>e, der Köche, der Hasen oder im Brei<br />

befindet. Aber der Rang solch scheinbar banaler Lebensweisheiten kann<br />

nicht unterschätzt werden. Sie tauchen auch in höher aggregierten Aussagen<br />

auf. Selbst wenn man einräumt, daß der Verlauf der Geschichte sich<br />

nicht nach unseren moralischen Urteilen <strong>und</strong> Sprichwortweisheiten richtet,<br />

bleibt der Übermut doch eine berechenbare, gelegentlich zäh<strong>mb</strong>are<br />

Größe im Spiel der Kräfte. Schließlich gibt es Kurzformeln, deren prognostische<br />

Wahrheit unwiderlegbar bleibt. So warnte Seneca Nero vergeblich:<br />

Er könne alle totschlagen, nur nicht seinen Nachfolger. Hier handelt<br />

es sich um eine formale Zukunftsaussage, die sich jederzeit inhaltlich ausfüllen<br />

läßt. Scheinbar zeitlos sind sie situativ applikabel. Stalin ahnte es,<br />

als er Trockij ermorden ließ. Nicht verhindern konnte er die Entstalinisierung<br />

durch seine Nachfolger.<br />

In einem höher aggregierten Zustand handelt es sich um metahistorischen<br />

Sätze, in denen die Bedingungen möglicher Geschichten, also auch<br />

möglicher Zukunft, reflektiert werden. Ich verweise hier auf die Reden<br />

des Thukydides oder auf die Thematik des Tacitus, der weniger die Tatsächlichkeit<br />

der Ereignisse beschreibt, als die Art, wie sie widersprüchlich<br />

erfahren wurden. Die Bürgerkriegsanalysen beider Autoren, die die Verläufe<br />

nicht nur schildern, sondern zugleich semantisch reflektieren <strong>und</strong> auf ihren<br />

Erfahrungsgehalt abfragen, führen zu Lehren der Geschichte, die nicht<br />

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nur rhetorisch wiederholt werden können. Sie sind auch tatsächlich anwendbar.<br />

Die Überwindung der konfessionellen Bürgerkriege in der frühen<br />

Neuzeit mag auch ohne antike Autoren gelungen sein, tatsächlich aber stellten<br />

sie Lehren bereit, die unmittelbar handlungsanleitend waren. Sie enthielten<br />

ein prognostisches Potential, das die neuen Erfahrungen um ihren<br />

Überraschungseffekt brachte. Religiöse Intoleranz wurde kalkulierbar, politisch<br />

berechenbar <strong>und</strong> deshalb zäh<strong>mb</strong>ar.<br />

Wir können bis zur Gegenwart gehen <strong>und</strong> eine Vermutung anstellen.<br />

Wir wissen nicht, welche Argumente Dubczek 1968 im Kreml zu hören bekam,<br />

bevor er sich den sowjetischen Bedingungen unterwarf. Aber die<br />

Gr<strong>und</strong>struktur der Argumente findet sich bei Thukydides in seinem berühmten<br />

Dialog zwischen den Athenern <strong>und</strong> den Bürgern von Melos. Der<br />

11<br />

Melier-Dialog besteht in einer auf zwei Rollen verteilten Argumentation,<br />

die modern formuliert auf eine alternative Bedingungsprognose hinausläuft,<br />

um handlungsanleitend zu wirken. Thukydides definierte die Einstellung<br />

der Melier in einem Satz als Wunschprognose: Sie nehmen die verhüllte<br />

Zukunft aus lauter Wunsch schon für Gegenwart <strong>und</strong> irrten deshalb. Die<br />

Athener dagegen beriefen sich auf das Gesetz der Macht, das sie nicht erf<strong>und</strong>en,<br />

sondern nur übernommen hätten, um es anzuwenden. Nach dem<br />

Austausch der Argumente, in denen sich Hoffnung <strong>und</strong> Erfahrung gegenüberstanden,<br />

inhaltlich gesprochen das Rechtsbewußtsein der Melier <strong>und</strong><br />

der gewollte Machtmißbrauch der Athener, berichtet Thukydides nurmehr<br />

in drei Zeilen, wie die Melier nach ihrer Unterwerfung hingerichtet, ihre<br />

Frauen <strong>und</strong> Kinder versklavt wurden. Das analoge Geschick blieb Prag erspart.<br />

Die Tschechen haben sich gebeugt.<br />

Es wäre unsinnig, hier eine lineare Wirkungsgeschichte des Thukydides<br />

konstruieren zu wollen. Es gibt vielmehr geschichtliche Erfahrungsstrukturen,<br />

die einmal ausformuliert nicht verlorengehen, die sich auch unter<br />

völlig veränderten Bedingungen moderner Machtausübung oder neuer<br />

Rechtsauffassungen durchhalten: Ihnen wohnt eine prognostische Kraft<br />

inne, die von metahistorischer Dauer ist <strong>und</strong> die jederzeit für politische<br />

Hochrechnungen genutzt werden kann.<br />

Ich komme zum Schluß. Die theoretische Unterscheidung zwischen<br />

unseren drei Zeitverläufen, der kurzfristigen Aktionen, der mittelfristigen<br />

Ablaufzwänge sowie der langfristigen bzw. dauerhaft wiederholbaren Möglichkeiten<br />

zeigt uns, daß sich ihr Verhältnis im Laufe der neueren Geschichte<br />

gr<strong>und</strong>legend verändert.<br />

Kurzfristige Prognosen sind heute deshalb schwerer zu stellen, weil die<br />

Faktoren, die in sie eingehen müssen, selber vervielfältigt worden sind. Gewiß<br />

gehen Elemente metahistorischer Dauer in sie ein, aber die Vielfalt<br />

der universalen Rahmenbedingungen aller einzelnen Handlungen hat sich<br />

erhöht, ihre Komplexität ist schwerer beherrschbar.. Kurzfristige Prognosen<br />

waren einfacher, solange in der frühen Neuzeit die Zahl der agierenden<br />

Handlungsträger überschaubar blieb, solange die Lebensdauer der<br />

Fürsten als Menschen in ihrer endlichen Begrenztheit politisch kalkulierbar<br />

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lieb. Die Berechnung der Erbfallkonstellationen für den nächsten Krieg<br />

gehörte zur Dauerbeschäftigung frühneuzeitlicher Prognostik. Je mehr wir<br />

uns der eigenen Zeit nähern, desto schwieriger wird die Kunst kurzfristiger<br />

Prognosen, weil auch die längerwährenden Rahmenbedingungen der<br />

kurzfristigen Handlungsspielräume sich vervielfacht <strong>und</strong> verändert haben.<br />

Aber auch die transpersonalen Konstanten, die als Bedingungen die<br />

mittelfristigen Verläufe determiniert haben, haben sich seit r<strong>und</strong> 200 Jahren<br />

mit steigender Geschwindigkeit geändert. Technik <strong>und</strong> Industrie haben<br />

die Erfahrungsspannen verkürzt, die sich nur unter gleichbleibenden Voraussetzungen<br />

stabilisieren konnten. Die Voraussetzungen unserer Lebensverläufe<br />

ändern sich schneller als früher, selbst die Strukturen werden zum<br />

Ereignis, weil sie sich schneller wandeln. Der gute alte Satz, daß wir nicht<br />

für die Schule, sondern für das Leben lernen, hat seine Kraft verloren. Wir<br />

lernen nur noch, wie wir umlernen können. Und selbst das haben wir noch<br />

nicht gelernt. Im Hinblick auf unser Modell dreier Zeitschichten läßt sich<br />

sagen, daß ehedem langwährende Konstanten, die den Bedingungsrahmen<br />

mittelfristiger Verläufe <strong>und</strong> kurzfristiger Handlungszusammenhänge stabil<br />

hielten, selber unter erhöhten Wandlungsdruck geraten sind. Es gibt immer<br />

mehr Variablen, die hochzurechnen <strong>und</strong> aufeinander zu beziehen immer<br />

schwieriger wird. Deshalb hat sich, wissenschaftsgeschichtlich gesprochen,<br />

aus der Zunft der Historiker die der Soziologen herausdifferenziert. Die<br />

Frage danach, wie sich kurze, mittlere <strong>und</strong> lange Fristen zueinander verhalten,<br />

zwingt die Soziologen zur Prognose, ob sie wollen oder nicht. In<br />

historischer Perspektive sei mir deshalb noch ein Nachwort gestattet: Die<br />

prognostische Sicherheit müßte wieder steigen, wenn es gelingt, mehr Verzögerungseffekte<br />

in die Zukunft einzubauen, Verzögerungseffekte, die berechenbarer<br />

werden, sobald die ökonomischen <strong>und</strong> institutionellen Rahmenbedingungen<br />

unseres Handelns stetiger werden. Aber das ist vermutlich<br />

nur eine Utopie, die aus der bisherigen Geschichte nicht ableitbar ist.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Kant, Anthropologie in pragmatischer Absicht, Teil 1, § 32, in Werke, hg. Weischedel,<br />

Darmstadt 1964, Bd. VI, S. 490.<br />

2 d'Argenson, Conside'rations sur le gouvernement ancien et pre'sent de la France,<br />

Yverdon 1764, S. 138 ff.<br />

3 Diderot, in: Raynal, Histoire Philosophique et Politique et du commerce des<br />

Europe'ens dans les deux Indes, Genf 1780, IV, S. 488 ff.<br />

4 Friedrich der Große, Werke, dt. hg. von G.B. Volz, Berlin 1912, Bd. 7, S. 267 f.<br />

(Kritik des 'Systems der Natur' von Holbach, 1770).<br />

5 Herodot, Hist. III, 79 ff.<br />

6 Wieland, Der Neue Teutsche Merkur, 2. Stük, März 1798, in: Sämtl. Werke, Leipzig<br />

1857, Bd. 32, S. 53 ff.<br />

7 Wieland, Das Geheimnis des Kosmopolitenordens (1788), Sämtl. Werke, Bd. 30, S.<br />

422.<br />

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8 Brief an Emil Ludwig, zit. nach Helmut Kreuzer, „Europas Prominenz <strong>und</strong> ein<br />

Schriftsteller", in: Süddt. Zeitung, 17/18.11.1962.<br />

9 Max Domarus, Hitler, Reden <strong>und</strong> Proklamationen, <strong>München</strong> 1965, Bd. 1/2, S. 760.<br />

10 Churchill, Rede im House of Commons am 27. Nov. 1932, in: Pari. Acts, 5. Ser.<br />

vol. 272.<br />

11 Thukydides, Gesch. des peloponnesischen Krieges, dt. von G.P. Landmann, Zürich<br />

<strong>und</strong> Stuttgart 1960, S. 431 ff. (V 85-115).<br />

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THE SOCIAL FOUNDATIONS OF MONETARISM AND "BASTARD"<br />

KEYNESIANISM: THE SHRIVELLING OF NEO CONSERVATISM<br />

Paolo Leon<br />

0. Introduction<br />

The concept of social (or societal) development is foreign to recent economic<br />

thinking. Even if economics are a science for which social realities are relevant<br />

only insofar as they determine a change in the basic postulates of economic<br />

theory — different in this from sociology, where social facts are the motivations<br />

for theorizing — during the last two decades the major schools of<br />

economic thought seem to have reverted to primitive social postulates,<br />

entirely static in conception. In what follows I shall describe the social<br />

tenets of today economics and I shall conclude with an attempt at explaining<br />

why economics has taken this particular route in the last few years. In<br />

order to <strong>und</strong>erstand the effective social postulates of economics, I shall<br />

describe the behaviour of economic agents according to two main schools<br />

of thought: the neo-keynesian (what Joan Robinson called "bastard"<br />

keynesianism) and the monetarist (taking due account of the rational expectations<br />

variant). There are, of course, other schools and many individual<br />

economists who cannot be assimilated to either of the two schools (disequilibrium,<br />

postkeynesian, neoricardian or marxian theories, just to reme<strong>mb</strong>er<br />

the most conspicuous) and, in fact, many of these have singularly<br />

rieh social postulates in the back of their thinking; and there are the eclectic<br />

ones (Malinvaud is an example) that slice reality so that it fits either pne or<br />

the other of the main theories; the point I want to make, however, concerns<br />

that part of economics which is predominant today in the definition of economic<br />

policies, or that which influences mostly conventional wisdom and culture.<br />

As will be seen, a few social coneepts — used inter alia by many sociologists<br />

— are not an original derivation from social theory applied to social facts,<br />

büt are a translation, often unconscious, of those economic theories.<br />

1. Macro- and microeconomics<br />

a) The monetarists<br />

For the most recent breed of monetarists, economic agents consider that<br />

prices are flexible, both in the short and in the long run, so that the market<br />

form is better described as tending to pure and perfect competition.<br />

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This 1 implies that the "mean expectation of firms with respect to some<br />

phenomenon — say price — is equal to the prediction that would be made<br />

by the relevant... economic theory or model" (Buiter, 1980) (Muth, 1961);<br />

"if Information is scarce and costly, the economic System cannot waste it;<br />

it is therefore natural that expectations are defined as exploiting at least all<br />

the Information linked to the variables that characterize the relevant model"<br />

(De Feiice — Pelloni, 1982). Slightly more formally, the rational expectation<br />

hypothesis (REH) is defined by the condition that "the subjective<br />

probability distribution of future economic variables held at time t, coincides<br />

with the actual, objective conditional distribution based on the Information<br />

assümed to be available at time t" (Lucas and Prescott, 1974).<br />

Behind this hypothesis there is, of course, a world of literature linked<br />

specifically to economic policies and in particular to monetary policies.<br />

The problem that the REH wants to solve is a real one: when the public<br />

decision makers establish a policy, then private economic agents will not<br />

be surprised by such policies; they will <strong>und</strong>erstand their effects and behave<br />

taking them into account so as to maximize profits. Since all economic<br />

agents maximize their (present and rationally expected) profits, public<br />

policies will be accepted if they are coherent with this behaviour; in other<br />

words, public policies cannot force what the market would not accept.<br />

Individuais can make mistakes, but there is no reason to suppose that<br />

mistakes are not distributed normally, so that all agents, as well as the<br />

economy at large, barring a stochastic error, will in fact maximize profits.<br />

The typical application of the REH is in monetary policies: when the<br />

Government increases money supply for the purpose of furthering economic<br />

activity, aiming for example at reducing unemployment, agents will<br />

react to the subsequent inflation initially believing that the price rise is<br />

relative to their Output rather than to the general price level; sooner or<br />

later, however, they will include in the available Information set the delusion<br />

deriving from such mistake, and will make correct price expectations; more<br />

importantly, if they are rational, they will operate on the basis of a model<br />

that teils them that those policies are inflationary. As the agents' model is<br />

a market Clearing one — and it will be, if they maximize their profits, as<br />

prices are considered flexible — there will never be any "money illusion"<br />

and all agents will be capable of calculating (correctly) expected values in<br />

real terms/As a result, monetary policies of an inflationary or of deflationary<br />

character will generally be ineffective (Sargent — Wallace, 1975).<br />

It has been objected that such behaviour is not applicable to fiscal<br />

policy: a tax is a tax, and cannot be double-guessed by agents (barring<br />

evasion). To counter this objection, monetarists have devised the following<br />

way out: a tax increase (decrease) will influence money suppley, decreasing<br />

(increasing) it, thereby influencing price level expectations. Public spending<br />

was a more difficult nut to crack: but monetarists think that private agents<br />

facing an increase in public spending will react expecting a future tax increase<br />

or a future growth in money supply. Intuitively, enterprises and<br />

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workers are dissimilar and may not be taken together <strong>und</strong>er the same expectation<br />

hypothesis. However, monetarists (Lucas and Rapping, 1969)<br />

consider that, for workers, leisure time provides Utility just as consumer<br />

goods do, so that consumption at any moment is composed of consumer<br />

goods and leisure time. Work time is the opposite of leisure time, and can<br />

be considered as "non consumption" of leisure time. Thus, anything which<br />

will stimulate an increase in consumption at the present time, will also<br />

stimulate to work less. Thus, labour supply will be a function of the interest<br />

rate, as this can be considered the price of leisure time at present in terms<br />

of future leisure time. Now, workers have the same rational expectations<br />

behaviour as enterprises and consider the wage rate no less flexible than any<br />

other price and a market Clearing price; thus any unemployment that the<br />

reality shows is voluntary: it derives from a conscious choice between leisure<br />

and work that, rationally, workers are making — both in the short and in<br />

the long run. Unemployment compensation, therefore, only makes for<br />

higher unemployment, as it reduces the "cost" of leisure time or, if we<br />

want, it reduces the interest rate applicable to workers.<br />

The social tenets of this school are clear and una<strong>mb</strong>iguous: a pure and<br />

perfect competition world of individual enterprises and individual suppliers<br />

of labor is in permanent (i.e. both short and long term) equilibrium due to<br />

the fact that these individuals have rational expectations, and consider all<br />

prices as flexible. They are always capable of redressing any external<br />

shock because they follow the profit maximization rule. Involuntary unemployment<br />

is impossible, not only because unemployment implies leisure<br />

time, but also because by lowering the demanded (real) wage workers can<br />

always find employment (the reduction may logically push wages to zero!).<br />

Marginal Utility of work is negative; so is — logically — the marginal Utility<br />

of employment; unemployed are those whose marginal Utility of consumption<br />

is higher than the marginal disutility of employment. Unused capacity<br />

is also impossible, as by lowering their prices (the reduction may imply<br />

negative prices, but this is excluded by postulate!) entrepreneurs can always<br />

seil the amount needed to maximize profits. Individual efficiency produces<br />

collective effectiveness, and supply determines demand. In this set-up,<br />

agents will find an equilibrium position at what monetarists call the "natural<br />

rate of unemployment", and this rate is resilient to whatever effort the<br />

Government will make with monetary policies (or fiscal or spending policies,<br />

as we have seen). Actually, a whole host of concepts acquires, in this way,<br />

a "natural" character; the "natural" rate of growth or of development, the<br />

"natural" distribution of income, the "natural" international division of<br />

labor, the "natural" rate of exchange, and, of course, the "natural rate of<br />

societal development", are all concepts that can be logically derived from<br />

this school of thought.<br />

Enterprises are price takers, just as workers, and no aggregate degree of<br />

monopoly is postulated. Equilibrium is considered a permanent Situation,<br />

and together with the assumptions of rational expectations of price flexi-<br />

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ility and of profit maximization, it makes the macro and micro levels<br />

coincidental. There is no reason to deal with aggregates, in this set-up, while<br />

reasoning on the basis of representative (profit-maximizing) agents provides<br />

an immediate picture of society as a whole. There is actually no need for<br />

the State, in this vision, as the perfect foresight (or rational expectations)<br />

of agents constitutes the only rational government. The State can exist, but<br />

it will create disequilibrium or, at best, will be useless.<br />

There is <strong>und</strong>oubtedly great elegance in this construction. As will be<br />

seen in discussing the neo-keynesian view, it does away with a great nu<strong>mb</strong>er<br />

of theoretical difficulties.<br />

There is no necessity in the monetarist world — only choice. Better,<br />

there is only one, all pervading, and slightly lunatic necessity: that of<br />

choosing. For this reason, this school has called itself the "New Classical<br />

Economics" 2 .<br />

Unfortunately, this vision is devoided of any rationality. The starting<br />

point is the market Clearing bias that would characterize agents' expectations.<br />

Why agents should so expect is unexplained. The only explanation<br />

for this hypothesis is that it would be desirable to agents (and to the economists<br />

observing them) if price flexibility could be considered rational.<br />

Thus, the assumption of perfect competition is not a simplifying hypothesis,<br />

it is rather "positive" in nature — and this destroys most of the<br />

monetarists claim to science. The problem is not that perfect competition<br />

is unrealistic: this is well known and accepted. Rather, perfect competition<br />

is viewed as a desired State of nature because it is a rational State. Since the<br />

monetarists' model derives from this assumption, it acquires the character<br />

of utopia.<br />

This explains well why the social thinking of monetarists is so static:<br />

social and economic development, even institutional change, are concepts<br />

that cannot be analysed with this theory. The profit maximization rule is<br />

also very naive. Economic agents are viewed as individuals, rather than as<br />

enterprises (otherwise there could not be any symmetry between enterprises<br />

and workers), and expectations are truly subjective: monetarists<br />

consider the enterprise as coincidental with the entrepreneur, not a social<br />

agent but an individual concern.<br />

There must, thus, be a "natural" enterprise (not simply a representative<br />

enterprise), as only this will Square with all the other "natural" concepts.<br />

Again, this is a "desired" enterprise, and its conception is therefore non<br />

scientific 3 .<br />

Next, the rational expectation hypothesis. This is nothing but a tautology.<br />

The agents' relevant model is the monetarists' model, and this is so —<br />

it is said — because they are rational; but this, at most, implies that rational<br />

is the theory not the behaviour. As rational is opposed to irrational, few<br />

economists have had the courage to criticize the tautology; none — to my<br />

knowledge — has pointed out that rational behaviour (in the sense defined<br />

above) is opposed to constrained behaviour: seen in this light, the tautology<br />

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is clearer. Actually, also rational expectations are "natural": once the<br />

market is defined as the monetarists do, these expectations have to be<br />

rational, otherwise the market would not be natural. Moreover, the relevant<br />

model needs "an additional sociological condition which entails perceived<br />

and actual unanimity of beliefs across all agents in the model" (Frydman<br />

and Phelps, 1983). In fact, testing statistically the REH has been fo<strong>und</strong><br />

a prohibitive task: "the assumption of optimal use of the available Information<br />

cannot be tested independently of an assumption about the available<br />

Information" (Buiter, 1980). In the end, the result of all this is entirely<br />

paradoxical. Crises, Stagnation, social misery do not really exist. If they<br />

are present, it can only be the result of State interference with what would<br />

otherwise be a natural Optimum equilibrium. But why isn't the State as<br />

"natural" as other agents? Why shouldn't there be "natural" institutions? 4<br />

Only by removing the social aspects of reality, monetarists can build their<br />

own specific "natural"-neutral world.<br />

b) The neo-keynesians<br />

Much of this thinking is a reaction to the neo-keynesian school that had<br />

developed an Interpretation of economic phenomena which, utilising some<br />

of Keynes' ideas, focused the attention on the labor market, represented<br />

by the well-known Phillips curve (Phillips 1958, Lipsey 1960, Samuelson<br />

and Solow 1960) . This is a relationship which makes money wages dependent<br />

inversely on unemployment; as money wages are considered the<br />

main source of inflation (cost-push inflation), that relationship was used<br />

to explain it: when unemployment decreases, money wages increase, and<br />

prices with them. Public policy, therefore, consists in determining the<br />

acceptable level of the couple inflation — unemployment. This construction<br />

was destroyed by the long period of Stagflation following the break between<br />

the dollar and gold (1968-71) and the oil crises (1973 to 1980) -<br />

as is well known, high unemployment went hand in hand with high inflation.<br />

Monetarists have objected to this hypothesis, because it is built on the<br />

basis of money-illusion: as workers are not fools (and bear rational expectations),<br />

they will reckon their wages in real terms; if increases in money<br />

wages bring about inflation, and no increase in real wages, they will either<br />

settle for wage indexation or stop contracting for higher money wages.<br />

Thus, the Phillips curve does not exist, there is no trade-off between<br />

unemployment and inflation, and the latter is never due to private economic<br />

agents, but to public policy, which increases money supply in order<br />

to fight unemployment (which, as we have seen, according to monetarists<br />

does not really exist).<br />

There is little doubt that the social vision of neo-keynesians was (and<br />

is) füll of deficiencies. Thus, to suppose that public policies do not engender<br />

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a reaction on the part of some economic agent is nonsensical. To suppose<br />

that, by and large, prices are determined by enterprises on the basis of a<br />

cost-plus formula is surely naive. The vision of an enterprise, busy in<br />

transferring almost freely cost increases onto price increases, makes all<br />

other enterprise objectives irrelevant: why bother with the application<br />

of technical progress, the pursuit of productivity increases, even the policies<br />

aiming at restricting competition (and which make a cost-plus pricing<br />

formula possible), if costs changes can be transferred onto prices? The<br />

entrepreneur's task becomes similar to that of a rentier, and the enterprise<br />

is reduced to a rent-producing function (in the thirties, when these models<br />

were built, profits were in fact called "quasi-rents"). Although this vision<br />

has been, in the past, important in dismantling the pure and perfect competition<br />

fable in economics, its shallowness preserves the same static<br />

nature of the competitive assumption. The role of the Trade Unions is<br />

similar to that of the enterprise: Trade Unions are monopolistic Operators<br />

no less than firms. However, while enterprises pass cost increases onto<br />

prices, the reasons for raising money wages on the part of Trade Unions<br />

are muddled up in neo-keynesians. Wages rise not because the cost (of<br />

subsistence) increases: in this, workers (organized or not) are not symmetrical<br />

to enterprises. Money wages rise because unemployment decreases<br />

or, if we want, because labor becomes a scarce factor of production. Thus,<br />

it is not the (original) monopolistic nature of Trade Unions that counts,<br />

but the emergence of a natural monopoly due to scarcity, and given to<br />

workers, not to their Organization. True, TU can create scarcity artificially<br />

(e.g. reduction of working hours) in order to increase wages . But this<br />

6<br />

cannot be considered the reason for a permanent phenomenon as the<br />

unemployment — inflation trade-off. Implicity, therefore, the neo-keynesians<br />

adopt a "wage f<strong>und</strong>" theory, or a theory in which income distribution<br />

is dominated by enterprise behaviour. There is a contradiction here,<br />

internal to the neokeynesian model: if money wages create inflation,<br />

so that — brought to the limit — all wage increases are purely nominal,<br />

then there is no reason for workers' organizations and TU loose legitimacy;<br />

inflation would therefore be attributable to a tragic mis<strong>und</strong>erstanding<br />

on the part of workers (who can forget, at this point, Citizen Weston?).<br />

The neo-keynesian theory can be considered an adhockery. In general,<br />

it is fo<strong>und</strong>ed on a weak autonomy of the enterprise role (simple transmission<br />

of general price level increases), and a strong autonomy of the<br />

workers' role (the demand of wage increases is independent from any<br />

causal factor); but in the end it turns the story aro<strong>und</strong>, Stripping workers<br />

of any power in real wage bargaining .<br />

7<br />

More generally, this theory does not establish any link with the growth<br />

of the economy. The stylized facts just mentioned can take place at any<br />

level of the rate of growth; thus, the growth of the economy (of its sectors,<br />

of productivity, of investment and consumption) is irrelevant. On the<br />

contrary, supposing that the maximum rate of growth is associated with<br />

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füll employment (a common hypothesis in economics), then maximum<br />

Output growth would generally be associated with maximum growth in<br />

prices. Füll employment and maximum growth are thus impossible —<br />

irrespective of any growth of productivity, of population, of markets,<br />

etc. and economics is brought back to its marginalist (i.e. non-keynesian)<br />

origin, by which scarcity is the determinant of price (and value). Neokeynesians<br />

do not originally accept this tenet — if it were so, Say's law<br />

would dominate, supply would create its own demand, and crisis, stagnations<br />

and cycles would not exist. For neo-keynesians, the only relevant<br />

scarcity lies in the labor force (an opinion common to Marxians, Sraffians<br />

and post-keynesians); but if the labor force became scarce only at (and<br />

not before) füll employment, economics would not be the science that<br />

studies the relationship between aims and scarce resources, and neo-keynesians<br />

would be forced to research further into what economics really<br />

is, risking some unpleasant findings related to the capitalist System. Much<br />

simplier is to suppose that the labor-force is "increasingly scarce" as unemployment<br />

decreases (a plausible way to reintroduce from the window<br />

what was pushed out of the door): since the labor force is scarce even<br />

before full-employment, its price will rise the nearer the market is to füll<br />

employment; and as wages determine prices, all prices will rise — thus,<br />

scarcity determines prices (and values), and Say's law is valid again. In<br />

this framework, neo-keynesians have no difficulty in considering labor<br />

less homogeneous than depicted tili now. The more numerous are the<br />

labor markets, the less substitutable is the labor force, the easier it is to<br />

sustain that labor scarcity appears much before the füll employment<br />

level. Trade Unions, in this case, can indeed be represented as monopolists,<br />

and money wages can be made to rise as the rate of growth of the economy<br />

increases. The favor with which the segmentation hypothesis has been<br />

accepted by many a sociologist (Doeringer/Piore, 1971) is perhaps areflection<br />

of the necessity of segmentation to salvage the Phillips curve, incomes<br />

policies and, in general, the role of Government as mediator between labor<br />

and capital (on which more, below). Incorporating the segmentation idea into<br />

the neokeynesian model justifies labor policies on education and training<br />

which, increasing the "specialization" of labor (reducing its homogeneity),<br />

make it scarcer and, also, reduce the (political) risk of mass unemployment.<br />

With this Interpretation, unemployment is as segmented (as specialized) as<br />

employment; more importently, it may be involuntary, but becomes voluntary<br />

(politically) if the Government provides training for increased mobility<br />

(specialization, segmentation): a social, mass phenomenon, can thus be<br />

(politically) reduced to a question of individual choice. It will be apparent<br />

that, in this way, neokeynesians can reduce considerably the gap separating<br />

their theory from the monetarists' — as both favor labor policies of a<br />

"structural" character or, in other words, destined to lower the natural rate<br />

of unemployment .<br />

8<br />

Neokeynesians have another difficulty to face, again, of a very general<br />

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nature. The Phillips curve aggregates workers' and firms' behaviours; thus<br />

the cost plus pricing formula is an average of the behaviour of different<br />

economic agents. The assumption is not incorrect: it refers to Kalecki's<br />

aggregate degree of monopoly, and may be considered a description of the<br />

macroeconomic supply equation. Unfortunately, it is gravely incomplete.<br />

Since it is not possible to sum up the differing behaviour of economic<br />

agents (the degree of monopoly varies greatly from sector to sector, place<br />

to place, commodity to commodity), aggregate quantities are interpreted<br />

a-posteriori (there is another tautology here) as showing an average, socialwide<br />

degree of monopoly; if the estimated equation fits well the Statistical<br />

data of those aggregate quantities, then the degree of monopoly will be<br />

that which has been econometrically estimated. The trouble is that if the<br />

estimate does not fit the data (as during the 1974 — onwards period),<br />

the theory has no gro<strong>und</strong> on which to rest: as there can be n (for n -> )<br />

00<br />

nu<strong>mb</strong>er of theories fitting the actual data just as well, the neo-keynesians<br />

have constructed for themselves an impossible task, because they multiply<br />

their opponents. Part of the trouble lies in the neo-keynesians' oblivion<br />

of the effective demand problem — Keynes' central point. If demand is not<br />

always assured (in the amount needed to utilize fully productive capacity,<br />

including labor), then it will never be possible to sum up the behaviour<br />

of individual agents to obtain the economy as a whole. In other words,<br />

when unemployment (involuntary) is present and capital is <strong>und</strong>erutilized,<br />

society is not the sum of its components. Both Sraffa (1925) and Keynes<br />

(and Rosa Luxe<strong>mb</strong>urg) show this well, when they argue that production<br />

costs (average and marginal) decrease when demand increases, or that<br />

returns (to scale, to investment or to the increased application of one<br />

factor of production) are normally constant or increasing .<br />

9<br />

In these conditions, each enterprise does not know that its unit costs<br />

depend on aggregate demand, and cannot act to increase it; it lacks role,<br />

objectives and means to make an increase in aggregate demand part of its<br />

own decision making process and this has not changed with the advent<br />

10<br />

of the Weifare or Interventionist State.<br />

Industrial sociologists would be surprised in knowing that economics<br />

admits only the term "efficiency", not that of "effectiveness". Subsumed<br />

is the concept that if all enterprises are efficient, the economy will also<br />

be effective. This is not true, since Sraffa and Keynes, for whom social<br />

effectiveness is not assured by individual efficiency. If society is not made<br />

up by the sum of its components, then it is not possible to extract social<br />

rules or laws by observing (and adding) economic agents, and macroeconomics<br />

(or society) is autonomous and original vis-a-vis microeconomics<br />

or its social components. This applies, of course, to social development<br />

as well as to social structures. But this is an extremely difficult stricture<br />

for any economist: the proof is in the development of keynesian thinking,<br />

since the beginning forced to adhere to principles unfamiliar to its originator,<br />

or in the forgetfulness to which the first Sraffa was condemned.<br />

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To sum up. The neokeynesians believe that individuals, added up, make<br />

society as a whole; individual enterprises enjoy a degree of monopoly sufficient<br />

to pass increases onto prices; workers are permanently eager to<br />

increase money-wages, even though their own costs are not increasing.<br />

Society, therefore, does not develop. The State is needed, as a new economic<br />

agent, to mediate between workers and entrepreneurs by choosing<br />

the "consensus" trade-off between inflation and unemployment. If the<br />

latter increases in spite of this mediation, then for neokeynesians it will be<br />

structural in character and will require "ad hoc" policies — technical training<br />

and education, new technology, microcomputers, the tertiary sector, and<br />

a whole host of "ersatz" concepts. It will be noticed that for neokeynesians<br />

the only real social role is that of the State as a mediator; enterprises and<br />

workers are social Operators justifying each other, and their difficulties in<br />

reaching long term agreements (a difficulty which has no social fo<strong>und</strong>ation<br />

in neokeynesians' thinking) in turn justifies the State — whose existence,<br />

however, is again not expressly based on any social fo<strong>und</strong>ation.<br />

This is neither a world of necessity nor a world of choice: necessity<br />

apparently lies in the mutual roles of enterprises and workers, but both<br />

these subjects are viewed microeconomically. Although neokeynesians<br />

attribute a macroeconomic role to the conflict between those two agents,<br />

the transition from micro to macro does not take place anywhere explicity<br />

(this is also a problem for those sociologists who Substitute the State role<br />

with a postulate — complexity — whose necessity is not theoretically fo<strong>und</strong>ed).<br />

Society is thus not given a role of its own, and even the State — being<br />

a mediator — is seen as just another economic agent. In this case, the monetarists<br />

gain momentum: a natural—rational State is a neutral State, an<br />

economic agent like any other.<br />

2. Money & society<br />

The centerpiece of the economic debate — it is now quite evident — is money.<br />

True, the relationship between aggregate demand, supply curves, prices and<br />

income distribution is also central. But as the microeconomics of these<br />

relationship has not been researched into, this set of relationships has not<br />

been really debated. Money, instead, is a topic that was studied starting at<br />

the micro level. Keynes' revolution, in the '30s, was built on a new vision<br />

of money in the economic process: different from the classics, keynesian<br />

thinking viewed money not only as a means of exchange, but also as object<br />

of speculation. Money is a störe of value, because only money can transfer<br />

purchasing power from the present into the future; other assets (financial<br />

or real) cannot be made available directly, they have to be exchanged with<br />

money in order to free the purchasing power they represent. As money is<br />

always perfectly liquid (i.e. immediately realizable in assets or in commodities),<br />

it is the best means to störe wealth, also because it is riskless — in<br />

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the sense that the future price of assets other than money is uncertain.<br />

True, in periods of inflation, uncertain will also be the value of money; but<br />

this uncertainty is common to money and to all other assets; the latter will<br />

show, thus, a double uncertainty: that which derives from their illiquidity,<br />

and that which derives from inflation. It is known why money — its nature<br />

of störe of value — represented such an important part in Keynes' interpretation:<br />

demand and supply of money determine the interest rate (if<br />

people save, keeping their savings in the mattress, nobody pays them an<br />

interest rate), this determines investment, and investment determines effective<br />

demand and national income. If money did not exist, supply and<br />

demand of commodities will always balance by definition: barter can only<br />

take place between existing commodities. Thus, supply determines demand,<br />

in a barter world. With money, aggregate demand could stagnate at less<br />

than füll employment, because the public might prefer liquidity, such that<br />

the interest rate would be too high to ensure füll employment. In other<br />

words, liquidity preference is not in any way linked — through some equilibrating<br />

mechanism — to the maximum level of Output or of employment.<br />

Also, savings are not brought to equality with investment through the<br />

interest rate, which is only the price of money in terms of other assets; as<br />

a result, there can be, at any time, ex ante discrepancies between (planned)<br />

savings and investment, creating conditions of insufficient (or excessive)<br />

investment. In fact, one of Keynes' main novelties is in the recognition that<br />

it is the level of income (output) that brings to equality savings and investment;<br />

or, in different terms, that savings are determined by income (output),<br />

rather than the other — and more orthodox — way ro<strong>und</strong> 11 .<br />

Keynes was indeed skeptical as to the relationship between the interest<br />

rate and investment — in the sense that in his mind there was no assurance<br />

that a lower (higher) interest rate would stimulate (depress) investment and<br />

employment. His consideration of uncertainty, and of the behaviour of enterprises,<br />

led him to prefer fiscal and public expenditure means (all the way to<br />

the "socialization" of investment) to monetary means.<br />

However, it was mainly on money that the discussion centered. To many<br />

neokeynesians, money as a störe of value, different from others assets, represented<br />

the true obstacle to remove from the theory, if the traditional<br />

consideration of the economy as a self-equilibrating mechanism was to be<br />

reconstructed. If a central feature of society, such as the demand for money,<br />

could be held responsible for crises and Stagnation and if savings are a residual,<br />

rather than the cause, of investment, then the economy would be<br />

prone to public policy, State Intervention, politics — and economics would<br />

became more a practical, or moral activity than the object of truly scientific<br />

Observation. A rieh literature developed which brought neokeynesians to<br />

place money alongside other financial assets, each characterized by differing<br />

degrees of liquidity, risk (rather than uncertainty) and interest premia so<br />

that economic agents could optimize the distribution of wealth among different<br />

assets. In this manner, economic agents would manage their port-<br />

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folios — including money — and no central speculative role could be attributed<br />

to money. In addition, savings were considered the stuff which creates<br />

portfolios — by definition including all financial assets. Therefore, the interest<br />

rate is not the price of money, but of all assets (in terms of commodities) and<br />

of savings; moving the interest rate would move the volume of savings: in this<br />

way, the interest rate becomes the price of savings in terms of consumer goods,<br />

or the old premium for abstinence, and abstinence the cause of development.<br />

Monetarists went a step further, and included in the realm of each<br />

agent's choice all assets, financial as well as real, completing the neokeynesians<br />

job: in this manner, no special motivation for keeping money as a<br />

störe of value is recognized, and all wealth is substitutable with money.<br />

There may be different uncertainties attached to different forms of wealth<br />

— but as agents have rational expectations based on the relevant model,<br />

and if (because) the model is that which does not recognize to money any<br />

other function than that of means of exchange, Keynes' intuition was<br />

destroyed. Money is neutral, and does not interfere with the real forces<br />

that determine (and automatically restore) equilibrium 12 .<br />

This discussion seems far removed from social reality and from social<br />

development. It is only an appearance. It will be evident by now that the<br />

focus of Keynes' research was the justification of State Intervention — as a<br />

social, macroeconomic necessity. He tried to break the strictures of orthodoxy<br />

working on macroeconomic quantities and building a model to show<br />

that no natural mechanism exists to produce füll employment, nor coincidence<br />

between macro and micro levels. Neo-keynesians and monetarists,<br />

although through different paths, work to show exactly the contrary.<br />

3. Conclusion<br />

The problem is to <strong>und</strong>erstand why the return to orthodoxy in recent times<br />

or what has pushed so many economists to overturn Keynes' research program.<br />

Of course, Keynes never ceased to face harsh opponents: this can<br />

simply be attributed to ideological and political biases and does not explain<br />

the recent popularity of antikeynesianism.<br />

In fact, however, economic reality has changed. While Keynes was<br />

viewing the socialization of investment as the stabilizing force in the economic<br />

and social System, his followers have rationalized a different type<br />

of State Intervention — the Weifare State — the essence of which was less<br />

in providing effective demand for füll employment than in mediating the<br />

conflict between enterprises and workers. There is considerable difference<br />

between these avenues for State Intervention — and political scientists as<br />

well as sociologists have delved on it at length.<br />

From an economic point of view, the difference lies in the effects of<br />

the two alternative programs. Socializing investment implies stabilizing<br />

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effective demand as determinant of Output, employment and income.<br />

Spending on welfare affects the Standard of living and, therefore consumption,<br />

which is, however, a function of employment and income. While<br />

socializing investment creates profit and savings, and Substitutes market<br />

forces, welfare sustains consumption and provides room for market forces.<br />

The preference afforded to welfare spending, in turn, was the result of postwar<br />

development strategies, based on expanding international free trade,<br />

rather than socializing national investment, which created the need for<br />

balance of payments policies and therefore for State policies of mediation<br />

(to control competitiveness). Unfortunately, when the bases of international<br />

development collapsed (the break of the Bretton Woods agreement<br />

on international liquidity and trade), State mediation became aimless<br />

(zero-sum game), and the role of the State lost legitimacy.<br />

This has not prevented the continued presence of the Welfare State —<br />

although its essence has changed. With low and fluctuating international<br />

demand, the rate of growth of each economy has been low and fluctuating<br />

— and welfare expenditure has not been able to either increase or stabilize<br />

the rate of growth. Actually, the negative economic results cannot be<br />

imputed to welfare: this Supplements household consumption, but total<br />

household consumption is determined by household income; thus, other<br />

income sources, rather than welfare, will determine the propensity to consume,<br />

the multiplier and the effects on the economy. When the economy<br />

does not grow and fluctuates, labor demand will not grow and fluctuate.<br />

Now, welfare can be seen as a means to provide greater contractual power<br />

to the unemployed, when labor demand is present; but when labor demand<br />

is absent, welfare becomes similar to charity (there is no social exchange<br />

justifying it) and this — contrary to what Job search economists think —<br />

reduces, rather than increases, the contractual power of the unemployed;<br />

the nature of the mediation effected by the State changes substantially,<br />

and the role of the State is diminished.<br />

Furthermore, welfare expenditure gives rise to welfare institutions.<br />

These are built, from the beginning, with two objectives: one — common<br />

to all institutions — is to provide effective demand to the economic System<br />

(effectiveness); the other, constitutive the Institution, to spend government<br />

f<strong>und</strong>s (efficiently — in the sense of making the public institutions viable;<br />

not in the market sense). When public policy is of a mediating character,<br />

the "effectiveness" objective becomes less relevant than the "efficiency"<br />

objective: there will be a progressive tendency of institutions to prefer<br />

"efficiency" to effectiveness — or, in other words, to reinforce their specific<br />

vis-a-vis of their general role. This, in turn, will exercise pressures on Government<br />

budgets, favoring financial transfers to welfare institutions vs. expenditure<br />

on goods and Services, so that — in the end — Government<br />

deficits may paradoxically grow due to greater "efficiency" (i.e. autonomy)<br />

of welfare institutions. It is as if a "public market" is created, where institutions<br />

behave as private enterprises enjoying a degree of monopoly in the<br />

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sense that they can influence demand (welfare transfers), and a degree of<br />

monopsony in the sense that they can influence supply (government welfare<br />

financing). The result of all this is that füll employment will not be<br />

assured, as — again following Keynes — there is no reason to suppose that<br />

market forces (or autonomous social behaviour) produce necessarily füll<br />

employment (or effectiveness). Two outcomes are then logically possible:<br />

the first is that Government will find it ever more difficult to obtain fuller<br />

employment by increasing welfare expenditure, if the market does not<br />

produce füll employment by itself; the second is that the egalitarian motivations<br />

behind welfare gradually change to charity motivations.<br />

Society will soon find that welfare is economically and socially useless,<br />

while the market is the real force that determines (less than füll) employment.<br />

Neokeynesians sensed this, and thought that a policy to minimize<br />

wages, compensated by welfare, could stimulate private investment — a<br />

mediation which however lacks the power to oblige enterprises to accumulate,<br />

and leaves to market forces the determination of investment and<br />

employment. Monetarists, more radically, throw away welfare and recognize<br />

the powers of the market ("natural" social behaviour; or the "natural"<br />

development thereof). They negate any strength to the multiplier — not<br />

only of welfare expenditures, but of all autonomous expenditures — thus<br />

freeing the market from any links with public policy.<br />

The Welfare State, so modified or reduced, opens up new vistas, not<br />

particularly optimistic, for societal change. As it tends to become charity<br />

on the one hand, and to reinforce the "efficiency" of public institutions<br />

on the other, while leaving market forces free to operate and to create<br />

stable long-term unemployment, somewhere in the social System a new<br />

class division may appear. What we thought in the past were signs of social<br />

progress — the development of mass movements based on voluntary aggregation<br />

and formed outside the institutional set-up — may yet be interpreted<br />

as a spontaneous adaptation of society to the liberation of market<br />

forces, the disgregation of the welfare State, the reproduction of a divided<br />

society, based on mass unemployment, crises and slow economic growth.<br />

Economists, as intellectuals, have simply sensed this societal change —<br />

and have used their tools to justify it. If saddened by our role, it is nevertheless<br />

fascinating to see the mechanisms at work: wehave,infact, witnessed<br />

the social creation of ideology. As an economist, I would welcome sociologists<br />

interested in examining — in corpore — the sociology of ideology.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Not all monetarists adhere to the rational expectation hypothesis (Frydman-Phelps,<br />

1983); they fear that such hypothesis is "closer in spirit to a planned economy than<br />

to a decentralized market, due to the relevant model" (q.v.).<br />

2 Some reference to Smith, Ricardo, Malthus or Marx, due to the "natural" concepts;<br />

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ut mostly the reference is to the liberal economic school that Keynes, with a misnomer,<br />

called "the Classics". This school is essentially anti-keynesian, and has<br />

decided to dress the colors of Keynes' enemies. Although extremist, this school is<br />

academically well accepted. And because it is extremist, it appeals to extreme<br />

liberals — including those that feel the urge to "change the System". It is not uncommon<br />

today to find similar extremists in the "left wing": they generally don't<br />

know the cultural roots of their own extremism.<br />

3 Although less appealing than the perfect competition utopia. The "natural" enterprise<br />

is totally autocratic, does not distinguish between the owners of the enterprise<br />

and its managers, and all its components can be measured in price terms and<br />

disaggregated at will.<br />

4 This, by the way, is a problem for those politicians in Government that profess neomonetarist<br />

principles: they would have to be continuously self-effacing; but in<br />

order to make their ideas believed they have to exercise force, much beyond what<br />

would be natural. Thus, we have liberalism by "diktat" in Great Britain, and a<br />

Shacht-type keynesianism in the U.S.<br />

5 I shall not quote the immense literature on the Phillips curve. Suffice it to say that<br />

all neo-keynesians have subscribed it (Samuelson, Solow, Modigliani, Tobin) as well<br />

as some post-keynesians (Kahn) and even young marxists (Rawthorne) — the latter<br />

taking the inflation-unemployment trade-off as a sign of class struggle.<br />

6 If so, and contrary to monetarist opinion, real wages will increase, due to the quasirent<br />

accruing to a labor monopoly.<br />

7 Keynes, in fact, recognized that workers can only determine money wages, while<br />

real wages are determined by enterprises — that control prices. This did not mean,<br />

however, that real wages are considered as given: Keynes' point was intended to<br />

show that effective demand could not be systematically sustained by an increase<br />

in money wages.<br />

8 It is interesting to note that the term "structural" has completely changed meaning<br />

over the last two decades: it was originally associated, with reference to unemployment,<br />

to <strong>und</strong>erdeveloped areas, where the problem was recognized as being rather<br />

that of accumulation than of a lack of effective demand; this justified aid policies<br />

in favor of such areas — a "progressive" idea. Today, the term "structural" is<br />

applied to well developed economies, in order to justify the recent, large unemployment<br />

rates; if unemployment is structural only faster accumulation can remedy it,<br />

and this will take place only if the rate of profit is sufficiently high. In this manner,<br />

a redistribution of income against wages and in favor of profits becomes the best<br />

means to reduce "structural" unemployment. Monetarists are slightly less naive,<br />

as they leave to enterprises' decisions to determine what is the natural rate of unemployment;<br />

but there is no doubt that if the "natural investment rate" rises, then<br />

also the natural employment rate will rise. As an aside, let us remind ourselves that<br />

if both developed and <strong>und</strong>erdeveloped areas have structural or natural unemployment,<br />

the case for an aid policy in favor of the latter becomes very weak — both<br />

areas will be considered as differing due to "natural" causes.<br />

9 This implies that the (cost) supply curve of each enterprise is not increasing (Jossa,<br />

1981) and that the demand curve for each product does not contribute to determining<br />

prices, which therefore reflect production costs. In the economic System,<br />

then, effective aggregate demand determines aggregate supply, but individual supply<br />

curves determine prices. If aggregate (not the specific commodity's) demand could<br />

be shown to influence all individual supply curves — in the sense that unit cost<br />

curves will decline (rise) more the greater is the increase (decrease) in aggregate<br />

demand (Leon, 1981) — then the change in aggregate demand, through individual<br />

firms' cost curves, would have an influence on prices and, therefore, on income<br />

distribution. Sraffa (1960) showed that income distribution is determined outside<br />

the economic System ( he thought that the interest rate, via the keynesian liquidity<br />

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preference, might play a role) — but his System is static (or post-hoc). Since his<br />

f<strong>und</strong>amental contributions, anti-keynesians and anti-monetarists are groping in the<br />

research of an alternative description of the System.<br />

10 Fordism, as Gramsci indicated, is not a proof to the contrary; Ford thought that an<br />

increase in wages, if generalised to all employers, would have increased demand and<br />

aggregate output; but he did not increase the wages of his workers hoping to obtain<br />

that result.<br />

11 The manner in which Keynes made savings dependent on income, rather than determining<br />

it, was through a consumption function, in turn dependent on income.<br />

Both neokeynesians and monetarists have tried to improve on the consumption<br />

(and saving) function, building it as the sum of individual preferences which take<br />

into account household wealth and optimizing consumer behaviour. Neokeynesians<br />

(Modigliani — Brunberg, 1954 and Modigliani — Ando, 1963) have introduced<br />

financial wealth, the present value of future expected wage income and, therefore,<br />

an interest rate — in this way, the interest rate is again the price of savings (abstinence)<br />

and the traditional mechanism to reinstate (full-employment) equilibrium.<br />

Monetarists (Friedman, 1957) make individual consumption (and savings) a function<br />

of the present value of present and future income introducing again the interest<br />

rate as an explanatory variable, reaching results similar to the neo-keynesians.<br />

It is paradoxical that, econometrically, Keynes' traditional function Stands very<br />

well to tests; however "it does not Square well with the diffuse opinion (sie) according<br />

to which the share of savings should be independent of income" (Frasca<br />

et. al. 1979).<br />

12 It is interesting to note that in this voyage toward orthodoxy a new coneept appears:<br />

wealth. This a rather mysterious coneept, in economics, shrouded in partial<br />

definitions, and given more to intuition than to logic. Wealth is not capital — it is<br />

more a financial than an economic term. As it represents the sum of assets and<br />

liabilities, in the absence of the State wealth should be zero for the society at<br />

large — debts equalling credits. It may not be zero if the State issues debt which<br />

will not be redeemed — but since many orthodox theories are framed in a stateless<br />

environment, there is little sense in speaking of wealth for society. As a financial<br />

coneept, wealth can acquire different forms, and the history of financial markets<br />

has created, and is creating, ever new forms of assets representing wealth. In this,<br />

there is certainly a type of social development. But the (social) necessity for the<br />

innovation in wealth has not been discussed in economics. A few keynesians (Minsky<br />

1977) think that money is also endogenous (agents are capable of producing<br />

money-type assets even in the absence of the State issuing legal tender), and the<br />

new forms of wealth are simply the result of the market trying to overcome monetary<br />

restrictions of Governments and banks. This creates havoc for monetarists,<br />

and many neo-keynesians, because while it shows that money is wealth, it also<br />

shows that money is a peculiar form of wealth.<br />

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The Crisis in Economic Theory, Basic Book, New York, 1981.<br />

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GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG ODER ENTWICKLUNG DES<br />

WELTSYSTEMS?*<br />

Immanuel<br />

Wallerstein<br />

Das Thema dieses Deutschen Soziologentags ist „Soziologie <strong>und</strong> Gesellschaftliche<br />

Entwicklung". Dieser Titel enthält zwei der allgemeinsten, der<br />

zweideutigsten <strong>und</strong> trügerischsten Worte im soziologischen Wortschatz:<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Entwicklung. Deshalb habe ich den Titel meines Vortrags<br />

in Form einer Frage gestellt: Gesellschaftliche Entwicklung oder Entwicklung<br />

des Weltsystems?<br />

Gesellschaft ist natürlich ein alter Begriff. Das Oxford English Dictionary<br />

gibt dafür zwölf verschiedene Hauptbedeutungen, von denen nur zwei für<br />

unsere Diskussion am wichtigsten erscheinen. Eine ist "the aggregate of<br />

persons living together in a more or less ordered Community". Die zweite,<br />

nicht sehr unterschiedliche, ist "a collection of individuals comprising a<br />

Community or living <strong>und</strong>er the same Organization of government". Das<br />

Oxford English Dictionary hat den Vorzug eines historischen Wörterbuchs<br />

<strong>und</strong> gibt folglich auch die erste nachgewiesene Verwendung an. Die ersten<br />

Belege in diesem Sinne finden sich 1639 bzw. 1577, also zu Beginn des modernen<br />

Zeitalters.<br />

Beim Nachschlagen deutscher Wörterbücher finde ich, daß der Große<br />

Duden (1977) folgende relevante Definition anbietet: „Gesamtheit der<br />

Menschen, die unter bestimmten politischen, wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen<br />

Verhältnissen zusammen leben", unmittelbar ergänzt durch folgende<br />

Beispiele: „die bürgerliche, sozialistische, klassenlose Gesellschaft". Das<br />

Wörterbuch der Deutschen Gegenwartssprache (1967), in der DDR veröffentlicht,<br />

enthält eine ziemlich ähnliche Definition: „Gesamtheit der unter<br />

gleichartigen sozialen <strong>und</strong> ökonomischen sowie auch politischen Verhältnissen<br />

lebenden Menschen", gefolgt von mehreren Beispielen, einschließlich:<br />

„die Entwicklung der (menschlichen) Gesellschaft...; die neue sozialistische,<br />

kommunistische Gesellschaft; die klassenlose Gesellschaft...; die<br />

bürgerliche, kapitalistische Gesellschaft". Dieser Definition ist die Anmerkung<br />

„ohne Plural" vorangestellt.<br />

Wenn man nun diese Definitionen näher betrachtet, die sicherlich typisch<br />

für das sind, was man in den meisten Wörterbüchern der meisten Spra-<br />

Für die sehr hilfreichen Kommentare zu einem früheren Entwurf dieser Arbeit, die<br />

zur Klarstellung meiner Argumentation wesentlich beigetragen haben, möchte ich<br />

an dieser Stelle Terence K. Hopkins meinen aufrichtigen Dank aussprechen.<br />

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chen finden würde, dann bemerkt man eine merkwürdige Anomalie. Jede<br />

dieser Definitionen bezieht sich auf eine politische Komponente; dies<br />

anscheinend impliziert, daß jede Gesellschaft innerhalb eines spezifischen<br />

Sets politischer Grenzen existiert, obwohl die Beispiele gleichfalls andeuten,<br />

daß eine Gesellschaft durch weniger spezifische <strong>und</strong> mehr abstrakte Phänomena<br />

definiert eine Art von Staat ist; wobei das zuletzt erwähnte Wörterbuch<br />

ausdrücklich „ohne Plural" hinzufügt. In diesen Beispielen wird<br />

„Gesellschaft" durch ein Adjektiv modifiziert, <strong>und</strong> diese Verbindung von<br />

Substantiv <strong>und</strong> Adjektiv beschreibt eine Art von Struktur, die eine „Gesellschaft"<br />

im anderen Sinne, dem der politisch begrenzten Entität, habe.<br />

Dieser leztere Gebrauch des Wortes Gesellschaft kann dann einen Plural<br />

haben, während der erstere dies nicht duldet.<br />

Vielleicht sehen Sie hierin keine Anomalie. Ich möchte jedoch damit<br />

beginnen, die Eingangsbemerkung eines der ersten ernsthaften Versuche,<br />

dieses Thema in der modernen Sozialwissenschaft zu behandeln, zu unterstreichen.<br />

Es ist ein deutscher Versuch — Lorenz von Stein's längst vergessenes<br />

Werk „Der Begriff der Gesellschaft <strong>und</strong> die soziale Geschichte<br />

der Französischen Revolution bis zum Jahre 1830". Stein schreibt in der<br />

Einleitung: „Der Begriff der Gesellschaft gehört ... zu den schwierigsten<br />

in der ganzen Staatswissenschaft..." (1959,1, 12).<br />

Warum spricht Stein von Gesellschaft als von einem Begriff der Staatswissenschaft?<br />

Sicher ist eine Antwort darauf, daß der damals in Deutschland<br />

übliche Fachausdruck Staatswissenschaft, den Bereich der heute in<br />

Deutschland so genannten Sozialwissenschaften mit einbezog, obgleich<br />

die Grenzen beider nicht identisch sind. Der Gebrauch des Wortes Staatswissenschaften<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert in Deutschland, nicht jedoch in England<br />

oder Frankreich, ist selbst ein bedeutsames Phänomen, das ein Verständnis<br />

der Sozialwissenschaften vom Standpunkt der Überlegenheit eines, wie<br />

ich es nennen würde, semiperipheren Staates außerhalb des Kulturkreises<br />

der Hegemonialmacht widerspiegelt. Dies ist jedoch nicht die vollständige<br />

Antwort. Gesellschaft ist ein Begriff der Staatswissenschaft, <strong>und</strong> „der<br />

schwierigste", weil, wie aus Steins Werk selbst hervorgeht, der Begriff<br />

„Gesellschaft" seine Bedeutung für uns primär (sogar ausschließlich)<br />

in der klassischen Antinomie Gesellschaft/Staat hat. Und diese Antinomie<br />

hat ihrerseits ihren Ursprung im Versuch der modernen Welt, die ideologischen<br />

Implikationen der Französischen Revolution in den Griff zu bekommen.<br />

Schon vor 1792 waren Könige abgesetzt <strong>und</strong>/oder durch Rebellionen<br />

zur Änderung der verfassungsmäßigen Struktur ihres Regimes gezwungen<br />

worden. Die Legitimation solcher Veränderungen war jedoch vorher in der<br />

Existenz einer oder mehrerer unrechtmäßiger Handlungen des Monarchen<br />

gesucht worden. Die Französische Revolution jedoch war auf dieser Basis<br />

nicht gerechtfertigt oder wurde zumindest nicht so gerechtfertigt. Statt<br />

dessen proklamierten die Revolutionäre nachdrücklich als neue Moral oder<br />

strukturelle Gr<strong>und</strong>lage der Legitimität den Begriff des 'Volkswillens'. Wie<br />

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wir wissen, überrollte dieses theoretische Konstrukt die Welt in den folgenden<br />

zwei Jahrh<strong>und</strong>erten nach der Französischen Revolution, <strong>und</strong> es gibt<br />

heute wenige, die dies bestreiten, trotz all der Versuche der konservativen<br />

Theoretiker von Burke <strong>und</strong> de Maistre an, diese Doktrin herabzusetzen,<br />

<strong>und</strong> trotz der zahlreichen Fälle, in denen die Volkssouveränität de facto<br />

ignoriert wurde.<br />

Die Theorie, daß die Souveränität beim Volke liegt, wirft zwei Probleme<br />

auf. Erstens müssen wir wissen, wer <strong>und</strong> wo das Volk ist, d.h., wer<br />

die „Bürger" eines „Staates" sind <strong>und</strong> sein sollten. Ich erinnere Sie daran,<br />

daß das Kernwort der ehrfürchtigen Anrede auf dem Höhepunkt der<br />

Französischen Revolution das Wort „Citoyen" war. Der „Staat" jedoch<br />

trifft die Entscheidung, wer die „Bürger" sind, <strong>und</strong> vor allem entscheidet<br />

er, wer die vollwertigen Mitglieder des Gemeinwesens sind. Selbst heute<br />

ist nicht jeder in einem Staat lebende Mensch ein Bürger dieses Staates<br />

oder ein Wähler in diesem Staat. Die zweite Frage ist, wie man den Willen<br />

des Volkes erkennt. Dies ist sogar noch schwieriger als das erste Problem.<br />

Es ist wohl nicht sehr übertrieben, wenn ich behaupte, daß sich ein sehr<br />

großer Teil des historisch <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Unternehmens im<br />

19. <strong>und</strong> 20. Jahrh<strong>und</strong>ert mit der Lösung dieser zwei Fragen beschäftigte,<br />

<strong>und</strong> daß das wichtigste dafür benutzte begriffliche Werkzeug die Idee ist,<br />

daß da eine Sache genannt „Gesellschaft" existiert, die durch ein verwickeltes<br />

— teils sy<strong>mb</strong>iotisches, teils antagonistisches — Verhältnis mit etwas, das<br />

„Staat" genannt wird, verknüpft ist. Wenn Sie dennoch wie ich das Gefühl<br />

haben, daß wir diese zwei Fragen nach ungefähr 150 Jahren nicht sehr<br />

gut gelöst haben, so liegt die Ursache vielleicht darin, daß wir uns nicht<br />

sehr adäquate begriffliche Werkzeuge geschaffen haben. Wenn dies der<br />

Fall ist, dann sollte man analysieren, warum dies geschehen ist: hierzu<br />

will ich kommen.<br />

Lassen Sie uns einen kurzen Blick auf das andere Wort des Titels,<br />

auf das Wort „Entwicklung", werfen. Auch Entwicklung hat sehr viele<br />

Bedeutungen. Die ihrem Gebrauch nach bei uns wichtigste im Oxford<br />

English Dictionary lautet wie folgt: „the growth or unfolding of what<br />

is in the germ: (b) of races of plants and animals." Das Oxford Englisch<br />

Dictionary verfolgt diesen Gebrauch nur bis 1871 zurück, bis zu einem<br />

sozialwissenschaftlichen Werk, Tylors Primitive Culture, Vol. I. Tylor<br />

wird wie folgt zitiert: „Its various grades may be regarded as stages of<br />

development or evolution, each the outcome of previous history" „Entwicklung",<br />

fügt das OED noch hinzu, ist „the same as Evolution".<br />

In deutschen Wörterbüchern finden wir etwas Ähnliches. Der Große<br />

Duden scheint fast jeden Gebrauch in unserem Sinne zu vermeiden, bis<br />

er zur Zusammensetzung „Entwicklungsgesetz" kommt, welche — wie<br />

er sagt — sich auf „Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft" bezieht. Das DDR Wörterbuch<br />

behandelt die Sache ebenfalls indirekt, mittels eines Beispiels,<br />

„die kulturelle, <strong>gesellschaftliche</strong>, geschichtliche, politische, ökonomische,<br />

soziale Entwicklung unseres Volkes."<br />

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Die englischen Definitionen erklären vollauf, wie eng dieser Gebrauch<br />

in der Sozialwissenschaft mit der Doktrin der biologischen Evolution verknüpft<br />

ist, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts entstand. Dies<br />

gilt selbstverständlich auch für die deutschen Definitionen. Das Duden<br />

Fremdwörterbuch definiert die „Evolutionstheorie", eine direkte Anleihe<br />

aus dem Englischen, wie folgt: „Theorie von der Entwicklung aller Lebewesen<br />

aus niedrigen, primitiven Organismen."<br />

Wenn wir nun die beiden Worte verbinden, wie bei der Benennung dieses<br />

Kongresses (auf keinen Fall unüblich), <strong>und</strong> wir von „Gesellschaftlicher<br />

Entwicklung" sprechen, dann beschäftigen wir uns offensichtlich damit,<br />

wie sich eine Entität (eine Entität, die nicht der Staat ist, die jedoch nicht<br />

vom Staat getrennt ist <strong>und</strong> gewöhnlich mehr oder weniger die gleichen<br />

Grenzen mit ihm teilt) im Laufe der Zeit von einem niedrigen in einen höheren<br />

oder „komplexeren" Zustand entwickelt hat.<br />

Wo ist also der „Keim", von dem man diese Evolution ableiten kann,<br />

<strong>und</strong> wie weit muß man zurückgehen? Ich möchte kurz zwei mögliche Beispiele<br />

einer „Gesellschaft" erwähnen <strong>und</strong> einige naive Fragen dazu stellen.<br />

Ein Beispiel ist die deutsche Gesellschaft. Das zweite Beispiel ist die Gesellschaft<br />

Puerto Ricos. Es ist nicht meine Absicht, die reichhaltige Literatur gelehrter,<br />

öffentlicher Debatten zu diesen beiden Beispielen nochmals durchzugehen.<br />

Dies wäre eine monumentale Aufgabe im Falle des deutschen Beispiels,<br />

<strong>und</strong> auch im Falle Puerto Ricos wäre sie nicht gerade klein. Ich möchte lediglich<br />

aufzeigen, daß einige elementare Probleme im Gebrauch des Begriffs<br />

„Gesellschaft" in beiden Beispielen bestehen. Mir sind die Eigenheiten dieser<br />

beiden Fälle bekannt, <strong>und</strong> einige werden sicher sagen, daß sie in bestimmter<br />

Weise nicht „typisch" oder „repräsentativ" seien. Aber eine der geschichtlichen<br />

Realitäten ist, daß jedes Beispiel der Geschichte spezifisch <strong>und</strong> individuell<br />

ist, <strong>und</strong> ich bin, offen gesagt, skeptisch, ob es irgendwo repräsentative<br />

„Fälle" gibt. So fiel meine Wahl also auf diese beiden, weil Ihnen der deutsche<br />

Fall bekannt ist, <strong>und</strong> Sie vielleicht auf den Fall Puerto Rico gespannt<br />

sind, den die meisten von Ihnen wahrscheinlich nicht kennen.<br />

Erlauben Sie mir die einfache Frage: Wo ist die deutsche Gesellschaft?<br />

Befindet sie sich innerhalb der jetzigen Grenzen der B<strong>und</strong>esrepublik? Die<br />

offizielle Antwort scheint zu sein: Heute gibt es „zwei deutsche Staaten",<br />

jedoch nur „ein Volk". Diese eine „Nation" oder dieses eine „Volk" wird<br />

also offensichtlich so definiert, zumindest von einigen, daß sie/es die Menschen<br />

sowohl der B<strong>und</strong>esrepublik als auch der DDR mit einschließt.<br />

Wie steht es nun aber mit Österreich? Gehören die Österreicher zur<br />

deutschen „Gesellschaft", zum deutschen „Volk"? Österreich gehörte formell<br />

nur kurze Zeit, von 1938 bis 1945, zum deutschen Staat. Trotzdem<br />

wurde — wie Sie wissen — in der Mitte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts Österreichs<br />

Vereinigung mit einem damals nur potentiellen deutschen Staat als eine<br />

besondere Möglichkeit ausführlich diskutiert. Anscheinend gibt es unter anderem<br />

eine alte nationalistische Tradition, nach der Österreich als Teil der<br />

deutschen Gesellschaft definiert werden könnte.<br />

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Trotzdem scheint die heutige Antwort auf meine Frage, ob Österreich<br />

ein Teil der deutschen Gesellschaft sei, nein zu sein — jedoch nur heute. Der<br />

Gr<strong>und</strong> dafür liegt in den Anstrengungen der heutigen B<strong>und</strong>esrepublik, sich<br />

moralisch vom Dritten Reich, das mit Anschluß verb<strong>und</strong>en wird, abzusetzen;<br />

jeder Andeutung, daß Österreich kein getrennter Staat sei oder nicht<br />

immer sein wird (folglich Nation?, folglich „Gesellschaft"?), wird sowohl<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik als auch in Österreich mit Stirnrunzeln begegnet.<br />

Wenn eine „Gesellschaft" jedoch etwas ist, das sich aus einem „Keim"<br />

„entwickelt", wie ist es möglich, daß ein rein politisches Ereignis, das Ergebnis<br />

des Zweiten Weltkrieges, oder noch etwas weiter zurück, das Ergebnis<br />

des Österreich-Preußischen Krieges 1866, die Bestimmung des sozialen<br />

Raums der deutschen Gesellschaft beeinflussen könnte? Sollte man<br />

nicht schließlich annehmen, daß eine Gesellschaft verschieden vom Staate<br />

ist, eine Art zugr<strong>und</strong>eliegende <strong>und</strong> sich entwickelnde Realität, die zumindest<br />

teilweise gegen den Staat <strong>und</strong> trotz des Staates existiert? Wenn wir jedoch<br />

bei jeder Veränderung der Staatsgrenzen auch die Grenzen der „Gesellschaft"<br />

ändern, wie können wir dann begründen, daß sich die Legitimität<br />

einer von der „Gesellschaft" geschaffenen Regierung von der Legitimität<br />

einer vom Staate geschaffenen Regierung unterscheide? Der Begriff<br />

der „Gesellschaft" sollte uns etwas Solides, auf dem gebaut werden kann,<br />

schaffen. Wenn der Begriff aber zu einer Knet-Masse wird, die wir nach Belieben<br />

umformen können, wird er uns herzlich wenig helfen — weder im<br />

analytischen, im politischen noch im moralischen Sinne.<br />

Während der deutsche Fall zwei oder vielleicht sogar drei souveräne<br />

„deutsche Staaten" umfaßt, scheint der Fall Puerto Rico genau das Gegenteil<br />

zu sein. Gegenüber einer Gesellschaft mit mehreren Staaten steht hier<br />

wahrscheinlich eine Gesellschaft ohne jeglichen Staat. Schon seit dem 16.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert hat ein Puerto Rico genannter Verwaltungsapparat existiert,<br />

aber zu keinem Zeitpunkt gab es je einen souveränen Staat, ein vollanerkanntes<br />

oder vollwertiges Mitglied des interstaatlichen Systems. Sicher,<br />

die Vereinten Nationen debattieren von Zeit zu Zeit darüber, ob da jemals<br />

in Zukunft einer bestehen wird, <strong>und</strong> selbstverständlich tun dies auch die<br />

Einwohner von Puerto Rico.<br />

Wenn hier also überhaupt kein Staat existiert, wie bestimmen wir dann<br />

die „Gesellschaft"? Wo ist sie lokalisiert? Wer sind ihre Glieder? Wie entstand<br />

sie? Diese Fragen sind, wie Sie wohl gleich erahnen, politischer Natur,<br />

<strong>und</strong> der Ursprung leidenschaftlicher Kontroversen. Vor kurzem wurde dieser<br />

intellektuelle Streit auf ungewöhnliche Art durch Jose Luis Gonzalez<br />

neu entfacht, der 1980 das Buch „El pais de cuatro pisos" veröffentlichte.<br />

Gonzalez ist ein Gelehrter, der sich selbst als puertoricanischen Nationalisten<br />

betrachtet. Das Buch ist jedoch eine Polemik gegen bestimmte puertoricanische<br />

„Independistas", insbesondere gegen Pedro Albizu Campos,<br />

nicht weil sie für die Unabhängigkeit waren, sondern weil sie ihre Forderungen<br />

auf eine völlig falsche Analyse der puertoricanischen „Gesellschaft"<br />

stützten.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Gonzalez beginnt, in der besten Tradition Max Webers, mit der Beobachtung<br />

einer Anomalie. Puerto Rico hat als einzige aller spanischen Kolonien<br />

der westlichen Hemisphäre nie einen Unabhängigkeitsstatus erlangt.<br />

Wie kam es dazu? Seine Antwort geht aus seiner Überzeugung hervor, daß<br />

die Entwicklung der „Gesellschaft" Puerto Ricos gerade nicht auf einen<br />

„Keim" zurückzuführen sei. Er schlägt eine alternative Analogie vor: Die<br />

„Gesellschaft" Puerto Ricos ist ein vierstöckiges Gebäude <strong>und</strong> jedes Stockwerk<br />

wurde in spezifischen historischen Momenten hinzugefügt. Das erste<br />

Stockwerk entstand vom 16. bis zum 18. Jahrh<strong>und</strong>ert durch die Vermischung<br />

drei historischer „Rassen": die Taina (oder karibischen Indianer),<br />

die Afrikaner (als Sklaven herübergeholt) <strong>und</strong> die spanischen Siedler. Da<br />

die Taina großenteils vernichtet wurden <strong>und</strong> die Spanier eine zahlenmäßig<br />

kleine Gruppe darstellten, die auch häufig zeitlich nur begrenzt dort lebten,<br />

bekamen die Afrikaner das Übergewicht. „Deshalb bin ich überzeugt, <strong>und</strong><br />

habe es auch häufig geäußert, auch wenn es einige Leute beunruhigt <strong>und</strong><br />

stört, daß die ersten Puertoricaner in Wirklichkeit schwarze Puertoricaner<br />

waren" (Gonzalez, 1980, 20).<br />

Erst 1815 änderte sich diese ethnische Mischung in Puerto Rico. 1815<br />

wurde die Insel durch die Real Cedula de Gracias für Flüchtlinge aus den<br />

anderen lateinamerikanischen Kolonien, die sich mitten in den Unabhängigkeitskriegen<br />

befanden, geöffnet — dies nicht nur für die dem König<br />

loyalen Spanier, sondern auch für Engländer, Franzosen, Holländer <strong>und</strong><br />

Iren. Achten Sie bitte auf das Datum: 1815. Es ist nämlich auch das Jahr,<br />

in dem Napoleon endgültig ins Exil ging, das Gründungsjahr der Heiligen<br />

Allianz <strong>und</strong> das Jahr der Konsolidierung der britischen Hegemonie im<br />

Weltsystem. Im Laufe des späten 19. Jahrh<strong>und</strong>erts war Puerto Rico außerdem<br />

ein Aufnahmeland für weitere Einwanderungswellen, besonders aus<br />

Korsika, Mallorca <strong>und</strong> Katalonien. Gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, sagt<br />

Gonzalez, war folglich ein zweites Stockwerk durch diese weißen Siedler<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erbaut worden, die in Puerto Rico eine „privilegierte<br />

Minderheit" bildeten (S. 24). Also, setzt Gonzalez fort, sei es nicht wahr,<br />

wie Albizu Campos <strong>und</strong> andere behaupten, daß Puerto Rico zu Beginn der<br />

amerikanischen Kolonisation 1898 eine homogene „nationale Kultur" besessen<br />

habe. Genau das Gegenteil sei der Fall gewesen, es war ein „geteiltes<br />

Volk".<br />

Gonzalez benutzt diese Tatsache, um die unterschiedliche Antwort von<br />

Puertoricanern auf die U.S.-Kolonisation zu erklären, durch die das dritte<br />

Stockwerk entstand. Vereinfacht dargestellt, behauptet er, daß die Hacendados<br />

die Amerikaner anfangs begrüßt hätten, in der Meinung, daß sie<br />

durch dieses Verhalten letztendlich als Teil der amerikanischen Bourgeoisie<br />

aufgenommen würden. Als ihnen nach zehn Jahren klar wurde, daß dies<br />

nicht geschehen würde, habe sich die „privilegierte Minderheit" dem Nationalismus<br />

zugewandt. Die puertoricanische Arbeiterklasse dagegen habe<br />

der U.S.-Invasion anfänglich auch wohlwollend gegenübergestanden, jedoch<br />

aus entgegengesetzten Gründen. Sie habe diese als eine Möglichkeit<br />

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angesehen, ihre „Rechnungen [mit der Klasse der Gr<strong>und</strong>eigentümer] zu begleichen"<br />

(S. 33), die „von den puertoricanischen Massen als das empf<strong>und</strong>en<br />

wurden, was sie tatsächlich waren: Ausländer <strong>und</strong> Ausbeuter" (S. <strong>35</strong>).<br />

Dann ist da noch das vierte Stockwerk, dessen Entstehung nicht als ein<br />

Ergebnis der kulturellen „Nordamerikanisierung", sondern eher als das Ergebnis<br />

der wirtschaftlichen Veränderungen ab 1940 zu betrachten ist. Am<br />

Anfang führte dies zu einer „Modernisierung innerhalb der Abhängigkeit"<br />

(S. 41) der puertorikanischen Gesellschaft, später jedoch, in den 70er Jahren,<br />

zum „spektakulären <strong>und</strong> nicht wieder gutzumachenden Zusammenbruch"<br />

(S. 40) des vierten Stockwerkes. Die weitere Komplikation, daß die<br />

Puertoricaner seit den 1940er Jahren massiv in die kontinentalen Vereinigten<br />

Staaten migrieren, <strong>und</strong> daß ein Großteil aller Puertoricaner außerhalb<br />

von Puerto Rico geboren wurde <strong>und</strong> lebt, wird von Gonzalez nicht direkt<br />

untersucht. Gehören auch diese Menschen noch zur puertoricanischen Gesellschaft,<br />

<strong>und</strong> wenn dies so ist, für wie lange noch?<br />

Ich zitiere Gonzalez weder um die Zukunft Puerto Ricos zu erörtern,<br />

noch um uns die tiefgründigen sozialen Spaltungen in unseren sogenannten<br />

Gesellschaften vor Augen zu führen; diese Spaltungen sind ganz sicher Klassenspaltungen;<br />

häufig (oder sogar meistens) jedoch sind sie von ethnischen<br />

Spaltungen überlagert <strong>und</strong> mit ihnen verb<strong>und</strong>en. Ich zitierte den Fall Puerto<br />

Rico, wie vorher den Fall Deutschland, eher um den Wechsel <strong>und</strong> die anfechtbaren<br />

Definitionen der Grenzen einer „Gesellschaft" <strong>und</strong> den engen<br />

Zusammenhang solcher wechselnden Definitionen mit den historischen Ereignissen,<br />

die nicht primär ein Ergebnis einer der „Gesellschaft" intrinsischen<br />

Entwicklung sind, hervorzuheben.<br />

Das gr<strong>und</strong>legende Falsche am Begriff „Gesellschaft" ist die Konkretisierung<br />

<strong>und</strong> somit die Kristallisierung sozialer Phänomena, deren wirkliche Bedeutung<br />

nicht in ihrer Solidarität, sondern gerade in ihrer Fluidität <strong>und</strong> ihrer<br />

Geschmeidigkeit liegen. Der Begriff „Gesellschaft" impliziert, daß wir zur<br />

Analyse eine greifbare, <strong>und</strong> dennoch sicher auch eine sich „entwickelnde"<br />

Wirklichkeit vor uns haben. Tatsächlich haben wir in erster Linie ein rhetorisches<br />

Konstrukt, <strong>und</strong> deshalb, wie Lorenz von Stein sagt, einen „schwierigen<br />

Begriff" der Staatswissenschaft (in diesem Fall der politischen Philosophie)<br />

vor uns. Wir haben jedoch kein analytisches Werkzeug für die Summierung<br />

oder Zerlegung unserer sozialen Prozesse.<br />

Eines der Welt-Sozialwissenschaft zugr<strong>und</strong>eliegenden Elemente war in<br />

den letzten Jahren eine spezifische Lektüre der modernen europäischen Geschichte.<br />

Diese Lektüre der Geschichte ist nicht nur auf professionelle Geschichts-<br />

<strong>und</strong> Sozialwissenschaftler begrenzt. Sie beinhaltet eine tiefliegende<br />

Gr<strong>und</strong>lage für unsere gemeinsame Kultur, die allen in der Sek<strong>und</strong>arstufe<br />

unseres Schulsystems vermittelt wird, <strong>und</strong> ist eine gr<strong>und</strong>legende Voraussetzung<br />

für das Verständnis der sozialen Welt. Sie war nicht Gegenstand<br />

größerer Kontroversen; sie war eher das Gemeingut der beiden wichtigsten<br />

Weltanschauungen des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, des Liberalismus <strong>und</strong> Marxismus,<br />

die andererseits in starkem Gegensatz zueinander standen.<br />

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Dieses Lesen der Geschichte nimmt die Form eines historischen Mythos<br />

an, der zwei Hauptaussagen enthält. Die erste Behauptung ist, daß aus der<br />

europäischen mittelalterlichen Feudalwelt, in der Herren über Bauern herrschten,<br />

eine neue soziale Schicht, die städtische Bourgeoisie, hervorging<br />

(hervortrat, geschaffen wurde), die zuerst das alte System (das „ancien<br />

regime") wirtschaftlich unterminierte, <strong>und</strong> es dann politisch vernichtete.<br />

Das Ergebnis war eine marktbeherrschte kapitalistische Wirtschaft in Ko<strong>mb</strong>ination<br />

mit einem auf persönlichen Rechten basierenden politischen Repräsentativsystem.<br />

Die europäische Geschichte wurde sowohl von den Liberalen<br />

als auch von den Marxisten auf diese Weise beschrieben; <strong>und</strong> beide<br />

applaudierten diesem historischen Prozeß als „progressiv".<br />

Die zweite Behauptung in diesem historischen Mythos wird sehr klar in<br />

Karl Büchers Buch, Die Entstehung der Volkswirtschaft, festgehalten; hier<br />

unterscheidet Bücher drei aufeinander folgende Stufen der europäischen<br />

Wirtschaftsgeschichte — geschlossene Hauswirtschaft, Stadtwirtschaft <strong>und</strong><br />

Volkswirtschaft. Das Schlüsselelement, in dem Bücher die liberal-marxistische<br />

Übereinstimmung darstellt, ist die Wahrnehmung der modernen Geschichte<br />

als eine Geschichte der sich ausdehnenden wirtschaftlichen Kreise,<br />

in welchen der größte Sprung der der „lokalen" Wirtschaft zur „nationalen"<br />

Wirtschaft — selbstverständlich in einem Nationalstaat lokalisiert —<br />

war. Bücher hebt diesen Zusammenhang hervor, indem er betont, daß „die<br />

Volkswirtschaft das Produkt einer jahrtausendelangen historischen Entwicklung<br />

ist, das nicht älter ist als der moderne Staat" (1913, 90). Beachten<br />

Sie bitte am Rande wieder den Begriff „Entwicklung". Bücher hebt<br />

ausdrücklich die räumliche Verflechtung hervor, die implizit in den generischen,<br />

deskriptiven Kategorien der Werke vieler anderer bedeutender Sozialwissenschaftler<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts zu finden sind: bei Comte <strong>und</strong><br />

Dürkheim, Maine <strong>und</strong> Spencer, Tönnies <strong>und</strong> Weber.<br />

Meines Erachtens sind diese beiden in dem vorherrschenden historischen<br />

Mythos der modernen europäischen Geschichte enthaltenen Behauptungen<br />

große Verzerrungen der wirklichen Geschehnisse. Ich möchte hier<br />

nicht ausführen, warum ich zu der Überzeugung gelangt bin, daß der Aufstieg<br />

einer Bourgeoisie, die auf irgendeine Weise eine Aristokratie vernichtete,<br />

mehr oder weniger das Gegenteil von dem ist, was wirklich geschah<br />

(nämlich die Verwandlung der Aristokratie in eine Bourgeoisie zur Rettung<br />

ihrer kollektiven Privilegien; diesen Fall habe ich an anderer Stelle erörtert<br />

(Wallerstein 1982). Ich ziehe es vor, meine Aufmerksamkeit auf den zweiten<br />

Mythos, den von den sich ausbreitenden Kreisen zu konzentrieren.<br />

Wenn die wesentliche Bewegung der modernen europäischen Geschichte<br />

die Entwicklung von der Stadtwirtschaft zur Volkswirtschaft, von lokalen<br />

Stätten zum Nationalstaat war, wo ist dann die „Welt" in dieser Vorstellung<br />

unterzubringen? Die Antwort lautet: im wesentlichen als eine Begleiterscheinung.<br />

Nationalstaaten werden als diejenigen politischen Einheiten betrachtet,<br />

die einen Teil ihrer Zeit <strong>und</strong> Energie (meist einen relativ kleinen<br />

Teil) für inter-nationale Aktivitäten: internationalen Handel, internationale<br />

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Diplomatie verwenden. Diese sogenannten internationalen Beziehungen<br />

sind für diesen Staat, diese Nation, diese „Gesellschaft" irgendwie „äußerlich".<br />

Einige mögen bestenfalls einräumen, daß sich diese Situation in Richtung<br />

auf die „Internationalisierung" der Wirtschaft <strong>und</strong> der politischen <strong>und</strong><br />

kulturellen Schauplätze entwickelt hat, <strong>und</strong> zwar erst in jüngster Zeit (von<br />

1945 oder sogar erst von den siebziger Jahren an). Infolgedessen, so wird<br />

uns gesagt, gibt es jetzt vielleicht „zum allererstenmal" etwas, das wir Weltproduktion<br />

oder Weltkultur nennen können.<br />

Diese Vorstellungen, die mir offen gestanden immer bizarrer vorkommen,<br />

je mehr ich die wirkliche Welt untersuche, sind der Kern der operationalen<br />

Bedeutung des Begriffs „Gesellschafts<strong>entwicklung</strong>". Ich möchte<br />

hier eine andere Auffassung, einen anderen Weg, die <strong>gesellschaftliche</strong> Realität<br />

zusammenfassen, einen alternativen begrifflichen Rahmen vorlegen, von<br />

dem, wie ich hoffe, gesagt werden kann, daß er umfassender <strong>und</strong> zweckdienlicher<br />

die reale <strong>gesellschaftliche</strong> Welt, in der wir leben, erfaßt.<br />

Der Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus brachte vor allem<br />

anderen (sowohl logisch als auch zeitlich) die Schaffung der Weltwirtschaft<br />

mit sich. Das bedeutet, eine <strong>gesellschaftliche</strong> Arbeitsteilung wurde durch<br />

die Umwandlung des Fernhandels hervorgerufen, <strong>und</strong> zwar aus einem<br />

Handel mit „Luxusgütern" in einen Handel mit „lebenswichtigen Gütern"<br />

oder „Massengütern". Auf diese Weise wurden weit auseinanderliegende<br />

Prozesse in lange Warenketten zusammengefaßt. Diese bestanden<br />

aus einzelnen miteinander verketteten Produktionsprozessen, deren<br />

Verknüpfung die Akkumulation von bedeutenden Mehrwerterträgen<br />

<strong>und</strong> ihre entsprechende Konzentration in wenigen Händen möglich machte.<br />

Solche Warenketten gab es schon im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert, sie gingen allem,<br />

was man sinnvollerweise als „Nationalökonomie" bezeichnen könnte, voraus.<br />

Diese Ketten aber konnten nur durch die Bildung eines zwischenstaatlichen<br />

Systems, nämlich der kapitalistischen Weltwirtschaft, gesichert werden,<br />

das mit den Grenzen der realen <strong>gesellschaftliche</strong>n Arbeitsteilung in<br />

Einklang stand. Wie die kapitalistische Weltwirtschaft ursprünglich von Europa<br />

ihren Ausgang nahm, um die ganze Erde zu erfassen, so expandierten<br />

auch die Grenzen des zwischenstaatlichen Systems. Die souveränen Staaten<br />

waren Institutionen, die dann innerhalb dieses (sich ausdehnenden) zwischenstaatlichen<br />

Systems geschaffen <strong>und</strong> von ihm definiert wurden <strong>und</strong> ihre Legitimität<br />

aus der Verbindung von juristischer Selbstbehauptung <strong>und</strong> der Anerkennung<br />

durch andere ableiteten. Dies ist das Wesentliche an der „Souveränität",<br />

wie wir sie verstehen. Daß es nicht genug ist, Souveränität zu<br />

proklamieren, um sie dann auszuüben, wird an den aktuellen Beispielen der<br />

„unabhängigen" Bantustans in Südafrika <strong>und</strong> dem türkischen Staat in Nordzypern<br />

klar. Diese Gebilde sind keine souveränen Staaten, weil die anderen<br />

Mitglieder des Clubs souveräner Staaten sie nicht als solche anerkennen (in<br />

beiden Fällen zwar mit einer einzigen Ausnahme, die aber nicht ausreicht).<br />

Wie viele <strong>und</strong> welche Staaten eine solche Forderung nach Souveränität anerkennen<br />

müssen, um sie zu legitimieren, ist unklar. Daß da irgendwo eine<br />

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kritische Schwelle ist, wird offensichtlich, wenn wir sehen, wie fest Marokko<br />

dem Wunsch der Mehrheit der Mitglieder (<strong>und</strong> zwar einer klaren Mehrheit)<br />

der Organisation für afrikanische Einheit (OAU), der Arabischen Demokratischen<br />

Republik Sahara einen vollen Status in dieser regionalen zwischenstaatlichen<br />

Struktur zu gewähren, entgegentritt. Selbstverständlich<br />

weiß Marokko, daß eine Anerkennung durch die Organisation für afrikanische<br />

Einheit Druck auf die Großmächte hervorrufen würde, <strong>und</strong> die Forderung<br />

nach Anerkennung auf diese Weise die kritische Schwelle überschreiten<br />

würde.<br />

Es waren also das Weltsystem <strong>und</strong> nicht die einzelnen „Gesellschaften",<br />

die sich „entwickelt" haben. Das heißt, nachdem sie einmal ins Leben gerufen<br />

worden war, wurde die kapitalistische Weltwirtschaft zunächst einmal<br />

konsolidiert, <strong>und</strong> dann nach <strong>und</strong> nach der Einfluß ihrer Gr<strong>und</strong>strukturen<br />

auf die <strong>gesellschaftliche</strong>n Prozesse innerhalb ihrer Grenzen vertieft <strong>und</strong><br />

erweitert. Die ganzen Vorstellungen des Wachstumsprozesses von der Eichel<br />

zur Eiche, vom Keim zu seiner Entfaltung, gibt, wenn überhaupt, nur einen<br />

Sinn, wenn sie auf die einzigartige kapitalistische Weltwirtschaft als ein historisches<br />

System angewendet werden.<br />

Erst in diesem Entwicklungsrahmen entstanden viele der Institutionen,<br />

die wir oft ziemlich irrtümlich als „ursprünglich" beschreiben. Die Souveränität<br />

der Gerichtsbarkeit im zwischenstaatlichen System wurde geschaffen<br />

<strong>und</strong> die „Staatlichkeit" dieser Gerichtsbarkeit wurde immer mehr institutionalisiert,<br />

<strong>und</strong> zwar in dem Maße, wie sich eine Art von <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Bindung zu den Körperschaften entwickelte, die von der Gerichtsbarkeit<br />

festgelegt wurden. So breitete sich langsam <strong>und</strong> mehr oder weniger in<br />

Einklang mit den sich entwickelnden Grenzen jedes Staates ein entsprechendes<br />

Nationalgefühl aus. Das moderne Weltsystem hat sich aus einem<br />

System, in dem diese „Nationalgefühle" schwach oder nicht vorhanden waren,<br />

zu einem System entwickelt, in dem sie auffallen, sich ausbreiten <strong>und</strong><br />

festsetzen.<br />

Die Nationen waren jedoch nicht die einzigen neuen <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Gruppierungen. Die <strong>gesellschaftliche</strong>n Klassen, wie wir sie kennengelernt<br />

haben, wurden ebenfalls im Laufe dieser Entwicklung geschaffen, sowohl<br />

objektiv als auch subjektiv. Die Wege der Proletarisierung <strong>und</strong> der Bourgeoisierung<br />

waren lang <strong>und</strong> verschlungen, aber sie waren vor allem die Folge<br />

von Prozessen im Weltmaßstab. Selbst unsere gegenwärtigen Haushaltstrukturen<br />

— ja, sogar sie — sind erzeugte Gebilde, die gleichzeitig die zweifache<br />

Erfordernis einer Struktur erfüllen, die einerseits die Arbeitskraft<br />

sozialisiert <strong>und</strong> sie andererseits teilweise gegen die harten Auswirkungen<br />

des Arbeitssystems schützt.<br />

In dieser ganzen Beschreibung ist das Bild, das ich benutze, nicht das<br />

eines kleinen Kerns, an den ich weitere Außenschichten anfüge, sondern<br />

das eines dünnen äußeren Rahmens, der stufenweise mit einem dichten inneren<br />

Geflecht aufgefüllt wird. Gemeinschaft <strong>und</strong> Gesellschaft in der konventionellen<br />

Weise gegenüberzustellen, wie es nicht nur in der deutschen,<br />

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sondern in der gesamten Soziologie geschieht, muß die Pointe verfehlen. Es<br />

ist das moderne Weltsystem, das heißt die kapitalistische Weltwirtschaft,<br />

deren politischer Rahmen das aus souveränen Staaten bestehende zwischenstaatliche<br />

System ist, das die Gesellschaft ausmacht, in der unsere vertraglichen<br />

Verpflichtungen angesiedelt sind. Um ihre Strukturen zu rechtfertigen,<br />

hat diese Gesellschaft nicht nur die vielfältigen Gemeinschaften,<br />

die in der Geschichte vorkamen (was der Punkt ist, der normalerweise betont<br />

wird), zerstört, sondern ein Geflecht von neuen Gemeinschaften geschaffen<br />

(<strong>und</strong> vor allen Dingen die Nationen, das heißt die sogenannten<br />

Gesellschaften). Unsere Sprache kehrt also das Oberste zuunterst.<br />

Ich bin versucht zu sagen, daß wir uns tatsächlich nicht auf dem Weg<br />

von der Gemeinschaft zur Gesellschaft befinden, sondern umgekehrt von<br />

der Gesellschaft zur Gemeinschaft, aber das ist auch nicht ganz richtig. Es<br />

ist eher so, daß unsere einzige Gesellschaft, die kapitalistische Weltwirtschaft<br />

(auch wenn sie eine nur teilweise vertraglich festgelegte Struktur ist),<br />

unsere vielfältigen bedeutungsvollen Gemeinschaften geschaffen hat. Vom<br />

Aussterben weit entfernt, sind Gemeinschaften niemals stärker, komplexer,<br />

übergreifender <strong>und</strong> konkurrierender gewesen <strong>und</strong> waren niemals bestimmender<br />

für unser Leben. Und doch sind sie niemals weniger legitimiert gewesen.<br />

Sie waren auch niemals irrationaler, so im materialen irrational,<br />

<strong>und</strong> zwar gerade deswegen, weil sie aus einem <strong>gesellschaftliche</strong>n Prozeß hervorgegangen<br />

sind. Wenn man so will, sind unsere Gemeinschaften unsere<br />

Lieblinge, die es nicht wagen, ihre Namen zu nennen.<br />

Natürlich ist das eine unmögliche Situation, <strong>und</strong> wir sehen uns inmitten<br />

einer weltweiten kulturellen Rebellion gegen diesen Druck, der um uns<br />

ist. Dieser Druck kommt in den unterschiedlichsten Formen zum Ausdruck:<br />

in den religiösen F<strong>und</strong>amentalismen, den Hedonismen des Auf-sich-<br />

Zurückziehens <strong>und</strong> der totalen Selbstbezogenheit, den vielfältigen „Gegenkulturen",<br />

den „grünen" Bewegungen, <strong>und</strong> nicht zuletzt im Aufruhr von<br />

wirklich ernsthaften <strong>und</strong> mächtigen anti-rassistischen <strong>und</strong> anti-sexistischen<br />

Bewegungen. Ich meine damit keineswegs, daß diese verschiedenen Gruppen<br />

alle gleich sind: überhaupt nicht. Aber sie sind die gemeinsame Folge<br />

der unbarmherzigen Ausbreitung des historischen <strong>gesellschaftliche</strong>n Systems,<br />

das formal zwar immer rationaler, aber material immer irrationaler<br />

wird, <strong>und</strong> in dem wir uns alle gemeinsam gefangen sehen. Diese<br />

Gruppen bedeuten Schmerzensschreie gegen die Irrationalität, die im Namen<br />

einer universellen rationalisierenden Logik tyrannisiert. Wenn wir<br />

uns wirklich von der Gemeinschaft zur Gesellschaft bewegt hätten, würde<br />

all dies nicht passieren. Wir würden statt dessen in den Gewässern der Vernunft<br />

einer Welt der Aufklärung baden.<br />

Einerseits ist da viel Hoffnung. Unser historisches System ist wie alle<br />

historischen Systeme voller Widersprüche, voller Prozesse, die uns dazu<br />

zwingen, in eine Richtung zu gehen, um unsere kurzfristigen Interessen zu<br />

verfolgen, <strong>und</strong> in eine andere, um unseren mittelfristigen Interessen nachzugehen.<br />

Diese Widersprüche sind in die wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen<br />

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Strukturen unseres Systems eingebaut <strong>und</strong> spielen sich aus. Ich möchte<br />

noch einmal betonen, daß ich hier keine Untersuchungen wiederholen<br />

will, die ich an anderer Stelle über das gemacht habe, was ich die „Übergangskrise"<br />

(Wallerstein 1985) nenne. Das ist ein langer Prozeß, der vielleicht<br />

150 Jahre in Anspruch nimmt, <strong>und</strong> der bereits begonnen hat. Er<br />

wird mit der Ablösung unseres gegenwärtigen Systems <strong>und</strong> seiner Ersetzung<br />

durch irgendein anderes System enden, ohne daß es jedoch irgendeine Garantie<br />

dafür gibt, daß dieses andere tatsächlich besser sein wird. Es gibt keine<br />

Garantie, aber eine bedeutungsvolle Möglichkeit. Das heißt, wir stehen<br />

vor einer historischen, kollektiven Wahl, etwas, was selten geschieht, <strong>und</strong><br />

was nicht das Los jeder Menschheitsgeneration ist.<br />

Ich möchte hier lieber die Frage der möglichen Rolle der historischen<br />

Gesellschaftswissenschaften bei dieser kollektiven Wahl, die natürlich eine<br />

moralische <strong>und</strong> folglich eine politische Wahl ist, aufwerfen. Das Gr<strong>und</strong>konzept<br />

von „Gesellschaft" <strong>und</strong> die gr<strong>und</strong>legenden historischen Mythen dessen,<br />

was ich den liberal-marxistischen Konsens des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts genannt habe,<br />

ergänzen sich <strong>und</strong> bilden das Gerüst der Sozialwissenschaften, die der<br />

wichtigste ideologische Ausdruck des Weltsystems sind. Ich habe behauptet,<br />

daß diese beiden Elemente im wesentlichen ohne Basis sind. Natürlich war<br />

das kein Zufall. Der Begriff der Gesellschaft <strong>und</strong> die historischen Mythen<br />

waren Teil der Maschinerie, die das moderne Weltsystem in seiner Blütezeit<br />

so gut funktionieren ließ. In der Zeit eines relativen systemischen Gleichgewichts<br />

ist das Bewußtsein der Intellektuellen vielleicht die genaueste Widerspiegelung<br />

der zugr<strong>und</strong>eliegenden materiellen Prozesse.<br />

Wir befinden uns jedoch nicht mehr in einer Zeit relativen systemischen<br />

Gleichgewichts. Es ist nicht so, daß der Apparat schlecht gearbeitet hat,<br />

sondern er hat das eher zu gut gemacht. Die kapitalistische Weltwirtschaft<br />

hat sich über 400 Jahre lang bei der Lösung von kurz- <strong>und</strong> mittelfristigen<br />

Problemen w<strong>und</strong>erbar geschickt gezeigt. Überdies sprechen alle Anzeichen<br />

dafür, daß sie jetzt <strong>und</strong> in naher Zukunft fähig ist, weiter in dieser Richtung<br />

erfolgreich zu sein. Die Lösungen selbst haben jedoch Veränderungen<br />

bei der zugr<strong>und</strong>eliegenden Struktur hervorgerufen, die mit der Zeit diese<br />

große Fähigkeit, die stets notwendigen Anpassungen vorzunehmen, aufheben.<br />

Das System ist dabei, seine Freiheitsgrade zu beseitigen. Ich kann diese<br />

Sache hier nicht beweisen. Ich behaupte sie einfach <strong>und</strong> benutze sie dazu,<br />

die Tatsache zu erklären, daß wir mitten unter den Lobeshymnen auf die<br />

Effizienz der kapitalistischen Zivilisation überall Anzeichen von Unbehagen<br />

<strong>und</strong> kulturellem Pessimismus finden. Der Konsens beginnt also zusammenzubrechen.<br />

Das zeigt sich in der Unzahl von antisystemischen Bewegungen,<br />

die zunehmend stärker <strong>und</strong> unkontrollierbarer werden.<br />

Bei den Intellektuellen schlägt sich dieses Unbehagen in einer zunehmenden<br />

Hinterfragung von gr<strong>und</strong>sätzlichen Voraussetzungen nieder. Heute<br />

gibt es Physiker, die die ganze philosophische Beschreibung der Wissenschaft,<br />

die „Entzauberung der Welt", die von Bacon über Newton zu Einstein<br />

reicht, anzweifeln <strong>und</strong> uns beschwören einzusehen, daß Wissenschaft<br />

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eher die „Wiederverzauberung der Welt" bedeute (Prigogine <strong>und</strong> Stengers,<br />

1979). Ich möchte hier zum Ausdruck bringen, was viele immer mehr fühlen,<br />

daß es nämlich sinnlos ist, die Prozesse der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung<br />

unserer vielfältigen (nationalen) „Gesellschaften" so zu analysieren als<br />

ob sie autonom wären <strong>und</strong> intern Strukturen entwickelten. Vielmehr sind<br />

sie <strong>und</strong> waren sie in erster Linie Strukturen, die von weltweiten Prozessen<br />

hervorgerufen wurden <strong>und</strong> eine entsprechende Form haben. Diese weltweite<br />

Struktur <strong>und</strong> die Prozesse ihrer Entwicklungen sind der eigentliche Gegenstand<br />

unserer kollektiven Untersuchung.<br />

Wenn ich nicht falsch liege, hat das erhebliche Konsequenzen für uns. Es<br />

bedeutet natürlich, daß wir gemeinsam unsere Voraussetzungen <strong>und</strong> folglich<br />

unsere Theorien überdenken müssen. Aber es hat noch eine schmerzlichere<br />

Seite. Das heißt, daß wir die Bedeutung unseres gesamten Bestandes langsam<br />

akkumulierter „empirischer Daten" reinterpretieren müssen. Die konstante<br />

Zunahme dieses Bestandes bewirkt das Anwachsen der Bibliotheken<br />

<strong>und</strong> Archive <strong>und</strong> ist die historisch entstandene <strong>und</strong> verdrehte Gr<strong>und</strong>lage<br />

fast unserer gesamten laufenden Arbeit.<br />

Aber warum sollen wir das tun? In wessen Namen <strong>und</strong> in wessen Interesse?<br />

Die eine Antwort, die jetzt schon mindestens 75 Jahre lang gegolten<br />

hat, war die „im Namen der Bewegung, der Partei oder des Volkes". Ich<br />

verwerfe diese Antwort nicht wegen irgendeines Glaubens an die Trennung<br />

von Wissenschaft <strong>und</strong> Werten. Aber die Antwort ist keine Antwort, <strong>und</strong> zwar<br />

aus zwei Gründen: Erstens gibt es nicht nur eine Bewegung. Vielleicht konnte<br />

die Gruppe der antisystemischen Bewegungen irgendwann einmal den Anschein<br />

der Einheitlichkeit behaupten, jetzt aber sicher nicht mehr. Auf der<br />

Ebene weltweiter Prozesse gibt es nicht nur eine Vielfalt von Bewegungen,<br />

sondern sogar viele Typen von Bewegungen. Zweitens machen die Bewegungen<br />

insgesamt in bezug. auf die Effizienz der Veränderungsstrategie, die<br />

aus den Debatten des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts hervorging, eine kollektive Krise<br />

durch. Ich beziehe mich auf die Strategie, die Veränderungen durch die<br />

Übernahme der Staatsmacht anstrebt. Tatsache aber ist, daß die antisystemischen<br />

Bewegungen selbst das Ergebnis des kapitalistischen Weltsystems<br />

sind. Eine Folge davon ist, daß sie durch ihre Aktionen nicht nur das Weltsystem<br />

unterminiert haben (ihr angebliches Ziel, das sie teilweise erreicht<br />

haben), sondern daß sie dieses System auch aufrechterhalten haben, <strong>und</strong><br />

zwar besonders durch die Übernahme von Staatsmacht <strong>und</strong> ihr Operieren<br />

in einem zwischenstaatlichen System, das der politische Überbau der kapitalistischen<br />

Weltwirtschaft ist. Das hat interne Grenzen hinsichtlich der<br />

Fähigkeit dieser Bewegungen, in Zukunft effektiv zu mobilisieren, hervorgerufen.<br />

Wie man es auch nimmt, wenn das Weltsystem in Krise ist, dann<br />

sind es auch die antisystemischen Bewegungen, <strong>und</strong> ich möchte hinzufügen,<br />

auch die selbst-reflektiven Strukturen dieses Systems, nämlich die Wissenschaften.<br />

Die Krise der Bewegungen liegt in ihrer insgesamt zunehmenden Unfähigkeit,<br />

ihre wachsende politische Stärke in Prozesse umzuformen, die das<br />

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estehende Weltsystem effektiv verändern könnten. Gegenwärtig besteht<br />

eine der Beschränkungen, wenngleich sicher nicht die einzige, darin, daß sie<br />

in ihren eigenen Analysen große Segmente der Ideologie des bestehenden<br />

Weltsystems integriert haben. Was die historischen Sozialwissenschaften in<br />

dieser Übergangskrise leisten können, ist deshalb ein Engagement, das gleichzeitig<br />

mit den Bewegungen sympathisiert <strong>und</strong> sich von ihnen absetzt. Wenn<br />

auch die Wissenschaft keine Praxis anbieten kann, so kann sie doch Einsichten<br />

vermitteln, die aus der Distanz entstehen, vorausgesetzt, daß die Wissenschaft<br />

nicht neutral ist. Wissenschaftler sind aber niemals neutral, <strong>und</strong> folglich<br />

ist auch die von ihnen produzierte Wissenschaft nicht neutral. Das<br />

Engagement, von dem ich spreche, ist selbstverständlich das Engagement<br />

für materiale Rationalität. Es ist eine Verpflichtung angesichts einer Lage,<br />

in der durch den Niedergang des historischen <strong>gesellschaftliche</strong>n Systems,<br />

in dem wir leben, eine kollektive Wahl möglich gemacht worden ist, die jedoch<br />

durch das Fehlen einer klar umrissenen alternativen <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Kraft erschwert wird.<br />

Rein intellektuell ausgedrückt bedeutet das in dieser Lage, daß wir unseren<br />

Begriffsapparat überdenken <strong>und</strong> von der ideologischen Patina des 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts befreien müssen. Während wir versuchen, neue heuristische<br />

Gr<strong>und</strong>lagen zu schaffen, die vom Fehlen <strong>und</strong> nicht vom Vorhandensein<br />

materialer Rationalität ausgehen, werden wir in unserer empirischen <strong>und</strong><br />

theoretischen Arbeit radikal agnostisch sein müssen.<br />

Sie werden mir verzeihen, daß ich vor einem Kongreß deutscher Soziologen<br />

Max Weber zitierte. Wir kennen alle seine leidenschaftliche Rede an<br />

die Studenten von 1919 „Politik als Beruf". Aus dieser Rede klingt ein tiefer<br />

Pessimismus:<br />

Nicht das Blühen des Sommers liegt vor uns, sondern zunächst eine Polarnacht von eisiger<br />

Finsternis <strong>und</strong> Härte, mag äußerlich jetzt siegen welche Gruppe auch immer. Denn:<br />

wo nichts ist, da hat nicht nur der Kaiser, sondern auch der Proletarier sein Recht verloren.<br />

Wenn diese Nacht langsam weichen wird, wer wird dann von denen noch leben,<br />

deren Lenz jetzt scheinbar so üppig geblüht hat? (1958, 547-48).<br />

Wir müssen uns fragen, ob die Polarnacht, die tatsächlich kam, wie Weber<br />

vorausgesagt hatte, schon hinter uns liegt oder noch Schlimmeres kommen<br />

wird. In beiden Fällen ist die einzig mögliche Schlußfolgerung, die wir ziehen<br />

sollten, diejenige, die Weber gezogen hat:<br />

Die Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft<br />

<strong>und</strong> Augenmaß zugleich. Es ist durchaus richtig, <strong>und</strong> alle geschichtliche Erfahrung bestätigt<br />

es, daß man das Mögliche nicht erreichte, wenn nicht immer wieder in der Welt<br />

nach dem Unmöglichen gegriffen worden wäre (1958, 548).<br />

Ich sagte, daß unsere Konzeptionen auf die intellektuellen Rätsel, die durch<br />

die Französische Revolution hervorgerufen worden waren, zurückgeführt<br />

werden können. Auch unsere Wunschvorstellungen <strong>und</strong> Lösungen stammen<br />

daher. Die berühmte Dreiheit von „liberte, egalite, fraternite" ist keine Beschreibung<br />

der Realität; sie hat die Strukturen der kapitalistischen Weltwirt-<br />

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schaft weder in Frankreich noch anderswo durchdrungen. Dieser Leitsatz<br />

war tatsächlich nicht wirklich der Slogan der sogenannten bürgerlichen Revolution,<br />

sondern eher der ideologische Ausdruck der ersten ernsthaften<br />

antisystemischen Bewegung in der Geschichte der modernen Welt, die fähig<br />

war, ihre Nachfolger zu formen <strong>und</strong> zu inspirieren. „Freiheit, Gleichheit,<br />

Brüderlichkeit" ist ein Slogan, der nicht gegen den Feudalismus, sondern<br />

gegen den Kapitalismus gerichtet ist. Sie sind die Vorstellungsbilder einer<br />

sozialen Ordnung, die anders als unsere ist, einer Ordnung, die eines Tages<br />

geschaffen werden möge. Dafür brauchen wir Leidenschaft <strong>und</strong> Augenmaß<br />

Das wird nicht leicht sein <strong>und</strong> kann ohne ein gr<strong>und</strong>legendes Überdenken<br />

der Strategie seitens der antisystemischen Bewegungen nicht erreicht werden<br />

— ein weiteres Thema, das ich hier nicht besprechen konnte. (Siehe jedoch<br />

Wallerstein 1984b, Teil II). Aber wir werden diese Ordnung ebenfalls<br />

nicht verwirklichen, solange jene, die behaupten, daß sie sich darum bemühen,<br />

die soziale Realität zu verstehen, also wir historischen Sozialwissenschaftler,<br />

nicht bereit sind, in der Wissenschaft <strong>und</strong> in der Politik Webers<br />

Schluß-Appell zu wiederholen „Dennoch".<br />

BIBLIOGRAPHY<br />

Bücher, Karl ( 1913), Die Entstehung der Volkswirtschaft, Tübingen.<br />

9<br />

Gonzales, Jose' Luis (1980), El paisde cuatro pisos. Rio Piedras, P. R.: Ed. Huraca'n.<br />

Prigogine, Ilya & Stengers, Isabelle (1979), La nouvelle alliance. Paris: Gallimard.<br />

Stein, Lorenz von (1959), Der Begriff der Gesellschaft <strong>und</strong> die soziale Geschichte der<br />

Französischen Revolution bis zum Jahre 1830, drei Bände. Hildesheim: Georg<br />

Olms Verlagsbuchhandlung.<br />

Wallerstein, Immanuel (1982), "Economic Theories and Historical Disparities of Development",<br />

in: Eighth International Economic History Congress, Budapest 1982,<br />

J. Kocka & G. Ranki, eds., B. 1: Economic Theory and History. Budapest, Akade'miai<br />

Kiado', 17-26.<br />

Wallerstein, Immanuel (1984), The Politics of the World-Economy. Ca<strong>mb</strong>ridge: Ca<strong>mb</strong>ridge<br />

Univ. Press.<br />

Wallerstein, Immanuel (1985). „Krise als Ubergang", in: S. Amin, G. Arrighi, A.G.<br />

Frank & I. Wallerstein, eds., Die Dynamik der globalen Krise. Wiesbaden: Westdeutscher<br />

Verlag.<br />

Weber, Max (1958). Gesammelte politische Schriften. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul<br />

Siebeck).<br />

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DIE HEUTIGEN GESELLSCHAFTLICHEN SYNDROME<br />

DER OSTEUROPÄISCHEN GESELLSCHAFTEN UND<br />

ENTWICKLUNGSALTERNATIVEN<br />

András Hegedüs<br />

Die Möglichkeit sowohl der retrospektiven als auch der voraussehenden,<br />

prognostischen Analyse hängt mit den konkreten Beziehungen der Gesellschaft,<br />

in der der Soziologe lebt <strong>und</strong> tätig ist, zusammen. So muß man,<br />

wenn man die heutige Lage der osteuropäischen Soziologie verstehen will,<br />

von den osteuropäischen Verhältnissen ausgehen.<br />

Bis Stalins Tod dominierte ein rigid monolithisches System mit offiziellen<br />

Thesen über die <strong>gesellschaftliche</strong>n Beziehungen, welche in keiner Weise<br />

mit der konkreten Wirklichkeit übereinstimmten. In der stalinistischen Periode<br />

wurde dadurch in allen osteuropäischen Ländern eine scharfe Feindseligkeit<br />

gegen die Soziologie begründet. Schon am Anfang der Entfaltung<br />

dieser Systeme gab es überall Konflikte zwischen Machthabern <strong>und</strong> Soziologen.<br />

Ein typisches Beispiel dafür war der Konflikt zwischen Lenin <strong>und</strong><br />

Sorokin, dem beruhtem Soziologen von St. Petersburg. Diese Konflikte<br />

hatten dann überall eine totale Repression gegenüber der Soziologie als einer<br />

sogenannten bürgerlichen Gesellschaftswissenschaft zur Folge.<br />

In den Reformen der ersten Jahre des 60er Jahrzehnts begann die<br />

Renaissance der Soziologie. Allmählich gewann die sogenannte marxistische<br />

Soziologie an Raum, obwohl sie anfangs nur einen äußerst geringen Spielraum<br />

hatte. Offiziell wurde sie als ein spezifischer Bereich der marxistischen<br />

Gesellschaftswissenschaften behandelt, der der marxistischen Philosophie<br />

unterworfen ist. Die meisten Soziologen nahmen anfangs diese Enge an Bewegung<br />

prinzipiell an, da sie von ihnen als eine notwendige Voraussetzung<br />

für eine Wiederbelebung ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit betrachtet wurde.<br />

Aber die praktische soziologische Analyse erwies immer öfter die Fragwürdigkeit<br />

der offiziellen Thesen über die bestehenden <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Verhältnisse; durch die kritischen soziologischen Untersuchungen wurden<br />

mehr <strong>und</strong> mehr offizielle Thesen nicht verifiziert, sondern falsifiziert. Durch<br />

diese Situation kam es zu verschiedenen Konflikten zwischen den Machthabern<br />

<strong>und</strong> einem Teil der Soziologen. In diesem Konflikt bildeten sich, als<br />

spezifische Antworten der Soziologie auf diesen Konflikt, die verschiedenen<br />

Richtungen der Soziologie aus.<br />

Man kann drei Hauptrichtungen unterscheiden:<br />

Die stärkste Richtung mit einer bedeutenden staatlichen Unterstützung<br />

ist die apologetische marxistische Soziologie. Sie durchbricht den erwähnten<br />

engen Rahmen nicht, obwohl sie ihn natürlich auszuweiten bestrebt ist.<br />

Diese Soziologie pflegt besonders gute Beziehungen mit der westlichen So-<br />

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ziologie. Sie ist nicht ohne Wirkung <strong>und</strong> ohne Ergebnis. Obwohl diese Richtung<br />

eine apologetische Funktion erfüllt, ist ihre Rolle in der Modernisierung<br />

der offiziellen Ideologie nicht unwichtig. Obwohl sie von mir kritisiert<br />

wird, möchte ich ihre positive Funktion in der Modernisierung betonen. In<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Veränderungen, wie sie zu diesem Begriff der Modernisierung<br />

gehören, besteht ein sehr enger Zusammenhang zwischen einer reformistisch-politischen<br />

Linie <strong>und</strong> der staatlichen Unterstützung der Soziologie.<br />

Und die Tatsache, daß von der dominierenden ungarischen Reformpolitik<br />

die apologetische, Richtung der Soziologie, gemessen an den Verhältnissen<br />

in den westlichen Staaten, eine erhebliche Unterstützung bekommt, wird<br />

von den unser Land besuchenden ausländischen Soziologen mit Bew<strong>und</strong>erung<br />

anerkannt.<br />

Die zweite große Richtung bedeutet schon einen Ausbruch aus diesen<br />

engen Rahmen <strong>und</strong> nimmt das Falsifizieren der nicht mehr haltbaren Thesen<br />

über dieses Gesellschaftssystem in Osteuropa auf sich. Das führte zuerst<br />

zu Kritik der Praxis <strong>und</strong> nicht der offiziellen Ideologie. Charakteristisch<br />

hierfür ist die von dem jugoslawischen sogenannten Praxiskreis geübte Kritik,<br />

dessen Mitglieder sich für die Ideologie der Selbstverwaltung engagieren<br />

<strong>und</strong> auf ihrer Gr<strong>und</strong>lage die Praxis kritisieren. Das kritische Verhalten<br />

führt jedoch notwendigerweise zur Kritik der Ideologie.<br />

Diese Richtung steht mit den Vertretern der offiziellen Ideologie <strong>und</strong><br />

der politischen Führung in einem unvermeidbaren Konflikt, allerdings hängen<br />

die Natur <strong>und</strong> die Schärfe dieses Konflikts davon ab, was für ein politischer<br />

Kurs in den einzelnen osteuropäischen Ländern dominiert. In Ungarn<br />

z.B. gab es zwischen 1972-1976, als die Periode der Reformfeindlichkeit<br />

bestand, vielfach Berufsverbote für kritische Soziologen. In dieser Periode<br />

wurden sehr viele begabte Kollegen in die Emigration gezwungen. Im<br />

Jahre 1978 hat eine neue Reformperiode begonnen <strong>und</strong> damit ist die Toleranz<br />

der Macht gegenüber den kritischen Soziologen gewachsen. Immer öfter<br />

erscheinen in den verschiedenen offiziellen Zeitschriften kritische soziologische<br />

Analysen <strong>und</strong> die kritischen Schriften, die in der zweiten Kultur,<br />

in dem sogenannten Samisdat, veröffentlicht werden, werden gewissermaßen<br />

von der Macht toleriert.<br />

Wenn ich vorher sagte, daß die positive Funktion der marxistischen Soziologie<br />

darin besteht, bei der Modernisierung dieser Gesellschaften behilflich<br />

zu sein, dann muß ich jetzt sagen, daß die kritische Soziologie eine<br />

sehr wichtige Rolle in der Vorbereitung der strukturellen Veränderungen,<br />

das heißt, der strukturellen Reformen spielt.<br />

Die dritte Antwort auf die Konflikte zwischen Macht <strong>und</strong> Soziologie<br />

ist die typische empirische Analyse einer empirischen Richtung, wo bei der<br />

Themenwahl solche Probleme vermieden werden, in denen es zu einem<br />

Konflikt zwischen überholten offiziellen Thesen <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Wirklichkeit kommen könnte. Ein typisches Beispiel hierfür ist die internationale<br />

Freizeitforschung, an der sich viele osteuropäische <strong>und</strong> westliche<br />

Staaten beteiligten. Lange Jahre hindurch wurden dabei Dutzende von So-<br />

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ziologen in osteuropäischen Ländern beschäftigt, ohne daß dadurch irgendein<br />

Konflikt zwischen Machthabern <strong>und</strong> Soziologen ausgelöst wurde.<br />

Darüber hinaus ist dem Reformkurs zu verdanken, daß empirische Soziologen<br />

mehr <strong>und</strong> mehr Unterstützung bekommen, <strong>und</strong> zwar von Betrieben,<br />

Genossenschaften, Gewerkschaften <strong>und</strong> Gemeindeverwaltungen. In<br />

den letzten Jahrzehnten wurde empirische Soziologie zur Mode. Damit<br />

will ich nicht sagen, daß sie ohne konkreten Nutzen wäre, um verschiedene<br />

lokale Konflikte zu lösen <strong>und</strong> die Ziele der Führung zu erreichen. In dieser<br />

Hinsicht spielt die Industrie- bzw. Arbeits<strong>soziologie</strong> eine hervorragende Rolle,<br />

obwohl solche Untersuchungen in großem Maße der Management-Ideologie<br />

unterworfen sind, was selbstverständlich ist, weil ihr Auftraggeber in<br />

den meisten Fällen das Management der Betriebe ist.<br />

So erfüllt die empirische Richtung im Rahmen der verschiedenen Institutionen<br />

eine wesentliche soziotechnische Funktion. Dabei werden ihre Ergebnisse<br />

sowohl von der apologetischen als auch von der kritischen Richtung<br />

genutzt. Besondere Wichtigkeit hat sie für letztere, da Soziologen, die<br />

kritische Zielsetzungen haben, weniger <strong>und</strong> weniger Möglichkeiten für eigene<br />

empirische Forschung besitzen <strong>und</strong> deshalb keine Primär-, sondern Sek<strong>und</strong>äranalysen<br />

durchführen müssen.<br />

Retrospektive Analysen wurden in diesen drei Richtungen unterschiedlich<br />

verwirklicht. Ich möchte diesen Unterschied am Hauptsyndrom dieser<br />

Gesellschaften dokumentieren, nämlich am bürokratischen Syndrom.<br />

Nach der marxistischen Theorie wird mit der Vergesellschaftung der<br />

Produktionsmittel die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beendet<br />

<strong>und</strong> damit die persönliche Abhängigkeit der Menschen von Menschen<br />

aufgelöst. In den osteuropäischen Ländern entfalteten sich jedoch gewaltige<br />

Machtinstitutionen in allen Bereichen der Gesellschaften <strong>und</strong> herrscht<br />

eine strenge hierarchistische Abhängigkeit.<br />

Dieses System der Machtinstitutionen ist monolithisch <strong>und</strong> widersetzt<br />

sich bisher allen pluralistischen Tendenzen. Ich möchte allerdings betonen,<br />

daß nur die Machtstruktur monopolistisch ist, nicht die gesamte Gesellschaft.<br />

In der Gesellschaft sind pluralistische Erscheinungen erhalten geblieben,<br />

z.B. verschiedene ideologische Richtungen, Interessengruppen, Kirchen<br />

usw. Diese Tendenzen werden durch den ständig zunehmenden Drang der<br />

Menschen nach privater <strong>und</strong> institutioneller Autonomie besonders in Mitteleuropa<br />

gestärkt. Ohne Übertreibung kann man feststellen, daß in den osteuropäischen<br />

Ländern eine bürgerliche Gesellschaft in statu nascendi ist. Das<br />

gilt besonders für Polen <strong>und</strong> Ungarn.<br />

Diese Situation, wo die einzelnen Individuen im allgemeinen über eine<br />

sehr kleine Unabhängigkeit verfügen, verursacht ganze Serien von <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Krankheiten: der <strong>gesellschaftliche</strong> Dynamismus vermindert<br />

sich, die demokratische Entwicklung hat eine geringe Basis, die Macht bietet<br />

ohne <strong>gesellschaftliche</strong> Kontrolle eine Möglichkeit für Willkür.<br />

Alle drei Richtungen der Soziologie beschäftigen sich mit dem bürokratischen<br />

Syndrom, weil es unvermeidbar eines der zentralen Objekte der so-<br />

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ziologischen Forschung ist. In der Art <strong>und</strong> Weise, wie sie sich mit ihm auseinandersetzen,<br />

unterschieden sie sich jedoch sehr scharf voneinander.<br />

Die apologetische Richtung erkennt nicht an, daß in diesen Gesellschaften<br />

die Machtapparate als Bürokratie fungieren <strong>und</strong> daß das Prinzip nicht<br />

gilt, demzufolge die Machtapparate im Dienst der Gesellschaft stehen <strong>und</strong><br />

prinzipiell keine eigenen Interessen <strong>und</strong> Ziele besitzen. Die Soziologen, die<br />

dieser Richtung angehören, nehmen natürlich die verschiedenen Kennzeichen<br />

des bürokratischen Syndroms wahr, doch führen sie diese nicht auf<br />

strukturelle Ursachen zurück, sondern auf subjektive Fehler verschiedener<br />

Natur. So wird aus dem Problem der Bürokratie der „Bürokratismus", die<br />

Summe der von den Beamten begangenen Fehler, die ohne strukturelle Änderungen<br />

zu bekämpfen <strong>und</strong> zu liquidieren wären. Mit diesem Ansatz erfüllten<br />

sie ihre schon erwähnte doppelte Funktion der Apologie der monolithischen<br />

Machtstruktur <strong>und</strong> der Hilfeleistung für die Modernisierung der<br />

Machtapparate.<br />

In dieser Perspektive wurde in der Zeitschrift für Philosophie in der<br />

Sowjetunion im Februar dieses Jahres eine sehr wichtige Studie veröffentlicht,<br />

in der die Möglichkeit anerkannt wird, daß sich in den sozialistischen<br />

Gesellschaften ein Gegensatz zwischen den Machtapparaten <strong>und</strong> den Massen<br />

entfalten könnte. Diese Studie tut einen wichtigen Schritt zur Anerkennung<br />

des Wesens der Bürokratie, sie wurde allerdings einige Monate nach<br />

der Veröffentlichung in der Prawda scharf kritisiert.<br />

Für die kritische Richtung ist das Verständnis des Bürokratieproblems<br />

als einer antagonistischen Beziehung in den Gesellschaften vom osteuropäischen<br />

Typ von zentraler Bedeutung. Die Klassiker des Marxismus setzten<br />

voraus, daß das Problem der Bürokratie nach der Liquidierung des Privateigentums<br />

an Produktionsmitteln automatisch gelöst wird. Die Erfahrungen<br />

haben bewiesen, daß die Bürokratie in diesen Gesellschaften mächtiger <strong>und</strong><br />

unkontrollierter ist als in den westeuropäischen Gesellschaften. Das Bestreben<br />

der Bürokratie, diese Situation zu verewigen, kollidiert immer stärker<br />

mit den Bedürfnissen der Massen, die sich mehr Unabhängigkeit <strong>und</strong> die<br />

Möglichkeit zur Kontrolle über die bürokratischen Apparate wünschen.<br />

Maslow hat sich über die differenzierten Bedürfnisse von Menschen geäußert,<br />

die ihre Gr<strong>und</strong>bedürfnisse bereits befriedigt haben. In den sozialistischen<br />

Ländern in Mitteleuropa hatte sich vor dem zweiten Weltkrieg eine<br />

bedeutende Entwicklung individueller Kultur vollzogen; diese Gesellschaften<br />

wurden schon im Mittelalter vom Geist der Renaissance berührt. In ihren<br />

Menschen lebt der Wunsch nach Autonomie, nach Freiheit <strong>und</strong> Selbstverwirklichung,<br />

nach der Möglichkeit, eigene Bewegungen zu organisieren usf.<br />

Dieses Bedürfnis der Massen ist die soziale Basis der pluralistischen Tendenzen<br />

in den Gesellschaften vom sowjetischen Typ. Der rigide Widerstand<br />

des monolithischen Systems gegen diese Tendenzen ist die Hauptursache<br />

der verschiedenen politischen Krisen in diesen Ländern.<br />

In Polen war im Jahre 1980 mit stürmischem Tempo eine bürgerliche<br />

Gesellschaft entstanden, vor allem dadurch gefördert, daß es hier unter den<br />

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sozialistischen Ländern die größte Spaltung zwischen der monopolistischen<br />

Machtstruktur <strong>und</strong> pluralistischer Gesellschaft (in dieser Hinsicht spielte die<br />

katholische Kirche eine große Rolle) gab.<br />

Die Machthaber reagierten zu spät auf diese verschiedenen Massenbewegungen;<br />

demzufolge entstand eine Situation, wo die alte Macht nicht mehr<br />

imstande war, zu regieren, <strong>und</strong> die Massenbewegungen die Illusion hatten,<br />

wonach es für sie eine Möglichkeit gäbe, in der Mitte des geteilten Europas<br />

die Macht zu ergreifen. Die Macht war zu schwach für einen Kompromiß<br />

<strong>und</strong> die Massenbewegungen glaubten zu stark zu sein, als daß sie fähig gewesen<br />

wären, einen Kompromiß zu schließen. Das verursachte die tragische<br />

Übernahme der Macht durch das Militär, die natürlicherweise die Gegensätze<br />

zwischen monolithischer Macht <strong>und</strong> der gestärkten pluralistischen Gesellschaft<br />

nicht lösen, sondern nur vertiefen konnte.<br />

Nach dieser kurzen Zusammenfassung möchte ich erwähnen, daß die<br />

Analyse der politischen Krisen der Gesellschaften vom Sowjettyp die retrospektive<br />

Hauptaufgabe der kritischen Richtung ist. Diese Aufgabe könnte<br />

weder von der apologetischen Richtung noch von der empirischen Soziologie<br />

erledigt werden. Wir ungarischen Soziologen müßten vielseitig die soziologischen<br />

Ursachen der ungarischen Revolte von 1956 analysieren.<br />

Nach meiner Überzeugung stehen das Bürokratieproblem, der Gegensatz<br />

von monolithischem System <strong>und</strong> heranwachsenden bürgerlichen Gesellschaften<br />

im Hintergr<strong>und</strong> aller dieser politischen Krisen. Die Hauptaufgabe<br />

der kritischen soziologischen Richtung ist die Analyse dieser Gegensätze<br />

<strong>und</strong> die Darlegung ihrer sozialen Natur.<br />

Auf solche Weise hat die kritische soziologische Richtung natürlicherweise<br />

einen antibürokratischen Charakter, aber ohne die naive Vorstellung, daß<br />

diese Gesellschaften auf dem gegenwärtigen Niveau der ökonomischen Entwicklung<br />

ohne Bürokratie handlungsfähig wären. Die Bürokratie erfüllt einerseits<br />

eine historisch notwendige Funktion, andererseits haben die Massen<br />

mehr <strong>und</strong> mehr Bedürfnisse, die in Richtung auf eine pluralistische Entwicklung<br />

<strong>und</strong> auf den Aufbau der bürgerlichen Gesellschaft weisen. Diese beiden<br />

Faktoren sichtbar zu machen, ist eine sehr wichtige retrospektive Aufgabe.<br />

Die dritte Richtung, die empirische Soziologie, arbeitet in den meisten<br />

Fällen auf Bestellung seitens der bürokratischen Institutionen. Das macht es<br />

schlechthin unmöglich, daß sich antibürokratische Tendenzen entwickeln<br />

können. Ein häufiges Thema empirischer Untersuchungen ist das Funktionieren<br />

der verschiedenen demokratischen Institutionen, aber das Ziel ist<br />

in diesen Fällen nicht, eine wirkliche Kontrolle über die bürokratischen Apparate<br />

zu erreichen, sondern effektive Mittel zu finden, um die ehrenamtlichen<br />

Mitglieder verschiedener demokratischer Institutionen, z.B. der Leitungsorgane<br />

der Gewerkschaften usw., in den Machtapparat zu integrieren.<br />

Zusammenfassend: Alle drei Richtungen der Soziologie behandeln das<br />

bürokratische Syndrom <strong>und</strong> die es begleitenden negativen Folgen. Aber nur<br />

die kritische Richtung kann ihrem Charakter nach die strukturelle Ursache<br />

dieses Syndroms erschließen.<br />

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Retrospektive Analysen stehen in enger Beziehung mit den Möglichkeiten<br />

der Vorausschau. Schon hier muß man betonen, daß ich an einer<br />

echten Prognose zweifle, die von Soziologen oder Gesellschaftswissenschaftlern<br />

gestellt werden könnte. In dieser Hinsicht sind die großen Irrtümer großer<br />

Wissenschaftler allbekannt. Hinsichtlich der Zukunft der osteuropäischen<br />

Gesellschaften ist die Vorausschau der Klassiker des Marxismus meistens<br />

unbrauchbar. Dies hängt teilweise mit ihrer mangelnden Kohärenz <strong>und</strong> Einheit<br />

zusammen, was es z.B. ermöglicht, daß angesichts der Kritik an der<br />

Sowjetideologie <strong>und</strong> der jugoslawischen Selbstverwaltungsideologie die Vertreter<br />

beider Ideologien genügend klassische Zitate zur Verteidigung ihrer<br />

Vorstellung vom wahren Sozialismus gef<strong>und</strong>en haben.<br />

Die Klassiker des Marxismus setzten, wenn sie über die einheitliche nationale<br />

Wirtschaft oder über die Gesellschaft als Assoziation der freien Produzenten<br />

sprachen, voraus, daß der Sozialismus eine harmonische Gesellschaft<br />

sein werde, wo sich keine strukturellen Gegensätze entfalten werden.<br />

Diese Sozialismus-Vision der Klassiker des Marxismus läßt sich, in den Fakten<br />

des real existierenden Sozialismus, nicht wiederfinden.<br />

In dieser Hinsicht wurde ihre Vorausschau von der historischen Erfahrung<br />

nicht bestätigt. Die zwei charismatischen Führer, die zwischen<br />

zwei Weltkriegen an die Macht kamen, Stalin <strong>und</strong> Hitler, unterwarfen<br />

gleicherweise fast alle Bereiche des Privatlebens der Maschinerie der Bürokratie.<br />

Wenn ich skeptisch bin, was die Prognose betrifft, bedeutet dies nicht,<br />

daß ich es nicht als Aufgabe der Soziologie betrachte, sich mit der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Zukunft zu beschäftigen. Aber die Ergebnisse solcher Analysen<br />

sind kaum anders denn als die Vorlage einer Serie von alternativen Möglichkeiten<br />

vorstellbar.<br />

Die meisten unter den Soziologen, die eine retrospektive zusammenfassende<br />

Analyse fertiggestellt haben, versuchten auch immer schon die Zukunft<br />

zu bestimmen. Max Weber, der als Klassiker der verstehenden Soziologie<br />

zu betrachten ist, beschäftigte sich z.B. stets mit der zukünftigen Entwicklung<br />

der Gesellschaft. Er stellt nicht nur das Heranwachsen der Bürokratie<br />

in den modernen Gesellschaften fest, sondern sucht nach einem Ausweg,<br />

man könnte sagen, nach einer Ausflucht, um die Gesellschaft von der<br />

bürokratischen Macht befreien zu können.<br />

Was die Zukunft der osteuropäischen Gesellschaften betrifft, so entwerfen<br />

die drei vorher erwähnten soziologischen Richtungen auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

ihrer eigenen retrospektiven Analysen voneinander abweichende Zukunftsbilder,<br />

von denen ein jedes als ein alternatives Zukunftsbild mit mehr oder<br />

weniger Chance zu betrachten ist.<br />

Im Mittelpunkt des Zukunftsbildes der apologetischen Soziologie steht<br />

die Modernisierung des monolithischen Systems, was bedeutet, daß diese<br />

Richtung die Pluralisierung der <strong>gesellschaftliche</strong>n Beziehungen ablehnt <strong>und</strong><br />

die bürgerliche Gesellschaft im engen Rahmen der monolithischen Gesellschaft<br />

halten will.<br />

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Obwohl ich eine solche Modernisierung kritisch betrachte, meine ich<br />

doch, daß dies ein wichtiger Schritt weg vom Stalinismus ist <strong>und</strong> positive<br />

Elemente beinhaltet. Diese Richtung folgte teilweise dem Hauptweg der<br />

Modernisierung der westeuropäischen Länder. Deshalb vergrößert diese soziologische<br />

Richtung auch die adaptive Tätigkeit der osteuropäischen Systeme<br />

<strong>und</strong> eröffnet mehr Freiraum für die Menschen, damit diese in ihrem<br />

Privatleben ihre eigenen Ziele <strong>und</strong> Werte realisieren können.<br />

Gleichzeitig werden von diesen Soziologen sehr viele Vorstellungen beibehalten,<br />

die organische Teile der poststalinistischen Ideologie sind, die in<br />

den meisten europäischen Ländern noch immer vorherrscht. Vor allem<br />

denke ich an folgendes: Die relative Freiheit des Privatlebens wird auf das<br />

öffentliche Leben nicht ausgebreitet, wo weiterhin die Bürokratie ihre<br />

Macht unkontrollierbar ausübt, wenn auch im Prozeß der Modernisierung<br />

die Methoden der Machtausübung vervollkommnet <strong>und</strong> für die Menschen<br />

erträglicher werden. Mag die Modernisierung in diesem Rahmen auch noch<br />

so weit vorankommen; eine wirkliche sozialistische Gesellschaft kann sich<br />

nicht entfalten, da die Emanzipation von der bürokratischen Machtstruktur<br />

unmöglich ist. Der denkbar beste Fall könnte nicht anderes sein als eine Herrschaft<br />

der aufgeklärten Bürokratie.<br />

In der apologetischen Soziologie bleibt weiterhin eine Art Gesetzesfetischismus<br />

erhalten. Friedrich Engels hat gemeint, daß die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklung Gesetzen unterworfen ist wie die Natur. So schildern sie ihre<br />

Prognosen — <strong>und</strong> seien sie auch noch so irreal — als die Realisierung eines<br />

Entwicklungsgesetzes, das von allen progressiven Kräften unterstützt werden<br />

muß.<br />

In der kritischen Richtung muß man den naiven Antibürokratismus<br />

überwinden. Dieser naive Ansatz dominiert nicht nur in der alten sozialistischen<br />

Denkweise, sondern auch in den verschiedenen antibürokratischen<br />

kritischen Richtungen der Gegenwart. Solche Ansätze waren in China zur<br />

Zeit der chinesischen Kulturrevolution typisch. Sie herrschten bei den verschiedenen<br />

radikalkommunistischen Richtungen wie bei den Trotzkisten<br />

vor. Sie kennzeichnen Bahros berühmtes Buch „Die Alternative".<br />

Aber die historischen Erfahrungen <strong>und</strong> die logischen Analysen auf retrospektiver<br />

Basis haben auch bewiesen, daß in solchen Gesellschaften die<br />

Reproduktion der <strong>gesellschaftliche</strong>n Beziehungen ohne die bürokratische<br />

Machtstruktur, ohne die verschiedenen bürokratischen Institutionen, unvorstellbar<br />

ist.<br />

Innerhalb der kritischen Richtung finden sich zwei Vorstellungen über<br />

die Emanzipation der Gesellschaft. Die Vertreter der einen neigen dazu, die<br />

Einführung des westlichen Parlamentarismus, d.h. des Mehrparteiensystems,<br />

als unerläßlich <strong>und</strong> damit als eine gr<strong>und</strong>sätzliche Zielsetzung zu betrachten.<br />

Andere, unter ihnen auch ich, denken, daß die Realisierung dieser Zielsetzung<br />

sehr gefährlich wäre, sowohl für den inneren wie auch für den europäischen<br />

Frieden. Da diese Systeme über starke militärische <strong>und</strong> polizeiliche<br />

Kräfte verfügen <strong>und</strong> die Einführung des Parlamentarismus ihre Macht<br />

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gefährdet, werden sie diese Kräfte ausnützen, um ihre Interessen <strong>und</strong> ihre<br />

Macht zu verteidigen. Die unvermeidbare Folge wäre ein Bürgerkrieg. Der<br />

Bürgerkrieg in Europa könnte zum europäischen Krieg, das heißt zum Weltkrieg,<br />

führen. Dies ist das Hauptmotiv, weshalb ich meine, daß nach einem<br />

anderen Weg zur Emanzipation der Gesellschaft von der Bürokratie gesucht<br />

werden muß.<br />

Mir scheint eine Zukunftsalternative möglich, wo neben dem Einheitsparteisystem<br />

verschiedene autonome Bewegungen <strong>und</strong> Institutionen existieren,<br />

darunter jedoch keine politischen Parteien, die nach einem Wahlergebnis<br />

die politische Macht zu ergreifen wünschen oder die Machtausübung verhindern<br />

möchten.<br />

In solchen unabhängigen selbständigen Institutionen könnte sich meiner<br />

Meinung nach eine bürgerliche Gesellschaft ausbilden, die eine Möglichkeit<br />

hätte, die bürokratische Machtstruktur zu kontrollieren <strong>und</strong> zu beeinflussen.<br />

Die soziologische Basis dieser Alternative ist das Heranwachsen von Bedürfnissen<br />

nach <strong>gesellschaftliche</strong>r <strong>und</strong> nicht nur privater Autonomie. Dies<br />

verursacht in diesen Ländern mehr <strong>und</strong> mehr Konflikte zwischen der Macht<br />

<strong>und</strong> den Massen. Gehen diese Konflikte über einen gewissen Grad hinaus, so<br />

entsteht im starren Rahmen der monolithischen Institutionen des Staatssozialismus<br />

eine immer schärfer werdende Spannung, die das System mit einer<br />

politischen Krise bedroht. In dieser Situation hat die Macht ein elementares<br />

Interesse daran, einen Weg zum Pluralismus zu suchen.<br />

Andererseits sehen die verschiedenen Bewegungen <strong>und</strong> die Vertreter der<br />

nach Autonomie strebenden Institutionen als Ergebnis eines längeren Lernprozesses<br />

ein, daß sie im eigenen Interesse die maximalen Ziele beschränken<br />

müssen, um offene Konflikte mit der Macht zu vermeiden.<br />

In dieser Hinsicht sind in den osteuropäischen Ländern die Gruppen der<br />

demokratischen Opposition sehr wichtig. Doch stehen sie an einem Kreuzweg;<br />

sie müssen zwischen zwei Alternativmöglichkeiten wählen: — eine konstruktive<br />

Opposition, die die verschiedenen tatsächlichen ökonomischen,<br />

politischen <strong>und</strong> ideologischen Reformen der <strong>gesellschaftliche</strong>n Beziehungen<br />

unterstützt; — eine radikale Linie, die in einem offenen Konflikt mit der<br />

Macht alle Möglichkeiten zum Dialog zurückweist.<br />

Die gegenwärtige Lage, die gespannte europäische Situation zwischen<br />

den zwei Blöcken <strong>und</strong> die inneren Interessen der Massen dieser Länder erfordern<br />

zur friedlichen Entwicklung von der demokratischen Oppositon<br />

konstruktives Verhalten <strong>und</strong> die Zurücknahme ihrer radikalen Ziele. Auf<br />

diese Weise könnte die Reformierbarkeit dieses Systems vom Sowjettyp<br />

vergrößert werden. Auf dieser Basis läßt sich nur ein <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Kompromiß entwickeln, in dem die Macht die Existenz der unabhängigen<br />

Bewegungen <strong>und</strong> Institutionen toleriert <strong>und</strong> diese nicht danach streben,<br />

die Macht zu ergreifen oder ihre Ausübung zu verhindern. Sie geben sich<br />

mit der Kontrolle über <strong>und</strong> dem Einfluß auf die Macht zufrieden.<br />

Auch innerhalb der empirischen Richtung der Soziologie können Visionen<br />

über die Zukunft der osteuropäischen Gesellschaften gef<strong>und</strong>en wer-<br />

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den. Für gewisse Teilprobleme werden Prognosen erstellt. Die meist verwendeten<br />

Methoden sind:<br />

— Extrapolation <strong>und</strong><br />

— Intrapolation.<br />

Beide Methoden müssen im Hinblick auf die Praxis einer kritischen Beurteilung<br />

unterzogen werden. Die Extrapolation setzt voraus, daß bestimmte<br />

Entwicklungstrends in die Zukunft projizierbar sind <strong>und</strong> keine unerwarteten,<br />

nicht kalkulierbaren Ereignisse auftreten werden. Die Erfahrung dieses<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts weist zuviel solcher Störfaktoren auf. Die Intrapolation<br />

setzt voraus, daß die Gesellschaften verschiedenen Typs dem gleichen Entwicklungsweg<br />

folgen. Unsere Epoche ist jedoch vom Suchen nach einem<br />

Weg gekennzeichnet.<br />

Trotz dieser methodischen Schwierigkeiten bereichern die Prognosen<br />

der empirischen Soziologie die Zukunftsvisionen sowohl der apologetischen<br />

als auch der kritischen Richtung.<br />

In meinem Vortrag verschärfte ich die Unterschiede zwischen den verschiedenen<br />

Richtungen, ohne daß ich die positive Funktion einer jeden zu<br />

bestreiten wünschte. Die Soziologie erfüllt in den osteuropäischen Ländern<br />

meiner Meinung nach eine originär positive Funktion. Ich selbst gehöre<br />

zwar zur kritischen soziologischen Richtung, aber ich habe keine Vorurteile<br />

gegenüber anderen. Im Laufe meines abwechslungsreichen Lebens war ich<br />

nach einer kurzen politischen Laufbahn apologetischer Soziologe, dafür habe<br />

ich akademische Anerkennung <strong>und</strong> den Professorentitel erhalten. Ich<br />

war empirischer Soziologe, mit den begleitenden Vorteilen, <strong>und</strong> schließlich<br />

wurde ich zum kritischen Soziologen mit Verlust meiner Arbeit <strong>und</strong> mit Berufsverbot.<br />

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Themenbereich I:<br />

Gesellschaftliche Entwicklung<br />

von Lebenszusammenhängen<br />

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EINLEITUNG<br />

Eckart Pankoke<br />

Im Erwartungs- <strong>und</strong> Bewertungshorizont von „1984" wurde Orwells Vision<br />

totaler Modernisierung zur Aufforderung, über die Bedingungs- <strong>und</strong> Wirkungszusammenhänge<br />

von „Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklung"<br />

— so das Leitthema des Dortm<strong>und</strong>er Soziologentages 1984 — Rede <strong>und</strong><br />

Antwort zu stehen. Die Vergegenwärtigung von Tendenzen, Krisen <strong>und</strong><br />

Chancen des Modernisierungsprozesses gab den Bezugsrahmen, die Praxis<br />

soziologischer Lehre <strong>und</strong> Forschung in ihren <strong>gesellschaftliche</strong>n Wertungen,<br />

Wirkungen <strong>und</strong> Verantwortungen zu reflektieren.<br />

In gesellschaftstheoretischer Retrospektive erscheint der Modernisierungsprozeß<br />

zumeist als Vergesellschaftung lebensweltlicher Identität <strong>und</strong><br />

Solidarität. Verwiesen wird auf die Systemzwänge von „Arbeitsgesellschaft",<br />

„Organisationsgesellschaft", „Mediengesellschaft", mit denen Orwells Ängste<br />

vor einem Umschlag <strong>gesellschaftliche</strong>r Modernität in die Totalität systemtechnischer<br />

Vergesellschaftung gewiß weiter akut bleiben.<br />

Im Blick auf aktuelle Krisen, strukturelle Grenzen <strong>und</strong> kulturelle<br />

Brüche des Modernisierungsprozesses muß jedoch die Perspektivik wechseln,<br />

da die sozialen Folgen, Kosten <strong>und</strong> Chancen der Moderne sich anders<br />

darstellen, wenn die Chancen moderner Lebensführung knapper<br />

werden.<br />

So sehen wir uns neu damit konfrontiert, daß Modernisierung auf Grenzen<br />

des Wachstums trifft <strong>und</strong> mit Verweis auf diese Grenzen evolutionäre<br />

Errungenschaften der Moderne zurückgenommen werden könnten.<br />

Auf dem Hintergr<strong>und</strong> neu aufreißender gesellschaftspolitischer Problem<strong>und</strong><br />

Randlagen gilt es, nicht nur den sozialen Folgen gesteigerter Modernität<br />

nachzugehen, sondern zugleich auch die soziale Problematik verweigerter<br />

Modernität bewußt zu machen. Dies gilt auch mit Blick auf die lebenspraktischen<br />

Felder sozialen Handelns <strong>und</strong> Erlebens, sozialer Gestaltung <strong>und</strong><br />

Verantwortung.<br />

So wird auf diesem Forum die „<strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung von Lebenszusammenhängen"<br />

zum verbindenden Problem der Sektionen „Familien<strong>soziologie</strong>"<br />

<strong>und</strong> „Frauenforschung", „Stadt<strong>soziologie</strong>" <strong>und</strong> „Sozialpolitik".<br />

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1. Rückblick: Soziologie <strong>und</strong> Modernisierungsprozeß: „1948"—„1984"<br />

In der durch Orwell markierten Epochenspanne von „1948" <strong>und</strong> „1984"<br />

zeigt der Rückbezug auf erste Nachkriegsjahre zunächst eine Soziologie, die<br />

im Aufwind von Wiederaufbau <strong>und</strong> Wirtschaftsw<strong>und</strong>er mit dem Modernisierungsprozeß<br />

mitzog <strong>und</strong> mit ihren Konstrukten von „moderner Familie",<br />

„moderner Jugend", „moderner Großstadt" <strong>und</strong> „moderner Gesellschaft"<br />

die neue Modernität einer „skeptischen Generation" auf den Begriff brachte<br />

<strong>und</strong> so bestätigen <strong>und</strong> verstärken konnte.<br />

„Soziologie <strong>und</strong> moderne Gesellschaft" — so das Motto des Berliner Soziologentages<br />

1959 — wurde zur Problemformel neuer „Ortsbestimmungen<br />

der Soziologie". Eine modernisierungskritische Wende markierte der Heidelberger<br />

Soziologentag zum Max-Weber-Jahr-1964; die Rezeption Max Webers<br />

gab Anlaß soziologischer Auseinandersetzungen mit der Rationalität der Moderne<br />

<strong>und</strong> den auf ihr lastenden Schatten eines geschichtlich erlittenen <strong>und</strong><br />

bedrohlich bleibenden Umschlags in Ermächtigung <strong>und</strong> Entfremdung. Diese<br />

„Dialektik der Aufklärung" fand Nachhall in einer „kritischen Generation"<br />

<strong>und</strong> im programmatischen Selbstverständnis von „Soziologie als Krisenwissenschaft".<br />

Progressiv gerichtetes Engagement begann damit, die fortschreitende<br />

Modernisierung mit Blick auf moderne Entfremdungen radikal in Frage zu<br />

stellen. Zu einer Schwelle wurde „1968", — schon weit fern von „1948"<br />

<strong>und</strong> fast auch schon gleich fremd für „1984". Für die Soziologie war 1968<br />

das Karl-Marx-Jahr mit dem Frankfurter Soziologentag „Spätkapitalismus<br />

oder Industriegesellschaft", es war zugleich Gründungsphase sozialwissenschaftlicher<br />

Institute <strong>und</strong> Fakultäten <strong>und</strong> Auftakt programmatischer Richtungskämpfe<br />

um kritische Theorie der Gesellschaft <strong>und</strong> um soziologische<br />

Aufklärung moderner Syste<strong>mb</strong>ildung. Noch allerdings ging es jeweils um<br />

konsequenten Durchbruch der Moderne.<br />

Im Bewußtsein wachsender Spannungen zwischen den Systemzwängen<br />

von Modernisierungsprozessen <strong>und</strong> der Betroffenheit sozialer Lebenswelt<br />

richtete sich soziologische Theorie <strong>und</strong> Empirie zunehmend auf die Evolutions-<br />

<strong>und</strong> Konstitutionsprozesse sozialer Deutungsmuster <strong>und</strong> Handlungsfelder.<br />

2. Gegenwartsfragen: „Krisen der Arbeitsgesellschaft"<br />

Daß die Themen dieses Soziologentages hier <strong>und</strong> heute, 1984 in Dortm<strong>und</strong><br />

unter der bedrückenden Gegenwärtigkeit struktureller Arbeitslosigkeit zu<br />

verhandeln sind, rückt diesen in Ba<strong>mb</strong>erg 1982 noch als Frage gefaßten Bezug<br />

„Krise der Arbeitsgesellschaft?" nun dringlicher in das Bewußtsein soziologischer<br />

Verantwortung.<br />

Die „Krisen der Arbeitsgesellschaft" erschienen im Erwartungsrahmen<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Wertwandels zunächst als Aufforderung zum „Ausstieg<br />

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aus der Arbeitsgesellschaft", als Chance neuer Lebensentwürfe, sich nun<br />

von industriellen Zwängen „frei" zu machen <strong>und</strong> auf eine Zukunft post-industrieller<br />

Werte <strong>und</strong> Welten zu setzen. Heute, 1984, sehen wir uns hingegen<br />

anders herausgefordert: nicht nur durch die Erwartung einer sprunghaften<br />

Steigerung moderner Systemtechnik <strong>und</strong> Systemkontrolle, sondern<br />

auch durch unsere Betroffenheit, daß an den „Grenzen des Wachstums"<br />

evolutionäre Errungenschaften der Moderne zurückgenommen werden<br />

könnten.<br />

Beides ist zusammenzusehen: der kulturelle Wandel <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Werte <strong>und</strong> der strukturelle Rahmen <strong>gesellschaftliche</strong>r Lebenslagen <strong>und</strong> Lebenschancen.<br />

Dann wird als Problem bewußt, daß soziokulturelle Lernprozesse<br />

einer Umwertung der Moderne doch an die im Modernisierungsprozeß<br />

institutionalisierten Freiheiten <strong>und</strong> Sicherungen geb<strong>und</strong>en bleiben.<br />

Gerade hier an der Ruhr, dieser von den „Krisen der Arbeitsgesellschaft"<br />

besonders schwer getroffenen alten Industrielandschaft, müssen wir erfahren,<br />

daß industrie<strong>gesellschaftliche</strong> Produktivität sich festgefahren hat, auf<br />

Grenzen trifft, gebrochen wird <strong>und</strong> bei rückläufiger Modernität Rück- <strong>und</strong><br />

Randständigkeit aufbricht. In solchen Problemzonen „sozialer Brache" werden<br />

die Folgekosten konjunktureller <strong>und</strong> struktureller Brüche unabweisbar<br />

akut: verweigerte Lebenschancen, zerrissene Lebenszusammenhänge, verstörter<br />

Lebenssinn.<br />

Schienen im Zeichen des Wachstums die Errungenschaften der Moderne<br />

noch verallgemeinerbar <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>r Ausgleich noch durchsetzbar,<br />

so wird nun in knapperen Zeiten soziale Ungleichheit wieder härter spürbar:<br />

auf dem Arbeitsmarkt, dem Wohnungsmarkt, in Konsum <strong>und</strong> Freizeit, aber<br />

auch im öffentlichen Bereich sozialer Infrastruktur <strong>und</strong> Dienstleistung. Polarisierung<br />

<strong>und</strong> Marginalisierung reißt auf — <strong>und</strong> der Riß einer sich spaltenden<br />

Gesellschaft trifft gerade auch das Verhältnis der Generationen <strong>und</strong><br />

trennt die Generation 'mit Vergangenheit' (in den 1950 <strong>und</strong> 1960er Jahren)<br />

von einer Generation 'ohne Zukunft' — zumindest soweit Erwartungen<br />

nach Geld <strong>und</strong> Macht verrechnet werden.<br />

Unser Proble<strong>mb</strong>ewußtsein darf sich allerdings nicht nur darauf richten,<br />

daß Chancen knapper werden; gleichermaßen sehen wir uns davon betroffen,<br />

daß auch Horizonte enger werden, gerade für die „Entwicklung von Lebenszusammenhängen":<br />

Dies gilt für eine „Humanisierung der Arbeitswelt",<br />

für eine bewußtere Lebensgestaltung von Familienleben <strong>und</strong> Familiensinn,<br />

— auch im Verhältnis der Geschlechter; es gilt für die kulturelle Entwicklung<br />

<strong>und</strong> sozialräumliche Belebung unserer Städte; insbesondere betrifft<br />

es heute auch lebenspraktische Umwertungen im Verhältnis von <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Arbeit <strong>und</strong> freier Zeit.<br />

Die Beiträge aus den beteiligten Sektionen können die Gefahr struktureller<br />

Verknappung <strong>und</strong> kultureller Verengung nachdrücklich belegen. Dabei<br />

werden verhängnisvolle Transformationen der Moderne gerade dort auffällig,<br />

wo die verinnerlichten Leitbilder moderner Lebensführung nicht<br />

mehr auf die Sicherungen <strong>und</strong> Leistungen <strong>gesellschaftliche</strong>r Modernität<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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auen können, weil Errungenschaften der Moderne zurückgezogen, verweigert,<br />

verdrängt sind.<br />

Doch auch ein zwanghaftes Durchhalten der Muster arbeits<strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Modernität, ein formalistisches Festhalten an den damit gesetzten<br />

Standards industrieller Normalität mit den rigorosen Trennlinien nach Berufs-<br />

<strong>und</strong> Geschlechtsrollen, Funktionszonen <strong>und</strong> Teil-Zeiten wird problematisch,<br />

wenn es gilt, auch jenseits kleinfamilialer Leitbilder ein Engagement<br />

familialer Bindung <strong>und</strong> Verbindlichkeit neu zu entwickeln, eine nicht<br />

über Berufsrollen festgelegte personale Identität zu entfalten, ein von bürgerlicher<br />

Urbanität abhebendes Engagement sozialer Bewegung öffentlich<br />

zu machen oder über neue Formen gemeinschaftlich geteilter Arbeit <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Solidarität neu zu begründen.<br />

Soziologische Orientierungen, welche soziale Betroffenheiten durch gesteigerte<br />

bzw. verweigerte Modernität nicht nur problematisieren, sondern<br />

auch die Handlungs- <strong>und</strong> Entwicklungspotentiale sozialer Kontexte deutlich<br />

zu machen suchen, könnten hier der „Entwicklung von Lebenszusammenhängen"<br />

auch praktisch Perspektiven aufzeigen.<br />

3. Ausblick: „Lebenszusammenhänge" als Problem der Soziologie<br />

Der Anspruch soziologischer Orientierung auf lebenspraktische wie gesellschaftspolitische<br />

Relevanz meldete sich an mit begrifflichen Konstrukten<br />

wie „Lebenslage", „Lebenschance" <strong>und</strong> „Lebenswelt": So greift der Begriff<br />

der „Lebenslage" tiefer als eine Schichtung nach ökonomischer Lagerung.<br />

„Lebenslagen" sind immer auch zu bestimmen über die gesellschaftsbedingte<br />

Perspektivik sozialen Erlebens, Bewertens <strong>und</strong> Erwartens.<br />

„Als Lebenslage gilt der Spielraum, den die äußeren Umstände dem<br />

Menschen für die Erfüllung seiner Gr<strong>und</strong>anliegen bieten, die er bei ungehinderter<br />

<strong>und</strong> gründlicher Selbstbesinnung als bestimmend für den Sinn seines<br />

Lebens ansieht." (Weisser 1956)<br />

Ein solcher Bezug auf die sinnhafte Dimension der Erwartungen <strong>und</strong><br />

Bewertungen sozialer „Lebenswelt" verwies sozialwissenschaftliche Forschung<br />

auf die „subjektiven Indikatoren" sozialer Bedürftigkeit <strong>und</strong> Betroffenheit;<br />

praktisch wurde dies umgesetzt in Konzepte einer „bürgernahen"<br />

<strong>und</strong> „bedürfnisorientierten" Verwaltung; ein qualitatives Verständnis der<br />

„Lebenslage" als „Lebensqualität" wurde zur Programmformel einer an<br />

sozialen Zielgruppen <strong>und</strong> Zielräumen sich orientierenden sozialen Politik.<br />

Zielte der Begriff der „Lebenslage" auf ein qualitatives Verständnis<br />

sozialer Ungleichheit <strong>und</strong> betonte demgegenüber die liberal gewendete<br />

Programmformel der „Lebenschance" die Eigenverantwortlichkeit individueller<br />

Wahlfreiheit <strong>und</strong> Wahlmöglichkeit, so setzt das Konzept des „Lebenszusammenhanges"<br />

den Akzent auf die Entwicklungsdynamik sozialer<br />

Lebensweisen, Beziehungsfelder <strong>und</strong> Vernetzungsprozesse. Gesellschafts-<br />

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politisch geht es dann nicht nur um die Befriedung <strong>gesellschaftliche</strong>r 'Lagen'<br />

oder ein Freimachen <strong>gesellschaftliche</strong>r 'Chancen', sondern um die aktive<br />

Entwicklung von Handlungskompetenzen <strong>und</strong> Handlungskontexten.<br />

Bestimmen wir „Lebenszusammenhänge" nach ihrem „menschlichen<br />

Maß" sozialer Nähe, so geht es nicht um quantitative Maßstäbe <strong>und</strong> Reichweiten,<br />

vielmehr um eine besondere Qualität <strong>und</strong> Intensität sozialer Integration.<br />

In „Lebenszusammenhängen" können die Mechanismen moderner<br />

Systemintegration (Funktionstrennung, Systemdifferenzierung <strong>und</strong> Formalkontrolle)<br />

zurückgenommen werden, da hier in der Gegenwärtigkeit <strong>und</strong><br />

Unmittelbarkeit wechselseitiger Wahrnehmung, also „sozialintegrativ" über<br />

Verhandlung <strong>und</strong> Verständigung, Vertrauen <strong>und</strong> Verantwortung sich „Zusammenhang"<br />

konstituieren <strong>und</strong> stabilisieren kann.<br />

Doch geht es nicht um ein vorbehaltloses Konservieren von gewachsenen<br />

<strong>und</strong> gestandenen „kleinen Netzen" (wie den „natural-networks" von<br />

Verwandtschaft, Nachbarschaft, Kameradschaft), auch nicht um die einseitige<br />

Auslegung von Subsidiarität zum Zwecke der Abwälzung <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Probleme auf die private Sorge primärer Lebenskreise, (die sich dabei<br />

gerade nicht mehr subsidiär gestützt, sondern aus sozialpolitischer Daseinsvorsorge<br />

fallen gelassen sehen). Ordnungspolitische Programmformeln der<br />

„Solidarität", „Subsidiarität" oder „Pluralität" gewinnen vielmehr neuen<br />

Sinn, wenn wir sie bewußt relational <strong>und</strong> reflexiv verstehen — d.h. im Sinne<br />

von Organisations- <strong>und</strong> Relationsformen, die sich in ihren Binnenbeziehungen<br />

wie Umweltrelationen selbst bestimmen <strong>und</strong> selbst steuern können. In<br />

diesem Sinne zielt auch unsere Formel „Entwicklung von Lebenszusammenhängen"<br />

auf die Offenheit der Konstitutionsprozesse selbstbewußter<br />

<strong>und</strong> selbstaktiver Vernetzung.<br />

Für soziologische Forschungsorientierung, gerade auch in den hier vorgestellten<br />

Sektionen, bedeutet dies ein wachsendes Interesse an den Konstitutionsprozessen<br />

<strong>und</strong> der Entwicklungsdynamik sozialer Handlungsfelder<br />

<strong>und</strong> Deutungsmuster: Zu verweisen ist auf Biographieforschung <strong>und</strong> Lebenslaufanalyse,<br />

Familiengeschichte <strong>und</strong> Sozialisationsforschung, Sozialraumanalyse<br />

<strong>und</strong> die Erforschung sozialer Netzwerke. Theoretische wie methodische<br />

Konzepte einer Ethnomethodologie des Alltags, eines sy<strong>mb</strong>olischen<br />

Interaktionismus wie methodologischen Individualismus, Theorien<br />

kommunikativen Handelns <strong>und</strong> selbstreferentieller Systeme entwickeln dazu<br />

ein neues bewußt handlungsorientiertes Verständnis der „sozialen Konstruktion<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Wirklichkeit".<br />

Wenn wir nun das Konstrukt des „Lebenszusammenhanges" mit dem<br />

Begriff der „Entwicklung" verbinden, wird die doppelte Perspektivik von<br />

„Entwicklung" zu beachten sein: Transitiv bedeutet „Entwicklung von Lebenszusammenhängen"<br />

die planmäßige Durchsetzung eines Bedingungsrahmens<br />

zur Verbesserung von Lebenslagen. Davon zu unterscheiden ist ein<br />

reflexives Verständnis von „Entwicklung". Dann geht es nicht nur darum,<br />

daß Lebenslagen entwickelt-werden, vielmehr interessiert die Chance, daß<br />

„Lebenszusammenhänge" sich-entwickeln können.<br />

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Gerade dann stoßen wir auf die kritischen Punkte, Bruch- <strong>und</strong> Schwachstellen,<br />

Konflikt- <strong>und</strong> Krisenlagen von Modernisierungsprozessen. So sind<br />

die Zeichen ernst zu nehmen, daß die systemintegrative Modernität von<br />

Organisations- <strong>und</strong> Mediengesellschaft die Entwicklung von Lebenszusammenhängen<br />

blockieren kann, daß es im Abseits des Modernisierungsprozesses<br />

erneut <strong>und</strong> verschärft zu Marginalisierung <strong>und</strong> Polarisierung kommt <strong>und</strong><br />

in einer sich spaltenden Gesellschaft die Leitbilder selbstbewußter <strong>und</strong><br />

selbstgesteuerter Lebensführung zur Illusion <strong>und</strong> Ideologie werden können.<br />

Die strukturellen wie kulturellen Krisen sozialer Lebenszusammenhänge<br />

führen zu Fragen nach der praktischen Wirksamkeit soziologischer Orientierung.<br />

Jedoch: wenn es fiskalisch knapp <strong>und</strong> legitimatorisch eng wird, sehen<br />

sich gerade Sozialwissenschaftler in ihrem gesellschaftspolitischen Relevanzanspruch<br />

sehr bald in Frage gestellt. Entlassen aus dem Verwertungsdruck<br />

des Planungs- <strong>und</strong> Legitimationshelfers muß Soziologie sich nun der Frage<br />

stellen, ob ihr Rückzug auf das „menschliche Maß" nicht nur Symptom <strong>und</strong><br />

Reaktion ist auf ihre Verdrängung aus öffentlicher Wirksamkeit <strong>und</strong> Verantwortlichkeit.<br />

Das neue Interesse für die Feinstruktur der interaktiven <strong>und</strong> intersubjektiven<br />

Konstitution des „Sozialen" könnte aber auch darin Gr<strong>und</strong> finden,<br />

daß soziale Lebenszusammenhänge heute in ihrer Spannung zur etablierten<br />

Modernität praktisch zum Problem werden:<br />

— sei es, daß soziale Lebenszusammenhänge unter verschärften Modernisierungsdruck<br />

kommen;<br />

— sei es, daß im Sog einer sich zurückziehenden Modernität die Randlagen<br />

neuer Pauperisierung <strong>und</strong> Marginalisierung sich ausweiten;<br />

— sei es, daß in der Folge strukturellen wie kulturellen Wandels es zu normativen<br />

Umwertungen kommt;<br />

— sei es, daß freigesetzte Subjektivität dann nicht mehr Halt <strong>und</strong> Rahmen<br />

findet, sich verbindlich binden (anders formuliert: „engagieren") zu können;<br />

— sei es, daß die Relationen zwischen der systemintegrativen Steuerung<br />

des Modernisierungsprozesses <strong>und</strong> der sozialen Integration von Lebenszusammenhängen<br />

gesellschaftspolitisch neu zu ordnen, zu gestalten <strong>und</strong> zu<br />

steuern sind.<br />

Im Bewußtsein der Spannungen zwischen <strong>gesellschaftliche</strong>r Syste<strong>mb</strong>ildung<br />

<strong>und</strong> der sozialen Dynamik von Lebenszusammenhängen stellen sich<br />

Fragen der „Vermittlung". Gerade hier könnte sich aus der Sensibilität<br />

„verstehender Soziologie" in Verbindung mit einem kritischen Sinn für Systeme<br />

ein neues Selbstbewußtsein soziologischer Kompetenz begründen:<br />

„Vermittlung" bedeutet dabei allerdings nicht nur die kommunikative Mittlerstellung<br />

des „Grenzgängers" zwischen sozialaktiven Feldern <strong>und</strong> politisch-administrativen<br />

Systemen. Auch bei Spannungsfeldern kann soziologisch<br />

vermittelte Handlungsorientierung Spannungen deutlich <strong>und</strong> öffentlich<br />

machen <strong>und</strong> so erst Verhältnisse „unter Spannung" <strong>und</strong> „in Bewegung"<br />

bringen. Besonders wird dies deutlich, wenn es um ein „Sich-Entwickeln<br />

von Selbststeuerung" geht, d.h. um die Eigendynamik <strong>und</strong> Autonomie ge-<br />

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seilschaftlicher Lebens- <strong>und</strong> Handlungszusammenhänge — gerade auch in<br />

Spannung zu <strong>gesellschaftliche</strong>r Umwelt, zu etablierten Systemen <strong>und</strong> zu<br />

institutionalisiertem Kontext.<br />

Hier könnte die Mittlerstellung des Soziologen sich auch darin bewähren,<br />

daß für das Aktionspotential <strong>und</strong> die Entwicklungsdynamik sozialer<br />

Lebenszusammenhänge neue institutionelle Arrangements sich entwickeln<br />

<strong>und</strong> vermitteln lassen: Dies gilt für die Selbststeuerung familialer Lebenszusammenhänge;<br />

für neue Vereinbarungen <strong>gesellschaftliche</strong>r <strong>und</strong> familialer<br />

Arbeitsteilung; es gilt für eine Aktivierung sozialräumlicher Lebenszusammenhänge<br />

<strong>und</strong> randständiger Lebenslagen wie für neue Bewegungen<br />

sozialer Widerständigkeit im Urbanen Raum <strong>und</strong> in kommunaler Öffentlichkeit;<br />

<strong>und</strong> es gilt im Sinne gesellschaftspolitischer Öffnung der industriegesellschaftlich<br />

durchgesetzten Systemgrenzen <strong>und</strong> Grenzkontrollen<br />

für neue Gestaltungsformen <strong>und</strong> Verteilungsmuster <strong>gesellschaftliche</strong>r Arbeit<br />

<strong>und</strong> freier Tätigkeit.<br />

„Vermittlung" bedeutet dabei immer auch Kommunikationsprozesse<br />

sozialer Verständigung <strong>und</strong> Verantwortung zwischen zuständigen <strong>und</strong> betroffenen<br />

„Subjekten", zugleich aber auch die Verhandlung über institutionell<br />

verbindliche Regulierung <strong>und</strong> Selbstregelung. So geht es immer zugleich<br />

um beides: um soziale Felder <strong>und</strong> um <strong>gesellschaftliche</strong> Systeme. Hier<br />

könnte soziologische Aufklärung für gesellschaftspolitische Verantwortung,<br />

d.h. für offenes <strong>und</strong> öffentliches „Rede-<strong>und</strong>-Antwort-Stehen", auch praktisch<br />

Perspektiven öffnen.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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MODERNE FAMILIALE LEBENSFORMEN ALS HERAUSFORDERUNG<br />

DER SOZIOLOGIE<br />

Kurt Lüscher<br />

1. Es gehört zu den Paradoxien des Themas, daß die Beschäftigung mit einer<br />

uns allen vertrauen Lebensform im Gr<strong>und</strong>e genommen erheblicher theoretischer<br />

Abklärungen bedarf; denn sozusagen alles, was Familie betrifft,<br />

ist heutzutage von Ideologien <strong>und</strong> individuellen Erfahrungen, von Werten<br />

<strong>und</strong> Emotionen stark besetzt. In der familienwissenschaftlichen Forschung<br />

erweist sich die Disziplinierung der eigenen Betroffenheit weitaus schwieriger<br />

als in vielen anderen Arbeitsbereichen. Daraus ergeben sich spezifische<br />

Herausforderungen der Soziologie. Sie beginnen schon bei der Verständigung<br />

darüber, was mit Familie gemeint ist.<br />

2. Der Begriff Familie ist der Soziologie wie viele andere Begriffe des täglichen<br />

Lebens vorgegeben <strong>und</strong> weist eine verschlungene Begriffsgeschichte<br />

auf, deren Quintessenz lautet, daß mit Familie — zumindest in der Neuzeit<br />

— öffentlich (meist rechtlich) anerkannte Lebensformen zur Gestaltung<br />

des Verhältnisses zwischen Eltern <strong>und</strong> Kindern gemeint sind. Wesentlich<br />

2<br />

für Familie ist somit ihr doppelter Charakter als eine Art Lebensgemeinschaft<br />

oder Gruppe <strong>und</strong> als <strong>gesellschaftliche</strong> Institution. Dabei sind die Abgrenzungen<br />

zu Ehe, Haushalt <strong>und</strong> Verwandtschaft oft fließend. Sozialgeschichtlichen<br />

Forschungen verdanken wir zu diesem Thema in den letzten<br />

Jahrzehnten eine Fülle wichtiger Einsichten, aus denen sich für unseren<br />

Kulturbereich folgende Generalisierungen ergeben: 3<br />

a) Zu allen Zeiten gab es — oft nebeneinander — verschiedene Formen<br />

des Haushaltes, darin lebten Familien mit wenigen <strong>und</strong> mit vielen Kindern,<br />

<strong>und</strong> zusätzlich lebten darin u.U. weitere Verwandte sowie Bedienstete.<br />

b) Der heute vorherrschende Typ der Kernfamilie, also derjenigen Familie,<br />

die primär auf den Eltern-Kind-Beziehungen beruht, ist dadurch entstanden,<br />

daß den Eltern die primäre Verantwortung für die Pflege <strong>und</strong> Erziehung<br />

der Kinder übertragen <strong>und</strong> ihnen eine gewisse Autonomie der Gestaltung<br />

eines privaten alltäglichen Lebensraumes zugebilligt worden ist.<br />

Diese hervorragende Stellung der Kernfamilie hat sich im wesentlichen<br />

seit dem 18. Jahrh<strong>und</strong>ert herausgebildet. — Sonderformen wie Familien<br />

alleinerziehender Mütter oder Väter wurden im Laufe der Zeit zusehends<br />

als gleichwertig anerkannt. Formen <strong>und</strong> Aufgaben von Familien standen<br />

<strong>und</strong> stehen in Wechselbeziehungen zu den demographischen Entwicklungen<br />

sowie zu wirtschaftlichen, politischen <strong>und</strong> kulturellen Sachverhalten.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


c) Parallel zur Entwicklung dieses relativ autonomen Lebensraumes der<br />

Familie ist ein Netzwerk mehr oder weniger formalisierter sozialer Beziehungen<br />

<strong>und</strong> öffentlicher Einrichtungen entstanden, die die Kernfamilie in<br />

der Pflege <strong>und</strong> Erziehung der Kinder sowie in der Sorge für die Alten unterstützen,<br />

teilweise ergänzen, aber auch mit ihr konkurrieren.<br />

3. Es gab also schon früher eine Pluralität jener Lebensverhältnisse, die wir<br />

von unserem heutigen Verständnis her <strong>und</strong> für die Zwecke der sozialwissenschaftlichen<br />

Analyse als „familiale Lebensformen" bezeichnen können.<br />

Auch gab es schon früher neue Entwicklungen <strong>und</strong> Auseinandersetzungen<br />

um institutionelle Anerkennung. Doch hat es den Anschein, als ob seit Anfang<br />

der 60er Jahre eine neue <strong>und</strong> vor allem überaus rasch ablaufende Phase<br />

des Wandels in Gang gekommen ist. Sie betrifft z.T. Familientypen (z.B.<br />

Familien alleinerziehender Eltern), die wir in gewisser Weise schon von früher<br />

her kennen. Doch die Umstände ihrer Entstehung <strong>und</strong> Verbreitung<br />

scheinen andere zu sein. Folgende demographische Sachverhalte können in<br />

etwa als Indikatoren der Emergenz von derart — in einem eingegrenzten<br />

Sinne des Wortes — neuen familialen Lebensformen verstanden werden: 4<br />

— Rückgang der Eheschließungen, wobei bis etwa 1975 das durchschnittliche<br />

Heiratsalter sank, seither wieder ansteigt.<br />

— Zunahme der Zahl der kinderlosen Paare sowie des relativen Anteils der<br />

Familien mit einem oder zwei Kindern.<br />

— Rückgang der Geburtenziffer, wobei allerdings die eheliche Geburtenziffer<br />

seit 1975 wieder angestiegen ist, der Rückgang neuerdings also<br />

wesentlich mit dem Verzicht auf Eheschluß zusammenhängt.<br />

— Rascher Anstieg der Haushalte unverheirateter Paare — mehr oder weniger<br />

zutreffend „nichteheliche Lebensgemeinschaften" genannt. — Ziemlich<br />

genaue Zahlen liegen aus der Volkszählung 1980 für die Schweiz<br />

vor, wo der Anteil unverheirateter Paare unter allen Paaren ohne Kinder<br />

8% beträgt; unter den 20- bis 24jährigen beträgt der Anteil r<strong>und</strong><br />

25% (Lüscher 1983). — Die Größenordnungen in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

sind gemäß verschiedener Schätzungen ähnlich (Wingen 1984). Die<br />

Zahl der zum Zeitpunkt der Volkszählung zusammenlebenden unverheirateten<br />

Paare mit Kindern beträgt in der Schweiz 2% aller Familien<br />

mit minderjährigen Kindern. 5<br />

— Zunahme der Scheidungsziffern <strong>und</strong> der Zahl der Ein-Eltern-Familien<br />

sowie der Kinder mit Stiefeltern. — Schwarz (1984) schätzt, daß 8%<br />

aller noch nicht 18jährigen Kinder im Haushalt von Stiefeltern wohnen<br />

(davon gut vier Fünftel mit ihrer natürlichen Mutter). Ferner leben<br />

7,5% der Kinder bei der alleinstehenden Mutter, 1,5% beim alleinstehenden<br />

Vater. 83% der Kinder wachsen derzeit im Haushalt ihrer zusammenlebenden<br />

Eltern auf.<br />

4. Für die Analyse dieser Sachverhalte ist es notwendig, Konzepte heranzuziehen,<br />

die der Dynamik familialer Lebensformen in zweifacher Hinsicht gerecht<br />

zu werden vermögen, nämlich, erstens in bezug auf die Entwicklung<br />

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der einzelnen Familie <strong>und</strong>, zweitens, in bezug auf die Herausbildung einer<br />

Pluralität von Familienformen, eingeschlossen die beobachtbare teilweise<br />

Ablehnung der Familiengründung. Es geht also um Prozesse der Konstitution<br />

<strong>und</strong> um die Emergenz von Lebensformen im <strong>gesellschaftliche</strong>n Raum.<br />

Konzeptuelle Gr<strong>und</strong>lagen<br />

1. Als Ausgangspunkt für die Analyse wähle ich einen Sachverhalt, der sowohl<br />

theoretisch als auch empirisch relevant ist. Es ist dies der Umstand,<br />

daß der neugeborene Mensch während mehrerer Jahre auf Fürsorge, auf<br />

Pflege <strong>und</strong> Erziehung durch Erwachsene angewiesen ist. Mit der Erfüllung<br />

der dabei anfallenden Aufgaben ordnen aus heutiger Sicht die Eltern ihre<br />

Kinder, sich selbst <strong>und</strong> ihre häusliche Gemeinschaft in eine übergreifende<br />

Entwicklung ein <strong>und</strong> generieren dementsprechend Sinngebungen des Lebens,<br />

kurz, entwickeln individuelle <strong>und</strong> kollektive Identitäten. Die Familienformen<br />

drücken aus, wie die Lebensverhältnisse <strong>und</strong> das Verständnis<br />

dieser Aufgaben unter konkreten historischen Bedingungen zusammenwirken.<br />

Mit anderen Worten, wir können familiale Lebensformen, knapp formuliert,<br />

als „soziale Erfindungen" zur Gestaltung der anthropologisch gestellten<br />

Aufgabe der Pflege <strong>und</strong> Erziehung des Nachwuchses betrachten.<br />

Dabei kann in soziologischer Sicht offen bleiben, inwieweit der Ursprung<br />

von Familie auf glaubensmäßige Überzeugungen oder auf Verhaltensdispositionen<br />

zurückgeführt werden kann oder soll. Ausschlaggebend ist in jedem<br />

Fall, daß sich seit Menschengedenken eine Vielfalt familialer Lebensformen<br />

durch erfahrungsgeleitete Gestaltung konkreter Lebensverhältnisse<br />

konstituiert. Diese Konstitution stellt in einem weiten Sinne des Wortes<br />

eine Leistung dar; dem Begriff kommt ebenso wie demjenigen der Aufgabe<br />

im hier vertretenen Ansatz ein analytischer Stellenwert zu. 6<br />

2. Praktisch handelt es sich heutzutage bei familialen Aufgaben darum,<br />

Wohnen, Haushalten, Erwerbstätigkeit, Kindererziehung, Freizeit usw. in<br />

einem Alltag zu koordinieren <strong>und</strong> zu synchronisieren <strong>und</strong> dabei auch unvorhergesehene<br />

Ereignisse zu meistern. Die vielfältigen Erfahrungen, welche<br />

die Menschen dabei machen, finden ihren Niederschlag in Orientierungen,<br />

beispielsweise in der Form von Handlungsmaximen. Diese Orientierungen<br />

wiederum lassen sich analytisch Ordnungsschematas zuordnen, die ihrerseits<br />

wiederum der Orientierung des weiteren Handelns dienen. Wir sagen also: in<br />

einer menschlichen Handlung vereinigen sich — analytisch gesprochen —<br />

Ziele (Zweck), Kontext <strong>und</strong> Begründung (Norm).<br />

3. Zur weiteren Analyse dieser Zusammenhänge können wir auf den von G.<br />

H. Mead eingeführten Begriff der Perspektiven zurückgreifen. 7 Er faßt systematisch<br />

Orientierungen in einem kommunikativen Kontext zusammen.<br />

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Alles menschliche Handeln ist demnach an die Bedingung der Perspektivität<br />

geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> erhält durch einen (mindestens einen) kommunikativen<br />

Kontext seine Bedeutung. — Doch der Kontexte sind, wie die Erfahrung<br />

zeigt, viele. Dementsprechend konstituiert sich gemeinsame Realität in einer<br />

Vielfalt von Perspektiven.<br />

Soweit — knapp umrissen — die Begründung der Perspektivität des Handelns<br />

im Anschluß an Mead. Er ist bei weitem nicht der einzige, der sich<br />

dem Thema zugewandt hat. Wir stoßen darauf u.a. bei Durkheim <strong>und</strong> Simmel.<br />

Doch gebührt Mead besondere Beachtung, weil er als konsequenter<br />

Evolutionist sowohl die differentiellen raumzeitlichen als auch die pragmatistischen<br />

Dimensionen aufeinander bezieht. Darum ist sein Ansatz ebenso<br />

theoretisch wie praktisch bedeutsam.<br />

4. Wichtig sind mir insbesondere die im Anschluß an Mead möglichen „Operationalisierungen"<br />

des Konzeptes, wozu ich hier vor allem drei Vorschläge<br />

machen möchte, die unmittelbar unser Thema betreffen.<br />

(a) Das Konzept der Perspektive verknüpft auf einer generellen Ebene<br />

Handlungsweisen <strong>und</strong> kommunikative Kontexte, also soziale Zugehörigkeiten<br />

des einzelnen. Diese wiederum bilden den Rahmen für soziale Geltung,<br />

8<br />

also zur Begründung von Normen. Dementsprechend können konzeptuell<br />

Perspektiven hinsichtlich des kommunikativen Kontextes unterschieden<br />

werden, in dem sie entstehen, also z.B. als<br />

— subjektive Perspektiven (Kommunikation mit sich selbst)<br />

— private Perspektiven (Kommunikation in privaten, d.h. nichtöffentlichen<br />

Gruppen)<br />

— öffentliche Perspektiven (Kommunikation in Organisationen, im Staat,<br />

öffentliche Meinung)<br />

— religiöse Perspektiven (unter der Annahme einer Kommunikation mit<br />

Gott oder einem Göttlichen).<br />

(b) Gesellschaftliches Handeln ist das Ergebnis von Wechselwirkungen<br />

mehrerer dieser Handlungsperspektiven. So kann der einzelne in seinem<br />

Denken <strong>und</strong> Fühlen eine Abstimmung der Perspektiven vornehmen. Oder<br />

organisatorische Vorgaben vermögen a priori den Geltungsanspruch bestimmter<br />

(meist öffentlicher) Perspektiven festzulegen <strong>und</strong> durchzusetzen.<br />

Wo eine Konvergenz von Handlungsperspektiven nicht oder nicht ausreichend<br />

vorhanden ist, besteht ein Zustand von Anomie.<br />

(c) Eine besondere Kategorie stellen die wissenschaftlichen Perspektiven<br />

dar, eingeschränkter <strong>und</strong> hier primär von Interesse, die soziologischen Perspektiven.<br />

Sie gehören in unserem Schema an sich zu den öffentlichen Perspektiven.<br />

Doch bilden die anderen Perspektiven gewissermaßen ihr Thema:<br />

eben die Handlungsorientierungen von Menschen, analysiert nach Zielen,<br />

Kontext <strong>und</strong> Begründung des Handelns. Für die Soziologie kann somit<br />

postuliert werden (was ich hier vertreten möchte), daß die Interdependenz<br />

unterschiedlicher Perspektiven ein herausragender Gegenstand der theoretischen<br />

<strong>und</strong> empirischen Forschung ist.<br />

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Moderne familiale Lebensformen<br />

1. Demographische Daten wie Rückgang der Eheschließungen <strong>und</strong> der Geburtenziffer,<br />

Zunahme der Scheidungsziffer habe ich als Indikatoren der<br />

Veränderung bezeichnet. Doch sie beruhen auf Informationen, die auf einer<br />

überaus heterogenen Aggregierung von Individualdaten hervorgegangen<br />

sind. Einen wichtigen Schritt bis zur eigentlichen Analyse tun wir, wenn<br />

wir uns auf Alterskohorten beziehen, <strong>und</strong> wenn wir uns demgemäß an biographischen<br />

Abläufen orientieren. Zur Kohortenanalyse hat u.a. Mayer Daten<br />

vorgelegt, <strong>und</strong> neuerdings liegen auch seitens der Jugend<strong>soziologie</strong><br />

wichtige Beiträge vor. Demnach gilt für viele jüngere Menschen die biographische<br />

Sequenz nicht mehr, die lange Zeit lautete: Ausbildung, Eintritt<br />

9<br />

ins Erwerbsleben, Eheschluß verb<strong>und</strong>en mit der Gründung eines eigenen<br />

Haushaltes, baldige Geburt von Kindern. Teils ändert sich die Reihenfolge,<br />

teils treten Verzögerungen ein. An die Stelle einer traditionellen, institutionalisierten<br />

Abfolge der Ereignisse tritt eine Art biographischer Mobilität<br />

(Birg 1984), bei der den subjektiven <strong>und</strong> privaten Perspektiven eine erhöhte<br />

Bedeutung zukommt.<br />

2. Für die weitere Darstellung beziehe ich mich zunächst auf biographische<br />

Ereignisse, an denen wichtige Aspekte der Genese neuer familialer Lebensformen<br />

erkennbar sind. Den ersten herausragenden Sachverhalt bildet die<br />

frühe Gründung eines eigenen Haushaltes, heute begünstigt durch relativ<br />

gute Verdienstmöglichkeiten (derjenigen, die Arbeit haben), ferner durch<br />

sozialstaatliche Absicherungen, durch die Unterstützung seitens der Eltern<br />

(was ebenfalls vermehrte Sozialleistungen erleichtern) sowie durch einen<br />

einfachen Lebensstil. Diese jungen Haushalte sind also oft nicht völlig<br />

selbsttragend, was auf die Bedeutung verwandtschaftlicher Beziehungen<br />

<strong>und</strong> sozialer Netzwerke hinweist.<br />

3. Eine wichtige Voraussetzung für die Entstehung von Haushalten unverheirateter<br />

Paare vor-, neben-, außer- oder nichtehelicher Art — die Fülle<br />

umgangssprachlicher Bezeichnungen belegt in der Sprache die Neuheit des<br />

Phänomens — bildet der Umstand, daß Antikonzeption das Risiko unerwünschter<br />

Schwangerschaften praktisch vollständig auszuschließen ermöglicht.<br />

Dies ist ein Sachverhalt, ob dessen Selbstverständlichkeit wir leicht<br />

übersehen, in wie kurzer Zeit er selbstverständlich geworden ist <strong>und</strong> was er<br />

impliziert: In einem Ausmaß, das historisch erstmalig ist, besteht heute der<br />

Eindruck umfassender Planbarkeit des generativen Verhaltens. Viel radikaler<br />

als je zuvor erwächst den einzelnen Menschen <strong>und</strong> dem Paar die Möglichkeit<br />

<strong>und</strong> die Notwendigkeit, darüber zu entscheiden, ob <strong>und</strong> zu welchem<br />

Zeitpunkt es Kinder haben möchte. — Die Schwierigkeiten <strong>und</strong> A<strong>mb</strong>ivalenzen<br />

<strong>und</strong> ganz persönliche, subjektive Betroffenheit werden mittlerweile<br />

in Schriften intensiv abgehandelt, z.B. in Peter Roos/Friederike Hassauer:<br />

Kinderwunsch — Reden <strong>und</strong> Gegenreden (1982). In einem dort<br />

wiedergegebenen Briefwechsel findet sich u.a. folgende Stelle: „... Mein<br />

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Kind soll nicht 'passieren';"mein Kind soll meine Entscheidung sein <strong>und</strong> die<br />

seines Vaters. Du, ich glaube, damit bin ich an einen wichtigen Punkt gekommen:<br />

Ich habe keinen Anhaltspunkt, warum ich mich für oder gegen<br />

ein Kind entscheiden sollte." (S. 20).<br />

4. Allerdings besteht eine Asymmetrie: Verläßlich ist lediglich die Beeinflussung<br />

der Antikonzeption, nicht aber der Konzeption. Doch auch hier<br />

machen sich Vorstellungen einer prinzipiellen Machbarkeit breit. So gibt<br />

es Berichte über Leihmütter, die eine Schwangerschaft für Dritte übernehmen.<br />

Spektakulär <strong>und</strong> von weitreichender sy<strong>mb</strong>olischer Bedeutung sind die<br />

Entwicklungen in der Medizin. Dabei kommt es leicht zu falschen Vorstellungen<br />

über den tatsächlichen Erfolg der Behandlungen. Gemäß einem Bericht<br />

in der Zeitschrift „Bild der Wissenschaft" (Oktober 1982) sind in der<br />

Frauenklinik Erlangen während der Jahre 1981/82 „etwa 200 Versuche unternommen<br />

worden, acht Kinder wurden lebend geboren". Die Schätzungen<br />

lauten, daß sich in sorgfältig vorausgewählten Populationen bei etwa<br />

20% der Fälle eine Schwangerschaft ergibt; dies u.U. nach wiederholten<br />

Behandlungen über mehrere Monate hinweg.<br />

Alles in allem ist die wachsende Bedeutung subjektiver <strong>und</strong> privater<br />

Perspektiven in diesen Prozessen der Konstituierung von Partnerschaft <strong>und</strong><br />

Familie deutlich zu erkennen; sie relativieren die traditionellen öffentlichen<br />

Perspektiven. Klar tritt die Vorstellung der „Machbarkeit" in Geburtsanzeigen<br />

zutage, also dort, wo subjektive <strong>und</strong> private Auffassungen veröffentlicht<br />

werden. — Gemäß einer Untersuchung der „Gesellschaft für deutsche<br />

Sprache" finden sich in den Annoncen gehäuft Wörter wie „machen",<br />

„planen", so etwa: „Von wegen Storch, da muß ich lachen, man muß die<br />

Sache selber machen"; „Nach neun Monaten Planung oder „Unser geplantes<br />

Projekt ist abgeschlossen", oder, reiselustig <strong>und</strong> kein bißchen prüde:<br />

„Unser Nachwuchs, made in Espana". 10<br />

5. Eine Schwangerschaft, ob gewollt oder nicht, erfordert von einem unverheirateten<br />

Paar Auseinandersetzungen mit den vorherrschenden institutionellen<br />

Regelungen. Ohne Heirat steht das Sorgerecht für das Kind nur<br />

der Mutter zu. Dabei schließt eine gemeinsame Haushaltsführung diese von<br />

den „Mutter-Kind-Programmen" aus, eine Vorschrift, der gelegentlich<br />

durch Kontrollen seitens der Sozialämter Nachdruck verschafft wird. Erhebliche<br />

Schwierigkeiten können ferner im Falle des Todes eines der Eltern<br />

entstehen. In allen diesen Punkten schlägt der auf lange Traditionen zurückgehende<br />

Gr<strong>und</strong>satz durch, wonach die Position des Vaters zum Kind von<br />

seiner rechtlichen Beziehung zur Mutter abhängt.<br />

Viele Paare entschließen sich darum in Erwartung eines Kindes zur Heirat,<br />

wie die vergleichsweise geringe Zahl unverheiratet zusammenlebender<br />

Paare mit gemeinsamen Kindern zeigt. Jedoch dürfen wir nicht außer acht<br />

lassen, daß Zahl <strong>und</strong> Quote der Eheschließungen sinken. Nicht wenige Paare<br />

dürften zunächst lediglich einen Aufschub im Sinn haben, doch kann dieses<br />

Provisorium andauern <strong>und</strong> zum Verzicht auf Familienbildung führen. 11<br />

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6. Zusammengefaßt verweisen diese Sachverhalte auf einen ersten Faktor,<br />

der aktuelle Spannungen zwischen subjektiven, privaten, öffentlichen <strong>und</strong><br />

religiösen Perspektiven bedingt: der im wesentlichen durch die moderne<br />

Antikonzeption geforderte Zwang nach neuen Sinngebungen des Entscheides<br />

für Kinder. Dabei verlieren die institutionellen Rahmenbedingungen an<br />

Bedeutung.<br />

Wenn es also nicht mehr als selbstverständlich gilt zu heiraten <strong>und</strong> Kinder<br />

zu bekommen, gewinnen umgekehrt private <strong>und</strong> subjektive Perspektiven<br />

an Gewicht. Damit erhöhen sich einerseits die Möglichkeiten, andererseits<br />

die Belastungen individuellen Entscheidens, <strong>und</strong> dementsprechend erhöht<br />

sich auch tendenziell der Pluralismus der Lebensformen, der familialen<br />

ebenso wie der nichtfamilialen.<br />

7. Diese Tendenzen werden nun wesentlich verstärkt durch einen zweiten<br />

Faktor, der in die gleiche Richtung wirkt: Bedingungen der alltäglichen<br />

Lebensverhältnisse. Ich will hier zwei Sachverhalte besonders hervorheben.<br />

Der eine betrifft den Umstand, daß Denk- <strong>und</strong> Handlungsmuster wirtschaftlicher<br />

Rationalität bzw. des Monetarismus in zunehmendem Maße in das familiale<br />

Handeln eindringen <strong>und</strong> es dominieren. Hierzu einige Veranschaulichungen:<br />

Familiales Haushalten erfordert heutzutage überwiegend Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> Leistungen im Bereich des Konsums; sein Erlebniswert<br />

ist ein permanentes Thema der Werbung, die in alle Lebensbereiche, sozusagen<br />

bis ins Kinderzimmer <strong>und</strong> ins Schlafzimmer eindringt. Zu bedenken<br />

ist im weiteren die Tendenz, im Verhältnis zwischen Eltern <strong>und</strong> Kindern<br />

von Gesetzes wegen gegenseitige Rechte <strong>und</strong> Pflichten im Konfliktfall,<br />

nicht nur beim Ableben, zu monetarisieren. Doch auch mehr oder weniger<br />

freiwillige finanzielle Leistungen der Großeltern an Eltern <strong>und</strong> Großkinder<br />

spielen gewissermaßen im Austausch gegen Gefühle eine erhebliche Rolle,<br />

worauf Roussel (1976) bereits vor einigen Jahren hingewiesen hat.<br />

Der Anspruch wirtschaftlicher Rationalität auf Priorität kommt besonders<br />

deutlich im Umstand zum Ausdruck, daß die Gleichberechtigung der<br />

Frau eng an ihre aktive, erfolgreiche Teilhabe am Wirtschaftsleben gekoppelt<br />

ist, vorzüglich außerhalb des Haushaltes. Eine angemessene Anerkennung<br />

wirtschaftlicher Leistungen der Frau im Haushalt <strong>und</strong> ihrer Arbeit<br />

mit Kindern ist bis jetzt noch nicht absehbar. 12<br />

Diese wirtschaftlichen Zusammenhänge <strong>und</strong> die sich daraus ergebenden<br />

alltäglichen Konsequenzen fordern also von den Frauen <strong>und</strong> auch den Paaren<br />

bewußte Entscheidungen hinsichtlich der Konstituierung einer Familie,<br />

ihrer Erweiterung <strong>und</strong> den späteren Lebensphasen, wobei Erwägungen über<br />

den subjektiven <strong>und</strong> privaten Nutzen zwangsläufig ein großes Gewicht zukommt.<br />

8. Der andere, das Subjektive <strong>und</strong> Private begünstigende Sachverhalt betrifft<br />

den Aufbau einer Kultur der einzelnen Familie, etwas weniger anspruchsvoll<br />

formuliert, die Schaffung eines Familienklimas. Es äußert sich in den<br />

Formen des gegenseitigen Umganges, des Gespräches, der Konfliktlösung,<br />

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im Spiel, in der Auseinandersetzung mit Bildungsgütern aller Art sowie in<br />

Sinngebungen des Lebens.<br />

Die wohl herausragendste Beeinflussung dieser familialen Leistungen<br />

kommt heutzutage von den elektronischen Medien, die ja in erster Linie<br />

zu Hause genutzt werden. Die Programmstruktur des Fernsehens schafft<br />

mittlerweile für viele Haushalte <strong>und</strong> Familien Orientierungspunkte des Alltags,<br />

<strong>und</strong> die Inhalte bilden einen gemeinsamen F<strong>und</strong>us von Eindrücken<br />

<strong>und</strong> mittelbaren Erfahrungen, meist in Form partikulären, oft exotischen<br />

Wissens. Die Frage des richtigen Ausmaßes der Mediennutzung ist ein verbreitetes<br />

Thema der Familienerziehung. — Zwar läßt sich mit Recht einwenden,<br />

daß die Inhalte vieler Darbietungen den öffentlichen Perspektiven<br />

zuzuordnen sind, <strong>und</strong> zweifelsohne kann daraus eine Beeinflussung des<br />

Konsums <strong>und</strong> politischer Auffassungen resultieren. Aber die Eindrücke,<br />

vorab aus dem kulturellen Bereich, sind wie erwähnt oft bruchstückhaft,<br />

sozusagen zufällig, so daß der einzelne gezwungen ist, eine individuelle<br />

Synthese zu schaffen, was wiederum die subjektiven Perspektiven betrifft;<br />

unter dem Einfluß der modernen Medien <strong>und</strong> ihrer Nutzungsmöglichkeiten<br />

wird Bildung heute gewissermaßen subjektivistisch bestimmt.<br />

13<br />

9. Wir können Aspekte der genannten beiden Faktoren, Sinngebung des<br />

Kinderwunsches <strong>und</strong> Auswirkungen der alltäglichen Lebensverhältnisse,<br />

nun auch in den Bemühungen um „alternative" Lebensformen finden.<br />

Zusätzlich ist darin ein dritter Faktor erkennbar: Angesichts des hohen<br />

Organisationsgrades des modernen Lebens werden die familialen Lebensformen<br />

als der einzige, dem modernen Menschen noch verbleibende Bereich<br />

der Entfaltung sinnvollen subjektiven <strong>und</strong> privaten Handelns aufgefaßt,<br />

also als jener Bereich, der — vermeintlich — einen Rückzug von öffentlichen<br />

Zwängen ermöglicht. Dementsprechend wird der Pflege familialer<br />

Lebensformen eine hohe Bedeutung zugemessen.<br />

Diese Charakterisierung trifft für viele gruppenähnliche Lebensgemeinschaften<br />

zu. Oft steht die explizite Kritik an einem oder mehreren Elementen<br />

der sogenannten bürgerlichen Familie im Vordergr<strong>und</strong>, meist in<br />

Verbindung mit der Ablehnung der Ehe <strong>und</strong> dem Protest gegen die Dominanz<br />

des Wirtschaftlichen. Dafür wird etwa für „Beziehungs-Arbeit"<br />

14<br />

oder für individuelle Meditation viel Zeit eingeräumt.<br />

Alternativen dieser Art gibt es als eigentliche Sozialexperimente mit<br />

schriftlich fixierter Programmatik, so die AA-Kommune „Bauhütte". Sie<br />

existiert, gemäß Duhm (1978: 127/128) „ohne Privateigentum, ohne Zweierbeziehung,<br />

ohne Alkohol <strong>und</strong> Drogen, also ohne fast alles, was dem Kulturmenschen<br />

unserer Zeit das Leben lebenswert macht..."<br />

Doch auch viele informelle Wohngemeinschaften, einzelne Familien<br />

<strong>und</strong> Ein-Eltern-Familien verstehen sich oft in einem oder mehreren Aspekten<br />

als alternativ. Dabei ist die subjektive <strong>und</strong> private Einschätzung der<br />

eigenen Lebensform für Lebensäußerungen aller Art wichtig.<br />

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Eine Art Alternative wiederum zu diesen Alternativen suchen diejenigen,<br />

die explizit alle dauerhaften Bindungen ablehnen. Hier begeben wir uns<br />

in einen Bereich unstrukturierter „sozialer Bewegungen", vor allem die sogenannte<br />

„Single"-Bewegung, unter deren Anhängern eigene, bisweilen in<br />

Annoncen explizierte Formen situationsbezogener Beziehungen üblich sind,<br />

oft von extrem subjektivistischer Orientierung, in denen nicht nur das öffentliche,<br />

sondern auch das Private zurückgedrängt wird. 15<br />

10. An dieser Stelle können wir die Ergebnisse unserer Analyse in folgender<br />

These zusammenfassen:<br />

(1) Bei der Konstitution familialer Lebensformen unter Bedingungen von Modernität<br />

kommt subjektiven <strong>und</strong> privaten Perspektiven im Verhältnis zu den öffentlichen <strong>und</strong><br />

religiösen vermehrte Relevanz zu, <strong>und</strong> dies wird durch die alltäglichen Lebensverhältnisse<br />

begünstigt. Daraus resultieren gesteigerte Anforderungen an Entscheidungen <strong>und</strong><br />

Handeln, die ihren Niederschlag in einer zunehmenden Pluralität familialer Lebensformen<br />

finden, teilweise in der Ablehnung von Familiengründung.<br />

Diese erste These impliziert, daß es heute vielen Menschen schwerfällt, die<br />

Leistungen zu erbringen oder als sinnvoll anzusehen, welche die Konstitution<br />

familialer Lebensformen erfordert, was am veränderten Verständnis<br />

der Aufgaben liegt <strong>und</strong> durch die modernen Lebensbedingungen verstärkt<br />

wird.<br />

Die These mag vielleicht zunächst den Anschein erwecken, sie drücke im.<br />

wesentlichen nichts anderes aus als das Dürkheim'sehe Kontraktionsgesetz.<br />

Es geht jedoch um mehr, nämlich um den Zusammenhang zwischen familialem<br />

Handeln, verschiedenen Wissensformen <strong>und</strong> spezifischen Lebensbedingungen.<br />

Es geht auch um etwas anderes als die These, die Beck (1983),<br />

Beck-Gernsheim (1983) u.a. vertreten haben, wonach individuelle Lebensentwürfe<br />

immer wichtiger werden. Zwar läßt sich hier anknüpfen, doch ist<br />

Individualismus ein historisch bedingtes Konzept, das näherer Klärung bedarf,<br />

was m.E. der Rückgriff auf die „Perspektivität des Handelns" erleichtert.<br />

11. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, einen ausführlichen Rückblick auf<br />

die Geschichte der Familien<strong>soziologie</strong> zu halten. 16 Kennzeichnend für die<br />

Entwicklungen bis in die 60er Jahre ist — etwas vereinfacht ausgedrückt —<br />

der Umstand, daß zwei Ansätze relativ unverb<strong>und</strong>en nebeneinander standen:<br />

die makrosoziologischen Analysen, die vom institutionellen Verständnis<br />

ausgehen, <strong>und</strong> die interaktionistischen Analysen, die sich in erster Linie<br />

auf die Familien als Gruppen <strong>und</strong> die darin ablaufenden Interaktionen konzentrieren.<br />

Erst in neuerer Zeit sind über die Sozialisationsforschung <strong>und</strong><br />

die Systemtheorie vermehrte Bemühungen in Gang gekommen, die institutionellen<br />

<strong>und</strong> die interaktionistischen Aspekte von Familie aufeinander zu<br />

beziehen. Es läßt sich somit im Hinblick auf die Aufgaben der Soziologie<br />

folgende These formulieren:<br />

(2) Unter den traditionellen, noch heute weitgehend vorherrschenden Paradigmen <strong>und</strong><br />

Ansätzen der Familienforschung überwiegen solche, die Familien primär hinsichtlich<br />

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einzelner Aspekte betrachten, was zumindest teilweise durch die ideologische, vielleicht<br />

auch faktische Dominanz einzelner Familientypen gefördert worden ist. Demgegenüber<br />

erfordern die aktuellen Bedingungen Theorien <strong>und</strong> Methoden zur Analyse der wechselseitigen<br />

Bedingtheit von familialen Aufgaben, ihrem Verständnis <strong>und</strong> den alltäglichen<br />

Lebensverhältnissen.<br />

Die mit dieser These implizierte Kritik trifft beispielsweise auch auf die unlängst<br />

von Brigitte <strong>und</strong> Peter Berger (1984) vorgelegte Verteidigung der bürgerlichen<br />

Familie zu, nicht nur, weil die beiden das Mißverständnis der unzulässigen<br />

Verallgemeinerung eines historischen Familientyps in Kauf nehmen,<br />

sondern weil sie sich als Schiedsrichter zwischen unterschiedlichen<br />

Positionen aufspielen, ohne selbst eine Analyse der gegenwärtig ablaufenden<br />

Prozesse der Konstitution familialer Lebensformen vorzulegen. — Problematisch<br />

sind ferner Auffassungen, wie sie von gewissen — nicht allen —<br />

Familienpolitikern vertreten werden, wonach sich Probleme schlicht dadurch<br />

lösen lassen, daß die sogenannten alten Werte wieder ins Zentrum<br />

gerückt werden. Wer so argumentiert, übersieht, daß Werte, Handeln <strong>und</strong><br />

Lebensverhältnisse interdependent sind, Werte also stets der Auslegung bedürfen,<br />

was nicht losgelöst von den praktischen Erfahrungen der Menschen<br />

geschehen kann.<br />

Diskussion: Herausforderungen der Soziologie<br />

1. Unsere erste These läßt auch den Schluß zu, daß in dem Maße, in dem unsere<br />

Analysen über die Emergenz neuer familialer Lebensformen zutreffen, es<br />

sich bei diesen Analysen auch um einen Beitrag zum Verständnis der Gegenwart<br />

handelt. Familiensoziologische Arbeit bezieht sich in der Tat auf<br />

wichtige <strong>gesellschaftliche</strong> Institutionalisierungsprozesse. Sie ist dementsprechend<br />

relevant für die allgemeine Soziologie. Klassiker wie z.B. Engels,<br />

Durkheim, Weber <strong>und</strong> Simmel haben diesen Sachverhalt deutlich gesehen,<br />

doch ist er im Laufe der fachlichen Aufsplitterung in den Hintergr<strong>und</strong> getreten.<br />

Soziologie wiederum hat u.a. den Charakter von Geschichtsschreibung<br />

der Gegenwart <strong>und</strong> ist als solche stets auch ein Beitrag zur Zeitdiagnose.<br />

In derartigen Bemühungen, auch solchen außerhalb der Soziologie, mehren<br />

sich Auffassungen, gemäß denen ein wichtiger Aspekt der Gegenwart in einer<br />

neuen Art oder Qualität des Individualismus <strong>und</strong> — damit zusammenhängend<br />

— des sozio-strukturellen Pluralismus zu sehen ist. So ist etwa von<br />

einer „Tyrannei der Intimität" (Sennett 1983) die Rede — oder Hoffmann-<br />

Nowotny (1980) fragt, ob wir auf dem „Weg zu einer autistischen Gesellschaft"<br />

seien. Bourdieu (1982) stellt in diesem Zusammenhang eine Theorie<br />

„der feinen Unterschiede" zur Diskussion.<br />

2. Im Bezugsrahmen einer „Perspektivität des Handelns" können wir dies<br />

ausdrücken, indem wir sagen, in den alltäglichen Handlungsorientierungen<br />

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überwögen die subjektiven Perspektiven. Damit ist, wie gesagt, der kommunikative<br />

Kontext gemeint, in dem Zielsetzung, Handeln <strong>und</strong> Handlungsbegründung<br />

vom einzelnen gewissermaßen im Gespräch mit sich selbst erörtert<br />

werden. Gewiß geschieht dies nicht ohne Bezug auf private <strong>und</strong> öffentliche<br />

Perspektiven, die dem einzelnen, vorab dem Erwachsenen, durchaus<br />

noch bekannt sein können. Doch deren Geltungsansprüche werden erheblich<br />

relativiert. Anders ausgedrückt: Oberste Instanz ist die eigene Erfahrung<br />

oder was dafür gehalten wird. Das Angebot „sedimentierter Erfahrungen"<br />

(Luckmann) früherer Generationen, das uns in Form von Institutionen<br />

vorliegt, wird — wenn überhaupt — nur teilweise oder widerstrebend<br />

genutzt, oft als Zwang empf<strong>und</strong>en, vielfach abgelehnt. Dabei ist für die soziologische<br />

Analyse selbstverständlich von Belang, inwiefern derartige Präferenzen<br />

durch die sozialen Strukturen <strong>und</strong> ihren Wandel begünstigt werden.<br />

— Tendenzen zur Subjektivierung sind nicht bloß strukturell bedingt,<br />

sondern entwickeln ihrerseits eine strukturelle Eigendynamik. Sie besteht<br />

darin, daß die Pluralität der Lebensformen potenziert wird. Dadurch aber<br />

wird gemeinsames öffentliches Handeln erschwert, zumindest soweit es in<br />

demokratische Formen eingeb<strong>und</strong>en ist.<br />

3. Auf der Suche nach einem Konzept für diese „neue" Lebensform, die zugleich<br />

pluralistisch, subjektivistisch <strong>und</strong> strukturell bedingt ist <strong>und</strong> dem einzelnen<br />

stets Leistungen abfordert, denen er sich nur bedingt entziehen kann,<br />

eine Lebensform auch, bei der das Handeln Züge von Zufälligkeit aufweist,<br />

bin ich auf Formen der modernen Musik aufmerksam geworden. — Musik<br />

ist ja ein wichtiges Medium der Kommunikation im <strong>gesellschaftliche</strong>n Raum<br />

<strong>und</strong> drückt zugleich Abläufe aus. Implizit im „Free Jazz" <strong>und</strong> explizit in<br />

einer Richtung der klassischen Musik taucht nun seit einiger Zeit die Spiel<strong>und</strong><br />

Kompositionsform der Aleatorik auf. 17 Hier verlangt der Komponist<br />

innerhalb bestimmter zeitlicher, instrumentaler Vorgaben von den Interpreten<br />

ein spontanes <strong>und</strong> freies Spiel. Es handelt sich nicht um Improvisation,<br />

die ja nach Regeln abläuft, sondern um eine Art veranstalteten Zufalls von<br />

hoher Komplexität. — Vielleicht ist es mehr als nur Zufall, daß in den späten<br />

fünfziger Jahren eine derartige Form von Musik entstanden ist. Im<br />

übrigen findet sich der Begriff der Aleatorik auch bei Gergen (1982), der<br />

damit eine zufällige Form der Konstitution von Identität meint, allerdings<br />

ohne Querverbindungen zur musikalischen Bedeutung des Begriffes. 18<br />

4. Diese „Metapher" scheint mir zur Übertragung in die Soziologie im Hinblick<br />

auf die aktuellen Lebensbedingungen <strong>und</strong> die Emergenz neuer familialer<br />

Lebensformen bedenkenswert, finden wir hier doch erhebliche organisatorische<br />

Vorgaben <strong>und</strong> zugleich Spielräume der freien subjektiven<br />

Gestaltung. Mehr noch, die Gestaltung ist teilweise strukturell erzwungen.<br />

Wichtig ist auch die Zeitstruktur von Aleatorik. Es dominiert das Aktuelle:<br />

Zukunft <strong>und</strong> Vergangenheit werden von der Gegenwart aus konstituiert<br />

<strong>und</strong> nicht umgekehrt die Gegenwart aus Vergangenheit oder Zukunft oder<br />

einer feststehenden Kontinuität zwischen beiden begriffen, wodurch wie-<br />

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derum das Subjektive, das tatsächlich oder "vermeintlich Individuelle herausgefordert<br />

ist.<br />

5. Die Analyse der Verknüpfung <strong>gesellschaftliche</strong>r Bedingungen mit subjektiven<br />

Handlungsentwürfen verweist auf das Stichwort „Sozialisation". Hier<br />

sind m.E. neue Entwicklungen in der Forschung bereits erkennbar, wozu<br />

mehrere Impulse beigetragen haben <strong>und</strong> noch beitragen. 19<br />

— Die Lebenslauf-Forschung hat das alte Konzept der Biographie wieder<br />

aufgegriffen <strong>und</strong> wichtige begriffliche Unterscheidungen eingeführt, etwa<br />

zwischen subjektiver <strong>und</strong> objektiver (Kohli 1983), zwischen aktueller<br />

<strong>und</strong> virtueller Biographie (Birg 1984). Noch wichtiger: der Blick weitete<br />

sich auf den gesamten Lebenslauf <strong>und</strong> seine individuellen Variationen.<br />

Dann braucht es nurmehr wenig um einzusehen, daß die Bezeichnung<br />

„Familienzyklus" unter den heutigen Verhältnissen nicht mehr<br />

zutrifft. Offen ist allerdings nach wie vor, wie Familienbiographien im<br />

eigentlichen Sinne des Wortes erfaßt werden können, d.h. als systemische<br />

Sachverhalte <strong>und</strong> nicht bloß als Addition von Individualdaten der<br />

einzelnen Familienangehörigen.<br />

— Im engen Zusammenhang mit der Biographieforschung stehen neue Ansätze<br />

der Medizin<strong>soziologie</strong>, wo die Aufmerksamkeit der Genese psychischer<br />

Erkrankungen gilt. Dabei haben z.B. Hildenbrand u.a. (1984) — um<br />

nur kurz ein Beispiel zu nennen, das mit familialen Leistungen zusammenhängt<br />

— zeigen können, wie die Unfähigkeit, innerhalb von Familien Entscheidungen<br />

zu fällen, die Entstehung von Schizophrenie begünstigt.<br />

— Eine ganz andere Art von Impulsen für die Erforschung familialer Sozialisation<br />

stellen Haushaltsanalysen dar. Sie machen klar, daß Sozialisationsprozesse<br />

beim Kind wesentlich an die Erfüllung der alltäglichen<br />

Aufgaben im Haushalt geb<strong>und</strong>en sind, also nicht schlicht ein virtuoses<br />

Spiel mit Erziehungsstilen darstellen, sondern Arbeit, die als „Arbeit<br />

mit Kindern", wie unlängst Rerrich (1983) abgehandelt hat, schwieriger<br />

geworden ist, ein Bef<strong>und</strong>, der mit meiner ersten These weitgehend<br />

übereinstimmt. — Noch sind wir weit davon entfernt, die Fülle der aktuellen<br />

Einflüsse auf familiale Sozialisation bei Kindern <strong>und</strong> Eltern zu<br />

erfassen. 20<br />

6. Diese Feststellung stößt uns auf ein zentrales Problem der empirischen<br />

Forschung. Ich will es in die Frage kleiden: Wie authentisch sind die Ergebnisse<br />

unserer Forschung? Die Frage stellt sich nicht nur in der Soziologie,<br />

sondern ebenso beispielsweise in der Psychologie, wo sie etwa Bronfenbrenner<br />

(1981) mit dem Konzept der „ökologischen Validität" thematisiert<br />

hat. In einem weiteren Sinne wird damit eine Problematik angesprochen,<br />

die seinerzeit eine wesentliche Rolle in Verbindung mit dem sogenannten<br />

Positivismusstreit gespielt hat, die Geltung empirischer Sätze, die Möglichkeiten<br />

<strong>und</strong> Grenzen empirischer Methoden.<br />

Gemeint ist damit eine Annäherung an die „gelebte Wirklichkeit", genauer<br />

wohl im Plural: die gelebten Wirklichkeiten. Das impliziert Verfahren<br />

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der Datengewinnung <strong>und</strong> -analyse, in denen besondere Aufmerksamkeit der<br />

Frage geschenkt wird, wie sich die Sinngebungen der Subjekte, d.h. eigentlich<br />

der „Forschungspartner" zu den auf gleiche Sachverhalte bezogenen<br />

Sinngebungen der Forscher verhalten. Impliziert ist ferner eine systemische<br />

Betrachtungsweise, allerdings derart, daß die Umschreibung der relevanten<br />

räumlichen <strong>und</strong> zeitlichen Lebenszusammenhänge wiederum nicht nur von<br />

den Forschern allein festgelegt wird, sondern möglichst dem „natürlichen"<br />

Horizont entspricht <strong>und</strong> ferner der Pragmatik des Forschungsproblems gerecht<br />

wird.<br />

ökologische Validität (oder wie auch immer wir das zentrale Kriterium<br />

der Gültigkeit soziologischer Daten umschreiben wollen) wird dann (mehr<br />

oder weniger) erreicht, wenn alle jene „Erfahrungen" erfaßt werden, die für<br />

den Handelnden relevant für die Konstitution eines sozialen Sachverhaltes<br />

gewesen sind. Ein Teil dieser Erfahrungen kann abgerufen werden (z.B.<br />

durch Dokumentenanalyse, durch Befragung), ein Teil kann mittels Konfrontation<br />

mit Daten oder Beobachtungen „provoziert" werden <strong>und</strong> ein<br />

Teil ist durch die verstehenden Analysen (frühere Forschungsergebnisse<br />

bzw. Erfahrungen einschließende) zu erschließen. 21<br />

Daraus resultieren zahlreiche forschungspraktische Anforderungen, die<br />

keineswegs immer vollständig unter einen Hut gebracht werden können. Im<br />

Bereich der Familienforschung lauten einige Stichworte:<br />

— Einbezug mehrerer familialer Aufgabenbereiche <strong>und</strong> ihrer Koordination<br />

— Berücksichtigung aller Familienangehörigen <strong>und</strong> sozialen Netzwerke<br />

— Erschließung von Alltagssituationen unter Respektierung von Intimsphären<br />

— Bildung von Kohorten unter Verknüpfung von demographischen <strong>und</strong><br />

monographischen Daten<br />

— Analyse sogenannter „natürlicher Experimente", vorab im Bereich der<br />

Familienpolitik.<br />

Schluß<br />

1. Auf einen kurzen Nenner zusammengefaßt, besteht die besondere Herausforderung<br />

aktueller familialer Lebensformen an die Familien<strong>soziologie</strong>, <strong>und</strong><br />

über sie an die Soziologie, darin, einem neuen Subjektivismus gerecht zu<br />

werden <strong>und</strong> dabei zu bedenken, wie unter diesen Bedingungen öffentliches<br />

Handeln, auch politisches Handeln möglich bleibt, also Anomie vermieden<br />

werden kann.<br />

2. Je besser es uns gelingt, in unserer soziologischen Arbeit „gelebter Wirklichkeit"<br />

gerecht zu werden, desto deutlicher zeichnet sich eine zweite<br />

Herausforderung ab, die von der Familien<strong>soziologie</strong> <strong>und</strong> von der Soziologie<br />

ausgehen kann: ihr Beitrag als Zeitanalyse <strong>und</strong> Orientierungshilfe. Ich plä-<br />

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diere selbstverständlich nicht für eine Rückkehr zum traditionellen, vielen<br />

zurecht antiquiert vorkommenden Postulat der Ideologiekritik. Nicht lediglich<br />

Kritik von Ideologien ist wichtig, sondern die Analyse ihres tatsächlichen<br />

pragmatischen Geltungsbereichs. Das führt in der Regel zu Relativierung<br />

von Ideologien aller Art, aber verweist gleichzeitig auf die unausweichliche<br />

Frage nach angemessenen <strong>und</strong> innovativen normativen Regelungen<br />

des <strong>gesellschaftliche</strong>n Zusammenlebens.<br />

Im Rahmen unseres Themas ist damit das Verhältnis zwischen Familien<strong>soziologie</strong><br />

<strong>und</strong> Familienpolitik angesprochen. Denn im Kern stellen familienpolitische<br />

Maßnahmen <strong>und</strong> Einrichtungen öffentliche Beeinflussungen<br />

der Leistungen dar, die in den familialen Lebensformen <strong>und</strong> durch sie erbracht<br />

werden oder erbracht werden sollen. Daraus resultieren wiederum<br />

alltägliche Begriffe von Familie. 22<br />

So verweist uns schließlich die zweifache Herausforderung, die in den<br />

Veränderungen familialer Lebensformen liegt, auf unsere Verantwortung,<br />

wenn die Welt, die wir analysieren, mit unserem Wissen gestaltet wird. Sie<br />

ist im übrigen auch unsere Welt. Nirgendwo können wir das besser erkennen<br />

als im Bereich von Partnerschaft <strong>und</strong> Familie.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Dieser Text stellt eine leicht überarbeitete Version des am Soziologentag gehaltenen<br />

Vortrages dar. Für kritische Kommentare zu früheren Fassungen danke ich den<br />

Mitgliedern der Konstanzer Arbeitsgruppe für Familienforschung: Sylvia Gräbe,<br />

Margot Kuon, Elisabeth Lins, Franz Schultheis <strong>und</strong> Michael Wehrspaun, ferner den<br />

Kollegen Alois Hahn (Trier), Franz-Xaver Kaufmann (Bielefeld), Lothar Krappmann<br />

(Berlin), Alfred Lang (Bern), Ilja Srubar (Konstanz) <strong>und</strong> Max Wingen (Konstanz/Stuttgart).<br />

— Eckart Pankoke hat am Zustandekommen der gemeinsamen Sitzung<br />

den größten Anteil; er hat auch diesen Beitrag kritisch begleitet.<br />

2 Zur Begriffsgeschichte von Familie siehe Schwab 1975.<br />

3 Zur Literatur über die Geschichte von Haushalt, Familie <strong>und</strong> Kindheit siehe die umfangreiche<br />

Bibliographie von Hermann et al. 1980. — Als Beispiel einer neueren,<br />

sehr prägnanten <strong>und</strong> insbesondere auch die rechtlich-institutionellen Aspekte behandelnden<br />

Darstellung sei Mesmer 1984 genannt (mit zahlreichen neueren Literaturhinweisen).<br />

— Die folgenden Generalisierungen orientieren sich am Bericht<br />

Familienpolitik in der Schweiz 1982, S. 30-<strong>35</strong>.<br />

4 Die folgenden demographischen Daten stützen sich auf die Angaben in den Werken<br />

der amtlichen Statistik, die regelmäßig in der Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft<br />

erscheinenden Berichte zur demographischen Lage in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland sowie die Analysen von Schwarz 1984. Siehe auch den Projektbericht<br />

Nave-Herz 1984.<br />

5 Eine umfassende Bibliographie über die Literatur zu unverheiratet zusammenlebenden<br />

Paaren hat — im Auftrag des BMJFG - H. Tyrell (1985) zusammengestellt.<br />

6 Ausführliche Darstellungen dieser Konzeptualisierungen finden sich in Lüscher/<br />

Böckle 1981, Lüscher 1984a <strong>und</strong> Lüscher et al. 1984.<br />

7 Der Begriff der Perspektive wird von Mead an verschiedenen Stellen abgehandelt.<br />

Vergl. dazu z.B. die zusammenfassende Diskussion bei Raiser 1971: 162-167. —<br />

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Eine frühe empirische Übernahme des Konzeptes stellt Becker et al. 1961 dar. —<br />

Wichtige neuere Überlegungen (unter Bezug auf Sozialisation) enthält Krappmann<br />

1985.<br />

8 Diese Vorschläge stützen sich u.a. auf die Überlegungen, daß das Konzept der Perspektive<br />

als eine Generalisierung der Vorstellung von „reference-groups" aufgefaßt<br />

werden kann (vgl. z.B. Shibutani 1961: 96-176). An dieser Stelle habe ich großen<br />

Gewinn aus Diskussionen mit M. Wehrspaun gezogen, vgl. dessen Dissertation:<br />

Konstruktive Argumentation <strong>und</strong> interpretative Erfahrung. Bausteine zur Neuorientierung<br />

der Soziologie, Wehrspaun 1985.<br />

9 Karl Mayer (MPI-Berlin) gemäß einem Referat über laufende Forschungsarbeiten,<br />

gehalten in der FG Soziologie Konstanz 1983. Ferner z.B. Jugend '81; Blancpain/<br />

Zeugin/Hanselmann 1983; Buchmann 1983.<br />

10 Diese Zitate stammen aus einem ausführlichen Artikel in der F.A.Z. vom 21.12.1984.<br />

11 Für diese rechtlichen Aspekte über unverheiratet zusammenlebende Paare stütze ich<br />

mich auf Unterlagen einer im Entstehen begriffenen Dissertation von E. Lins, in der<br />

die „Motivation" zum Eheschluß bzw. zum Verzicht auf Eheschluß durch Interviews<br />

mit verheirateten <strong>und</strong> unverheirateten Paaren in vergleichbaren Lebensverhältnissen<br />

ermittelt werden soll.<br />

12 Diese Thematik wird unter Berücksichtigung der demographischen, ökonomischen,<br />

soziologischen, psychologischen <strong>und</strong> pädagogischen Aspekte ausführlich abgehandelt<br />

im neuesten Gutachten des Wissenschaftlichen Beirates für Familienfragen<br />

(1984).<br />

13 Für eine ausführlichere Darstellung dieser Überlegungen zur „Medienökologie" siehe<br />

meinen Beitrag in dem von Ringeling/Svilar (1984) herausgegebenen Sammelband.<br />

Uber wichtige Ergebnisse der Medienpsychologie berichtet im gleichen Band<br />

H. Sturm.<br />

14 Vgl. hierzu auch die bereits genannte Bibliographie von Tyrell (Anm. 5). — Beispiel<br />

einer aktuellen „religiösen" Ablehnung von Ehe stellen etwa die Ausführungen von<br />

Bhagwan dar. Siehe: Sannyas, Puvodaya 16/1981 „Beziehungsdrama oder Liebesabenteuer".<br />

15 Z.B. folgende Inserate aus dem „dip", Berlinmagazin 16/1984: 23: „'Entfesselungskünstler'<br />

(30) sucht keine feste Bindung. Mann mit Vollbart ab 32, der ohne Haltbarkeitsgarantie<br />

auskommt, gesucht für alles mögliche. Versuch's, vielleicht ist ja<br />

wirklich was möglich." — „Für gewisse St<strong>und</strong>en ohne Bindungswünsch, zärtlich,<br />

schlank, gesucht von M, 43, 1,75, schlank, sportliche Figur. Nichtraucher, Bart, für<br />

gelegentliche zärtliche Treffs. KW: Ab <strong>und</strong> zu." — „Gutaussehender, sensibler<br />

Mann, 23, sucht W, WW, Paar" oder „Gutaussehender, sensibler Mann, 23, sucht W,<br />

WW, Paar oder Gruppe für Sex ohne Bindung, doch nicht ohne Seele. Bild? Garantiert<br />

zurück. KW: Nicht ohne Seele."<br />

16 Vgl. hierzu auch mein Eingangsvotum zur Sitzung der Sektion Familien- <strong>und</strong> Jugend<strong>soziologie</strong><br />

am Soziologentag in Ba<strong>mb</strong>erg, wiedergegeben im Mitteilungsblatt Nr.<br />

9 der Sektion.<br />

17 Zum Begriff der Aleatorik siehe z.B. die entsprechenden Artikel in „Die Musik in<br />

der Geschichte der Gegenwart", Bd. 15 (1973), 126-130 oder in Brockhaus-Riemann,<br />

Musiklexikon, 1978: 27 f. — Als Musikbeispiel: Witold Lutoslawski, Jeux<br />

Venetiens. Polskie Nagrania, SX0132.<br />

18 Im Unterschied zu Gergen wird hier das Konzept der Aleatorik als Kennzeichnung<br />

eines sozio-strukturellen Zusammenhanges, nicht als Qualität des Menschen verwendet.<br />

Siehe auch Gergen 1979.<br />

19 Der Prozeß der Sozialisation selbst stellt im übrigen ein Geschehen dar, das in gewisser<br />

Weise als die Verknüpfung von zwei „Perspektiven" aufgefaßt werden kann: Bezogen<br />

auf das Individuum sind mit Sozialisation alle Prozesse gemeint, durch die<br />

der einzelne im Umgang mit der Umwelt <strong>und</strong> mit sich selbst relativ dauerhafte Verhaltensweisen<br />

entwickelt, die es ihm ermöglichen, am <strong>gesellschaftliche</strong>n Leben teil-<br />

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zuhaben <strong>und</strong> an seiner Veränderung mitzuwirken. Bezogen auf die Gesellschaft bezeichnet<br />

Sozialisation das differenzierte, auch widersprüchliche Zusammenwirken<br />

aller jener <strong>gesellschaftliche</strong>n Einrichtungen, die der Pflege <strong>und</strong> der Erziehung des<br />

Nachwuchses dienen oder sie beeinflussen (vgl. Lüscher 1982).<br />

20 Ich beziehe mich bei dieser Feststellung stark auf die Erfahrungen <strong>und</strong> Einsichten,<br />

die wir im Konstanzer Projekt „Lebenssituationen junger Familien" gewonnen haben,<br />

so gestützt auf die von Eltern gegebenen Schilderungen <strong>und</strong> Bewertungen der<br />

alltäglichen Lebensverhältnisse <strong>und</strong> der sozialen Beziehungen. Siehe hierzu die zuletzt<br />

erschienenen Berichte: Lüscher/Fisch/Pape 1983, Stein/Lüscher 1984, Gräbe/<br />

Lüscher 1984a, b, Lüscher/Fisch/Pape 1985 sowie das Referat von Gräbe (1985) im<br />

Rahmen der Sitzungen der Sektion Familien- <strong>und</strong> Jugend<strong>soziologie</strong> an diesem Soziologentag.<br />

21 Siehe dazu auch das Referat von Wehrspaun (1985), gehalten im Rahmen der Sitzungen<br />

der Sektion Familien- <strong>und</strong> Jugend<strong>soziologie</strong> an diesem Soziologentag.<br />

22 Die These, wonach über familienpolitische Maßnahmen <strong>und</strong> Einrichtungen „Familie"<br />

(bzw. Familientypen) gewissermaßen legitimiert <strong>und</strong> damit definiert werden,<br />

begründe ich ausführlicher in Lüscher 1984b. Siehe ferner das Referat von<br />

Schultheis (1985) im Rahmen der Sitzungen der Sektion Familien- <strong>und</strong> Jugend<strong>soziologie</strong><br />

an diesem Soziologentag sowie Schultheis 1983.<br />

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Interesses an alleinerziehenden Müttern <strong>und</strong> ihren Kindern. Vortrag auf<br />

dem 22. Deutschen Soziologentag in Dortm<strong>und</strong>, Oktober 1984". Gekürzte Fassung<br />

erscheint in: H.-W. Franz (Hg.), Materialienband: Beiträge aus den Sektions- <strong>und</strong><br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Ad-hoc-Veranstaltungen des 22. Deutschen Soziologentages Dortm<strong>und</strong>, 9.-12. Oktober<br />

1984, Opladen 1985.<br />

Schwab, D., „Familie". In: Brunner, O. et al. (Hg.), Geschichtliche Gr<strong>und</strong>begriffe. Bd.<br />

II, 1975, 253-301.<br />

Schwarz, K., „Eltern <strong>und</strong> Kinder in unvollständigen Familien". In: Zeitschrift für Bevölkerungswissenschaft<br />

1984, 10, 3-36.<br />

Sennett, R., Verfall <strong>und</strong> Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität.<br />

Frankfurt 1983.<br />

Shibutani, T., Society and personality. New York 1961.<br />

Stein, A./Lüscher, K., „Familienrollen in der Perspektive junger Eltern". In: Familiendynamik<br />

1984, 9, 217-241.<br />

Sturm, H., „Einflüsse des Fernsehens auf die Entwicklung des Kindes". In: Ringeling<br />

H./Svilar, M. (Hg.), Die Welt der Medien. Probleme der elektronischen Kommunikation.<br />

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Tyrell, H., Nicht-eheliche Lebensgemeinschaften in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Literaturbericht. Bonn: B<strong>und</strong>esministerium für Jugend, Familie <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit<br />

1985 (Schriftenreihe BMJFG Bd. 170).<br />

Wehrspaun, M., Konstruktive Argumentation <strong>und</strong> interpretative Erfahrung. Bausteine<br />

zur Neuorientierung der Soziologie. Opladen 1985.<br />

—, „Was heißt „ökologische Validität"? — Überlegungen zu einer konstruktiv-pragmatistischen<br />

Orientierung in der Familien<strong>soziologie</strong>. Vortrag auf dem 22. Deutschen<br />

Soziologentag in Dortm<strong>und</strong>, Oktober 1984". Gekürzte Fassung erscheint<br />

in: H.-W. Franz (Hg.), Materialienband: Beiträge aus den Sektions- <strong>und</strong> Ad-hoc-<br />

Veranstaltungen des 22. Deutschen Soziologentages Dortm<strong>und</strong>, 9.-12. Oktober<br />

1984, Opladen 1985.<br />

Wingen, M., Nichteheliche Lebensgemeinschaften. Zürich 1984.<br />

Wissenschaftlicher Beirat für Familienfragen beim B<strong>und</strong>esministerium für Jugend, Familie<br />

<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit, Familie <strong>und</strong> Arbeitswelt. Stuttgart 1984.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


UNENTGELTLICHE ARBEIT IM LEBENSZUSAMMENHANG VON<br />

FRAUEN UND DEREN REFLEXION IN DEN SOZIALWISSEN­<br />

SCHAFTEN<br />

Ursula Beer<br />

Unentgeltliche Frauenarbeit ist in letzter Zeit zu unerwarteten wissenschaftlichen<br />

<strong>und</strong> politischen Ehren gekommen; Probleme des Arbeitsmarkts <strong>und</strong><br />

die Leere öffentlicher Kassen haben deren Entdeckung geradezu provoziert.<br />

Allerdings: „entdeckt" wird deren <strong>gesellschaftliche</strong>r Nutzen, nicht dagegen<br />

die hierzu in Widerspruch stehende Unentgeltlichkeit <strong>und</strong> deren Folgen für<br />

Frauen im System der sozialen Sicherung.<br />

Zum Verständnis der Bedeutung der gegenwärtigen Diskussion um unentgeltliche<br />

Frauenarbeit wird in diesem Beitrag versucht, deren historischen<br />

Wandel in die Analyse einzubeziehen, erstens im Hinblick auf ihre Institutionalisierung,<br />

zweitens durch einen retrospektiven Blick auf die b<strong>und</strong>esdeutsche<br />

Nachkriegs<strong>soziologie</strong>, dem übergreifenden Thema des Forums<br />

„Gesellschaftliche Entwicklung von Lebenszusammenhängen". Vielleicht<br />

erlaubt diese doppelte historische Perspektive eine genauere Verortung<br />

des politischen <strong>und</strong> sozialwissenschaftlichen Stellenwerts dieser Form von<br />

Arbeit, als sie bisher möglich ist.<br />

Zunächst drei Fragestellungen zum Thema: 1. Warum wird unentgeltliche<br />

Familienarbeit — denn von ihr ist im folgenden Text vorwiegend die<br />

Rede — in der Regel von Frauen erwartet <strong>und</strong> geleistet? 2. Wie ist sie institutionell<br />

abgesichert? 3. In welchem Sinne läßt sich von einem <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Nutzen aus dieser Arbeit sprechen? Hierzu drei Thesen, die im folgenden<br />

erläutert werden: 1. Von Ehe- bzw. Familienhausfrauen wird unentgeltliche<br />

familiale Arbeit erwartet, weil deren biologische Fähigkeit zur<br />

Mutterschaft in die soziale Verpflichtung zur Versorgung von Kindern <strong>und</strong><br />

anderen umgedeutet wird <strong>und</strong> weil diese <strong>und</strong> andere Formen von Familienarbeit<br />

hohen ökonomischen Wert besitzen. 2. Institutionell ist diese Form<br />

von Arbeit durch die juristische Verfügung über die Arbeitskraft von Ehefrauen<br />

<strong>und</strong> Müttern im Familien- <strong>und</strong> Unterhaltsrecht abgesichert. Der <strong>gesellschaftliche</strong><br />

<strong>und</strong> hier wiederum primär ökonomische Nutzen dieser Arbeit<br />

ist darin zu sehen, daß Frauen in der Familie Leistungen in Form von<br />

Kinderversorgung, Alten- <strong>und</strong> Krankenpflege zur Verfügung stellen, die über<br />

die Marktökonomie nicht finanzierbar sind. Deren gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Nutzen unterliegt den Kriterien der Verfügung oder Nicht-Verfügung über<br />

Produktionsmittel.<br />

Obwohl die Unentgeltlichkeit nicht-marktförmig organisierter Formen<br />

von Frauenarbeit in der aktuellen Diskussion eher am Rande behandelt wird,<br />

so durchzieht das Kalkül mit „umsonst" erbrachten Leistungen doch die ge-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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samte Debatte. Die Ausweitung von Familienarbeit (Beck-Gernsheim 1984)<br />

<strong>und</strong> von ehrenamtlicher Sozialarbeit (Balluseck 1984) verspricht in dem<br />

Sinne zur Lösung von Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Fiskalproblemen des Staates beizutragen,<br />

daß der Rückzug verheirateter Frauen <strong>und</strong> Mütter vom Erwerbsleben<br />

den Arbeitsmarkt entlasten <strong>und</strong> die Beschränkung von Frauen auf die<br />

Familie die Eigenleistung von Haushalten erhöhen könnte. Und eben diese<br />

Erwartung der Erhöhung der „Haushaltsproduktivität" ist verräterisch: ist<br />

sie doch nur möglich durch die gesteigerte Arbeitsleistung von Hausfrauen,<br />

d.h. durch den unentgeltlichen Einsatz von Familienarbeitskraft. Analoges<br />

gilt für ehrenamtliche Sozialarbeit. Auch hier soll unentgeltliche Arbeit<br />

partiell verberuflichte Sozialarbeit ersetzen, dies im Rahmen der Forderung,<br />

die Familienhausfrau möge sich — quasi als Berufsersatz — für ehrenamtliche<br />

Sozialarbeit zur Verfügung stellen, sofern <strong>und</strong> sobald sie nicht (mehr)<br />

mit Erziehungsaufgaben, Altenversorgung <strong>und</strong>/oder Krankenpflege in der<br />

Familie ausgelastet ist.<br />

Es kann jedoch nicht darum gehen, das an Frauen gerichtete Ansinnen<br />

zu beklagen, sie möchten sich ehrenamtlicher Sozial- <strong>und</strong> Familienarbeit<br />

widmen, um B<strong>und</strong>, Länder <strong>und</strong> Kommunen von drängenden sozialen Problemen<br />

<strong>und</strong> Aufgaben zu entlasten, nur um für Ehefrauen einen Schonraum<br />

zu fordern, in dem sie frei von außerhäuslichen <strong>gesellschaftliche</strong>n Verpflichtungen<br />

leben können: nicht ganz zu Unrecht wird die (kinderlose) Ehefrau<br />

gelegentlich als „an unjustified financial bürden on the Community" bezeichnet<br />

(Cuvillier 1979). Vielmehr geht es um den Hinweis auf Tendenzen,<br />

daß sich — so im Rahmen der Selbsthilfe-Diskussion — unter progressiven<br />

Vorzeichen eine Verstärkung der tradierten geschlechtlichen Arbeitsteilung<br />

anbahnt: Verberuflichte Leistungen sollen in die Familie „zurückgeholt"<br />

oder in Nachbarschaftshilfe erbracht werden, der Ausfall (z.B. Schüler-<br />

Bafög) oder die Minderung (z.B. Mutterschaftsgeld) von Transferzahlungen<br />

durch unentgeltliche Familienarbeit ausgeglichen werden. Selbst wenn sie<br />

nicht ausdrücklich erwähnt werden, gemeint ist die Arbeit von Frauen.<br />

Und mehr noch: deren unentgeltliche Arbeit wird häufig den Selbsthilfe-<br />

Bestrebungen derjenigen zugeschlagen, die neue Formen der Arbeits- <strong>und</strong><br />

Lebensgestaltung erproben. Indirekt ist der Bezug auf unentgeltliche Frauenarbeit<br />

insofern, als das Selbsthilfe-Potential der Familie in einem Atemzug<br />

mit individueller Selbsthilfe genannt wird; aber immer handelt es sich<br />

um jene Familienleistungen, die traditionell von Frauen erbracht werden,<br />

zumeist auch in neuen Lebensformen. Nicht sich selbst sollen die Frauen<br />

helfen, sondern die Institution Familie stärken (1). Kritik gilt vor allem<br />

auch den Bestrebungen liberal-konservativer Politik, unter Berufung auf<br />

familiale Formen der „Selbsthilfe" <strong>und</strong> auf das Subsidaritätsprinzip die<br />

öffentlichen Haushalte sanieren zu wollen (2).<br />

Zu kritisieren ist jedoch noch ein zweiter Sachverhalt. In der konservativen<br />

Variante der Selbsthilfe-Diskussion wird unentgeltliche Frauenarbeit<br />

häufig als (kostengünstiges) Emanzipationspotential vorgestellt; der realen<br />

Entfremdung in der Arbeitswelt wird die Möglichkeit der Selbstverwirkli-<br />

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chung in der Familie <strong>und</strong> in sozialen Diensten gegenübergestellt. Unter der<br />

Hand wird zugleich vermittelt, geschlechtliche Arbeitsteilung ermögliche<br />

Frauen deren Selbstverwirklichung, statt sie zu blockieren; so etwa der heutige<br />

B<strong>und</strong>eskanzler Kohl in einer Rede 1976: Es geht für die Frauen<br />

nicht darum, nach männlichen Maßstäben gleichzuziehen, sondern als der<br />

andere Mensch angenommen zu werden, der er eben ist. Die Frau hat eigene<br />

Möglichkeiten der Erfüllung des Lebens, welche dem Mann nicht gegeben<br />

sind." (Geißler 1979, S. 39, Herv. U.B.). Geschlechtliche Arbeitsteilung<br />

wird so zu anthropologischen Konstante der Geschlechterdifferenz erhoben,<br />

ihre <strong>gesellschaftliche</strong> Bedeutung verschleiert.<br />

An dieser Entwicklung sind die Sozialwissenschaften nicht unbeteiligt,<br />

auch fehlt es schlicht an interdisziplinärer Forschung. Von Ausnahmen<br />

abgesehen (Horkheimer 1936), wurde die Arbeit der Frau in der Familie<br />

— als Erziehungs- <strong>und</strong> Pflegeleistung, als Hausarbeit, als betriebliche Mitarbeit<br />

— von der Soziologie bis zur Durchsetzung der Frauenforschung sträflich<br />

vernachlässigt. Die Klage darüber von einigen wenigen Familiensoziologen,<br />

Familienpolitikforschern <strong>und</strong> Haushaltswissenschaftler(n)/innen reicht<br />

zurück bis in die 50er Jahre, so bei König (1946), Egner (1952), Oeter<br />

(1954 <strong>und</strong> 1960), Bühler (1961), Schmucker (1961).<br />

Daß die familiale Ökonomie (3) seit kurzem politisch <strong>und</strong> wissenschaftlich<br />

aufgewertet wird, dürfte sich allerdings kaum dem spontanen Bedürfnis<br />

nach Vervollständigung der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung verdanken<br />

— sie wird neuerdings jedoch angestrebt (4). Eher geht es darum, ihren<br />

Wert im Sinne unentgeltlicher Leistungen zu betonen <strong>und</strong> hervorzuheben.<br />

Das soziologische <strong>und</strong> volkswirtschaftliche Bestreben, unentgeltliche Frauenarbeit<br />

aus ihrem Schattendasein herauszuholen, erzeugt jedoch auch Unbehagen.<br />

Sie scheint im Begriff zu sein, zu einer neuen Selbstverständlichkeit<br />

zu werden. War die Familienarbeit der Frau bis vor wenigen Jahren<br />

noch nicht einmal als Arbeit definiert, wird sie heute emphatisch als Leistung<br />

ersten Ranges gepriesen. Und eben dieses Lob macht mißtrauisch:<br />

Etabliert sich unentgeltliche Frauenarbeit — etwa unter dem Begriff der<br />

„Haushaltsproduktion" (Glatzer 1984) — als gleichgewichtiger Beitrag zum<br />

Sozialprodukt neben marktvermittelten Gütern <strong>und</strong> Dienstleistungen?<br />

Droht sich hier die Ideologie breitzumachen, unentgeltliche Leistungen<br />

seien in Tauschgesellschaften ebenso selbstverständlich wie entgeltliche, die<br />

daraus resultierende ökonomische <strong>und</strong> soziale Abhängigkeit zwar bedauerlich,<br />

jedoch unvermeidlich? Je selbstverständlicher eine Verhaltensweise, so<br />

Dieter Ciaessens (1962), desto wichtiger der dahinterstehende <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Wert; unter diesem Gesichtspunkt ist die bisherige wissenschaftliche<br />

Vernachlässigung unentgeltlicher Frauenarbeit kaum Gedankenlosigkeit.<br />

Eher ist anzunehmen, daß auf dem Umweg der sozialpolitischen Diskussion<br />

um leere Kassen <strong>und</strong> fehlende Arbeitsplätze plötzlich ein Thema Eingang in<br />

die wissenschaftliche Diskussion findet, das mit dem Gr<strong>und</strong>konsens tauschorientierter<br />

Industriegesellschaften nicht kompatibel ist: die unentgeltlichen<br />

Leistungen von Frauen in einer Gesellschaftsordnung, die als gr<strong>und</strong>le-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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genden Wert die leistungsgerechte Entlohnung jeder Arbeit (<strong>und</strong> jedes Produktionsfaktors)<br />

für sich in Anspruch nimmt. Um es noch einmal zu betonen:<br />

Kritik gilt nicht der Tatsache, daß in dieser Gesellschaft nicht alle Leistungen<br />

entgolten werden, sondern daß eine Interdependenz zwischen entgeltlicher<br />

<strong>und</strong> unentgeltlicher Arbeit existiert — primär in der Familie —,<br />

die diejenigen von der Partizipation an monetären <strong>und</strong> prestige-trächtigen<br />

Gratifikationen ausschließt, die sie ausüben, <strong>und</strong> daß diese Trennungslinie<br />

zwischen den Geschlechtern verläuft.<br />

In den Gründerjahren der deutschen Familien<strong>soziologie</strong> sprach man<br />

noch emphatisch von der Frau als Sachverwalterin <strong>und</strong> Hüterin des Haushalts,<br />

vom Hauptberuf der Frau als Hausfrau <strong>und</strong> Mutter, von der Frau als<br />

Wahrerin der familialen Gesamtinteressen (Wurzbacher 1952, Schelsky<br />

1953, Oeter 1954, Mayntz 1955). Lediglich Rene König fragte kritisch,<br />

wieso Mutterschaft <strong>und</strong> Hausfrauentätigkeit für die Frau ein Beruf sein soll:<br />

Indem man deren biologische Funktion zu einem Beruf erhob, habe das<br />

Verhältnis der Geschlechter die vielleicht verhängnisvollste Belastung der<br />

Geschichte erfahren (König 1967, S. 34).<br />

Die zunächst intuitive Verbindung von Hausfrauentätigkeit <strong>und</strong> Mutterschaft<br />

in Politik <strong>und</strong> Wissenschaft wurde von Soziologie <strong>und</strong> Haushaltswissenschaften<br />

in späteren Jahren aufgegriffen, so im Rahmen der Frage, warum es<br />

selbstverständlich sei, daß allein die Ehefrau <strong>und</strong> Mutter für Kinderversorgung<br />

<strong>und</strong> Haushalt als zuständig erklärt werde. Rosemarie v. Schweitzer wies wiederholt<br />

auf die Zeitgeb<strong>und</strong>enheit dieses Sachverhaltes hin <strong>und</strong> betonte, durch<br />

die Geschichte hindurch sei zu beobachten, daß diese Arbeiten stets rangniederen<br />

Personen übertragen wurden (Schweitzer 1981, S. 179).<br />

Einer soziologischen Erklärung dieses Sachverhaltes bereitete Friedhelm<br />

Neidhardt den Weg, als er sich Anfang der 70er Jahre mit dem Bedarf<br />

an <strong>gesellschaftliche</strong>n Normen befaßte, die die für das Kind notwendigen<br />

Dauerpflegeleistungen als moralische Verpflichtung einer bestimmten <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Gruppe definieren: Am leichtesten begründbar sei sie für<br />

die Mutter, denn diese habe schließlich das Kind in die Welt gesetzt (Neidhardt<br />

1970). Mehr als zehn Jahre später erweiterte Hartmann Tyrell diesen<br />

Gedanken um die Fragestellung, wie stark eine Gesellschaft das Prinzip der<br />

„leiblichen Elternschaft" institutionalisiere <strong>und</strong> hierüber die Zuständigkeiten<br />

für die Kinderaufzucht reguliere. Die funktionale Differenzierung von<br />

Betrieb <strong>und</strong> Familie sei in der bürgerlichen Kultur mit familialer Arbeitsteilung<br />

verknüpft, die die Frau auf Haushalt <strong>und</strong> Kinder verweise, legitimiert<br />

über die natürlichen Mutterpflichten (Tyrell 1981). Dieses Argument<br />

ging über Neidhardts Position hinaus, indem der Bedarf an <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Normen mit der Notwendigkeit institutioneller Arrangements zur<br />

Sicherung dieser Arbeitszuweisung verb<strong>und</strong>en wurde. In jüngster Zeit wurde<br />

— aus konservativer Perspektive — ein weiteres Argument vorgetragen,<br />

das möglicherweise zu aussagekräftigen Ergebnissen führt: Die Dauerpflegeleistungen<br />

von Müttern als Bestandteil familialer Funktionen seien eigentliche<br />

solche der Ehe (Siebel 1984).<br />

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Siebeis Unterscheidung zwischen „Familie" <strong>und</strong> „Ehe" als einer Institution<br />

öffentlichen Charakters dürfte es erlauben, den inneren Zusammenhang<br />

von Mutterschaft <strong>und</strong> unentgeltlicher Familienarbeit nicht nur im<br />

Rahmen normativer Vorstellungen aufzuzeigen, sondern gleichzeitig deren<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Institutionalisierung <strong>und</strong> ihren gesamtwirtschaftlichen<br />

Nutzen genauer auszuweisen. In der bürgerlichen Gesellschaft, so die hier<br />

vertretene These, erfolgt die Institutionalisierung dieser Arbeit über die<br />

rechtlich abgesicherte Verfügung des Mannes über die Arbeitskraft der<br />

Frau. Diese Form der Verfügung verlor im Zuge der Gleichberechtigungsgesetzgebung<br />

ihre Konturen, am materialen Gehalt hat sich demgegenüber<br />

nicht allzuviel geändert. Allerdings hat Jutta Li<strong>mb</strong>ach kürzlich davor gewarnt,<br />

die Orientierungskraft von Rechtsnormen zu überschätzen. Im Gr<strong>und</strong>e<br />

genommen würden Sitte <strong>und</strong> Norm gesellschaftsprägenderen Einfluß ausüben<br />

als diese (5). Der Hinweis ist wichtig, um der naiven Gleichsetzung<br />

von Rechtsnorm mit deren faktischer Handhabung vorzubeugen. Gleichzeitig<br />

besteht unbestreitbar ein struktureller Zusammenhang zwischen<br />

Rechtsnormen, die die Nutzung familialer — weiblicher — Arbeitskraft<br />

zur Sicherung bestimmter familialer „Funktionen" regulieren, <strong>und</strong> der<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Situation von Haus- bzw. Ehefrauen, die durch den Ausschluß<br />

vom Zugang zu Tauschmitteln gekennzeichnet ist: individuell <strong>und</strong><br />

gesellschaftlich sind diese Rechtsnormen ähnlich folgenreich wie jene in<br />

Verbindung mit arbeitsvertraglichen Regelungen (ohne hier Arbeits- <strong>und</strong><br />

Ehevertrag gleichsetzen zu wollen). Wenn ich diese Parallele hier ziehe,<br />

dann zur Akzentuierung einer sozial-ökonomischen Dimension der bürgerlichen<br />

Familie, die bisher wenig erforscht ist: Im folgenden werden Verbindungslinien<br />

zwischen der Ehe als einer Einrichtung von öffentlichem<br />

Charakter <strong>und</strong> der Institutionalisierung unentgeltlicher Familienarbeit<br />

skizziert; andere — ähnlich wichtige — Fragestellungen bleiben zunächst<br />

ausgespart (6).<br />

Die Abhängigkeit des Familienrechts von den ökonomischen Bedingungen<br />

industrialisierter Gesellschaften wurde 1974 von Heinrich Dörner umfassend<br />

dargestellt; für die neuere Entwicklung sei auf die Ausführungen<br />

von Sachße/Tennstedt (1982) verwiesen. Ähnlich der Familien<strong>soziologie</strong>,<br />

die mütterliche Sozialisationsleistungen zwar nicht mehr als „naturgegeben"<br />

betrachtet, allerdings nach wie vor die Frage nach den Gründen <strong>und</strong> Mechanismen<br />

geschlechtlicher Arbeitsteilung ausspart, vernachlässigen jedoch<br />

auch diese Autoren die Analyse des Sachverhalts, der hier zu akzentuieren<br />

versucht wird: daß Verfügungen über den Einsatz von Arbeitskraft nicht allein<br />

Merkmal der Markt-, sondern ebenso der Familien-Ökonomie sind.<br />

Bereits im Allgemeinen Landrecht der Preußischen Staaten (ALR) galten<br />

Mütter als zuständig für die Kinderaufzucht, im Rahmen der Festlegung,<br />

daß Ehefrauen ihre Arbeitskraft der Familie (<strong>und</strong> deren „Oberhaupt")<br />

als Wirtschafts- <strong>und</strong> Lebensgemeinschaft zur Verfügung stellen mußten; die<br />

Ausübung außerhäuslicher Arbeit <strong>und</strong> eigene Gewerbetätigkeit unterlagen<br />

der Genehmigung durch den Ehemann. Die Arbeits- <strong>und</strong> Dienstpflicht der<br />

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Ehefrau erstreckte sich insofern nicht allein auf den Haushalt im engeren<br />

Sinn, sondern zugleich auf das Gewerbe des Mannes, dem auch der Ertrag<br />

aus ihrer Arbeit zufiel. Als Gegenleistung stand ihr standesgemäßer Unterhalt<br />

zu. Dem ALR zufolge bildete die biologische Funktion der Frau, d.h.<br />

ihre Gebärfähigkeit, zusammen mit ihrem Arbeitsvermögen ein Potential,<br />

das der patriarchalen Haus- <strong>und</strong> Erwerbsgemeinschaft voll zur Verfügung<br />

stand.<br />

Die unentgeltliche Dienstpflicht der Frau wurde ins Familienrecht des<br />

BGB übernommen, ebenso die Verpflichtung zur Kinderversorgung (7).<br />

Mit Recht weisen Sachße/Tennstedt darauf hin, daß die Systematik des<br />

Unterhaltsrechts auf die Bedürfnisse von Produktionsmittelbesitzern zugeschnitten<br />

war: Kinder wurden unterhalten, um im Alter den Lebensbedarf<br />

der Eltern zu sichern; freilich fehlt ihrer Argumentation der Hinweis, daß<br />

auch die im Familienrecht festgelegte Arbeits- <strong>und</strong> Dienstpflicht der Ehefrau<br />

deren Erfordernissen entsprach: sie trug durch ihre Arbeit zur Vermögensbildung<br />

bei, <strong>und</strong> das um so mehr, je stärker sie in das Gewerbe des Mannes<br />

eingeb<strong>und</strong>en war.<br />

Mit der Konstitution der Lohnarbeiterschaft im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>und</strong><br />

der Beseitigung von Heiratsverboten <strong>und</strong> Ehebeschränkungen, mit der Gewinnung<br />

politischer Rechte insgesamt, wurden legale Familiengründungen<br />

auch dem Proletariat allgemein möglich. Formal unterlag die Proletarierin<br />

denselben Verfügungen über ihre Arbeitskraft wie die Bauers- oder Handwerkersfrau,<br />

allerdings mit unterschiedlicher <strong>gesellschaftliche</strong>r Zielsetzung.<br />

Sie sollten einerseits weiterhin die familiale Arbeitsteilung sichern, andererseits<br />

den Bedürfnissen der Industrie Rechnung tragen. Sofern die proletarische<br />

Familie auf den Verdienst der Ehefrau angewiesen war — <strong>und</strong> das war<br />

in der Regel der Fall —, konnte der Ehemann das ihm zugestandene Recht<br />

auf deren persönliche Dienstleistungen nur schwer durchsetzen, so daß von<br />

einer partiellen Verlagerung der ökonomischen Tätigkeit der Ehefrau aus<br />

der Familie in Industrie <strong>und</strong> Gewerbe gesprochen werden kann. Die familiale<br />

Arbeitsteilung wurde primär dadurch aufrechterhalten, daß nach wie<br />

vor die Frau allein für die Kinderversorgung verantwortlich blieb <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

im Rahmen ihrer Haushaltstätigkeit erbrachte. Sie dienten jedoch<br />

nicht der eigenen Altersversorgung <strong>und</strong> der familialen Vermögensbildung,<br />

wie noch in der agrarischen Familienökonomie oder in den Selbständigen-Haushalten<br />

des Industriezeitalters.<br />

Der Vergleich von lohnabhängigen Ehefrauen mit den Ehefrauen von —<br />

oft bescheidenen — Produktionsmittelbesitzern zeigt, daß mit der Industrialisierung<br />

<strong>und</strong> dem auf deren Erfordernisse abgestimmten Familien- <strong>und</strong><br />

Unterhaltsrecht der familialen Verfügung über die Arbeitskraft von Frauen<br />

eine über die Familie hinausgehende Bedeutung zukam. Sie hatte Kinder<br />

<strong>und</strong> zugleich Arbeitskräfte für die Industrie großzuziehen, sie unterlag der<br />

häuslichen Arbeitspflicht <strong>und</strong>, meist aus ökonomischer Notwendigkeit, den<br />

Bedingungen von Erwerbsarbeit. Ihre Arbeitskraft verblieb partiell unter<br />

patriarchaler Verfügung im Familienbereich <strong>und</strong> wurde gleichzeitig freige-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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setzt für kapitalistische Verwertungsinteressen. Hier lassen sich die Verflechtungen<br />

von einer patriarchal <strong>und</strong> kapitalistisch organisierten Gesellschaft<br />

deutlich identifizieren: Die patriarchale Verfügung über die Arbeitskraft<br />

der Ehefrau diente zweifells zugleich Kapitalverwertungsinteressen —<br />

der Bereitstellung künftiger Arbeitskräfte, der Versorgung des lohnarbeitenden<br />

Ehemannes —, <strong>und</strong> umgekehrt läßt sich unschwer nachweisen, daß<br />

die industrielle Verfügung über die Arbeitskraft der proletarischen Frau<br />

(nicht nur der Ehefrau) durchzogen war von patriarchalem (individuellem<br />

<strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>m) Interesse an der Aufrechterhaltung der Geschlechterhierarchie<br />

auch außerhalb des familialen Bereichs. (Auf den Zusammenhang<br />

zwischen familialer Vermögensbildung <strong>und</strong> Kapitalverwertungsinteresse<br />

in sog. Selbständigen-Haushalten kann an dieser Stelle nicht eingegangen<br />

werden. Dort sind patriarchale <strong>und</strong> kapitalistische Interessen an der<br />

Nutzung von Arbeitskraft auf noch andere Weise miteinander verknüpft<br />

(vgl. Beer 1984)).<br />

An der rechtlich abgesicherten Verfügung über die Arbeitskraft von<br />

Ehefrauen änderte sich wenig bis in die Nachkriegszeit. Einen Einbruch in<br />

die patriarchale Familienverfassung versprach die Gleichberechtigungsgesetzgebung<br />

des Jahres 1957. Was sich änderte, war die Terminologie, nicht<br />

der Inhalt von Gesetzesbestimmungen. Die biologistische Begründung für<br />

die Zuordnung der Frau zum Haushalt qua Mutterschaft blieb erhalten, aus<br />

dem Gesetzestext verschwand dagegen der Hinweis auf die Arbeitspflicht<br />

der Frau im Haushalt <strong>und</strong> Gewerbe des Mannes. Sie wurde — durchaus einfallsreich<br />

— nunmehr als Unterhaltspflicht ausgewiesen. „Wir verstehen<br />

heute", so 1958 der angesehene Familienrechtler Gernhuber, „unter dem<br />

Begriff 'Unterhalt' nicht mehr nur eine Bedürfnisbefriedigung durch den<br />

Einsatz von Geld, so daß auch die Mitarbeit im Geschäft oder Beruf des<br />

Partners in Erfüllung der Unterhaltspflicht erfolgen kann, ohne notwendig<br />

eine Verbindung zum Unterhaltsrecht aufzuweisen" (Gernhuber 1958, S.<br />

247). Und zur Umdeutung der Hausarbeitspflicht in eine Unterhaltsverpflichtung<br />

Eißer 1959: „Durch die Haushaltsführung erfüllt die Ehe­<br />

8<br />

frau ... im Regelfall ihre Verpflichtung, durch Arbeit zum Unterhalt der<br />

Familie beizutragen. Diese Wertung der Hausfrauenarbeit als Unterhaltsbeitrag<br />

für den Familienunterhalt bringt das Schaffen <strong>und</strong> Wirken der<br />

Hausfrau, das bisher nur nebenbei <strong>und</strong> ohne Beziehung auf die Unterhaltspflicht<br />

erwähnt war, zur verdienten rechtlichen Anerkennung" (Eißer 1959,<br />

S. 1979, Hervorh. i.Orig.). Auch hinsichtlich der Kinderversorgung hielten<br />

Familienrechtler an der traditionellen Arbeitsteilung fest: „Die Pflicht, für<br />

Kinder zu sorgen, wird bei der Kollision mit der Pflicht, durch Erwerbstätigkeit<br />

zum Familienunterhalt beizutragen, regelmäßig stärker sein. Die<br />

Frau ist die natürliche Betreuerin ihrer Kinder" (Brühl 1957, S. 279). Ein<br />

Kommentar zur Gleichberechtigungsgesetzgebung des renommierten Familienrechtlers<br />

Bosch beseitigte mögliche Zweifel, es könne sich allzuviel<br />

ändern: „... der Kunstgriff der Umformung des Unterhaltsbegriffs — im<br />

Gr<strong>und</strong>e nur eine Bestätigung der natürlichen Ordnung! —" verdanke sich<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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gesetzestechnischen Bedürfnissen; lakonisch stellte er fest: „... gleiche Verpflichtung<br />

(ist) keineswegs „dieselbe" Verpflichtung; Gleichberechtigung<br />

bedeutet nicht Identität der Rechtspositionen" (Bosch 1958, S. 83).<br />

Diese Hinweise sind wichtig zum Verständnis der historischen Entwicklung<br />

der familialen Arbeitspflicht von Ehefrauen. In neutralen Begriffen<br />

wurde die traditionelle Aufspaltung der Nutzung weiblicher Arbeitskraft<br />

zwischen Familie <strong>und</strong> Erwerbswirtschaft festgeschrieben, deren historische<br />

Wurzeln verschleiert, die noch in der agrarischen <strong>und</strong> handwerklichen Familienökonomie<br />

voll dem Familienvorstand <strong>und</strong> Eigentümer der Produktionsmittel<br />

zufiel <strong>und</strong> die partiell bis in die 50er Jahre erhalten blieb, heute<br />

jedoch rapide zurückgeht. Die Verfügung über <strong>und</strong> Nutzung von weiblicher<br />

Arbeitskraft verlagerte sich im Laufe der Industrialisierung; in dem Jahrzehnt<br />

zwischen 1950 <strong>und</strong> 1961 wurde der Wandel in den Arbeitsbedingungen<br />

von Ehefrauen <strong>und</strong> Müttern besonders deutlich. Die Erwerbsquote von<br />

Ehefrauen im erwerbsfähigen Alter stieg von 26,4% auf 36,5%. Im gleichen<br />

Zeitraum fiel der Anteil der mithelfenden Ehefrauen an allen Ehefrauen<br />

von 15,4% auf 12,7%, gleichzeitig stieg der Anteil der marktförmig erwerbstätigen<br />

Ehefrauen an allen Ehefrauen von 9,6% auf 21,1% — Zeichen für<br />

den Rückgang familienförmig organisierter <strong>und</strong> für die Zunahme marktförmig<br />

vermittelter Erwerbstätigkeit von Ehefrauen. Im Vergleich betrug 1980<br />

der Anteil der marktbezogenen erwerbstätigen Ehefrauen an allen Ehefrauen<br />

<strong>35</strong>,9%, der Anteil der mithelfenden Ehefrauen an allen Ehefrauen<br />

4,7%, erwerbstätig waren somit 40,6% aller Ehefrauen (Müller/Willms/Handl<br />

1983, S. <strong>35</strong>).<br />

Die zunehmende Aufspaltung <strong>und</strong> gleichzeitige Mehrbelastung weiblicher<br />

Arbeitskraft zwischen Familie <strong>und</strong> Beruf war in den 50er Jahren Anlaß<br />

zu ersten familienpolitischen Interventionen. Durchaus in Übereinstimmung<br />

mit familiensoziologischen <strong>und</strong> -rechtlichen Positionen sollte die Ehefrau<br />

<strong>und</strong> Mutter für Sozialisationsleistungen <strong>und</strong> Hausarbeit zur Verfügung<br />

stehen. Mit Recht beklagt wurde die finanzielle Belastung von Familien mit<br />

Kindern, gefordert wurde die Umverteilung von Familienlasten auf diejenigen,<br />

die offensichtlich von den Anstrengungen der Familien mit Kindern<br />

profitierten — Ledige <strong>und</strong> kinderlose Ehepaare.<br />

Daß sie profitierten, ergab sich mühelos aus der Systematik des Rentenversicherungsrechts.<br />

Die 1957 vollzogene Umstellung auf ein Umlageverfahren<br />

der Aufwendungen, mit dem die Erwerbstätigen die nicht mehr Erwerbstätigen<br />

über Transferzahlungen „unterhielten", legte den Gedanken<br />

nahe, daß diejenigen, die Kinder <strong>und</strong> damit künftige Beitragszahler aufziehen,<br />

eine Leistung zur Sicherung des Gesellschaftsganzen <strong>und</strong> seiner Mitglieder<br />

erbringen, der sich Kinderlose entziehen. Der — nicht honorierte —<br />

Beitrag der Mutter durch unentgeltliche Leistungen wurde akklamativ herausgestellt,<br />

deren eigenständige soziale Sicherung jedoch nicht angestrebt.<br />

Folgerichtig entstanden erste Pläne für einen „Drei-Generationen-Vertrag"<br />

, der die finanzielle Entlastung von Familien mit Kindern mit der Finanzierung<br />

von Altersrenten durch Erwerbstätige verbinden sollte. 9 Heute<br />

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sind diese Pläne wieder aktuell, auch deshalb lohnt der Rückblick auf die<br />

damalige Diskussion.<br />

Die Soziologie jener Jahre befaßte sich allenfalls mit Teilaspekten dieser<br />

Entwicklung (<strong>und</strong> unter verkürzten theoretischen Fragestellungen, auf die<br />

hier nicht eingegangen werden kann). Ihre Themen waren die zunehmende<br />

Müttererwerbstätigkeit (Pfeil 1961) oder die Einstellungen junger Frauen<br />

zu Familie <strong>und</strong> Mutterschaft in der richtungsweisenden Arbeit von Wurzbacher<br />

u.a. (1958). Der Schwerpunkt familiensoziologischer Forschung lag<br />

in der Analyse der Stabilitätsbedingungen der Familie <strong>und</strong> von deren Funktionsveränderungen.<br />

Sozialpolitische Fragestellungen wurden eher ausgeklammert,<br />

dasselbe gilt für die ökonomische Verflechtung von Familie <strong>und</strong><br />

Gesellschaft. So war es nicht erstaunlich, daß der Aspekt der Verwertungsbedingungen<br />

weiblicher Familienarbeitskraft unter diesen Vorausset­<br />

10<br />

zungen überhaupt nicht in den Blick sozialwissenschaftlicher Forschung<br />

geriet.<br />

Theoretisch lassen sich die zunehmende Erwerbstätigkeit von Hausfrauen<br />

<strong>und</strong> Müttern, die rechtliche Umgestaltung der familialen weiblichen Arbeitspflicht<br />

<strong>und</strong> familienpolitische Bestrebungen als Merkmale einer neuen<br />

Form der Vergesellschaftung der Arbeitskraft <strong>und</strong> des Gebärvermögens von<br />

Frauen deuten, denn familienpolitische Interventionen galten nicht allein<br />

dem Ziel, das Arbeitsvermögen der Frau der Familie zu sichern, sondern<br />

gleichzeitig einer weiteren Zielsetzung — der Sicherung einer stabilen Geburtenrate.<br />

In diesem Sinne wird unter „Vergesellschaftung" hier die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Nutzung <strong>und</strong> Verfügung über diese Potenzen — Arbeits- <strong>und</strong><br />

Gebärvermögen — verstanden. Beide dienten nur noch selten der Reproduktion<br />

einer auf Eigentum beruhenden Familienökonomie. Vollständige Familie<br />

<strong>und</strong> gesicherte Beschäftigung des Ehemannes vorausgesetzt, verblieb<br />

die Arbeitskraft der Ehefrau <strong>und</strong> Mutter entweder dem Haushalt nach dem<br />

Modell der Hausfrauenehe oder sie spaltete sich auf zwischen Haushalt <strong>und</strong><br />

Beruf.<br />

Indem der Staat seit Einführung der Sozialversicherung als Garant der<br />

Existenzsicherung der Besitzlosen im Alter auftrat, lag der Gedanke nahe,<br />

die Sozialisationsleistungen von Müttern (<strong>und</strong> die finanziellen Aufwendungen<br />

der „Familienvorstände") als deren Beitrag zum Erhalt des <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Ganzen zu deuten. Die mit diesem Sachverhalt befaßte familienpolitische<br />

Literatur bedachte allerdings kaum, daß die Systematik des Rentenversicherungsrechts<br />

auf ein Umlageverfahren unter Lohnabhängigen abstellte,<br />

das über monetäre Leistungen die Reproduktion von Individuen <strong>und</strong> deren<br />

Arbeitskraft auf spezifische Weise sicherte. Eine materielle Anerkennung<br />

der Leistungen von Müttern war bei dieser Systemkonstruktion nicht<br />

möglich.<br />

Bei der Berücksichtigung der Tatsache, daß Sozialleistungen über Steueraufkommen<br />

<strong>und</strong> Sozialabgaben finanziert werden, zeigt sich, daß auf Arbeitnehmerseite<br />

über direkte <strong>und</strong> indirekte Steuern <strong>und</strong> Sozialabgaben die<br />

Kosten der sozialen Sicherung innerhalb der Arbeitnehmerschaft umverteilt<br />

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werden, während von Arbeitgeberseite Soziallasten als Lohnnebenkosten<br />

<strong>und</strong> Steuern über die Preisgestaltung auf die Käufer von Produkten abgewälzt<br />

werden. Die Mittel zu sozialer Sicherung werden allein aus den<br />

Erträgen durch Arbeit finanziert, Kapital- <strong>und</strong> Bodenerträge sind, nach<br />

Abzug von Steuern, nicht davon betroffen. Mit einer Einschränkung:<br />

über direkte <strong>und</strong> indirekte Besteuerung sind Kapital- <strong>und</strong> Bodenbesitzer<br />

persönlich an den Kosten der sozialen Sicherung beteiligt. Rolf Zacher<br />

spricht in diesem Zusammenhang von einem „Paradoxon der Arbeitnehmergesellschaft"<br />

(Zacher 1984).<br />

Schon in den 50er Jahren wurde in der familienpolitischen Literatur<br />

darauf hingewiesen, daß im System der sozialen Sicherung nicht allein<br />

Kosten umgelegt werden, sondern daß dessen Funktionsfähigkeit zugleich<br />

von unentgeltlichen Leistungen abhänge (Sozialisationsleistungen, Altenbetreuung,<br />

Krankenpflege). Auch aus diesem Gr<strong>und</strong> bietet es sich an,<br />

für Industriegesellschaften von einer spezifischen Vergesellschaftung weiblicher,<br />

unentgeltlicher Arbeitskraft zu sprechen, die nicht mehr entsprechend<br />

den Bedürfnissen einer handwerklichen oder agrarischen Familienökonomie<br />

<strong>und</strong> ihrer Produktionsmittelbesitzer genutzt wurde. Als Nutznießer<br />

lassen sich letztlich die Produktionsmittelbesitzer einer anonymisierten,<br />

hochindustrialisierten Gesellschaft identifizieren — ihnen bleibt die<br />

Nutzung von Arbeitskraft im erwerbsfähigen Alter, ohne daß sie mit den<br />

Kosten von deren Aufzucht <strong>und</strong> Erwerbsunfähigkeit belastet sind. Als<br />

Nutznießer unentgeltlicher Frauenarbeit erweisen sich aber auch die männlichen<br />

Lohnabhängigen insgesamt. Erstens kommen ihnen direkt die unentgeltlichen<br />

Arbeitsleistungen von Frauen zugute, die zugleich die Hierarchie<br />

zwischen Erwerbstätigen <strong>und</strong> Nicht-Erwerbstätigen festigt, zweitens profitieren<br />

sie in sehr viel stärkerem Maße als Frauen durch das Umlageverfahren<br />

der Sozialversicherung, das nicht-erwerbstätigen Frauen <strong>und</strong> Müttern<br />

aufgr<strong>und</strong> der Unentgeltlichkeit ihrer Arbeit nur „abgeleitete" <strong>und</strong> in<br />

der Regel mindere Ansprüche zugesteht.<br />

Zusammenfassend: Institutionell abgesichert über Familien- <strong>und</strong> Sozialrecht<br />

reproduziert die Familie durch die Arbeit der Ehefrau <strong>und</strong> Mutter<br />

<strong>und</strong> das Lohneinkommen eines oder beider Ehepartner sich selbst, gleichzeitig<br />

jedoch auch die Bedingungen einer auf privater Aneignung von<br />

Reichtum basierenden Gesellschaft. Diese Reproduktion beruht auf Mechanismen,<br />

in denen Kapitalverwertungsinteressen mit patriarchalen Elementen<br />

durchsetzt sind. Mit den Transformationen des Industriekapitalismus<br />

wandelte sich auch dessen Patriarchalismus. Der vorindustrielle, der sich<br />

bis weit ins Industriezeitalter in der Familienökonomie als Einheit von<br />

Gewerbe <strong>und</strong> Haushalt erhielt, beließ Ehefrauen, deren Arbeitskraft <strong>und</strong><br />

Gebärvermögen, in dieser Wirtschaftseinheit. Er machte einem neuen<br />

Patriarchalismus Platz, der sich nahtlos in die versachlichten Beziehungen<br />

der Industriegesellschaft einfügte. Dem in der Regel nunmehr lohnabhängigen<br />

Ehemann verblieb allein die persönliche Dienstleistung der Ehefrau,<br />

von den Sozialisationsleistungen der Mutter <strong>und</strong> von ihrer eventuel-<br />

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len Erwerbstätigkeit profitierten andere — das staatliche Sozialsystem<br />

<strong>und</strong> das Kapital. Nur in eingeschränktem Maße partizipierten Hausfrauen<br />

<strong>und</strong> Mütter — ob erwerbsfähig oder nicht — an Sozialleistungen zur Sicherung<br />

ihrer Existenz.<br />

Diese Veränderungen einer spezifischen Form des Patriarchalismus<br />

waren nicht Gegenstand soziologischer Forschung. Gerade der von der<br />

kritischen Theorie diagnostizierte (patriarchal-kapitalistische) Autoritarismus<br />

entwickelter Industriegesellschaften wurde von der Familien<strong>soziologie</strong><br />

bestritten. Im Anschluß an Wurzbachers berühmte Untersuchung von<br />

11<br />

1952, auf die sich alle bekannten Werke jener Zeit beriefen, wurde demgegenüber<br />

der Abbau des patriarchalischen Familienleitbildes gefeiert;<br />

verstanden wurde darunter jedoch nicht der Abbau traditioneller Geschlechterrollen<br />

<strong>und</strong> Arbeitsteilung, sondern — auch hier in Übereinstimmung<br />

mit anderen sozialwissenschaftlichen Disziplinen — deren „partnerschaftliche"<br />

Anerkennung.<br />

Die sozio-ökonomische Situation von Frauen verbesserte sich in den folgenden<br />

Jahren ohne jeden Zweifel. Die 1977 vollzogene formalrechtliche<br />

Gleichstellung von Eheleuten bildete eine weitere Zäsur in der Aufweichung<br />

der Verrechtlichung der familialen Arbeitspflicht der Frau, diesmal jedoch unter<br />

völlig veränderten <strong>gesellschaftliche</strong>n Bedingungen: zunehmende Verknappung<br />

von Erwerbsarbeit, zunehmende Scheidungsziffern, abnehmende Geburtenraten,<br />

abnehmende Heiratswilligkeit, Abbau öffentlicher Leistungen.<br />

Im Vergleich zu den 50er Jahren gilt Frauenerwerbstätigkeit heute<br />

als Lebensperspektive; Frauen wollen beides, Beruf <strong>und</strong> Familie. Ehe <strong>und</strong><br />

Familie bieten Frauen heute keine lebenslange ökonomische <strong>und</strong> soziale<br />

Absicherung mehr; die Bedingungen, die seit Beginn der Industrialisierung<br />

allein für Proletarierinnen galten, haben sich mittlerweile verallgemeinert.<br />

Neben Ehe <strong>und</strong> Familie haben sich andere Formen der Lebensgestaltung<br />

etabliert — das sog. Single-Dasein, Paar-Beziehungen außerhalb der Ehe,<br />

Wohngemeinschaften. Diese Lebensformen verweisen Frauen auf eigene<br />

Erwerbstätigkeit, jedoch auch im Falle der ehelichen Bindung ist die Existenzsicherung<br />

der Frau über den Ehemann nicht mehr gewährleistet: Erwerbslosigkeit,<br />

Kurzarbeit, Reallohnsenkungen wirken als ökonomische<br />

<strong>und</strong> soziale Unsicherheitsfaktoren, die den Drang von Frauen in die Erwerbstätigkeit<br />

verstärken. Deshalb erstaunt es nicht, daß sich der Anteil<br />

verheirateter an allen erwerbstätigen Frauen in den letzten 25 Jahren nahezu<br />

verdoppelte, der Anteil von Müttern mit Kindern unter 15 Jahren<br />

fast verdreifachte. Die berufstätige Frau „ist heute älter, verheiratet <strong>und</strong><br />

Mutter" (Reichert/Wenzel 1984).<br />

Der zunehmenden Erwerbsorientierung von Frauen entspricht keine<br />

gleichgewichtige Familienorientierung der Männer — so das Ergebnis<br />

einer Vielzahl neuerer Studien (Glatzer/Herget 1984, Born/Vollmer 1983).<br />

Auf erwerbstätigen Ehefrauen <strong>und</strong> Müttern lastet nach wie vor Familien<strong>und</strong><br />

Erwerbstätigkeit, obwohl die familienrechtliche Zuweisung der Arbeitskraft<br />

der Frau an Legitimität eingebüßt hat. Faktisch gilt die Mutter nach<br />

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wie vor als angemessene Betreuerin „ihrer" Kinder, rechtlich gilt die familiale<br />

Arbeitsteilung als frei vereinbar unter Ehepartnern <strong>und</strong> Eltern.<br />

Vom Regelfall abweichende Arrangements sind möglich — nur nicht häufig<br />

<strong>und</strong> konterkariert von <strong>gesellschaftliche</strong>n Rahmenbedingungen. Nach dem<br />

Aufbrechen der legalen Bindung unentgeltlicher Frauenarbeitskraft an die<br />

Familie wird heute unterschwelliger über sie verfügt, Jutta Li<strong>mb</strong>ach hat<br />

auf entsprechende juristische Praktiken hingewiesen (Li<strong>mb</strong>ach 1981).<br />

Institutionelle Arrangements zur Sicherung familialer Reproduktionsleistungen<br />

existieren nach wie vor, Eltern sind für die Aufwendungen <strong>und</strong><br />

Arbeitsleistungen der Kinderaufzucht verantwortlich. Sie sind jedoch nicht<br />

mehr eindeutig <strong>und</strong> ausschließlich an die Arbeitskraft der Ehefrau <strong>und</strong><br />

Mutter geb<strong>und</strong>en. Diese Entwicklung läßt sich als institutionelles Aufbrechen<br />

geschlechtlicher Arbeitsteilung interpretieren, begleitet von anderen<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Veränderungen: Zunahme der Teilzeitarbeit von<br />

Ehefrauen, Bewußtseinsveränderungen im Zuge der Frauenbewegung.<br />

Frauen sind heute aber nach wie vor, allerdings subtiler, auf die Familie<br />

verwiesen: es gibt Mutterschaftsurlaub, nicht solchen für Väter, Frauenarbeit<br />

ist schlechter bezahlt als Männerarbeit <strong>und</strong> unzureichend zur materiellen<br />

Existenzsicherung, Industrie <strong>und</strong> Gewerbe rechnen nach wie vor<br />

mit der vollen Verfügung über Arbeitskraft, die sich an der von Familienarbeit<br />

entlasteten männlichen Normalbiographie orientiert, Männer zeigen<br />

wenig Interesse an Familienaufgaben. Ehefrauen <strong>und</strong> Mütter unterliegen<br />

insofern einem ungebrochenen strukturellen Zwang zur unentgeltlichen<br />

Arbeit. Allerdings sind sich Frauen der Konsequenzen heute durchaus bewußt:<br />

Lücken in der Arbeits- <strong>und</strong> Rentenbiographie, verschlechterte<br />

Chancen des Zugangs zum Arbeitsmarkt, niedrige Bezahlung in ungeschützten<br />

Beschäftigungsverhältnissen mit der Folge der Armut beim<br />

Scheitern der Ehe <strong>und</strong> im Alter. Frauen durch Mutterschaft an die Familie<br />

binden zu wollen, hat ebenso an Überzeugungskraft eingebüßt. So ist die<br />

Vermutung plausibel, daß Frauen, vor die Alternative „Mutterschaft oder<br />

Beruf" gestellt, sich für den Beruf <strong>und</strong> gegen Kinder entscheiden werden,<br />

zumindest gegen mehr als ein Kind.<br />

Gibt es einen Ausweg aus dem Dilemma? Nicht-marktförmig organisierte<br />

Arbeitsleistungen sind gesellschaftlich notwendig, daran besteht kein<br />

Zweifel. Um sie den Frauen nicht auch in Zukunft zuzuschreiben, kann eine<br />

Lösung des Problems allein im sukzessiven Abbau <strong>und</strong> letztlich in der<br />

Aufhebung geschlechtlicher Arbeitsteilung bestehen. Nicht nur Frauen<br />

würden davon profitieren, auch Männer: die ökonomische Sicherung der<br />

Familie <strong>und</strong> die Arbeit in ihr würden auf beide verteilt, dem Problem des<br />

nachehelichen Unterhalts die Schärfe genommen, die Integration der<br />

Frau ins Berufsleben neue Formen von Partnerschaft ermöglichen. Kurzfristig<br />

geht es um Änderungen im System sozialer Sicherung, die die Diskriminierung<br />

derjenigen beseitigen, die unentgeltliche Leistungen erbringen<br />

(z.B. Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung),<br />

um mehr familienergänzende soziale Dienste, insgesamt um den Ausbau<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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statt Abbau des Sozialstaates. Langfristig sind Veränderungen der Arbeitsorganisation<br />

gefordert, insbesondere der Arbeitszeitregelungen, die sich<br />

bisher gegen eine familiengerechte Ausgestaltung des Arbeitslebens sperren,<br />

so daß Frauen <strong>und</strong> Männer Erwerbstätigkeit mit Familienaufgaben<br />

verbinden können. Dies wiederum bedingt eine Veränderung der Einstellung<br />

von Männern zum familialen Bereich, sie ist bislang nicht in Sicht.<br />

ANMERKUNGEN<br />

Hilde v. Balluseck war an der Erarbeitung der familiensoziologischen Literatur<br />

der Nachkriegszeit beteiligt. Für Anregungen <strong>und</strong> Kritik des Manuskripts danke ich:<br />

Sabine Gensior, Carol Hagemann-White, Ulrike Helmer, Christel Rammert-Faber,<br />

Margret Steffen, Helgard Ulshoefer, Marianne Weg <strong>und</strong> Christof Wehrsig.<br />

1 Kritisch zur Subsumierung von Familienarbeit unter Selbsthilfe Gross 1982a <strong>und</strong><br />

1984: er möchte Selbsthilfegruppen unterschieden wissen von Selbst-Hilfe als<br />

Eigenverantwortlichkeit im Sinne des bürgerlichen Individualismus. Zu den heterogenen<br />

politischen Zielvorstellungen <strong>und</strong> Erkenntnisinteressen in der Selbsthilfe-Diskussion<br />

vgl. Murswieck 1983, Deimer/Jaufmann/Kistler/Pfaff 1983, Michalsky<br />

1984; zu Selbsthilfe-Projekten der Alternativ-Ökonomie vgl. die empirische<br />

Studie von Berger/Domeyer/F<strong>und</strong>er/Voigt-Weber 1984.<br />

2 Kritisch aus politischer Sicht Martiny 1984 <strong>und</strong> Opielka 1984; aus wissenschaftlicher<br />

Perspektive Hofemann 1982, Windhoff-Héritier 1982, Deimer u.a. 1983,<br />

Beywl/Bro<strong>mb</strong>ach 1984, Bäcker 1979. Befürwortend: Hegner 1982, Gross 1982b.<br />

3 Zur Definition: Unter familialer Ökonomie verstehe ich die Gesamtheit der Leistungen<br />

im Binnen- <strong>und</strong> Außenverhältnis von Wirtschaftseinheiten, deren Vermögensverhältnisse<br />

durch die Eheschließung reguliert sind, d.h. unterschieden nach<br />

Familienstatus <strong>und</strong> Geschlechtszugehörigkeit. Schweitzer unterscheidet zwischen<br />

Hausarbeit im engeren Sinn, als Familientätigkeit (sie schließt dann Kinderversorgung<br />

ein), als Selbstversorgung (sie schließt dann die Herstellung von Lebensmitteln<br />

<strong>und</strong> Gütern ein; vgl. Schweitzer 1981, S. 172 f. Ich fasse diese drei Formen von<br />

Haushaltstätigkeit unter den — vorläufigen — Terminus „Familienarbeit", der<br />

zugleich die unentgeltliche Erwerbsarbeit der Ehefrau im Betrieb des Mannes bzw.<br />

der Familie einschließt (mithelfende bzw. mitarbeitende Angehörige). Anders als<br />

Hegner 1982, der zwischen familialen <strong>und</strong> ökonomischen Haushaltstätigkeiten<br />

unterscheidet <strong>und</strong> diese aufschlüsselt nach den Aktivitätsformen Arbeiten, Herstellen,<br />

Handeln <strong>und</strong> der keine geschlechtsspezifische Zuordnung vornimmt, wird<br />

hier versucht, Familien- oder Haushaltsaktivitäten im Rahmen gcschlechtssezifischer<br />

Zuweisungen zu identifizieren.<br />

4 Zuletzt in: Das Parlament <strong>35</strong>/36 (1984), bes. S. 10 <strong>und</strong> 19 zum Problem der<br />

Festellung des materiellen Werts der Hausfrauentätigkeit.<br />

5 Diskussionsbeitrag anläßlich der Tagung „Wie männlich ist die Wissenschaft?",<br />

Zentrum für interdisziplinäre Forschung, Universität Bielefeld, 13.-15.12.1984.<br />

6 So die Frage nach dem Prinzip der Reziprozität im Familienverband: welche<br />

Bindungen werden durch unentgeltliche Arbeit geschaffen, die entgeltliche Arbeit<br />

nicht hervorbringt? Wie ist unter diesem Gesichtspunkt die Verknüpfung der<br />

monetären (Markt-)Ökonomie mit der nicht-monetären (Familien-)Ökonomie zu<br />

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denken? Der Hinweis auf die Notwendigkeit der Analyse der widersprüchlichen<br />

Folgen unentgeltlicher Familienarbeit stammt von Christof Wehrsig.<br />

7 Kaufmann weist darauf hin, daß die höchstpersönliche Verantwortung der Mutter<br />

für die Kinderaufzucht sich erst im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert herausgebildet habe; vgl.<br />

Kaufmann 1981.<br />

8 Die Mitarbeitspflicht wurde nicht im Unterhaltsrecht aufgenommen. Entscheidend<br />

bleibe, so Gernhuber, der Einzelfall. Gefordert war deren Aufnahme im Regierungsentwurf<br />

I <strong>und</strong> im Entwurf der FDP. In den Vorarbeiten zum Regierungsentwurf<br />

sei richtig erkannt worden, so Gernhuber weiter, daß die Mitarbeitspflicht eine<br />

über das Unterhaltsrecht hinausgehende Bedeutung habe. Vgl. Gernhuber 1958,<br />

S. 247, Fußnote 29.<br />

9 So plädierte Schreiber für einen „Solidarvertrag" der Arbeitnehmer, mit dem alle<br />

erwachsenen Erwerbstätigen eine „Kindheitsrente" zur Verfügung stellen sollten.<br />

Selbst herangewachsenen, sollte der Erwerbstätige diese in Kindheit <strong>und</strong> Jugend<br />

erhaltene Rente zurückzahlen <strong>und</strong> damit die Kindheitsrente für die nächste Generation<br />

aufbringen; vgl. Schreiber 1955, S. 31, dargestellt bei Bühler 1961. Vgl.<br />

auch Wingen 1964, S. 234, der in seiner Würdigung des „Schreiber-Plans" denn auch<br />

eine Schwachstelle identifizierte: wie die verheiratete Frau <strong>und</strong> Mutter die in der<br />

Kindheit erhaltene Rente zurückzahlen solle, wenn sie selbst nicht erwerbstätig<br />

sei. Oeter entwarf ähnliche Pläne; er zog in seinen Schriften übrigens Parallelen<br />

zwischen der Verfügung <strong>und</strong> Nutzung von Arbeitskraft in der alten Familienwirtschaft<br />

<strong>und</strong> deren Ubergang an die „Volkswirtschaft", jedoch nur bezogen auf<br />

Kinder <strong>und</strong> nicht auf Frauen. Vgl. Oeter 1954, S. 54.<br />

10 Vgl. v. Ferber 1977 <strong>und</strong> Kaufmann 1977 zum Verhältnis von Soziologie <strong>und</strong><br />

Sozialpolitik. Zu den historischen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> der Programmgeschichte von<br />

Sozialpolitik vgl. Pankoke 1977 <strong>und</strong> 1984.<br />

11 Die Differenziertheit von Horkheimers Argumentation ging seinerzeit verloren.<br />

So unterschied dieser zwischen rational begründbarer <strong>und</strong> irrationaler Autorität.<br />

„Autorität" kennzeichne immer eine Abhängigkeitsbeziehung, könne jedoch der<br />

Förderung der Interessen der Betroffenen <strong>und</strong> der Entwicklung <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Kräfte dienen. Herrschaft galt ihm nicht von vornherein als destruktiv, sie habe<br />

sich vielmehr auszuweisen durch ihre Mittel <strong>und</strong> Ziele. „Autorität" als legitime<br />

<strong>und</strong> begründbare Form von Herrschaft unterschied er von irrationaler, künstlich<br />

aufrechterhaltener <strong>und</strong> damit historisch überholter Autorität, die dem Interesse<br />

der Allgemeinheit an einer gerechten <strong>und</strong> lebenswerten Gesellschaft zuwiderlaufe.<br />

Diese Form von Autorität trete nicht offen zutage, sondern verhüllt unter dem<br />

Schein freier Vereinbarung (Arbeitsvertrag). Die bürgerliche Familie bilde den<br />

Transmissionsriemen zur Aufrechterhaltung von Klassenherrschaft, indem sie<br />

Individuen hervorbringe, die entgegen ihrem eigenen Interesse zur Aufrechterhaltung<br />

bestehender Autoritätsstrukturen beitrügen. Zugleich thematisierte Horkheimer<br />

das subversive Element familialer (Liebes-)Beziehungen, das diese Mechanismen<br />

unterlaufen könne. Vgl. Horkheimer 1936.<br />

LITERATUR<br />

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in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland <strong>und</strong> Berlin (West) von 1950-1980", in: Soziale<br />

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Perspektive oder konservativer Rückzug?", in: WSI-Mitteilungen<br />

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Egner, E., 1952: Der Haushalt. Eine Darstellung seiner volkswirtschaftlichen Gestalt,<br />

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Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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ZUR ENTWICKLUNG LOKALER LEBENSZUSAMMENHÄNGE ALS<br />

GEGENSTAND STADTSOZIOLOGISCHER FORSCHUNG<br />

Ulfert<br />

Herlyn<br />

Es ist nicht zufällig, daß auf diesem Soziologentag Lebenszusammenhänge<br />

an zentraler Stelle thematisiert werden, denn mit dieser Kategorie ist ein<br />

Gegenbegriff zur obsolet gewordenen funktionalen Ausdifferenzierung der<br />

Gesellschaft konzipiert, dem in der Gegenwart ein besonderer Stellenwert<br />

zukommt. Auf der lokalen Ebene von Städten <strong>und</strong> Gemeinden ist der Begriff<br />

des Lebenszusammenhangs aus doppeltem Gr<strong>und</strong> aktuell, indem er<br />

einmal gegen die durchmodernisierte <strong>gesellschaftliche</strong> funktionsspezifische<br />

Aufgliederung des städtischen Raumes gewendet ist <strong>und</strong> zum andern durch<br />

die Einbeziehung von Subjektivität sich gegen eine objektivistische Methodologie<br />

in der Stadtforschung richtet. Ein neues <strong>und</strong> wiedererstarktes Bewußtsein<br />

regionaler Verwurzelung — am deutlichsten ablesbar an den nicht<br />

unerheblichen Widerständen gegen die rigorose Gemeindegebietsreform Anfang<br />

der 70er Jahre — ist lokaler Ausdruck der Kritik an übertriebener Rationalisierung<br />

moderner Gesellschaft. Indem sich der Begriff also gegen Segmentierungstendenzen<br />

im Modernisierungsprozeß industriell-kapitalistischer<br />

Gesellschaft wendet, ist in ihm ein normatives Element enthalten, jedoch entwertet<br />

m.E. die implizite Wertung den Begriff nicht als analytischen Begriff.<br />

Versteht man unter Lebenszusammenhang die Art <strong>und</strong> Weise der Vermittlung<br />

verschiedener Lebensbereiche einzelner Personen oder Personengruppen<br />

in gegenwärtiger <strong>und</strong> lebensgeschichtlicher Perspektive, dann bedeutet<br />

der lokale Aspekt, daß die am jeweiligen Ort des alltäglichen Lebens<br />

herrschenden ökonomischen, politischen, sozial-kulturellen <strong>und</strong> räumlichen<br />

Verhältnisse in ihrer Bedeutung für die Konstitution <strong>und</strong> Struktur des Lebenszusammenhanges<br />

analysiert werden. Vor dem Hintergr<strong>und</strong> fortlaufender<br />

Prozesse der funktionalen Ausdifferenzierung <strong>und</strong> Spezialisierung<br />

kommt jenen Faktoren erhöhte Bedeutung zu, die eine Verklammerung der<br />

parzellierten Teilbereiche bewirken können. In der räumlichen Anordnung<br />

<strong>und</strong> Organisation verschiedener Lebensbereiche in der modernen Stadt bzw.<br />

Stadtregion wie Wohnen, Arbeiten, Konsum, Bildung, Erholung etc. liegt<br />

eine Chance zur Aufrechterhaltung bzw. Wiedergewinnung einheitlicher lokaler<br />

Lebenszusammenhänge im Prozeß <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklung insofern,<br />

als durch Partizipation <strong>und</strong> Identifikation die Aneignung räumlicher<br />

<strong>und</strong> sozialer Umwelt eher gelingen kann.<br />

Unter dieser Perspektive verfolge ich in groben Zügen retrospektiv den<br />

Beitrag der Stadt- <strong>und</strong> Gemeinde<strong>soziologie</strong> nach dem 2. Weltkrieg bis heute<br />

in 6 Punkten:<br />

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1. Entsprechend der Forderung einer „vorurteilsfreien empirischen Erforschung<br />

der Großstädte" konzentrierte sich die traditionale Gemeinde<strong>soziologie</strong><br />

der 50er Jahre darauf, „das Großstadtleben in der ganzen Breite <strong>und</strong><br />

Fülle seiner Lebenserscheinungen" (E. Pfeil, 1955, S. 240) darzustellen <strong>und</strong><br />

so den lokalen Lebenszusammenhang möglichst umfangreich abzubilden.<br />

Nach dem ersten Entwurf einer „soziologischen Totale" (Chr. v. Ferber,<br />

1957) der Stadt Darmstadt wurden, von R. Königs theoretischer Konzeptionalisierung<br />

der Gemeinde als 'globale Gesellschaft auf lokaler Basis'<br />

(1958) stark beeinflußt, nun verschiedene Gemeinden, insbesondere Städte<br />

als lokale Einheiten mehr oder weniger vollständig empirisch untersucht:<br />

so folgen empirische Untersuchungen über Euskirchen von R. Mayntz<br />

(1958), Steinfeld von H. Croon <strong>und</strong> K. Utermann (1958), Dortm<strong>und</strong> von<br />

R. Mackensen u.a. (1959), Stuttgart von M. Irle (1960), Karlsruhe von A.<br />

Bergstraesser u.a. (1965), Wolfsburg von M. Schwonke <strong>und</strong> U. Herlyn<br />

(1967), um nur die bekanntesten zu nennen. Die Absicht, die betreffenden<br />

Gemeinden in ihrer <strong>gesellschaftliche</strong>n Totalität zu untersuchen vermischt<br />

sich eng mit dem Interesse, durch die vor Ort gef<strong>und</strong>enen typischen sozialen<br />

Strukturen <strong>und</strong> Prozesse paradigmatisch die <strong>gesellschaftliche</strong>n Verhältnisse<br />

überhaupt abbilden zu wollen (vgl. dazu die Kritik von M. Horkheimer<br />

<strong>und</strong> Th.W. Adorno, 1956). Generell schlägt sich in den stadtsoziologischen<br />

Forschungen im „Gründungsjahrzehnt" (R.M. Lepsius, 1979) die Tendenz<br />

nieder, die Stabilität des sozialen Systems Stadt zu dokumentieren. Der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Rekonstruktion der B<strong>und</strong>esrepublik entsprach die Reorganisation<br />

bzw. der Wiederaufbau der Städte nach alten traditionsreichen<br />

Mustern, was von der damaligen Stadtforschung eher zustimmend verfolgt<br />

als durch Kritik in Frage gestellt wurde. Über die Probleme der Bildung<br />

lokaler Lebenszusammenhänge hätte es gerade in der damaligen Zeit mit<br />

der Integration von Flüchtlingen <strong>und</strong> Vertriebenen experimentgleiche Situationen<br />

gegeben, die jedoch weitgehend ungenutzt blieben. Insofern kann<br />

trotz des Versuchs der ganzheitlichen Erfassung lokaler Lebensweisen für<br />

die 50er Jahre gerade nicht von einem „goldenen Zeitalter" (A. Hahn u.a.,<br />

1979) der Gemeinde<strong>soziologie</strong> in der BRD gesprochen werden.<br />

Mit der rasanten Stadterweiterung <strong>und</strong> dem umfangreichen inneren<br />

Stadtu<strong>mb</strong>au, die beide als Konsequenzen eines tiefgreifenden ökonomisch<br />

bedingten Wandels der Tertiärisierung der Städte begriffen werden müssen,<br />

in deren Verlauf sich sowohl die City-Funktionen ausdehnten als auch<br />

Wohnbevölkerung verdrängt wurde, entstand in den 60er <strong>und</strong> 70er Jahren<br />

ein starker Verwertungsdruck planender Instanzen auf die stadtsoziologische<br />

Forschung, die sich nun — nicht zuletzt auch unter zunehmenden methodischen<br />

Schwierigkeiten einer gesamtstädtischen Analyse — von totalen<br />

Gemeindestudien ab- <strong>und</strong> vornehmlich jenen Teilräumen zuwendete, in<br />

denen für große Gruppen von Menschen neue lokale Lebenszusammenhänge<br />

gestiftet (Neubauviertel) bzw. bestehende lokale Lebenszusammenhänge<br />

durch Sanierung transformiert wurden (Altbauquartiere).<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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2. Nach den bekannten Arbeiten über die Lebensverhältnisse in den modernen<br />

Großsiedlungen am Stadtrand (vgl. K. Zapf u.a., 1969; R. Weeber,<br />

1971; J.P. Kob, 1972; H. Becker, K.D. Keim, 1977) findet dort die räumliche<br />

Fragmentierung des lokalen Lebenszusammenhangs ihren schärfsten<br />

Ausdruck insofern, als nun die Wohnfunktion von anderen Lebensbereichen<br />

— vor allem der Arbeitswelt — isoliert wurde. Die großflächigen monofunktional<br />

strukturierten Stadtgebiete zwingen den Bewohnern in der<br />

Regel ein spezialisiertes Verhalten auf, indem sie einen kurzfristigen Tätigkeits-<br />

<strong>und</strong> Rollenwechsel erschweren <strong>und</strong> damit einer Zersplitterung eines<br />

sich alltäglich herstellenden Lebenszusammenhangs Vorschub leisten. Über<br />

die reale <strong>und</strong> sy<strong>mb</strong>olisch vermittelte Fragmentierung ehemals zusammenhängender<br />

Lebensformen hinaus produziert die „Parzellierung des Alltags"<br />

(F. Romeiß-Stracke) in monofunktionalen Stadtbereichen wahrscheinlich<br />

auch eine bewußtseinsmäßige Trennung der Lebensbereiche. Ist zunächst<br />

eine Überbrückung der getrennten funktionalen Bereiche ein Problem der<br />

physischen Raumüberwindung einschließlich der damit verb<strong>und</strong>enen Kosten,<br />

insbesondere für ökonomisch benachteiligte Gruppen, so stellt sich das<br />

Problem einer Reintegration ungleich komplizierter, wenn aufgr<strong>und</strong> mangelnder<br />

Erfahrbarkeit der Zusammengehörigkeit verschiedener Lebensbereiche<br />

bei den Betroffenen die psycho-soziale Fähigkeit zur Verklammerung<br />

der Handlungsfelder schwindet.<br />

Die stereotype Reihung von Wohnbauten <strong>und</strong> die vornehmlich vertikale<br />

Stapelung der Wohnungen reduziert — so der durchgehende Tenor der damaligen<br />

Studien — die nachbarlichen Beziehungen auf ein Mindestmaß. Diese<br />

Reduzierung der Nachbarschaft, die als einzig lokal begründete Sozialfiguration<br />

immer wieder vorrangig thematisiert wurde (vgl. zusammenfassend<br />

B. Hamm, 1973), auf ein ritualisiertes Distanzgebaren entfunktionalisierte<br />

sie als soziale Pufferzone zwischen der Sphäre der Öffentlichkeit <strong>und</strong><br />

der Privatheit <strong>und</strong> entwertete sie als Medium der kollektiven Selbstorganisation<br />

im Prozeß möglicher Aneignung der quartierlichen Umwelt: anstelle<br />

der nachbarschaftszentrierten leben sie in einer familienzentrierten Gesellschaft<br />

(vgl. E. Pfeil, 1972). Weder auf der Ebene sozialer Verkehrsformen<br />

noch über die als Sy<strong>mb</strong>olvermittler ungeeignete Rasterarchitektur konnten<br />

jene identifikatorischen Prozesse in Gang gesetzt werden, die in Altbauquartieren<br />

zunehmend entdeckt wurden.<br />

3. Der innere Stadtu<strong>mb</strong>au wird durch eine sog. „Krisenforschung" (J. Mühlich-Klinger,<br />

1979) begleitet, die möglicherweise eine sozialromantisierende<br />

Verklärung des real existierenden sozialen Milieus mit sich gebracht hat. Diese<br />

häufig im Zusammenhang mit Stadtu<strong>mb</strong>auprozessen durchgeführte Forschung<br />

hat in Altbauquartieren eine soziale Dichte <strong>und</strong> Vielseitigkeit des<br />

quartierlichen Lebenszusammenhangs entdeckt: die verschiedenen Funktionen<br />

sind danach oft kleinräumig vermischt, Arbeit ist auch noch ein integraler<br />

Bestandteil des quartierlichen Lebens, die in der Regel sozial strukturell<br />

abgesunkene Wohnbevölkerung ist oft schon über Generationen ansässig,<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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ökonomisch-finanzielle Notlagen verknüpfen sich mit teils engen sozialen<br />

Verwicklungen im 'Milieu', kollektive Aktionen <strong>und</strong> Selbsthilfe werden<br />

möglich <strong>und</strong> oft genug wird die räumliche Umgebung „emotional fixiert"<br />

(R. König) <strong>und</strong> erlangt dann sy<strong>mb</strong>olische Bedeutung als ein wesentlicher<br />

Pfeiler lokaler Identität, deren kollektiver Charakter sich durch oft jahrelange<br />

individuelle Identifikationsprozesse aufschichtet. Die lokale Bindung<br />

der Bewohner in Altbauquartieren wurde insbesondere offenk<strong>und</strong>ig, als<br />

die Deprivationen des sozial-räumlichen Lebenszusammenhangs durch sanierungsbedingte<br />

erzwungene Umsiedlungen erforscht wurden (vgl. M.<br />

Fried, 1971; für BRD: W. Tessin u.a., 1983).<br />

Der Forschung über Neubauviertel <strong>und</strong> Altbauquartiere ist gemeinsam,<br />

die Bedeutung dieser Teilbereiche für das alltägliche Leben, insbesondere der<br />

sozial <strong>und</strong> ökonomisch schwächeren Sozialschichten herausgearbeitet zu haben.<br />

Sie können gewissermaßen auch heute noch als die Scharniere fungieren,<br />

mit denen sich die gemeinschaftliche Aneignung des Raumes einer kleinen<br />

Gruppe mit der kollektiven Aneignung des gesamtstädtischen Raumes<br />

vermittelt oder anders ausgedrückt: „Ist die Gemeinde die Einheit der Gesellschaft,<br />

so ist das Viertel die Einheit der Lebensform" (R. Mackensen,<br />

1959, S. 22). Dies ist umso erstaunlicher, als aufgr<strong>und</strong> erhöhter räumlicher<br />

Mobilität, technologischer Entwicklungen wie Verbreitung von Telefon <strong>und</strong><br />

dem Auto als „Sy<strong>mb</strong>ol <strong>und</strong> wichtigstes Requisit der überlokalen Verflechtung"<br />

(H. Oswald, 1966) sowie dem Medium Fernsehen <strong>und</strong> neuerdings<br />

Bildschirmtext Tendenzen zur Entlokalisierung lokaler Lebenszusammenhänge<br />

möglich geworden sind. Die offenk<strong>und</strong>ige <strong>und</strong> verbreitete Resistenz<br />

ist im Kontext der involvierten Sozialstruktur zu sehen: die Arbeiterschicht<br />

lebt traditional stärker lokal bezogen, während soziale Mittel- <strong>und</strong> Oberschichten<br />

traditional stärker überregional orientiert sind.<br />

4. Indem sich die empirische Stadtforschung darüber hinaus auf lokal zwar<br />

bedeutsame, aber partielle Problemanalysen wie z.B. nachbarliche Beziehungen,<br />

Mobilitäten, politisches Verhalten, Wohnungsfragen, Probleme öffentlicher<br />

Infrastrukturversorgung etc. eingelassen hat, hat die integrations<strong>und</strong><br />

handlungstheoretisch orientierte empirische Stadt<strong>soziologie</strong> den lokalen<br />

Lebenszusammenhang verschiedener sozialer Gruppen immer mehr aus<br />

den Augen verloren. In gewisser Parallelität zu diesen unter politisch-planerischem<br />

Verwertungsdruck stehenden empirischen Teilanalysen — überwiegend<br />

ex post Problematisierungen ohne weitergehenden prognostischen<br />

Gehalt — wurden die Tendenzen der Fragmentierung lokaler Lebenszusammenhänge<br />

theoretisch relativ früh in den 60er Jahren thematisiert <strong>und</strong> unterschiedlich<br />

interpretiert (vgl. die theoretischen Entwürfe über die Stadt als<br />

Typ lokaler Vergesellschaftung von H.P. Bahrdt (1961), A. Mitscherlich<br />

(1965), H. Oswald (1966), H. Berndt u.a. (1968)). Sie diskutierten damals<br />

schon kritisch Phänomene wie Verlust von Urbanität durch funktionale<br />

Spezialisierung <strong>und</strong> soziale Segregation, Entlokalisierungsprozesse durch<br />

geographische Mobilität, Normpluralismus <strong>und</strong> Abnahme lokaler Sozial-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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kontakte sowie den städtebaulichen Funktionalismus <strong>und</strong> die private Verfügung<br />

über Boden <strong>und</strong> Gebäude <strong>und</strong> haben damit mehr Resonanz in der<br />

Öffentlichkeit gef<strong>und</strong>en als die zumeist detaillistischen empirischen Einzelanalysen<br />

(vgl. die Einschätzung der soziologischen Kulturkritik für die Formation<br />

der Gesellschaft durch R.M. Lepsius, 1979).<br />

5. Seit Ende der 60er Jahre kann man von einer Politisierung der Stadt<strong>soziologie</strong><br />

sprechen, die stärker als zuvor eine Anknüpfung an die allgemeine<br />

Gesellschaftsanalyse <strong>und</strong> staatstheoretische Diskussionen suchte. Auf politökonomische<br />

Theorieansätze zurückgreifend wurden vor allem die sich in<br />

der herrschenden Stadtstruktur <strong>und</strong> -Organisation manifestierenden Restriktionen<br />

für eine Verbesserung von Lebenslagen <strong>und</strong> Entfaltung von Lebenszusammenhängen<br />

besonders für benachteiligte <strong>gesellschaftliche</strong> Gruppen<br />

<strong>und</strong> ihre mögliche Überwindung thematisiert (z.B. Kritik des kapitalistischen<br />

Bodenrechts, Reproduktionschancen <strong>und</strong> kollektive Versorgung, lokale<br />

Macht- <strong>und</strong> Entscheidungsstrukturen <strong>und</strong> Partizipation). Wurde in<br />

früheren Phasen der Forschung die Aneignungsseite städtischer Umwelt<br />

besonders betont, so überwogen nun Arbeiten über Entstehungskontexte,<br />

wobei die Bedingungsfaktoren überwiegend in zentral-staatlichen Regelungen<br />

<strong>und</strong> gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>n Verhältnissen gesucht werden; verschiedene<br />

lokale Konstellationen erscheinen nurmehr als Phänomene der Oberflächendifferenzierung<br />

(vgl. u.a. H.G. Helms U.J.Janssen, 1970; H. Faßbinder,<br />

1971).<br />

So lebenswichtig für Teil<strong>soziologie</strong>n auch immer gesamt<strong>gesellschaftliche</strong><br />

theoretische Bezüge sind, so problematisch ist das Aufgehen des spezifischen<br />

Gegenstandsbereichs (in diesem Fall der Stadt) in allgemeiner Gesellschaftsanalyse.<br />

Auch wenn H. Häußermann <strong>und</strong> W. Siebel zukünftige Bemühungen<br />

noch als 'Soziologie der Stadt' titulieren, hat für sie der Gegenstand<br />

eigentlich aufgehört zu existieren, wenn sie der heutigen Stadt die<br />

lokale Identität schlechthin absprechen. Nach ihnen kann die Gemeinde,<br />

bzw. Teile von ihr, heute nicht mehr ein eigener Gegenstand soziologischer<br />

Forschung sein, sondern für sie ist „Stadt also nur der Ort, an dem die Gesellschaft<br />

in ihrer Struktur <strong>und</strong> ihren Konflikten erscheint" (1978, S. 483).<br />

Die städtische Ebene jedoch nur als Ausdruck bzw. Niederschlag gesamtgesellschaftlich<br />

produzierter <strong>und</strong> von dort analysierbarer Einflüsse einzuordnen,<br />

verstellt sich den Blick für die politisch <strong>und</strong> sozial wirksamen Impulse,<br />

die von den örtlichen Verhältnissen für die in ihnen lebenden Menschen<br />

ausgehen <strong>und</strong> für deren Studium geeignete Forschungsansätze entwickelt<br />

werden müssen. — Auch der sozialökologisch orientierten Siedlungs<strong>soziologie</strong><br />

(vgl. stellvertretend J. Friedrichs, 1977) droht — freilich<br />

mit anderen Methoden <strong>und</strong> Erkenntnisinteressen — der Gegenstandsbereich<br />

Stadt weitgehend zu entgleiten (vgl. Kl. Schmals, 1983, S. 94).<br />

6. Wie zu Anfang angedeutet, läßt sich heute überall eine Neuentdeckung<br />

bzw. Aufwertung lokalen Lebens, eine 'Renaissance des Regionalismus'<br />

(vgl. Einleitungsreferat von R. Mayntz) beobachten: Bürgerinitiativen, neue<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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zw. alternative lokale Gruppenkulturen, Widerstände gegen die Gemeindereform,<br />

Selbsthilfeaktionen etc. Dieses neue <strong>und</strong> wiedererstarkte Bewußtsein<br />

regionaler Verwurzelung hängt fraglos zusammen mit Stagnationstendenzen<br />

des sozialen Fortschritts in Großsystemen <strong>und</strong> Großorganisationen<br />

<strong>und</strong> offenbart einen „Rückfall" in den erfahrbaren <strong>und</strong> veränderbaren<br />

Nahbereich sozial-räumlicher Zusammenhänge. Wenn nun „lokale<br />

Identität von Stadtteilen als räumliches, soziales <strong>und</strong> sy<strong>mb</strong>olisch-kulturelles<br />

Phänomen existiert" (F. Romeiß-Stracke, 1984, S. 53), dann werden<br />

von der Stad<strong>soziologie</strong> Aufschluß über ihren Formwandel <strong>und</strong> Antworten<br />

auf die Frage erwartet, wie das alltägliche Leben davon geprägt wird. Auf<br />

der methodischen Ebene sind die Antworten der Stadt<strong>soziologie</strong> im Zusammenhang<br />

mit dem Wandel von quantitativen zu qualitativen Verfahren in<br />

der empirischen Sozialforschung zu sehen: Abkehr von großangelegter Umfrageforschung<br />

<strong>und</strong> Hinwendung zur biographischen Methode. Indem sie<br />

an den lebensgeschichtlich begründeten subjektiven Erfahrungen <strong>und</strong><br />

durch sie begründeten Erwartungen ansetzt, gewinnt sie m.E. neue Möglichkeiten,<br />

lokale Zusammenhänge <strong>und</strong> Muster ihrer Aneignung zu erfassen.<br />

Im Rahmen der Trendwende zur historisch-soziologischen Stadtforschung<br />

als Verlaufsforschung muß die A<strong>mb</strong>ivalenz erkannt werden, die<br />

darin liegt, daß über die Erfassung individueller Lebenschancen <strong>und</strong> Lebensrisiken<br />

im räumlichen Zusammenhang die Herausbildung bzw. der Wandel<br />

kollektiver Identitäten verschiedener sozialer Gruppen in diversen Territorien<br />

möglicherweise vernachlässigt wird.<br />

Auf der inhaltlichen Ebene läßt sich z.Z. kaum eine thematische Focussierung<br />

ausmachen; gewissermaßen sind die Freiheitsgrade für stadtsoziologische<br />

Forschung in dem Maße gestiegen, in dem der Verwertungsdruck<br />

abgenommen hat <strong>und</strong> damit mehr Raum für die Diskussion theoretischer<br />

Gr<strong>und</strong>lagen gegeben ist. Wenn man die Bezeichnung „verstädterte Gesellschaft"<br />

ernstnimmt, dann wird der spezifische Formwandel des sozialen<br />

Zusammenhanges in Städten ein Thema der Soziologie bleiben müssen, weil<br />

die Stadt Ausdruck <strong>und</strong> zugleich bestimmendes Element <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Entwicklung ist.<br />

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URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


ZUR DYNAMIK UND POTENTIALITÄT STÄDTISCHER<br />

LEBENSFORMEN<br />

Karl-Dieter<br />

Keim<br />

Die Herlynsche Zwischenbilanz hinterläßt eine ganze Reihe von A<strong>mb</strong>ivalenzen.<br />

Wir sind weit entfernt von einer klaren Vorstellung darüber,<br />

wie die beobachtbaren städtischen Symptome zu interpretieren wären.<br />

Das gilt für jene Prozesse, die häufig als Segregation oder als Parzellierung<br />

bezeichnet werden. Das gilt für die Frage, welche Bedeutung bei der künftigen<br />

städtischen Entwicklung den örtlichen Lebenszusammenhängen beizumessen<br />

ist. Das gilt vollends für die Frage, inwieweit wir soziologisch<br />

von städtischen Besonderheiten sprechen können, die innerhalb der gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Prozesse einen spezifischen Beitrag leisten.<br />

Ich möchte angesichts dieser Einschätzung der Versuchung widerstehen,<br />

die prospektiven Möglichkeiten der Stadt<strong>soziologie</strong> in eine Form<br />

zu kleiden, die inzwischen modisch zu werden scheint: in Szenarios, in<br />

alternative Entwürfe der zukünftigen Stadt. Wir sind mit solchen Aktivitäten,<br />

ob wir dies wollen oder nicht, Mitwirkende bei der Definition <strong>und</strong><br />

Durchsetzung von Bedeutungen, von einem Bild der Stadt. Unverkennbar<br />

gehen in solche Szenarios Ad-hoc-Aussagen, administrativ produzierte<br />

Daten <strong>und</strong> selektive Sichtweisen ein. Das muß dann als problematisch<br />

empf<strong>und</strong>en werden, wenn ohne historische Langsicht <strong>und</strong> ohne den Prozeß<br />

einer distanznehmenden Theoriebildung Vorhersagen versucht werden.<br />

Mein Vorschlag ist daher, an die Frage nach der Zukunft städtischer<br />

Lebenszusammenhänge nicht prognostisch, sondern als Konzeptualisierung<br />

einer Forschungsperspektive heranzugehen. Ich möchte einige Überlegungen<br />

vortragen, wie die Soziologie sich vom künftigen städtischen Leben<br />

einen Begriff machen kann. Diese Absicht bedarf sowohl empirisch gehaltvoller<br />

Konzepte als auch einer normativen Orientierung. Zu beidem gibt<br />

es Entwürfe, insbesondere von französischen <strong>und</strong> englischen Autoren.<br />

Wenn ich ihnen weitgehend folge, so vor allem deshalb, weil sie uns trotz<br />

zum Teil unterschiedlicher städtischer Problemstrukturen in Frankreich<br />

oder England wichtige Impulse zu geben vermögen — Impulse, die von<br />

breiteren Theoriezusammenhängen <strong>und</strong> von der Suche nach synthetischen<br />

Begriffen gekennzeichnet sind. Die Bearbeitung zerstückelter, oft vordefinierter<br />

Fragestellungen anhand einer ausufernden Begrifflichkeit weicht<br />

insoweit einer eher ganzheitlichen Zugangsweise. Die Kategorie des „Lebenszusammenhangs"<br />

könnte dazu ein geeignetes Hilfsmittel sein.<br />

Der Wunsch, städtische Prozesse nicht nur analysierend nachzuvollziehen,<br />

sondern ihre verborgenen Widersprüche, Spannungsmomente <strong>und</strong><br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Strömungen aufzudecken <strong>und</strong> zu strukturieren, bedarf normativer gesellschaftstheoretischer<br />

Bezugspunkte. Wir besitzen solche Bezugspunkte z.B.<br />

in dem skizzenhaften Entwurf einer „Urbanen Gesellschaft" des französischen<br />

Sozialphilosophen Henri Lefebvre (insbesondere Lefèbvre 1972).<br />

Er gewinnt diesen Entwurf aus einer ideologiekritischen Analyse der sog.<br />

urbanistischen Denkweise. Sie, so Lefèbvre, beharrt trotz städtischer<br />

Krisen darauf, mit Hilfe einer industriell-modernen Rationalität ein höheres<br />

Organisationsprinzip für das städtische Leben zu finden <strong>und</strong> durchzusetzen.<br />

Sie organisiert den Zerfall, segmentierte Nutzungs- <strong>und</strong> Verwertungsprozesse,<br />

individualisierte Konsumtions- <strong>und</strong> Kontrollprozesse. Es ist<br />

dieses industriell-moderne Organisationsprinzip, das wir in H<strong>und</strong>erten von<br />

stadtsoziologischen Studien mit reproduziert haben — dabei ist die selektive<br />

Bearbeitung städtischer sozialer Probleme nur die Kehrseite derselben<br />

Medaille. Dem herrschenden Prinzip ist statt dessen die Enthüllung<br />

seiner Ideologie entgegenzusetzen. In destruktiver Weise — so Lefèbvre<br />

weiter — müssen Abtrennungen, Hindernisse, Blockierungen, die in dem<br />

Organisationsprinzip enthalten sind, überw<strong>und</strong>en werden. Und indem<br />

dies (praktisch) geschieht, kommt die neue Qualität des Urbanen zum<br />

Vorschein: „die Einheit aus Widersprüchen, (der) Ort..., an dem Konflikte<br />

Ausdruck finden" (Lefèbvre 1972, 186). Auf diese Weise könne<br />

städtisches Leben neu begriffen werden. Die daraus erwachsende „Urbane<br />

Praxis" müsse sich lösen von den Verheißungen <strong>und</strong> Maßstäben<br />

der Industriegesellschaft, gewissermaßen zu sich selbst kommen, ausgerichtet<br />

an der Kategorie der Möglichkeit. So entstehe ein neuer, offener<br />

Weg — kein fertiges Modell —, verdeutlicht mit Hilfe der politischen<br />

Analyse.<br />

1. Die Urbane Praxis<br />

Im Hinblick auf diese „Urbane Praxis", die von konflikthaften Auseinandersetzungen<br />

gekennzeichnet ist, erscheinen die bisher weit verbreiteten<br />

Deutungsweisen der städtischen Lebenszusammenhänge als unzureichend.<br />

In ihnen wird von einem integrations-theoretischen Gr<strong>und</strong>verständnis<br />

ausgegangen. Auch wenn häufig kritische <strong>und</strong> negative Charakterisierungen<br />

damit verb<strong>und</strong>en sind, bleibt doch die diffuse Vorstellung von einer sozialen<br />

Integration der Maßstab. Das Leben in Städten gewissermaßen als<br />

Garant für den sozialen Zusammenhalt in einer technisierten Gesellschaft —<br />

Urbanität als notwendiges Korrelat zur Urbanisierung.<br />

Es ist auch nicht mehr ausreichend, pauschal von politisch-ökonomischen<br />

Prozessen zu sprechen, die in den Städten <strong>und</strong> in der städtischen<br />

Lebensweise ihren Niederschlag finden. Castells, der französische Stadtsoziologe,<br />

dem wir wichtige Arbeiten nicht nur zur Stadt<strong>entwicklung</strong><br />

in Europa sondern auch in den USA <strong>und</strong> in Lateinamerika verdanken,<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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ückt in seiner jüngsten Veröffentlichung davon ab, die wesentlichen städtischen<br />

Prozesse pauschal der „Logik des Kapitals" zuzuschreiben.<br />

Was aber dann? Wenn weder die Integrationsfunktion noch die einseitige<br />

Dominanz durch das Kapital zugr<strong>und</strong>e gelegt werden können, worin zeigen<br />

sich heute die wesentlichen Merkmale städtischer Lebensweise?<br />

Es sind vor allem zwei theoretische Konzepte, die uns in dieser Hinsicht<br />

weiterhelfen können:<br />

— Die „kollektive Konsumtion"<br />

Mit zunehmender staatlicher Durchdringung der ökonomischen Prozesse<br />

haben sich im Zusammenwirken von Produktion <strong>und</strong> Konsumtion besondere<br />

städtische Formen herausgebildet. Die allgemeinen marktförmigen Prozesse<br />

prägen das städtische Leben durch Standortentscheidungen, Arbeitsplatzstrukturen,<br />

dichte Zirkulation <strong>und</strong> individuelle Angebotsstrategien.<br />

Charakteristisch für den städtischen Raum sind jedoch in wachsendem Umfang<br />

Dienste oder Einrichtungen, die öffentlich mit nieht-marktförmigen<br />

Zugangsregelungen <strong>und</strong>/oder staatlicher Unterstützung angeboten werden<br />

(Castells 1976, 1977, 1978; Sa<strong>und</strong>ers 1981). Dazu gehören etwa die staatlich<br />

geförderten oder öffentlich verwalteten Wohnungen, die sozialen Dienste<br />

für einzelne Klientengruppen, die öffentlichen Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungseinrichtungen,<br />

die Einrichtungen der technischen Infrastruktur (Ver- <strong>und</strong><br />

Entsorgung) für die privaten Haushalte, der öffentliche Verkehr oder auch<br />

die Angebote der kommunalen Kulturpolitik. Derartige Ressourcen, die<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich der Reproduktion der Arbeitskraft dienen, werden zusammenfassend<br />

als Mittel <strong>und</strong> Formen der „kollektiven <strong>und</strong> sozialen Konsumtion"<br />

bezeichnet. Als typisch gelten für sie — <strong>und</strong> das ist eine empirische<br />

Aussage — Widersprüche zwischen den Imperativen ihrer Produktion <strong>und</strong><br />

der Regulierung ihrer Konsumtion (da Marktmechanismen nicht funktionieren,<br />

muß oft der Zwangskonsum herhalten; die Sozialinvestitionen stehen<br />

vielfach in einem Mißverhältnis zu den konkret erbrachten Dienstleistungen).<br />

Ein Teil der Widersprüche beruht zweifellos darauf, daß über die<br />

kollektive Konsumtion Marktprozesse öffentlich vermittelt werden (aktuelles<br />

Beispiel: Kabelfernsehen). Andererseits zeigt sich aber auch, daß in<br />

der Aneignung dieser Ressourcen eigenständige Definitions- <strong>und</strong> Gestaltungsprozesse<br />

höchst unterschiedlicher sozialer Gruppierungen Ausdruck<br />

finden. Mit anderen Worten: In den Mitteln der kollektiven Konsumtion<br />

wird seitens der Anbieter (Staat <strong>und</strong> Versorgungsträger) eine Gewähr dafür<br />

gesehen, daß die für notwendig erachteten städtischen Prozesse nach ihren<br />

Relevanzstrukturen durchgesetzt werden können, während die so politisierte<br />

<strong>und</strong> vereinheitlichte Konsumtion tendenziell auch als Anlaß für soziale<br />

Mobilisierungen dienen kann. Allgemein werden auf seiten der Benutzer<br />

die Gebrauchswerteigenschaften betont, wobei die Interpretations- <strong>und</strong><br />

Aneignungsweisen der Frauen eine besondere Rolle spielen. Der englische<br />

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Stadtsoziologe Pahl wies darauf hin, daß vor allem die produktiven Aspekte<br />

innerhalb der Prozesse der kollektiven Konsumtion über Jahrzehnte hinweg<br />

ignoriert worden seien (Pahl 1983, 377 ff.). Der sog. informelle Sektor<br />

müsse thematisiert, <strong>und</strong> die falsche Trennung der Domänen zwischen Mann<br />

<strong>und</strong> Frau müsse bereits in den Untersuchungsansätzen überw<strong>und</strong>en werden.<br />

— Die „basispolitische Interessendurchsetzung"<br />

Die Eigenart <strong>und</strong> die Widersprüchlichkeit der kollektiven Konsumtion haben<br />

wesentlich dazu beigetragen, daß besondere städtische Konflikte <strong>und</strong><br />

besondere städtische Formen der Konfliktaustragung entstanden sind. Das<br />

bedeutet nicht einfach eine Wiederbelebung lokaler, eng begrenzter Interessenwahrnehmung.<br />

Die allgemein dominierenden Zentralisierungsprozesse,<br />

die zu korporatistisch verfaßten, relativ starren Formen der Interessenorganisation<br />

geführt haben, geben zwangsläufig auch der basispolitischen Auseinandersetzung<br />

ihr Gepräge. In den zahllosen Studien über Probleme der<br />

Stadterneuerung, der Wohnungspolitik, der Verkehrspolitik oder einzelner<br />

sozialer Dienste konnte jedoch nachgewiesen werden, daß Partizipationsforderungen<br />

<strong>und</strong> Konfliktaustragungen einen relativ starken städtischen Bezug<br />

aufweisen. Nicht nur bieten Praktiken der Stadtpolitik häufig den Anlaß;<br />

in den sozialen Aktionen <strong>und</strong> in den Definitionsprozessen von „unten"<br />

kommen auch Vorstellungen von überschaubaren städtischen Einheiten<br />

zum Tragen. Es werden vielfältige, spontane <strong>und</strong> punktuelle Formen der<br />

direkten Interessendurchsetzung gesucht, die freilich häufig einen rein defensiven<br />

Charakter aufweisen. Die von dem Engländer Sa<strong>und</strong>ers wie von<br />

Castells betonten städtischen Konflikte <strong>und</strong> Kämpfe können bereits in ihrer<br />

defensiven Variante ein Potential für Prozesse sozialer Mobilisierung darstellen,<br />

indem kollektive Erfahrungen organisiert <strong>und</strong> alternative Relevanzstrukturen<br />

entwickelt werden. Dies gilt um so mehr dann, wenn die Interessenwahrnehmungen<br />

vereinzelt den Charakter städtischer sozialer Bewegungen<br />

annehmen. Sie sind durchaus — wollen wir Castells weiter folgen — als<br />

reaktiv anzusehen, als Signal, als Symptom dafür, daß mit den Modernisierungsprozessen<br />

auch deren soziale Grenzen aktualisiert werden <strong>und</strong> daß in<br />

den zentralen <strong>gesellschaftliche</strong>n Bereichen der Produktion, der Kultur <strong>und</strong><br />

der politischen Macht notwendige soziale Veränderungen unterbleiben<br />

(Castells 1983, 326 ff.). Städtische soziale Bewegungen transformieren die<br />

Rolle <strong>und</strong> die Bedeutung der Stadt, sie können aber nicht aus ihrer Kraft<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Veränderungen bewirken.<br />

Diejenigen Aspekte städtischen Lebens, die mit den beiden Konzepten<br />

der „kollektiven Konsumtion" <strong>und</strong> der „basispolitischen Interessendurchsetzung"<br />

ins Blickfeld rücken, bilden wichtige Felder der „Urbanen Praxis".<br />

Die Dynamik dieser Prozesse verkörpert zwar weiterhin die industriell-moderne<br />

Rationalität einer urbanistischen Denkweise, aber sie hat offenk<strong>und</strong>ig<br />

auch andersartige, lebenspraktische Handlungsweisen hervorgebracht. Sie<br />

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vermögen der Ideologie des Urbanismus selbstdefinierte Vorstellungen vom<br />

städtischen Leben entgegenzustellen.<br />

2. Die urbane Form<br />

Die Frage bleibt allerdings bisher unbeantwortet, inwieweit solche lebenspraktischen<br />

Prozesse trotz der trennenden <strong>und</strong> blockierenden Organisation<br />

der städtischen Funktionen wirklich zu Lebenszusammenhängen oder kollektiven<br />

Mobilisierungen führen können. Dies ist die Frage nach der Bedeutung<br />

des städtischen Raums für die soziale Organisation.<br />

Zunächst ist es wichtig zu erkennen, daß die räumlichen Strukturen, getrennt<br />

von den sozialen Strukturen, unter eigenen <strong>gesellschaftliche</strong>n Bedingungen<br />

hergestellt <strong>und</strong> organisiert werden. Es wäre falsch, den Gegenstand<br />

einer Soziologie des Raumes einfach mit dem Gegenstand von Sozialtheorien<br />

zu vermischen. Räumliche Bedingungen sind nicht die Ursache — eher<br />

Ausdruck — städtischer Probleme. Selbstkritisch ist aus der Sicht der Stadt<strong>soziologie</strong><br />

dazu zu sagen, daß in unzähligen Studien vorschnell <strong>und</strong> theorielos<br />

unmittelbare Kausalbeziehungen zwischen räumlichen Merkmalen <strong>und</strong><br />

Sozialverhalten behauptet worden sind. Von erheblichem Interesse ist jedoch,<br />

ob wir von Besonderheiten sprechen können, die sich aus dem Zusammentreffen<br />

raumstruktureller <strong>und</strong> sozialstruktureller Eigenschaften ergeben.<br />

Wir können dies tun — <strong>und</strong> jetzt greife ich einen weiteren konzeptionellen<br />

Vorschlag von Lefèbvre auf —, indem wir das spezifisch Städtische<br />

als eine Form verstehen <strong>und</strong> deren charakteristisches Merkmal als Zentralität<br />

bezeichnen. „Zentralität" ist eine materiell nicht ablesbare städtische<br />

Qualität, die soziale Beziehungen zusammenführen <strong>und</strong> zusammenbinden<br />

kann, die Verstreutes anhäuft, Unterschiedliches versammelt <strong>und</strong> vereinigt.<br />

Sie wirkt dynamisch, fast jeder Ort kann diese Zentralität erlangen, Einzelteile<br />

rücken funktional näher zusammen, andere Orte bzw. Einzelteile werden<br />

abgesondert, peripherisiert. Und sie wirkt produktiv. Sie dramatisiert<br />

Widersprüchliches, soziale Polarisierungen, sie schafft Netze für Austausch<strong>und</strong><br />

für Produktionsbeziehungen, sie spitzt Problemlagen <strong>und</strong> Konflikte zu.<br />

Wenn wir von der industriell-modernen Urbanisierung sprechen, so sind<br />

damit <strong>gesellschaftliche</strong> Veränderungen in der Urbanen Form gemeint, d.h.<br />

im Sog einer dynamischen Zentralität. Dabei wird der wirtschaftlich <strong>und</strong><br />

technologisch induzierte Prozeß befördert, den Zusammenhang zwischen<br />

dem städtischen Leben <strong>und</strong> der räumlichen Bedeutung zu trennen, den<br />

Menschen die auf Erfahrung beruhenden Orte <strong>und</strong> Räume zu nehmen.<br />

„Zentralität" versammelt <strong>und</strong> kanalisiert aber auch die Widerstandsformen,<br />

die sozialen Milieus, die direkte Interessenorganisation. Die urbane<br />

Form verkörpert immer die Ergebnisse aus beiden Prozessen, aus dem Bedeutungsverlust<br />

durch Modernisierung, aus dem Bedeutungszuwachs durch<br />

soziale Mobilisierung.<br />

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Das Leben in Städten — so lassen sich die Überlegungen zusammenfassen<br />

— weist Züge auf, die von kollektiver Konsumtion <strong>und</strong> von basispolitischer<br />

Interessendurchsetzung in der Form <strong>und</strong> Dynamik der Zentralität<br />

geprägt sind. Die Formkraft des Städtischen hat mich dazu veranlaßt,<br />

lieber von städtischen Lebensformen als von Lehenszusammenhängen<br />

zu sprechen. Die Lebensformen mögen latent auf Klassenlage oder<br />

Schichtzugehörigkeit beruhen. In ihrer Praxis, in ihrer Ausdrucks- <strong>und</strong> Organisationsfähigkeit<br />

werden sie stets von der je wirksamen Kraft der Urbanen<br />

Form bestimmt — eine Betrachtungsweise, die die Suche nach neuen<br />

sozialstrukturellen Konstitutionsbedingungen nahelegt. Zudem „drängt"<br />

der Begriff „Lebensformen" danach, vor allem auf Minoritäten angewendet<br />

zu werden, die sich gesellschaftlich dadurch Raum verschaffen wollen, daß<br />

sie ihre Lebensauffassungen besonders deutlich (<strong>und</strong> geformt) darstellen —<br />

als Lebensentwürfe, die exemplarisch praktiziert werden.<br />

3. Die Potentialität des Städtischen<br />

Dem englischen Kulturtheoretiker Raymond Williams verdanken wir einige<br />

hervorragende literaturtheoretische Analysen der englischen Großstadtliteratur<br />

des 19..Jahrh<strong>und</strong>erts. Auch dort ist zunächst von Trennung <strong>und</strong> Zerfall<br />

die Rede, von der „Auflösung der Gesellschaft gerade im Moment ihrer<br />

Aggregation". Aber Williams entdeckt in dieser Literatur (insbesondere von<br />

Dickens) nicht nur kompensierende Integrationsstrategien, sondern auch<br />

„neue soziale Denk- <strong>und</strong> Organisationsformen", Elemente der Demokratisierung.<br />

Die neue Lokalverwaltung, die Parlamentsreform, die Ausbildungsregelungen,<br />

der Kulturausbau, nicht zuletzt die Arbeiterbewegung — alle<br />

sen — weist Züge auf, die von kollektiver Konsumtion <strong>und</strong> von basispolitischer<br />

Interessendurchsetzung in der Form <strong>und</strong> Dynamik der Zentralität<br />

geprägt sind. Die Formkraft des Städtischen hat mich dazu veranlaßt,<br />

lieber von städtischen Lehensformen als von Lebenszusammenhänte<br />

haben wir nach anderen Erwiderungen der Stadt zu suchen. Aus methodologischen<br />

Gründen ließe sich sagen, die „urbane Praxis" allein — ihre<br />

Brüche, ihre Erfahrungen, ihre Formen — zeige den künftigen <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Gehalt der Städte an. Dies wäre auch deswegen naheliegend, weil die<br />

weiter wachsende Zentralisierung <strong>gesellschaftliche</strong>r <strong>und</strong> politischer Macht<br />

es schwerlich erlaubt, eine gesellschaftlich bedeutsame Potentialität ausgerechnet<br />

aus den Städten zu erhoffen, ausgerechnet aus den Sphären der<br />

kollektiven Konsumtion <strong>und</strong> der Interessenwahrnehmung von „unten".<br />

Aber wäre das nicht vorschnell? Würde eine solche Haltung der Negativität<br />

nicht leugnen, daß die Städte bis heute immer wieder wichtige Impulse<br />

hervorbringen, <strong>und</strong> daß viele neue Erfahrungen gerade in den genannten<br />

Sphären der „Urbanen Praxis" gemacht werden? Die Antwort besteht in<br />

der methodologischen <strong>und</strong> theoretischen Perspektive, die wir auswählen.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Ich halte es für widersprüchlich, „Praxis" zum entscheidenden Kriterium zu<br />

erheben <strong>und</strong> dann selbst in einer „unpraktischen" Haltung der Negativität<br />

zu verharren. Dies muß um so mehr gelten, wenn angesichts elementarer<br />

menschlicher Gefährdungen gerade soziale <strong>und</strong> kulturelle Steuerungspotentiale<br />

als überlebensnotwendig erscheinen. Die zuvor genannten Autoren haben<br />

teilweise selbst einen solchen Perspektivenwechsel vollzogen (insbesondere<br />

Castells). Die überwiegend staatstheoretischen Ansätze haben durch<br />

eher kulturtheoretische Ansätze ein Gegengewicht erhalten.<br />

Zwar wird unsere Lebensweise weiter der industriell-modernen Rationalität<br />

ausgeliefert bleiben. Aber das Städtische daran, die städtischen Lebensformen<br />

werden dem soziale Grenzen <strong>und</strong> eine eigenständige Potentialität<br />

entgegensetzen. Die Organisation der kollektiven Konsumtion <strong>und</strong> die basispolitischen<br />

Interessenwahrnehmungen können vor allem dank der Eigenschaft<br />

der Zentralität auf <strong>gesellschaftliche</strong> Prozesse ausstrahlen. Auf der institutionellen<br />

Ebene können sie sich innovatorisch auswirken, auf der kollektiven<br />

Ebene können sie die Organisation von Erfahrung ermöglichen,<br />

auf der personalen Ebene können sie die Wiederaneignung von Raum <strong>und</strong><br />

Zeit <strong>und</strong> damit eine Stärkung persönlicher Autonomie begünstigen. Vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> einer nachlassenden Bedeutung der Lohnarbeit, zunehmender<br />

Autonomie- <strong>und</strong> Demokratisierungsansprüche sowie einer Aktualisierung<br />

weiblicher Prinzipien wird diese Potentialität städtischer Lebensformen<br />

die <strong>gesellschaftliche</strong>n Konflikte sichtbar machen <strong>und</strong> in eine ungewohnte<br />

„urbane Praxis" ausmünden.<br />

Eine Charakterisierung des städtischen Lebens kann dann tragfähig konzeptualisiert<br />

werden, wenn es nicht nur als Ausdruck oder Niederschlag der<br />

ökonomischen <strong>und</strong> politischen Prozesse, sondern in seiner Besonderheit<br />

<strong>und</strong> Potentialität unter kulturtheoretischer Perspektive begriffen wird. Auf<br />

diese Weise kann die Soziologie der Stadt zur Theoriebildung der allgemeinen<br />

Soziologie Wesentliches beitragen.<br />

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DIE GESELLSCHAFTLICHE ORGANISATION VON ARBEIT ALS<br />

PROBLEM DER SOZIALPOLITIK<br />

Fritz Böhle<br />

1. Ausgangspunkt<br />

Daß zwischen Sozialpolitik <strong>und</strong> Lohnarbeit ein Zusammenhang besteht,<br />

wird in der wissenschaftlichen <strong>und</strong> politischen Auseinandersetzung mit Sozialpolitik<br />

kaum bestritten — ja, es kann dies sogar als ein Allgemeinplatz<br />

angesehen werden, jedoch mit einer Einschränkung: Einigkeit besteht nur<br />

soweit, als dies die historische Entwicklung im 19. <strong>und</strong> zu Beginn dieses<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts betrifft. Nach dem Zweiten Weltkrieg entstand die Vorstellung,<br />

die Probleme der industriellen Lohnarbeit seien sozialpolitisch weitgehend<br />

bewältigt. Daher ging man davon aus, neue Probleme <strong>und</strong> Anforderungen<br />

an die Sozialpolitik würden sich aktuell <strong>und</strong> zukünftig überwiegend in<br />

Bereichen außerhalb der Lohnarbeit ergeben. Indizien hierfür sah man einerseits<br />

in der Veränderung sozialer Risiken <strong>und</strong> Problemlagen, andererseits<br />

in der Ausweitung <strong>und</strong> Differenzierung sozialpolitischer Institutionen.<br />

Eine solche Deutung der historischen Entwicklung prägte nicht nur die politische<br />

Auseinandersetzung; sie beeinflußte auch nachhaltig sozialwissenschaftliche<br />

Forschungsansätze. Erst die Erfahrungen der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit<br />

haben die Aufmerksamkeit wieder stärker auf den Zusammenhang<br />

zwischen Sozialpolitik <strong>und</strong> der <strong>gesellschaftliche</strong>n Organisation<br />

von Arbeit gelenkt. Deshalb scheint es mir angebracht, hier einige Ergebnisse<br />

aus einer Richtung von Sozialpolitikforschung vorzustellen, die<br />

eine etwas andere als die zuvor erwähnte Interpretation der historischen<br />

Entwicklungen nahelegen. Meine These ist: Die entscheidenden Impulse<br />

1<br />

für Veränderungen in der Sozialpolitik kamen nicht nur im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

sondern auch in der gesamten weiteren Entwicklung überwiegend aus<br />

Problemen der <strong>gesellschaftliche</strong>n Organisation von Arbeit als Lohnarbeit.<br />

Ich will dies zunächst in einer kurzen retrospektiven Betrachtung näher erläutern<br />

<strong>und</strong> auf diesem Hintergr<strong>und</strong> dann eine Einschätzung der aktuellen<br />

<strong>und</strong> zukünftigen Entwicklungen geben.<br />

2. Zur bisherigen Entwicklung sozialer Problemlagen <strong>und</strong> Sozialpolitik<br />

1. Lohnarbeit beruht darauf, daß keine feste <strong>und</strong> dauerhafte Eingliederung<br />

in einen Arbeitszusammenhang besteht. Die Ausgliederung aus einem Be-<br />

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schäftigungsverhältnis ebenso wie die Nichteingliederung sind strukturell<br />

untrennbar mit der Lohnarbeit verb<strong>und</strong>en. Lohnarbeit beruht andererseits<br />

aber auch darauf, daß die Sicherung der Existenz von einem Beschäftigungsverhältnis<br />

abhängig ist. Es besteht daher auch weitgehend Einigkeit darüber,<br />

daß Gefährdungen der Arbeitsfähigkeit <strong>und</strong> -möglichkeit die zentralen Risiken<br />

sind, die sich bei <strong>und</strong> aus Lohnarbeit ergeben. Um die historischen Entwicklungen<br />

<strong>und</strong> d.h. vor allem die Veränderungen in der Sozialpolitik zu<br />

verstehen, sind hier jedoch drei Differenzierungen notwendig:<br />

Erstens: Die Definition der klassischen sozialen Risiken — wie Krankheit,<br />

Erwerbs- <strong>und</strong> Berufsunfähigkeit, Alter — orientiert sich überwiegend am<br />

physischen Arbeitsvermögen, d.h. dessen Beeinträchtigung oder Erhaltung.<br />

Gerade in den Anforderungen an das physische Arbeitsvermögen haben<br />

sich aber seit Beginn der Industrialisierung durch Mechanisierung <strong>und</strong> Automatisierung<br />

von Produktionsprozessen massive Veränderungen vollzogen.<br />

Neben der unmittelbaren physischen Beanspruchung wurde zunehmend die<br />

psychisch-nervliche Belastbarkeit im Arbeitsprozeß wichtig. Damit veränderte<br />

sich auch die konkrete Ausprägung <strong>und</strong> die Ausbreitung sozialer Risiken<br />

(Berufs- <strong>und</strong> Erwerbsunfähigkeit, Ausgliederung älterer Arbeitskräfte<br />

u.a.). Des weiteren wurden neben der physischen Arbeitsfähigkeit auch<br />

neue <strong>und</strong> zusätzliche Dimensionen menschlichen Arbeitsvermögens für die<br />

Entstehung von Risiken <strong>und</strong> Veränderungen in der Sozialpolitik wichtig:<br />

Ein Beispiel hierfür ist die berufliche Qualifikation. Sie wird in den 60er<br />

Jahren sozialpolitisch als Problem der Anpassung von Arbeitskräften an den<br />

wirtschaftlichen Strukturwandel <strong>und</strong> Veränderungen von Produktionstechniken<br />

aufgegriffen. Und schließlich ist zu berücksichtigen: Die Expansion<br />

industrieller Produktion erfolgte — trotz aller Mechanisierung <strong>und</strong> Rationalisierung<br />

— überwiegend auf der Gr<strong>und</strong>lage von vergleichsweise arbeitsintensiven<br />

Formen der Nutzung von Arbeitskraft, <strong>und</strong> zwar gerade auch in den<br />

neu entstehenden Produktionsbereichen wie der Konsumgüterindustrie <strong>und</strong><br />

dem Dienstleistungsbereich. Dies, d.h. die Art, wie Arbeitskraft im Produktionsprozeß<br />

genutzt wurde — <strong>und</strong> nicht das wirtschaftliche Wachstum als<br />

solches —, führte zu einer massiven quantitativen Ausweitung der Nachfrage<br />

nach Arbeitskraft. Daraus ergab sich — neben qualitativen Veränderungen —<br />

auch eine massive quantitative Ausweitung der mit Lohnarbeit verb<strong>und</strong>enen<br />

Risiken, wodurch auch maßgeblich der Ausbau der Systeme sozialer Sicherung<br />

beeinflußt wurde.<br />

Zweitens: Mit Lohnarbeit verbindet sich eine sehr komplexe <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Strukturierung individueller Existenz- <strong>und</strong> Lebensbedingungen, die weit<br />

mehr umgreift als nur die Verrichtung von Arbeit: Wer seine Existenz durch<br />

Lohnarbeit sichern will, muß nicht nur arbeiten können, er muß darüber<br />

hinaus auch in der Lage sein, auf dem Arbeitsmarkt seine Interessen durchzusetzen;<br />

ferner ist mit Lohnarbeit auch das Angewiesensein auf Fremdleistungen<br />

— im Unterschied zur Selbstversorgung — gesetzt; die zum Leben<br />

notwendigen Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen müssen erworben, die Organisation<br />

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der sog. privaten Reproduktion hieran ausgerichtet werden. Ich brauche<br />

dies hier nicht weiter ausführen <strong>und</strong> möchte folgende Interpretation zu der<br />

bisherigen Entwicklung von Sozialpolitik anschließen. Ein gr<strong>und</strong>legendes<br />

Problem im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert ist: Gefährdungen der Arbeitsfähigkeit <strong>und</strong> eine<br />

Unterbrechung der Beschäftigung beinhalten die Gefahr, daß sie auf die<br />

gesamte Lebenssituation durchschlagen <strong>und</strong> zu einem Herauskippen aus der<br />

Lohnarbeit überhaupt führen. Worum es also von Anfang an in der Sozialpolitik<br />

geht, ist die Absicherung der für Lohnarbeit notwendigen Lebensbedingungen.<br />

Nur auf diese Weise ist Lohnarbeit als nicht nur marginale, sondern<br />

als eine vorherrschende <strong>und</strong> dauerhafte Form von Arbeit gesellschaftlich<br />

durchsetzbar. Damit ist aber auch eine Entwicklung eingeleitet, in der<br />

sich — gerade eine auf Lohnarbeit bezogene — Sozialpolitik im weiteren<br />

Verlauf nicht mehr nur auf das Beschäftigungsverhältnis <strong>und</strong> den Arbeitsmarkt<br />

beschränken kann; vielmehr muß Sozialpolitik auch andere mit<br />

Lohnarbeit verb<strong>und</strong>ene Lebenszusammenhänge einbeziehen, d.h. genauer:<br />

das gesamte Spektrum der sowohl marktwirtschaftlichen als auch staatlichrechtlichen<br />

Vergesellschaftung einer mit Lohnarbeit verb<strong>und</strong>enen Lebensform.<br />

Dabei gilt es zunehmend, sozialpolitische Institutionen hierauf bezogen<br />

auszudifferenzieren.<br />

Drittens: Bei Lohnarbeit ist die Sicherung der Existenz von der Verfügung<br />

über spezifische, materielle, zeitliche, soziale <strong>und</strong> personelle Ressourcen<br />

abhängig. Diese werden aber gerade durch Lohnarbeit selbst permanent<br />

gefährdet <strong>und</strong> beeinträchtigt, d.h. insbesondere durch die Art, wie Arbeitskraft<br />

von den Betrieben im Produktionsprozeß eingesetzt <strong>und</strong> genutzt<br />

wird. Ich kann <strong>und</strong> will hier nicht detaillierter über die Entwicklung von<br />

Belastungen <strong>und</strong> Restriktionen im Arbeitsbereich <strong>und</strong> deren Auswirkungen<br />

referieren; hierzu liegen inzwischen vielfältige Dokumentationen vor. Ich<br />

will statt dessen eine mir für die Sozialpolitik sehr wichtig erscheinende<br />

Veränderung in der historischen Entwicklung herausstellen: Zu Beginn der<br />

Industrialisierung sind Gefährdungen im Produktionsprozeß, ebenso wie deren<br />

Folgen, unmittelbar sieht- <strong>und</strong> erfahrbar, so vor allem hohe physische Belastungen,<br />

Unfallgefahren, überlange Arbeitszeiten, niedrige, kaum die Existenz<br />

sichernde Löhne. Veränderungen im Produktionsprozeß, gesetzliche<br />

<strong>und</strong> tarifvertragliche Mindestnormen ebenso wie die schärfere zeitliche <strong>und</strong><br />

soziale Trennung zwischen Arbeitsbereich <strong>und</strong> anderen Lebensbereichen,<br />

bringen es jedoch mit sich, daß im weiteren Verlauf die Gefährdungen im<br />

Arbeitsprozeß zwar nicht weniger gravierend, aber subtiler werden <strong>und</strong> im<br />

Arbeitsprozeß zumeist latent bleiben. Sie manifestieren <strong>und</strong> aktualisieren<br />

sich überwiegend außerhalb des Produktionsbereichs; prägen damit nachhaltig<br />

die Aktivitäts- <strong>und</strong> Handlungsspielräume in anderen Lebenszusammenhängen,<br />

was jedoch immer schwieriger als Folge von Arbeits- <strong>und</strong> Beschäftigungsbedingungen<br />

erkennbar <strong>und</strong> nachweisbar wird.<br />

Ein erstes Resümee: Sozialpolitik — so läßt sich zeigen — hat sich seit ihren<br />

Anfängen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert nicht von Problemen der Lohnarbeit emanzi-<br />

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piert. Umgekehrt: Die <strong>gesellschaftliche</strong> Organisation von Arbeit als Lohnarbeit<br />

hat sich von einer zunächst eher marginalen zu einer gesellschaftlich<br />

vorherrschenden Strukturierung von Lebenszusammenhängen entwickelt;<br />

ein Prozeß, der auch mit einer Ausdifferenzierung <strong>und</strong> partiellen Autonomisierung<br />

unterschiedlicher Lebensbereiche verb<strong>und</strong>en war. Daraus — <strong>und</strong><br />

dies ist hier entscheidend — ergaben sich auch neue <strong>und</strong> veränderte Anforderungen<br />

an die Sozialpolitik, die ihrerseits wiederum zur Ausweitung <strong>und</strong><br />

Ausdifferenzierung sozialpolitischer Institutionen führten <strong>und</strong> die letztlich<br />

den modernen Sozial- <strong>und</strong> Wohlfahrtsstaat, wie er sich heute darstellt, hervorbrachten.<br />

2. Kennzeichnend für Sozialpolitik ist aber nicht nur, daß sie sich auf<br />

Voraussetzungen <strong>und</strong> Folgen der <strong>gesellschaftliche</strong>n Organisation von Arbeit<br />

als Lohnarbeit bezieht. Charakteristisch ist auch das Wie, also in welchen<br />

Formen dies geschieht. Für das Verständnis der historischen Entwicklung<br />

scheint mir hier wichtig: Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert steht bei der Auseinandersetzung<br />

mit der Arbeiter- bzw. der sozialen Frage im Zentrum der Sozialpolitik<br />

das Arbeitsverhältnis; im weiteren Verlauf verlagert sich das Schwergewicht<br />

der Sozialpolitik jedoch auf die Bewältigung von Risiken außerhalb<br />

des Produktionsbereichs. Damit entwickelt sich Sozialpolitik in eine Richtung,<br />

in der nicht nur wichtige Ursachen für die Entstehung von Risiken<br />

aus dem Blickfeld geraten. Es wurde darüber hinaus auch der Produktionsbereich<br />

sozialpolitisch entproblematisiert; sozialpolitische Auseinandersetzungen<br />

wurden vom Produktionsprozeß abgezogen <strong>und</strong> auf andere <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Bereiche verlagert. Damit verbinden sich u.a. auch manifeste<br />

politische Interessen: In der politischen Auseinandersetzung wird im 19.<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert der Aufbau der Sozialversicherung explizit als eine Alternative<br />

zu einem Ausbau des Arbeitsschutzes, d.h. der Regelung von Arbeitsbedingungen<br />

<strong>und</strong> des Arbeitsverhältnisses favorisiert. Auch in den 20er Jahren<br />

war die Entscheidung für die Sozialversicherung zugleich eine Entscheidung<br />

gegen den Arbeitsschutz. Arbeits- <strong>und</strong> Beschäftigungsbedingungen<br />

blieben zwar weiterhin im Blickfeld der Sozialpolitik — insbesondere im<br />

Bereich des Ges<strong>und</strong>heitsschutzes. Jedoch wurden diese Entwicklungen<br />

nicht nur gebremst <strong>und</strong> verzögert. Noch viel folgenreicher war, daß Arbeits-<br />

<strong>und</strong> Beschäftigungsbedingungen zunehmend nur mehr zu einem spezialisierten<br />

Teilgebiet der Sozialpolitik wurden. Ja, es wurde schließlich die<br />

mit Lohnarbeit verb<strong>und</strong>ene Sozialpolitik nur mehr hiermit identifiziert.<br />

Zugleich — <strong>und</strong> dies möchte ich als weiteres herausstellen — wurden Prinzipien<br />

sozialer Sicherung institutionalisiert, die eine Rückbindung der Sozialpolitik<br />

an die <strong>gesellschaftliche</strong> Organisation von Arbeit als Lohnarbeit<br />

garantieren, <strong>und</strong> zwar unabhängig davon, ob dies in der jeweils aktuellen<br />

politischen Auseinandersetzung auch beabsichtigt wurde. Charakteristisch<br />

ist hier: Sozialpolitisch gewährte Leistungen orientieren sich in ihrem Inhalt<br />

<strong>und</strong> ihrer Form nach an der durch Lohnarbeit vorgezeichneten Organisation<br />

materieller <strong>und</strong> sozialer Sicherung. Wenn Einkommen nicht durch Erwerbsarbeit<br />

gesichert werden kann, stellt Sozialpolitik nicht Produktionsmittel<br />

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oder Vergleichbares zur Verfügung; was gewährt wird, sind monetäre Leistungen<br />

im Sinne eines Lohnersatzes. Sofern Dienst- <strong>und</strong> Sachleistungen<br />

bereitgestellt werden, handelt es sich um eine Ergänzung marktwirtschaftlicher<br />

Versorgung; die Abhängigkeit von „Fremdleistungen" wird hierdurch<br />

nicht verändert, lediglich die Formen des Erwerbs <strong>und</strong> ihrer Nutzung sind<br />

unterschiedlich. Ich will es bei diesen Hinweisen belassen. Entscheidend ist:<br />

Auch wenn sich Sozialpolitik mittlerweile in vielfältigen Formen darstellt,<br />

weisen diese ein gemeinsames Merkmal auf: durch sozialpolitisch gewährte<br />

<strong>und</strong> organisierte Leistungen werden <strong>und</strong> wurden bislang keine zur Lohn<strong>und</strong><br />

Erwerbsarbeit alternativen <strong>und</strong> von ihr unabhängigen Produktions- <strong>und</strong><br />

Lebensformen geschaffen oder zumindest Voraussetzungen hierfür abgesichert.<br />

Im Gegenteil: Wer nicht in ein Beschäftigungsverhältnis eingegliedert<br />

ist <strong>und</strong> auch über sonst keine andere materielle Sicherung verfügt, der<br />

soll, zumindest der Form nach, wie jemand leben, der einer abhängigen Beschäftigung<br />

nachgeht. Jedoch — <strong>und</strong> dies ist ein weiteres Merkmal —, es soll<br />

ihm dabei in jedem Fall <strong>und</strong> teilweise erheblich schlechter gehen, durch finanzielle<br />

Einbußen bis hin zum Erleiden besonderer bürokratischer Kontrollen.<br />

Dabei läßt sich ein vergleichbar simples Prinzip ausmachen: Je geringer<br />

die Nähe zu einem Beschäftigungsverhältnis, um so größer die Abstufung<br />

<strong>und</strong> Diskriminierung durch die soziale Sicherung. Mit dieser Verkoppelung<br />

von formaler Angleichung <strong>und</strong> faktischer Differenzierung trägt Sozialpolitik<br />

wesentlich dazu bei, die durch Lohnarbeit geprägten <strong>und</strong> für sie<br />

notwendigen Lebens- <strong>und</strong> Reproduktionsformen als Normalitätsstandards<br />

gesellschaftlich zu institutionalisieren.<br />

In dieser Perspektive läßt sich die Geschichte der Sozialpolitik auch als<br />

eine Geschichte der Transformation, Kanalisierung <strong>und</strong> Kontrolle anderer<br />

Formen der Bewältigung von Risiken <strong>und</strong> Problemlagen nachzeichnen (siehe<br />

hierzu auch den Beitrag von B. Riedmüller). Sozialpolitik wird auf diese<br />

Weise zu einer wichtigen <strong>gesellschaftliche</strong>n Instanz, durch die der Arbeitsmarkt<br />

reguliert <strong>und</strong> die Kaufkraft umverteilt wird, sozio-kulturelle Normen<br />

der Erwerbsarbeit <strong>und</strong> Lebensführung gesellschaftlich institutionalisiert<br />

werden <strong>und</strong> letztlich damit die politische <strong>und</strong> soziale Akzeptanz einer auf<br />

Lohnarbeit beruhenden Lebensform gestützt wird.<br />

Mit dieser Interpretation von Sozialpolitik unterstelle ich jedoch keinen<br />

platten Funktionalismus oder gar eine prästabilierte Harmonie zwischen<br />

den ökonomisch-politischen Interessen von Betrieben <strong>und</strong> Sozialpolitik. Die<br />

Sache ist komplizierter:<br />

Da Sozialpolitik nur partikular <strong>und</strong> selektiv in einzelne <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Bereiche interveniert, kann sie letztlich auch ihre Wirkungen nicht kontrollieren.<br />

Gerade die Entwicklungen im Produktionsbereich, durch die — wie<br />

gezeigt — Sozialpolitik maßgeblich beeinflußt wird, sind — auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

der skizzierten Formen von Sozialpolitik — kaum steuerbar <strong>und</strong> beeinflußbar.<br />

Sozialpolitik kann daher auch nicht verhindern, daß sich im Produktionsprozeß<br />

Veränderungen abspielen, die auch auf sie selbst zurückschlagen,<br />

d.h. die zu neuen Anforderungen führen, wie aber auch politisch<br />

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intendierte Wirkungen der Sozialpolitik beeinträchtigen, indem diese in der<br />

konkreten Praxis abgewehrt, neutralisiert oder auch gezielt genutzt <strong>und</strong><br />

funktionalisiert werden.<br />

3. Aktuelle Situation <strong>und</strong> zukünftige Entwicklung<br />

Welche Folgerungen ergeben sich aus dieser Betrachtung der bisherigen Entwicklungen<br />

für die gegenwärtige Situation <strong>und</strong> die Zukunft der Sozialpolitik?<br />

Ich möchte hierzu drei Thesen formulieren. Vorab eine Vorbemerkung:<br />

Seit mehreren Jahren grassiert die Rede von den ökonomischen Grenzen <strong>und</strong><br />

einer entsprechenden Krise des Sozialstaats. Ich finde dieses Gerede von der<br />

ökonomisch begründeten Krise des Sozialstaats jedoch so lange ein Ärgernis,<br />

als nicht zugleich auch von einer Krise des „Rüstungsstaats" gesprochen<br />

wird oder von anderen Krisen, die offenbar durch Wachstumsengpässe hervorgerufen<br />

werden. Ich weigere mich also — auch ohne hier detailliertere<br />

Belege vorzulegen —, neue Probleme <strong>und</strong> zukünftige Entwicklungen in der<br />

Sozialpolitik gegenwärtig als Ausdruck von Wachstumsengpässen u.a. zu diskutieren.<br />

Auf diesem Hintergr<strong>und</strong> nun hierzu meine erste These: Nicht die<br />

Veränderung des Wirtschaftswachstums ist ein neuartiges Problem für die<br />

Sozialpolitik; neu sind vielmehr die sich gegenwärtig abzeichnenden Veränderungen<br />

in der betrieblichen Nutzung von Arbeitskraft im Produktionsprozeß<br />

<strong>und</strong> deren Folgen. Die zwar seit langem prognostizierte, aber von niemand<br />

richtig ernst genommene Tatsache, daß die technischen Möglichkeiten<br />

zur Steigerung der Produktivität bislang keineswegs ausgeschöpft wurden,<br />

ist spätestens seit Mitte der 70er Jahre ein nicht mehr zu übersehender<br />

<strong>und</strong> wegzudiskutierender <strong>gesellschaftliche</strong>r Tatbestand. Dies besagt aber<br />

auch: Die Verkoppelung von Wirtschaftswachstum <strong>und</strong> die Ausweitung der<br />

Beschäftigung — wie sie in der bisherigen Entwicklung zutrafen — sind hinfällig<br />

geworden; wirtschaftliches Wachstum ist kein Garant mehr für Beschäftigungssicherung<br />

oder gar Vollbeschäftigung; im Gegenteil, Investitionen<br />

<strong>und</strong> die Expansion der Produktion können <strong>und</strong> werden immer mehr<br />

mit einer Verringerung des Arbeitsvolumens einhergehen. Jedoch Vorsicht,<br />

<strong>und</strong> damit komme ich zur zweiten These: Eine Verringerung des Arbeitsvolumens<br />

muß keineswegs zwangsläufig zu einer Verringerung von Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

führen. Ausschlaggebend hierfür ist, wie jeweils konkret<br />

der Einsatz von Arbeitskraft im Produktionsprozeß organisiert wird,<br />

d.h. insbesondere die zeitliche <strong>und</strong> personelle Verteilung der Arbeit. Die<br />

gegenwärtig in den Betrieben vorherrschende Organisation des zeitlichen<br />

<strong>und</strong> personellen Einsatzes von Arbeitskraft haben jedoch zur Folge, daß<br />

eine Reduzierung des Arbeitsvolumens zwangsläufig auch zu einer Verringerung<br />

von Arbeitsplätzen führt. Daraus ergibt sich aber auch eine Ausweitung<br />

von Problemlagen, die in der bisherigen Sozialpolitik nach wie vor eher<br />

nur als eine Randerscheinung auftauchten: Erweist sich die Ausgliederung<br />

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aus einem Beschäftigungsverhältnis als dauerhaft, <strong>und</strong> wird somit der Risikofall<br />

zum Normalfall, haben die Betroffenen — trotz aller Erweiterung von<br />

Sozialpolitik — mit erheblichen sozialen <strong>und</strong> materiellen Deprivilegierungen<br />

zu rechnen. Damit komme ich zu einer dritten These. Sie heißt in Kurzform:<br />

Worauf es gegenwärtig ankäme, wäre eine gr<strong>und</strong>legende Neuorganisation<br />

der Verteilung von Erwerbsarbeit. Dies stößt jedoch zugleich nicht nur auf<br />

vielfältige Widerstände, es zeigen sich vielmehr auch konkurrierende Entwicklungen<br />

in der Sozialpolitik. Was heißt dies im einzelnen? Anstelle einer<br />

Aufsplitterung der Bevölkerung in solche, die Erwerbsarbeit leisten <strong>und</strong><br />

solche, die aus der Erwerbsarbeit ausgegliedert sind, wäre eine radikale Um<strong>und</strong><br />

Neuverteilung von Erwerbsarbeit <strong>und</strong> eine Entlastung von Erwerbsarbeit<br />

für alle anzustreben. Dies wäre für mich so etwas wie eine konkrete<br />

Utopie oder einfacher ausgedrückt, das, worauf es gegenwärtig ankäme. Einen<br />

konkreten Ansatzpunkt sehe ich hier darin, neue <strong>und</strong> erweiterte Möglichkeiten<br />

zu steigender Produktivität — außer zur ökonomisch-materiellen<br />

Sicherung — zu einer gr<strong>und</strong>legenden <strong>und</strong> massiven Verkürzung der wöchentlichen<br />

<strong>und</strong> täglichen Arbeitszeit in allen erwerbsmäßig organisierten Arbeitsbereichen<br />

zu nutzen. Dies darf aber zugleich nicht von anderen Bestandteilen<br />

des Beschäftigungsverhältnisses isoliert werden. Fragen der Arbeitsgestaltung,<br />

bis hin zur beruflichen Qualifizierung <strong>und</strong> Mitbestimmung,<br />

müßten hierauf ausgerichtet, umgestaltet <strong>und</strong> weiterentwickelt werden.<br />

Ziel einer solchen sozialpolitischen Strategie hätte es zu sein, die partikulare<br />

Bearbeitung von Folgen des Produktionsprozesses zu überwinden <strong>und</strong><br />

durch eine Umverteilung von Erwerbsarbeit die zeitliche, wie aber auch<br />

physisch-psychische <strong>und</strong> soziale Beanspruchung durch Erwerbsarbeit für<br />

alle deutlich <strong>und</strong> spürbar zu reduzieren. Daher heißt die Alternative zur<br />

Erwerbsarbeit auch nicht zwangsläufig nur: mehr Freizeit. Mit reduzierter<br />

Erwerbsarbeit könnte zugleich der Aufbau alternativer Formen von Arbeit<br />

einhergehen <strong>und</strong> ein individuelles Engagement in unterschiedlichen — weder<br />

nach Prinzipien der Erwerbsarbeit noch notwendigerweise betriebsförmig<br />

organisierten — Arbeitszusammenhängen möglich werden. Erst in dieser<br />

Perspektive scheint es mir auch möglich, in der Sozialpolitik anstelle<br />

staatlich-bürokratischer Versorgungssysteme stärker alternative Formen<br />

der Selbstorganisation zu entwickeln, <strong>und</strong> zwar in einer Weise, daß diese<br />

nicht nur auf bestimmte Personengruppen <strong>und</strong> Situationen eingegrenzt<br />

<strong>und</strong> entsprechend auch marginalisiert werden können. Jedoch — <strong>und</strong> damit<br />

komme ich zu einer eher pessimistischen, aber nach bisherigen Erfahrungen<br />

vermutlich realistischen Einschätzung zukünftiger Entwicklungen: Es wäre<br />

töricht zu glauben, daß der Einsatz neuer Produktionstechniken <strong>und</strong> Technologien<br />

quasi zwangsläufig zu einer allgemeineren Verkürzung der Arbeitszeit<br />

führen, oder daß die Reduzierung der Arbeitszeit <strong>und</strong> Entlastung von<br />

Erwerbsarbeit etwas ist, was die Gewerkschaften schon richten werden,<br />

oder daß soziale Innovationen in der Sozialpolitik sich unabhängig von einer<br />

Umgestaltung von Erwerbsarbeit erfolgreich durchsetzen lassen. Dies zu<br />

glauben, erscheint mir nicht zuletzt deshalb problematisch, weil nicht nur<br />

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Widerstände bestehen, sondern weil historische Erfahrungen wie auch gegenwärtig<br />

sich abzeichnende Tendenzen eher auf eine andere hierzu konkurrierende<br />

Entwicklung verweisen:<br />

Ich sehe die Gefahr, daß gerade die Verringerung von Beschäftigungsmöglichkeiten<br />

<strong>und</strong> die anhaltende Massenarbeitslosigkeit nicht zu einer <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Umgestaltung von Erwerbsarbeit führen, sondern zu einer<br />

Neustrukturierung des Zusammenspiels zwischen Erwerbsarbeit <strong>und</strong> der<br />

Ausgliederung aus einem Beschäftigungsverhältnis. Die Interessen der Betriebe<br />

laufen — wie ich sehe — nicht in Richtung Arbeitszeitverkürzung <strong>und</strong><br />

Entlastung von Erwerbsarbeit, sondern in Richtung einer Flexibilisierung<br />

des Personaleinsatzes, d.h. vor allem einer Verschärfung des Personalaustauschs<br />

zwischen jeweils aktuell beschäftigten <strong>und</strong> auf dem Arbeitsmarkt<br />

verfügbaren Arbeitskräften. Dabei ist entscheidend: wer aktuell in ein Beschäftigungsverhältnis<br />

eingegliedert ist, dessen Arbeitsvermögen soll nach<br />

wie vor in erster Linie der Erwerbsarbeit zur Verfügung stehen. Auf einen<br />

Nenner gebracht: Die mit dem Einsatz neuer Produktionstechniken mögliche<br />

Steigerung der Produktivität wird nicht zu einer Entlastung von Erwerbsarbeit<br />

genutzt, sondern zu einer schärferen Selektion bei der Ein- <strong>und</strong><br />

Ausgliederung aus einem Erwerbsverhältnis. Dies bedeutet aber auch, daß<br />

die jeweils in ein Beschäftigungsverhältnis Eingegliederten keineswegs als<br />

Privilegierte zu betrachten sind. Für sie wird neben neuen, insbesondere<br />

psychisch-mentalen Belastungen vor allem ein verschärftes Risiko entstehen,<br />

aus dem Beschäftigungsverhältnis wieder ausgegliedert zu werden.<br />

Diesen neuen Richtungen der betrieblichen Personalpolitik entspricht weder<br />

die zuvor umrissene Umgestaltung von Erwerbsarbeit; noch entspricht<br />

ihr aber auch der von konservativ-liberaler Seite favorisierte Abbau des Sozialstaats<br />

<strong>und</strong> die Formen, in denen Sozialpolitik gegenwärtig eine Ausgliederung<br />

aus einem Beschäftigungsverhältnis bearbeitet. Einer solchen Flexibilisierung<br />

des Personaleinsatzes entsprechen vielmehr sozialpolitische Innovationen,<br />

die in der bisherigen Logik <strong>und</strong> den Strukturen einer Ausweitung<br />

von Sozialpolitik verbleiben.<br />

Meine These — eigentlich müßte ich sagen Befürchtung — ist: Sozialpolitik<br />

wird das tun, was sie immer getan hat. Für den Fall einer Ausgliederung<br />

aus einem Beschäftigungsverhältnis wird ein Ersatz angeboten. Heute<br />

<strong>und</strong> zukünftig geht es dabei nicht mehr nur um Lohnersatz oder die Versorgung<br />

mit Gütern <strong>und</strong> Dienstleistungen, sondern um den Ersatz für ein Beschäftigungsverhältnis,<br />

für Arbeit. Ich halte es für wahrscheinlich, daß sich<br />

in Zukunft, neben monetären sowie Sach- <strong>und</strong> Dienstleistungen, ein dritter<br />

Ast der Sozialpolitik entwickeln wird. Ich will ihn hier sozialpolitisch gestützte<br />

<strong>und</strong> organisierte Beschäftigungsverhältnisse nennen. Folgt man den<br />

bisherigen Entwicklungen in der Sozialpolitik, so spricht allerdings wenig<br />

dafür, daß hierdurch Alternativen zur Lohn- <strong>und</strong> Erwerbsarbeit entwickelt<br />

werden <strong>und</strong> entwickelbar sind. Worauf sich Sozialpolitik richten wird, ist:<br />

sie wird einen Ersatz für abhängige Beschäftigung bieten; im Klartext: sozialpolitisch<br />

gestützte Beschäftigungsverhältnisse werden an die Organisation<br />

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normaler Erwerbsarbeit angeglichen <strong>und</strong> an diesem Vorbild orientiert werden.<br />

Es wäre reizvoll, hier ausführlicher die gegenwärtigen staatlichen Initiativen<br />

im Bereich des zweiten <strong>und</strong> dritten Arbeitsmarkts zu diskutieren. Sie<br />

mögen für viele angesichts anhaltender Massenarbeitslosigkeit notwendig<br />

<strong>und</strong> sinnvoll erscheinen. Ich jedoch sehe die Gefahr, daß sie einer weiteren<br />

Entwicklung Vorschub leisten, die ich in der Retrospektive als die sozialpolitische<br />

Entproblematisierung des Produktionsprozesses bezeichnet habe.<br />

Ohne eine gesellschaftspolitische Umgestaltung von Erwerbsarbeit, die sich<br />

nicht an einzelbetrieblichen Interessen, sondern an gesellschaftlich sinnvollen<br />

<strong>und</strong> wünschbaren Zielen orientiert, ohne eine solche Neuorganisation<br />

von Erwerbsarbeit — <strong>und</strong> dies zeigt m.E. die Geschichte der bisherigen Sozialpolitik<br />

deutlich — werden auch alternative <strong>und</strong> neue Ansätze der Organisation<br />

von Arbeit in anderen <strong>gesellschaftliche</strong>n Lebenszusammenhängen<br />

behindert, eingeschränkt <strong>und</strong> marginalisiert werden.<br />

Mein gesellschaftspolitisches Plädoyer also: Es kann <strong>und</strong> darf keine<br />

Trennungen <strong>und</strong> Abgrenzungen zwischen alten <strong>und</strong> neuen sozialen Bewegungen,<br />

zwischen denen, die Erwerbsarbeit leisten <strong>und</strong> jenen, die hiervon<br />

ausgegliedert sind, geben. Worauf es ankäme, wäre keine isolierte, sondern<br />

eine wechselseitig verschränkte <strong>und</strong> sich abstützende Entwicklung von Alternativen<br />

<strong>und</strong> sozialen Innovationen sowohl im Bereich traditioneller Erwerbsarbeit<br />

als auch in anderen <strong>gesellschaftliche</strong>n Lebensbereichen. Ich<br />

wünschte, Soziologen könnten hierzu einen Beitrag leisten.<br />

ANMERKUNG<br />

1 Siehe zum Forschungsstand <strong>und</strong> Literatur hierzu ausführlicher den Überblick in<br />

Böhle, F.: Produktionsprozeß <strong>und</strong> Sozialpolitik. Sozialwissenschaftliche Forschung,<br />

aktuelle Probleme, theoretische Perspektiven. Arbeitspapier des Forschungsschwerpunkts<br />

Reproduktionsrisiken, soziale Bewegungen <strong>und</strong> Sozialpolitik an der Universität<br />

Bremen, Bremen 1982, S. <strong>35</strong>-62. Zu anderen Richtungen <strong>und</strong> Schwerpunkten<br />

der Sozialpolitikforschung siehe den Überblick bei Kaufmann, F., unter Mitarbeit<br />

von Rosewitz, B. <strong>und</strong> Wolf, H.: „Sozialpolitik. Stand <strong>und</strong> Entwicklung der Forschung<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland". In: PVS Sonderheft 13/1982, S. 344<br />

ff. - 366; sowie die aus der Sektion hervorgegangenen Veröffentlichungen in der<br />

Reihe Soziologie <strong>und</strong> Sozialpolitik, Oldenburg Verlag <strong>München</strong>, <strong>und</strong> die weiteren<br />

Beiträge der Sektion Sozialpolitik in diesem Band.<br />

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MARGINALISIERUNG ALS SOZIALPOLITISCHE ALTERNATIVE?<br />

Barbara Riedmüller<br />

Die „Krise der Arbeitsgesellschaft" stellt zweifelsohne eine Herausforderung<br />

dar, die Gültigkeit klassischer Paradigmen zu überprüfen. Die Konzeptualisierung<br />

der staatlichen Sozialpolitik als „Funktion" der politischen Durchsetzung<br />

<strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>n Organisation der Erwerbsarbeit <strong>und</strong> der damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Lebensform besitzt nach wie vor eine hohe Erklärungskraft,<br />

wie Fritz Böhle in seinem Beitrag gezeigt hat (vgl. in diesem Band).<br />

Nun gibt es <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklungen der Arbeit (des Verhältnisses<br />

von Erwerbsarbeit zu anderen Formen der Arbeit, Schattenarbeit, informeller<br />

Arbeit, „Schwarzarbeit"), die allgemein als krisenhaft diagnostiziert<br />

werden, die möglicherweise diese Focusierung der staatlichen Sozialpolitik<br />

auf die Erwerbsarbeit infrage stellen <strong>und</strong> neue sozialpolitische Antworten<br />

herausfordern.<br />

Ich möchte in meinem Beitrag die Frage behandeln, ob <strong>und</strong> wie die<br />

heute auftretenden Phänomene marginalisierter Existenzformen <strong>und</strong> Lebenszusammenhänge<br />

(als Arme, als Sozialhilfeempfänger, in der Grauzone<br />

des Arbeitsmarktes, als Mitglied der Alternativkultur) sozialpolitisch hergestellt<br />

<strong>und</strong> verarbeitet werden <strong>und</strong> ob <strong>und</strong> wie diese mit der Normalität<br />

der Arbeitsgesellschaft vermittelt sind.<br />

Ich werde zuerst einige Anmerkungen zum Thema Marginalisierung als<br />

Gegenstand der Soziologie machen, dann will ich Formen von Marginalisierung<br />

unterscheiden <strong>und</strong> sie im aktuellen sozialpolitischen Zusammenhang<br />

interpretieren.<br />

1. Marginalität als Thema der Soziologie<br />

Seit sich die Erwerbsarbeit als dominante Existenzform durchgesetzt hat,<br />

ist Marginalität in bezug auf diese Existenzform <strong>und</strong> deren sozialpolitische<br />

Ersatzmittel definiert worden. Auch die Soziologie ist dieser dominanten<br />

Linie der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung gefolgt — so meine These.<br />

Ich möchte angesichts knapper Zeit nur einige Aspekte dieser Entwicklung<br />

betonen.<br />

In sozialhistorischen Studien über die ökonomischen <strong>und</strong> sozialen Krisen<br />

des 18. <strong>und</strong> 19. Jahrh<strong>und</strong>erts ist Armut, Elend <strong>und</strong> soziale Desintegration<br />

als Bruch bzw. als Widerspruch von Vergesellschaftungsweisen erklärt<br />

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worden. Gesellschaftliche Strukturen <strong>und</strong> deren Veränderungen sind mit<br />

subjektiven Wertorientierungen <strong>und</strong> Lebenszusammenhängen vermittelt<br />

untersucht worden. (In historischen Studien z.B. der Familien<strong>soziologie</strong><br />

wird dieser Bezug wieder aktualisiert.)<br />

Im Gefolge der Ausdifferenzierung der bürgerlichen Gesellschaft in eine<br />

Erwerbsgesellschaft ändert sich auch der <strong>gesellschaftliche</strong> Diskurs über Marginalität.<br />

Sie wird mit individueller Leistung bzw. individuellem Versagen in<br />

Zusammenhang mit der Existenz durch Erwerbsarbeit einengend interpretiert.<br />

Neuere Studien über die vor- <strong>und</strong> frühbürgerliche Armenpolitik zeigen<br />

anschaulich diesen Übergang zur modernen Arbeits- <strong>und</strong> Leistungsethik, die<br />

dem Armen aufgezwungen wird (Sachße/Tennstedt 1981). Die Differenzierung<br />

in arbeitsfähige <strong>und</strong> -unfähige Arme, in arbeitswillige <strong>und</strong> -unwillige,<br />

läßt sich ebenso nachzeichnen wie die schrittweise Verfeinerung der Kontroll-<br />

<strong>und</strong> Sanktionsmittel (Foucault 1961, Dörner 1975) staatlicher Armenpolitik.<br />

Die Forschungsperspektive auf das Herstellen einer Lebenslage, auf die<br />

Reziprozität von sozialen Prozessen <strong>und</strong> individueller Lebensperspektive,<br />

wird von der Modernisierungswelle des Industriezeitalters überschwappt.<br />

Übrig bleibt das Thema Armut als Gefährdung der sozialen Ordnung, mit<br />

einer Armutspolitik, von der Simmel (1968 (1908), <strong>35</strong>0) sagt, daß sie weniger<br />

die Armut der Armen, sondern die negativen Auswirkungen der Armut<br />

auf die Allgemeinheit bekämpft.<br />

Die subjektive Seite der Marginalität, jene Formen von „abweichenden<br />

Verhalten", wie sie soziologisch diagnostiziert werden, sind kein Thema der<br />

Sozialpolitikforschung. Die sozialpolitische Zentrierung auf Erwerbsarbeit<br />

<strong>und</strong> deren sozialer Sicherung, wie sie im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert beginnt <strong>und</strong> bis<br />

heute fortgesetzt wurde, schlägt sich nieder in einer Abtrennung der individuellen<br />

Lebenszusammenhänge <strong>und</strong> deren subjektiven Deutungen. Andere<br />

Lebens- <strong>und</strong> Arbeitsformen, die nicht dem Muster der Erwerbsarbeit folgen,<br />

geraten in der Folge aus dem Blick (Beispiel: Genossenschaften, andere Inhalte<br />

<strong>und</strong> Formen der Arbeitsteilung zwischen Mann <strong>und</strong> Frau in vorbürgerlichen<br />

Produktionsgemeinschaften); neue Formen von Armut, die durch die<br />

damit verb<strong>und</strong>ene Ausgrenzung aus den Systemen sozialer Sicherheit bedingt<br />

sind, bleiben ausgeblendet. Die wissenschaftliche Hypostasierung der<br />

Erwerbsarbeit als Arbeit schlechthin hat zur Folge, daß z.B. die Frauenarbeit<br />

erst heute wissenschaftlich diskutiert wird. Die Entdeckung der Hausarbeit<br />

als unbezahlte „Schattenarbeit", des „informellen Sektors", <strong>und</strong> der<br />

„Eigenarbeit" stellt heute den Arbeitsbegriff insgesamt zur Disposition.<br />

Die „soziale Frage" des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts scheint mit der staatlichen<br />

Sozialpolitik, die als Arbeiterpolitik auf den Weg kam, gelöst zu sein. Die<br />

politische <strong>und</strong> wissenschaftliche Trennung von Arbeiterpolitik <strong>und</strong> Armenpolitik<br />

(Preußer 1982, 83) läßt sich heute in den Institutionen der Sozialversicherung<br />

<strong>und</strong> dem Unterstock des Sozialhilfesystems zwar noch erkennen,<br />

aber die Sozialpolitikforschung negiert diese Trennung. Sie konzentriert<br />

sich auf die Fort<strong>entwicklung</strong> <strong>und</strong> Modernisierung des Systems sozialer<br />

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Sicherheit, das die Erwerbsarbeit zum Inhalt hat. Andere Lebenszusammenhänge<br />

werden in dieses Muster gepreßt (indem z.B. die Familienarbeit als<br />

„abgeleiteter Anspruch" auf soziale Leistungen verrechtlicht wird). Entsprechend<br />

dieser institutionalistischen Betrachtungsweise der Sozialpolitik,<br />

die sich endgültig vom Zusammenhang staatlicher Sozialpolitik <strong>und</strong> sozialer<br />

Bewegung löst, wie ihn Eduard Heimann (1929) in seiner 'sozialen Theorie<br />

des Kapitalismus' formuliert, spielt die Soziologie in der Sozialpolitik eher<br />

eine randständige Rolle. Denn während Theorien sozialer Probleme <strong>und</strong><br />

Theorien sozialer Kontrolle einen Aufschwung erleben, wird die Sozialpolitiktheorie<br />

zu einer Domäne von Juristen <strong>und</strong> Ökonomen. Erst in den letzten<br />

Jahren, sy<strong>mb</strong>olisiert durch die Gründung der Sektion Sozialpolitik auf<br />

dem Soziologentag in Bielefeld 1976, hat eine Rückkehr zur Sozialpolitikforschung<br />

stattgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> damit zu Fragen, die Hans Achinger bereits<br />

1956 gestellt hat, nach den Folgen eines auf Verrechtlichung <strong>und</strong> Ökonomisierung<br />

aufbauenden Sozialsystems.<br />

Heute, wo die Grenzen des Systems sozialer Sicherheit sichtbar geworden<br />

sind <strong>und</strong> neue Formen solidarischer Hilfe in der Selbsthilfe- <strong>und</strong> Alternativbewegung<br />

gesucht werden, ist die Soziologie erneut gefordert, die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklung von Lebenszusammenhängen analytisch zu begleiten.<br />

2. Neue Marginalität<br />

Ich werde mich nun mit dem Problem der Marginalisierung, wie sie sozialpolitisch<br />

hergestellt wird, beschäftigen <strong>und</strong> einige Entwicklungen thesenhaft<br />

zusammenfassen.<br />

Ich definiere Marginalität als Resultat sozialpolitischer Regelung; indem<br />

diese soziale Lebenslagen jenseits der Erwerbsgesellschaft ausgrenzt, stellt sie<br />

Armut, Randständigkeit etc. her. Die Herausbildung <strong>und</strong> Differenzierung<br />

der sozialpolitischen Systeme orientiert sich an der Existenzform durch Erwerbsarbeit<br />

<strong>und</strong> deren Risiken. Zumindest hat die sozialpolitische Rhetorik<br />

die fortschreitende Ausweitung <strong>und</strong> Verbesserung sozialer Sicherung<br />

der Erwerbsarbeit zum Inhalt. Die These, daß diese Entwicklung durch starke<br />

Interessenverbände beeinflußt ist, bestätigt sich dort, wo Gruppen aus<br />

der sozialen Sicherung ausgeschlossen waren <strong>und</strong> bleiben, die keine Interessenvertretung<br />

entlang der traditionellen Organisationsformen der Erwerbsarbeit<br />

organisieren konnten — die Frauen, die Arbeitslosen, die Jugendlichen,<br />

die Rentner, um nur einige zu nennen. Aber diese These übersieht die<br />

strukturelle Basis dieser Ausgrenzung. Denn es läßt sich darüber hinaus zeigen,<br />

daß die Konstruktion des Systems sozialer Sicherung bereits systematisch<br />

den Ausschluß bestimmter Lebenszusammenhänge <strong>und</strong> Problemgruppen<br />

mit sich bringt, daß das System sozialer Sicherung defizitäre Lebenslagen<br />

herstellt, indem sie die individuelle Leistung der Erwerbsarbeit zum<br />

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Maßstab macht. Die Familienarbeit der Frau, die Lebenssituation all derer,<br />

die nicht am Erwerbsprozeß teilnehmen können, bleibt ausgeblendet <strong>und</strong><br />

wird in „Sondersysteme" der Sozialhilfe <strong>und</strong> der verbandlichen Wohlfahrtspflege<br />

abgedrängt <strong>und</strong> nicht nur institutionell, sondern auch wissenschaftlich<br />

marginalisiert. Erst in den letzten Jahren ist verstärkt die Armut z.B.<br />

von Frauen im Alter, die Armut von kinderreichen Familien, von alleinerziehenden<br />

Müttern veröffentlicht worden (Kickbusch/Riedmüller 1984).<br />

Die Sozialindikatorenforschung hat hier ihre Verdienste. Diese Defizitanalyse<br />

enthält bereits den Hinweis darauf, daß es sich bei Marginalisierung um<br />

einen sozialpolitischen Prozeß handelt, in dem Armut etc. hergestellt wird.<br />

Die Sozialpolitik sichert nicht nur die Existenzform Erwerbsarbeit, sie organisiert<br />

auch die Nicht-erwerbsarbeit, die Ausgegrenzten, die Anderen.<br />

Zwar ist, wie Fritz Böhle in seinem Beitrag darstellt, der Normalitätsstandard<br />

der Erwerbsgesellschaft auch hier gültig, indem z.B. die Arbeitsbereitschaft<br />

kontrolliert wird, die „Faulheit" bestraft, die Arbeit der Frau diskriminiert<br />

wird, doch etablieren sich an den Grenzen der Arbeitsgesellschaft<br />

auch Regeln der Nichtarbeit, der Stigmatisierung z.B. von psychisch Kranken,<br />

von Behinderten, der Ausgrenzung in „totalen Institutionen". Diese<br />

Logik der Ausgrenzung läßt sich zwar als Erfordernis der Existenzform<br />

Erwerbsarbeit beschreiben, indem Arbeitskraft ausgegrenzt <strong>und</strong> wieder<br />

integriert wird, indem ein Wechsel von „integrativen" <strong>und</strong> „desintegrativen"<br />

Sozialpolitikstrategien je nach Erfordernis stattfindet; aber ist mit<br />

dieser 'Funktionsanalyse' das Geschehen jenseits der Grenze der Arbeitsgesellschaft<br />

verstehbar <strong>und</strong> beschreibbar?<br />

Diese Frage gilt es zu beantworten. Wenn die Krise der Arbeitsgesellschaft<br />

die Grenze zwischen Erwerbsarbeit <strong>und</strong> Nicht-erwerbsarbeit, zwischen Familienarbeit<br />

<strong>und</strong> Erwerbsarbeit, zwischen dem ersten, zweiten, dritten <strong>und</strong><br />

vierten Arbeitsmarkt flüssig werden läßt, dann sollte die analytische Perspektive<br />

auf die jenseits der Grenze „Erwerbsarbeit" entstehenden Arbeits<strong>und</strong><br />

Lebensformen offen bleiben. Kulturelle Orientierungen, lebensweltliche<br />

Strukturen <strong>und</strong> deren Überlebenschancen jenseits der Arbeitsmarktgesellschaft<br />

sollten in eine sozialpolitische Analyse einbezogen werden.<br />

Wenn ich im folgenden Marginalisierung als institutionellen Prozeß der<br />

Herstellung von randständigen Lebenszusammenhängen jenseits der Normalität<br />

der Arbeitsgesellschaft beschreibe, schließe ich nicht aus, daß die Betroffenen<br />

ihre Lebensform nach anderen Maßstäben bewerten als über die<br />

Teilnahme am Arbeitsmarkt <strong>und</strong> den sozialen Leistungen. Auch nimmt<br />

meine sozialpolitische Definition von Marginalisierung die potentiellen Widerstands-<br />

<strong>und</strong> Protestformen marginalisierter Gruppen nicht negatorisch<br />

vorweg (vgl. für die USA Piven/Cloward 1977) <strong>und</strong> leugnet nicht ihre Rolle<br />

bei der Entwicklung neuer sozialpolitischer Lösungen, wie sie heute diskutiert<br />

werden.<br />

Ich analysiere den Prozeß der sozialpolitischen Herstellung von Marginalisierung<br />

auf zwei Ebenen, denen sich unterschiedliche Lebenszusammenhänge<br />

zuordnen lassen:<br />

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— Marginalisierung läßt sich im Verhältnis zur Erwerbsarbeit analysieren<br />

— Marginalisierung läßt sich zweitens in Abhängigkeit von obiger Definition<br />

bestimmen im Verhältnis zu den sozialpolitischen Institutionen,<br />

die den Status der Marginalität herstellen <strong>und</strong> verwalten.<br />

Ein Zusammenhang zwischen beiden Ebenen besteht in der sozialpolitischen<br />

Gr<strong>und</strong>orientierung am Status der Erwerbsarbeit, ein Zusammenhang<br />

der sich allerdings nach den oben genannten Einwänden lockern, verselbständigen<br />

oder unterbrechen lassen kann. Nicht jede Produktion einer marginalen<br />

Existenzform (z.B. der Status „Obdachlosigkeit") entspricht den<br />

Erfordernissen des Arbeitsmarktes, sie wird durch die verfügbaren finanziellen,<br />

organisatorischen <strong>und</strong> rechtlichen Ressourcen ebenso beeinflußt wie<br />

von politisch ideologischen Konjunkturen, wie wir sie aktuell am Beispiel<br />

der Remystifizierung der Familienarbeit erleben. Je nachdem, wie eng der<br />

Zusammenhang zur Erwerbsarbeit ist, ändert sich der Politiktypus, der zwischen<br />

harter „sozialer Kontrolle" z.B. der „Arbeitsbereitschaft" von Sozialhilfeempfängern<br />

<strong>und</strong> „Gewährenlassen", z.B. von Selbsthilfe- <strong>und</strong> Alternativprojekten<br />

hin <strong>und</strong> her pendelt.<br />

Entsprechend dieser analytischen Zuordnung zu Politikformen lassen<br />

sich im wesentlichen zwei Formen von Marginalisierung unterscheiden:<br />

— Ausgrenzung als „Verschiebung" in private nicht marktförmige <strong>und</strong><br />

nicht staatliche oder staatlich kontrollierte Lebenszusammenhänge <strong>und</strong><br />

zweitens<br />

— Ausgrenzung als temporäre oder endgültige „Abkopplung" von Erwerbsarbeit<br />

durch staatlich subventionierte <strong>und</strong> kontrollierte Beschäftigungsverhältnisse.<br />

Für den ersten Typus der Ausgrenzung als „Verschiebung" läßt sich als<br />

historisch einmaliges Beispiel die Familienarbeit der Frau nennen, die nur<br />

vermittelt über die Erwerbsarbeit des Mannes, Eingang in die Sozialversicherungspolitik<br />

gef<strong>und</strong>en hat. Sie findet im B<strong>und</strong>essozialhilfegesetz einen<br />

besonderen Vorrang gegenüber der Existenzsicherung durch Erwerbsarbeit.<br />

Die Arbeit der Frau wird — wie Ursula Beer in ihrem Beitrag (in diesem<br />

Band) zeigt — als nicht marktförmige, private Angelegenheit institutionalisiert.<br />

Diese Verschiebung der Frauenarbeit in den privaten Raum der Familie<br />

bedingt in der Folge die Sonderstellung der Frau auf dem Arbeitsmarkt<br />

<strong>und</strong> deren Teilhabe an den sozialen Leistungen.<br />

Ausgrenzung als Politik der Sozialversicherungsinstitutionen im Sinne<br />

einer Verschiebung in private Existenzformen der Familie findet heute<br />

darüber hinaus in hohem Maße durch die restriktiven Zugangsvoraussetzungen<br />

zu den sozialen Leistungen statt. Dies trifft auf alle Systeme der sozialen<br />

Sicherung zu. Im Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sind die Voraussetzungen<br />

für Leistungen verstärkt an unmittelbar vorherige Erwerbstätigkeit geb<strong>und</strong>en<br />

worden. Jugendliche Schulabgänger, Fach- <strong>und</strong> Hochschulabsolventen,<br />

Frauen, die nach Jahren der Familienarbeit wieder berufstätig werden<br />

wollen, sind von berufsfördernden Maßnahmen <strong>und</strong> finanziellen Leistungen<br />

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ausgeschlossen worden <strong>und</strong> damit auf private Unterstützungssysteme verwiesen<br />

worden.<br />

Eine ähnliche Verschiebung in private, familiäre Subsistenzformen hat<br />

im B<strong>und</strong>essozialhilfegesetz (BSHG) stattgef<strong>und</strong>en, indem verstärkt familiäre<br />

Leistungen in Anspruch genommen werden bzw. soziale Notlagen durch<br />

Kürzung sozialer Hilfen produziert werden (Leibfried/Tennstedt 1985).<br />

Es wäre nun von soziologischem Interesse, ganz im Sinne von Achingers<br />

Frage nach der Wirkung unserer sozialpolitischen Systeme, die Folgen für<br />

die Lebenszusammenhänge der Betroffenen zu untersuchen. Solche Untersuchungen<br />

konzentrieren sich derzeit vor allem auf die subjektiven Folgen<br />

der Arbeitslosigkeit, die institutionelle Seite der Marginalisierung ist dabei<br />

eher ausgeblendet.<br />

Der zweite Typus von Ausgrenzung, den ich als „Abkopplung" von der<br />

Lebensform Erwerbsarbeit bezeichnet habe, ist soziologisch vor allem deswegen<br />

interessant, weil er die unterschiedlichsten Lebenszusammenhänge,<br />

Politikstile <strong>und</strong> Ideologien zusammenfaßt. Auf der einen Seite handelt es<br />

sich um defizitäre Lebenslagen, wie sie heute als „Neue Armut" bekannt<br />

ist, auf der anderen Seite um 'selbstgewählte' Alternativen zur Erwerbsarbeit<br />

klassischen Typs.<br />

Ein besonders krasses Beispiel für eine Strategie der Marginalisierung<br />

als „Abkopplung" ist der im Sozialhilferecht verankerte Zwang zur Sozialhilfearbeit,<br />

der ursprünglich als Kontrolle der „Arbeitsunwilligen" institutionalisiert<br />

war <strong>und</strong> heute verstärkt zur Ausgrenzung von arbeitslosen Sozialhilfeempfängern<br />

eingesetzt wird, deren Zahl laufend zunimmt;<br />

Die diskriminierende Wirkung liegt vor allem im Zwangscharakter der<br />

Sozialhilfearbeit, deren Verweigerung einen Leistungsausschluß zur Folge<br />

hat <strong>und</strong> in dem Prozeß der Dequalifizierung <strong>und</strong> damit Statusverlust, da<br />

jede Arbeit angenommen werden muß (vgl. Münder 1984).<br />

Während diese Praxis der Marginalisierung an die Tradition der sozialen<br />

Kontrolle durch Arbeitszwang im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert erinnert <strong>und</strong> der beschäftigungspolitischen<br />

Rhetorik seit 1945 fremd erscheint, sind andere Formen<br />

der Arbeitspolitik populärer. Vor allem die Beschäftigungspolitik über den<br />

sog. zweiten Arbeitsmarkt (das Ha<strong>mb</strong>urger Modell) steht dafür Pate. Darunter<br />

sind staatlich unterstützte temporäre Beschäftigungsverhältnisse zu verstehen,<br />

die teils aus Mitteln der B<strong>und</strong>esanstalt für Arbeit, teils aus öffentlich<br />

kommunalen Mitteln finanziert werden (vgl. Heinze u.a. 1984).<br />

Gleichwohl der arbeitsmarktpolitische Effekt gering sein dürfte (1984<br />

gab es in der B<strong>und</strong>esrepublik ca. 70.000 Arbeitsplätze im zweiten Arbeitsmarkt),<br />

ist der sozialpolitische Stellenwert dieser Programme möglicherweise<br />

eher in der Verarbeitung der <strong>gesellschaftliche</strong>n Wirkung der Arbeitslosigkeit<br />

als in deren Lösung zu suchen. Diese Politik der Arbeit entspricht u.U.<br />

dem von Fritz Böhle aufgezeigten historisch neuen Transformationsprozeß<br />

von Erwerbsarbeit in Nicht-erwerbsarbeit <strong>und</strong> umgekehrt. Eine empirische<br />

Analyse dieser Arbeitspolitik müßte sich mit dem Effekt der Schaffung eines<br />

neuen rechtlichen Status der Erwerbsarbeit (tarifliche Absicherung, Ar-<br />

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eitszeit etc.) ebenso beschäftigen wie mit den subjektiven Interessen der<br />

Teilnehmer dieser Programme. Was beim Modell des zweiten Arbeitsmarktes<br />

als institutionelle Praxis der Ausgrenzung von Arbeitslosen in einen<br />

„Sonderarbeitsmarkt" erscheint (ein zusätzlich segmentierter Arbeitsmarkt),<br />

kann aus der Sicht der Betroffenen als Chance der Verwirklichung neuer<br />

Arbeitsformen <strong>und</strong> -inhalte gesehen werden, dies vor allem dann, wenn Projekte<br />

„sinnvoller", „ökologischer" <strong>und</strong> „sozialer" Arbeit verwirklicht werden<br />

sollen. Diese Intention wird vor allem aus dem Selbsthilfe- <strong>und</strong> Alternativsektor<br />

aufgegriffen (Bolle, Grottian 1983). Ich möchte daher, um die<br />

Reihe der sozialpolitisch aktuellen Beispiele abzuschließen, meine Typologie<br />

von Marginalisierung als „Abkopplung" durch zwei offene Fragen erweitern,<br />

die ich gerne diskutieren würde.<br />

Ich frage, ob die staatliche finanzielle Unterstützung von Selbsthilfegruppen<br />

<strong>und</strong> Alternativprojekten nur eine Strategie der Marginalisierung<br />

nicht „marktgängiger" Arbeitskraft ist, ob eine Art „a<strong>mb</strong>ulantes Ghetto"<br />

entsteht, oder ob in diesem Bereich die Arbeitspolitik an ihre Grenzen<br />

stößt, da die Subjekte, die sich in diesen Alternativen zusammenfinden,<br />

die Regeln der Erwerbsarbeit <strong>und</strong> deren Lebensumstände für sich aussetzen.<br />

Darauf gibt die vorliegende Literatur über die neuen sozialen Bewegungen<br />

keine befriedigende Antwort. Die zweite Frage, die ich stelle, zielt auf die<br />

staatlich garantierte <strong>und</strong> möglicherweise sozial akzeptierte freiwillige Abkopplung<br />

vom Arbeitsmarkt durch ein „garantiertes Mindesteinkommen".<br />

Diese in letzter Zeit diskutierte „libertäre" Lösung der Krise der Arbeitsgesellschaft<br />

(Schmid 1984) will den Zwang der Erwerbsarbeit lockern, indem<br />

jeder auf der Basis seiner Existenzsicherung für sich entscheidet, ob<br />

er an der Erwerbsarbeit teilnimmt oder nicht. Ich frage, ob sich in dieser<br />

sozialen Utopie neue <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklungen ankündigen, vor allem,<br />

was die soziale Organisation von Arbeit anbelangt oder ob sich hier<br />

nur neue, moderne sozialpolitische Kontrollmittel herausbilden, die den alten<br />

Typus von Erwerbsarbeit verewigen wollen.<br />

Diese Fragen lassen sich m.E. nur beantworten, wenn die sozialpolitische<br />

Analyse objektiver <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklungen <strong>und</strong> der Rolle der<br />

Institutionen verknüpft wird mit der Analyse der subjektiven Perspektive<br />

<strong>und</strong> Interpretation seitens der Betroffenen.<br />

Wie die aus der Sicht der Arbeitsgesellschaft marginalisierten Gruppen<br />

ihre Lebenszusammenhänge definieren <strong>und</strong> wie sie ihre Interessen durchsetzen,<br />

muß Bestandteil der sozialpolitischen Forschung sein. Vor allem<br />

darf die Forschung die Entwicklung veränderter Lebenszusammenhänge<br />

nicht im theoretischen Vorgriff homogenisieren, indem ein historisches<br />

Modell von Erwerbsarbeit analytisch verallgemeinert wird.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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LITERATUR<br />

Achinger, H. 1958: Sozialpolitik als Gesellschaftspolitik. Von der Arbeitsfrage zum<br />

Wohlfahrtsstaat, Ha<strong>mb</strong>urg.<br />

Dörner, K. 1975: Bürger <strong>und</strong> Irre, Frankfurt a.M.<br />

Foucault, M. 1973: Wahnsinn <strong>und</strong> Gesellschaft, Frankfurt a.M.<br />

Bolle, M./Grottian, P. (Hg.) 1983: Arbeit schaffen - jetzt! Reinbek b. Ha<strong>mb</strong>urg.<br />

Heimann, E. 1980 (1929): Soziale Theorie des Kapitalismus. Frankfurt a.M.<br />

Heinze, R./Ho<strong>mb</strong>ach, B./Mosdorf, S. (Hg.) 1984: Beschäftigungskrise <strong>und</strong> Neuverteilung<br />

der Arbeit, Bonn.<br />

Kickbusch, I./Riedmüller, B. 1984: Die armen Frauen, Frankfurt a.M.<br />

Leibfried, St./Tennstedt, F. (Hg.), 1985: Politik der Armut <strong>und</strong> die Spaltung des Sozialstaats,<br />

Frankfurt a.M.<br />

Münder, J. 1984: „Arbeitsverpflichtung für Sozialhilfeempfänger?" in: Neue Zeitschrift<br />

für Verwaltungsrecht, S. 206-211.<br />

Piven, F./Cloward, R.A., 1977: Poor People's Movements. Why They Succeed, How<br />

They Fall. New York.<br />

Preußer, N., 1982, 1983: Armut <strong>und</strong> Sozialstaat, Bd. 1-4, <strong>München</strong>.<br />

Sachße, M.C./Tennstedt, R. 1980: Geschichte der Armenfürsorge in Deutschland. Stuttgart.<br />

Schmid, Th. (Hrsg.), 1984: Befreiung von falscher Arbeit. Thesen zum garantierten Mindesteinkommen,<br />

Berlin.<br />

Simmel, G., 1968 (1908): Soziologie, Berlin.<br />

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Diskussionsbeiträge zu den Referaten von<br />

Lüscher, Herlyn, Keim <strong>und</strong> Böhle<br />

Rosemarie<br />

Nave-Herz<br />

Ich möchte zwei Anmerkungen anfügen, die die Ausführungen von Herrn<br />

Lüscher ergänzen <strong>und</strong> sich konzentrieren auf das Thema „Veränderungen<br />

familialer Lebensformen als Herausforderung der Soziologie".<br />

Die neuen Lebensformen stellen nach Herrn Lüscher eine Reihe von<br />

Herausforderungen — sowohl konzeptioneller Art als auch im Hinblick auf<br />

die Familienpolitik — an die Familien<strong>soziologie</strong> dar. Diesen Katalog möchte<br />

ich noch erweitern:<br />

Dadurch, daß die deutsche Familien<strong>soziologie</strong> eine zu lange zeitliche<br />

Forschungsabstinenz diesen neuen Lebensformen gegenüber zeigte, wuchs<br />

ihr eine weitere Aufgabe zu, nämlich die der kritischen Analyse massenkommunikativer<br />

Deutungsmuster über die Veränderung familialer Alltagswelten<br />

<strong>und</strong> über die Entstehung neuer Lebensformen. Diese Behauptung<br />

möchte ich kurz begründen.<br />

Aus den familienstatistischen Trendverläufen der letzten Jahre, auf die<br />

Herr Lüscher hingewiesen hat, wird in allen Massenkommunikationsmitteln,<br />

in partei- <strong>und</strong> verbandspolitischen Reden usw. auf einen Bedeutungsverlust<br />

von Ehe <strong>und</strong> Familie geschlossen <strong>und</strong> werden düstere Prognosen für die Zukunft<br />

von Ehe <strong>und</strong> Familie abgeleitet. Doch kann man aus diesen allgemeinen<br />

statistischen Datenreihen nicht ohne weiteres auf die subjektive Bedeutung<br />

oder den subjektiven Bedeutungswandel von Familie <strong>und</strong> Ehe schließen,<br />

wie es in derartigen pseudowissenschaftlichen Deutungsmustern praktiziert<br />

wird. So ist es mehr als dringend notwendig, daß die Familiensoziologen<br />

diese bereits überall verbreiteten Interpretationen statistischer Daten auf<br />

ihren Realitätsgehalt hin überprüfen.<br />

Ich möchte deshalb im folgenden — kurz zusammengefaßt — ein diesbezügliches<br />

Ergebnis eines Forschungsprojektes über familiäre Veränderungen<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik seit 1950, das wir gerade abgeschlossen haben,<br />

vortragen, weil damit die theoretischen Aussagen von Herrn Lüscher eine<br />

Konkretisierung erfahren. Auf Einzelheiten, auf methodische Probleme<br />

usw. kann ich hier natürlich nicht eingehen. Es sei lediglich angemerkt,<br />

1<br />

daß es sich um eine retrospektive Befragung von 314 Familienbiographien<br />

mit unterschiedlichen Eheschließungsjahren (1950, 1970 <strong>und</strong> 1980) handelt.<br />

Die Analyse erfolgte unter systemtheoretischer Perspektive. Die fol-<br />

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genden Thesen stellen selbstverständlich auch nur einen Ausschnitt des Gesamtergebnisses<br />

dar.<br />

Es ist genügend bekannt, daß Ehe <strong>und</strong> Familie historisch gesehen immer<br />

einen instrumenteilen Charakter für die Betroffenen hatten. Sie wurden<br />

eingegangen, um Vermögen, Namen, Rechte usw. weiterzuleiten, die eigene<br />

Versorgung zu garantieren usw. Je mehr die romantische Liebe zum Eheideal<br />

<strong>und</strong> zum einzigen legitimen Heiratsgr<strong>und</strong> sich ideell immer mehr durchsetzte,<br />

umso stärker wurde der Anspruch, den instrumentellen Charakter<br />

von Ehe <strong>und</strong> Familie einzutauschen gegen das Ideal von Partnerschaft, gegenseitiger<br />

emotionaler Beziehung usw. Interessant ist aber nun, daß Ehe<br />

<strong>und</strong> Familie — trotz dieses Anspruches — ihren instrumentellen Charakter<br />

bis heute nicht in dem erwarteten Umfang verloren zu haben scheinen.<br />

Auch heute führen überwiegend weiterhin bestimmte rationale Gründe<br />

letztlich zur Eheschließung. Die Art der Eheentscheidungsgründe haben sich<br />

allein im Zeitablauf verändert. 1950 waren es häufig mehrere Gründe zusammen<br />

(z.B. berufliche, partnerbezogene, sexuelle, wohnungsmäßige), die<br />

bei den einzelnen Paaren die Ehe-Entscheidung beeinflußten. Bis 1980<br />

wurde die Ehe nunmehr in zunehmendem Maße allein zum Instrument der<br />

Erfüllung des Kinderwunsches. Denn — da die emotionellen sexuellen Beziehungen<br />

heute keine öffentlich bek<strong>und</strong>ete Legitimation durch eine Eheschließung<br />

mehr benötigen, die materiellen <strong>und</strong> wohnungsmäßigen Bedingungen,<br />

die Selbständigkeit ermöglichen, liegt somit heute, wenn geheiratet<br />

wird — so zeigen unsere Daten —, überwiegend ein starker, zumindest bewußter<br />

kind- <strong>und</strong> familienzentrierter Entscheidungsgr<strong>und</strong> im Vergleich zu<br />

den Eheschließenden von 1970 <strong>und</strong> 1950 vor. Mit anderen Worten: Im Hinblick<br />

auf das Kind wird eine dem Anspruch nach auf Dauer zielende Beziehung,<br />

nämlich die Ehe mit ihrem gegenseitigen Verpflichtungscharakter, gewählt.<br />

Ehe <strong>und</strong> Famile werden damit überwiegend allein zur bewußten <strong>und</strong><br />

erklärten Sozialisationsinstanz für Kinder (wodurch sich auch ihre Konfliktanfälligkeit<br />

erhöht).<br />

Das von R. Vollmer in Anlehnung an Niklas Luhmann aufgestellte<br />

Postulat der Spezialisierung von Familie auf emotionale Bedürfnislagen ,<br />

2<br />

muß m.E. aufgr<strong>und</strong> unserer Daten weiter differenziert werden, indem zwischen<br />

der emotionellen Partnerbeziehung <strong>und</strong> der kindorientierten emotionellen<br />

Partnerbeziehung zu unterscheiden ist. Selbstverständlich sind zumeist<br />

beide Beziehungsaspekte miteinander verknüpft. Nur, es scheint sich<br />

insofern eine tendenzielle Veränderung anzubahnen, als die partnerbezogene<br />

Emotionalität immer stärker zum Anlaß der Gründung einer nicht-legalisierten<br />

Haushaltsgemeinschaft wird. Bei der Eheschließung dagegen tritt die<br />

kindorientierte Partnerbeziehung in den Vordergr<strong>und</strong>. Damit wird ferner<br />

deutlich, daß sich die Funktion von Kindern für die Eltern verändert hat.<br />

Die Veränderungen in den Außensystemen, vornehmlich dem Rechts<strong>und</strong><br />

Wirtschaftssystem, scheinen also in zunehmendem Maße eine weitere<br />

Ausdifferenzierung in zwei Lebensformen zu bewirken, an die jeweils spezifische<br />

Anforderungen, Bedürfnisse, Erwartungen gestellt werden: die<br />

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Partnerform der nicht-legalisierten Haushaltsgemeinschaft <strong>und</strong> die durch<br />

Heirat legitimierte Ehe-Elternschaft. Beide Lebensformen sind soziologisch<br />

nicht etwa gleichzusetzen, wie es zuweilen in der Literatur zu finden ist, da<br />

nicht nur die Betroffenen sie als unterschiedlich definieren, sondern weil —<br />

wie ich nochmals betonen möchte — jeweils spezifische Erwartungen an beide<br />

Lebensformen gestellt werden.<br />

Damit ist also die Tendenz eines Bedeutungswandels von Ehe <strong>und</strong> Familie<br />

zu bestätigen, aber nicht im Sinne der düsteren Prognose, wie sie —<br />

wie erwähnt — in den Massenkommunikationsmitteln häufig zu finden ist.<br />

Ich möchte noch eine weitere Herausforderung an die Familien-Soziologie<br />

durch die Entstehung neuer Lebensformen kurz erwähnen.<br />

Herr Lüscher gab in seiner Einleitung einen klaren, knappen Abriß über<br />

die Phasen der Familien<strong>soziologie</strong>, rückblickend auf die Zeit seit dem zweiten<br />

Weltkrieg. Doch weder hier, noch später, taucht in seinem Referat irgendwo<br />

der Begriff der interkulturell-vergleichenden Familien<strong>soziologie</strong><br />

auf, was begründbar ist, denn de facto wurde dieser Forschungsschwerpunkt<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik bisher so gut wie ganz vernachlässigt. Ich erwähne<br />

diesen Tatbestand deshalb, weil ich abschließend — ergänzend — hervorheben<br />

möchte, daß gerade die neuen familialen Lebensformen auch eine<br />

Herausforderung für die interkulturell-vergleichende Familien<strong>soziologie</strong> darstellt,<br />

da die Pluralität von Lebensformen in allen west- <strong>und</strong> osteuropäischen<br />

Staaten zunimmt. Zu prüfen wäre jedoch z.B., ob die nicht-legalisierte partnerschaftliche<br />

Haushaltsgemeinschaft in allen Staaten die gleiche Funktion<br />

besitzt, <strong>und</strong> ob ihr die gleiche subjektive Bedeutung zugeschrieben wird <strong>und</strong><br />

anderes mehr. Nur hierdurch wären generalisierende Aussagen, z.B. über die<br />

fortschreitende funktionale Spezialisierung von Ehe <strong>und</strong> Familie, letztlich<br />

erst möglich. Vor allem aber kann nur interkulturelles Vorgehen in der Forschung<br />

— <strong>und</strong> so auch in der Familien<strong>soziologie</strong> — ich zitiere König — ,,zur<br />

Selbsterkenntnis in der Relativierung der eigenen Wertsetzung" <strong>und</strong> ferner<br />

zur „Eigentümlichkeit nationaler Charaktere" beitragen. Übertragen auf eine<br />

interkulturell-vergleichende Familien<strong>soziologie</strong> würde das heißen, daß<br />

nur sie die Chance bieten würde, die Eigentümlichkeit bestimmter nationaler<br />

Familienformen <strong>und</strong> damit auch neuer Lebensformen zu erfassen. Damit<br />

wäre eine weitere Herausforderung umschrieben, der sich die Familien<strong>soziologie</strong><br />

im Hinblick auf die neuen familialen Lebensformen zu stellen<br />

hätte.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Vgl. hierzu ausführlicher „Familiäre Veränderungen seit 1950 — eine empirische<br />

Studie", Abschlußbericht (gefördert von der Stiftung Volkswagenwerk.), Oldenburg<br />

1984.<br />

2 R. Vollmer: „Die soziale Gravitation von Familie <strong>und</strong> Beruf", in: Bedürfnisse — Stabilität<br />

<strong>und</strong> Wandel, hrsg. von K.O. Hondrich, Opladen 1983, S. 143 <strong>und</strong> 154.<br />

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Soziale Praxis <strong>und</strong> Urbanität angesichts einer Krise des Fortschritts<br />

Adalbert Evers<br />

Mit Blick auf die Referate meiner Kollegen Ulfert Herlyn <strong>und</strong> Dieter Keim<br />

drängt es mich, drei Proble<strong>mb</strong>ereiche noch etwas mehr zu konturieren, die<br />

von beiden angesprochen wurden:<br />

a) das Problem des Urbanen Raums als Produkt sozialer Praxis <strong>und</strong> Gegenstand<br />

einer Stadt<strong>soziologie</strong>,<br />

b) die Frage nach den Schlüsselelementen im Prozeß der Restrukturierung<br />

dieses Raums,<br />

c) der Zusammenhang von Stadt- <strong>und</strong> Planungskritik mit der 'Krise der<br />

Moderne'.<br />

'<br />

ad a)<br />

Im Unterschied zu den Positionen, die das Ende des städtischen Raumes als<br />

besonderer stadtsoziologischer Kategorie postulieren, wird sowohl bei Herlyn<br />

wie bei Keim die virtuelle Fruchtbarkeit der Kategorie 'Urbanität' hervorgehoben:<br />

„Zwar wird unsere Lebensweise weiter der industriell-modernen<br />

Rationalität ausgeliefert bleiben. Aber das Städtische daran, die städtischen<br />

Lebensformen werden dem Sozialen Grenzen <strong>und</strong> eine eigenständige<br />

Potentialität entgegensetzen" — so heißt es in dem von Keim vorgetragenen<br />

Beitrag. Herlyn kritisiert seinerseits Ansätze, die „der heutigen Stadt<br />

die lokale Identität schlechthin absprechen". Jenseits des Benennens <strong>und</strong><br />

Zusammentragens von Bruchstücken <strong>und</strong> Elementen zur Rekonstruktion<br />

eines Gegenstandes 'Urbanität' durch die beiden Kollegen müssen wir jedoch<br />

gemeinsam weiterfragen: Wo <strong>und</strong> wie hat die Negierung dieses Topos<br />

„Stadt" ihre Methode? Tatsächlich scheint mir der Springpunkt in der Frage<br />

zu liegen, wie weit man bereit ist, sich „durch die Einbeziehung von Subjektivität<br />

gegen eine strukturell objektivistische Methodologie in der Stadtforschung"<br />

zu wehren (Herlyn). Sieht man etwa die Stadt nur als ökonomisches<br />

Gebilde, genauer, als Agglomeration, so löst sie sich tatsächlich in<br />

räumlichen Austauschbeziehungen <strong>und</strong> Warenströmen auf, in denen etwas<br />

spezifisch Städtisches kaum mehr zu entdecken sein wird. Erst mit dem<br />

Blick auf Subjektivität, soziale Praxis, entdecken wir, in welch unterschiedlicher<br />

Weise es etwa in den USA <strong>und</strong> Europa (nicht) gelungen ist, eine solche<br />

Marktökonomie kulturell, sozial <strong>und</strong> politisch zu prägen <strong>und</strong> zu überformen,<br />

in der Weise, daß auf den genannten Ebenen sich „urbane Praxis"<br />

entwickelt hat. Es ist hier nicht der Platz zu erläutern, warum m.E. ein solches<br />

Basis-Überbau-Schema, auf das ich eben zurückgegriffen habe, in<br />

dem die Priorität einer Instanz (der ökonomischen) behauptet wird, nicht<br />

stimmig ist <strong>und</strong> ich es folglich vorziehen würde, noch einen Schritt weiter<br />

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zu gehen: <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung ganz <strong>und</strong> gar in Kategorien der<br />

(kulturellen, ökonomischen, sozialen <strong>und</strong> politischen) Praxis zu denken.<br />

Wenn <strong>und</strong> insoweit dies geschieht, läßt sich auch der Streit um die Realität<br />

des Urbanen auflösen: es hat dann keine strukturell garantierte Existenz,<br />

sondern diese hängt davon ab, ob, wo <strong>und</strong> wie Urbanität in den Praxen <strong>und</strong><br />

Diskursen der sozialen Akteure Realität <strong>und</strong> Gestalt gewinnt. So kennen<br />

wir historische Zusammenhänge wie die in weiten Teilen der USA, wo<br />

'Stadt' weder für ökonomische Planungen, noch Mobilitätsentscheidungen<br />

von Arbeitnehmern oder den Aufbau eines Netzes von Fre<strong>und</strong>schaftsbeziehungen<br />

oder den kulturellen Konsum signifikante Bedeutung hat <strong>und</strong><br />

überdies auch nicht als Gegenstand kollektiver Bemühungen, Aufbrüche<br />

<strong>und</strong> Proteste existiert. Gerade in vielen europäischen Ländern scheint mir<br />

aber heute das Gegenteil der Fall zu sein. Während auch hier die ökonomischen<br />

Praktiken mehrheitlich dahin tendieren, immer „gleichgültiger gegen<br />

Raum <strong>und</strong> Zeit" zu werden, häufen sich meines Erachtens andere Formen<br />

der praktischen Versuche, 'Stadt' als soziales Konstrukt, als Element eines<br />

gesellschaftlich verhandelten Lebensentwurfs zu denken <strong>und</strong> Wirklichkeit<br />

werden zu lassen. Um nur einige Beispiele zu nennen: Topoi wie das Quartier,<br />

das 'Recht auf Heimat' im Rahmen kultureller Orientierungen, konkreter<br />

aber auch im Sinne der Verteidigung gewisser 'Rechte auf Immobilität'<br />

in sozialen Auseinandersetzungen, bei Restrukturierungen von Arbeitsmärkten;<br />

die lokale Ebene als Ebene des Verhandeins, des Konflikts<br />

<strong>und</strong> des Entscheidens in Entwürfen zu einer politischen <strong>und</strong> administrativen<br />

Dezentralisierung. Auf all diesen Ebenen, so meine ich, gewinnt Urbanität<br />

als soziales Konstrukt an Bedeutung <strong>und</strong> sollte es somit auch als Gegenstand<br />

sozialwissenschaftlicher Verständigung <strong>und</strong> Forschung tun. Ein<br />

solcher <strong>gesellschaftliche</strong>r <strong>und</strong> gesellschaftswissenschaftlicher Bedeutungsgewinn<br />

des Städtischen entsteht aber nicht im Streit über 'Urbanität', verstanden<br />

als eine strukturelle a priori Kategorie, sondern im Aufspüren von<br />

Urbanität als einem immer wieder herzustellenden historischen <strong>und</strong> sozialen<br />

Konzept, das als solches nicht sein muß.<br />

ad b)<br />

Mehr als fraglich scheint es mir dabei allerdings zu sein, sich auf „die kollektive<br />

Konsumtion" als ein „wesentliches Merkmal städtischer Lebensweise"<br />

zu beziehen, wie das bei Keim in der Rezeption (älterer) französisch/<br />

englischer Theoretisierungen des Urbanen geschieht. Mit dieser Kategorie<br />

wurde in den Rang einer objektiven langfristigen Tendenz gehoben, was<br />

sich heute als durchaus reversible, historische Erscheinung darstellt: die<br />

Übernahme von immer mehr sozialen Tätigkeiten <strong>und</strong> Reproduktionselementen<br />

(Bildung, Erziehung, Ges<strong>und</strong>heit, etc.) in die staatlich-professionelle<br />

Regie. Heute ist aber nicht nur die Objektivität der angeblich „zunehmenden<br />

Vergesellschaftung der Konsumtion*" zu hinterfragen, sondern auch<br />

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die Einseitigkeit einer Betrachtungsweise, die ein Element von Reproduktions-<br />

<strong>und</strong> Lebensweisen gegenüber anderen zu privilegieren suchte. Entdecken<br />

wir demgegenüber nicht, welche große Bedeutung z.B. die informellen<br />

Ökonomien kleiner Einheiten (im familiären Umfeld, in Selbsthilfegruppen,<br />

etc.) haben <strong>und</strong> daß erst in der Neuzusammensetzung von (a) bezahlter<br />

Arbeit, (b) informellem Tätigsein <strong>und</strong> dem Mittun bei der (c) kollektiven<br />

Konsumtion als der (Ko-)Produktion sozialer Dienste sich die Veränderung<br />

von Lebensweisen erschließen läßt? Alle drei Elemente in ihrer Verknüpfung<br />

<strong>und</strong> Bedeutung für veränderte städtische Lebensweisen zu thematisieren<br />

scheint mir weit fruchtbarer zu sein, als eines davon in einem theoretischen<br />

Konstrukt aufzugreifen, von dem sich seine Protagonisten schon<br />

indirekt distanziert haben (R.E. Pahl z.B. forscht heute vor allem über informelle<br />

Ökonomie).<br />

ad c)<br />

Im Rückblick auf das Konzept der 'kollektiven Konsumtion' erkennen wir<br />

aber gleichzeitig etwas von dem wieder, was der Kollege Eckart Pankoke als<br />

verbindendes Moment für die Beiträge der einzelnen Sektionen herauszuarbeiten<br />

suchte: die Krise der industriellen Moderne, eine Distanz zu ihr, die<br />

auch als Chance ihrer Reflektion verstanden werden kann. Denn mit der<br />

Idee der „Vergesellschaftung der Konsumtion" — konkret der Ausbreitung<br />

einer Stadt <strong>und</strong> Gesellschaft, die mehr <strong>und</strong> mehr strukturiert werden durch<br />

professionelle öffentliche <strong>und</strong> soziale Dienstleistungen, die uns 'Arbeit abnehmen'<br />

— leuchtete einmal mehr ein Fortschrittskonzept auf, nach dem<br />

die Wirklichkeit einer post-kapitalistischen Gesellschaft schon im Schoße<br />

der entfalteten kapitalistischen Produktionsverhältnisse heranreift. In der<br />

Kritik der Grenzen einer Professionalisierung <strong>und</strong> Verstaatlichung von Zuwendung<br />

('care') hat solche Distanz zum Fortschrittsentwurf der industriellen<br />

Moderne, in dem sich herrschende Gruppen <strong>und</strong> soziale Bewegung als<br />

Arbeiterbewegung trafen, konkret faßbare Gestalt angenommen. Keim beruft<br />

sich nun in seinem Beitrag auf Lefèbvre <strong>und</strong> dessen Kritik des Urbanismus<br />

als einer Ideologie <strong>und</strong> Handlungsform von Spezialisten <strong>und</strong> Professionellen,<br />

die die urbane Praxis (verstanden als die ökonomischen, sozialen,<br />

kulturellen <strong>und</strong> politischen Diskurse <strong>und</strong> Praktiken, in denen die sozialen<br />

Akteure dem Urbanen Gestalt verleihen) hemmen, insofern sie sie im 'Stadt-<br />

Plan' ersetzen zu können meinen. Gerade unter dem Aspekt der „Krise<br />

der Modernität" lohnt es sich hier etwas genauer hinzuschauen. Man findet<br />

dann nämlich bei Lefèbvre die Keime einer im Namen „urbaner Praxis" geführten<br />

Kritik jener Fortschrittspraxis, die im Zeichen der Moderne durchaus<br />

von Links <strong>und</strong> Rechts geteilt worden ist. Da ist zum einen die Kritik<br />

einer Idee vollkommener Ordnung des Gesellschaftlichen, einer Vorstellung<br />

also, die gerade im sozialistischen Denken immer zentral gewesen ist. „Die<br />

Illusion der Philosophie besteht darin", schreibt Lefèbvre, „daß der Philo-<br />

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soph glaubt, er könne die ganze Welt in ein — sein — System einschließen ...<br />

Von dem Augenblick an, da bei der Systematisierung der Gedanken einer<br />

endlosen Fähigkeit zur Vervollkommnung mit dem Gedanken der dem System<br />

als solchen immanenten Vollkommenheit in Konflikt gerät, geht die<br />

philosophische Illusion ins Bewußtsein ein ... Wie die klassische Philosophie<br />

will der Urbanismus ein System sein. Er glaubt, eine neue Totalität umfassen,<br />

in sich einbeziehen, besitzen zu können." Gleichzeitig verweist Lefèbvre<br />

auf die damit verknüpfte Illusion des Staates <strong>und</strong> der Planung — <strong>und</strong> wer<br />

wäre ihr näher gewesen als der jahrzehntealte sozialistische Diskurs über eine<br />

rational geplante Stadt <strong>und</strong> Gesellschaft? ,,Die Illusion des Staates besteht<br />

aus einem kolossalen <strong>und</strong> lächerlichen Projekt", schreibt Lefèbvre.<br />

„Der Staat soll imstande sein, die Angelegenheiten von Dutzenden von Millionen<br />

von Subjekten zu leiten ... Der Staat als Vorsehung, als personifizierte<br />

Gottheit wird zum Mittelpunkt aller Dinge <strong>und</strong> des irdischen Gewissens."<br />

Dementsprechend, so argumentiert Lefebvre, entgleite auch dem Stadtplaner<br />

tendenziell jede urbane Praxis. Er glaubt sie durch den Plan ersetzen zu<br />

können. „Er untersucht sie nicht. Für den Urbaniker ist diese Praxis eben<br />

das Blindfeld." (Alle Zitate: Lefèbvre 1972, 162/63).<br />

In der Konkretisierung <strong>und</strong> Entfaltung derartiger radikaler <strong>und</strong> (selbstkritischer<br />

Überlegungen, wie sie Lefèbvre's Urbanismus-, Technokratie- <strong>und</strong><br />

damit auch Modernitätskritik bereits am Anfang der 7Oer-Jahre vorgetragen<br />

hat, besteht, so meine ich, die wichtige Aufgabe einer Stadt <strong>und</strong> Stadtplanungs<strong>soziologie</strong>,<br />

die die Krise der Modernität mit Blick auf das Urbane<br />

ernst- <strong>und</strong> aufzunehmen sucht (als Versuch vgl.: Evers 1985). Folgt sie dabei<br />

einem Gesellschafts- <strong>und</strong> Stadtbegriff, in dem die „soziale" <strong>und</strong> „urbane<br />

Praxis" das Schlüsselelement bilden <strong>und</strong> nicht mehr zuerst das Denken in<br />

Strukturen, Ordnungen <strong>und</strong> Institutionen, dann wäre das auf dem spezifischen<br />

Feld der Stadt<strong>soziologie</strong> eine (wie ich meine, positive) Antwort auf<br />

jene allgemeinere Frage, die Alain Touraine auf dem letzten Soziologentag<br />

in Ba<strong>mb</strong>erg 1982 so formulierte: Soziale Bewegungen — Spezialgebiet oder<br />

zentrales Problem soziologischer Analyse?<br />

LITERATUR<br />

Evers, Adalbert 1985: „Konflikt <strong>und</strong> Konsens in der Stadtplanung, oder: sich auseinandersetzen<br />

heißt auch sich nahekommen", in: Kreuder/Loewy (Hg.): Konservativismus<br />

in der Strukturkrise, Frankfurt a.M.<br />

Lefèbvre, Henri 1972: Die Revolution der Städte, Frankfurt a.M.<br />

Touraine, Alain 1983: „Soziale Bewegungen — Spezialgebiet oder zentrales Problem soziologischer<br />

Analyse?" (Text eines Vortrages auf dem 21. Deutschen Soziologentag<br />

in Ba<strong>mb</strong>erg) in: Soziale Welt, Heft 2/1983.<br />

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Thomas Krämer-Badoni<br />

Im Prinzip — so scheint mir — ist der heute von den hier versammelten<br />

Sektionen beschrittene Weg richtig. Aber es ist ein Weg, der nicht leicht<br />

zu beschreiten sein wird <strong>und</strong> der in der Gefahr ist, an institutionellen<br />

Widerständen, professionellen Eifersüchteleien <strong>und</strong> Abgrenzungen zu<br />

scheitern. Denn immerhin bedeutet das Beschreiten dieses Weges notwendigerweise<br />

die Aufgabe partialisierter Soziologien, die an bestimmten<br />

Gegenständen ein theoretisch tragfähiges Gerüst zu entwickeln suchen.<br />

Ich möchte dies — aus taktischen Gründen die Grenzen der anderen<br />

Sektionen achtend — am Beispiel der Stadt<strong>soziologie</strong> verdeutlichen.<br />

Ulfert Herlyn hat eine durchaus zutreffende Beschreibung der Entwicklung<br />

der Stadt<strong>soziologie</strong> seit den 50er Jahren gegeben. Gleichwohl ließe<br />

sich an allen aufeinanderfolgenden Thematisierungen zeigen, daß es sich<br />

weniger um stadtspezifische als um gesellschaftsspezifische Themen handelt.<br />

Die Partialisierung von Lebensbereichen, thematisiert an der Funktionstrennung<br />

von Arbeiten <strong>und</strong> Wohnen, am Beispiel städtischer Neubauquartiere,<br />

ist ein Problem, das in ähnlicher Weise den Stadt-Land-<br />

Gegensatz mit seiner Pendlerproblematik charakterisierte <strong>und</strong> in vielen<br />

Regionen heute noch charakterisiert. Gleiches ließe sich an den Themen<br />

Nachbarschaft, Sanierung, Infrastruktur <strong>und</strong> anderen formulieren, daß<br />

es nämlich immer erst <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklungen sind, die Probleme<br />

<strong>und</strong> Problemlösungen produzieren, <strong>und</strong> zu diesen Problemen <strong>und</strong> Problemlösungen<br />

gehört die Stadt. Herlyn weiß das, wie die meisten Stadtsoziologen<br />

es wissen. Gleichwohl will Herlyn — wie ebenfalls die meisten Stadtsoziologen<br />

— am Gegenstandsbereich Stadt festhalten <strong>und</strong> beklagt die Theoriearmut<br />

der Stadt<strong>soziologie</strong>, die sich trotz weitreichender Entwürfe von<br />

Bahrdt, Mitscherlich u.a. in eben dieser Armut erhalten habe.<br />

Dieter Keim seinerseits bemüht sich, die Stadt als soziologischen Gegenstandsbereich<br />

durch die Konzeptualisierung einer Forschungsperspektive<br />

zu erhalten <strong>und</strong> zieht zu diesem Zweck die theoretischen Entwürfe von<br />

Lefèbvre, Castells <strong>und</strong> Sa<strong>und</strong>ers heran. In diesen findet Keim die zentralen<br />

Konzepte — die kollektive Konsumtion, die basispolitische Interessendurchsetzung<br />

<strong>und</strong> die Zentralität —, die ihm ein Festhalten an der Stadt<strong>soziologie</strong><br />

theoretisch wie empirisch fruchtbar erscheinen lassen. Dabei liest sich<br />

übrigens die Beschreibung der Zentralität als „materiell nicht ablesbare<br />

ten Gegenständen ein theoretisch tragfähiges Gerüst zu entwickeln suchen.<br />

Ich möchte dies — aus taktischen Gründen die Grenzen der anderen<br />

aus professionellen <strong>und</strong> vielleicht anderen Gründen immer noch an etwas<br />

festhalten, über das wir mit Begriffen wie Lebenszusammenhang <strong>und</strong><br />

Lebensform längst hinauszielen. Nicht die Stadt, sondern die gesellschaftlich<br />

bestimmten Formen des Lebens sind es, die unseren eigentlichen<br />

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Gegenstand ausmachen. Zu diesen gehört auch das Stadtleben in seiner<br />

jeweiligen historischen Bestimmtheit. Gerade Herlyns Referat, das die<br />

Abfolge „städtischer" Probleme <strong>und</strong> deren Thematisierung in der Stadt<strong>soziologie</strong><br />

darlegt, zeigt deutlich, wie sehr „städtische" Probleme Produkte<br />

abstrakterer Problemlagen sind, seien dies Verwertungsprobleme, Veränderungen<br />

in der Sozialstruktur, in der Lohnarbeit, im Gefüge politischer<br />

Macht usf..<br />

Was also bleibt der Stadt<strong>soziologie</strong>? Castells hat die Frage „Is there<br />

an Urban Sociology?" mit einem eindeutigen , Jain" beantwortet. Insofern<br />

nämlich die Stadt als soziologisch definierte Einheit behauptet wird, ist<br />

sie nicht existent, gibt es folglich auch keine Stadt<strong>soziologie</strong>. Als reales<br />

Phänomen dagegen — Castells spricht von einem „real object" — ist die<br />

Stadt als eine Summe von Orten, in denen sich das tägliche Leben, die<br />

täglichen Kämpfe in ihrer <strong>gesellschaftliche</strong>n Bestimmtheit abspielen, sehr<br />

wohl vorhanden. Aber sie ist nicht als solche theoretisierbar. Viele Stadtsoziologen<br />

haben darauf richtig reagiert, indem sie einzelne Probleme an<br />

einzelnen Städten analysierten <strong>und</strong> sich mit ihren Analysen in den politischen<br />

Prozeß begeben haben. Das sollten wir auch weiter tun, <strong>und</strong> dazu<br />

brauchen wir gesellschaftstheoretische <strong>und</strong> gesellschaftsanalytische Orientierungen.<br />

Stadt<strong>soziologie</strong> ist — <strong>und</strong> damit möchte ich schließen — dann<br />

sinnvoll, wenn sie mit gesellschaftstheoretischer Orientierung konkrete<br />

Probleme analysiert, wenn wir also zuallererst Soziologen <strong>und</strong> dann erst<br />

Stadtsoziologen sind.<br />

Sozialpolitik <strong>und</strong> geschlechtsspezifische Arbeitsteilung: Für einen<br />

vollständigen Blick der Sozialpolitikforschung auf die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Organisation der Arbeit<br />

Marianne Weg<br />

Meine Anmerkungen zum Beitrag von Fritz Böhle sollen exemplarisch verdeutlichen,<br />

daß es für die Weiter<strong>entwicklung</strong> soziologischer Forschung<br />

notwendig <strong>und</strong> produktiv ist, theoretische Prämissen <strong>und</strong> analytische Ergebnisse<br />

der Frauenforschung aufzugreifen, um zu angemessenen Analysen<br />

auch <strong>und</strong> gerade für Themenbereiche zu kommen, die nicht explizit „Frauen<br />

<strong>und</strong>" benannt sind. Das gilt für Ansätze der Sozialpolitik-Analyse, aber<br />

genauso z.B. für die Industrie<strong>soziologie</strong>, etwa Belastungsforschung (vgl.<br />

Becker-Schmidt 1983).<br />

Mit vielen zentralen Aussagen in Böhles Ansatz hinsichtlich der risikohaften<br />

Entwicklungen im Beschäftigungssystem, bei Umfang <strong>und</strong> Struktur<br />

der Lohnarbeit, bin ich völlig einig. Ich teile auch Böhles Ausgangs-<br />

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these, daß (die) zentrale(n) Impulse für die Entwicklung der Sozialpolitik<br />

aus Problemen der Lohnarbeit kamen <strong>und</strong> kommen.<br />

Ich stelle aber fest, daß diese These <strong>und</strong> der auf ihr gründende Ansatz<br />

einer Sozialpolitik-Analyse erstens differenzierungsbedürftig sind <strong>und</strong> zweitens<br />

ergänzt werden müssen.<br />

Geschlecht — weiblich, männlich — <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Arbeit in<br />

allen Formen — Lohnarbeit, nichtentlohnte Hausarbeit <strong>und</strong> ehrenamtliche<br />

Sozialarbeit — sind keine für die Sozialpolitik-Analyse belanglosen Kategorien.<br />

Forschungsansätze, die für sich Allgemeinheit beanspruchen, müssen<br />

sie berücksichtigen. Sonst geraten sie in die Gefahr einer faktisch androzentrischen<br />

Sichtweise, die Wahrnehmungs- <strong>und</strong> Erkenntnisdefizite<br />

<strong>und</strong> entsprechende Handlungsdefizite mit sich bringt.<br />

Kurz: Der Ansatz der Sozialpolitik-Analyse, den Böhle vorgetragen<br />

hat, müßte von der Frauenforschung lernen <strong>und</strong> eine Reihe ihrer Prämissen,<br />

Thesen <strong>und</strong> bereits gewonnener Erkenntnisse, die ein wesentliches<br />

Strukturprinzip unserer Gesellschaft, die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung<br />

betreffen, aufnehmen. Das kann nicht ausgeglichen werden durch<br />

forschungsmäßige „Spezialisierung" <strong>und</strong> quasi Delegierung der „Frauenaspekte"<br />

im Zusammenhang sozialpolitischer Forschungsaufgaben an die<br />

Frauenforschung, die sich damit beschäftigen soll. Vielmehr müssen Ansätze<br />

der Frauenforschung bei der Weiter<strong>entwicklung</strong> der „allgemeinen"<br />

Sozialpolitik-Analyse integriert werden.<br />

Wie hätte das auszusehen?<br />

Gerade heute, angesichts der „Krise der Arbeitsgesellschaft", muß<br />

dringender denn je der Begriff <strong>gesellschaftliche</strong>r Arbeit vollständig gefaßt<br />

<strong>und</strong> differenziert werden, <strong>und</strong> zwar in Erwerbsarbeit <strong>und</strong> in nicht erwerbs-/<br />

marktorganisierte Arbeit. In diesem Zusammenhang ist der klassische<br />

Begriff der Reproduktionsarbeit kritisch zu wenden <strong>und</strong> breiter zu sehen<br />

(vgl. zu dieser Debatte Beer 1983, 136 ff.): Es geht nicht nur um die unentgeltlich,<br />

„privat" geleistete Arbeit zur Reproduktion der Arbeitskraft<br />

für das Kapital, sondern um sämtliche für die Gesellschaft produktiven<br />

Arbeitsleistungen zur Sicherung der Lebensbedürfnisse ihrer Mitglieder in<br />

Form privater Subsistenzarbeit. Die Erkenntnis, daß es verschiedene Bereiche<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Arbeit gibt, geleistet von unterschiedlichen Gruppen<br />

<strong>und</strong> Individuen innerhalb der Gesellschaft, ist den Frauen geläufig,<br />

die ja in allen Feldern beteiligt sind <strong>und</strong> vor allem in einem der Felder die<br />

Hauptlast, wenn nicht die alleinige Last tragen. Sie ist in Arbeiten der<br />

Frauenforschung mittlerweile differenziert herausgearbeitet worden. Inzwischen<br />

dringt sie — wenngleich langsam — auch in die links-alternative<br />

Diskussion um die „Zukunft der Arbeit" <strong>und</strong> der „Arbeitsgesellschaft"<br />

ein (vgl. den Entwurf der B<strong>und</strong>estagsfraktion der Grünen zu einem neuen<br />

Arbeitszeitgesetz).<br />

Dies vorausgeschickt, stimme ich Böhle also zu, daß die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Organisation der Arbeit die Probleme der Sozialpolitik <strong>und</strong> auch ihre<br />

Lösungsstrategien bestimmt. Zugr<strong>und</strong>egelegt werden muß jedoch dieser<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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erweiterte <strong>und</strong> differenzierte Arbeitsbegriff: Sozialpolitik hat nicht nur<br />

zu tun mit den Voraussetzungen <strong>und</strong> Folgen der Organisation von Lohnarbeit,<br />

vielmehr hat sie genauso zu tun mit der <strong>gesellschaftliche</strong>n Organisation<br />

der unbezahlten Arbeit im Familien- <strong>und</strong> Sozialbereich. Kriterien<br />

dieser ganz spezifischen Organisationsform sind: „privat", familial,<br />

in Teilbereichen auch außerfamilial, ehrenamtlich, d.h. nicht marktförmig,<br />

<strong>und</strong> vor allem in geschlechtsspezifischer, hierarchischer Arbeitsteilung.<br />

Relevant sind also die <strong>gesellschaftliche</strong>n Organisationsformen der<br />

Lohnarbeit <strong>und</strong> der Nicht-Lohnarbeit in der Familie <strong>und</strong> in ehrenamtlichen,<br />

sozialen Arbeitsbereichen <strong>und</strong> zwar nicht bloß nebeneinander, sondern<br />

in ihrem Verhältnis zueinander. Die letzteren können nicht als im Lohnarbeitsbegriff<br />

stillschweigend berücksichtigt gelten, indem ihre Strukturen<br />

<strong>und</strong> Entwicklungen auch als auf die Lohnarbeit sich auswirkend gedacht<br />

werden: Das wäre ein black-box-Denken, das dringend anstehende Erkenntnisfortschritte<br />

verhindert. Die Wissenschaft würde hiermit nachvollziehen<br />

anstatt aufzudecken, was schon immer <strong>und</strong> bis heute geschieht:<br />

Wer in der Gesellschaft aus dem Bereich der Lohnarbeit herausfällt, fällt<br />

auch aus der öffentlichen Wahrnehmung heraus.<br />

Wenn Sozialpolitik allein die Voraussetzungen <strong>und</strong> Strukturen der<br />

Lohnarbeit ins Auge faßt <strong>und</strong> an ihnen gestaltend anknüpft bzw. dies tun<br />

würde (sie tut es ja nicht so ausschließlich!), dann würde sie ex ante Chancengleichheit<br />

<strong>und</strong> soziale Gleichstellung für die Hälfte der Bevölkerung<br />

verfehlen: für die Frauen, die entweder wegen ihrer Familienarbeit von<br />

Lohnarbeit vollständig ausgeschlossen sind, oder die, wenn sie Erwerbsarbeit<br />

leisten, eine systematische Lohndiskriminierung wie auch andere berufliche<br />

Diskriminierung erfahren (Kurz-Scherf/Stahn-Willig 1981).<br />

Die Bedeutung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung <strong>und</strong> der<br />

gesamten <strong>gesellschaftliche</strong>n Arbeit der Frauen für die Sozialpolitik, <strong>und</strong><br />

somit auch für die Sozialpolitikforschung, wird an Beispielen unmittelbar<br />

einsichtig:<br />

— Zu fragen ist, welche der sozialen Risiken <strong>und</strong> Lebensbedürfnisse,<br />

die aus der Organisation der Lohnarbeit resultieren, die Sozialpolitik<br />

abdeckt, <strong>und</strong> welche Risiken sie nicht abdeckt, sondern dem sog. „privaten<br />

Sektor", konkreter: den Familien, noch konkreter: den Frauen<br />

überläßt. Das heißt etwa für aktuelle Tendenzen der Sozialpolitik: Warum<br />

<strong>und</strong> wie soziale Risiken zunächst durch Sozialpolitik zumindest partiell vergesellschaftet<br />

wurden (werden mußten) <strong>und</strong> nun im Rahmen konservativer<br />

Haushaltsstrategien reprivatisiert werden (können), hängt mit Strukturen<br />

<strong>und</strong> Entwicklungen der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung zusammen.<br />

Von Interesse ist dabei auch das ideologische Substrat der Sozialpolitik.<br />

— Wichtige Aspekte sozialer Lebensbedürfnisse wie z.B. Bildung für<br />

Kinder, soziale Kommunikation für Hausfrauen oder für Alte, Schutz<br />

vor familialer Gewalt, scheinen im „Reproduktionssektor" auf, die Gegenstand<br />

von Sozialpolitik sind <strong>und</strong> die nicht oder nicht direkt mit der Organisation<br />

von Erwerbsarbeit zu tun haben.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


— Bei gegenwärtigen Strategien sowohl kompensierender als auch wiedereingliedernder<br />

Arbeitsmarktpolitik wird zwar nirgendwo die Ausgrenzung<br />

von Frauen explizit formuliert. Gleichwohl ist sie systematisch nachweisbar<br />

(Weg 1984, a, b). Die Ausgrenzungen resultieren nicht aus allgemeinen<br />

Strukturen der Lohnarbeit, sie hängen mit Lohnarbeit nur<br />

insoweit zusammen, als bei dieser die Familienbelastung der Frauen diskriminierend<br />

gegen sie gekehrt wird. Restriktive Arbeitsmarktpolitik<br />

knüpft also daran an, daß Frauen unter den Bedingungen geschlechtshierarchischer<br />

Arbeitsteilung die unbezahlte Arbeit leisten. Diese Verteilungsstruktur<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Arbeit wird gegenwärtig durch die<br />

Kürzungen im Sozialbereich <strong>und</strong> die Ideologie der „neuen Mütterlichkeit"<br />

weiter verfestigt.<br />

Im übrigen trifft es Frauen systematisch häufiger, daß sie jahrelang<br />

Sozialversicherungsbeiträge gezahlt haben, dafür aber weder Arbeitslosenunterstützung<br />

noch Rente erhalten: Die Zuweisung der Familienarbeit<br />

<strong>und</strong> die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung innerhalb des Erwerbsbereichs<br />

machen Frauen so zu besonders „kostengünstigen" Arbeitslosen oder Rentnern.<br />

Wohlgemerkt: Für Einzelfragestellungen der Sozialpolitik-Analyse,<br />

etwa die historische Entwicklung der Sozialversicherungssysteme, die<br />

Funktion restriktiver Arbeitsmarktpolitik hinsichtlich der industriellen<br />

Reservearmee usw. liefert Böhles Ansatz zutreffende <strong>und</strong> relevante Ergebnisse.<br />

Trotzdem bleiben Fragen offen, etwa nach dem Stellenwert von<br />

Frauenerwerbsarbeit <strong>und</strong> Frauenarbeit insgesamt für diese Entwicklungen.<br />

Nicht analysierbar sind jedoch von Böhles Gr<strong>und</strong>these aus Probleme wie<br />

die folgenden:<br />

— Sozialpolitik geht, mit expliziten oder impliziten gesellschaftspolitischen<br />

Prämissen, über die Anknüpfung an die Organisierung der Lohnarbeit<br />

hinaus <strong>und</strong> knüpft de facto an Reproduktionsarbeit an. Das geschieht,<br />

indem sie diese als Leistung von Müttern, Schwestern, Töchtern für die<br />

Reproduktion der männlichen Arbeitskraft offen oder stillschweigend<br />

voraussetzt <strong>und</strong> hier <strong>gesellschaftliche</strong> Lösungen ausspart.<br />

— In Einzelfällen greift Sozialpolitik die Familienarbeit positiv auf,<br />

d.h. Sozialtransferleistungen für Frauen bewirkend. Ein Beispiel hier-,<br />

für ist die Anerkennung von Erziehungszeiten in der Rentenversicherung.<br />

Auch bei Wiedereingliederungsmaßnahmen im Arbeitsförderungsgesetz<br />

(§ 2, Ziffer 5 des AFG nennt als Ziel ausdrücklich die berufliche Wiedereingliederung<br />

von Frauen) oder bei der Invalidenrente fanden sich solche<br />

Ansätze. Genau diese sind aber im Zuge der konservativen Wende der<br />

Sozialpolitik zurückgeschnitten worden.<br />

— Von gr<strong>und</strong>legender theoretischer <strong>und</strong> praktischer Bedeutung wären<br />

Forschungsarbeiten zur Frage, welche quantitative <strong>und</strong> qualitative Bedeutung<br />

Sozialpolitik <strong>und</strong> unbezahlte Arbeit (der Frauen) wechselseitig<br />

füreinander haben, <strong>und</strong> wie die Bezüge zum frauen- <strong>und</strong> gesellschaftspolitischen<br />

Ziel der Chancengleichheit sind (vgl. Riedmüller in diesem Band).<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


— Bei einer Analyse des Mutterschaftsurlaubs zeigt sich die Verschränkung<br />

von Erwerbsarbeitsorganisation <strong>und</strong> Familienarbeitsorganisation als Ausgangspunkt<br />

sozialpolitischer Gestaltung. Die Gestaltung ist dabei eindeutig<br />

ein „Bis-hierher-<strong>und</strong>-nicht-weiter": Erleichterung, aber nicht Abbau der geschlechtsspezifischen<br />

Arbeitsteilung; letzteres hätte einen Elternurlaub verlangt<br />

<strong>und</strong> Umstrukturierungen des Lohnarbeitssektors.<br />

Die Beispiele zeigen, in welchen Richtungen von einem lohnarbeitszentrierten<br />

Ansatz der Sozialpolitik-Analyse aus die Gefahr von Themenausblendungen<br />

bzw. von unzutreffenden bzw. allenfalls partiell relevanten Ergebnissen<br />

besteht:<br />

Die besondere Betroffenheit von Frauen von positiven/expansiven wie<br />

von restriktiven Strategien der Sozialpolitik könnte weder gesehen noch erklärt<br />

werden. Aber es könnten auch die von hier aus sich spiegelbildlich für<br />

die Männer ergebenden Folgen nicht thematisiert werden: relative Privilegien<br />

im Berufsbereich, gleichzeitig aber auch Defizite in der Teilhabe an<br />

Familie, über Ehe <strong>und</strong> Familie als Zwangseinrichtungen laufende Disziplinierungen,<br />

Mitbetroffenheit von verschärften Arbeitsbedingungen, die die<br />

Unternehmen mittels der besonderen Ausbeutbarkeit von Frauen durchsetzen.<br />

Viele wichtige Themen würden somit nicht explizit zur Analyse anstehen.<br />

Darüber hinaus ist kritisch festzustellen, daß auch relevante Aussagen,<br />

die mit dem bisherigen Ansatz gewonnen werden, u.U. nur für gut 60 % der<br />

Erwerbstätigen, nämlich die männlichen Lohnarbeiter, nicht aber in gleicher<br />

Weise auch für die lohnarbeitenden Frauen Gültigkeit beanspruchen<br />

können. Selbst wenn die Sozialpolitik-Analyse nur z.B. nach den Auswirkungen<br />

sozialpolitischer Konzepte <strong>und</strong> tatsächlicher Maßnahmen für Erwerbstätige<br />

fragen will, ist plausibel <strong>und</strong> in verschiedenen Arbeiten nachgewiesen<br />

(Weg 1984a, Westphal-Georgi 1982), daß es neben offen geschlechtsspezifischen<br />

Maßnahmen (z.B. Kürzungen des Mutterschaftsurlaubsgeldes)<br />

Regelungen gibt, die, obwohl formal geschlechtsneutral, für<br />

Frauen <strong>und</strong> Männer massiv unterschiedlich wirken (z.B. Renten- <strong>und</strong> Arbeitslosengeld/-hilfekürzungen,<br />

die zu Sozialhilfebedürftigkeit führen; keine<br />

Wiedereingliederungsmaßnahmen der Arbeitsförderungspolitik für Nichtleistungsempfänger).<br />

Meine These ist, daß restriktive <strong>und</strong> repressive, individualisierende Prinzipienwechsel<br />

<strong>und</strong> Maßnahmenveränderungen der Sozialpolitik stärker gegen<br />

Frauen als gegen Männer wirken, <strong>und</strong> daß umgekehrt im Bereich positiver<br />

Hilfen (etwa Garantie einer materiellen Gr<strong>und</strong>sicherung), Sozialpolitik<br />

für Frauen weniger effektiv ist als für Männer. Beides sehe ich in der geschlechtsspezifischen<br />

Arbeitsteilung begründet. Dies wären wichtige Fragestellungen<br />

für die Sozialpolitik-Forschung.<br />

Sozialpolitik-Analyse sollte den folgenden Ansprüchen genügen:<br />

1. Sie soll aussagerelevant für die Bedeutung der Sozialpolitik für Frauen<br />

<strong>und</strong> Männer sein. Forschung, die gesellschaftspolitisch relevant sein<br />

will, darf nicht r<strong>und</strong> 40% der Erwerbstätigen, bzw. die Hälfte der Bevölkerung<br />

ausklammern.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


2. Sie soll differenziert alle wesentlichen Ursachen, Bedingungen <strong>und</strong> Folgen<br />

historischer <strong>und</strong> gegenwärtiger Sozialpolitikkonzepte <strong>und</strong> Maßnahmen<br />

untersuchen, <strong>und</strong> nicht nur diejenigen Ursachen, Bedingungen <strong>und</strong><br />

Folgen, die mit dem erwerbswirtschaftlichen Sektor der Gesellschaft zusammenhängen.<br />

3. Sie soll Gr<strong>und</strong>lagen zur konzeptionellen Weiter<strong>entwicklung</strong> der Sozialpolitik<br />

liefern, <strong>und</strong> zwar in der Richtung, die auch Böhle für eine Neuorientierung<br />

fordert: Die einzige Chance für die Zukunft der Arbeitsgesellschaft,<br />

<strong>und</strong> für die Zukunft von Männern <strong>und</strong> Frauen in ihr, ist eine<br />

radikale U<strong>mb</strong>ewertung <strong>und</strong> Umorganisation der Erwerbsarbeit <strong>und</strong> genauso<br />

der unbezahlten Arbeit: Gleichverteilung der reduzierten Volumina<br />

von Erwerbsarbeit, Erweiterung <strong>und</strong> Gleichverteilung von Möglichkeiten<br />

zu selbstbestimmter Arbeit in familialen, sozialen, kulturellen<br />

<strong>und</strong> politischen Zusammenhängen. Das muß — bei materieller Gr<strong>und</strong>sicherung<br />

<strong>und</strong> bei Chancen auch zur Revidierung von individuellen Lebens-<br />

<strong>und</strong> Arbeitsverteilungskonzepten — für beide Geschlechter, für<br />

alle sozialen Gruppen möglich sein.<br />

LITERATUR<br />

Becker-Schmidt, R., 1983: Arbeitsleben — Lebensarbeit. Konflikte <strong>und</strong> Erfahrungen<br />

von Lohnarbeiterinnen, Bonn.<br />

Beer, U., 1983: „Marxismus in Theorien der Frauenarbeit. Plädoyer für eine Erweiterung<br />

der Reproduktionsanalyse", in: Feministische Studien 2, S. 136-147.<br />

Kurz-Scherf, I., Stahn-Willig, B., 1981: „Gleiche Arbeit! Gleicher Lohn! - <strong>und</strong> wer<br />

macht die Hausarbeit? ", in: WSI-Mitteilungen 4.<br />

Weg, M., 1984a: „Dienen <strong>und</strong> Verzichten: Sozialabbau statt Gleichstellung der Frauen",<br />

in: WSI-Mitteilungen 1.<br />

Weg, M., 1984b: „Sozialabbau <strong>und</strong> neue Mütterlichkeit: Das Patriarchat verteilt die<br />

Arbeit um", in: MEMO-Forum. Zirkular der „Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik"<br />

Nr. 4, Bremen, Oktober 1984.<br />

Werlhof, C., von, Bennholdt-Thomsen, V., Mies, M., 1983: Frauen, die letzte Kolonie.<br />

Reinbek.<br />

Westphal-Georgi, U., 1982: Der Abbau sozialstaatlicher Maßnahmen in seinen Auswirkungen<br />

auf Mädchen. Expertise zum 6. Jugendbericht, Juni 1982.<br />

Neue familiale Lebensformen als Herausforderung der Soziologie<br />

Helgard Ulshoefer<br />

Lüscher hat ausgeführt, daß sich die gegenwärtig anzutreffende Vielfalt familiärer<br />

Lebensformen auch in einer Normenvielfalt bei den subjektiven<br />

<strong>und</strong> privaten Perspektiven der einzelnen Menschen niederschlägt. Ich sehe<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


meine Aufgabe darin, zu zeigen, daß sich staatliches Handeln gegenüber dieser<br />

Vielfalt familiären Zusammenlebens nicht neutral verhält, sondern durch<br />

institutionelle Regelungen — mit Hilfe des steuerlichen Ehe- <strong>und</strong> Familienlastenausgleichs<br />

<strong>und</strong> des Sozialversicherungssystems — ganz bestimmte Formen<br />

des Zusammenlebens <strong>und</strong> des generativen Verhaltens, d.h. der Familienbildung,<br />

belohnt <strong>und</strong> damit die von Lüscher als öffentlich bezeichnete<br />

Perspektive repräsentiert.<br />

Die institutionell erwünschte familiäre Lebensform werde ich unter Verwendung<br />

der in der feministischen Wissenschaft entwickelten Begrifflichkeit<br />

analysieren, d.h. ich werde die Familienarbeit, die sich zusammensetzt<br />

aus Beziehungsarbeit, Hausarbeit <strong>und</strong> Erziehungsarbeit in Relation setzen<br />

zu den Formen öffentlicher „Belohnung" <strong>und</strong> dabei aufzeigen, welche Arbeit<br />

finanziell gefördert wird <strong>und</strong> welche nicht.<br />

Wie das staatliche Unterstützungssystem, das aus Art. 6 GG abgeleitet<br />

wird (Ehe <strong>und</strong> Familie stehen unter dem besonderen Schutz des Staates),<br />

funktioniert, will ich zunächst an meiner eigenen familiären Lebensform<br />

deutlich machen: Ich lebe mit einem 23jährigen „Kind" zusammen, das<br />

studiert <strong>und</strong> deshalb von mir <strong>und</strong> dem Vater zu unterhalten ist (ob der Vater<br />

Unterhalt leistet oder nicht, interessiert für den Familienlastenausgleich<br />

überhaupt nicht). Ich erhalte daher 50,- DM Erstkindergeld — <strong>und</strong> das<br />

maximal bis zum 27. Lebensjahr des Kindes — <strong>und</strong> im indirekten steuerlichen<br />

Familienlastenausgleich über den Kinder- <strong>und</strong> Ausbildungsfreibetrag<br />

in der Steuerklasse 11,1 weitere 50,-- DM. D.h. ich werde mit 100,-- DM entlastet<br />

für Aufwendungen, die sich — gemessen am B<strong>und</strong>esausbildungsförderungsgesetz<br />

— auf mindestens 760,-- DM belaufen. Falls ich auf der Rückfahrt<br />

vom Soziologentag tödlich verunglücke, erhielte mein Kind Unterhaltsersatz<br />

aus meiner Rentenversicherung bis zum 25. Lebensjahr.<br />

Wenn ich dagegen gestern einen gleich alten, d.h. 23jährigen Studenten<br />

geheiratet hätte, den ich genauso unterhalten müßte wie mein Kind, würde<br />

ich im steuerlichen Ehelastenausgleich — bei einem Jahreseinkommen von<br />

70.000 DM (<strong>und</strong> diese Jahreslohnsumme erreichen die Beamten der Besoldungsgruppen<br />

A 13 bis 15 bzw. Cl bis C3 <strong>und</strong> die Angestellten von BAT<br />

IIa bis Ia) — monatlich 750,- DM weniger Lohnsteuer zahlen denn als Ledige.<br />

Würde ich aus dieser familiären Lebensform Ehe auf der Rückfahrt<br />

vom Soziologentag tödlich verunglücken, erhielte mein Ehemann Unterhaltsersatz<br />

aus meiner Rentenversicherung bis an sein Lebensende.<br />

Für welche Art von Familienarbeit wird der Ehelastenausgleich geleistet?<br />

Nicht für Hausarbeit <strong>und</strong> nicht für Erziehungsarbeit, sondern einzig<br />

<strong>und</strong> allein für Beziehungsarbeit! Dank des kirchlichen Dogmas von der<br />

Unauflöslichkeit der Ehe wird meinem Ehemann als Witwer solange Beziehungsarbeit<br />

honoriert, bis er wieder heiratet. Die dann noch fälligen<br />

zwei Jahresrenten „vergolden" den Verstoß gegen das Dogma.<br />

Die Ehe ist eine Erwerbs- <strong>und</strong> Wirtschaftsgemeinschaft. Deshalb wird<br />

im Steuerrecht davon ausgegangen, daß beide Ehepartner zu gleichen Teilen<br />

das Jahreseinkommen erwirtschaftet haben, auch wenn nur ein Ehegatte<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


erwerbstätig war. Das Jahreseinkommen wird nominal durch zwei geteilt,<br />

<strong>und</strong> erst dann wird der entsprechende Steuersatz angewandt. Dieses sog.<br />

Ehegattensplitting kostet zur Zeit 40 Mrd. DM. Für Kindergeld werden rd.<br />

17 Mrd. DM ausgegeben (siehe Sozialberichte der B<strong>und</strong>esregierung).<br />

Da feministische Wissenschaft immer auch feministische politische Strategie<br />

beinhaltet, muß ich an dieser Stelle alle Ehefrauen auffordern, sich<br />

die Hälfte des Jahreseinkommens auch anzueignen, d.h. auf ihr eigenes<br />

Konto überweisen zu lassen. Solange nicht erwerbstätige, teilzeitbeschäftigte<br />

<strong>und</strong> mit der Steuerklasse V erwerbstätige Ehefrauen sich mit Haushaltsgeld<br />

— <strong>und</strong> sei es noch so reichlich — begnügen, werden sich Ehemänner<br />

einbilden, daß sie allein den Familienunterhalt verdienen, daß sie Familienernährer<br />

seien.<br />

Nur durch Einsicht in eine Lohnsteuertabelle oder durch Konsultation<br />

einer Steuerberaterin erfahren sie, wieviel des monatlich ausgezahlten Lohnes<br />

Erwerbseinkommen <strong>und</strong> wieviel Steuerersparnis aus dem Ehegattensplitting<br />

sind. Während Kinder dem Staat — unterschieden nur nach der<br />

Stellung in der Geschwisterreihe — gleich viel wert sind, d.h. für Erst- <strong>und</strong><br />

Einzelkinder werden immer 50,-- DM Kindergeld im Monat gezahlt, erstattet<br />

der Staat für Ehegatten inzwischen bis zu 1.300,- DM monatlich, d.h.<br />

je höher das Einkommen, desto mehr reduziert sich die Steuerschuld, desto<br />

wertvoller wird die Beziehungsarbeit bewertet.<br />

Nur dann, wenn die Ehefrauen sich die Hälfte des Erwerbseinkommens<br />

angeeignet haben, können sie sich als nächstes ihre Erziehungsarbeit anrechnen<br />

lassen. Denn ein Elter kommt seiner Unterhaltspflicht durch Pflege<br />

<strong>und</strong> Erziehung des Kindes nach, der andere leistet Barunterhalt — solange<br />

keine Gleichverteilung der mütterlichen <strong>und</strong> väterlichen Aufgaben stattgef<strong>und</strong>en<br />

hat. Das klingt verwegen, wenn der erwerbstätige Vater aus seinem<br />

Einkommen Kindesunterhalt an die Mutter zahlen soll, die gleichzeitig seine<br />

Ehefrau ist. Aber in einer Gesellschaft, in der zunehmend mehr Ehen<br />

durch Scheidung enden, können sich die Ehepartner nicht früh genug an<br />

die Realitäten gewöhnen.<br />

Wenn die Ehegatten im Falle einer Scheidung aus der privilegierten<br />

Steuerklasse III herausfallen <strong>und</strong> zurückgestuft werden in die Steuerklasse<br />

I oder II, weil keine Beziehungsarbeit mehr stattfindet, die allein ja den<br />

Ehelastenausgleich begründet, dann muß ja auch festgelegt werden, wieviel<br />

Kindesunterhalt derjenige zu zahlen hat an den Elter, der die Erziehungsarbeit<br />

leistet. Ist diesem sorgeberechtigtem Elter eine Erwerbsarbeit nicht zuzumuten,<br />

muß Unterhalt für Erziehungsarbeit gezahlt werden.<br />

Von Wahlfreiheit zwischen Familie <strong>und</strong> Beruf kann überhaupt nicht die<br />

Rede sein. Das Scheidungsfolgenrecht versucht ganz im Gegenteil festzulegen,<br />

wann der sorgeberechtigten Mutter wieviel Erwerbstätigkeit zuzumuten<br />

ist, um die Unterhaltspflicht des Mannes zu senken.<br />

An dieser Stelle können wir der Frage nachgehen, wann eine Frau über<br />

den Heiratsmarkt ihren Lebensunterhalt besser sichern kann als auf dem<br />

Arbeitsmarkt, wann die ökonomische Verführung zur Eheschließung an-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


fängt — bei einem monatlichen Einkommen von 4.000 DM, das der Mann<br />

erzielt. Ich will damit nicht sagen, daß Frauen heute aus ökonomischen<br />

Gründen heiraten, sondern lediglich deutlich machen, daß sie ihren Kinderwunsch<br />

unter zeitweiser oder längerfristiger Aufgabe von eigener Erwerbstätigkeit<br />

nur unter solchen finanziellen Umständen realisieren können, weil<br />

im Ehelastenausgleich der Basisunterhalt (gemessen an Sozialhilfefällen)<br />

transferiert wird. Die von der B<strong>und</strong>esregierung propagierte Wahlfreiheit<br />

zwischen Beruf <strong>und</strong> Familienarbeit besteht nur für solche Frauen. Da Hausarbeit<br />

im Ehelastenausgleich überhaupt nicht zählt (die berufsunfähig werdende<br />

Hausfrau ist auch im neuen Rentengesetz wieder nicht vorgesehen),<br />

ist es ein Kuriosum, daß Hausarbeit in dem Augenblick bewertbar ist, wo<br />

die geschiedene Ehefrau Hausarbeit bei einem anderen Mann leistet. Ihr<br />

Unterhalt kann nämlich zur Zeit um 400,- DM gemindert werden!<br />

Das ab 01.01.1986 geplante neue Rentengesetz sieht für alle dann in<br />

Rente gehenden Mütter ein rentensteigerndes Erziehungsjahr für jedes ihrer<br />

Kinder vor, sofern sie in den ersten 12 Monaten nach der Geburt nicht erwerbstätig<br />

waren. Die CDU/CSU hatten 5 Jahre vor Regierungsantritt versprochen,<br />

damit wenigstens jede Mutter einen eigenen Rentenanspruch bekommt,<br />

nachdem sie diesen den Hausfrauen bzw. allen Ehefrauen ohnehin<br />

nicht gewähren wollte. Nun haben wir ein Jahr erhalten, weil alle Macht habenden<br />

Männer sich einig waren, daß im Rentenrecht Ehezeiten keine Berücksichtigung<br />

erfahren sollen <strong>und</strong> den erwerbstätigen Ehemännern nicht<br />

zugemutet werden sollte, für die nicht erwerbstätige Ehefrau einen zusätzlichen<br />

Rentenbeitrag abzuführen. Auf diese Art <strong>und</strong> Weise sind die Kosten<br />

nicht nur für die alten Menschen, sondern auch für Witwen <strong>und</strong> Witwer im<br />

erwerbsfähigen Alter kollektiviert, während die Kosten für Kinder auch bei<br />

der Einführung eines Babyjahres als individualisiert angesehen werden müssen.<br />

Die Bewertung der Erziehung von Kindern wird sogar als systemwidrige<br />

Leistung im Rentensystem bezeichnet <strong>und</strong> soll deshalb aus dem allgemeinen<br />

Steueraufkommen finanziert werden.<br />

Die Krise der lohnarbeitszentrierten Sozialpolitik <strong>und</strong> die Forderung nach<br />

einem garantierten Gr<strong>und</strong>einkommen. Drei Thesen<br />

Georg<br />

Vobruba<br />

I. Will man soziale Sachverhalte erklären, muß man ein Verständnis ihrer<br />

Entstehung entwickeln. Ich schlage vor, sozialstaatliche Sicherung<br />

als Phase im Wandel des Verhältnisses von „Arbeiten <strong>und</strong> Essen" —<br />

d.h.: von Arbeitseinsatz <strong>und</strong> Einkommensbezug — (vgl. Vobruba 1985)<br />

im Kapitalismus zu interpretieren.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Den Anforderungen des sich entwickelnden Industriekapitalismus folgte<br />

die Arbeitskraft keineswegs automatisch. Erst politischer Eingriff konnte<br />

sie dazu zwingen, sich als Lohnarbeit anzubieten, marktgängig zu werden.<br />

Dieser politische Eingriff schnitt den Arbeitskräften alle Zugänge zu arbeitsmarktexternen<br />

Lebenschancen ab <strong>und</strong> kanalisierte so ihr existentielles Interesse<br />

hin auf Lohnarbeit. In dieser ersten Phase wurde von den Besitzenden<br />

gegenüber den Armen mit dem Satz ernst gemacht, „wer nicht arbeitet,<br />

soll auch nicht essen". Armut wurde zum arbeitsmarktpolitischen Regulativ.<br />

Der Nexus von Arbeiten <strong>und</strong> Essen war un-bedingt.<br />

Die Errichtung von Sozialstaatlichkeit modifizierte den Nexus von Arbeiten<br />

<strong>und</strong> Essen. Dies bedeutete die Installierung eines widersprüchlichen<br />

Arrangements: Einerseits relativierte soziale Sicherung die Drohung der Armut,<br />

lockerte den Nexus. Andererseits mußte sozialstaatliche Sicherung so<br />

angelegt werden, daß sie die Lohnarbeitsbereitschaft nicht stört. Freilich,<br />

mit dem Ausweis dieses „einerseits-andererseits" allein ist nicht viel gewonnen.<br />

Ich will darum eine Formel anbieten, welche die Widersprüchlichkeiten<br />

des sozialstaatlichen Arrangements nicht bloß als A<strong>mb</strong>ivalenz notiert, sondern<br />

sie integriert zu fassen sucht: Sozialstaatliche Sicherung ist die Errichtung<br />

arbeitsmarktexterner Lebenschancen, die unter lohnarbeitszentrierten<br />

Vorbehalten stehen. Die Arbeitszentriertheit soll sichergestellt werden<br />

durch die Geltung der beiden Prinzipien: „erst arbeiten, dann ..." <strong>und</strong> „Arbeitsbereitschaft<br />

zeigen, damit ..." Muster des erstgenannten ist die Alterssicherung,<br />

Muster des letztgenannten ist die Sozialhilfe zum allgemeinen Lebensunterhalt.<br />

Die Arbeitslosenversicherung weist beide Voraussetzungen<br />

auf. Ich nenne diese zweite Phase die Phase des bedingten Nexus von Arbeiten<br />

<strong>und</strong> Essen.<br />

Jedenfalls als kategoriale Möglichkeit läßt sich hier schon andeuten: Die<br />

Entkoppelung von Arbeiten <strong>und</strong> Essen wäre eine dritte Phase, ein institutionelles<br />

Arrangement jenseits der spezifischen Widersprüchlichkeit sozialstaatlicher<br />

Sicherung. Über die soziale Möglichkeit der Realisierung dieser<br />

dritten Phase wird mit der Frage nach der Stabilität der zweiten — der<br />

Funktionstüchtigkeit lohnarbeitszentrierter Sozialpolitik — in der näheren<br />

Zukunft mitentschieden.<br />

II. Die nähere Zukunft wird eine Vertiefung <strong>und</strong> Verdeutlichung der<br />

doppelten Krise der Lohnarbeit bringen. Das arbeitszentrierte System<br />

soziale Sicherung wird durch die doppelte Krise der Lohnarbeit in Mitleidenschaft<br />

gezogen.<br />

In der Krise der Lohnarbeit treffen zwei Entwicklungen zusammen:<br />

Zum einen wird die Zahl der Lohnarbeitsplätze zunehmend quantitativ<br />

unzureichend. Der überwiegenden Zahl der Prognosen zufolge wird sich<br />

die Dauerarbeitslosigkeit noch verschärfen <strong>und</strong> bis in die Neunziger Jahre<br />

erhalten bleiben. Zum anderen werden die vorhandenen Arbeitsplätze zunehmend<br />

als qualitativ unzulänglich angesehen. Trotz Massenarbeitslosigkeit<br />

hält sich hartnäckig ein öffentlicher Diskurs, der die Qualität der industriellen<br />

Lohnarbeit ihrem Inhalt, ihren Rahmenbedingungen <strong>und</strong> ihren<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Begleiteffekten nach der Kritik unterzieht <strong>und</strong> Alternativen zur Sprache<br />

bringt. Diese Konstellation, in der beide Tendenzen zusammentreffen, nenne<br />

ich die „doppelte Krise der Lohnarbeit". (Vobruba 1983) In dieser Situation<br />

droht ein lohnarbeitszentriertes System sozialer Sicherung zunehmend<br />

leerzulaufen. Die Maxime „erst arbeiten, dann ..." ergibt keinen Sinn,<br />

wenn der Einzelne nicht mehr in der Lage ist, eine durchgängige Normal-<br />

Lohnarbeits-Biographie zustande zu bringen. Und die Maxime „Arbeitsbereitschaft<br />

zeigen, damit ..." wird prohibitiv, wenn Arbeitsbereitschaft aufgr<strong>und</strong><br />

des dauerhaften Arbeitsplatzmangels durch den Arbeitssuchenden<br />

nicht mehr belegbar ist, bzw. wenn sie durch Manipulationen am Zumutbarkeitsbegriff<br />

zur politischen Manövriermasse wird. (Vgl. Vobruba 1983a)<br />

Im Gefolge der quantitativen Seite der Krise der Lohnarbeit werden damit<br />

aus Zugangsvoraussetzungen, welche die Arbeitszentriertheit des Systems<br />

sozialer Sicherung absichern sollten, Zugangsbarrieren zum System. Die<br />

mit den genannten Maximen kontrafaktisch aufrechterhaltene Annahme,<br />

daß auf Dauer jede(r) Arbeitswillige/Arbeitsfähige einen Arbeitsplatz finde,<br />

kehrt sich gegen die Sicherungsbedürftigen. Sozialstaatliche Konsequenzen<br />

aus der qualitativen Seite der doppelten Krise der Lohnarbeit erwachsen<br />

dann, wenn die Nicht-Teilnahme an Lohnarbeit mit Versuchen unkonventioneller<br />

Beschäftigungsformen, Selbsthilfe etc. verknüpft wird. Daß das<br />

lohnarbeitszentrierte System sozialer Sicherung für die Nützlichkeit solcher<br />

Tätigkeiten <strong>und</strong> für die Anerkennungsbedürftigkeit „abweichender" Beschäftigungswünsche<br />

nur ein schwaches Sensorium ausgebildet hat, führt<br />

hier zu zwei Konsequenzen. Zum einen nimmt man mit dem Engagement<br />

in unkonventionellen Beschäftigungsformen das Risiko ungleich schlechterer<br />

sozialer Sicherung auf sich. Dies wird insbesondere dann problematisch,<br />

wenn — unter dem Druck der Dauerarbeitslosigkeit — es <strong>und</strong>eutlich wird,<br />

ob dieses Engagement freiwillig oder unfreiwillig erfolgt. Und zum anderen<br />

nehmen sich Versuche, dennoch am lohnarbeitszentrierten System sozialer<br />

Sicherung zu partizipieren, in dessen Logik notwendigerweise als Versuche<br />

des Mißbrauchs sozialstaatlicher Leistungen aus.<br />

Beide Aspekte der „doppelten Krise der Lohnarbeit" schlagen also in<br />

Sozialstaatsdefekte durch: Mit dem quantitativen Unzureichen der Lohnarbeitsmöglichkeiten<br />

werden aus den lohnarbeitszentrierten Zugangsvoraussetzungen<br />

zum System Zugangsschranken. Aus den qualitativen Unzulänglichkeiten<br />

der Lohnarbeit erwachsende Aktivitäten werden durch die<br />

spezifische Selektivität des lohnarbeitszentrierten Systems sozialer Sicherung<br />

mit unverhältnismäßig hohen Risiken belastet. Damit stellt sich die<br />

Frage nach Reorganisationsmöglichkeiten des Systems sozialer Sicherung,<br />

nach einem „U<strong>mb</strong>au des Sozialstaats". (Widersprüche 1984)<br />

III. Die Forderung nach einem garantierten Gr<strong>und</strong>einkommen ist Konsequenz<br />

der Funktionsverluste lohnarbeitszentrierter Sozialpolitik. Ein<br />

garantiertes Gr<strong>und</strong>einkommen könnte Kern eines neuen Paradigmas der<br />

Sozialpolitik sein, würde zugleich die Grenzen des herkömmlichen Sozialstaats<br />

transzendieren <strong>und</strong> insofern ihn „aufheben".<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Indiz dafür, daß ein garantiertes Gr<strong>und</strong>einkommen (vgl. Opielka, Vobruba<br />

1985) in seinen Konsequenzen die geläufigen Grenzen des Sozialstaats<br />

überschreiten würde, ist der Umstand, daß die Untersuchung von Sozialstaatsdefekten<br />

nur ein Anknüpfungspunkt unter mehreren für mögliche Argumentationen<br />

für ein garantiertes Gr<strong>und</strong>einkommen ist.<br />

A. Der sozialpolitische Anknüpfungspunkt<br />

Wenn es stimmt, daß das lohnarbeitszentrierte System sozialer Sicherung<br />

zunehmend leerläuft, dann genügt schon die Besinnung auf die kompensatorische<br />

Sozialstaatsprogrammatik, um die Notwendigkeit arbeitsunabhängiger<br />

Sicherungsmechanismen einzusehen. Zugleich böte eine lohnarbeitsunabhängige<br />

soziale Sicherung all jenen Tätigkeiten, die in Reaktion auf die<br />

qualitativen Unzulänglichkeiten von Lohnarbeit entstehen, verbesserte Entfaltungschancen<br />

(vgl. Greven 1984). Dazu kommt noch, daß die Verallgemeinerung<br />

einer materiellen Basissicherung zum Abbau von sozialstaatlich<br />

bewirkten, gesellschaftspolitisch in hohem Maße problematischen, Interessenprofilen<br />

beitragen könnte. Dies betrifft insbesondere den Interessengegensatz<br />

zwischen Arbeitenden <strong>und</strong> Arbeitslosen in ihrer Eigenschaft als potentiell<br />

<strong>und</strong> akut an Sicherungsleistungen Interessierten: Ersteren muß die<br />

Inanspruchnahme der Leistungen durch letztere als Verschleudern ihrer<br />

Beitragsleistungen <strong>und</strong> als Verletzung ihres Interesses an der langfristigen<br />

Stabilität des Versicherungsfonds erscheinen. (Vgl. Vobruba 1985) Publizistische<br />

Beliebtheit <strong>und</strong> Popularität des Mißbrauchsverdachts bezeugen<br />

die Existenz dieses Interessengegensatzes.<br />

B. Der verteilungspolitische Anknüpfungspunkt<br />

Von der Krise der Arbeitsgesellschaft (vgl. Matthes 1983) ist gemeinhin in<br />

dem Sinn die Rede, daß zunehmende Arbeitsproduktivität dazu führt, daß<br />

sich das BSP-Wachstum vom Beschäftigungswachstum abkoppelt, <strong>und</strong> der<br />

Arbeitsmarkt somit für die Arbeitsfähigen/Arbeitswilligen seine Funktion<br />

verliert. (Vgl. Berger, Offe 1982) Es müsse daher, so wird gefolgert, die Verteilungsfunktion<br />

des Arbeitsmarktes durch andere Mechanismen der Güterverteilung<br />

ergänzt werden. Die hier gr<strong>und</strong>gelegte These einer Produktion-<br />

Produktivitäts-Schere ist für die letzten 10 bis 15 Jahre empirisch kaum<br />

haltbar. (Vgl. MittAB 1/1983:8) Jedenfalls läßt sich die Arbeitslosigkeit in<br />

ihrem Gesamtausmaß damit nicht erklären. Doch muß man diesen Umstand<br />

nicht als Argument gegen die Entkoppelung von Arbeiten <strong>und</strong> Essen gelten<br />

lassen. Ich nenne dafür zwei Gründe. Zum einen spricht alle Voraussicht dafür,<br />

daß in näherer Zukunft erhebliche, zur Zeit in Latenz liegende, Rationalisierungsmöglichkeiten<br />

realisiert werden. (Vgl. Kern, Schumann 1984)<br />

Dann stellt sich nur noch die Frage nach der Alternative zwischen einer po-<br />

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litisch kalkulierten <strong>und</strong> kontrollierten Entkoppelung von Arbeiten <strong>und</strong><br />

Essen oder einer, die unkontrolliert — als noch zunehmende Massenarbeitslosigkeit<br />

— ins Kraut schießt. Zum anderen läßt sich der Hinweis auf<br />

Wirtschaftswachstum trotz hoher Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> (leichtem) Rückgang<br />

der Beschäftigung als Indiz für eine in der Krise ungebrochene Leistungsfähigkeit<br />

des ökonomischen Systems nehmen (vgl. Berger 1984)<br />

<strong>und</strong> daran die Schlußfolgerung knüpfen, daß ein solches System Abschöpfungen<br />

eines Teiles seines out-puts <strong>und</strong> dessen Verteilung nach anderen als<br />

den Regeln des Arbeitsmarktes durchaus verkraftet. Arbeitslosigkeit (egal<br />

woher sie kommt) bei steigendem Produktions- <strong>und</strong> Produktivitätsniveau<br />

weist somit darauf hin, daß die Einführung eines garantierten Gr<strong>und</strong>einkommens<br />

möglich ist, selbst wenn man seine Notwendigkeit anders, etwa:<br />

sozialpolitisch, begründet.<br />

C. Der arbeitsmarktpolitische Anknüpfungspunkt<br />

Schließt man die Steigerung der Nachfrage nach Arbeitskräften als allein<br />

tragfähige Strategie zur Beseitigung der Massenarbeitslosigkeit aus, so bleiben<br />

— auf die Angebotsseite des Arbeitsmarktes zielend — prinzipiell zwei<br />

Maßnahmenbündel: 1. Umverteilung von Arbeitsvolumina durch Arbeitszeitpolitik.<br />

2. Schaffung arbeitsmarktexterner Lebenschancen zwecks<br />

freiwilliger Verringerung des Angebots an Arbeitskräften. Stellt sich nun<br />

heraus, daß — aus welchen Gründen auch immer — sich auf arbeitszeitpolitischem<br />

Wege allein ein hoher Beschäftigungsstand nicht realisieren<br />

läßt, bleibt als flächendeckende Strategie zur Entlastung des Arbeitsmarktes<br />

nur das garantierte Gr<strong>und</strong>einkommen. Dabei geht es insbesondere um die<br />

Chance, freiwillige Arbeitszeitumverteilungspotentiale zu aktivieren, die<br />

— gerade in der Beschäftigungskrise — durch Sicherheitsmotive <strong>und</strong> Besitzstandswahrungs-Mentalität<br />

verschüttet sind: eben dann also, wenn sie am<br />

dringendsten benötigt würden.<br />

LITERATUR<br />

Berger, Johannes 1984. „Alternativen zum Arbeitsmarkt". In: MittAB 17. Jg. 1/1984.<br />

—, Claus Offe 1982. „Die Zukunft des Arbeitsmarktes. Zur Ergänzungsbedürftigkeit<br />

eines versagenden Allokationsprinzips". In: Gerd Schmidt, Hans-Joachim Braczyk,<br />

Jost von dem Knesebeck (Hg.), Materialien zur Industrie<strong>soziologie</strong>. Sonderheft<br />

24 der KZFSS. Opladen.<br />

Greven, Michael Th. 1984. „Der 'hilflose' Sozialstaat <strong>und</strong> die hilflose Sozialstaatskritik".<br />

In: Vorgänge 67. <strong>München</strong>.<br />

Kern, Horst, Michael Schumann 1984. Das Ende der Arbeitsteilung? <strong>München</strong>.<br />

Matthes, Joachim (Hg.) 1983. Krise der Arbeitsgesellschaft? Verhandlungen des 21.<br />

Deutschen Soziologentages in Ba<strong>mb</strong>erg. Frankfurt, New York.<br />

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Opielka, Michael, Georg Vobruba (Hg.), Das garantierte Gr<strong>und</strong>einkommen Entwicklung<br />

<strong>und</strong> Perspektive einer Forderung. Frankfurt 1985.<br />

Vobruba, Georg 1983. „Arbeitszeitpolitik als Gesellschaftspolitik". In: Emmerich<br />

Talos, Georg Vobruba (Hg.), Perspektive der Arbeitszeitpolitik. Wien.<br />

—, 1983a. Politik mit dem Wohlfahrtsstaat. Frankfurt.<br />

—, 1985. „Arbeiten <strong>und</strong> Essen. Die Logik im Wandel des Verhältnisses von <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Arbeit <strong>und</strong> existentieller Sicherung im Kapitalismus". In: Stephan Leibfried,<br />

Florian Tennstedt (Hg.), Politik der Armut. Frankfurt.<br />

Widersprüche 1984. Nr. 12, U<strong>mb</strong>au des Sozialstaats. Offenbach.<br />

Sozialpolitik aus arbeitspolitischer Sicht<br />

Rolf Rosenbrock<br />

Ich halte den Vorschlag von Fritz Böhle, den weithin von Politik <strong>und</strong><br />

Wissenschaft dethematisierten Zusammenhang zwischen Produktionsprozeß,<br />

Lohnarbeit <strong>und</strong> Sozialpolitik wieder als zentralen Ausgangspunkt<br />

für sozialpolitische Analysen aufzugreifen, für notwendig, überfällig <strong>und</strong><br />

richtungweisend. Als Sozialpolitikforscher aus einem Institut, das sich mit<br />

Arbeitspolitik, also mit Entwicklungsproblemen der Erwerbsarbeit <strong>und</strong><br />

deren <strong>gesellschaftliche</strong>r Regulierung befaßt, fällt mir dieses Kompliment<br />

nicht schwer.<br />

Ich möchte im Anschluß an Böhle einige Bemerkungen zur Realanalyse<br />

der gegenwärtig propagierten <strong>und</strong> politisch bereits exekutiv gewendeten<br />

Krise des Sozialstaats machen.<br />

Sozialpolitik besteht historisch-genetisch <strong>und</strong> wesentlich darin, die<br />

materiellen Voraussetzungen <strong>und</strong> Folgen von Lohnarbeit abzusichern. Im<br />

Kern geht es darum, die materielle Reproduktion im Lebens- <strong>und</strong> Generationsablauf<br />

der auf abhängige Arbeit angewiesenen Schichten der Bevölkerung<br />

in solchen Phasen <strong>und</strong> Lebenslagen abzusichern, in denen dies<br />

durch Lohnarbeit nicht oder nicht ausreichend möglich ist. Instrumente<br />

dazu sind <strong>gesellschaftliche</strong> (d.h. bei uns: staatliche <strong>und</strong> parastaatliche)<br />

Finanzierung, Normierung <strong>und</strong> Institutionen. Sozialpolitik ist also einerseits<br />

mehr als kurzfristige Überbrückungshilfen <strong>und</strong> Reparaturleistungen<br />

für die Ware Arbeitskraft, sie setzt aber andererseits keineswegs die zentrale<br />

Rolle der Lohnarbeit für die Reproduktion der Gesellschaft außer Kraft.<br />

Nicht erst seit der Übernahme keynesianischer Elemente in die Wirtschaftspolitik,<br />

sondern schon seit den Tagen der Bismarckschen Sozialgesetzgebung<br />

folgt die Entwicklung der dafür eingesetzten Systeme weniger<br />

der evolutionären Entwicklungslogik einer gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>n Modernisierung,<br />

sondern ist vielmehr Gegenstand kämpferischer Auseinandersetzungen<br />

zweier „Sozialgestalten" <strong>und</strong> „Sozialideen". Die dabei erreichten<br />

Kompromißgleichgewichte sind stets labil, weil ihnen unterschiedliche<br />

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Interessen zugr<strong>und</strong>e liegen <strong>und</strong> ihre jeweilige Ausprägung von den aktuellen<br />

Kräfteverhältnissen abhängig ist. Die andere Seite des Kompromisses<br />

besteht darin, daß die Gestaltungsautonomie bzw. Prärogative der Unternehmen<br />

in bezug auf Investition, Produktion <strong>und</strong> Arbeitskräfteeinsatz<br />

weitgehend unangetastet bleibt.<br />

Dieser Kompromiß scheint in der B<strong>und</strong>esrepublik derzeit in seinem<br />

Kernbestand gefährdet. Dabei deutet sich ein gr<strong>und</strong>legender Wandel in<br />

der wechselseitigen Beziehung zwischen Produktions- <strong>und</strong> Sozialpolitik<br />

an, bei dem die <strong>gesellschaftliche</strong> Bezugsgröße für sozialstaatliche Leistungen<br />

von der Sicherung eines angemessenen Reproduktionsniveaus hin zur<br />

Durchsetzung der Verfügbarkeit von Arbeitskraft zu verschlechterten<br />

Konditionen des Arbeitsvertrages wechselt. Der innere Zusammenhang<br />

zwischen Produktions- <strong>und</strong> Sozialpolitik wird dabei keineswegs aufgelöst,<br />

sondern auf einem neuen, sozialstaatlich erheblich niedrigeren Niveau<br />

restrukturiert. Die politische Bedingungskonstellation hierfür liegt im<br />

Zusammentreffen von drei Entwicklungen bzw. Strategien, die durch die<br />

Massenarbeitslosigkeit auf stabil hohem Niveau teils erst ermöglicht werden,<br />

teils diese erst bewirken oder vergrößern:<br />

— Zum einen werden die Tiefs in den Konjunkturzyklen, seit sie auch in<br />

der B<strong>und</strong>esrepulbik wieder real erfahrbar geworden sind, benutzt, um das<br />

Verhandlungs- <strong>und</strong> Durchsetzungspotential der Lohnabhängigen bei Aushandlungs-Prozessen<br />

innerhalb <strong>und</strong> außerhalb der Produktion zu schwächen.<br />

Dies ist freilich normal, gehört zum „business as usual" des Wirtschaftssystems<br />

<strong>und</strong> wird unter den Bedingungen einer „nur" zyklischen<br />

Wirtschafts<strong>entwicklung</strong> in Phasen des Hochs meist wieder ausgeglichen.<br />

— Eine Verschärfung erhält diese Entwicklung aus dem zyklusüberlagernden<br />

Trend der Verringerung des in Lohnarbeit zu verrichtenden Arbeitsvolumens<br />

in der Gesellschaft durch neue Technologien <strong>und</strong> Organisationsformen<br />

(Produktions-Produktivitäts-Schere) sowie — als Krisenfolge —<br />

durch sinkende Massenkaufkraft. Auch diese Prozesse müßten bei entsprechender<br />

politischer Bearbeitung innerhalb des Wirtschaftssystems<br />

nicht zu Massenarbeitslosigkeit führen, Fritz Böhle hat Richtungen möglicher<br />

Problemlösungen angedeutet.<br />

— Ihre besondere Brisanz aber erhalten diese Entwicklungen aus der Tatsache,<br />

daß diese Probleme in allen kapitalistischen Industrienationen zwar<br />

nicht gleichzeitig, im Effekt aber gleichartig aufgetreten sind <strong>und</strong> in gleicher<br />

Weise wirtschaftspolitisch bearbeitet werden. Das erschwert — wegen der<br />

gewachsenen Synchronität der Konjunkturzyklen — nicht nur wirksam<br />

kompensatorische Exportstrategien, sondern schafft vor allem eine Situation,<br />

in der die nationalen Wirtschaftspolitiken sich auf enger werdenden<br />

Weltmärkten gegenseitig tendenziell blockieren <strong>und</strong> deshalb auch dort<br />

keine Lösung ihrer inneren Wirtschaftsprobleme finden können.<br />

Man muß keine abschließende Bewertung über das komplexe Verhältnis<br />

zwischen Ökonomie <strong>und</strong> Politik auf der Makro-Ebene vornehmen, um zu<br />

der Feststellung zu gelangen, daß für die Bearbeitung dieser Gemengelage<br />

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ökonomischer Probleme auch innerhalb des bestehenden Wirtschaftssystems<br />

durchaus unterschiedliche politische Optionen existieren.<br />

Bezüglich der derzeit international dominanten, angebotsorientierten<br />

Wirtschaftspolitik kann wohl unbestreitbar festgestellt werden: Diese<br />

Politik (sie mag auch neoklassisch, monetaristisch oder neoliberal genannt<br />

werden) verfolgt nicht das Ziel, die Massenarbeitslosigkeit tatsächlich<br />

zu beseitigen:<br />

Wenn als wesentliche Krisenursache gesamtwirtschaftlich eine zu hohe<br />

Lohn- <strong>und</strong> eine zu niedrige Gewinnquote oder einzelwirtschaftlich eine<br />

leistungshindernde Inflexibilität der individuellen Lohnhöhe diagnostiziert<br />

wird („Mindestlohn-Arbeitslosigkeit", „mangelnder Leistungsbezug<br />

der Lohnstruktur"), dann müssen diese Löhne eben gesenkt bzw. flexibilisiert,<br />

d.h. noch stärker differenziert werden. Das geht in liberal verfaßten<br />

Gesellschaften — schließt man eine planmäßig inflationistische Wirtschaftspolitik<br />

aus — nur über a) eine Schwächung der Verhandlungsmacht<br />

der Gewerkschaften, <strong>und</strong> dies am besten durch b) eine breite Reservearmee.<br />

Auf diese Interessenlage hat Kalecki bereits 1943 hingewiesen.<br />

Wenn als wichtigstes Erholungs- <strong>und</strong> Expansionsfeld für die nationale<br />

Ökonomie der Weltmarkt vor allem für Produkte mit avancierter Technologie<br />

angesehen wird (<strong>und</strong> nur in zweiter Linie der Binnenmarkt), dann<br />

muß — aus der Sicht der Akteure einer solchen Politik — das Gegenargument<br />

sinkender konsumptiver <strong>und</strong> öffentlicher Nachfrage durch Fortfall<br />

bzw. Senkung von Lohn- <strong>und</strong> Transfereinkommen nicht mehr so ernst<br />

genommen werden.<br />

Dann müssen vielmehr <strong>und</strong> statt dessen die Voraussetzungen dafür<br />

geschaffen werden, daß die für die Umstrukturierung des Produktionsprozesses<br />

als notwendig angesehenen Voraussetzungen geschaffen werden.<br />

Eine arbeitspolitisch zentrale Voraussetzung dafür besteht auf Seiten der<br />

Arbeitskräfte in deren erhöhter Hinnahmebereitschaft für betrieblich<br />

geforderte Änderungen in bezug auf Löhne, Arbeitszeit, Arbeitsorganisation<br />

<strong>und</strong> qualifikationsgerechten Arbeitseinsatz. Der Bedarf der Unternehmen<br />

an solchen Veränderungen ist hoch: In diesem Punkt schließe<br />

ich mich Kern/Schumann an, nach deren Einschätzung wir uns derzeit<br />

am Ende der Inkubationszeit neuer Basistechnologien befinden. D.h.,<br />

daß die vielfältige <strong>und</strong> schwerwiegende Symptomatik des <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Infekts nunmehr sichtbar zu werden beginnt <strong>und</strong> sich erst in den<br />

kommenden Jahren voll entfalten wird.<br />

Die dabei anfallenden Umstrukturierungen im Betrieb schaffen Durchsetzungs-<br />

<strong>und</strong> Legitimationsprobleme. Neben der durch die Massenarbeitslosigkeit<br />

verschobenen Machtrelation <strong>und</strong> einem gewaltigen ideologischen<br />

Aufwand wird als Ressource zu ihrer Lösung auch die Diffamierung <strong>und</strong><br />

massive Schlechter-Ausstattung (bis hin zum faktischen Entzug) von sozialpolitisch<br />

abgesicherten Auffangpositionen eingesetzt.<br />

Aus dem Arbeitsleben gekippt zu werden, wird nach diesem Konzept<br />

wieder zu einer geradezu existentiellen Bedrohung für die abhängige Be-<br />

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schäftigten. Ausmaß <strong>und</strong> Intensität der Lohnabhängigkeit, die Abhängigkeit<br />

vom Betrieb <strong>und</strong> damit die Hinnahmebereitschaft gegenüber Zumutungen<br />

im Produktionsprozeß wachsen mit zunehmender Massenarbeitslosigkeit wie<br />

auch mit jeder Verschlechterung der materiellen Ausstattung von Sozialleistungen.<br />

Dies gilt nicht nur für die unmittelbaren Lohnersatzleistungen. Zumindest<br />

vermittelt wirkt sich dies auf fast alle Leistungen des Sozialstaates<br />

aus, die ja durchweg in einem nach unten hin abgestuften Verhältnis je nach<br />

Entfernung der sozialpolitisch abgefederten Problemlage zur Lohnarbeit<br />

stehen. Das „umgestülpte Netz" der Sozialleistungen wird tiefer gehängt<br />

<strong>und</strong> an den Rändern steiler gezurrt, um den Sturz vom Seil der Lohnarbeit<br />

bedrohlicher werden zu lassen.<br />

Triebfeder der Lohnarbeit wird dadurch in stärkerem Umfang (wieder)<br />

die Furcht. Sozialpolitik bewirkt damit derzeit auch die systematische<br />

Vermehrung von Angst in der Gesellschaft. Auf diese Tendenz hat auch<br />

Frau Mayntz-Trier in ihrem Eröffnungsvortrag hingewiesen.<br />

Vorbereitet bzw. in Gang gesetzt wird auf diese Weise das große Projekt<br />

der einseitigen Anpassung von Konditionen des Arbeitsvertrages an die<br />

neuen <strong>und</strong> alten Interessen der Unternehmen. Kollektivrechtliche, d.h. im<br />

wesentlichen gewerkschaftlich durchgesetzte Schutznormen erfahren dabei<br />

eine deutliche Absenkung. Ihrer völligen Abschaffung stehen jedoch Durchsetzungsprobleme<br />

<strong>und</strong> die Funktionalität der Gewerkschaften als bindungsfähiger<br />

Ordnungsmacht entgegen.<br />

Die ökonomische Krise des Sozialstaats (<strong>und</strong> nur diese wird von der dominanten<br />

Wirtschaftspolitik bekämpft) ist aus dieser Sicht nicht so sehr eine<br />

Finanzierungskrise oder etwa durch Anspruchsdenken „sozial pervertierter<br />

Sozialcharaktere" induziert. Sie ist auch mehr als eine genutzte Gelegenheit<br />

zur Umverteilung von unten nach oben <strong>und</strong> zur Absenkung der<br />

Staatsquote. Als spezifische politische Reaktionsform auf eine auch anders<br />

beherrschbare ökonomische Problemlage dient sie zugleich der Vorbereitung<br />

<strong>und</strong> Absicherung der produktionspolitischen Strategien der späten<br />

80er <strong>und</strong> der 90er Jahre.<br />

Für diese These bedarf es keiner „Verschwörungstheorie". Vielmehr<br />

zeigt eine Analyse der wesentlichen Triebkräfte <strong>und</strong> Variablen, daß eine<br />

neoklassisch angeleitete Wirtschaftspolitik, der auf einen sozialpolitischen<br />

Paradigmenwechsel hinlaufende Ab- <strong>und</strong> U<strong>mb</strong>au von Sozialstaatlichkeit<br />

<strong>und</strong> die Verbreitung von Leitbildern der Individualisierung <strong>und</strong> Entsolidarisierung<br />

sich gegenseitig ergänzen <strong>und</strong> verstärken können, ohne daß es<br />

eines steuernden Komplotts bedarf. Es ist in diesem Zusammenhang daran<br />

zu erinnern, daß die in der B<strong>und</strong>esrepublik in den 50er Jahren als Variante<br />

der Neoklassik dominante Wirtschaftslehre des Ordo-Liberalismus die Existenz<br />

einer flächendeckend kompensatorischen Sozialstaatlichkeit niemals<br />

in ihre Theorie integriert hat. Das „Opfer" der Integration des sozialen<br />

Elements in die Theorien von der Marktwirtschaft wurde vielmehr pragmatisch<br />

dem damals vorherrschenden Bewußtsein nach der Niederwerfung des<br />

Faschismus, dem politischen Kräfteverhältnis <strong>und</strong> der aufkeimenden Sy-<br />

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stemkonkurrenz gebracht. Damit bleibt die kompensatorische Sozialstaatlichkeit<br />

auch vom Legitimationsbedarf <strong>und</strong> letztlich von <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Kräfteverhältnissen abhängig. Auf dieser Ebene ist derzeit noch vieles<br />

offen. Analysen zu immanenten Grenzen des Abbaus <strong>und</strong> zu neu aufbrechenden<br />

Widersprüchen sind dringend erforderlich.<br />

An Illustrationen für den Prozeß des Ab- <strong>und</strong> U<strong>mb</strong>aus herrscht kein Mangel: Kürzungen<br />

bzw. Verschärfung der Leistungsvoraussetzungen bei Arbeitslosenversicherung, Arbeitslosenhilfe,<br />

Sozialhilfe, Renten, Mutterschaftsurlaub, Schwerbehindertenunterstützung<br />

<strong>und</strong> Ausbildungshilfen aller Art. Von den registrierten über 2 Millionen Arbeitslosen hat<br />

nur noch ein Drittel Anspruch auf Arbeitslosengeld, das Schlagwort von der „neuen Armut"<br />

machte die R<strong>und</strong>e. Erhöhung der Gebühren bei zahlreichen Sozialeinrichtungen,<br />

Einführung bzw. Erhöhung der Selbstbeteiligung bei Arzneimitteln, Krankenhaus <strong>und</strong><br />

Kuren; Sozialversicherungspflichtigkeit von Krankengeld etc. pp. Zwischen Ende 1981<br />

<strong>und</strong> Ende 1983 wurden ca. 250 Steuer- <strong>und</strong> sozialpolitische Rechtsänderungen durch<br />

den B<strong>und</strong>esgesetzgeber verabschiedet. Die Leistungskürzungen summieren sich nach Berechnungen<br />

des DGB allein für 1983 <strong>und</strong> 1984 auf 25 Milliarden DM; nach einer Untersuchung<br />

aus der Universität Köln ergibt sich für die Jahre 1982 bis 1985 eine Kürzung<br />

der Sozialeinkommen um 75 Milliarden DM. Gleichzeitig wird zunehmend die individuelle<br />

Verantwortlichkeit (sei es in Form der Subsiardität, sei es als Versicherungsprinzip)<br />

gegen das Solidarprinzip ausgespielt.<br />

Zentraler Bezugspunkt dieser Sozial- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitspolitik ist das Gesellschafts-<br />

<strong>und</strong> Menschenbild der Neoklassik <strong>und</strong> neoliberaler Wirtschaftslehren,<br />

nach denen der Einzelne seines Glückes Schmied — <strong>und</strong> auch der<br />

Schmied seines Unglücks — ist. Dem entspricht die — auch in der Wissenschaft<br />

um sich greifende — Re-Individualisierung von Lebensrisiken, die<br />

Auflösung bzw. das schlichte Bestreiten <strong>gesellschaftliche</strong>r <strong>und</strong> kollektiver<br />

Verursachungskonstellationen. Sozialwissenschaftliche Analysen können insbesondere<br />

dort einen wirksamen Beitrag zur Aufklärung leisten, wo sich die<br />

Implikationen dieser Politik an der empirisch feststellbaren Realität brechen:<br />

1. Das Gesellschafts- <strong>und</strong> Menschenbild der Neoklassik <strong>und</strong> die ihnen<br />

entsprechende Ges<strong>und</strong>heitspolitik kommen in beträchtliche Begründungsschwierigkeiten<br />

<strong>und</strong> Legitimationsprobleme vor der Tatsache vor allem<br />

schichtenspezifischer Ungleichheit der Verteilung von Lebens- <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitschancen.<br />

Eine Folge dessen besteht in der starken Zurückhaltung<br />

bei der Förderung entsprechender Forschungsvorhaben sowie in der faktischen<br />

Nicht-Zurkenntnisnahme von Bef<strong>und</strong>en aus vergleichbaren Industrieländern<br />

(z.B. Black-Report „Inequalities in Health" aus Großbritannien).<br />

2. Die neoliberale Betrachtungsweise steht infolgedessen auch im Gegensatz<br />

zu ges<strong>und</strong>heitspolitischen Ansätzen, die den (in Morbidität <strong>und</strong><br />

Mortalität) dominanten chronischen Volkskrankheiten mit Präventionsstrategien<br />

begegnen wollen, die an ges<strong>und</strong>heitsriskanten Verhältnissen ansetzen.<br />

3. Unverträglich mit der vorherrschenden Betrachtungsweise sind auch<br />

die teilweise bereits erprobten <strong>und</strong> wissenschaftlich weiter zu untermauernden<br />

Ansätze der kollektiven Abwehr ges<strong>und</strong>heitsgefährdender Risiko- <strong>und</strong><br />

Belastungskonstellationen.<br />

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Die sozialpolitisch dominante Strategie wirkt sich heute allerdings<br />

auch schon in der Arbeitswelt aus. Die arbeitspolitische Beziehung zwischen<br />

Lohnarbeit <strong>und</strong> Sozialpolitik ist wechselseitig. An der Lockerung des Seiles<br />

wird bereits gearbeitet.<br />

Auf der Ebene staatlicher Maßnahmen läßt sich dies u.a. an der Aufweichung<br />

bzw. Abschaffung von Schutznormen des Arbeitsvertrages, an der<br />

Rücknahme von Arbeitsschutz-Bestimmungen, der Zulassung privater Arbeitsvermittlung<br />

<strong>und</strong> der Etablierung von Elementen der Zwangsarbeit in<br />

der Sozialhilfe ablesen.<br />

In den Betrieben führt dies schon heute nicht nur zu vielfältigen Spaltungen<br />

in den Belegschaften <strong>und</strong> zur Flächenrodung betrieblicher Sozialleistungen.<br />

Vielmehr stehen die wenigen Fortschritte, die in den 70er Jahren<br />

z.B. auf dem Gebiet der betrieblichen Ges<strong>und</strong>heitspolitik in Richtung<br />

auf eine „präventive Sozialpolitik" erzielt werden konnten, derzeit insgesamt<br />

zur Disposition. Auch gesetzlich normierte Schutznormen werden<br />

heute in großem Umfang mißachtet. Betriebliche Ges<strong>und</strong>heitsprobleme<br />

nehmen dabei aus den gleichen Gründen zu, die ihre betriebliche <strong>und</strong> öffentliche<br />

Thematisierung zunehmend erschweren.<br />

Aus alledem folgt, daß es wenig Aussicht auf Erfolg hat, Strategien gegen<br />

die „Krise des Sozialstaats", gegen den massiven Leistungsabbau isoliert<br />

im Sozialbereich mit oder für die Betroffenen außerhalb der Lohnarbeit<br />

zu entwerfen. Wenn mehr als eine solidarische Verwaltung des Elends<br />

angestrebt wird, kann die Wende der Wende nur durch Herstellung der hier<br />

nur angedeuteten Zusammenhänge <strong>und</strong> durch eine Koordination mit den<br />

Auseinandersetzungen im Produktionsbereich eingeleitet werden. Diese<br />

Forderung gilt für die Anlage wissenschaftlicher Untersuchungen ebenso<br />

wie für die Konzipierung politischer Strategien. Wird sie nicht eingelöst, so<br />

führt dies zu künstlichen Isolierungen sozial- oder produktionspolitischer<br />

Probleme <strong>und</strong> entsprechend suboptimierenden Lösungsstrategien mit häufig<br />

kontraproduktiven Ergebnissen. Die sich derzeit in Wissenschaft <strong>und</strong> Politik<br />

abzeichnenden Spezialisierungen für zweite, dritte <strong>und</strong> vierte Arbeitsmärkte,<br />

für Entwicklungsperspektiven alternativer Ökonomie <strong>und</strong> neue Zwischenstufen<br />

zwischen Lohnarbeit <strong>und</strong> Marginalisierung tragen oftmals bereits<br />

den Keim solcher verhängnisvollen Segmentierung in sich. Dabei wird nicht<br />

nur der Zusammenhang zwischen bezahlter Arbeit <strong>und</strong> sozialstaatlichen Auffangpositionen<br />

aufgegeben, der auch ein Lebenszusammenhang ist. Vielmehr<br />

zeichnet sich auch eine beträchtliche Überschätzung der Möglichkeiten politisch<br />

durchsetzungsfähiger Mobilisierung im Sozialbereich ab.<br />

Wenn solche Strategien den Bezug zur Produktionssphäre <strong>und</strong> die diese<br />

steuernden Kräfte (wieder) herstellen, können sie an analytischer Schärfe<br />

<strong>und</strong> an Durchsetzungskraft nur gewinnen. Der Kampf um die Neuverteilung<br />

des <strong>gesellschaftliche</strong>n Arbeitsvolumens (bei mindestens gleichbleibender<br />

Massenkaufkraft <strong>und</strong> ohne zusätzliche Intensivierung der Arbeitsleistung)<br />

sowie für einen Wechsel des wirtschaftspolitischen Paradigmas auf<br />

der Makro-Ebene weisen hierzu die Richtung.<br />

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LITERATUR<br />

Adamy, W., J. Steffen (1984): Zwischenbilanz von Sozialdemontage <strong>und</strong> Umverteilungspolitik<br />

seit 1982, Köln.<br />

Böhle, F. (1984): Die <strong>gesellschaftliche</strong> Organisation von Arbeit als Problem der Sozialpolitik<br />

, in diesem Band.<br />

Kalecki, M. (1943): „Political Aspects of Full Employment", in: Political Quarterly,<br />

Vol. 14, 322 ff., abgedr. in: Frey, B.S., W. Meißner (Hg.): Zwei Ansätze der Politischen<br />

Ökonomie, Frankfurt/M. 1974, 176 ff.<br />

Kühn, H. (1984): „Sozialpolitik bei Massenarbeitslosigkeit", in: Wie teuer ist uns die<br />

Ges<strong>und</strong>heit?, Argument-Sonderband AS 113, Berlin.<br />

Naschold, F. (1982): „Die Zukunft des Wohlfahrtsstaates", in: W. Mommsen (Hg.):<br />

Die Entstehung des Wohlfahrtsstaates in Großbritannien <strong>und</strong> Deutschland 1850-<br />

1950, Stuttgart.<br />

Rosenbrock, R. (1984): Betriebliche Ges<strong>und</strong>heitspolitik in der Krise, IIVG/dp84-221,<br />

Wissenschaftszentrum Berlin.<br />

Rosenbrock, R. (1984): „Ges<strong>und</strong>heitsforschung aus der Defensive", in: Wie teuer ist<br />

uns die Ges<strong>und</strong>heit?, Argument-Sonderband AS 113, Berlin.<br />

Townsend, P., N. Davidson (1982): Inequalities in Health, The Black-Report, Harmondsworth.<br />

Wagner, W. (1982): Die nützliche Armut, Berlin.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Themenbereich II:<br />

Prognosen im Bildungsbereich<br />

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URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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EINLEITUNG<br />

Ansgar Weymann<br />

Obwohl die Soziologie sich mit <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklung auch in toto<br />

befaßt, spielt sich ein erheblicher Teil der Forschung doch in engeren 'Anwendungsbereichen'<br />

ab. Einer der hervorragenden Sektoren <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Entwicklung war für anderthalb Jahrzehnte das Bildungswesen. Aus diesem<br />

Gr<strong>und</strong>e bestritt die Bildungsforschung eine der Plenarveranstaltungen.<br />

Die Veranstaltungsreihe zum Thema 'Prognosen im Bildungsbereich'<br />

wurde von den Sektionen 'Bildung <strong>und</strong> Erziehung', 'Soziale Indikatoren'<br />

<strong>und</strong> 'Methoden' getragen. Vorbereitung <strong>und</strong> Durchführung lag in den Händen<br />

der drei Sektionssprecher Weymann, Gehrmann, Küchler.<br />

Unter dem Gesichtspunkt 'Soziologie <strong>und</strong> Gesellschaftliche Entwicklung'<br />

fällt im Bereich des Bildungswesens <strong>und</strong> der Bildungsforschung ein<br />

deutlicher Umschwung auf. In den sechziger Jahren wurde die Bildungspolitik<br />

zu einem der Pfeiler der Gesellschaftspolitik. Weitreichende Hoffnungen<br />

waren mit der Reform des Bildungswesens von der Vorschule bis<br />

zur Hochschule verb<strong>und</strong>en, erhebliche Anstrengungen wurden unternommen,<br />

harte Konflikte ausgetragen. Die sozialwissenschaftliche Forschung<br />

war an dieser Entwicklung beteiligt. Da eine solche 'Nutzung von Soziologie'<br />

oder umgekehrt Einflußnahme auf Politik keineswegs in allen 'Themenkonjunkturen'<br />

der öffentlichen Debatte oder in allen Praxisbereichen<br />

zu finden ist, läßt sich hier die Rückbindung der Bildungsforschung an den<br />

Gang der Bildungspolitik gut beobachten. Rückschläge im Stellenwert der<br />

Bildungspolitik fielen auf die Bildungsforschung auch dann zurück, wenn<br />

beide Seiten für heutige Probleme nur am Rande verantwortlich gemacht<br />

werden können, so z.B. für die Wirtschafts- <strong>und</strong> Arbeitsmarkt<strong>entwicklung</strong>.<br />

Insbesondere Bildungsprognosen (Bedarfs- <strong>und</strong> Angebotsprognosen)<br />

haben größte öffentliche Aufmerksamkeit gef<strong>und</strong>en. Unschärfen <strong>und</strong> Fehlprognosen<br />

sind unter den Stichworten 'Lehrstellenmangel, 'Lehrerberg',<br />

'Akademikerschwemme' jedermann bekannt. Obwohl an solchen Prognosen<br />

Soziologen nur als Minderheit beteiligt waren, werden sie in die Kritik einbezogen.<br />

Schwierige empirisch-analytische Forschungen zu Parametern<br />

solcher Prognosen wie Qualifikationsforschung oder Lebenslaufforschung<br />

(weit eher der Soziologie zuzurechnen), werden hingegen weniger zur<br />

Kenntnis genommen.<br />

Die Veranstaltungsreihe versucht, eine Bilanz angewandter Bildungsforschung<br />

zu ziehen, die heutige Situation zu bestimmen <strong>und</strong> Konsequenzen<br />

zu formulieren. Um die enge Verknüpfung von Soziologie <strong>und</strong> Praxis<br />

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in diesem Gebiet zum Tragen kommen zu lassen, wurden Bildungspolitiker<br />

<strong>und</strong> staatliche Forschungsinstitute mit einbezogen. Erfreulicherweise wurden<br />

die Einladungen in aller Regel angenommen. Das 'einsame Nachdenken'<br />

der Soziologen über die Bedingungen ihrer Anwendung war nicht das Programm.<br />

Die Veranstaltungsreihe wurde mit zwei Einführungsvorträgen generalisierenden<br />

Zuschnitts eröffnet (Bildung <strong>und</strong> Arbeitsmarkt bzw. Bildung <strong>und</strong><br />

Wertewandel). Es folgte ein Podiumsgespräch zwischen Bildungsforschung<br />

<strong>und</strong> Bildungspolitik, an dem u.a. der Staatssekretär im BMBW H.P. Piazolo<br />

<strong>und</strong> der frühere Bildungsminister B. Engholm teilnahmen. Die parallelen<br />

Nachmittagsreihen konzentrierten sich auf die beiden Schwerpunkte 'Politikberatung<br />

durch Bildungsforschung' bzw. Methodenfragen 'Daten, Erklärungen,<br />

Prognosen — Wege der Annäherung'.<br />

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PROGNOSEN ÜBER BILDUNG UND ARBEIT -<br />

SOZIOLOGISCHER SICHT<br />

EINE BILANZ AUS<br />

Ulrich<br />

Teichler<br />

1. Einleitung<br />

Die Voraussage <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklungen ist ein Thema; das Wissenschaftler<br />

<strong>und</strong> Politiker in besonderem Maße interessiert. Selbst in der Kritik,<br />

daß der Wert von Prognosen nicht über ein „Kaffeesatzlesen" hinausgehe,<br />

klingt nocht die Sehnsucht nach dem Vorhersehen der Zukunft an. Das<br />

gilt insbesondere für Prognosen über die Entwicklung des Bildungswesens<br />

<strong>und</strong> die Entwicklung der Beziehungen von Bildungs- <strong>und</strong> Beschäftigungssystem.<br />

In kaum einem anderen <strong>gesellschaftliche</strong>n Bereich wurden in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland so eingehende Bemühungen unternommen,<br />

die Zukunft mittelfristig mit großer Präzision auszumalen. Von daher bieten<br />

sich nach über zwei Jahrzehnten von Prognose-Erfahrungen Zwischenbilanzen<br />

an.<br />

Man kann dabei auf einen typischen Bereich von Fragen zurückgreifen,<br />

der die Prognoseforschung sowie die Bildungsplanung <strong>und</strong> -politik bewegt ,<br />

1<br />

etwa<br />

— die ex post facto prüfbare prognostische Validität der Prognosen,<br />

— die methodischen Ansätze der Prognosen,<br />

— die Verschränkungen von Prognosestudien <strong>und</strong> Planungsaktivitäten,<br />

— die Ursachen für unvorhergesehene Entwicklungen.<br />

Hieran orientiert sich in gewissem Umfange auch die folgende Übersicht.<br />

Dies kann jedoch höchstens einer von verschiedenen Fragenkomplexen<br />

sein, denn in einem Dialog zwischen Bildungssoziologen <strong>und</strong> Bildungspolitikern<br />

bzw. -planern begegnen sich nicht Prognoseforscher auf der einen<br />

<strong>und</strong> deren Nutzer auf der anderen Seite. Prognosen über die Entwicklung<br />

des Bildungssystems bzw. die Beziehungen von Bildungs- <strong>und</strong> Beschäftigungssystem<br />

wurden in erster Linie von Bildungsökonomen oder von der<br />

Bildungsverwaltung selbst durchgeführt. Bildungssoziologen haben sich gewöhnlich<br />

danebengestellt, die theoretischen <strong>und</strong> methodischen Vereinfachungen<br />

gegenüber der komplexen Realität kritisiert <strong>und</strong> Schwächen<br />

der prognostischen Validität als Bestätigung ihrer Abneigung gegenüber<br />

solchen Untersuchungen mit Befriedigung zur Kenntnis genommen.<br />

Soziologische Forschung über Bildung, Qualifikation <strong>und</strong> Arbeit hat in<br />

den letzten beiden Jahrzehnten jedoch einer prognostischen Denkweise keinesfalls<br />

ferngestanden. Sei es, daß Trendaussagen, wie etwa die einer „Polarisierung"<br />

der Qualifikationsstruktur , einen Anspruch auf Zukunftsdeu-<br />

2<br />

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tung zu stellen schienen, sei es, daß die Analyse der Absorption eines unerwarteten<br />

Angebots an Hochschulabsolventen die „potentielle" Entwicklung<br />

des Arbeitsmarktes von Hochschulabsolventen im Zuge der Bildungs­<br />

3<br />

expansion zu beschreiben schien. Insofern ist auch in einer solchen Zwischenbilanz<br />

zu diskutieren, was die Erfahrungen in den letzten beiden Jahrzehnten<br />

für die prognostischen Implikationen der soziologischen Forschung<br />

bedeuten.<br />

2. Themen <strong>und</strong> Anlage der Prognosen<br />

Versucht man die „Landschaft" der vorliegenden Prognosen zu beschreiben,<br />

so lassen sich folgende Charakteristika hervorheben:<br />

(a) Wichtigste Themen sind: der Sek<strong>und</strong>arschulbesuch, der Hochschulbesuch,<br />

der Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften.<br />

Deutlich ist in der Schwerpunktwahl erstens das Interesse des Staates<br />

an der eigenen Ressourcensteuerung; Weiterbildung oder berufliche Bildung<br />

im dualen System, die weniger staatliche Ressourcen binden, waren<br />

kaum Gegenstand von Prognosen; unter den Bedarfsprognosen hatten Lehrerbedarfsprognosen<br />

den höchsten Stellenwert. Zweitens kommt in der<br />

Schwerpunktwahl zum Ausdruck, daß die Planung der Ausbildung für<br />

Hochqualifizierte als ein Bereich der Bildungsplanung verstanden wurde,<br />

bei dem es besonders auf genauere Information <strong>und</strong> treffsichere Entscheidung<br />

ankomme. Variierten die Prognosen über die Zahl der ungelernten<br />

Arbeitskräfte im Jahre 1980, die nur kurzfristig angelegt waren <strong>und</strong> somit<br />

eine hohe Zutreffwahrscheinlichkeit hatten, von 40 bis 17 Prozent , so war<br />

4<br />

dies kaum der Beachtung wert; Differenzen in der Prognose der Zahl der<br />

Lehrer um 10 Prozent sind dagegen schnell Gegenstand erheblicher Kontroversen.<br />

(b) Die meisten vorliegenden Prognosestudien sind Modellrechnungen, die<br />

sich in der Mehrzahl der Parameter auf Trendextrapolationen stützen <strong>und</strong><br />

daneben in einer begrenzten Zahl von Parametern leichte Veränderungen in<br />

Richtung gewünschter Entwicklungen setzen.<br />

Das heißt erstens, die Prognosen suchen in aller Regel nicht Überraschungen,<br />

Sprüngen der Entwicklung auf die Spur zu kommen, wie es etwa manche<br />

Expertenumfragen intendieren. Man kann deshalb von ihnen von vornherein<br />

allenfalls ähnliche Aussagen erwarten wie von Prognosen zur Zeit<br />

der Frühindustrialisierung, die Zahl der Pferde werde mit der weiteren Industrialisierung<br />

zur Sicherung der Transporte zunehmen; unwahrscheinlich<br />

waren Ideen, daß Pferde durch Motorfahrzeuge abgelöst werden könnten.<br />

Zweitens folgt man in der Regel nicht dem berühmten Satz: Was geschieht,<br />

wenn nichts geschieht? Man legt gewöhnlich nicht die Information<br />

für den Fall dar, daß keinerlei Maßnahme erfolgt, sondern hat in der Regel<br />

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schon ein paar gewünschte Veränderungen eingeschliffen: Die Kultusministerkonferenz<br />

zum Beispiel wies Anfang der achtziger Jahre tabellarisch<br />

gar nicht aus, wie sich die Studentenzahl unter der Annahme entwickeln<br />

würde, daß die Verweildauer in Zukunft nicht sinken werde. 5<br />

(c) Prognosen über die Beziehung von Bildung <strong>und</strong> Arbeit kreisen um den<br />

Arbeitskräftebedarfsansatz (Manpower Requirement Approach) <strong>und</strong> die<br />

Prämisse, daß Bildung ein zu planender Bereich im Rahmen einer kaum geplanten<br />

Gesellschaft ist. 6<br />

Auf der einen Seite gibt es wohl in keinem anderen hochindustrialisierten<br />

Land kapitalistischer Wirtschaftsprägung eine so große Zahl von Arbeitskräftebedarfsprognosen.<br />

Auf der anderen Seite sind Studien auf der<br />

7<br />

Basis des Ertragsratenansatzes nur Glasperlenspiele einiger Bildungsökonomen<br />

geblieben <strong>und</strong> nie in Prognosen eingebracht worden: Offenk<strong>und</strong>ig<br />

8<br />

gibt es in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland keine Ökonomen, die glauben,<br />

daß die quantitative Entwicklung der Studentenzahlen sehr deutlich von<br />

Einkommens<strong>entwicklung</strong>en beeinflußt wird, die ihrerseits abhängig sind<br />

von Über- oder Unterangeboten an Personen mit bestimmten Qualifikationen.<br />

Die Kritik am Arbeitskräftebedarfsansatz hat insgesamt zu dessen<br />

9<br />

Relativierung oder Sophistizierung geführt — in dieser Hinsicht war die<br />

Diskussion in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland abwechslungsreicher <strong>und</strong><br />

phantasievoller als in den meisten anderen Ländern —, nicht jedoch zu einer<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich anderen Wahl von Bedarfsprognosen.<br />

(d) Die meisten Prognosen, die die Schüler- <strong>und</strong> Studentenzahlen vorauszusagen<br />

versuchen, werden von der Bildungsverwaltung selbst erstellt; die<br />

meisten Arbeitskräftebedarfsprognosen sind staatliche Auftragsstudien.<br />

Dabei ist sicherlich zunächst bemerkenswert, daß die in den Meßgrößen<br />

im Prinzip nicht kontroversen Prognosen über Schüler- <strong>und</strong> Studentenzahlen<br />

offenk<strong>und</strong>ig in der Regel vom Staat selbst organisiert werden, während<br />

die Bedarfsprognosen — die immer kontroverse Annahmen über <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Bedürfnisse modellartig zu treffen haben — gerne ausgelagert<br />

werden, <strong>und</strong> zwar typischerweise an Auftragsforschungsinstanzen. Mindestens<br />

ebenso ist zu beachten, daß es keine kontinuierlichen Prognoseanalysen<br />

von Wissenschaftlern gibt, die sich nicht schon von den Bedingungen<br />

der Forschung her die Frage nach den Planungskonsequenzen stellen<br />

müssen.<br />

3. Die Vorhersagekraft der Prognosen<br />

Im Jahre 1980 wurden zwei Texte publiziert, in denen in einem Falle ein<br />

Soziologe <strong>und</strong> im anderen Falle ein Ökonom Prognosedaten retrospektiv<br />

mit der tatsächlichen Entwicklung verglichen:<br />

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— Hansgert Peisert analysiert in einem Bericht für die Westdeutsche Rektorenkonferenz<br />

„Vorhersagen <strong>und</strong> Wirklichkeit" der Studentenzahlen<br />

insbesondere für den Zeitraum von 1965 bis 1980 <strong>und</strong> diskutiert darüber<br />

hinaus den Stellenwert von Prognosen der Studentenzahlen, die sich auf<br />

die achtziger <strong>und</strong> neunziger Jahre beziehen. 10<br />

— Manfred Tessaring nennt seine Studie „Evaluation" von Prognosen; er<br />

untersucht Prognosen <strong>und</strong> reale Entwicklungen der Zahlen von Studienanfängern,<br />

Studenten, Bildungsabschlüsse der Erwerbstätigen, der Struktur<br />

der Erwerbstätigen sowie des Angebots <strong>und</strong> Bedarfs an Hochschulabsolventen.<br />

11<br />

Peisert betont bei seiner Gegenüberstellung von Prognosen der öffentlichen<br />

Instanzen der Bildungsplanung <strong>und</strong> -Verwaltung (Kultusministerkonferenz,<br />

Wissenschaftsrat, B<strong>und</strong>-Länder-Kommission, Planungsausschuß für den<br />

Hochschulbau) <strong>und</strong> der später eingetretenen Entwicklung die Diskrepanzen<br />

zwischen Vorhersage <strong>und</strong> Realität: „Wie wir wissen, kam alles ganz anders...<br />

Im Rückblick ist nun zu fragen: Welche Parameter haben sich in den letzten<br />

15 Jahren so verändert, daß die hier dargestellte Prognose von 1964 um<br />

100 Prozent danebenging, <strong>und</strong> war dies damals nicht vorauszusehen?" Als<br />

12<br />

Konsequenz dieser Erfahrungen bezeichnet er die prognostizierte „Talfahrt"<br />

der Studentenzahlen in den neunziger Jahren als „nur eine von mehreren<br />

anderen, nicht weniger wahrscheinlichen Alternativen". 13<br />

Peisert hebt hervor, daß man Mitte der sechziger Jahre den Anstieg der<br />

Studentenzahlen vor allem deshalb unterschätzt habe, weil die Abiturientenquote<br />

bis Anfang der siebziger Jahre weitaus stärker als erwartet stieg.<br />

In späteren Prognosen für die siebziger Jahre habe man den Rückgang der<br />

Studierwilligkeit von Studienberechtigten nicht vorhergesehen. — In ähnlicher<br />

Weise habe ich für Prognosen über die Studentenzahlen in den achtziger<br />

Jahren, die Mitte der siebziger Jahre abgegeben wurden, aufgewiesen,<br />

daß man damals mit einer Verkürzung der Studienzeiten — insbesondere<br />

mit einem Ausbau kürzerer Studiengänge — gerechnet hatte, die nicht eingetreten<br />

ist. 14<br />

Als Konsequenz für die Einschätzung der zukünftigen Entwicklung verweist<br />

Peisert ganz auf die Unsicherheit von Prognosen: „Aus heutiger Sicht<br />

gibt es für die Annahme einer ungenügenden Auslastung in den nächsten 40<br />

Jahren keine triftigeren Argumente als für die Annahme einer normalen<br />

Auslastung oder gar wiederholten Überlastung des Hochschulsystems." 15<br />

Er fordert, möglichst viele Parameter zu beachten. Eine gewisse Hoffnung<br />

auf den Stellenwert guter Information wird dennoch beschworen: „Für den<br />

'Konsumenten' stellen sich die verschiedenen Prognosen <strong>und</strong> Modellrechnungen<br />

oftmals widersprüchlich dar. Daher wäre es wünschenswert, wenn<br />

eine Clearingstelle regelmäßig eine Zusammenschau der Annahmen, Verfahren<br />

<strong>und</strong> Ausgangsdaten durchführt <strong>und</strong> die Hochschulen in synoptischer<br />

Form über den jeweils aktuellen Stand von Vorhersagen <strong>und</strong> wirklicher Entwicklung<br />

informiert." 16<br />

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Während Peisert seine Bewertung der Prognosen besonders stark an dem<br />

Kontrast zwischen Wissenschaftsratsprognose von 1964 für das Jahr 1980<br />

<strong>und</strong> der tatsächlichen Entwicklung der Studentenzahlen festmacht, prüft<br />

Tessaring eine sehr große Zahl von Prognosen. Unter anderem gibt er auch<br />

die Schätzungen der Studienanfänger- <strong>und</strong> Studentenzahlen aus Studien an,<br />

die die Relation von Bedarf <strong>und</strong> Angebot an hochqualifizierten Arbeitskräften<br />

zu prognostizieren versuchten.<br />

Tessaring weist sowohl Fälle großer Diskrepanzen von Prognose <strong>und</strong><br />

Realität auf, wobei die Wissenschaftsratsprognose von 1964 über die Studentenzahlen<br />

ebenfalls sein Paradebeispiel ist, als auch Fälle ausgesprochen<br />

hoher Treffsicherheit, etwa bei der Verteilung der Erwerbstätigen nach<br />

Wirtschaftsbereichen oder bei der Hochschulabsolventenquote unter den<br />

Erwerbstätigen. Er kommt zu dem Schluß, daß die Gr<strong>und</strong>prämissen in Studien<br />

zu Angebot <strong>und</strong> Bedarf hochqualifizierter Arbeitskräfte „in ihrer Entwicklungsrichtung<br />

'zutreffend' gesetzt wurden ... Die Feinstrukturen der<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Arbeitsmarktstrukturen weisen demgegenüber teilweise hohe<br />

Abweichungen zur Realität auf." Bei vielen Fachrichtungen bzw. Berufsgruppen<br />

beobachtet Tessaring „regelrechte 'Prognosewellen'" : innerhalb<br />

18<br />

17<br />

weniger Jahre wechseln sich Prognosen über Mängel mit solchen über Überschüsse<br />

ab.<br />

Tessarings Schlußfolgerungen sind skeptisch gegenüber Prognosen, betonen<br />

jedoch einen gewissen Informationswert für <strong>gesellschaftliche</strong> <strong>und</strong> individuelle<br />

Entscheidungen. Er schreibt: „Als Resümee des Prognosevergleichs<br />

mit der realen Entwicklung des Bildungswesens <strong>und</strong> der Beschäftigung<br />

hochqualifizierter Arbeitskräfte bleibt festzuhalten, daß Prognosen allenfalls<br />

eine Basis für bildungspolitische Gr<strong>und</strong>überlegungen zu den möglichen<br />

Auswirkungen veränderter/zu verändernder Parameter <strong>und</strong> der sich daraus<br />

ergebenden politischen Handlungsalternativen darstellen. Als alleinige<br />

Gr<strong>und</strong>lage individueller Bildungs- <strong>und</strong> Berufswahlentscheidungen erscheinen<br />

sie jedoch nach wie vor wenig geeignet. Sie können sogar das Risiko einer<br />

Fehlentscheidung erhöhen, z.B. dann, wenn zu viele Individuen gleichgerichtete<br />

Entscheidungen zum gleichen Zeitpunkt treffen." 19<br />

Diese beiden Beispiele zeigen ebenso wie eine Fülle von Publikationen,<br />

die sich mit den Ergebnissen von Prognosen zum Bildungssystem beziehungsweise<br />

zum Verhältnis von Bildungs- <strong>und</strong> Beschäftigungssystem beschäftigen,<br />

kein einheitliches Bild. Es gibt Fälle, in denen Prognose <strong>und</strong> reale Entwicklung<br />

sehr weit auseinanderfallen; es gibt Fälle von Prognosen, die sich — retrospektiv<br />

gesehen — als sehr zutreffend erwiesen haben. Vor allem zeigt<br />

sich jedoch, daß in den Vergleich von Prognose <strong>und</strong> tatsächlicher Realität<br />

bei den jeweiligen Autoren sehr unterschiedliche Erwartungen eingehen.<br />

Das gilt zum einen für den Grad der Übereinstimmung von Prognose <strong>und</strong><br />

realer Entwicklung: was manche als große Abweichung ansehen, kann anderen<br />

als erstaunliche Übereinstimmung erscheinen. Hier wiederholen sich<br />

ähnliche Interpretationsdivergenzen wie in der Diskussion, ob die Reduzierung<br />

ungleicher Bildungschancen in den letzten Jahren „beachtlich groß"<br />

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oder „sehr gering war" — eine Diskussion, die im Gr<strong>und</strong>e um die Frage<br />

kreist: How much is much? Zum anderen fällt das Urteil unterschiedlich je<br />

nach der Erwartung aus, ob man als „Erfolg" einer Prognose in erster Linie<br />

die Wahrscheinlichkeit des Eintreffens oder die Information von Planenden<br />

<strong>und</strong> Betroffenen <strong>und</strong> deren Beitrag zur „Zerstörung der Prophetie" sieht.<br />

4. Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen der methodischen Verbesserungen von<br />

Prognosen<br />

In den letzten beiden Jahrzehnten gab es sehr eingehende Diskussionen darüber,<br />

welche methodischen Verbesserungen von Prognosestudien wünschenswert<br />

<strong>und</strong> erreichbar seien.<br />

Die ersten Prognosen über Studentenzahlen stellten kaum mehr als<br />

Hochrechnungen auf der Basis von veränderten Quoten des Übergangs von<br />

Gr<strong>und</strong>schülern auf das Gymnasium dar. Inzwischen gehören demographische<br />

Veränderungen von Jahrgangsstärken, Übergänge während des Sek<strong>und</strong>arschulbesuchs,<br />

Studierwilligkeit, Übergangsquoten von der Schule zur<br />

Hochschule, Zwischenzeiten zwischen Schulabschluß <strong>und</strong> Studienbeginn,<br />

Studienfachwechsel, durchschnittliche Studiendauer <strong>und</strong> ähnliche Werte<br />

zum Repertoire solcher Prognosen.<br />

Bei den Studien zum Bedarf an Hochschulabsolventen konstatierte Laszlo<br />

Alex Mitte der siebziger Jahre drei Entwicklungsstufen: Relativ kruden<br />

Schätzungen zu Beginn der sechziger Jahre folgten Ende der sechziger Jahre<br />

Untersuchungen, die den Arbeitskräftebedarfsansatz (MRA) als Gr<strong>und</strong>lage<br />

wählten. Im Laufe der siebziger Jahre schließlich wurde das Gr<strong>und</strong>modell<br />

des MRA erheblich differenziert: unter anderem wurden verschiedene<br />

Modellannahmen über wirtschaftliche <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklungen<br />

vorgenommen <strong>und</strong> deren Folgen für den Bedarf an hochqualifizierten Arbeitskräften<br />

berechnet; die Substitutionsmöglichkeiten von Arbeitskräften<br />

wurden systematisch zu berücksichtigen versucht; schließlich konnte mit<br />

Hilfe von Befragungen dazu beigetragen werden, daß der Status quo-ante<br />

nicht automatisch als Normalzustand im Verhältnis von Bildungs- <strong>und</strong> Beschäftigungssystem<br />

angesehen wurde. 20<br />

Als wichtige Richtungen solcher Verbesserungen sind zu nennen:<br />

(a) Datenbasis <strong>und</strong> berücksichtigte Parameter: Erst seit Mitte der siebziger<br />

Jahre haben, um das bekannteste Beispiel der letzten Jahre zu zitieren, demographische<br />

Schwankungen einen systematischen Stellenwert in den Bildungs-<br />

<strong>und</strong> Arbeitskräftebedarfsprognosen der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

(b) Transparenz der Modelle <strong>und</strong> Berechnungen: Viele Prognosen gleichen<br />

Verwirrspielen; eine Fülle von Modell-Annahmen geht in die Berechnungen<br />

ein, die dem Leser nicht deutlich gemacht werden. Da Prognosen in ihrer<br />

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Qualität im Gr<strong>und</strong>e von der Setzung plausibler Modell-Annahmen leben<br />

<strong>und</strong> nicht unbedingt von der in Zukunft garantierten Wirkung der angenommenen<br />

Parameter, ist die wichtigere Informationsleistung von Prognosen<br />

nicht die abschließend gegebene Zahl der erwarteten Studenten oder Absolventen,<br />

sondern der Einfluß der Veränderungen eines Parameters auf<br />

eine solche Gesamtzahl. Daher sind Alternativrechnungen mit unterschiedlichen<br />

Modellannahmen, die das Gewicht bestimmter Annahmen für die Gesamtzahl<br />

verdeutlichen, ein Fortschritt der Prognostik. 21<br />

(c) Relativierung der Prämissen, die in eine Prognose eingehen: Im Laufe<br />

der kritischen Auseinandersetzungen mit dem Arbeitskräftebedarfsansatz<br />

wurde z.B. deutlich, daß — wie Jeschek auflistet — folgende gesellschaftspolitische<br />

Voraussetzungen zutreffen müßten, wenn die MRA-Prognosen<br />

die spätere Entwicklung voraussagen könnten:<br />

„(1) Das Beschäftigungssystem muß äußerst unflexible Strukturen aufweisen<br />

<strong>und</strong> so beschaffen sein, daß es den heutigen <strong>und</strong> den zukünftigen Bedarf<br />

an den einzelnen Kategorien von Ausgebildeten erkennen läßt.<br />

(2) Der Bedarf an Ausbildung beziehungsweise Bildung orientiert sich nahezu<br />

ausschließlich an einer ökonomischen oder von spezifischen Dichteziffern<br />

bestimmten Verwertbarkeit, die darüber hinausreichenden Qualifikationselemente<br />

werden nicht berücksichtigt.<br />

(3) Der Bedarf entwickelt sich kontinuierlich <strong>und</strong> ... unbeeinflußt von politischen<br />

Entscheidungen ...<br />

(4) Keinen wesentlichen Einfluß auf den Bedarf haben Veränderungen der<br />

Arbeitsorganisation, der Konsumentennachfragen <strong>und</strong> der Technologien,<br />

die von den heutigen Bedingungen oder aus ihnen resultierenden Entwicklungspfaden<br />

abweichen.<br />

(5) Zwischen den einzelnen Ausbildungsrichtungen <strong>und</strong> Ausbildungsniveaus<br />

finden immer die gleichen <strong>und</strong> in den Basisjahren der Projektionen nicht explizit<br />

erfaßten Mobilitätsprozesse statt.<br />

(6) Der einzelne Staatsbürger existiert nach diesen Ansätzen reduziert nur<br />

als Arbeitskraft, die nur das Ziel verfolgt, langfristig eine im Ableitungszusammenhang<br />

definierte Beschäftigung zu erhalten.<br />

(7) Die Entwicklung des Angebots an ausgebildeten Arbeitskräften verläuft<br />

unabhängig von den Bedarfsvorstellungen. Projektionen des Bedarfs haben<br />

keinen Einfluß auf die Angebotsseite." 22<br />

Mertens meint zu dem „Verfahren der Strukturextrapolation", das bei dem<br />

Arbeitskräftebedarfsansatz — aber auch, das sei hier hinzugefügt, bei den<br />

Prognosen der Schüler- <strong>und</strong> Studentenzahlen — üblich ist: „Was diese unrettbar<br />

auszeichnet, ist eine Art strukturelles Stabilitätsvertrauen (oder sogar<br />

eine Verfestigungsnorm), die man 'Strukturfatalismus' nennen möchte." 23<br />

Allerdings haben Erfahrungen auch gezeigt, daß man nur begrenzte<br />

Hoffnungen in methodische Verbesserungen setzen kann:<br />

— Viele Hoffnungen auf eine Verbesserung der Datenbasis sind verflogen:<br />

Genaue Bestandsaufnahmen der Bildungspfade, wie sie die Arbeitsgruppe<br />

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für Empirische Bildungsforschung in den sechziger Jahren entwickeln sollte<br />

<strong>und</strong> wie sie mit der Hochschulverlaufsstatistik beabsichtigt waren, wurden<br />

nicht realisiert. Es ist sogar fraglich geworden, ob man in Zukunft die üblichen<br />

Daten der Volkszählung in gleicher Qualität wie in der Vergangenheit<br />

haben wird.<br />

— Eine differenzierte Nutzung von Parametern führt nicht notwendigerweise<br />

zur Erhöhung der prognostischen Validität. So schreibt Tessaring: „Bemerkenswert<br />

an der Lehrerprognostik ist — alles in allem —, daß augenscheinlich<br />

die Eintreffenswahrscheinlichkeit der Prognosen mit der Verfeinerung<br />

der Berechnungsmethoden nicht wesentlich verbessert wird. 'Ältere'<br />

Prognosen, die auf der Bedarfsseite hauptsächlich mit Schüler-Lehrer-<br />

Relationen operieren, kommen in der Größenordnung nicht zu wesentlich<br />

realitätsferneren Ergebnissen als die 'neueren' Prognosen, die darüber hinaus<br />

auch die Klassenstärken, Fächerverteilungen, Wochenst<strong>und</strong>en u.a. einbeziehen."<br />

24<br />

— Je differenzierter Prognosen werden, desto weniger eignen sie sich zur<br />

Begründung politischer Entscheidungen. 25 Auf der einen Seite ist es gerade<br />

bei komplexen Modellen sehr schwer zu durchschauen, welche Entscheidungen<br />

bereits in die Modelle eingehen. Auf der anderen Seite löst<br />

sich bei Prognosen mit Alternativ-Rechnungen in vielen Fällen der prognostische<br />

Charakter angesichts der riesigen Spannweiten praktisch auf:<br />

So kam Kaiser Mitte der siebziger Jahre bei der Berechnung von Substitutionskorridoren<br />

zu dem Schluß, daß der Maximalbedarf an Juristen<br />

3,7 mal so hoch sei wie der Minimalbedarf. 26 Einer 1978 publizierten<br />

Studie zum Akademikerbedarf in Baden-Württe<strong>mb</strong>erg zufolge, wird —<br />

je nach gewählter Modellvariante — das Angebot an Hochschulabsolventen<br />

den Bedarf zwischen 108 Prozent <strong>und</strong> 363 Prozent innerhalb von<br />

15 Jahren abdecken. 27<br />

— Viele zunächst als Fortschritte der Bedarfsprognostik gefeierte neue Vorgehensweisen<br />

erweisen sich bei näherem Hinsehen nicht viel weniger kritikanfällig<br />

als einfachere Verfahren. So wird bei der Aufnahme von Substitutionskorridoren,<br />

wie es das Institut für Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsforschung<br />

betreibt, die Substitution der Vergangenheit in ähnlicher Weise zur Norm<br />

für die Zukunft erhoben, wie dies nach der Kritik des „Strukturfatalismus"<br />

die typische Schwäche des klassischen MRA ist. Auch ist die Ergänzung von<br />

Prognosestudien mit Hilfe von Betriebsumfragen über den Qualifikationsbedarf<br />

problematisch, weil die Befragten mit der Einschätzung des Qualifikationsbedarfs<br />

in der Regel überfordert sind.<br />

— Die Ansätze zur Überwindung der methodischen Schwächen der traditionellen<br />

Prognosen gehen fließend in gr<strong>und</strong>legende Kritik der Prognose-Konzepte<br />

über. Der sogenannte „Integrationsansatz" zum Beispiel, den Riese<br />

<strong>und</strong> Mitarbeiter 28 Anfang der siebziger Jahre wählten, stellt im Gr<strong>und</strong>e das<br />

Konzept des „Bedarfs" an Bildung auf den Kopf, indem er nach Ausdeh-<br />

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nungspotentialen des beruflichen Einsatzes von Hochschulabsolventen in<br />

bisher a-typischen Bereichen sucht. Der Absorptionsansatz stellt die Bedarfsannahmen<br />

des MRA gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage. 29<br />

Diese Hinweise sollen nicht generell den Wert methodischer Verbesserungen<br />

von Prognosen in Frage stellen. Das Drängen auf methodische Verbesserungen<br />

hat zu einer Reduzierung gewisser Schwächen beigetragen.<br />

30<br />

Grenzen der prognostischen Validität <strong>und</strong> Probleme in der Beziehung von<br />

Prognose <strong>und</strong> Politik allerdings werden dadurch nur bedingt aufgehoben.<br />

5. Prognostische Implikationen soziologischer Studien<br />

Soziologen haben bei der Bedarfsprognostik im engeren Sinne in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland keine Rolle gespielt. Bedarfsprognosen gelten als<br />

ein bildungsökonomisches Instrumentarium <strong>und</strong> werden in entsprechenden<br />

Lehrbüchern vermittelt. Auch die großen Visionen über die Bildungsexpansion<br />

<strong>und</strong> deren Bedeutung für das Beschäftigungssystem waren nicht das<br />

31<br />

Werk von Soziologen: Dahrendorf, dessen Schrift „Bildung ist Bürgerrecht"<br />

als eine der großen Prophetien der Bildungsexpansion gilt, lehnte es ausdrücklich<br />

ab, die politische Forderung der Expansion mit dem Verweis auf<br />

den Qualifikationsbedarf zu begründen, da die Bürgerrechtsforderung auch<br />

für den Fall bestehen bleibe, daß ein Uberschuß an Hochschulabsolventen<br />

auf dem Arbeitsmarkt bestehe. 32<br />

Dennoch gibt es einige soziologische Studien, die für prognostische<br />

Überlegungen eine erhebliche Rolle gespielt haben. Dabei kann hier nicht<br />

im einzelnen geprüft werden, in welchem Maße die Autoren dieser Studien<br />

selbst prognostische Deutungen vornahmen bzw. die prognostischen Implikationen<br />

in Schriften anderer Autoren herausgearbeitet wurden.<br />

Als wichtigste soziologische Deutung langfristiger Entwicklungen der<br />

Qualifikationsstruktur ist zum einen die „Polarisierungs"-These zu nennen.<br />

Industriesoziologen des Sozialwissenschaftlichen Forschungsinstituts in<br />

Göttingen hoben hervor, daß einerseits Berufe mit höheren Qualifikationsanforderungen<br />

<strong>und</strong> andererseits An- <strong>und</strong> Ungelernten-Positionen zunähmen<br />

<strong>und</strong> dabei mittlere Qualifikationen an Bedeutung verlören. Darauf baute<br />

vielfach die Kritik auf, expansionsorientierte Bildungspolitik sei illusionär. 33<br />

Zum anderen ist der „Absorptions"-Ansatz der Manpower-Gruppe des<br />

Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung als vieldiskutierte soziologische<br />

Trenddeutung zu nennen. Ausgehend von der Analyse, daß Hochschulabsolventen,<br />

für die es nach den klassischen Prämissen des MRA keinen Bedarf<br />

gab, vom Beschäftigungssystem aufgenommen würden <strong>und</strong> vielfach<br />

ausbildungsnahe Beschäftigung gef<strong>und</strong>en haben, wurde angenommen, daß<br />

Hochschulabsolventen ihre Qualifikationen im Beschäftigungssystem in<br />

weitaus stärkerem Maße zur Geltung bringen könnten, als vorherrschende<br />

Bedarfsdeutungen um 1970 glauben machen. Dies wurde in vielen pro-<br />

34<br />

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gnostischen Diskussionen dahingehend ausgedeutet, daß der größte Teil der<br />

wachsenden Zahl von Hochschulabsolventen eine mehr oder weniger „adäquate"<br />

Beschäftigung finden werde.<br />

Diese soziologischen Tendenzaussagen ex post facto mit den tatsächlichen<br />

Entwicklungen zu konfrontieren, fällt methodisch schwerer als bei<br />

den Bedarfsprognosen im engeren Sinne, weil erstere ja keine präzisen Zahlen<br />

angaben <strong>und</strong> auch nicht prognostisch sein wollten. Die „Polarisierungs"-<br />

These scheint in der ursprünglichen Form nicht mehr aufrechterhaltbar; viele<br />

ihrer Anhänger sehen sich jedoch in ihrer Vermutung nicht widerlegt, daß<br />

es keinen eindeutigen Höherqualifizierungsbedarf gäbe. Die Absorption der<br />

Hochschulabsolventen erfolgt unter den heutigen Bedingungen bei weitem<br />

nicht durgängig <strong>und</strong> problemlos, ist jedoch weitaus weniger problematisch,<br />

als nach den Bedarfsprognosen zu erwarten gewesen wäre, mit denen sich<br />

der Ansatz um 1970 auseinandergesetzt hatte.<br />

6. Prognosen <strong>und</strong> politische Folgerungen<br />

Betrachtet man die Beziehung von Prognosen <strong>und</strong> Bildungspolitik, so muß<br />

man zunächst einmal feststellen, daß von Fehlprognosen alle verschiedenen<br />

bildungspolitischen Positionen betroffen wurden. Natürlich ist es Teil bildungspolitischer<br />

Polemik, der anderen Seite einzelne Fehlprognosen vorzuhalten:<br />

Gegner einer starken Expansion weiterführender Bildung verweisen<br />

gerne auf Überschätzungen des Qualifikationsbedarfs bei Picht oder auf<br />

Überschätzungen des Lehrbedarfes in den Prognosen um 1970. Befürworter<br />

einer Expansion der weiterführenden Bildung heben demgegenüber hervor,<br />

daß sich der Arbeitsmarkt für Hochschulabsolventen im Laufe der<br />

siebziger Jahre keineswegs so katastrophal entwickelte, wie dies Anfang der<br />

siebziger Jahre im Argument des „Akademischen Proletariats" <strong>und</strong> Mitte<br />

der siebziger Jahre in den Veröffentlichungen der Finanzministerkonferenz<br />

<strong>und</strong> der B<strong>und</strong>esvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände prognostiziert<br />

worden war. „Verlierer" der Erfahrungen mit Prognosen sind<br />

<strong>35</strong><br />

vielmehr quer durch die verschiedenen bildungspolitischen Positionen diejenigen<br />

Argumentationen, die sich auf eine mehr oder minder eindeutige<br />

Unabweisbarkeit bestimmter Trends oder bestimmten Bedarfs zu stützen<br />

suchten.<br />

Eine Gr<strong>und</strong>frage des Verhältnisses von Prognose <strong>und</strong> Politik ist, welche<br />

Leistung die Prognose für politische Entscheidungen erbringen soll: Den<br />

Nachweis des Unvermeidlichen? Die Begründung der politischen Handlung<br />

als sachnotwendig? Die Herausforderung zu einer informierten Entscheidung,<br />

die sich auch gezielt gegen den vorherrschenden Trend stellen mag?<br />

Je nach der Erwartung kann auch die Bewertung von Prognosen sehr unterschiedlich<br />

ausfallen: Nach manchen politischen Erwartungen wird eine<br />

Prognose gerade dann positiv bewertet, wenn sie das tatsächlich Eintref-<br />

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fende gut voraussagt; nach anderen Erwartungen hat die Prognose dann<br />

ihren Dienst getan, wenn sie zu der informierten Entscheidung verhalf, die<br />

zu erwartenden Trends zu verhindern.<br />

Tatsächlich scheinen der Fall einer eindeutigen Trendgläubigkeit ebenso<br />

wie der Fall einer eindeutigen Interventionsbereitschaft gegenüber dem<br />

Trend jedoch Ausnahmen zu sein. Vielmehr gehen gewöhnlich politische<br />

Präferenzen so stark in Modellannahmen ein, daß sie den Handelnden auf<br />

der Ebene der Prognoseergebnisse gar nicht mehr in vollem Maße vor die<br />

Alternative stellen, ob er sich herrschenden Trends anschließen oder ihnen<br />

entgegentreten will. Von daher ist die Kritik verständlich, daß die Prognosen<br />

selbst zu Wellenbewegungen im Bildungsverhalten <strong>und</strong> in der Relation<br />

von Angebot <strong>und</strong> Nachfrage beitragen.<br />

Das bedeutet jedoch keinesfalls, daß sich Prognosen durchgängig als<br />

nachgeordnete Zahlenspielereien von vorgegebenen Annahmen <strong>und</strong> Wünschen<br />

zur zukünftigen Entwicklung verweisen. Es gibt vielmehr eine Fülle<br />

von Fällen, in denen Ergebnisse von Prognosen Anstöße zum Umdenken<br />

gaben <strong>und</strong> überraschende Entwicklungen auslösten.<br />

Ein besonders eindrucksvolles Beispiel für den politischen Einfluß von<br />

Prognosen stellte die Entdeckung demographischer Wellen im Rahmen der<br />

Bildungs- <strong>und</strong> Arbeitsmarktprognosen Mitte der siebziger Jahre dar: Die<br />

These, daß die Zahl der Ausbildungsplätze aus demographischen Gründen<br />

von Mitte der siebziger Jahre bis Mitte der achtziger Jahre um etwa 40 Prozent<br />

steigen müßte , war ein entscheidendes Argument zugunsten der<br />

36<br />

„Öffnung der Hochschulen" <strong>und</strong> der „Öffnung" weiterer Bildungsbereiche.<br />

Zugleich ging das Argument der demographischen Welle in die Prognose<br />

des Wissenschaftsrats ein, daß Ende der achtziger Jahre die Zahl der<br />

37<br />

Studierenden rapide zu sinken beginnen werde <strong>und</strong> daß sich zur Vermeidung<br />

einer langfristig unbrauchbaren Ressourcenbindung eine „Untertunnelung"<br />

des Studentenberges durch eine temporäre starke Auslastung der<br />

Hochschulen anbiete. Dies hatte tatsächlich zur Folge, daß die Hochschulen<br />

die Öffnungspolitik <strong>und</strong> in der Zeit von 1977 bis 1982 eine etwa<br />

38<br />

25prozentige „kostenneutrale" Steigerung der Studentenzahlen akzeptierten.<br />

Dabei war es angesichts der Dramatik dieser neuen Einsicht — in<br />

39<br />

diesem Falle in die demographischen Schwankungen — möglich, daß bestimmte<br />

fragwürdige Annahmen der Prognosen „geschluckt" wurden. Es<br />

war durchaus vorstellbar <strong>und</strong> so wurde zuweilen auch Mitte der siebziger<br />

Jahre argumentiert, daß die Studentenzahlen nach 1985 keineswegs stark<br />

zurückgehen würden. Inzwischen ist sichtbar, daß man heute nur dann einen<br />

Uberhang von Hochschulkapazitäten für die späten neunziger Jahre<br />

prognostizieren kann, wenn man zwischenzeitige Umdefinitionen in der<br />

Kapazität der Hochschulen akzeptiert. 40<br />

Schließlich haben die bestehenden Schwächen von Prognosen die Instanzen<br />

der Bildungsplanung <strong>und</strong> -Verwaltung nicht entmutigt, laufende<br />

Entscheidungen mit Hilfe von Prognosen zu planen. Sei es, daß man den<br />

Prognosen einen gewissen Vorhersagewert zuspricht, oder sei es lediglich,<br />

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daß man in den Prognosen die beste Voraussetzung sieht, um politische<br />

Kompromisse zur quantitativen <strong>und</strong> strukturellen Gestaltung des Bildungswesens<br />

auszuhandeln.<br />

Als politische Bewertung der Prognosen äußerte 1980 der B<strong>und</strong>esminister<br />

für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft: „Eine verläßliche, mittel- oder gar<br />

langfristige Vorausschau auf den künftigen Arbeitskräfte- <strong>und</strong> Qualifikationsbedarf<br />

gibt es nicht <strong>und</strong> wird es nach dem heutigen Stand der wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse auch nicht geben können. Bedarfsprognosen können<br />

nur Modellrechnungen — Projektionen — sein, die die Abhängigkeit<br />

künftiger Entwicklungen von ausgewählten, zum Teil willkürlich gesetzten<br />

Annahmen deutlich machen. Ihre zahlenmäßigen Ergebnisse dürfen nur mit<br />

diesem Vorbehalt verwertet werden: die 'Richtigkeit' dieser Ergebnisse ist<br />

daher auch kein unbedingtes Gütekriterium einer Prognose. Der Wert liegt<br />

vielmehr darin, daß sie mit dem Aufzeigen von Tendenzen <strong>und</strong> Abhängigkeiten<br />

Hinweise auf politische Gestaltungsmöglichkeit <strong>und</strong> einen eventuellen<br />

Handlungsbedarf geben ...". 41 Tatsächlich haben die Prognosen für Bildungsplaner<br />

einen höheren Stellenwert: Man hofft auf die Treffsicherheit<br />

der zugr<strong>und</strong>eliegenden Annahmen.<br />

7. Fazit<br />

Wir werden weiter mit ihnen leben müssen — den Prognosen über die Entwicklung<br />

des Bildungssystems <strong>und</strong> der Beziehung von Bildungs- <strong>und</strong> Beschäftigungssystem<br />

:<br />

— diesen Projektionen, die oft Annahmen über Trends als mehr oder weniger<br />

unabwendbare Ereignisse suggerieren,<br />

— diesen Zwittern von Projektionen <strong>und</strong> Wunschaussagen, die man nur bei<br />

der Liebe zur Lektüre des „Kleingedruckten" versteht,<br />

— diesen Planspielen, die unterschwellig das hohe Lied der Bedeutung von<br />

quantitativen <strong>und</strong> strukturellen Parametern für die Gestaltung des Bildungssystems<br />

singen,<br />

— diesen Modellen, bei denen Sophistizierung immer mit Verlust der handlichen<br />

Verwertung bedroht ist,<br />

— dieser Spielwiese für politisch eindrucksvolle Rechentricks: Man kann<br />

zum Beispiel den Hochschulen vorrechnen, daß sie Ende der 80er Jahren<br />

höchstens mit 140 Prozent Belastung ihrer Kapazität zu rechnen<br />

haben, obwohl man bei den Kapazitätsmaßstäben zur Zeit der Entscheidung<br />

für die Politik der Öffnung der Hochschulen <strong>und</strong> bei einer Trendextrapolation<br />

auf etwa 200 Prozent käme. 42<br />

Die wissenschaftliche Sozialisation, die Freude an Modellrechnungen der<br />

Prognoseforschung verleiht, ist für Soziologen in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland nicht üblich: Die Suche nach einem empirisch nicht unplau-<br />

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siblen <strong>und</strong> in den Paradigmen der eigenen Disziplin naheliegenden Satz konsistenter<br />

Modellannahmen, die dann in eine handliche Modellrechnung<br />

überführt werden; der wissenschaftliche Trost, daß eine solche Modellrechnung<br />

im Prinzip immer richtig ist, wenn sie die Modellannahmen richtig<br />

umsetzt, verb<strong>und</strong>en mit der Hoffnung, daß die Realität nicht zu große<br />

Sprünge macht, oder auch mit der gesellschaftspolitischen „Missionstätigkeit",<br />

die Realität den Modellannahmen ein wenig näherzubringen. Aus<br />

einer Distanz zu solchen Denkweisen erwächst schnell der Vorwurf, die<br />

Prognosen seien theoretisch naiv <strong>und</strong> praktisch manipulativ.<br />

Man wird dabei der praktischen Handlungssituation der Bildungsplanung<br />

nicht gerecht: Hier muß eine Lösung angesichts unvermeidlicher<br />

Unsicherheit gef<strong>und</strong>en werden, <strong>und</strong> jede Einsicht, die Handlungserfolg<br />

über die reine Zufallswahrscheinlichkeit hinaustreibt, ist ein Schritt in<br />

Richtung einer sinnvollen Lösung. Obendrein ist im Falle eines nachträglich<br />

sichtbaren Nicht-Zutreffens der Prognosen auch deutlich, daß das Mögliche<br />

getan worden war. Schließlich erlauben die üblichen Planungsmodelle<br />

Abschätzungen, in welchem Umfange jeweils Annahmen zu den einzelnen<br />

Parametern das Ergebnis beeinflussen; sie führen dem Planer plastisch die<br />

Folgerungen von Annahmen <strong>und</strong> Entscheidungen vor Augen.<br />

Vielleicht kann man bei genauer Betrachtung der Argumentationslogik<br />

von Bildungssoziologen erkennen, daß zwischen ihnen einerseits <strong>und</strong> den<br />

Ökonomen <strong>und</strong> Bildungsplanern andererseits nicht solche Distanzen liegen,<br />

wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Thesen, daß die Öffnung des<br />

Hochschulzugangs zur Veränderung der sozialen Herkunft von Studierenden<br />

führe oder umgekehrt die Umstellung des BAFöG auf ein reines Darlehnssystem<br />

zur sozialen Selektivität, unterscheiden sich nicht so sehr von<br />

der Logik <strong>und</strong> den Problemen der prognostischen Forschung.<br />

Die Möglichkeiten <strong>und</strong> Chancen der Bildungs<strong>soziologie</strong> im Kontext der<br />

Prognosen zu Bildung <strong>und</strong> zum Verhältnis von Bildung <strong>und</strong> Arbeit liegen<br />

meines Erachtens jedoch an einer anderen Stelle: In der wissenschaftlichen<br />

Klärung von Phänomenen, bei denen die Prognosen oft unreflektiert eine<br />

Fortschreibung des Status quo unterstellen <strong>und</strong> dann nicht selten von Veränderungen<br />

überrascht werden, <strong>und</strong> ebenso bei der Klärung von Phänomenen,<br />

bei denen in gemischten Projektions- <strong>und</strong> Planungsmodellen Veränderungen<br />

angenommen <strong>und</strong> betrieben werden, die sich dann nicht durchsetzen:<br />

Dazu gehören Analysen über Entwicklungstendenzen im Bildungs<strong>und</strong><br />

Berufswahlverhalten <strong>und</strong> deren Gründe, über den Strukturwandel des<br />

Bildungssystems bzw. Widerstände gegen Strukturveränderungen <strong>und</strong> deren<br />

Ursachen, Veränderungen der Arbeitsorganisation <strong>und</strong> deren Folgen<br />

für den Qualifikationsbedarf, Wirkungen von Diskrepanzen zwischen angenommenem<br />

Bedarf <strong>und</strong> vorliegendem Angebot <strong>und</strong> deren langfristige<br />

Strukturfolgen sowie über Auswirkungen erworbener Qualifikation auf Berufsweg<br />

<strong>und</strong> Arbeitshandeln. Solche Analysen versprechen nicht die Handlichkeit<br />

von Prognoserechnungen, sind aber für die Prognosestudien als Korrektiv<br />

unentbehrlich, um ein Überhandnehmen „strukturfatalistischer" An-<br />

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nahmen zu vermeiden <strong>und</strong> damit wirkliche Chancen zur Prognose der Zukunft<br />

oder zur Intervention gegenüber der befürchteten Zukunft zu bieten.<br />

Daneben sollten Bildungssoziologen einen Weg finden, sich mit der<br />

Prognostik <strong>und</strong> der darauf bezogenen Bildungsplanung kontinuierlich auseinanderzusetzen.<br />

Nur die kontinuierliche Sek<strong>und</strong>äranalyse kann einerseits<br />

die Bildungs<strong>soziologie</strong> dauerhaft für Fragen sensibilisieren, in denen sie<br />

durch Forschungsprojekte der oben genannten Art Erklärungen über <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Wandlungstendenzen geben kann, die in der Prognoseforschung<br />

gewöhnlich übersehen werden.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Arbeitsgruppen des Instituts für Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsforschung <strong>und</strong> des Max-<br />

Planck-Instituts für Bildungsforschung (Hrsg.): Bedarfsprognostische Forschung in<br />

der Diskussion 1976.<br />

2 H. Kern <strong>und</strong> M. Schumann: Technik <strong>und</strong> Industriearbeit. Frankfurt 1970.<br />

3 D. Hartung, R. Nuthmann <strong>und</strong> W.D. Winterhager: Politologen im Beruf. Stuttgart<br />

1971.<br />

4 M. Tessaring: „Evaluation von Bildungs- <strong>und</strong> Qualifikationsprognosen, insbesondere<br />

für hochqualifizierte Arbeitskräfte". In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsforschung,<br />

13. Jg. (1980), H. 2, S. 384.<br />

5 Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland: Entwurf: Prognose der Studienanfänger, Studenten <strong>und</strong><br />

Hochschulabsolventen bis 1995. Bonn 1982, vervielf. Manuskript.<br />

6 K. Hüfner: „Higher Educatiqn in the Federal Republic of Germany: a Planned or<br />

Market System? Or a Third Way?" In: R. Avakov u.a. (Eds.): Higher Education and<br />

Employment in the USSR and the Federal Republic of Germany. Paris: Unesco, IIEP<br />

1984, S.185 ff.<br />

7 Vgl. U. Teichler <strong>und</strong> B.C. Sanyal: „Higher Education and Employment in the<br />

Federal Republic of Germany". In: R. Avakov u.a., [Anm. 6], S. 133-1<strong>35</strong>.<br />

8 Siehe K. Hüfner (Hrsg.): Bildungsinvestitionen <strong>und</strong> Wirtschaftswachstum. Stuttgart<br />

1970.<br />

9 Siehe W. Clement: Educational and Labour Market Forecasting Activities in the<br />

Federal Republic of Germany and Austria. Paris: Unesco/IIEP 1982, vervielf. Manuskript.<br />

10 H. Peisert: „Hochschul<strong>entwicklung</strong> seit 1960 <strong>und</strong> Auswirkungen in die 90er Jahre.<br />

Vorhersagen <strong>und</strong> Wirklichkeit." In: Westdeutsche Rektorenkonferenz: Die Hochschulen<br />

in den 90er Jahren. Bonn 1980, S. 49-72.<br />

11 M. Tessaring, [Anm. 4], S. 374-397.<br />

12 Peisert, [Anm. 10], S. 53.<br />

13 [Anm. 10], S. 61.<br />

14 U. Teichler: „Öffnung der Hochschulen" — auch eine Politik für die 80er Jahre?<br />

Bremen: Senator für Wissenschaft <strong>und</strong> Kunst 1983, S. 39-52.<br />

15 Peisert, [Anm. 10], S. 65.<br />

16 Ebenda, S. 64.<br />

17 Tessaring, [Anm. 4], S. 396.<br />

18 Ebenda.<br />

19 Ebenda, S. 397.<br />

20 L. Alex: „Absolventenangebot <strong>und</strong> berufliche Flexibilität." In: U. Lohmar <strong>und</strong><br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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G.E. Ortner (Hrsg.): Die deutsche Hochschule zwischen Numerus clausus <strong>und</strong> Akademikerarbeitslosigkeit.<br />

Hannover 1975, S. 92-105.<br />

21 Vgl. D. Mertens: „Zur Diskussion über das Verhältnis von Bildungs-<strong>und</strong> Beschäftigungssystem:<br />

Entwurf für einen Satz Spielregeln". In: Stifterverband für die deutsche<br />

Wissenschaft (Hrsg.): Bildungsexpansion <strong>und</strong> Beschäftigungsstruktur am Beispiel<br />

des Abiturientenproblems. Essen-Bredeney 1976, S. 9-30.<br />

22 W. Jeschek: „Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen der Verbesserung bisheriger Prognoseansätze".<br />

In: Arbeitsgruppen des Instituts für Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsforschung <strong>und</strong><br />

des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung (Hrsg.): Bedarfsprognostische Forschungin<br />

der Diskussion. Frankfurt 1976, S. 128.<br />

23 D. Mertens: „Retrospektive <strong>und</strong> prospektive Beschäftigungsorientierung in der<br />

Bildungsplanung". In: Arbeitsgruppen [Anm. 22], S. 241.<br />

24 Tessaring, [Anm. 4], S. 391.<br />

25 Vgl. U. Teichler: Der Arbeitsmarkt für Hochschulabsolventen. <strong>München</strong> 1981, S.<br />

75 f.<br />

26 M. Kaiser: „Zur Flexibilität von Hochschulausbildungen: Ein Überblick über den<br />

Stand der empirischen Substitutionsforschung". In: Mitteilungen aus der Arbeitsmarkt-<br />

<strong>und</strong> Berufsforschung, 8. Jg. (1975), H. 5, S. 216 f.<br />

27 Kultusministerium Baden-Württe<strong>mb</strong>erg: Der Arbeitsmarkt für Akademiker in Baden-Württe<strong>mb</strong>erg<br />

bis 1990. Villingen-Schwenningen 1978.<br />

28 P. Heindlmeyer u.a.: Berufsausbildung <strong>und</strong> Hochschulbesuch. Pullach b. <strong>München</strong><br />

1973.<br />

29 W. Ar<strong>mb</strong>ruster u.a.: Expansion <strong>und</strong> Innovation. Berlin: Max-Planck-Institut für Bildungsforschung<br />

1971.<br />

30 So z.B. v. Gottsleben: „Überlegungen zum Thema: Kriterienkatalog zur Beurteilung<br />

beschäftigungsorientierter Bildungs- <strong>und</strong> Arbeitskräfteprognosen." In: Arbeitsgruppen<br />

[Anm. 22], S. 76-91.<br />

31 Siehe z.B. G. Brinkmann u.a.: Bildungsökonomik <strong>und</strong> Hochschulplanung. Darmstadt<br />

1976; L. Alex <strong>und</strong> G. Weisshuhn: Ökonomie der Bildung <strong>und</strong> des Arbeitsmarktes.<br />

Hannover 1980.<br />

32 Vgl. dazu D. Hartung, R. Nuthmann <strong>und</strong> U. Teichler: Bildung <strong>und</strong> Beschäftigung.<br />

<strong>München</strong> 1981, S. 109 f.<br />

33 So z.B. M. Baethge: „Abschied von Reformillusionen". In: betrifft: erziehung, 5.<br />

Jg. (1972), H. 11, S. 19-28.<br />

34 W. Ar<strong>mb</strong>ruster u.a., a.a.O.; U. Teichler, D. Hartung <strong>und</strong> R. Nuthmann: Hochschulexpansion<br />

<strong>und</strong> Bedarf der Gesellschaft. Stuttgart 1976.<br />

<strong>35</strong> Zu neueren Deutungen des Arbeitsmarktes für Hochschulabsolventen siehe z.B.<br />

A. Hegelheimer: Strukturwandel der Akademikerbeschäftigung. Essen-Bredeney:<br />

Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft 1984; C. Kemmet, H. Linke <strong>und</strong> R.<br />

Wolf: Studium <strong>und</strong> Berufschancen. Herford 1982.<br />

36 G. Kühlewind, D. Mertens <strong>und</strong> M. Tessaring: „Zur drohenden Ausbildungskrise im<br />

nächsten Jahrzehnt". In: Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft (Hrsg.):<br />

Schülerberg <strong>und</strong> Ausbildung. Stuttgart 1976, S. 26-40.<br />

37 Siehe U. Teichler: „Öffnung .... [Anm. 14], S. 21 ff.<br />

38 Siehe erstmals: Fünfter Rahmenplan für den Hochschulbau nach dem Hochschulbauförderungsgesetz.<br />

Bonn 1975.<br />

39 Teichler: „Öffnung [Anm. 14], S. 31-38.<br />

40 Ebenda, S. 39 ff.<br />

41 B<strong>und</strong>esminister für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft: Stand, Entwicklung <strong>und</strong> Ergebnisse<br />

der Prognoseforschung zum künftigen Arbeitskräfte- <strong>und</strong> Qualifikationsbedarf.<br />

Bonn 1980, S. 145 f.<br />

42 Teichler: „Öffnung [Anm. 14], S. 31 ff.<br />

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BILDUNG UND WERTWANDEL<br />

Helmut Klages<br />

I.<br />

Ich möchte am Anfang meiner Ausführungen fünf sehr allgemein gehaltene<br />

Aussagen zum Wert- oder Wertewandel machen, die ich im weiteren Verlauf<br />

nicht diskutieren, sondern schlicht voraussetzen will.<br />

Die erste dieser Aussagen lautet, daß es aus empirischer Perspektive gesehen<br />

sinnvoll <strong>und</strong> naheliegend ist, von einem „Wertwandel" in der Gesellschaft<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik zu sprechen, da es ganz zweifellos eine in bestimmter<br />

Richtung verlaufende Veränderung wesentlicher Teile der Wertausstattung<br />

breiter Bevölkerungsteile gegeben hat, deren Ergebnisse jedenfalls<br />

bisher in ihren Gr<strong>und</strong>zügen erhalten geblieben sind <strong>und</strong> somit zum<br />

„Bestand" unserer Gesellschaft rechnen.<br />

Die zweite Aussage betrifft die Richtung des Wertwandels. Diese wurde<br />

von Ronald Inglehart mit der inzwischen fast schon sprichwörtlich gewordenen<br />

Kurzformel eines Wandels von „materialistischen" zu „postmaterialistischen"<br />

Werten gekennzeichnet. Ich selbst meine, daß es in der Tat möglich<br />

ist, die Richtung des Wertwandels mit einer solchen Kurzformel zu<br />

kennzeichnen, solange man sich der hinter ihr verborgenen Komplexitität<br />

bewußt bleibt.<br />

Auch ich verwende in meinen eigenen Arbeiten gern eine solche Kurzformel,<br />

wobei ich mich allerdings der Inglehartschen Formulierung ungeachtet<br />

des Vorteils ihrer Eingeführtheit enthalte, da sie m.E. zu fehlerhaften<br />

Assoziationen verleitet. Meine eigene Formel lautet, schlagwortartig<br />

formuliert, daß ein Wandel von Pflicht- <strong>und</strong> Akzeptanzwerten zu Selbstentfaltungswerten<br />

stattgef<strong>und</strong>en hat. 1<br />

Meine dritte Aussage betrifft die zeitliche Eingrenzung des Wertwandels.<br />

Man hatte sich in letzter Zeit vielfach schon daran gewöhnt, sich diesen<br />

Wandel als eine bleibende Konstante unserer gegenwärtigen Gesellschafts<strong>entwicklung</strong>,<br />

oder möglicherweise sogar der modernen Gesellschafts<strong>entwicklung</strong><br />

schlechthin vorzustellen <strong>und</strong> hierbei eine unveränderte Wertwandlungsrichtung<br />

zu unterstellen. In der Tat scheint eine solche Auffassung<br />

insoweit nicht falsch zu sein, als sich bei einem internationalen Vergleich<br />

eine deutliche statistische Korrelation zwischen der Höhe des Sozialprodukts<br />

(<strong>und</strong> damit auch des sozio-ökonomischen Entwicklungsstands einer<br />

Gesellschaft) <strong>und</strong> der Ausprägung eines „individualistischen" Wertkomplexes<br />

feststellen ließ, der ganz zweifellos an wichtiger Stelle zu den<br />

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Selbstentfaltungswerten hinzuzurechnen ist. Im übrigen ist jedoch der konkrete<br />

Verlauf dieser säkularen, ganz langfristigen Wertwandlungstendenz in<br />

einem hohen Grade nicht-linear <strong>und</strong> instabil <strong>und</strong> somit auch als Gr<strong>und</strong>lage<br />

für Prognosen in die mittlere Zukunft ungeeignet. Für die B<strong>und</strong>esrepublik<br />

läßt sich feststellen, daß von ihrer Gründung bis zum Beginn der 60er Jahre<br />

von einem „Wertwandel" zunächst noch nicht die Rede sein konnte. Ein<br />

solcher Wandel setzte vielmehr erst Anfang der 60er Jahre (konkret gesagt<br />

um das Jahr 1963) ein. Er entfaltete in den nachfolgenden Jahren eine erstaunliche<br />

Schubkraft, um dann allerdings um die Mitte der 70er Jahre wieder<br />

abzuflauen. Wir haben also, um es ganz deutlich zu sagen, in diesem<br />

Zeitraum einen „Wertwandlungsschub" gehabt, der inzwischen aber zu Ende<br />

gegangen ist, so daß es sehr fragwürdig ist, auch im gegenwärtigen Augenblick<br />

noch von einem in Gang befindlichen oder fortschreitenden Wertwandel<br />

zu sprechen. Wenn ich im folgenden vom „Wertwandel" spreche, so<br />

meine ich immer den Wertwandlungsschub der 60er <strong>und</strong> 70er Jahre, auch<br />

wenn ich dies nicht immer deutlich werden lasse. 2<br />

Meine vierte Aussage knüpft hier unmittelbar an <strong>und</strong> betrifft den Zustand<br />

der Werte, der sich nach dem Abbrechen des Wertwandlungsschubs<br />

vorfindet. Grob gesagt finden wir in der Bevölkerung der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

heute Pflicht- <strong>und</strong> Akzeptanzwerte <strong>und</strong> Selbstentfaltungswerte in einer unentschiedenen<br />

Schwebelage nebeneinander. Dabei lassen sich an den Flügeln<br />

Minderheitsgruppen identifizieren, bei denen entweder die Pflicht- <strong>und</strong><br />

Akzeptanzwerte oder die Selbstentfaltungswerte deutlich überwiegen. Zwischen<br />

diesen Gruppen findet sich jedoch eine breite, jenseits der 50%-Grenze<br />

liegende Majorität, bei der so oder so gelagerte „Mischungen" von Werten<br />

vorliegen. In dieser Majorität haben die Menschen also Wertmuster, die<br />

beide Wertepole zugleich enthalten. Ein gewisses Hin- <strong>und</strong> Herschwanken<br />

der Wertausprägungen zwischen den beiden Polen — oder: eine niedrige<br />

Wertstabilität — scheint zu den Merkmalen der Wertemischung hinzuzugehören.<br />

3<br />

Meine fünfte <strong>und</strong> letzte Aussage betrifft die „soziodemographischen"<br />

Korrelate des Wertwandels (oder, genauer gesagt, des Wertwandlungsschubs)<br />

<strong>und</strong> dies ist eben derjenige Punkt, an welchem nun — aus der Perspektive<br />

der Wertforschung — die Bildung ins Spiel kommt.<br />

Grob gesagt, machte sich der Wertwandlungsschub der 60er <strong>und</strong> 70er<br />

Jahre nämlich vor allem bei jungen Menschen — <strong>und</strong> unter diesen insbesondere<br />

bei Schülern <strong>und</strong> Studenten in der Altersgruppe von 16 bis 24 Jahren<br />

— bemerkbar. Gelegentliche Vorstellungen, der Wertwandel sei ein reines<br />

Jugendphänomen, oder gar eine ausschließliche Erscheinung der Hochschulen<br />

<strong>und</strong> Universitäten, sind allerdings, wie ich gleich hinzufügen möchte,<br />

nicht zutreffend. Ungeachtet deutlicher Intensitätsunterschiede fand ein<br />

in gleicher Richtung verlaufender schwächerer Wertwandel auch bei einem<br />

großen Teil der älteren Menschen statt. Vergleicht man die Werte von jüngeren<br />

mit denen von älteren Menschen seit dem Beginn der 60er Jahre bis<br />

heute, dann kann man feststellen, daß die Jüngeren einen sehr plötzlichen<br />

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<strong>und</strong> schnellen Wertwandel erlebten, während die Älteren langsamer <strong>und</strong> natürlich<br />

auch begrenzter „nachzogen". 4<br />

II.<br />

Soviel zu den angekündigten Aussagen zum Wertwandel, mit denen ich dieses<br />

sehr komplexe Phänomen in groben Strichen umreißen wollte.<br />

Das für das weitere Vorgehen wesentliche Appelldatum ist im Rahmen<br />

des augenblicklichen Themas natürlich die Tatsache, daß dem Merkmal<br />

„Bildungsniveau" — ungeachtet der gerade eben erwähnten Einschränkungen<br />

— im Hinblick auf die Erklärung der Wert<strong>entwicklung</strong> eine erstrangige<br />

Bedeutung zukommt. Wie groß diese Bedeutung ist, wird erkennbar, sobald<br />

man sich die Tatsache vor Augen führt, daß das Merkmal „Bildungsniveau"<br />

in Ko<strong>mb</strong>ination mit dem Merkmal „Lebensalter" — im Hinblick auf die Beeinflussung<br />

<strong>und</strong> Formung der Werte — das herkömmlicherweise dominierende<br />

Merkmal des sozio-ökonomischen Status (oder: der Schicht- <strong>und</strong><br />

Klassenzugehörigkeit) überr<strong>und</strong>et <strong>und</strong> relativiert hat. 5<br />

Es ist von daher nahegelegt, sich die Frage zu stellen, ob vielleicht bestimmte<br />

eingewurzelte Gr<strong>und</strong>vorstellungen herkömmlichen soziologischen<br />

Denkens aufgr<strong>und</strong> der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung überholt sind, ob<br />

konkreter gesagt, vielleicht die „soziale Schichtung" als Inbegriff der von<br />

der Arbeitswelt ausgehenden <strong>und</strong> über die Familie vermittelten <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Umstände die Menschen nur noch in abnehmendem Maße formt, ob<br />

sich vielleicht vor sie neue, dynamischere <strong>und</strong> in starkem Maße von der Bildungswelt<br />

beeinflußte Sozialisationsformen schieben, in denen der Kultursphäre<br />

Sozialisationsmacht zuwächst.<br />

Es kann kein Zweifel daran bestehen, daß einer solchen Fragestellung<br />

auf der Ebene der gesellschafts- <strong>und</strong> kulturtheoretischen Betrachtung eine<br />

schlechthin entscheidende Bedeutung zukommt. Wendet man sich dieser<br />

Fragestellung mit dem für Details geschärften Blick des Empirikers zu, dann<br />

fallen allerdings sofort schwerwiegende Ungewißheiten ins Auge, von denen<br />

ihre Beantwortung umstellt zu sein scheint. Die im ersten Augenblick unbesehen<br />

plausibel erscheinende Tatsache eines „Zusammengehens" von Bildungsniveau<br />

<strong>und</strong> Wertwandel erscheint dann plötzlich unplausibel <strong>und</strong> erklärungsbedürftig.<br />

Wieso <strong>und</strong> auf welche Weise hängen denn eigentlich — so muß der Empiriker<br />

nämlich fragen — Bildungsniveau <strong>und</strong> Wertwandel überhaupt zusammen?<br />

Was ist es, das diese beiden Sachverhalte zusammenbringt? Und wofür<br />

steht der aus jeder Fragebogen-Soziographie geläufige Ausdruck „Bildungsniveau"<br />

im vorliegenden Zusammenhang? Steht er vielleicht für eine „Prägung"<br />

des Menschen durch Bildungsinstitutionen, die möglicherweise umso<br />

stärker <strong>und</strong> nachdrücklicher zur Geltung gelangt, je länger man sich in ihnen<br />

aufhält? Oder steht der Begriff etwa — das wäre eine gänzlich andersartige<br />

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Möglichkeit — für die Ergebnisse einer dem Schul- oder Hochschulbesuch<br />

vorgelagerten sozialen Auslese junger Menschen mit einer besonders starken<br />

Disposition für Selbstentfaltungswerte, die in den Bildungsinstitutionen<br />

selbst nur „verstärkt" oder „aufgeschaukelt" würde? Oder steht der Begriff<br />

vielleicht gar nur für die Auswirkung der mit der Zugehörigkeit zu Bildungseinrichtungen<br />

verb<strong>und</strong>enen allgemeinen Lebenssituation, so etwa für die<br />

Wirkung des Zusammentreffens einer Freisetzung von Berufsarbeit mit finanzieller<br />

Abhängigkeit? Oder vielleicht auch nur für eine besondere Empfänglichkeit<br />

für Wertpropagierungen?<br />

Und wenn es sich um „Prägung" handeln sollte — handelt es sich dann<br />

hierbei um eine Beeinflussung durch Bildungsinhalte, oder vielleicht auch<br />

durch Bildungsformen <strong>und</strong> -umstände, die für die gehobeneren Bereiche des<br />

Bildungssystems typisch waren <strong>und</strong> sind, bzw. typisch wurden, als ältere<br />

Formen <strong>und</strong> Umstände — in den 60er Jahren — durch neue abgelöst wurden?<br />

Man kann auf den ersten Blick erkennen, daß diese Alternativen der<br />

Deutung des empirisch beobachtbaren Korrelierens von Wertwandel <strong>und</strong><br />

Bildung höchst unterschiedlich <strong>und</strong> kontrovers sind. Man mag sich aber,<br />

wenn man an diesem Punkt der Einsicht angelangt ist, zumindest einen Augenblick<br />

lang mit dem Gedanken trösten, daß die in dem fraglichen Erkenntnisfeld<br />

zahlreich versammelten Forschungsdisziplinen das Problem sicherlich<br />

längst erkannt <strong>und</strong> wahrscheinlich auch gelöst haben werden, so daß es<br />

möglich ist, die Beantwortung der aufgeworfenen Fragen aus vorhandenen<br />

Forschungsergebnissen abzulesen. Man mag hierbei neben der Wertforschung<br />

selbst an die Schul- <strong>und</strong> Hochschulsozialisationsforschung, wie natürlich<br />

auch an die Jugendforschung denken, d.h. also an gut besetzte Disziplinen,<br />

denen gegenüber es wenig Anlaß zur Zurückhaltung hochgespannter<br />

Erwartungen zu geben scheint.<br />

Ich hoffe mich nun allerdings mit den Forschern der betreffenden Disziplinen<br />

in Übereinstimmung zu befinden, wenn ich behaupte, daß eine vertrauensvolle<br />

Wissenszuschreibung dieser Art den gegenwärtig gegebenen Erkenntnisstand<br />

bei weitem überfordern würde. Es läßt sich vielmehr umgekehrt<br />

die These aufstellen, daß die hinter dem statistischen Zusammenhang<br />

von Wertwandel <strong>und</strong> Bildungsniveau stehende Kausalität gegenwärtig noch<br />

verhältnismäßig unerforscht <strong>und</strong> im ganzen genommen unklar ist, so daß<br />

ihre Aufhellung zu den wesentlichen Aufgaben rechnen muß, die sich im<br />

Themenbereich „Bildung <strong>und</strong> Wertwandel" aktuell stellen.<br />

Die Erklärung dieses überraschenden Wissensdefizits muß auf diese<br />

Entwicklungssituation der im Spiele befindlichen Forschungsdisziplinen<br />

eingehen <strong>und</strong> fordert mehr Zeit <strong>und</strong> Raum als an dieser Stelle zur Verfügung<br />

stehen. Ich will es deshalb bei der Negativfeststellung belassen <strong>und</strong><br />

6<br />

mich vielmehr — innerhalb derjenigen Grenzen, die durch den Forschungsstand<br />

gesetzt sind — an die soeben definierte Aufgabenstellung heranbegeben,<br />

d.h. also den Versuch unternehmen, einen Beitrag zur Aufhellung der<br />

zwischen Bildungsniveau <strong>und</strong> Wertwandel bestehenden Kausalbeziehung zu<br />

leisten.<br />

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Da der eigentlich wünschenswerte Weg einer Präsentation <strong>und</strong> Erörterung<br />

einschlägiger Daten zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht gangbar<br />

ist, wähle ich hierbei als Vorgehensweise den Weg der Hypothesenaufstellung<br />

auf der Gr<strong>und</strong>lage verhältnismäßig unvollständiger empirischer Informationen.<br />

Exakter ausgedrückt, begehe ich in den nachfolgenden Minuten<br />

diejenigen vergleichsweise fre<strong>und</strong>lichen Anfangsteile dieses Weges, in denen<br />

der sozialwissenschaftlichen Phantasie noch keine allzu engen Grenzen<br />

durch Operationalisierungserfordernisse gesetzt sind. Ich trage, noch zurückhaltender<br />

ausgedrückt, Vermutungen zusammen, die in das bestehende<br />

Wissensloch hineinpassen <strong>und</strong> mit denen sich somit eine Hoffnung auf seine<br />

irgendwann einmal nachfolgende, strengeren Prüfkriterien Rechnung tragende<br />

Schließung verbinden läßt.<br />

III.<br />

Ich möchte, wenn ich mich in die Hypothesenformulierung hineinbegebe,<br />

mit einem nochmaligen Blick auf diejenigen Ergebnisse der Wertforschung<br />

beginnen, denen zufolge der Wertwandel bei Schülern <strong>und</strong> Studenten besonders<br />

deutlich war. Konkreter formuliert heißt dies u.a., daß Schüler <strong>und</strong><br />

Studenten der 60er <strong>und</strong> 70er Jahre — zumindest zum Teil — andere Werte<br />

hatten als Schüler <strong>und</strong> Studenten der 50er Jahre. Diese letzteren waren, mit<br />

einem Wort gesagt, „konservativer" (oder: stärker an Pflicht- <strong>und</strong> Akzeptanzwerten<br />

orientiert) als die Angehörigen der nachfolgenden Alterskohorten.<br />

Gleichzeitig läßt sich aber auch feststellen, daß sich die Studenten <strong>und</strong><br />

Schüler aller Kohorten in charakteristischer Weise stets von anderen jugendlichen<br />

Teilgruppen, wie natürlich auch von der Gesamtbevölkerung unterschieden.<br />

So waren auch die Schüler <strong>und</strong> Studenten der 50er Jahre in mancher<br />

— keinesfalls in jeder — Hinsicht „progressiver" (oder: mehr an Selbstentfaltungswerten<br />

orientiert) als Lehrlinge <strong>und</strong> Berufstätige. 7<br />

Was sich aus dieser Duplizität von Ergebnissen ablesen läßt, ist eine Einsicht,<br />

die für die beabsichtigte Aufhellung des Zusammenhangs von Wertwandel<br />

<strong>und</strong> Bildung von gr<strong>und</strong>sätzlicher Bedeutung ist. Wir können hieraus<br />

nämlich — mit einiger Vorsicht <strong>und</strong> in steter Rückbesinnung auf die Unvollständigkeit<br />

der Daten — die Folgerung ableiten, daß dieser Zusammenhang<br />

unterschiedliche Direktheitsgrade aufweist. Erinnern wir uns der zusätzlichen<br />

Tatsache, daß sich der Wertwandel der 60er <strong>und</strong> 70er Jahre bei Schülern<br />

<strong>und</strong> Studenten deutlicher <strong>und</strong> stärker vollzog als bei den anderen Teilen<br />

der Jugend <strong>und</strong> bei der übrigen Bevölkerung, dann haben wir die Voraussetzungen<br />

für die Formulierung einer übergreifenden Leit- <strong>und</strong> Basishypothese<br />

in der Hand, die wie folgt lautet: Schüler <strong>und</strong> Studenten besaßen<br />

schon vor dem Wertwandlungsschub mehrheitlich eine in seine Richtung<br />

weisende besondere Wertdisposition, die aber bei seinem Einsetzen aktiviert<br />

wurde. Hebt man diese Hypothese auf eine höhere Verallgemeinerungsstufe,<br />

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dann lautet sie dahingehend, daß sich „Bildung" — in dem institutionellen<br />

Verständnis, das wir heute mit ihr verbinden — mit einer Disposition für<br />

eben denjenigen Typus der Wertänderung verbindet, den wir in den 60er<br />

<strong>und</strong> 70er Jahren gehabt haben, daß aber die Realisierung <strong>und</strong> Ausschöpfung<br />

dieser Disposition an das Vorhandensein „interagierender" <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Außenbedingungen geb<strong>und</strong>en ist, denen gewissermaßen die Qualität<br />

von Katalysatoren <strong>und</strong> Verstärkern zukommt.<br />

Die nachfolgenden Hypothesengruppen lassen sich dieser zunächst noch<br />

sehr allgemein <strong>und</strong> abstrakt formulierten Leithypothese allesamt als konkreter<br />

ansetzende Verständnishilfen zuordnen. 8<br />

In einer ersten Hypothesengruppe geht es hierbei zunächst um die sehr<br />

gr<strong>und</strong>legende Tatsache, daß das Bildungssystem in unserer heutigen Gesellschaft<br />

— vor allem in seinen gehobenen Regionen — ein Wissen vermittelt,<br />

das den laufenden Wissenschaftsfortschritt aufnimmt <strong>und</strong> verkörpert. Das<br />

verwissenschaftliche Wissen der Schule <strong>und</strong> Hochschule konkurriert hierbei<br />

mit demjenigen <strong>gesellschaftliche</strong>n Alltagswissen, als dessen Hauptträger sich<br />

die Familie ausmachen läßt.<br />

Die gr<strong>und</strong>sätzliche Veraltetheit des „Bekanntheitsraums" der Familie 9<br />

wird in dieser Konkurrenz manifest <strong>und</strong> erfahrungswirksam. Es verbindet<br />

sich hiermit eine Erschütterung der kognitiven Gr<strong>und</strong>lagen der familialen<br />

Autorität <strong>und</strong> somit ein Beitrag zu deren Entmythologisierung. Es werden<br />

hierdurch aber auch wesentliche Legitimationsstützen der von der Familie<br />

vermittelten Pflicht- <strong>und</strong> Akzeptanzwerte in Frage gestellt. Es entsteht im<br />

Bereich dieser Werte somit eine Wertverunsicherung <strong>und</strong> ein Wertverlust.<br />

Dieser wird durch die im Bildungssystem ermöglichte geballte Kommunikation<br />

mit Gleichaltrigen (mit den sog. „peers") noch verstärkt.<br />

Die zweite Hypothesengruppe kann hier unmittelbar anschließen. Es<br />

geht in ihr um den von der Modernisierungstheorie vielfach beobachteten<br />

<strong>und</strong> erörterten allgemeineren Sachverhalt, daß die Konfrontation mit dem<br />

in den höheren Regionen des Bildungssystems vermittelten Wissen zu einer<br />

inneren Ablösung der Menschen aus ihren sozialen Herkunftsmilieus <strong>und</strong><br />

-bindungen beiträgt. Gut belegt sind in diesem Zusammenhang diejenigen<br />

10<br />

Anhebungen beruflicher Aspirationen über die Sozialschicht der Eltern<br />

hinaus, die sich bei Schülern <strong>und</strong> Studenten aus der unteren Mittelschicht<br />

<strong>und</strong> aus den sog. Unterschichten finden. Allgemeiner ausgedrückt weitet<br />

sich der Handlungsraum aus, in welchen man als junger Mensch seine Zukunftsbilder<br />

hineinprojiziert. An die Stelle von Vorstellungen vorherbestimmten<br />

Lebens treten mehr oder weniger ausgreifende, in abgehobene<br />

Regionen des sozialen Möglichkeitsraums vorstoßende Zielbilder, welche<br />

man typischerweise mit besonderen Fähigkeiten, die man sich selbst zuschreibt,<br />

verbindet. Auch hier ergibt sich der Effekt einer Abwertung von<br />

Pflicht- <strong>und</strong> Akzeptanzorientierungen zugunsten von Selbstentfaltungsbezügen.<br />

Die nachfolgenden Hypothesengruppen drei <strong>und</strong> vier unterscheiden<br />

sich von den beiden ersten dadurch, daß sie den Gesichtspunkt einer mit<br />

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Bildung verb<strong>und</strong>enen inneren Ablösung <strong>und</strong> Abwendung von Verbindlichkeiten<br />

auf einen anderen Wirklichkeitsbereich übertragen. Stand eben das<br />

von der Familie bestimmte Herkunftsmilieu im Vordergr<strong>und</strong>, so kommt<br />

nunmehr die Arbeitswelt als Zielbereich der Lerntätigkeit ins Spiel.<br />

Bei der dritten Hypothesengruppe geht es dabei zunächst nochmals um<br />

die Art des Wissens, das in Schulen <strong>und</strong> Hochschulen vermittelt wird. Dieses<br />

Wissen ist typischerweise nicht auf Berufs- <strong>und</strong> Arbeitsrollen bezogen,<br />

sondern hält diesen gegenüber einen gr<strong>und</strong>sätzlichen <strong>und</strong> insgesamt zunehmenden<br />

Abstand offen. Daß dies so ist, wird einerseits durch das im schulischen<br />

Bereich vorherrschende Prinzip einer allgemeinen Gr<strong>und</strong>bildung,<br />

11<br />

weiter aber auch — an den Hochschulen — dadurch herbeigeführt, daß hier<br />

ein Prinzip der Wissenssystematisierung dominiert, das sich an Theoriebildungsinteressen<br />

orientiert. Gegenüber den Wissenserfordernissen der Berufspraxis<br />

ist hier eine kognitive Distanz im Spiel, der „Dissonanz"-Qualitäten<br />

im Sinne der Theorie der kognitiven Dissonanz anhaften. Daß Absolventen<br />

verschiedenster Fachrichtungen — heute mehr als früher — beim Übergang<br />

in die Arbeitswelt einen „Praxisschock" erleiden, ist eines derjenigen Phänomene,<br />

die hier eine Wurzel haben. Dieser Schock läßt sich zwar zum Teil<br />

durch das schlichte Erlebnis der Unvorbereitetheit auf den Beruf erklären.<br />

Es hat seine Ursache aber auch darin, daß im Beruf die Orientierung an<br />

Weltverständnis vermittelnden, den eigenen „Durchblick" erweiternden<br />

Wissenschaftsstoffen durch die Orientierung an pflichtgemäß zu befolgenden<br />

Regeln ersetzt wird, in denen sich die laufenden Funktionserfordernisse<br />

überpersönlicher Arbeitszusammenhänge niederschlagen. Es wird hierin<br />

deutlich, in welchem Maße die Lerntätigkeit in der Bildungswelt Selbsterweiterungsinteressen<br />

anstelle von Disziplinansprüchen Raum gibt.<br />

Die vierte, weitläufiger zu erörternde Hypothesengruppe vermag hier<br />

unmittelbar anzuschließen, wenngleich sie unter einem anderen Systematisierungsgesichtspunkt<br />

steht. Es geht hierbei um eine Mehrzahl von „Freisetzungen"<br />

<strong>und</strong> „Entlastungen", denen Schüler <strong>und</strong> Studenten in Bildungseinrichtungen<br />

aufgr<strong>und</strong> des in ihnen vorherrschenden Organisations- <strong>und</strong><br />

Arbeitsstils unterliegen.<br />

Hierbei ist zunächst einmal an eine f<strong>und</strong>amentale Freisetzung zu einer<br />

die eigene Entwicklung fördernden Tätigkeit zu denken, deren sich der<br />

Schüler selbst oft gar nicht bewußt wird, die aber bei einem Vergleich mit<br />

der Situation des Berufstätigen sofort deutlich wird. „Nicht für die Schule,<br />

für das Leben lernen wir" war <strong>und</strong> ist diejenige charakteristische Leitmaxime,<br />

die den vom Bildungssystem geradezu aufgenötigten Selbstbezug <strong>und</strong><br />

Selbstentfaltungswert des Lernens zum Ausdruck bringt. Der einzelne sieht<br />

sich von daher f<strong>und</strong>amental auf den eigenen Lebenslauf als die wesentliche<br />

Bezugsgröße seines Tuns verwiesen. Er befindet sich damit in einem extremen<br />

Kontrast zur Normalsituation des Berufstätigen in der Arbeitswelt, der<br />

seine Tätigkeitsrolle auch dann, wenn er Aufstiegsinteressen hat, mit voller<br />

Eindeutigkeit primär für die Firma oder Behörde, für den K<strong>und</strong>en oder Bürger,<br />

oder z.B. auch für diejenige Arbeitsgruppe ausübt, mit der er durch ein<br />

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Lohnakkordsystem verb<strong>und</strong>en ist. Auch hierdurch werden Dispositionen<br />

begünstigt, die in Richtung der Selbstthematisierung <strong>und</strong> der Selbstentfaltung<br />

verlaufen.<br />

Solche Dispositionen erfahren nun aber erhebliche weitere Stützungen<br />

durch eine Vielzahl von ,,Situations"-Merkmalen, welche sich mit der Lerntätigkeit<br />

verbinden.<br />

So ist der oder die Lernende typischerweise von der Verantwortung für<br />

die Folgen aktuellen Handelns freigesetzt. Die Mitschüler oder Kommilitonen<br />

leiden nicht darunter, wenn er oder sie in einer Klausur versagt. Er oder<br />

sie selbst ist letztlich auch dazu aufgerufen, aus Leistungserfolgen oder -mißerfolgen<br />

Konsequenzen abzuleiten. Wenn dagegen im BAT (im B<strong>und</strong>esangestelltentarif<br />

also) von „verantwortungsvoller Tätigkeit" die Rede ist, dann<br />

geht es immer nur um die Frage, ob jemand dazu in der Lage ist, ohne direkte<br />

Anleitung <strong>und</strong> Beaufsichtigung etwas zu tun, was sich berechenbar<br />

<strong>und</strong> präzise in den Leistungszusammenhang eines Betriebs einfügt <strong>und</strong> was<br />

selbstverständlich einer hierauf abstellenden Erwartungsnorm, Kontrolle<br />

<strong>und</strong> Bewertung unterliegt. Auch im Bereich der Verantwortungsdefinition<br />

stoßen wir in Bildungseinrichtungen also auf den Sachverhalt eines im Vordergr<strong>und</strong><br />

stehenden Selbstbezugs <strong>und</strong> Selbstentfaltungswerts der Tätigkeit,<br />

d.h. also auf die Hervorhebung des individuellen Persönlichkeitssystems als<br />

der Bezugsinstanz des einzelnen. Auch von hierher läßt sich also von einer<br />

nachdrücklichen Förderung von Dispositionen für Selbstentfaltungswerte<br />

sprechen.<br />

Roland Eckert hat jüngst auf einen weiteren, in diesem Zusammenhang<br />

interessanten Aspekt, hingewiesen, auf die Freisetzung von Zwängen zur<br />

arbeitsteiligen Kooperation nämlich, von denen in der Arbeitswelt höchstgradige<br />

Disziplinanforderungen ausgehen <strong>und</strong> die dort die Erhaltung von<br />

Pflicht- <strong>und</strong> Akzeptanzwerten begünstigen. Der Schüler <strong>und</strong> Student lernt<br />

12<br />

im Regelfall allein, <strong>und</strong> wenn er sich von Zeit zu Zeit mit anderen zu einer<br />

Arbeitsgruppe zusammenfindet, dann handelt es sich charakteristischerweise<br />

um ein Unternehmen auf Gegenseitigkeitsgr<strong>und</strong>lage, das nach dem<br />

Prinzip des Tausches von Hilfs- <strong>und</strong> Unterstützungsleistungen aufgebaut<br />

ist, das also wiederum den Selbstbezug voraussetzt <strong>und</strong> stabilisiert. Die<br />

Freiheiten der individuellen Themenwahl <strong>und</strong> der individuellen Auswahl<br />

von Lehrangeboten bestätigen diesen Sachverhalt sehr nachdrücklich.<br />

Ganz ähnlich verhält es sich nun aber auch hinsichtlich der Freisetzung<br />

von Zwängen zur Identifikation mit Organisationszielen, der sich zumindest<br />

die Inhaber gehobener Stellen in Unternehmungen <strong>und</strong> Behörden in der Regel<br />

nicht entziehen können. Natürlich gibt es auch in Schulen <strong>und</strong> Hochschulen<br />

ein „Organisationsklima", das Identifikationszwänge einschließt.<br />

Legt man die Bedingungen der B<strong>und</strong>esrepublik zugr<strong>und</strong>e, dann wird man allerdings<br />

kaum von einem starken Zwang zur Identifikation mit den Leistungserwartungen<br />

<strong>und</strong> Wissenschaftszielen von Lehrern <strong>und</strong> Dozenten sprechen<br />

können. Eher kommen hier die Gleichaltrigen, die „peers" zum Zuge.<br />

Im unmittelbaren Zusammenhang hiermit kann die relative Freisetzung von<br />

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hierarchischer Kontrolle erwähnt werden, die es in unseren Bildungseinrichtungen<br />

— insbesondere natürlich an den Universitäten — gibt.<br />

Wiederum muß registriert werden, daß das subjektive Selbst- <strong>und</strong> Situationsbild<br />

von Schülern <strong>und</strong> Studenten diesen Punkt vielfach ausklammert.<br />

Vergleicht man das Ausmaß <strong>und</strong> den Charakter hierarchischer Kontrolle<br />

in Bildungseinrichtungen <strong>und</strong> in der Arbeitswelt, so wird man aber eklatante<br />

Unterschiede finden, die sich allein schon aus dem zahlenmäßigen<br />

Verhältnis zwischen Aufsichtsträgern <strong>und</strong> Aufsichtsunterworfenen ableiten.<br />

Außerdem ist aber insbesondere in der Universität der auf Anweisungs<strong>und</strong><br />

Disziplinierungsfunktionen entfallende Anteil im Zeitbudget der Dozenten<br />

fast gleich Null, während er im Zeitbudget von Vorgesetzten eine<br />

beträchtliche Rolle spielt. Und letztlich steht Lehrern <strong>und</strong> Dozenten natürlich<br />

nur ein winziger Bruchteil derjenigen Anweisungs- <strong>und</strong> Disziplinierungsmittel<br />

<strong>und</strong> -kompetenzen zur Verfügung, die sich in Wirtschafts- oder Behördenbetrieben<br />

in den Händen von Vorgesetzten finden. Auch hier also<br />

wiederum: Weitgehende Angewiesenheit des einzelnen auf sich selbst, d.h.<br />

auf seine eigene Motivationslage <strong>und</strong> moralische Kompetenz in Verbindung<br />

mit den Einflüssen, die von gleichaltrigen Kohortenmitgliedern ausgehen.<br />

Ein letzter Punkt, der im Rahmen der vierten Hypothesengruppe zu erwähnen<br />

ist, betrifft die relativ große Freisetzung zu selbstgewählten, unmittelbar<br />

auf Selbstthematisierung, Selbstdarstellung <strong>und</strong> Selbstverwirklichung,<br />

abstellenden <strong>und</strong> der freien Disposition unterliegenden Tätigkeiten, die<br />

Schülern <strong>und</strong> Studenten zumindest in unseren Bildungseinrichtungen gewährt<br />

ist. Auch hier mögen Schüler <strong>und</strong> Studenten subjektiv einen anderen<br />

Eindruck haben. Immerhin gehört es aber zu den überraschenden Ergebnissen<br />

der Konstanzer Forschungsgruppe Hochschulsozialisation, festgestellt<br />

zu haben, daß bei den untersuchten Studenten bis in die Vorexamenssemester<br />

hinein eine ausgeprägte „Freizeitorientierung eine dominierende<br />

Rolle" spielte. An diese eine Feststellung läßt sich die weitere anschließen,<br />

13<br />

daß Schüler <strong>und</strong> Studenten bei starker finanzieller Abhängigkeit von der<br />

Verantwortung für die Sicherstellung ihrer eigenen materiellen Existenz <strong>und</strong><br />

der Bedürfnisse anderer Menschen weitgehend freigesetzt sind. Man mag<br />

Anlaß sehen, diesen Punkt gesondert zu betrachten <strong>und</strong> mit besonderen Bedeutungsakzenten<br />

zu versehen, <strong>und</strong> man kommt dann zu dem bekannten<br />

Postadoleszenz-Theorem von Keniston. 14<br />

IV.<br />

Ich möchte meine Hypothesenliste für den Augenblick abschließen <strong>und</strong> will<br />

zu einigen Ergänzungen <strong>und</strong> Kommentaren übergehen.<br />

Es wird sich dabei zunächst darum handeln müssen, auf die unbezweifelbaren,<br />

oft mit Händen zu greifenden Unterschiede zwischen Schülern<br />

<strong>und</strong> Studenten verschiedener Schultypen <strong>und</strong> Fachrichtungen hinzuweisen,<br />

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die sich auch auf der Ebene der Wertdispositionen auffinden lassen. In<br />

15<br />

solchen Unterschieden kommen zunächst Abschattierungen in den Ausprägungen<br />

<strong>und</strong> Wirkungen der in meiner Hypothesenliste erwähnten Faktoren<br />

zur Geltung. Es kann keinen Zweifel daran geben, daß das jeweilige Gewicht<br />

der von mir erwähnten Distanzierungs-, Freisetzungs- <strong>und</strong> Entlastungsformen<br />

z.B. vom Charakter des Lehrstoffs <strong>und</strong> von der Art seiner Aufbereitung<br />

<strong>und</strong> Behandlung beeinflußt wird. Ein Fach, das viele Praktika aufweist,<br />

hat andere Sozialisationsfolgen als ein reines Theorie- oder Lektürefach.<br />

Es kommen an dieser Stelle aber unvermeidlich weitere Faktoren wie<br />

der jeweilige Charakter des Lehrpersonals <strong>und</strong> der qualitative „Geist" von<br />

Bildungsinstitutionen ins Spiel. Faktoren solcher Art bringen wiederum<br />

16<br />

— aufgr<strong>und</strong> ihrer Bedeutung für das „Image" von Bildungsinstitutionen —<br />

Folgen für die Auslese bestimmter Schüler- <strong>und</strong> Studententypen mit sich.<br />

Das alles sind Dinge, die von der Schul- <strong>und</strong> Hochschulsozialisationsforschung<br />

mit ausreichender Dichte <strong>und</strong> Stringenz erforscht worden sind <strong>und</strong><br />

die jeder, der sich ein wenig auskennt, aus eigener Erfahrung bestätigen<br />

kann. Ihre systematische Bedeutung darf nun allerdings auch wiederum<br />

nicht überschätzt werden. Sie modifizieren zwar das allgemeine Bild, das<br />

ich in meiner Hypothesenliste einzufangen versucht habe, aber sie bestimmen<br />

es nicht — solange jedenfalls nicht, wie das Globalthema „Bildung<br />

<strong>und</strong> Wertewandel" in unreduzierter Gr<strong>und</strong>sätzlichkeit im Blick behalten<br />

wird. In dem Augenblick, in welchem man dieses Globalthema weicher<br />

oder auch spezialisierter angeht, können sich diese Dinge natürlich in den<br />

Vordergr<strong>und</strong> schieben. Dies ist — im Unterschied zur Wertforschung — sehr<br />

weitgehend in den bisherigen Arbeiten der Schul- <strong>und</strong> Hochschulsozialisationsforschung<br />

der Fall gewesen, welche sich speziell mit Schülern <strong>und</strong> Studenten<br />

beschäftigt hat, <strong>und</strong> welche daher zwangsläufig eine geschärfte Wahrnehmungsfähigkeit<br />

für die zwischen ihnen bestehenden Unterschiede <strong>und</strong><br />

deren Bedingungen entwickelt hat. Im Rahmen der von mir gewählten Behandlungsperspektive,<br />

die durch das Allgemeinthema „Bildung <strong>und</strong> Wertwandel"<br />

bestimmt ist, kann dagegen dem überwiegenden Teil der Ergebnisse<br />

dieser ertragreichen Forschungsrichtung nur ergänzende Aussagekraft<br />

zukommen. Ich sage dies sehr ausdrücklich, um unproduktive Mißverständnisse<br />

auszuschließen.<br />

Ich möchte in einer weiteren ergänzenden Bemerkung auf etwas zurückkommen,<br />

was ich meinen Hypothesen in der vorhergehenden „Basis- <strong>und</strong><br />

Leithypothese" vorangestellt hatte. Ich sagte dort, daß Bildung eine „Disposition"<br />

für Wertänderungen erzeuge, daß deren Realisierung <strong>und</strong> Ausschöpfung<br />

aber an das Vorhandensein „interagierender" <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Außenbedingungen geknüpft sei.<br />

Wir können uns an dieser Stelle nur sehr abgekürzt mit der bislang noch<br />

nicht behandelten Frage beschäftigen, was unter diesen „Außenbedingungen"<br />

zu verstehen ist. Nach alledem, was in der Wertforschung darüber bisher<br />

auszumachen war, handelt es sich hierbei einerseits um das jeweilige<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> „Wertklima", d.h. also um die Summe derjenigen Wert-<br />

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evorzugungen <strong>und</strong> Wertlegitimierungen, die — unter Vermittlung durch<br />

die Medien — durch die meinungsbildenden politisch-kulturellen Kräfte der<br />

Gesellschaft hervorgebracht werden. Es handelt sich andererseits aber auch<br />

um die je nach gegebener Lage nach der einen oder anderen Richtung ausschlagenden<br />

Wertermutigungen <strong>und</strong> -entmutigungen, die von den wahrgenommenen<br />

wirtschaftlichen <strong>und</strong> politischen Rahmenbedingungen ausstrahlen.<br />

Führen wir uns die Verhältnisse vor Augen, die in der ersten Hälfte der<br />

60er Jahre zum Einsetzen des Wertwandlungsschubs <strong>und</strong> um die Mitte der<br />

70er Jahre zu seinem Abbrechen führten, so erkennen wir, daß das <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Wertklima <strong>und</strong> die wahrgenommenen Rahmenbedingungen ganz<br />

offenbar gekoppelt waren, d.h. also in einer gewissermaßen „konsonanten"<br />

Weise Wertdispositionen begünstigten oder zurückdrängten. 17<br />

Schwieriger als dies ist vielleicht zu verstehen, was unter dem „Interagieren"<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Außenbedingungen mit den innerhalb des Bildungssystems<br />

entstehenden Wertdispositionen konkret verstanden werden<br />

kann. Man trifft die Dinge wahrscheinlich am besten, wenn man davon<br />

ausgeht, daß durch die Sozialisationseinwirkungen des Bildungssystems<br />

„Aspirationen" in bestimmter Richtung erzeugt werden, die durch die <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Außenbedingungen bestätigt, verstärkt <strong>und</strong> legitimiert,<br />

oder aber auch durchkreuzt, gedämpft <strong>und</strong> delegitimiert werden. Diese<br />

Charakterisierung schließt die Möglichkeit vielfältiger psychologischer<br />

Probleme ein, die sich insbesondere bei Widersprüchen zwischen der durch<br />

das Bildungssystem begünstigten Wert<strong>entwicklung</strong>srichtung <strong>und</strong> der Wirkungsrichtung<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Außenbedingungen einstellen, wie wir<br />

sie seit dem Ausklingen des Wertwandlungsschubs gehabt haben. Es können<br />

dabei starke „Dissonanzen" auftreten, die vom einzelnen entweder im Sinne<br />

psychologischer Anpassung verarbeitet oder aber auch als Widerspruchs<strong>und</strong><br />

Konfliktstoffe in die Umwelt hineinprojiziert werden. Wenn die Schul<strong>und</strong><br />

Hochschulsozialisationsforschung seit der Mitte der 70er Jahre verstärkt<br />

Schüler- <strong>und</strong> Studententhemen in den Vordergr<strong>und</strong> rückte, bei denen<br />

es, mit Huber gesprochen, um die „Bürokratisierung <strong>und</strong> Standardisierung<br />

der Hochschulumwelt", um den Zwang zum Erwerb eines „von persönlicher<br />

Erfahrung <strong>und</strong> Verwendung abgeschnittenen Wissens", um Probleme<br />

der „Isolation, der Kontaktlosigkeit, der Apathie, der Orientierungslosigkeit,<br />

des gespaltenen Bewußtseins, von Identitätskrisen, von Entfremdung<br />

<strong>und</strong> von Angst" ging , dann hat dies seine Ursache ganz gewiß auch im<br />

18<br />

Eindruck einer zunehmenden Wertversagung nach dem Ende des Wertwandlungsschubs.<br />

Ich habe mir noch eine letzte ergänzende Bemerkung vorgemerkt, die<br />

allerdings im Gr<strong>und</strong>e genommen mehr ist als dies, die vielmehr schon in eine<br />

weiterführende Kommentierung <strong>und</strong> Verarbeitung des bisher Dargestellten<br />

überleitet <strong>und</strong> die deshalb auch eine größere Aufmerksamkeit rechtfertigt.<br />

Ich möchte damit beginnen, daß ich auf eine — ganz bewußt in Kauf genommene<br />

— Besonderheit meiner Hypothesenliste hinweise: Es war in ihr<br />

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zwar durchweg von wertwandlungsrelevanten Sozialisationsfolgen der Bildung<br />

die Rede, nicht aber von gewollten Einwirkungen des Bildungssystems<br />

auf die Wert<strong>entwicklung</strong>. Es ging, um es konkret zu sagen, nicht um Rahmenrichtlinien<br />

<strong>und</strong> Unterrichtspläne, in denen die Kultivierung von Selbstentfaltungswerten<br />

<strong>und</strong> von Konfliktbereitschaften <strong>und</strong> -fähigkeiten zu ihrer<br />

Durchsetzung zum Programm erhoben wurde. Es ging auch nicht um „linke"<br />

oder „ultra-liberale" Tendenzen beim Lehrer- <strong>und</strong> Dozentenpersonal;<br />

auch nicht um die Schulbuchinhalte, die nach dem Ergebnis einschlägiger<br />

Untersuchungen seit den 60er Jahren in zunehmendem Maße akzeptanzkritischen<br />

Geist ausatmeten.<br />

Wenn ich alle diese Dinge in meiner Hypothesenliste ausgelassen habe,<br />

dann natürlich nicht, um ihre Bedeutungslosigkeit zu behaupten. Selbstverständlich<br />

wäre dies eine Position, die sich schwer vertreten ließe.<br />

Wenn ich mich solchen „intentionalen" Veränderungen im Bildungssystem<br />

gegenüber aber zugegebenermaßen spröde gezeigt habe, wenn ich<br />

mich an ihrer Stelle auf „nicht-intentionale" Einwirkungen konzentriert<br />

habe, so hat dies allerdings trotz alledem seinen Gr<strong>und</strong> in einer Bewertung.<br />

Ich gehe in der Tat davon aus, daß diese nicht-intentionalen Wertbeeinflussungen<br />

im Bildungsbereich die eigentlich ausschlaggebenden waren <strong>und</strong> sind,<br />

<strong>und</strong> daß neben ihnen die intentionalen Einflußnahmen, die wir in massiver<br />

Form gehabt haben <strong>und</strong> immer noch haben, nur einen kleineren, möglicherweise<br />

sogar unbedeutenden Teil der erklärungsbedürftigen Varianz abzudecken<br />

vermögen. 19<br />

Selbstverständlich ist diese Feststellung — wie sehr vieles von den Dingen,<br />

die ich vorgetragen habe — verhältnismäßig spekulativ (oder sagen wir:<br />

„hypothetisch", denn sie läßt sich ja nachprüfen, sobald nur die erforderlichen<br />

Daten verfügbar sind). Ich bin mir auch darüber im klaren, daß diese<br />

Feststellung vor allem für Pädagogenohren sehr provokativ klingen muß.<br />

Ich meine jedoch, daß das, was im anglo-amerikanischen Bereich „Evidenz"<br />

heißt, im vorliegenden Fall dermaßen dicht ist, daß sich auf diese<br />

provokative Feststellung abschließende Problemaufweisungen <strong>und</strong> Folgerungen<br />

aufbauen lassen, denen ich mich jetzt zuwenden will.<br />

Ich möchte hierbei von der Beobachtung ausgehen, daß die Verwirklichung<br />

von „Werten" durch ihre bewußte <strong>und</strong> gezielte Vermittlung von<br />

allem Anfang an das eigentliche Kernthema der Theorie <strong>und</strong> Praxislehre<br />

der Bildung war, der „Pädagogik" nämlich, wie man aus jeder halbwegs<br />

informativen Pädagogikgeschichte entnehmen kann. „Paideia" bedeutete<br />

seit der griechischen Antike die „bildnerische Arbeit am Menschen" auf<br />

bestimmte „Lebens- <strong>und</strong> Bildungsideale" hin, in deren Zentrum „Tugenden"<br />

(oder eben „Werte") standen. Zwar haben sich im Laufe der Zeit<br />

20<br />

sowohl die in Werten begründeten Bildungsleitbilder wie auch die Vorstellungen<br />

über pädagogische Praktiken geändert. Das Ziel einer pädagogischen<br />

Wertvermittlung blieb aber bis heute bestehen.<br />

Wenn ich mich hier auf nicht-intentionale Wertbeeinflussungen im Bildungssystem<br />

konzentriert habe <strong>und</strong> wenn ich überdies hinzugefügt habe,<br />

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daß ich dies wegen des vermutlich geringeren Gewichts intentionaler Einflüsse<br />

getan habe, dann bedeutet dies also, daß ich — volens nolens — das<br />

traditionelle Zentrum des pädagogischen Selbstverständnisses — jedenfalls<br />

insoweit als es um die Verursachung des Wertwandels geht — aus soziologischer<br />

Perspektive in Frage gestellt habe.<br />

Man kann den Sachverhalt, der hier vorliegt, noch schärfer formulieren<br />

<strong>und</strong> sagen, daß — aus der Perspektive der Wert<strong>entwicklung</strong>s- <strong>und</strong> veränderungsdynamik<br />

unserer Gesellschaft betrachtet — Macht <strong>und</strong> Ohnmacht<br />

der Bildung in enger Verknüpfung sichtbar werden. Macht — <strong>und</strong> zwar große<br />

Macht — hat das Bildungssystem in diesem Zusammenhang ganz zweifellos<br />

als Summe struktureller Einwirkungen auf die menschliche Psyche.<br />

Relative Ohnmacht kommt hingegen der Bildung als einem Programm der<br />

gewollten <strong>und</strong> gezielten, an einem Konsens verbindlicher Wertvorstellungen<br />

orientierten menschlichen Selbstgestaltung zu.<br />

Diese Feststellung erfährt eine besondere Akzentuierung <strong>und</strong> nochmalige<br />

Zuspitzung angesichts der Tatsache, daß wir seit geraumer Zeit eine —<br />

dem Bildungswillen entspringende <strong>und</strong> Bildungsoptimismus dokumentierende<br />

— Bildungsexpansion haben, die tendenziell die gesamte Bevölkerung<br />

erfaßt <strong>und</strong> die inzwischen, mit Baethge gesprochen, dazu geführt hat, daß<br />

die Schule für die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen bis zum 16. Lebensjahr<br />

„zur dominanten institutionalisierten Lebensform neben der Familie"<br />

geworden ist. 21<br />

Man denkt, wenn man Probleme dieser Entwicklung ins Auge faßt, gegenwärtig<br />

meist zunächst an Ungleichgewichte zwischen Bildungsangebot<br />

<strong>und</strong> Bildungsnachfrage <strong>und</strong> an die mit ihnen verb<strong>und</strong>enen Arbeitslosigkeitsfolgen.<br />

Eine solche Fokussierung des Problemverständnisses ist aus der aktuellen<br />

Notlage einer zunehmenden Zahl junger Menschen verständlich. Hinter<br />

der Oberfläche des unabweisbaren Problems, das hier vorliegt, dämmert<br />

aber ein viel gr<strong>und</strong>sätzlicheres Problem herauf, das mit einer zunehmenden<br />

nicht-intendierten, dementsprechend auch von niemandem verantworteten,<br />

bisher kaum ausreichend erkannten Einwirkung des expandierenden Bildungssystems<br />

auf die <strong>gesellschaftliche</strong> Psyche zu tun hat.<br />

In paradoxer Zuspitzung läßt sich sagen, daß die nachindustrielle Gesellschaft,<br />

die man inzwischen schon als eine Lern-, Informations- <strong>und</strong> Bildungsgesellschaft<br />

anspricht, in dem Maße, in welchem sie zur „pädagogischen<br />

Provinz" wird, zu einer Gesellschaft mutiert, in welcher neuartige<br />

ungesteuerte, unverantwortete <strong>und</strong> weithin unbekannte Einwirkungsmächte<br />

soziopsychischer Natur zur Geltung gelangen.<br />

Feststellungen solcher Art sind in letzter Zeit speziell in Verbindung<br />

mit den neuen Medien <strong>und</strong> Kommunikationstechniken aufgetaucht. Die Beschäftigung<br />

mit dem Thema „Bildung <strong>und</strong> Wertwandel" erweist jedoch,<br />

daß es falsch wäre <strong>und</strong> möglicherweise zu irrigen Schlußfolgerungen verleiten<br />

würde, nur dort nachdenklich zu werden, wo der Mikrocomputer <strong>und</strong><br />

das Kabelfernsehen einziehen. Man bekommt, wie ich meine, das gesamte<br />

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Problemfeld nur dann in einer unreduzierten Weise in den Blick, wenn man<br />

sich den nicht-intendierten Folgen der Bildungsexpansion im ganzen zuwendet.<br />

Ein Vergleich der Bildungsexpansion (oder: -revolution) mit der industriellen<br />

Revolution mag auf den ersten Blick abwegig erscheinen, oder allenfalls<br />

als Kontrastfall in Frage kommen, da der Arbeiter durch Proletarisierung<br />

von der Arbeit entfremdet wurde, während die Entfremdung des<br />

Schülers <strong>und</strong> Studenten von der Arbeitswelt eher durch Prozesse emanzipatorischer<br />

Art zustande kommt. Andererseits lag auch in der industriellen<br />

Revolution der Sachverhalt vor, daß eine Entwicklung, die von vielen mit<br />

den höchsten Hoffnungen begrüßt wurde, eine Fülle von unerkannten, von<br />

niemandem gewollten <strong>und</strong> verantworteten, gleichsam „naturwüchsig" eintretenden<br />

Nebenfolgen herbeiführte, die die bisherige Gesellschaft erschütterten<br />

<strong>und</strong> sprengten. Man kann sich auf den Standpunkt stellen, daß insoweit<br />

eine Parallele zwischen der industriellen Revolution <strong>und</strong> der Bildungsrevolution<br />

zu ziehen ist, von der in der Tat in der Gegenwart <strong>und</strong> in der vor<br />

uns liegenden Zukunft für die Epoche entscheidende Veränderungen auszugehen<br />

scheinen. Es entstehen hier, wie wir festgestellt haben, strukturelle<br />

Mechanismen, deren offenk<strong>und</strong>ige Nützlichkeit nur die Oberfläche eines in<br />

Wirklichkeit viel breiteren <strong>und</strong> tieferen Wirkungsspektrums gesellschaftsverändernder<br />

Natur markiert. In der Entdeckung dieses Wirkungsspektrums ist,<br />

wie ich meine, die eigentliche Bedeutung der Thematisierung des Verhältnisses<br />

zwischen Bildung <strong>und</strong> Wertwandel zu sehen.<br />

Es muß als Tatsache festgehalten werden, daß uns für die Erfassung der<br />

sozialpsychologischen Veränderungsfolgen der Bildungsrevolution einschließlich<br />

ihrer möglichen Problemdimensionen gegenwärtig noch schlicht<br />

die Begriffe (wie auch teils die Motive) fehlen. Wir müssen uns bisher noch<br />

an verhältnismäßig spärliche <strong>und</strong> isolierte Einzelfakten halten, deren Bewertung<br />

angesichts des noch fehlenden Gesamtüberblicks schwankend <strong>und</strong><br />

widersprüchlich ist <strong>und</strong> sein muß, wobei sich die Folgenidealisierung <strong>und</strong><br />

die Folgenperhorreszierung die Waage halten.<br />

Folgenidealisierend erscheint die Annahme, die mit der Bildungs<strong>entwicklung</strong><br />

zusammenhängenden, in immer breitere Bevölkerungsteile hineingetragenen<br />

Wertwandlungsdispositionen seien reine Fortschrittsphänomene<br />

<strong>und</strong> somit jeglicher Kritik enthoben. Folgenperhorreszierend ist dahingegen<br />

z.B. die von Daniel Bell vertretene Auffassung, der von der Kultursphäre<br />

ausstrahlende Wertwandlungstrend der Gegenwart sei „antinomisch" (d.h.<br />

gegen an <strong>und</strong> für sich bestehende Normen der Gesellschafts<strong>entwicklung</strong>, wie<br />

z.B. das Leistungsprinzip gerichtet) <strong>und</strong> er trage somit zu einem zukünftigen<br />

Zusammenbruch der notwendigerweise auf Selbstdisziplin <strong>und</strong> rationaler<br />

Arbeit beruhenden postindustriellen Zivilisation bei. 22<br />

Was wir empirisch feststellen können ist, daß das Bildungssystem — im<br />

Zusammenhang mit anderen Einwirkungen, von denen hier nicht die Rede<br />

war — Wert- <strong>und</strong> Einstellungsdispositionen erzeugt, die sich mit <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Lebens-, Funktions- <strong>und</strong> Erfahrungsbedingungen außerhalb der Bil-<br />

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dungssphäre oft in einem deutlichen Spannungsverhältnis befinden, wodurch<br />

den Menschen, die diese Dispositionen besitzen, schwerwiegende<br />

Anpassungsprobleme aufgebürdet werden. Diese geben zu mehr oder weniger<br />

produktiven Bewältigungsstrategien Anlaß, die teils individuell <strong>und</strong> unpolitisch,<br />

teils aber auch kollektiv <strong>und</strong> politisch sind. Während das gegebene<br />

Spannungsverhältnis auf der einen Seite individuelles Suchen nach ungehinderter<br />

Wertaustragung, wie auch pragmatisches oder resignatives Rücksteuern<br />

von Werten auf ältere Ausgangslagen begünstigt, begünstigt es auf der anderen<br />

Seite auch die Entstehung von Konfliktlagen, in denen es typischerweise<br />

um die Abwehr entfaltungshemmender „Systemzwänge" bzw., aus entgegengesetzter<br />

Perspektive betrachtet, um die Sicherung von Systemerfordernissen<br />

gegen „anarchische" Infragestellungen geht. Wie die aktuelle politische<br />

Szenerie zeigt, sind diese Konfliktlagen zur Aufsaugung einer Vielfalt unterschiedlichster<br />

Probleme fähig, wodurch ihnen große Expansionskraft <strong>und</strong><br />

disruptive Gewalt zuwachsen kann. Die unausgetragene Spannung zwischen<br />

den Pflicht- <strong>und</strong> Akzeptanzwerten <strong>und</strong> den Selbstentfaltungswerten, die wir<br />

nach dem Abbrechen des Wertwandlungsschubs haben, setzt sich somit über<br />

Spannungen zwischen <strong>gesellschaftliche</strong>n Subsystemen in Antagonismen um,<br />

die den soziopolitischen Minimalkonsens bedrohen. Das „cleveage" der<br />

Werte wird zum Konfliktzentrum einer Gesellschaft, die nach der Überwindung<br />

älterer Klassengegensätze <strong>und</strong> religiöser Schismen auf dem Wege in<br />

eine integrative Entwicklung zu sein schien.<br />

V.<br />

Wenn ich mich nun noch den aus der Analyse ableitbaren Konsequenzen<br />

zuwende <strong>und</strong> mich dabei pflichtgemäß auf die „Prognose" konzentriere, so<br />

möchte ich zunächst noch einmal an meine Basis- <strong>und</strong> Leithypothese erinnern.<br />

Ich hatte schon wiederholt, daß das Bildungssystem zwar eine „Disposition"<br />

für die neuen Werte erzeugt, daß sich die Frage nach der Realisierung<br />

<strong>und</strong> Ausschöpfung dieser Disposition aber stets in dem Charakter<br />

„interagierender" <strong>gesellschaftliche</strong>r Außenbedingungen entscheidet. Konkret<br />

bedeutet dies u.a. auch, daß die reale Entwicklung der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Wertorientierungen <strong>und</strong> ihr Wandel dem Bildungssystem keinesfalls<br />

exklusiv „zuzurechnen" (oder „anzulasten") sind. Es kommt hinzu, daß<br />

Dispositionen für veränderte Werte im Bildungssystem selbst, wie wir gesehen<br />

haben, sehr vielfältigen Ursachen entspringen, die keineswegs auf<br />

einen einfachen Nenner zu bringen sind. So wie die Dinge liegen, ist realistischerweise<br />

damit zu rechnen, daß die in Richtung der Selbstentfaltungswerte<br />

zielende Wertwandlungsproduktivität des Bildungssystems in Zukunft<br />

eher weiter zu- als abnehmen wird. Da sich voraussichtlich auch der Anteil<br />

der Bevölkerung, der die gehobeneren Bereiche des Bildungssystems durchläuft,<br />

in Zukunft weiter erhöhen wird, ist auch von daher eher mit einer<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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weiter zunehmenden Einflußwirkung des Bildungssystems auf die Wert<strong>entwicklung</strong><br />

zu rechnen.<br />

Die „interagierenden", den Wertwandel auslösenden (oder auch abstoppenden)<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Außenbedingungen entziehen sich aber nun —<br />

zumindest im Bereich mittelfristiger Zukunft — dem auf Berechenbarkeit<br />

abstellenden prognostischen Zugriff. So wie die Dinge gegenwärtig <strong>und</strong> auf<br />

absehbare Zeit liegen, scheinen sich diese Bedingungen in einer schwankenden<br />

Verfassung zu befinden, in der eine Art „Konjunkturverlauf" auszumachen<br />

ist, der mit dem wirtschaftlichen Konjunkturverlauf aber keineswegs<br />

voll identisch ist, wenngleich er mit ihm in Beziehung steht. Für die Wertsphäre<br />

bedeutet dies einen Zuwachs an Instabilität <strong>und</strong> Widersprüchlichkeit,<br />

wobei insbesondere in denjenigen Phasen, in denen die Selbstentfaltungswerte<br />

Aufschwünge erleben, heftig aufflammende <strong>gesellschaftliche</strong> Konflikte<br />

erwartbar sind.<br />

Diese Vorhersage gilt nun aber nur unter der einen Bedingung, daß das<br />

gegenwärtige, ins Institutionelle verlängerte Spannungsverhältnis zwischen<br />

den Pflicht- <strong>und</strong> Akzeptanzwerten <strong>und</strong> den Selbstentfaltungswerten weiter<br />

anhält. Es muß mit Nachdruck betont werden, daß hierfür allerdings kein<br />

zwingender Gr<strong>und</strong> besteht. Synthesen zwischen den Wertpolen des Selbstzwangs<br />

<strong>und</strong> der Selbstkontrolle auf der einen <strong>und</strong> der Triebauslebung <strong>und</strong><br />

Selbstaktualisierung auf der anderen Seite waren in der Geschichte aller Gesellschaften<br />

immer wieder zu finden. Die Syntheseaufgabe stellt sich heute<br />

unter der Bedingung ausdifferenzierter <strong>und</strong> gegeneinander weitgehend autonomer<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Subsysteme <strong>und</strong> einer historisch erstmaligen<br />

„Entlastung" des Menschen von Fremdzwängen aufgr<strong>und</strong> von Herrschaftszugriffen<br />

<strong>und</strong> Notlagen.<br />

Die Lösung dieser Aufgabe ist nur auf gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>r Gr<strong>und</strong>lage<br />

möglich. Weiterentwickelte Formen der Arbeit spielen hier ebenso eine<br />

Rolle wie Fragen einer neuen Ethik <strong>und</strong> einer verbesserten Gesellschaftsorganisation.<br />

Der Bildung, die in alledem bisher als eine blinde Gewalt mitwirkt,<br />

stellt sich in erster Linie die Aufgabe, „sehend" zu werden <strong>und</strong> das,<br />

was sie dann erkennt, ihrer Natur gemäß zu vermitteln. Hiermit ist nicht in<br />

erster Linie Normatives gemeint. Hellsichtigen Gesellschaftsanalysen zufolge<br />

kommt es unter den Bedingungen hochgradiger <strong>gesellschaftliche</strong>r Komplexität<br />

in besonderem Maße auf „reflektierendes Bewußtsein" an. Auf<br />

30<br />

die Bildung bezogen muß dies in erster Linie heißen: Reflexion der nichtintentionalen<br />

Wirkungen der Bildung selbst im Gesamtzusammenhang der<br />

Persönlichkeits- <strong>und</strong> Gesellschafts<strong>entwicklung</strong>. Lassen Sie mich mit der<br />

These enden, daß die Bildung nur dann, wenn sie diese Schwelle bewältigt,<br />

hoffen kann, ihren substantiellen Anspruch unter den Bedingungen der<br />

heutigen Welt einzulösen.<br />

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ANMERKUNGEN<br />

1 Vgl. H. Klages: Wertorientierungen im Wandel. Rückblick, Gegenwartsanalyse, Prognosen,<br />

Frankfurt/New York 1984, S. 17 ff.<br />

2 idem, S. 17 ff.<br />

3 idem, S. 85 ff; Hinweise auf die Bedeutung von Werte-Mischungen <strong>und</strong> -Ko<strong>mb</strong>inationen<br />

finden sich auch bei W. Jaide: Wertewandel? Gr<strong>und</strong>fragen zur Diskussion,<br />

Opladen 1983, S. 31 ff.; SINUS-Institut: Die verunsicherte Generation. Jugend <strong>und</strong><br />

Wertewandel, Opladen 1983, S. 28 f.; G. Schmidtchen: Neue Technik — Neue Arbeitsmoral.<br />

Eine sozialpsy chologische Untersuchung über die Motivation in der Metallindustrie,<br />

Köln 1984, S. 62 ff.<br />

4 Vgl. hierzu F. Böltken <strong>und</strong> W. Jagodzinski: „Sek<strong>und</strong>äranalyse von Umfragedaten<br />

aus dem Zentralarchiv: Postmaterialismus in der Krise", in: Information 12 des<br />

Zentralarchivs für empirische Sozialforschung.<br />

5 Vgl. K. Klages <strong>und</strong> W. Herbert: Wertorientierung <strong>und</strong> Staatsbezug. Untersuchungen<br />

zur politischen Kultur in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, Frankfurt/New York<br />

1983, S. 25 ff.<br />

6 Für die Wertforschung ist zu sagen, daß sie das Thema „Bildung <strong>und</strong> Wertwandel"<br />

erst in allerletzter Zeit — in verhältnismäßig seltenen Texten, die bezeichnenderweise<br />

teils noch gar nicht veröffentlicht sind — aufgreift, wobei sie von einer herkömmlicherweise<br />

vorherrschenden sozio-ökonomischen, Einflüsse sozialer Schichtung ins<br />

Zentrum rückenden, den Bildungsprozeß ausklammernden Interpretation des Begriffs<br />

„Bildungsniveau" gehemmt wird.<br />

Die Schul- <strong>und</strong> Hochschulsozialisationsforschung hatte Einflüsse des Bildungsbereichs<br />

auf die Wert- <strong>und</strong> Einstellungs<strong>entwicklung</strong> zwar bereits seit den auf die 30er<br />

Jahre zurückgehenden Bennington College-Studien von Newco<strong>mb</strong> <strong>und</strong> Mitarbeitern<br />

im Auge. Sie scheint aber gerade in letzter Zeit in starke Selbstzweifel darüber zu<br />

verfallen, ob sich die gewonnenen Einzelerkenntnisse zu einem konsistenten Gesamtbild<br />

zusammenfügen <strong>und</strong> ob überhaupt Effekte, die von <strong>gesellschaftliche</strong>n Außeneinflüssen<br />

unabhängig waren, gemessen werden konnten. Thesenhaft formuliert<br />

muß sich diese Forschungsrichtung durch die globale Frage nach dem Zusammenhang<br />

zwischen Bildung <strong>und</strong> Wertwandel überfordert fühlen, da sie von Anfang an<br />

exklusiv auf die Untersuchung von Schüler- <strong>und</strong> Studentenpopulationen abstellte,<br />

sodaß für übergreifende intersektorale Vergleiche <strong>und</strong> für die Kontrolle <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Außeneinflüsse wenig Platz war.<br />

Die Aussagefähigkeit der Jugendforschung endlich wird erstens dadurch eingeschränkt,<br />

daß die Ursachen für Wert- <strong>und</strong> Einstellungsveränderungen, auf deren Erfassung<br />

an <strong>und</strong> für sich großer Nachdruck gelegt wird, vornehmlich im Spannungsfeld<br />

zwischen Familie, Arbeit <strong>und</strong> Politik gesucht werden. Auch dort, wo Schüler<strong>und</strong><br />

Studentenpopulationen untersucht wurden, wurde der wert- <strong>und</strong> einstellungsverändernde<br />

Einfluß der Bildungsumwelt nur selten thematisiert. Es mag dies daran<br />

liegen, daß „die" Jugend schlechthin immer <strong>und</strong> überall die entscheidende Zielgruppe<br />

der Untersuchungen war <strong>und</strong> daß die Sicht nach , jugendtypischen" Einstellungen<br />

<strong>und</strong> Verhaltensweisen im Vordergr<strong>und</strong> stand. Es kam aber zweitens hinzu, daß<br />

bei dieser Suche dort, wo differenziert wurde, dem „abweichenden" Verhalten der<br />

Jugend unter Betonung jugendlicher Sub- <strong>und</strong> Gegenkulturen <strong>und</strong> jugendlichen Protestverhaltens,<br />

wie auch jugendlicher Problemgruppen wie z.B. der Arbeitslosen <strong>und</strong><br />

der Alkohol- <strong>und</strong> Drogenabhängigen besondere Aufmerksamkeit gewidmet wurde.<br />

Es mag verständlich erscheinen, daß bei einer solchen Themenfokussierung die Beziehung<br />

zwischen Bildung <strong>und</strong> Wertwandel keine besondere Anziehungskraft zu entfalten<br />

vermochte;<br />

vgl. zur Wertforschung: R. Eckert: Selbstthematisierung <strong>und</strong> Möglichkeitshorizonte.<br />

Zur Wirklichkeitskonstruktion im Bildungssystem (unveröffentlichtes Manuskript);<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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W. Herbert/W. Sommer: „Bildungssystem <strong>und</strong> Wertwandel", in: W. Sommer u. U.A.<br />

Graf von Waldburg-Zeil (Hrsg.): Neue Perspektiven der Bildungspolitik, <strong>München</strong><br />

u.a. 1984, S. 19 ff.<br />

vgl. zur Schul- <strong>und</strong> Hochschulsozialisationsforschung: F.E. Weinert: „Schule <strong>und</strong><br />

Beruf als institutionelle Sozialisationsbedingungen", in: Handbuch der Psychologie,<br />

7. Bd., S. 825 ff.; L. Huber: „Sozialisation in der Hochschule", in: K. Hurrelmann<br />

<strong>und</strong> D. Ulrich (Hrsg.): Handbuch der Sozialisationsforschung, Weinheim <strong>und</strong> Basel<br />

1980, S. 521 ff.<br />

vgl. zur Jugendforschung: B. Hille: .Jugendsoziologische Forschung in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland. Eine kritische Bilanz", in: ZSE (Zeitschrift f. Sozialisationsforschung<br />

<strong>und</strong> Erziehungs<strong>soziologie</strong>, Jg. 1983), S. 285 ff.; B. Schäfer: Soziologie<br />

des Jugendalters. Eine Einführung, Opladen 1982, passim.<br />

7 Vgl. neben den einschlägigen Einzelstudien z.B. die im Rahmen des Projekts „Integrationsbereitschaft<br />

der Jugend im sozialen Wandel" von K. Allerbeck u. W.J. Hoag<br />

erstellte Vergleichsstudie „16- bis 18-jährige 1962 <strong>und</strong> 1983".<br />

8 Anregungen zu den nachfolgenden Hypothesen verdanke ich vor allem den unter 6<br />

aufgeführten Arbeiten von R. Eckert <strong>und</strong> W. Herbert.<br />

9 H. Schelsky: Wandlungen der deutschen Familie in der Gegenwart. Darstellung <strong>und</strong><br />

Deutung einer empirisch-soziologischen Tatbestandsaufnahme, Stuttgart 1954, S.<br />

93 ff.<br />

10 Vgl. z.B. B.M. Olson: „Rapides Wachstum als Destabilisierungsfaktor", in: Klaus v.<br />

Beyme (Hrsg.): Empirische Revolutionsforschung, Opladen 1973: S. 205 ff.<br />

11 Vgl. hierzu schon Th. Litt: Technisches Denken <strong>und</strong> menschliche Bildung, Heidelberg<br />

1957, passim; in letzter Zeit u.a.: M. Baethge, H. Scho<strong>mb</strong>urg, U. Voskamp:<br />

Jugend <strong>und</strong> Krise — Krise aktueller Jugendforschung, Frankfurt/New York 1983, S.<br />

205 ff.<br />

12 R. Eckert: [Anm. 6].<br />

13 Wissenschaftlicher Bericht 1979-1982 der Forschungsgruppe Hochschulsozialisation<br />

im Sonderforschungsbereich 23 (Universität Konstanz), S. 60.<br />

14 K. Keniston: Young Radicals. Notes on Committed Youth, New York 1968, S.<br />

264 ff.<br />

15 Vgl. zur Schuldifferenzierung F.E. Weinert: [Anm. 6], S. 851 ff.; ein Literaturüberblick<br />

zum Thema der universitären Fachumwelt <strong>und</strong> fachspezifischen Sozialisation<br />

findet sich bei L. Huber: [Anm. 6], S. 543.<br />

16 Vgl. bezüglich der Wirkung „allgemeiner Charakteristika" <strong>und</strong> des „Klimas" von<br />

Hochschulen L. Huber: [Anm. 6J, S. 538 f.<br />

17 Vgl. H. Klages: Wertorientierungen im Wandel, [Anm. l], S. 126 ff.<br />

18 L. Huber: [Anm. 6], S. 530.<br />

19 Im selben Sinne z.B. auch N. Luhmann: Soziale Systeme. Gr<strong>und</strong>riß einer allgemeinen<br />

Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 644; speziell zum Thema des „hidden curriculum":<br />

L. Huber: [Anm. 6], S. 527 f.<br />

20 A. Reble: Geschichte der Pädagogik, Stuttgart 1951, S. 13.<br />

21 M. Baethge: [Anm. Ii], S. 215 ff.<br />

22 D. Bell: Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt/New York 1975, S. 361 ff.<br />

23 B. Fritsch: Wir werden überleben. Orientierungen <strong>und</strong> Hoffnungen in schwieriger<br />

Zeit, <strong>München</strong> 1981, passim.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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BILDUNGSPROGNOSEN: SCHEITERN OHNE ENDE<br />

'AUFBRUCH ZU NEUEN UFERN'?<br />

ODER<br />

Ansgar Weymann<br />

1. Vorbemerkungen<br />

Dieser Beitrag ist ein Bericht über das PODIUMSGESPRÄCH „Prognosen<br />

im Bildungsbereich — Scheitern ohne Ende?", das zwischen Bildungspolitik<br />

<strong>und</strong> Bildungsforschung auf dem Soziologentag geführt wurde. Es stand<br />

im Mittelpunkt der Veranstaltungsreihe zum Thema 'Prognosen im Bildungsbereich'.<br />

An diesem Gespräch in der Westfalenhalle nahmen teil:<br />

P.H. Piazolo: Staatssekretär im B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft,<br />

B. Engholm: ehemaliger B<strong>und</strong>esbildungsminister <strong>und</strong> jetziger Vorsitzender<br />

der SPD-Fraktion in Schleswig-Holstein,<br />

U. Beck: Prof. für Soziologie an der Universität Ba<strong>mb</strong>erg,<br />

L. v. Friedeburg: ehemaliger Hessischer Kultusminister <strong>und</strong> Direktor des<br />

Instituts für Sozialforschung an der Universität Frankfurt,<br />

R. Geipel: Direktor des Bayerischen Staatsinstituts für Hochschulforschung<br />

<strong>und</strong> Hochschulplanung, <strong>München</strong>,<br />

U. Teichler: Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums für Berufs- <strong>und</strong> Hochschulforschung,<br />

Gesamthochschule Kassel,<br />

R. Wildenmann: Prof. für Politische Wissenschaft, Universität Mannheim.<br />

Ausgangspunkt des Gesprächs war eine Auseinandersetzung um Fehlschläge<br />

von Bildungsprognosen einerseits <strong>und</strong> um Fehlinterpretationen von Prognosen<br />

durch die Bildungspolitik andererseits, ein Thema, das vor allem die Öffentlichkeit<br />

unter den Stichworten Studentenberg, Lehrerbedarf <strong>und</strong> Lehrstellenmangel<br />

interessiert. Gegenstand des Gesprächs war jedoch über diesen<br />

Ausgangspunkt hinaus die Fortführung des Dialogs zwischen Bildungspolitik<br />

<strong>und</strong> Bildungsforschung unter Voraussetzungen, die gegenüber den<br />

sechziger <strong>und</strong> siebziger Jahren erheblich verändert sind. Welche Ziele <strong>und</strong><br />

Probleme sehen beide Seiten heute, wie beurteilen sie die gegenwärtigen<br />

Kooperationsmöglichkeiten <strong>und</strong> welche Perspektiven bieten sich für die Zukunft?<br />

Welche Rolle spielt nicht zuletzt die universitäre Bildungsforschung<br />

gegenüber der 'ressortnahen' <strong>und</strong> der Auftragsforschung?<br />

Dieser Bericht ist kein Protokoll. Er ist eine Zusammenfassung der wesentlichen<br />

Beiträge aus der Sicht des Verfassers auf der Gr<strong>und</strong>lage einer<br />

Tonbandaufzeichnung. Insofern sollte sich alle Kritik an diesem Bericht auf<br />

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dessen Verfasser richten, nicht aber auf die Podiumsteilnehmer, denen der<br />

Text nicht zu Autorisierung vorgelegen hat.<br />

2. Die Gesprächsbeiträge<br />

Staatssekretär Piazolo, der ebenso wie der ehemalige B<strong>und</strong>esbildungsminister<br />

Engholm gebeten worden war, das Gespräch mit einem Erfahrungsbericht<br />

zum Thema „Bildungsprognosen" zu eröffnen, unterscheidet drei<br />

Phasen von Politikberatung durch Bildungsprognosen:<br />

Die Situation in den sechziger Jahren ist durch ein ungetrübtes Verhältnis<br />

von Bildungspolitik <strong>und</strong> Bildungsforschung (Soziologie/Psychologie/<br />

Ökonomie) gekennzeichnet. Die Schlagworte Bürgerrecht auf Bildung,<br />

Chancengleichheit, Abbau konfessioneller Differenzen, Abbau regionaler<br />

Unterschiede des Bildungsbverhaltens, Erforschung von Bildungsübergängen,<br />

Förderung von Begabungsreserven <strong>und</strong> Bedarfsrechnungen der Wirtschaft<br />

sind noch heute jedermann vertraut. Der aus verschiedenen Untersuchungen<br />

1965 sich speisende Bedarfsplan des Landes Baden-Württe<strong>mb</strong>erg sieht bis<br />

1980 eine Jahresquote der Abiturienten von 15% vor. Die entsprechende<br />

Quote für die Mittlere Reife lautet 40%. Bereits 1975 sind diese Zahlen<br />

noch in der Umsetzungsphase des Bedarfsplans überholt.<br />

Während in den sechziger Jahren Ausgangspunkt der politischen Bedarfsplanung<br />

die empirische Analyse war, steht mit dem Bildungsgesamtplan<br />

1973 am Anfang eine politisch-normative Gr<strong>und</strong>satzentscheidung. Diese<br />

ist das Ergebnis eines politischen Kompromisses, nicht das Resultat von Bildungsforschung.<br />

Die Zielzahlen für die verschiedenen Abschlüsse sind „frei<br />

gegriffen", nicht das Ergebnis von Bedarfsprognosen oder Angebotsprognosen.<br />

Der Einfluß unabhängiger Bildungsprognosen geht in den achtziger Jahren<br />

noch weiter zurück. Das liegt nicht so sehr an den wiederholt zu niedrigen<br />

Schätzungen, als vielmehr an der sehr starken Stellung der mittlerweile<br />

aufgebauten „ressortnahen" Apparate <strong>und</strong> Forschungsinstitute. Der Bedarf<br />

an universitärer Bildungsforschung ist geringer geworden.<br />

Der Schluß aus der geänderten Rolle der (universitären) Bildungsforschung<br />

ist, daß sie sich mit den komplizierteren Parametern des Bildungsverhaltens<br />

beschäftigen sollte: mit veränderten Studienmotivationen <strong>und</strong><br />

biographischen Entwürfen, mit Reaktionen auf die Arbeitsmarktsituation,<br />

mit neuen Ko<strong>mb</strong>inationen von Ausbildungsgängen <strong>und</strong> mit durch Arbeitslosigkeit<br />

gezeichneten Problemregionen.<br />

Ebenso wie sein Vorredner unterstreicht auch Engholm, daß nach seiner<br />

Einschätzung Bildungsforschung <strong>und</strong> Bildungsberatung nicht gescheitert<br />

sind. Vielmehr hat die Bildungspolitik aus der Forschung Handlungskonsequenzen<br />

abgeleitet, für die sie selbst, nicht aber die Forschung geradestehen<br />

muß. Vor allem aber ist die wesentlich verschlechterte Wirtschafts-<br />

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lage zu berücksichtigen, die auf Bildungsprognosen <strong>und</strong> Bildungspolitik negativ<br />

zurückschlägt.<br />

Soweit die sozialwissenschaftliche Forschung etwas zu Bildungsprognosen<br />

beisteuert, befaßt sie sich mit schwer quantifizierbaren, aber außerordentlich<br />

wichtigen Parametern. Hier sind die Berufs- <strong>und</strong> die Qualifikationsforschung<br />

zu nennen, Untersuchungen zur Unterrepräsentanz von Bevölkerungsgruppen<br />

(z.B. Frauen), Analysen zum Begabungsbegriff <strong>und</strong> zum<br />

Lernverhalten.<br />

Diese <strong>und</strong> andere Forschungsfelder haben die Bildungspolitik beeinflußt<br />

<strong>und</strong> in die richtige Richtung gedrängt. Kritik an sozialwissenschaftlichen<br />

Bildungsprognosen ist vor allem da anzubringen, wo sie zu modellhaft <strong>und</strong><br />

detaillistisch sind, zu monokausal, zu wenig interdisziplinär. Als fatal erweist<br />

sich immer wieder die Abhängigkeit von der Auftragsvergabe, ebenso aber<br />

auch der fehlende Mut der Forschung selbst, Schlußfolgerungen aus ihren<br />

Arbeiten zu ziehen <strong>und</strong> öffentlich zu vertreten. So überläßt man die Schlußfolgerungen<br />

ohne öffentliche Debatte anderen.<br />

Ebenso wie Piazolo hält auch Engholm an der Notwendigkeit sozialwissenschaftlicher<br />

Bildungsforschung <strong>und</strong> Bildungsprognosen auch für die Zukunft<br />

fest.<br />

Ludwig v. Friedeburg, der Entstehung von <strong>und</strong> Umgang mit Bildungsprognosen<br />

von beiden Seiten her kennt, drängt auf eine Unterscheidung<br />

zwischen dem wissenschaftlichen <strong>und</strong> dem politischen Zweck von Prognosen.<br />

Wissenschaftlich dienen sie einer möglichst genauen Vorhersage von<br />

mittelfristigen Entwicklungen, politisch sind sie das Material, das Argumente<br />

für normative Entscheidungen liefert. Verwaltung <strong>und</strong> Politik haben insbesondere<br />

aus quantitativen Prognosen, die überwiegend ohne Soziologen<br />

zustande gekommen sind, das jeweils „Beste" gemacht. Wie die Nutzbarkeit<br />

von Bildungsprognosen selbst innerhalb von Politik <strong>und</strong> Verwaltung<br />

variiert, zeigen die Auseinandersetzungen zwischen Finanz- <strong>und</strong> Bildungsministerien<br />

um die „richtigen" Zahlen <strong>und</strong> ihre angemessene Interpretation.<br />

Die Prognosen selbst haben eine Exaktheit vorgetäuscht, die erst mit<br />

dem Begriff des „Korridor" eingeschränkt wurde. Ihre Qualität leidet schon<br />

im Ansatzpunkt an der mangelhaften Bildungsstatistik, die häufiger aktualisiert<br />

<strong>und</strong> in ihren Indikatoren angereichert werden müßte. Die unvermeidlicherweise<br />

„gegriffenen" Parameter sollten realistisch sein <strong>und</strong> nicht dem<br />

situationsabhängigen Wunschdenken entspringen. Ganz besonders aber muß<br />

die Bildungsforschung wissen, daß qualifizierte Prognosen ohne eine intensive<br />

historische Analyse vorausgegangener Bedingungen <strong>und</strong> Entwicklungen<br />

nicht gelingen können.<br />

Was kann die Bildungspolitik eigentlich selbst tun, um nicht weiterhin<br />

falsche Parameter vorsätzlich ins Spiel zu bringen, weil sie opportun sind?<br />

Zu den zitierten „vorsätzlich" falschen Parametern der Rolle normativer<br />

Zwecksetzung <strong>und</strong> zur Rolle der „Apparate" steuert Geipel einige Beispiele<br />

aus der ressortnahen Forschung bei.<br />

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Obwohl Prognosen über Studentenzahlen <strong>und</strong> Lehrerbedarfsprognosen<br />

eigentlich am leichtesten zu erstellen sind, da die Ministerien über die einschlägigen<br />

Zahlen zum guten Teil selbst verfügen, sind diese Prognosen weder<br />

durchweg eingetroffen noch haben sie das Bildungsverhalten wesentlich<br />

beeinflussen können. Ursache ist einmal die Nichtberücksichtigung komplizierter<br />

Parameter, die sich z.B. unter dem Stichwort „Wertewandel" verbergen,<br />

<strong>und</strong> die eine qualifizierte sozialwissenschaftliche Prognose einbeziehen<br />

müßte. Dem „Studentsein" kommt heute eine andere Qualität zu, <strong>und</strong><br />

dieser Lebensabschnitt spielt im gesamten biographischen Entwurf eine andere<br />

Rolle.<br />

Neben dem „Wertewandel" <strong>und</strong> seiner Berücksichtigung in sozialwissenschaftlichen<br />

Prognosen spielen ganz andere politische Gesichtspunkte eine<br />

Rolle im Umgang mit Bildungsprognosen, die mit Bildungspolitik nichts zu<br />

tun haben. So hat beispielsweise die Regionalpolitik einen entscheidenden<br />

Einfluß auf die Standortwahl von Universitätsgründungen gehabt. Da die in<br />

die Randgebiete exportierten Ausbildungsplätze jedoch vorzugsweise zu<br />

den „preiswerten" Literaturfächern zu zählen sind, sind die Berufsaussichten<br />

der Absolventen in den ohnehin „unterentwickelten" Bezirken noch<br />

schlechter als im Durchschnitt.<br />

Probleme der Arbeitsmarkt<strong>entwicklung</strong> <strong>und</strong> Fehlschläge der Wirtschaftspolitik<br />

werden nicht selten dem Bildungswesen angerechnet, anstatt dessen<br />

unbestreitbare Erfolge zu würdigen.<br />

Wildenmann greift das mehrfach angesprochene Problem von Bildungsprognosen<br />

auf: Bildungsprognosen laufen ohne gründliche empirisch-soziologische<br />

Forschung auf ein sinnloses Tun hinaus. Selbst ein so offensichtlicher<br />

Faktor wie die Entwicklung der Geburtenraten wurde lange Zeit<br />

schlicht übersehen. Die Arbeit empirisch-soziologischer Forschung findet<br />

insgesamt nicht die Unterstützung, die sie benötigen würde. Einerseits haben<br />

spekulative Sozialwissenschaften immer noch den größeren Einfluß innerhalb<br />

der Sozialwissenschaft, andererseits sind die Sozialwissenschaften<br />

insgesamt in einem grotesken Ausmaß gegenüber der Förderung von Naturwissenschaften<br />

<strong>und</strong> Ingenieurwissenschaften diskriminiert. Dieser Übelstand<br />

vergrößert die Abhängigkeit von Auftragsforschung, deren Qualität generell<br />

zweifelhaft ist. Das Schlechteste allerdings ist die Parteienforschung samt<br />

ihren Apparaten.<br />

Es sind jedoch nicht nur die Probleme der Forschung, die zur Kritik<br />

herausfordern. Die Bildungspolitik hat nicht gesehen, daß die Bildungsexpansion<br />

nicht Chancengleichheit, sondern Chancenungleichheit vertieft hat.<br />

Sie hat die Durchsetzungsfähigkeit einer „öffentlichen" Versorgungsklasse<br />

ignoriert. Während Partizipation <strong>und</strong> Arbeiterklasse in der Bildungspolitik<br />

zitiert werden, spielt beides faktisch keine Rolle. Politiker <strong>und</strong> Parlamente<br />

sind nicht mehr zu klaren Urteilen in der Lage, da sie zu sehr mit der „Versorgungsklasse"<br />

verschwistert sind.<br />

Wildenmann fordert, das Verhältnis von Bildungspolitik <strong>und</strong> Bildungsforschung<br />

auf eine neue, unbefangene Basis zu stellen, die empirisch-analy-<br />

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tische Forschung zu stärken, ihre Unabhängigkeit zu sichern, <strong>und</strong> die Informationssysteme<br />

zu verbessern.<br />

Beck weist darauf hin, daß das Verhältnis von Bildungspolitik <strong>und</strong> Bildungsforschung<br />

nicht erst in jüngster Zeit, sondern seit den sechziger Jahren<br />

„seine Unschuld verloren hat". Die Verknüpfung von Bildungsprognosen<br />

<strong>und</strong> Bildungspolitik geht so weit, daß veröffentlichte Bildungsprognosen<br />

sich in ihrer Wirkung wechselseitig konterkarieren. Bildungsempfehlungen<br />

<strong>und</strong> Arbeitsmarktbedarfsprognosen schließen sich wechselseitig aus. Bildung<br />

weist keine eindeutigen Chancen mehr zu, zugleich aber ist sie immer<br />

notwendiger geworden, um überhaupt noch verbliebene Chancen nutzen zu<br />

können. Einerseits wird die Forderung erhoben, den Berufsbezug der Bildung<br />

zu intensivieren, andererseits entkoppeln sich Bildung <strong>und</strong> Beschäftigungssystem<br />

zunehmend. Ob sinnvolle Prognosen heute noch möglich sind,<br />

scheint nach Lage der Dinge zweifelhaft.<br />

Teichler stimmt der Einschätzung zu, daß die klassische Rollenverteilung<br />

von Wissenschaft <strong>und</strong> Politik überholt ist, so daß sich die Bildungsforschung<br />

nach ihrer „Umsetzung in Bildungspolitik" auch nicht mehr<br />

als Sündenbock eignet. Die strikte Arbeitsteilung besteht nicht mehr<br />

durch die Professionalisierung der Politiker, durch die Existenz einer<br />

Gruppe von „Mittlern", durch die Forschungsapparate in Politik <strong>und</strong> Verwaltung.<br />

Was kann dann heute noch die Rolle von Bildungsprognosen <strong>und</strong> universitärer<br />

Bildungsforschung insgesamt sein? Ihr wächst paradoxerweise dadurch<br />

eine neue Aufgabe zu, daß die ausgebaute „Apparateforschung"<br />

zwar schnell <strong>und</strong> professionell die „Wunschzettel" der Politik abhakt, daß<br />

sie aber gerade dadurch die zu prüfenden Prämissen bereits vollständig vorab<br />

in ihre Untersuchungen aufgenommen hat. Der Hochschulforschung<br />

kann dadurch die Rolle eines „Obergutachters" zuwachsen.<br />

Die Frage ist allerdings, ob die akademische Soziologie diese Situation<br />

überhaupt sieht <strong>und</strong> bereit <strong>und</strong> in der Lage ist, die gegebenen Chancen zu<br />

nutzen. Ein neuer Dialog zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Ministerien ist jedenfalls<br />

fällig.<br />

Die Wirksamkeit von Bildungsprognosen ist jedoch nicht nur durch die<br />

zahlreichen schon genannten Faktoren in der Bildungsforschung <strong>und</strong> der<br />

Bildungspolitik beeinträchtigt worden, hinzuzufügen ist die Rolle der Gerichte.<br />

Das B<strong>und</strong>esverfassungsgericht hat im Prinzip den unbeschränkten<br />

Zugang zum Bildungssystem festgeschrieben <strong>und</strong> damit Planungsmöglichkeiten<br />

eingeschränkt. Soweit Zulassungsbeschränkungen noch durchgesetzt<br />

werden können, bedürfen sie einer wissenschaftlichen Untermauerung im<br />

Einzelfall. Hier liegt der zweifelhafte Wert der Korridor-Prognosen.<br />

Der neue Dialog zwischen Bildungsforschung <strong>und</strong> Bildungspolitik sollte<br />

nicht an den Apparaten vorbeigehen, sondern sie ergänzen <strong>und</strong> einbeziehen.<br />

Interessanter Gegenstand sind für die Bildungsforschung nicht die Zahlen,<br />

sondern die kritische Auseinandersetzung mit den Parametern der Modellannahmen.<br />

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Piazolo beantwortet die Frage nach neuen Formen des Dialogs, nach<br />

Kooperationsmöglichkeiten zwischen Bildungsministerien <strong>und</strong> Bildungsforschung<br />

zunächst mit einem Rückgriff auf die Kritik an den normativen<br />

Setzungen im politischen Bereich. In der Auseinandersetzung um solche<br />

normativen Setzungen kann die Bildungsforschung nur eine begrenzte Rolle<br />

spielen. Diese begrenzte Chance vergibt sie sich, wenn sie ihrerseits noch<br />

falsche Bedarfsprognosen vorlegt.<br />

Andererseits ist das weite Feld qualifizierter Untersuchungen zu den<br />

wesentlichen Parametern von Prognosen noch keineswegs beackert. Zum<br />

Verhältnis von Bildung <strong>und</strong> Arbeit gilt, daß auch heute noch eine möglichst<br />

gute Qualifizierung anzustreben ist, keinesfalls die Verringerung des Bildungsniveaus.<br />

Zum Zusammenhang von Bildung <strong>und</strong> Arbeit brauchen wir<br />

jedoch heute beispielsweise biographische Untersuchungen, nicht nur Prognosen.<br />

Generell gilt, daß wir nicht weniger Informationen benötigen, sondern<br />

mehr. Die Disziplinen müssen lernen, interdisziplinär zusammenzuarbeiten.<br />

Sie müssen vor allem in ihrer Forschung ein wesentlich höheres Tempo<br />

einschlagen, damit die Forschungsergebnisse nicht von der Wirklichkeit<br />

überholt werden. Fatal ist die gegenwärtige Neigung zu rückwärts gerichteter,<br />

nur noch evaluierender Forschung, der es an Kreativität fehlt, die Perspektiven<br />

<strong>und</strong> Alternativen nicht mehr entwerfen kann.<br />

Der schnell zu befriedigende, aktuelle Beratungsbedarf darf nicht auf<br />

Kosten der Gr<strong>und</strong>lagenforschung gehen, an die jede angewandte Forschung<br />

zurückgeb<strong>und</strong>en sein muß. Die Umsetzung selbst geschieht allerdings nicht<br />

durch Berichte, sondern durch Expertengespräche, die Ausgangspunkt <strong>und</strong><br />

Endpunkt von Berichten sein können.<br />

Zu den wenig durchdachten <strong>und</strong> schon gar nicht umgesetzten alternativen<br />

Modellen der Verknüpfung von Bildung <strong>und</strong> Arbeit gehört ein lebenslanges,<br />

flexibleres Wechseln von einem Bereich in den anderen, anstelle einer<br />

überlangen Erstausbildung.<br />

Auch in Zukunft wird das B<strong>und</strong>esbildungsministerium auf keinen Fall<br />

auf Politikberatung durch universitäre Bildungsforschung verzichten, was zu<br />

einer alleinigen Angewiesenheit auf die „Apparateforschung" führen würde,<br />

der die Rückbindung an die Gr<strong>und</strong>lagenforschung abhanden kommt.<br />

Auch Engholm unterstreicht noch einmal, daß er keinen vernünftigen<br />

Gr<strong>und</strong> sieht, Bildungsprognosen <strong>und</strong> Bildungsforschung in besonderer Weise<br />

zu kritisieren. Diese Arbeiten seien im Gegenteil besser als manche anderen,<br />

z.B. Energieprognosen oder Gutachten der „Fünf Weisen". Nicht nur<br />

die Schwäche, sondern vor allem auch die Stärke sozialwissenschaftlicher<br />

Forschung liegt in der Berücksichtigung des „Faktors Mensch".<br />

Das Verhältnis von Bildung <strong>und</strong> Arbeit muß zweifellos neu definiert<br />

werden, dennoch ist generell nach wie vor eine möglichst qualifizierte Ausbildung<br />

das Leitziel. Ein neues Problem ist bei steigendem Ausbildungsniveau<br />

das Entstehen einer Gruppe von Unterqualifizierten ohne jede Chance<br />

in einem auf hohe Anforderungen ausgerichteten Beschäftigungssystem.<br />

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Ein anderer Punkt, mit dem sich die Bildungsforschung wieder mehr befassen<br />

müßte, ist das Nachdenken über Lern- <strong>und</strong> Bildungsziele für die Zukunft.<br />

Die Effizienz der Ausbildung <strong>und</strong> die kurzfristige Bedarfsdeckung<br />

können nicht die alleinige Zieldefinition sein. Sie werden immer zu kurz<br />

greifen.<br />

Neben dem Problem der Unabhängigkeit von Auftraggebern hat die Bildungsforschung<br />

ein ureigenes Problem zu lösen: sie muß aus ihren Analysen<br />

praktische Folgerungen ziehen <strong>und</strong> den Mut haben, diese auch der Öffentlichkeit,<br />

insbesondere zahllosen hochprofessionalisierten Praktikern in allen<br />

Bereichen zu unterbreiten. Es ist an der Zeit, daß die universitäre Forschung<br />

sich um einen breiten Wissenschaftstransfer bemüht, den es in diesem Lande<br />

bislang kaum gibt.<br />

3. Zusammenfassung<br />

Eine Zusammenfassung für wesentlich gehaltener Gesichtspunkte des Podiumgesprächs<br />

ist unvermeidlicherweise noch subjektiver als die Rekapitulation<br />

der Gesprächsbeiträge. Das vorangestellt, möchte ich folgende Punkte<br />

herausstreichen:<br />

3.1<br />

Angesichts der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion um Bildungspolitik<br />

<strong>und</strong> Bildungsforschung, die sich gerade auch an Bedarfs- <strong>und</strong> Angebotsprognosen<br />

festmacht, war das Gesprächsklima bemerkenswert entspannt. Die<br />

Zusammensetzung des Kreises signalisiert meines Erachtens auch, daß Bildungsforschung<br />

<strong>und</strong> Bildungspolitik nicht 'abgedankt' haben.<br />

3.2<br />

Die Bildungsforschung hat der Bildungspolitik wesentliche Impulse gegeben.<br />

Sie hat wichtige Probleme angerissen <strong>und</strong> Perspektiven gewiesen. Es<br />

gibt keinen Gr<strong>und</strong> zu pauschaler Kritik. Auch ihre Prognosen waren besser<br />

als die auf manch anderem Gebiet. Ein Bedarf an Bildungsprognosen <strong>und</strong><br />

Bildungsforschung besteht auch in Zukunft. Es ist zudem unseriös, Bildungsprognosen,<br />

Bildungsforschung <strong>und</strong> Bildungspolitik für Entwicklungen<br />

verantwortlich zu machen, die zur Wirtschaftspolitik <strong>und</strong> zur Regionalpolitik<br />

gehören. Auch sind Handlungsbeschränkungen durch die Gerichte <strong>und</strong><br />

durch die Interessen der 'öffentlichen Versorgungsklasse' zu benennen.<br />

3.3<br />

Der massive Ausbau der 'Apparate' in Ressortforschung, ressortnaher Forschung<br />

<strong>und</strong> Auftragsforschung hat den Stellenwert der universitären For-<br />

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schung in der unmittelbaren Beratung verringert. Da die 'Apparateforschung'<br />

jedoch zu wenig unabhängig ist, 'Verwaltungsmerkmale' zeigt, Anschluß an<br />

die Gr<strong>und</strong>lagenforschung verliert, bedarf sie einer Ergänzung durch die universitäre<br />

Forschung. Es ist allerdings die Frage, ob die Universitätsforschung,<br />

mit Selbstkasteiung beschäftigt, diese Chance sieht <strong>und</strong> zu nutzen versteht.<br />

3.4<br />

Auch in Zukunft besteht Prognosebedarf. Die Forschung muß schnell <strong>und</strong><br />

pragmatisch reagieren. Sie muß vor allem kreativ sein, Problemlösungen vorschlagen,<br />

Alternativen aufzeigen können. Sie sollte nicht 'rückwärtsgewandt'<br />

einhergehen. An neuen Themen sind biographische Studien <strong>und</strong> Lebenslaufuntersuchungen<br />

zunehmend wichtig. Das Verhältnis von Bildung <strong>und</strong> Arbeit<br />

muß neu definiert werden. Nicht eine Absenkung des Bildungsniveaus,<br />

sondern phantasievolle Modelle des lebenslangen Wechseins zwischen Bildungs-<br />

<strong>und</strong> Beschäftigungssystem (recurrent education) sind zu verfolgen.<br />

Eine verbreiterte <strong>und</strong> aktualisierte Bildungsstatistik, umfassendere Informationsflüsse<br />

sind zu verbessernde Forschungsvoraussetzungen. Komplizierte<br />

'qualitative' Untersuchungen zur historischen Entstehung von Handlungsbedingungen,<br />

zum Wertewandel, zu zukunftsorientierten Lernzielen sind<br />

notwendig.<br />

3.5<br />

Die Bildungsforschung der Universitäten braucht Unabhängigkeit. Sie ist<br />

gegenüber den Naturwissenschaften radikal benachteiligt, aber auch durch<br />

eine rein spekulative Sozialwissenschaft beeinträchtigt. Sie darf nicht überwiegend<br />

auftragsabhängig werden. Andererseits fehlt ihr selbst der Mut, aus<br />

Untersuchungen praktische Schlußfolgerungen zu ziehen, so daß sie die Folgerungen<br />

Politik <strong>und</strong> Massenmedien von vornherein überläßt. Es fehlt an einem<br />

eingespielten Wissenschaftstransfer. Normative Entscheidungen der Bildungspolitik<br />

<strong>und</strong> die Notwendigkeit von Kompromissen werden dadurch<br />

nicht aufgehoben, jedoch könnte der Einfluß der Bildungsforschung stärker<br />

sein.<br />

3.6<br />

Die Professionalisierung der Politik <strong>und</strong> die Existenz professioneller Mittler<br />

haben das „Verwendermodell" — hier Bildungsforschung, dort Bildungspolitik<br />

— obsolet gemacht. Alle Seiten zeigen sich an einem „neuen Dialog"<br />

interessiert, wobei die „terms" dieses Dialogs noch zu finden sind.<br />

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Politikberatung durch Bildungsforschung?<br />

EINLEITUNG<br />

Friedhelm<br />

Gehrmann<br />

Politiker <strong>und</strong> Ministerialbeamte betonen immer wieder die Notwendigkeit<br />

einer umfassenden <strong>und</strong> kontinuierlichen Politikberatung durch die Wissenschaft.<br />

Nach diesem — von einigen Wissenschaftlern als Lippenbekenntnis<br />

charakterisierten — Hinweis bedauern die politischen Entscheidungsträger<br />

üblicherweise, daß die Politikberatung zu sehr aus fachlich-wissenschaftlicher<br />

Sicht <strong>und</strong> zu wenig aus dem Blickwinkel von Entscheidungsträgern erfolgte.<br />

Diese Aussagen erklären sicherlich nicht allein die geringe Akzeptanz<br />

<strong>und</strong> Implementation der wissenschaftlichen Politikberatung. Jedoch muß<br />

zugegeben werden, daß einige Beratungen in einer Sprach- <strong>und</strong> Abstraktionsform<br />

erfolgen, die zum Teil nur noch von einem kleinen Spezialistenkreis<br />

lesbar sind. Die Wissenschaft ist aufgerufen, die Politikberatung im<br />

Interesse einer Implementation so abzufassen, daß die Berichte „lesbar"<br />

sind <strong>und</strong> zur Entscheidungsvorbereitung für praktische politische Programme<br />

unmittelbar herangezogen werden können.<br />

Entscheidungsträger sind daran interessiert, Handlungssicherheit im Detail<br />

bei gleichzeitiger Reduktion von Komplexität zu erhalten. Je stärker es<br />

der Wissenschaft im Rahmen der Politikberatung gelingt, wirklich implementierbare<br />

Forschungsergebnisse zu präsentieren, desto weniger können<br />

die politischen Entscheidungsträger<br />

— Vorwände zur Umgehung bzw. Verhinderung der gelieferten Vorschläge<br />

finden,<br />

— die Politikberatung zur Legitimation der ohnehin geplanten Programme<br />

„mißbrauchen" <strong>und</strong><br />

— der Politikberatung somit lediglich eine Alibi-Funktion zuweisen.<br />

Die an Implementation orientierte Wissenschaft liefert den Entscheidungsträgern<br />

jedoch nicht Handlungssicherheit im Detail unter Abnahme von<br />

Komplexität; sie führt im Gegenteil eher zu einem Anstieg an Komplexität<br />

ohne Erhöhung der Handlungssicherheit. Durch Offenlegung von Handlungsalternativen<br />

werden die Entscheidungsträger jedoch an ihre eigentliche<br />

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Arbeit herangeführt, nämlich auf der Gr<strong>und</strong>lage wissenschaftlich aufbereiteter<br />

Alternativen politische Entscheidungen zu fällen.<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser allgemeinen Problematik von Politikberatung<br />

beschäftigen sich die Verfasser der folgenden fünf Beiträge mit dem<br />

Thema „Politikberatung durch Bildungsforschung?". Der Beitrag von Meulemann<br />

kann als Gr<strong>und</strong>lagenbeitrag zum Themenbereich bezeichnet werden.<br />

Bildungsabschlüsse in modernen Industriegesellschaften sind — so Meulemann<br />

— doppeldeutig: Sie verweisen auf Qualifikationen <strong>und</strong> auf Werthaltungen.<br />

Bildungsabschlüsse bieten Lebenschancen, die sich im Beruf realisieren,<br />

<strong>und</strong> sie fordern eine Lebensführung, die sich in der Familie <strong>und</strong> in der<br />

Freizeit ausdrückt.<br />

Die Beiträge von Alex, Griesbach, Schulenberg <strong>und</strong> Zapf sind auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage von praktischen Erfahrungen in der Politikberatung entstanden.<br />

Wie nicht anders zu erwarten, sind die Erfahrungen bezüglich der Akzeptanz<br />

<strong>und</strong> Implementation von Politikberatung höchst unterschiedlich. Schlagwortartig<br />

<strong>und</strong> verkürzt kann dies durch folgende Zitate belegt werden:<br />

— Das besondere Mandat des B<strong>und</strong>esinstituts für Berufsbildung zur Politikberatung<br />

ist eine Herausforderung, die nicht nur das wissenschaftliche<br />

Selbstbewußtsein stärkt, sondern Mut verlangt, manchen politischen<br />

Unwillen zu ertragen (Alex).<br />

— Gelegentlich bleiben Empfehlungen bei politischen Entscheidungen unberücksichtigt.<br />

Darin sieht HIS keinen Mißerfolg; Ratschläge können von<br />

dem, der sie erbeten hat oder unerbeten erhält, befolgt werden oder<br />

nicht (Griesbach).<br />

— Ein Gutachten im Auftrag des niedersächsischen Wissenschaftsministers<br />

zum Niedersächsischen Erwachsenenbildungsgesetz spricht sich gegen<br />

die Novellierung des Gesetzes aus. Die Mehrheitsfraktion hat dennoch<br />

die beabsichtigte Novellierung durchgesetzt, der Minister hat die Argumente<br />

seines eigenen Gutachtens kaum vertreten. Eine Farce der Politikberatung<br />

durch Bildungsforschung? (Schulenberg).<br />

— Politiker sind vielbeschäftigte Leute, die in der Regel nicht um Rat fragen<br />

<strong>und</strong> sich auch nicht belehren lassen. Wie andere Führungsgruppen<br />

auch, suchen sie jedoch ständig nach Konzepten <strong>und</strong> Deutungsangeboten<br />

(Zapf).<br />

Zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse sei betont: Diese Zitate sind<br />

nicht als Resümee der Beiträge zu interpretieren, sondern sollen lediglich die<br />

Bandbreite der Erfahrungen der Autoren in der praktischen Politikberatung<br />

kennzeichnen.<br />

Politikberatung ist sicherlich ein mühsames Geschäft; das ist eine Binsenweisheit.<br />

Empirische Sozialwissenschaftler sind aber gut beraten, wenn<br />

sie sich dieser mühsamen Herausforderung stellen <strong>und</strong> sich an der Konzeptualisierung<br />

von aktuellen gesellschaftspolitischen Problemen <strong>und</strong> Lösungsvorschlägen<br />

beteiligen.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


POLITIKBERATUNG DURCH BERUFSBILDUNGSFORSCHUNG<br />

Laszlo Alex<br />

Ein wichtiges innenpolitisches Thema im Spätsommer eines jeden Jahres ist<br />

die Ausbildungsstellensituation. Fast mit gleichen Rollen, wenn auch mit<br />

unterschiedlichen Akteuren im Falle eines Regierungswechsels, wird jedes<br />

Jahr das gleiche Spektakel geboten. Arbeitgeber <strong>und</strong> Gewerkschaften vertreten<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich unterschiedliche Standpunkte. Was der eine als Erfolg<br />

bezeichnet, verbucht der andere als Mißerfolg. Wird diese Kakophonie der<br />

Stimmen durch eine ungenaue Beschreibung der Lage hervorgerufen? Zum<br />

Teil ja; zum Teil kann die subjektive Sichtweise von dergleichen Lage durchaus<br />

unterschiedlich sein. Müßte sich hier nicht die Forschung um eine Versachlichung<br />

bemühen?<br />

Das B<strong>und</strong>esinstitut für Berufsbildung hat vor Jahren umfangreiche Berechnungen<br />

zur Bestimmung der latenten Nachfrage nach Ausbildungsplätzen<br />

— die nach der Abgrenzung des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes<br />

nicht erfaßt wird — aufgestellt. Die damalige B<strong>und</strong>esregierung empfand diese<br />

„Aufhellung der Dunkelziffer" als wenig hilfreich. Auch die jetzige B<strong>und</strong>esregierung<br />

äußerte sich ziemlich ungehalten, als im Septe<strong>mb</strong>er vorigen<br />

Jahres eine Analyse der damaligen Ausbildungsstellensituation vom B<strong>und</strong>esinstitut<br />

vorgelegt wurde. Die Motive für den politischen Unwillen waren<br />

beidesmal die gleichen: Da die Ausbildungsstellensituation seit Eintritt der<br />

geburtenstarken Jahrgänge <strong>und</strong> wegen der anhaltenden Wirtschaftsschwäche<br />

seit Jahren defizitär ist, entsteht durch eine solche Analyse ein politischer<br />

Handlungsdruck. Ein solcher Handlungsdruck ist unerwünscht, da systemkonforme<br />

Instrumente nur sehr beschränkt vorhanden sind. Ein guter Kenner<br />

der berufsbildungspolitischen Szene schrieb hierzu: „Solange die Wirtschaft<br />

sich zu ihrer Ausbildungsverpflichtung bekennt, <strong>und</strong> solange sie in<br />

einem so großen Umfange Ausbildungsplätze ohne zusätzliche Finanzierung<br />

anbietet, wird es keine parlamentarisch-politische Kraft geben, die bereit<br />

<strong>und</strong> in der Lage ist, die Finanzierung dieser Ausbildung durch Umlage<br />

oder aus dem Staatshaushalt zu regeln". 1<br />

Soll sich die Forschung bei der Lagebeschreibung abmelden? Damit sind<br />

wir mitten in unserem Thema. Politikberatung durch Forschung kann sich<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich erstrecken<br />

— auf die Konkretisierung von Zielen mit Hilfe einer genauen Diagnose<br />

der Lage — wobei sich die Diagnose keineswegs nur auf den Ausbildungsstellenmarkt,<br />

sondern auch auf die Qualitätslage (Inhalt <strong>und</strong> Vermittlung<br />

der Ausbildung) erstreckt — <strong>und</strong> einer Status-quo-Prognose („was<br />

geschieht, wenn nichts passiert") <strong>und</strong><br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


— auf die Überprüfung bzw. Entwicklung eines Handlungsprogramms mit<br />

dessen Hilfe die gegenwärtige Lage in eine „Ziellage" überführt wird.<br />

Diese Funktionen gelten auch für die Berufsbildungsforschung. Ohne diagnostische<br />

<strong>und</strong> prognostische Informationen ist eine rationale Berufsbildungspolitik<br />

nicht möglich.<br />

Die Berufsbildung umfaßt die Bereiche: Berufsausbildung (Erstausbildung)<br />

<strong>und</strong> Weiterbildung (berufliche Fortbildung <strong>und</strong> Umschulung). Die<br />

staatlichen Aktivitäten beschränken sich vorwiegend auf den Bereich der<br />

Berufsausbildung, der auch Gegenstand der folgenden Ausführungen ist.<br />

Das Kernstück des deutschen Berufsausbildungssystems ist die duale<br />

Ausbildung, d.h. also Ausbildung in einem Betrieb verb<strong>und</strong>en mit dem Besuch<br />

einer Teilzeitberufsschule. Die Wesenszüge des Systems sind die eigenverantwortliche<br />

Durchführung <strong>und</strong> Finanzierung der Ausbildung durch die<br />

Betriebe. Auf dem Ausbildungsstellenmarkt (ein Teilbereich des umfangreicheren<br />

'Berufsbildungsmarktes') bieten private <strong>und</strong> öffentliche Betriebe<br />

Ausbildungsplätze an. Das Ausbildungsverhältnis wird mit dem Abschluß<br />

eines privatrechtlichen Vertrages zwischen dem Jugendlichen <strong>und</strong> dem Betrieb<br />

begründet. Im Gegensatz zur schulischen Ausbildung ist die betriebliche<br />

Ausbildung privatwirtschaftlich organisiert <strong>und</strong> 'marktwirtschaftlich'<br />

gesteuert: Die quantitative Steuerung erfolgt durch „Kräfte des Marktes"<br />

zwischen Bewerbern <strong>und</strong> Betrieben, die qualitative Steuerung im wesentlichen<br />

durch Absprachen zwischen Arbeitgebern <strong>und</strong> Gewerkschaften, die<br />

staatlich — durch rechtsverbindliche Ausbildungsordnungen — sanktioniert<br />

werden. In diesem von wirtschaftsliberaler Tradition geprägten System sind<br />

die Möglichkeiten des staatlichen Einflusses vorwiegend indirekter Art. Sie<br />

beschränkten sich bis in die 70er Jahre vorwiegend auf die Verbesserung der<br />

Ausbildungsqualität. So nennt die B<strong>und</strong>esregierung im Jahre 1973 als wichtigste<br />

Ziele der Berufsausbildungspolitik:<br />

• „die Systematisierung <strong>und</strong> Pädagogisierung der betrieblichen Ausbildung,<br />

• die curriculare Abstimmung der Ausbildung zwischen der Berufsschule<br />

<strong>und</strong> der betrieblichen Ausbildung,<br />

• die Umgestaltung des ersten Jahres der Berufsausbildung zu einem Berufsgr<strong>und</strong>bildungsjahr,<br />

• die Ergänzung <strong>und</strong> Verbesserung der betriebsbedingten unterschiedlichen<br />

Ausbildungsleistungen der Ausbildungsbetriebe,<br />

• die Erweiterung des Ausbildungsangebots in strukturschwachen Regionen<br />

<strong>und</strong> im Zonenrandgebiet,<br />

• die Förderung der Integration beruflicher <strong>und</strong> allgemeiner Bildung<br />

durch Abstimmung, Verzahnung <strong>und</strong> Verflechtung der Bildungsgänge<br />

in einem Bildungssystem." 2<br />

Auch bei den Beschlüssen zur beruflichen Bildung des im Jahre 1973 verabschiedeten<br />

Bildungsgesamtplanes beschränkte man sich auf die Betonung<br />

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der bereits durch das Berufsbildungsgesetz 1969 verabschiedeten Gr<strong>und</strong>sätze<br />

zur Qualitätsverbesserung. Quantitative Zielvorstellungen fanden Eingang<br />

nur für drei Bereiche: für die berufliche Gr<strong>und</strong>bildung einschließlich Berufsvorbereitung,<br />

für den Ausbau der überbetrieblichen Ausbildungsstätten <strong>und</strong><br />

für die den betrieblichen Bereich ergänzenden Teilzeitberufsschulen.<br />

Die damalige Vorrangstellung des Qualitätsaspektes in der Berufsbildungspolitik<br />

entsprach nicht nur der — auch heute bestehenden — mangelnden<br />

Möglichkeit zur direkten Kapazitätssteuerung, sondern auch dem geringen<br />

quantitativen Problemdruck: Bis Anfang der 70er Jahre gab es auf<br />

dem Ausbildungsstellenmarkt einen erheblichen Angebotsüberschuß.<br />

Wie die Berufsbildungspolitik selbst, hat auch die Berufsbildungsforschung<br />

erst Ende der 60er Jahre an Konturen gewonnen. „Bildung <strong>und</strong> Beruf<br />

sind zwar schon Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung <strong>und</strong> Forschung.<br />

Erst seit einigen Jahren — so die zutreffende Feststellung des B<strong>und</strong>estags-Ausschusses<br />

für Arbeit bei den Erläuterungen zum Entwurf des Berufsbildungsgesetzes<br />

— hat sich aber die vorwiegend empirisch begründete<br />

3<br />

Erforschung dieser Erscheinungen unter der Bezeichnung Berufsbildungsforschung<br />

durchgesetzt."<br />

Das Hauptgewicht der Forschungsaktivitäten als Gr<strong>und</strong>lage für die Berufsbildungspolitik<br />

lag bis Anfang der 70er Jahre auf der Diagnose der Qualitätslage<br />

<strong>und</strong> auf Maßnahmen zu ihrer Verbesserung.<br />

An erster Stelle sind hier die Arbeiten des Deutschen Bildungsrates von<br />

1965 bis 1975 zu nennen, die sich auf mehr als 50 wissenschaftliche Gutachten<br />

<strong>und</strong> Studien stützten. In den Empfehlungen: „Zur Verbesserung der<br />

Lehrlingsausbildung" (1969), „Strukturplan für das Bildungswesen" (1970)<br />

<strong>und</strong> „Zur Neuordnung der Sek<strong>und</strong>arstufe II" (1974) wurden, gestützt auf<br />

wissenschaftliche Vorarbeiten, wichtige Aussagen zur Lage <strong>und</strong> Verbesserung<br />

der beruflichen Bildung gemacht. Sie bezogen sich auf die Lernprozesse <strong>und</strong><br />

ihre Optimierung an allen Lernorten („Pluralität der Lernorte" galt seit je<br />

als Bestandteil der Berufsbildungspolitik).<br />

Bei den Lernzielen <strong>und</strong> -inhalten ging es um die Neubestimmung der<br />

Lehr- <strong>und</strong> Ausbildungspläne, einer auf einer breiten Gr<strong>und</strong>bildung aufbauenden<br />

beruflichen Sozialisation in allen Berufen sowie um die curriculare<br />

Verzahnung von allgemeiner <strong>und</strong> beruflicher Bildung im Sek<strong>und</strong>arbereich<br />

II.<br />

Auf dem Gebiet der Curriculumforschung lagen auch die Arbeitsschwerpunkte<br />

des im Jahre 1970 gegründeten B<strong>und</strong>esinstitutes für Berufsbildungsforschung<br />

(BBF). Auf diesem Feld sind Forschung <strong>und</strong> Politik engstens miteinander<br />

verb<strong>und</strong>en, wobei zu den politisch Handelnden auch — bei Ordnungsarbeiten<br />

sogar in erster Linie — die Arbeitnehmer- <strong>und</strong> Arbeitgeberorganisationen<br />

gehören. Die Entwicklung einer neuen Ausbildungsordnung,<br />

bis sie als Rechtsverordnung erlassen wird, ist ein mehrjähriger Prozeß, in<br />

dem das B<strong>und</strong>esinstitut eine permanente Beratungsaufgabe wahrnimmt.<br />

4<br />

Dem gemeinsamen Bemühen aller Beteiligten im B<strong>und</strong>esinstitut ist es zu<br />

verdanken, daß die Zahl der anerkannten Ausbildungsberufe von 627 Anfang<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


der 70er Jahre auf zur Zeit 434 reduziert wurde, daß zur gleichen Zeit (bis<br />

Sommer 1984) 154 Ausbildungsordnungen für 190 Ausbildungsberufe mit<br />

ca. 900.000 Auszubildenden (53%) erlassen worden sind.<br />

In diesen Zahlen kommt eindrucksvoll das Bestreben nach Rationalisierung<br />

<strong>und</strong> Qualitätssicherung der Berufsausbildung seit Beginn der 70er Jahre<br />

zum Ausdruck.<br />

Neben den steigenden Aktivitäten im Bereich der Gurriculumforschung<br />

datieren auch die ersten repräsentativen Untersuchungen über die Lage der<br />

Auszubildenden, über den Ausbildungsvollzug in Betrieb <strong>und</strong> Schule vom Beginn<br />

der 70er Jahre (Heinen et al. 1972, Alex et al. 1973, Crusius et al. 1973).<br />

Bei der Auseinandersetzung über die Empfehlungen des Deutschen Bildungsrates<br />

zur Lehrlingsausbildung, bei den Arbeiten der B<strong>und</strong>-Länder-<br />

Kommission für Bildungsplanung zur Erstellung eines Bildungsgesamtplanes<br />

(vom Juni 1970 bis Juni 1972) war man sich der unbefriedigenden Datenlage<br />

ständig bewußt. Man sah, wie auch bei anderen Refor<strong>mb</strong>emühungen<br />

in der zweiten Hälfte der 60er Jahre, daß eine wirksame Abhilfe nur<br />

durch den konsequenten Ausbau der Forschung <strong>und</strong> Statistik erzielt werden<br />

konnte. Die Gründung von Bildungsforschungsinstituten in den Ländern<br />

datiert vorwiegend aus dieser Zeit.<br />

Es ist auch kein Zufall, daß in den beiden bedeutsamen Reformgesetzen<br />

des Jahres 1969, in dem Arbeitsförderungsgesetz <strong>und</strong> in dem Berufsbildungsgesetz<br />

die 'institutionalisierte' Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsbildungsforschung<br />

fester Bestandteil der Maßnahme wurde. So wurde mit der Gründung<br />

des B<strong>und</strong>esinstitutes für Berufsbildungsforschung (§ 60 Berufsbildungsgesetz)<br />

anerkannt, daß für die künftige Gestaltung der beruflichen<br />

Bildung, für ihre Anpassung an technische, wirtschaftliche <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklungen umfassende Informations- <strong>und</strong> Dokumentationssysteme<br />

verb<strong>und</strong>en mit wissenschaftlichen Analysen <strong>und</strong> Prognosen erforderlich<br />

sind (für die Aufgaben des Institutes für Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Berufsforschung<br />

der B<strong>und</strong>esanstalt für Arbeit gelten nach § 6 AFG analoge Bestimmungen).<br />

Ein kurzer Rückblick auf die Vorgeschichte des BBF ist für die Entstehung<br />

der Politikberatungsaufgaben aufschlußreich.<br />

Bereits im Jahre 1966 wurde im Auftrag des Arbeitssenators in Berlin<br />

ein Gutachten der Professoren Blankertz, Ciaessens <strong>und</strong> Edding für die Errichtung<br />

eines Berufsbildungsforschungsinstitutes erstellt. Wichtigste Aufgabe<br />

des Institutes sollte eine fachwissenschaftliche Clearingfunktion sein.<br />

5<br />

Daneben sollten durch Mittler- <strong>und</strong> Experimentierfunktionen die Verbindungen<br />

zur Verwaltung <strong>und</strong> Berufsbildungspraxis aufrechterhalten <strong>und</strong> erweitert<br />

werden. In der Folgezeit wurden die Forschungsfelder für eine Institutsgründung<br />

konkretisiert, die Forschung zur Vorbereitung von Ausbildungsordnungen<br />

gewann eine zunehmende Bedeutung. Die Aufgaben des<br />

nach § 60 Berufsbildungsgesetz gegründeten B<strong>und</strong>esinstitutes für Berufsbildungsforschung<br />

gehen über den von Blankertz-Claessens-Edding genannten<br />

Rahmen hinaus. Als Aufgaben des Institutes sind in den Erläuterungen<br />

des B<strong>und</strong>estags-Ausschusses für Arbeit genannt worden:<br />

6<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


1. Forschungsfunktion (Gr<strong>und</strong>lagenforschung)<br />

2. Forschungsaufgabe mit dem Ziel der Politikberatung<br />

3. Informations- <strong>und</strong> Dokumentationsfunktion<br />

Die Politikberatungsfunktion des BBF ist im Gesetz nicht expressis verbis<br />

genannt worden (s. unten: Ausbildungsplatzförderungsgesetz). Sie wird<br />

aber in den Erläuterungen des B<strong>und</strong>estags-Ausschusses für Arbeit deutlich<br />

herausgestellt. Als konkrete Forschungsarbeiten im Bereich der Politikberatung<br />

werden aufgeführt:<br />

1. Untersuchungen zur materiellen Vorbereitung der Ausbildungsordnungen,<br />

2. Untersuchungen der Berufsbildungsinstitutionen,<br />

3. Untersuchungen zu bildungsökonomischen Problemen (Kosten-Nutzen-<br />

Analysen) einschließlich der Finanzierungsaspekte der beruflichen Bildung.<br />

Wie bereits erwähnt, lagen die Schwerpunkte der Institutsarbeit aus der<br />

„Gründungszeit" zu Beginn der 70er Jahre in der Erforschung curricularer<br />

Gr<strong>und</strong>satzfragen <strong>und</strong> der Entwicklung von Gr<strong>und</strong>lagen für die Ordnungsarbeit.<br />

Neben diesen, mehr auf mittlere Sicht gerichteten Fördermaßnahmen<br />

der Berufsausbildungsforschung, verlangten die Fraktionen der SPD <strong>und</strong><br />

FDP im Frühsommer 1970 die Einsetzung einer Kommission unabhängiger<br />

Sachverständiger zur Verbesserung der Entscheidungsgr<strong>und</strong>lagen auf<br />

7<br />

dem Gebiet der außerschulischen beruflichen Bildung. Die Kommission,<br />

die unter dem Namen ihres Vorsitzenden, Prof. Dr. F. Edding, bekannt<br />

wurde, nahm ihre Arbeit im April 1971 auf <strong>und</strong> legte ihren Abschlußbericht<br />

Anfang 1974 vor. Die bildungspolitische Bedeutung der Forschungsarbeiten<br />

der Edding-Kommission ist beträchtlich. Es liegen erstmalig repräsentative<br />

Daten über die Kosten der außerschulischen Berufsbildung vor. Es<br />

werden erstmalig ausführliche statistische Qualitätsanalysen durchgeführt.<br />

Die statistischen Daten machen die Reformvorschläge „berechenbar". Seit<br />

Vorliegen des Berichtes verstummen schließlich nicht mehr die Stimmen,<br />

die eine auf alle Betriebe sich erstreckende Umlagefinanzierung der Berufsausbildung<br />

verlangen. So hat erst kürzlich (dpa vom 23.08.1984) der bildungspolitische<br />

Sprecher der CDU/CSU-B<strong>und</strong>estagsfraktion erklärt: „Die<br />

Ausbildungsleistungen der Groß- <strong>und</strong> Mittelbetriebe sind nach wie vor völlig<br />

unbefriedigend. Wenn sich das nicht in Kürze ändert, geraten wir immer<br />

mehr unter politischen Druck, die Ausbildung über eine betriebliche Umlage<br />

zu finanzieren".<br />

Mit diesem Zitat ist der Sprung vom Anfang der 70er Jahre bis zur Gegenwart<br />

zu groß, dennoch für die Dialektik der Problemlage sehr bezeichnend.<br />

Seit Mitte der 70er Jahre gerieten die Qualitätsfragen allmählich in<br />

den Hintergr<strong>und</strong>. Zwar wird die Überarbeitung von Lerninhalten <strong>und</strong> -plänen,<br />

die Durchführung von Modellversuchen für die Erprobung der Umsetzbarkeit<br />

neuer Ausbildungsgänge, -konzeptionen, -methoden bildungs-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


politisch weiterhin für wichtig erachtet, quantitative Probleme infolge der<br />

geburtenstarken Jahrgänge schieben sich aber zunehmend in den Vordergr<strong>und</strong>.<br />

Der Ausbildungsstellenmarkt als zentraler Forschungsgegenstand trat<br />

in Erscheinung. Die Politikberatungsfunktion der Berufsbildungsforschung<br />

gewann eine neue Dimension. Das im Jahr 1976 verabschiedete Ausbildungsplatzförderungsgesetz<br />

gab hierfür entscheidende Impulse. Das nach<br />

bewegten bildungspolitischen Auseinandersetzungen am 1. Septe<strong>mb</strong>er 1976<br />

in Kraft getretene Ausbildungsplatzförderungsgesetz enthält drei wichtige<br />

Bestimmungen:<br />

— Eine Finanzierungsregelung im Bedarfsfalle, wenn keine ausreichende<br />

Deckung der Ausbildungsplatznachfrage durch das Ausbildungsplatzangebot<br />

möglich erscheint,<br />

— die Einführung einer Berufsbildungsstatistik <strong>und</strong> eines jährlichen Berufsbildungsberichtes<br />

zum Zwecke der vorausschauenden Berufsbildungsplanung<br />

<strong>und</strong><br />

— die Errichtung des B<strong>und</strong>esinstitutes für Berufsbildung. „Durch das<br />

B<strong>und</strong>esinstitut für Berufsbildung (BIBB), in dem das bisherige B<strong>und</strong>esinstitut<br />

für Berufsbildungsforschung (BBF) aufgegangen ist, erhält die<br />

berufliche Bildung endlich eine 'gemeinsame Adresse', bei der die anstehenden<br />

Aufgaben koordiniert <strong>und</strong> möglichst effektiv gelöst werden:<br />

B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder, Staat <strong>und</strong> Wirtschaft, Arbeitgeber <strong>und</strong> Arbeitnehmer,<br />

Berufsbildungspraxis <strong>und</strong> Berufsbildungsforschung arbeiten unter<br />

einem Dach zusammen". Mit dem Ausbildungsplatzförderungsgesetz<br />

8<br />

ist ein qualitativer Sprung in der Beziehung zwischen Politik <strong>und</strong> Berufsbildungsforschung<br />

eingetreten. Die Beratungsfunktion gilt nunmehr<br />

als gesetzliche Aufgabe des Institutes (§14 Abs. 2 Ziff. 3).<br />

Die Beratungsfunktion wird entweder direkt durch das Organ Generalsekretär<br />

oder durch den Hauptausschuß des Instituts, in dem paritätisch Arbeitnehmer,<br />

Arbeitgeber, B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder vertreten sind, wahrgenommen.<br />

Der Hauptausschuß beschließt auch das Forschungsprogramm des Institutes,<br />

was dem fruchtbaren Dialog zwischen Forschung <strong>und</strong> bildungspolitisch<br />

Handelnden Rechnung trägt. Besteht aber hierdurch nicht doch die Gefahr<br />

einer politischen Beeinflussung der Forschungsarbeit? Die paritätische Besetzung<br />

des Hauptausschusses schließt eine einseitige Einflußnahme aus.<br />

Auf der anderen Seite ist jedoch nicht zu verkennen, daß die im demokratischen<br />

Meinungsbildungsprozeß so bewährte Kompromißfindung oft nur<br />

auf der Basis des kleinsten gemeinsamen Nenners erfolgt. Davon sind im<br />

B<strong>und</strong>esinstitut nicht viele, aber manche sozialwissenschaftlichen Forschungsvorhaben<br />

betroffen.<br />

Die Verabschiedung des Ausbildungsplatzförderungsgesetzes wurde zugleich<br />

zur St<strong>und</strong>e der statistischen 'Planungsforschung' im BIBB, die von<br />

nun an neben die weiterbestehenden früheren Aufgaben des BBF auf dem<br />

Felde der Qualifikationsforschung, der Curriculum- <strong>und</strong> Medien<strong>entwicklung</strong><br />

trat. Die sehr umfangreichen Beratungsfunktionen des BIBB in den<br />

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zuletzt genannten Gebieten, die Erstellung von Aus- <strong>und</strong> Fortbildungsordnungen<br />

im Vorfelde der politischen Sanktionierung, die Betreuung von<br />

Modellversuchen bilden nach wie vor Schwerpunkte der Institutsarbeit.<br />

So ist gerade vor kurzem mit der Durchführung der umfangreichen vom<br />

B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft geförderten Modellreihe<br />

„Neue Technologien in der beruflichen Bildung" im B<strong>und</strong>esinstitut begonnen<br />

worden. Dem Institut obliegt die inhaltliche Vorbereitung <strong>und</strong> die fachliche<br />

Betreuung des Modellversuchsprogramms.<br />

Das neue Aufgabenfeld des Institutes, die 'Planungsforschung' ist durch<br />

§ 5 Abs. 1 <strong>und</strong> 2, des AP1FG bzw. durch den identischen Wortlaut bei seinem<br />

Rechtsnachfolger im Berufsbildungsförderungsgesetz (BerBiFG) im<br />

§ 2 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 beschrieben. Dabei wird der spezifische Datenbedarf im Absatz<br />

2 umrissen:<br />

„Die Berufsbildungsplanung hat insbesondere dazu beizutragen, daß die Ausbildungsstätten<br />

nach Art, Zahl, Größe <strong>und</strong> Standard ein qualitativ <strong>und</strong> quantitativ ausreichendes<br />

Angebot an beruflichen Ausbildungsplätzen gewährleisten <strong>und</strong> daß sie unter Berücksichtigung<br />

der voraussehbaren Nachfrage <strong>und</strong> des langfristig zu erwartenden Bedarfs an Ausbildungsplätzen<br />

möglichst günstig genutzt werden."<br />

Es wurde bereits erwähnt, daß wegen der marktwirtschaftlichen Konditionierung<br />

des Ausbildungsgeschehens die staatliche Einflußnahme überwiegend<br />

indirekt 9 , über die Beeinflussung des Verhaltens der 'Marktparteien'<br />

geschieht. So vor allem durch<br />

— Veränderung der Zugangsvoraussetzung zum Ausbildungsstellenmarkt (Eignungsvoraussetzungen<br />

für Ausbildungsstätten <strong>und</strong> -personal);<br />

— Maßnahmen in anderen Bereichen des Bildungswesens wie z.B. obligatorischer Besuch<br />

des Berufsgr<strong>und</strong>bildungsjahres als erste Ausbildungsstufe, numerus clausus<br />

an Fach- <strong>und</strong> Hochschulen;<br />

— Veränderung der finanziellen Hilfe des Staates. Man denke hier an die durch die<br />

Bafög-Streichung „induzierte" Nachfragesteigerung nach betrieblichen Ausbildungsplätzen<br />

<strong>und</strong><br />

— Gewinnung <strong>und</strong> Verbreitung von Informationen zur Erhöhung der 'Markttransparenz'.<br />

So unterschiedlich diese Instrumente im einzelnen auch sind, allen gemeinsam<br />

ist ihr Bedarf an empirischen Daten <strong>und</strong> Informationen über die Entwicklungstendenzen<br />

des Ausbildungsstellenmarktes <strong>und</strong> über ihre Bestimmungsfaktoren.<br />

Das ist das Gebiet der 'Planungsforschung'. 'Planungsforschung'<br />

ist folglich immer eine Art Prognoseforschung. Auf der 'Nachfrageseite'<br />

sind einerseits die verschiedenen Ausbildungswege, die Übergänge von<br />

Schule zu Schule <strong>und</strong> in die Berufsausbildung bzw. in den Beruf zu erfassen,<br />

andererseits die wechselseitige Bedingtheit der Bildungsverläufe vor<br />

dem Hintergr<strong>und</strong> von sozioökonomischen Merkmalen, wie z.B. Herkunft,<br />

Geschlecht, Region zu analysieren. Auf der Seite des Angebotes von Ausbildungsplätzen<br />

müssen die wirtschaftlichen, technologischen <strong>und</strong> sozioökonomischen<br />

Einflußgrößen wie Branche, Betriebsgröße, Fachkräfteeinsatz,<br />

Rekrutierungsmöglichkeiten von Auszubildenden <strong>und</strong> Facharbeitern <strong>und</strong><br />

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dergleichen systematisch erfaßt <strong>und</strong> die Sensitivität des Angebotes bezüglich<br />

dieser Faktoren getestet werden.<br />

Bevor einiges zu den speziellen Arbeitsgebieten <strong>und</strong> Ergebnissen des soeben<br />

genannten Forschungsfeldes gesagt wird, soll für das allgemeine Verständnis<br />

eine kurze Erläuterung zu den Rechtsgr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong>, z.T. davon<br />

abgeleitet, zu der Frage erfolgen, wie sich der Transfer der Forschungsergebnisse<br />

in die Politik, der Prozeß der Politikberatung vollzieht.<br />

Das Ausbildungsplatzförderungsgesetz ist nach vier Jahren am 10.12.1980 vom B<strong>und</strong>esverfassungsgericht<br />

für nichtig erklärt worden, weil einige verwaltungstechnische Vorschriften<br />

des Gesetzes die Zustimmung des B<strong>und</strong>esrates benötigt hätten. (Das Gesetz<br />

war dagegen 1976 vom Parlament als ein vom B<strong>und</strong>esrat nicht zustimmungsbedürftiges<br />

Gesetz verabschiedet worden). Um die entstandenen Lücken <strong>und</strong> die Rechtsunsicherheit<br />

auf dem Gebiet der Planung, Forschung <strong>und</strong> Statistik zu beheben, brachte die B<strong>und</strong>esregierung<br />

im Januar 1981 den Entwurf des Berufsbildungsförderungsgesetzes im Parlament<br />

ein, das am 1.1.1982 in Kraft trat. Das neue Gesetz hat die Teile Planung, Statistik<br />

sowie das B<strong>und</strong>esinstitut für Berufsbildung des AP1FG übernommen; die vormalige Finanzierungsregelung<br />

ist entfallen.<br />

Ein zentrales Planungsinstrument des alten <strong>und</strong> des neuen Gesetzes ist der<br />

jährliche Berufsbildungsbericht. Berufsbildungsplanung in einem System<br />

von Freiheit der Berufswahl <strong>und</strong> marktwirtschaftlicher Steuerung des Ausbildungsgeschehens<br />

hat die Aufgabe durch „ein umfassendes <strong>und</strong> differenziertes<br />

Informationssystem Entwicklungstendenzen <strong>und</strong> mögliche Konflikte<br />

auf dem Berufsbildungs- <strong>und</strong> Arbeitsmarkt zu verdeutlichen, Strategien<br />

gegen unerwünschte Entwicklungen zu erstellen <strong>und</strong> sie mit Hilfe eines Kommunikationsnetzes<br />

in verhaltensändernde Impulse/Aktionen umzusetzen". 10<br />

Das Kommunikationsnetz in Form eines Systems von Ausschüssen ist<br />

bereits durch das Berufsbildungsgesetz (1969) geschaffen worden. Auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage des Gesetzes sind Ausschüsse mit Beratungs- <strong>und</strong> Beschlußrechten<br />

auf B<strong>und</strong>es-, Landes- <strong>und</strong> lokaler Ebene errichtet worden, die mit Vertretern<br />

des Staates, der Arbeitgeber <strong>und</strong> der Gewerkschaften paritätisch besetzt<br />

sind. Dieses System besteht mit geringfügiger Änderung bis heute; das<br />

frühere Beratungsorgan des B<strong>und</strong>es, der B<strong>und</strong>esausschuß für Berufsbildung,<br />

ist durch den Hauptausschuß des BIBB abgelöst worden. Im Hauptausschuß<br />

sind mit jeweils 11 Stimmen die Arbeitgeber, die Arbeitnehmer, die B<strong>und</strong>esregierung<br />

<strong>und</strong> die Länder vertreten.<br />

Der Berufsbildungsbericht des B<strong>und</strong>es, in dem über die Entwicklung der<br />

Ausbildungsstellensituation <strong>und</strong> weitere wichtige inhaltliche <strong>und</strong> strukturelle<br />

Veränderungen der beruflichen Bildung berichtet wird, hat vor allem Informationsfunktion.<br />

Beides zusammen, Ausschußsystem <strong>und</strong> Informationsfunktion<br />

des Berufsbildungsberichtes (in der letzten Zeit auch zunehmend<br />

Länder-Berufsbildungsberichte) charakterisieren den auf Informationsverbreitung<br />

(„Mobilisierungs- <strong>und</strong> Konsensfindungsfunktion") angelegten Planungsprozeß.<br />

Die 'Planungsforschung' des BIBB ist integrierter Bestandteil dieses Planungsprozesses.<br />

Das B<strong>und</strong>esinstitut hat den gesetzlichen Auftrag (§ 6 Abs.<br />

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2 Ziff. lb BerBiFG), bei der Erstellung des jährlichen Berufsbildungsberichtes<br />

mitzuwirken (s.o.) <strong>und</strong> im Rahmen dieser Mitwirkung die für die Beurteilung<br />

der Ausbildungsstellenlage notwendigen diagnostischen <strong>und</strong> prognostischen<br />

Informationen beizusteuern.<br />

Vier Forschungsgebiete sind daraus hervorgegangen:<br />

a) Untersuchung über die Bildungs- <strong>und</strong> Ausbildungswege von Schulabgängern,<br />

insbesondere aus beruflichen Schulen;<br />

b) Analyse des betrieblichen Ausbildungsverhaltens, der Flexibilität der<br />

unternehmerischen Ausbildungsplanung;<br />

c) Entwicklung <strong>und</strong> Test von Modellen für die Vorausschau auf den Ausbildungsstellenmarkt,<br />

<strong>und</strong> schließlich<br />

d) Analyse der Entwicklungstendenzen in Regionen sowie Darstellung ihrer<br />

spezifischen Probleme.<br />

Es ist hier kein Platz, die Ergebnisse der Planungsforschung zu diskutieren;<br />

der Hinweis auf den jährlichen Berufsbildungsbericht, in den diese Eingang<br />

finden, <strong>und</strong> einige „Schlagworte" aus Debatten über die Dunkelziffer/Altnachfrage,<br />

regionale Berufsbildungsbilanz, vollzeitschulische Schleifenwege,<br />

Doppelqualifizierungsstrategie von Abiturienten mögen hier genügen. Die<br />

eingangs erwähnten „Fallbeispiele" zeigen, daß die politische Beratung<br />

nicht immer zur Freude des zu Beratenden ausfällt.<br />

Das Thema meines Referates heißt Politikberatung <strong>und</strong> Berufsbildungsforschung.<br />

Ich habe dieses Thema in nicht geringem Maße auf das B<strong>und</strong>esinstitut<br />

für Berufsbildung <strong>und</strong> seine Forschungstätigkeit beschränkt <strong>und</strong> es<br />

damit sicherlich etwas eingeengt. Auf der anderen Seite ist nirgendwo in der<br />

deutschen Forschungslandschaft Forschung <strong>und</strong> Politik so eng aufeinander<br />

bezogen wie im B<strong>und</strong>esinstitut. Das besondere Mandat des B<strong>und</strong>esinstitutes<br />

zur Politikberatung ist eine Herausforderung, die nicht nur das wissenschaftliche<br />

Selbstbewußtsein stärkt, sondern Mut verlangt, manchen politischen<br />

Unwillen zu ertragen.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Lemke, H.: „Steuerung des Ausbildungsangebotes durch den B<strong>und</strong>", in: Recht<br />

der Jugend <strong>und</strong> des Bildungswesens, Heft 6, 1983, S. 420.<br />

2 Aus: „Richtlinien des B<strong>und</strong>esministers für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft zur Förderung<br />

von überbetrieblichen Ausbildungsstätten vom 19. Septe<strong>mb</strong>er 1973" (B<strong>und</strong>esanzeiger<br />

Nr. 211 vom 9. Nove<strong>mb</strong>er 1973 i.d.F. vom 30. Nove<strong>mb</strong>er 1979).<br />

3 Deutscher B<strong>und</strong>estag, 5. Wahlperiode Drucksache V/4260 S. 21.<br />

4 Vgl. Benner, H.: „Ordnung der staatlich anerkannten Ausbildungsberufe", BIBB<br />

(Hrsg.), Berichte zur beruflichen Bildung Heft 48, 1982.<br />

5 Blankertz, H., Ciaessens, D., Edding, F.: Gutachten zur Frage der Gründung eines<br />

Forschungsinstitutes für Berufsbildung, Berlin 1966.<br />

6 [Anm. 13] Drucksache V/4260 S. 21 ff.<br />

7 6.4.1970, Drucksache VI/741.<br />

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8 Jahresbericht 1976, Der B<strong>und</strong>esminister für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft, S. 21.<br />

9 So wird die Berufsausbildungsplanung nach § 2 BerBiFG nach Maßgabe der verwaltungs-<br />

<strong>und</strong> planungsrechtlichen Literatur zu der influenzierenden <strong>und</strong> indikativen<br />

Planung im Gegensatz zur normativen Planung gerechnet (vgl. Fredebeul et al.:<br />

Berufsbildungsförderungsgesetz, Bielefeld 1982, S. 40).<br />

10 Alex, L.: „Berufsbildungsplanung <strong>und</strong> Berufsbildungsforschung", in: Berufsbildung<br />

in Wissenschaft <strong>und</strong> Forschung Heft 6, 1982, S. 6.<br />

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ERGEBNISSE DER FORSCHUNG ÜBER HOCHSCHULEN ALS<br />

GRUNDLAGE HOCHSCHULPOLITISCHER ENTSCHEIDUNGEN -<br />

ERFAHRUNGEN VON HIS<br />

Heinz<br />

Griesbach<br />

1. Einleitung<br />

Hochschulen sind ebensowenig wie das Bildungswesen genuiner Gegenstand<br />

einer Wissenschaft, sondern einer größeren Zahl von Fachdisziplinen. Diese<br />

haben unterschiedliche Erkenntnisinteressen, verschiedene methodische Zugänge<br />

zu den Erfahrungsbereichen <strong>und</strong> verschiedene Absichten der Einordnung<br />

von Erfahrungen in Erkenntnissysteme. Es hat sich gezeigt, daß diese<br />

Zersplitterung der Hochschulforschung auf zahlreiche Fachdisziplinen durch<br />

interdisziplinäre Forschungsansätze nicht überw<strong>und</strong>en werden kann. Das<br />

bedingt nicht nur Hemmnisse in der Kooperation zwischen Wissenschaftssystem<br />

<strong>und</strong> zu beratendem politisch administrativen System, sondern beeinträchtigt<br />

auch die Leistungsfähigkeit der Forschung über Hochschulen hinsichtlich<br />

der Wahrnehmung dieser Beratungsaufgaben. 1<br />

Auf diese Sachverhalte kann hier nicht weiter eingegangen werden. Ich<br />

weise auf sie hin, weil sie Rahmenbedingungen der Institutionen, die sich<br />

mit Forschung über Hochschulen befassen, beschreiben <strong>und</strong> damit auch den<br />

Bewertungsrahmen für deren Leistungsvermögen abgeben.<br />

Forschung über Hochschulen wird an Hochschulen <strong>und</strong> in selbständigen<br />

Einrichtungen durchgeführt. Die Wirksamkeit dieser Institutionen bei der<br />

Beratung ist u.a. abhängig von:<br />

— ihrer Aufgabenstellung,<br />

— den verfügbaren personellen <strong>und</strong> sachlichen Mitteln, verb<strong>und</strong>en durch<br />

interne Organisation, durch die die Leistungsfähigkeit bestimmt wird,<br />

— der Einbindung in das politisch-administrative System, z.B. durch Abhängigkeiten<br />

in der Finanzierung, Besetzung der Gremien usw.,<br />

— der Anerkennung der Leistungen sowohl im wissenschaftlichen als auch<br />

im politisch administrativen Bereich.<br />

Dabei sind der Grad der Unabhängigkeit in der Setzung von Themen, in<br />

der Wahl der Methoden <strong>und</strong> die Erzeugung der notwendigen Resonanz die<br />

wichtigsten <strong>und</strong> zugleich heikelsten Punkte für „politikberatende" Institute.<br />

Wenn — wie es in den Vorbereitungsunterlagen zum 22. Soziologentag<br />

heißt — in Fragen der Politikberatung eine Ernüchterung eingetreten ist, die<br />

gelegentlich schon resignative Züge trägt, so werden die Einrichtungen, die<br />

Forschung über Hochschulen betreiben, davon kaum gleichermaßen betroffen<br />

sein. Lassen Sie mich daher die erwähnten heiklen Punkte in die Mitte<br />

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der Ausführungen stellen, mit denen ich zunächst exemplarisch HIS beschreibe.<br />

2. Aufgabenstellung, Finanzierung, Arbeitsweise von HIS<br />

HIS hat nach der Satzung u.a. die Aufgabe, „die Hochschulen <strong>und</strong> die für<br />

sie zuständigen Verwaltungen in deren Bemühen um eine rationelle <strong>und</strong><br />

wirtschaftliche Erfüllung der Hochschulaufgaben zu unterstützen durch:<br />

— Untersuchungen <strong>und</strong> Gutachten zur Schaffung von Entscheidungsgr<strong>und</strong>lagen,<br />

— Bereitstellung von Informationen, Organisation von Informationsaustausch".<br />

.<br />

Dieser Auftrag wird in einem jährlich fortzuschreibenden Arbeitsprogramm<br />

konkretisiert. Es kommt als Wechselspiel zwischen Initiativen der Geschäftsführung<br />

<strong>und</strong> Anstößen aus dem Kreis der HIS tragenden Institutionen zustande,<br />

deren unterschiedliche Interessen bei der Beratung <strong>und</strong> Verabschiedung<br />

ausgeglichen werden.<br />

Am Zustandekommen des Arbeitsprogramms sind in den verschiedenen<br />

HIS-Gremien beteiligt: die Hochschulen, die KMK, die Länderfinanzminister,<br />

das BMBW, der Wissenschaftsrat, das Statistische B<strong>und</strong>esamt, das Deutsche<br />

Studentenwerk <strong>und</strong> die Bauverwaltungen der Länder.<br />

Alle wesentlichen Institutionen, die Hochschulpolitik betreiben oder<br />

beeinflussen, sind also vertreten. Umgekehrt werden Mitarbeiter von HIS<br />

zu vielen im Hochschulbereich aktiven Gremien, Beiräten usw. (z.B. WRK-<br />

Plenum, Ausschuß für die Hochschulstatistik beim Statistischen B<strong>und</strong>esamt)<br />

hinzugezogen. Damit kann das gesamte Spektrum aktueller hochschulpolitischer<br />

Fragestellungen einschließlich der unterschiedlichen Einschätzungen<br />

ihrer Dringlichkeit für die Beratung <strong>und</strong> Verabschiedung des Arbeitsprogramms<br />

zum Tragen kommen. Dies ist zugleich auch eine Sicherung gegen<br />

einseitige Ausrichtung des Arbeitsprogramms z.B. auf die Interessen nur<br />

einer dieser Institutionen.<br />

Obwohl in den Gremien überwiegend Institutionen vertreten sind, die<br />

zumindest derzeit vorrangig mit der kurzfristigen Bewältigung der sich aus<br />

der Expansion des Hochschulwesens ergebenden Probleme befaßt sind <strong>und</strong><br />

weniger an der systematischen Entwicklung langfristiger Lösungsstrategien<br />

arbeiten, überwiegen im Arbeitsprogramm von HIS keineswegs Projekte, die<br />

ausschließlich oder überwiegend kurzfristigem Krisenmanagement dienen.<br />

Informationen <strong>und</strong> Analysen zum Verhalten von Studienberechtigten, Studenten<br />

<strong>und</strong> Hochschulabsolventen sowie zu den sie verursachenden Motiven<br />

oder Untersuchungen zu Studien- <strong>und</strong> Berufsverläufen, die im Arbeitsprogramm<br />

dominieren, dienen in der Regel sowohl kurz- wie langfristigen Aspekten<br />

der Hochschulpolitik. HIS führt darüber hinaus auch Projekte durch,<br />

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die sich vorwiegend mit langfristigen Entwicklungslinien, die zu neuen hochschulpolitischen<br />

Ansätzen führen können, befassen wie z.B. das gegenwärtig<br />

bearbeitete Projekt „Studierfähigkeit" — Bestandsaufnahme <strong>und</strong> Analyse<br />

von Positionen zur Neuregelung der Hochschulzugangsberechtigung".<br />

Die Finanzierung von HIS erfolgt durch Zuwendungen der Gesellschafter,<br />

also durch B<strong>und</strong> <strong>und</strong> Länder im Verhältnis ein Drittel zu zwei Drittel.<br />

Die sonst eher übliche projektweise Finanzierung findet im Prinzip bei<br />

HIS nicht statt. Dies ergibt ein hohes Maß an Unabhängigkeit in der Projektarbeit,<br />

die jedenfalls unmittelbar nicht von Geldgeber-Interessen bestimmt<br />

wird. Nur soweit die Nachfrage nach empirischen Untersuchungen<br />

die durch den Stellenplan festgelegten Kapazitäten übertrifft, werden durch<br />

projektbezogene Einzelvereinbarungen zusätzliche Mittel bei Interessenten,<br />

z.B. Gesellschafter, Hochschulen <strong>und</strong> Stiftungen eingeworben.<br />

Durch spezielle Projektvereinbarungen, die in der Regel formal nicht erforderlich<br />

sind, sollen vor allem die Interessenten an Untersuchungen in die<br />

Pflicht genommen werden, an einer präzisen Zielformulierung mitzuwirken<br />

<strong>und</strong> sich mit dem Projektkonzept zu identifizieren. Dadurch soll gewährleistet<br />

werden, daß die Untersuchungsergebnisse direkt in hochschulpolitische<br />

Planungen <strong>und</strong> Entscheidungen der Interessenten einfließen, also bedarfsgerecht<br />

sind, allerdings nicht im Sinne politisch erwünschter, sondern sachlich<br />

notwendiger Ergebnisse.<br />

Zur Organisation ist zu bemerken, daß im Arbeitsfeld „empirische Untersuchungen"<br />

— das hier allein interessiert — zwölf Stammitarbeiter <strong>und</strong><br />

bis zu fünf wissenschaftliche Zeitvertragskräfte tätig sind. Wegen geringer<br />

Fluktuation bei den Stammitarbeitern verfügt HIS über ein mit Hochschulproblemen<br />

vertrautes <strong>und</strong> ständig damit umgehendes Mitarbeiterteam. Die<br />

einzelnen Untersuchungen werden von Projektgruppen durchgeführt. Zur<br />

Sicherung der Validität der zu erhebenden Daten <strong>und</strong> der Qualität der Analysen<br />

bearbeiten die jeweiligen Projektgruppen alle Phasen einer Untersuchung.<br />

Das Vertrauen, das HIS bei Hochschulen <strong>und</strong> staatlichen Verwaltungen<br />

entgegengebracht wird, fördert die Arbeit, zumal u.a. aus Datenschutzgründen<br />

deren Mitwirkung bzw. Unterstützung häufig für die erfolgreiche Abwicklung<br />

von Untersuchungen erforderlich ist.<br />

3. Bezug zur politischen Diskussion bei der Konzipierung von Untersuchungen<br />

Wie dargestellt, wird bereits bei der Fortschreibung <strong>und</strong> Festlegung des Arbeitsprogrammes<br />

hinsichtlich der zu bearbeitenden Themen ein Bezug zur<br />

politischen Diskussion hergestellt. Dies gilt auch für die Konzipierung der<br />

einzelnen Untersuchungen. Für die Intensität dieses Bezuges spielt eine entscheidende<br />

Rolle, daß sich in den letzten Jahren eine spezifische Aufgaben-<br />

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struktur herausgebildet hat. Bei etwa vier Fünfteln der Projekte, die im<br />

HIS-Arbeitsbereich „empirische Untersuchungen" durchgeführt werden,<br />

handelt es sich entweder um Befragungswellen von aufeinander bezogenen<br />

Längsschnittuntersuchungen oder um in regelmäßigen Abständen durchzuführende<br />

aufeinander bezogene Querschnittsuntersuchungen jeweils mit verschiedenen<br />

Jahrgängen der gleichen Gr<strong>und</strong>gesamtheit. Die restlichen Untersuchungen<br />

gelten bildungspolitisch aktuellen Einzelthemen.<br />

Bei der zuerst genannten Art von Projekten handelt es sich u.a. um:<br />

— Längsschnittuntersuchungen mit Studienberechtigten der Jahrgänge<br />

1976, 1978, 1980, 1983 <strong>und</strong> die in jeweils Dreijahresabstand folgenden<br />

Jahrgänge, die im Verlauf von 10 bis 11 Jahren viermal zum Ausbildungs<strong>und</strong><br />

Berufsverlauf befragt werden;<br />

— Querschnittsuntersuchungen jedes fünften Exmatrikuliertenjahrganges,<br />

die zum Ziel haben, Studienerfolgs- bzw. Studienabbruchquoten sowie<br />

Studienzeiten, Fachwechsel <strong>und</strong> Hochschulwechsel von Hochschulabsolventen<br />

<strong>und</strong> Studienabbrechern zu ermitteln;<br />

— Querschnittsuntersuchungen jedes dritten Studentenjahrganges, um die<br />

wirtschaftliche <strong>und</strong> soziale Lage der Studenten festzustellen (Sozialerhebungen<br />

des Deutschen Studentenwerkes);<br />

— Querschnittsuntersuchungen der Studienanfänger jedes Wintersemesters,<br />

um u.a. Informationen über Einstellungen zum Studium, Motive zur<br />

Studienfachwahl <strong>und</strong> berufliche Ziele als Hintergr<strong>und</strong> für quantitative<br />

Veränderungen der Studienanfängerzahlen zu erhalten.<br />

Jährlich werden etwa 40.000 Fragebogen bearbeitet.<br />

All diese Projekte zielen darauf ab, valide Informationen über Veränderungen<br />

von Situationen <strong>und</strong> Verhältnissen im Hochschulbereich bereitzustellen,<br />

die von der Mehrzahl der Experten als Planungs- <strong>und</strong> Entscheidungsgr<strong>und</strong>lagen<br />

für eine problemorientierte <strong>und</strong> informatorisch abgesicherte<br />

Hochschulpolitik dauerhaft für erforderlich gehalten werden <strong>und</strong> nicht von<br />

der amtlichen Statistik verfügbar gemacht werden können. Dabei analysiert<br />

HIS die sich in den Informationen darstellenden Sachverhalte im Hinblick<br />

auf Kausalzusammenhänge sehr viel ausführlicher als dies die amtliche Statistik<br />

— auch aus ihrem Selbstverständnis heraus — kann.<br />

Gr<strong>und</strong>lage für eine sachbezogene <strong>und</strong> ökonomische Durchführung derartiger<br />

Untersuchungsreihen ist, daß sie<br />

— langfristig von einer Institution bearbeitet werden. Die institutionelle<br />

Finanzierung von HIS ist dafür die sachgerechte <strong>und</strong> notwendige Voraussetzung;<br />

— über einen möglichst langen Zeitraum von einem sich personell nur wenig<br />

ändernden Mitarbeiterteam bearbeitet werden. Nur auf diese Weise<br />

läßt sich die für Zeitreihen erforderliche dauerhaft gleichbleibende Qualität<br />

von Daten sichern;<br />

— möglichst konsequent auf die dauerhaft zu erfüllenden bildungspoliti-<br />

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schen Anforderungen ausgerichtet werden. Es wird versucht, dies dadurch<br />

zu erreichen, daß bei der Einbeziehung eines neuen Jahrganges,<br />

ja bei der Planung jeder einzelnen Befragungswelle der Längsschnittuntersuchungen<br />

auf dem Hintergr<strong>und</strong> der bis dahin erzielten Ergebnisse<br />

überprüft wird, ob <strong>und</strong> inwieweit die Anforderungen von Bildungsplanung<br />

<strong>und</strong> Bildungspolitik besser erfüllt werden können. Dabei ist besonders<br />

hilfreich, daß HIS aufgr<strong>und</strong> seines akkumulierten Datenbestandes<br />

immer häufiger von Bildungsverwaltungen gebeten wird, für die Beantwortung<br />

bzw. Analyse aktueller, meist thematisch begrenzter Fragestellungen<br />

durch Sonderauswertungen entsprechende Informationen<br />

oder Analyseergebnisse bereitzustellen. So bildet sich bei all diesen Untersuchungen<br />

im Laufe der Zeit ein Kernbereich an Fragestellungen<br />

heraus, der sowohl in seinem wissenschaftlichen Erkenntniswert als<br />

auch in seiner bildungspolitischen Notwendigkeit weitgehend unbestritten<br />

ist.<br />

Den bildungspolitischen Anforderungen an derartige Untersuchungen kann<br />

nur entsprochen werden, wenn sich die benötigten Informationen <strong>und</strong> Analyseergebnisse<br />

auf einen möglichst gegenwartsnahen Zeitraum beziehen.<br />

Deshalb sind auch Strategien entwickelt worden, die es ermöglichen, bereits<br />

nach kurzem Bearbeitungszeitraum wesentliche Ergebnisse bereitzustellen.<br />

Bei den Längsschnittuntersuchungen mit Studienberechtigten wird dies<br />

z.B. durch eine stufenweise Aufbereitung der Befragungsergebnisse, der zumeist<br />

großen Stichproben (zwischen 5.000 <strong>und</strong> 20.000 auswertbaren Fällen)<br />

erreicht:<br />

— Zunächst werden durch die Auswertung einer Zufallsstichprobe der beantworteten<br />

Fragebogen kurz nach Abschluß der jeweiligen Erhebung<br />

relativ globale Eckwerte ermittelt <strong>und</strong> veröffentlicht.<br />

— Als nächstes wird ein statistischer Bericht, durch den vor allem Zeitreihen<br />

fortgeschrieben werden, erstellt. Die Daten werden nur kurz kommentiert,<br />

um eher technische Interpretationshilfen zu geben.<br />

— Die dritte Form der Aufbereitung, die den längsten Bearbeitungszeitraum<br />

beansprucht, ist die Analyse der Daten auf bestimmte bildungspolitisch<br />

aktuelle Themen hin, wie z.B. „Ist die Berufsausbildung eine<br />

Alternative zum Studium für Studienberechtigte?".<br />

Auch bei der oben erwähnten zweiten Art von Untersuchungen — Studien<br />

zu Einzelthemen — wird bereits bei der Konzipierung ein enger Bezug zur<br />

aktuellen bildungspolitischen Diskussion hergestellt. So ist bereits 1979<br />

eine Befragung zum Thema „Beschäftigungsprobleme nicht eingestellter<br />

Lehrer" 2 begonnen worden. 1981 wurden die Arbeiten zu einem Projekt<br />

„Attraktivität des Ingenieurstudiums" 3 aufgenommen. Derzeit wird das bereits<br />

erwähnte Projekt zum Thema „Studierfähigkeit" durchgeführt. Diese<br />

Projekte — vor allem das zuletzt genannte — bieten durchaus Ansatzpunkte<br />

für eine systematische Analyse der Funktionen der Hochschule <strong>und</strong> ihrer<br />

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strukturellen Konsequenzen, also für das, was man als Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />

bezeichnen könnte. Dies kommt auch darin zum Ausdruck, daß z.B. die<br />

beiden zuletzt genannten Projekte durch finanzielle Förderungen von Stiftungen<br />

ermöglicht wurden <strong>und</strong> für das Studierfähigkeitsprojekt ein wissenschaftlicher<br />

Beirat eingerichtet ist. Die Forschungsziele dieser Projekte sind<br />

unbeeinflußt von bestimmten Interessenten im politisch administrativen Bereich<br />

durch HIS-interne Diskussionen entwickelt <strong>und</strong> festgelegt worden.<br />

Ob die Ergebnisse solcher Studien in die politische Diskussion <strong>und</strong> in<br />

bildungspolitische Entscheidungen eingehen, hängt auch entscheidend vom<br />

Bearbeitungszeitraum ab, vor allem wenn es Themen sind, die nur relativ<br />

kurze Zeit aktuell sind. Bisher ist es HIS durchaus gelungen, Ergebnisse solcher<br />

Untersuchungen so frühzeitig vorzulegen, daß sie auch wirksam wurden.<br />

4. Erarbeitung von Empfehlungen auf der Gr<strong>und</strong>lage von Untersuchungsergebnissen<br />

Die Arbeit von HIS <strong>und</strong> damit auch deren Ergebnisse lassen sich in etwa wie<br />

folgt beschreiben, wobei die Übergänge zwischen den verschiedenen Formen<br />

fließend sind.<br />

HIS<br />

— ermittelt Informationen über quantitative Sachverhalte wie Studienzeiten,<br />

Studienerfolg, Einnahmen <strong>und</strong> Ausgaben von Studenten. Dabei<br />

werden Ursachen, die Unterschiede bedingen <strong>und</strong> Wirkungszusammenhänge<br />

von Einflußfaktoren herausgearbeitet;<br />

— analysiert Verhaltensweisen, deren Gründe <strong>und</strong> deren Auswirkungen.<br />

Es werden Konsequenzen für die Erreichung bildungspolitischer Ziele<br />

sowohl des B<strong>und</strong>es als auch der Länder, die durchaus kontrovers sein<br />

können, aufgezeigt <strong>und</strong> auf ggf. alternative Maßnahmen hingewiesen,<br />

die deren Erreichung auch unter veränderten Bedingungen ermöglichen.<br />

So hat HIS z.B. frühzeitig darauf hingewiesen, daß Langzeitstudenten<br />

Kapazitäten von Hochschulen nur in geringem Umfang in Anspruch<br />

nehmen <strong>und</strong> damit zur Aussetzung des Vollzugs der Regelstudienzeiten<br />

beigetragen. 4<br />

— untersucht, ob Vorstellungen bzw. Modelle, die zur Lösung von Problemen<br />

in der Bildungspolitik erörtert werden, geeignet sind, die angestrebten<br />

bildungspolitischen Ziele zu erreichen bzw. welche Voraussetzungen<br />

dafür erforderlich sind.<br />

Das 1979/80 durchgeführte Projekt zu „Entwicklungspolitisch orientierten<br />

Studienangeboten in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland" <strong>und</strong> das<br />

derzeit bearbeitete, bereits erwähnte Projekt zum Thema „Studierfähigkeit"<br />

sind in hohem Maße auf die Erarbeitung von Handlungsempfehlungen<br />

bzw. von Warnungen vor der Verwirklichung verfehlter Lösungs-<br />

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Vorschläge angelegt. Sie sind deshalb auch mit dem höchsten Risiko der<br />

Anerkennung bzw. Ablehnung der Ergebnisse behaftet;<br />

— erstellt kurzfristige Gutachten zu in der Regel thematisch eng begrenzten<br />

bildungspolitisch aktuellen Themen aufgr<strong>und</strong> von ad-hoc-Anfragen<br />

von Hochschulen, Ministerien usw. HIS kann diese — m.E. sehr wirkungsvolle<br />

— Form der Planungs- <strong>und</strong> Entscheidungsunterstützung mit<br />

Hilfe von Daten aus seinen Untersuchungen leisten, weil es über einen<br />

ständig aktualisierten Pool von Informationen zu wesentlichen Bereichen<br />

des Hochschulsystems verfügen kann.<br />

HIS erarbeitet also aufgr<strong>und</strong> seiner Untersuchungsergebnisse der Form, dem<br />

Inhalt <strong>und</strong> der politischen Bedeutung nach sehr unterschiedliche Empfehlungen.<br />

HIS geht dabei weder von einer Position kritischer Sozialwissenschaften<br />

aus, die die <strong>gesellschaftliche</strong>n Verhältnisse gr<strong>und</strong>sätzlich in Frage<br />

stellt, noch fühlt HIS sich der Wahrung von Interessen bestimmter Gruppierungen<br />

durch wissenschaftliche Legitimation verpflichtet. HIS ist nicht<br />

daran interessiert, daß seine Empfehlungen zum Alibi degenerieren. Die<br />

Festlegung, daß alle Ergebnisse von HIS allen Gesellschaftern — also dem<br />

B<strong>und</strong> <strong>und</strong> den Ländern mit ihren unterschiedlichen politischen Orientierungen<br />

— ausnahmslos zur Verfügung stehen sowie die Veröffentlichung<br />

dieser Ergebnisse verhindern, solche Anliegen an HIS heranzutragen oder<br />

mit den Arbeitsergebnissen selektiv verfälschend umzugehen.<br />

Welche Art von Empfehlung bevorzugt wird, hängt entscheidend davon<br />

ab, ob der Adressat die Ministerialbürokratie oder unmittelbar der politische<br />

Bereich ist. Es ist durchaus spürbar, daß Mitglieder der Ministerialbürokratie<br />

— je nach Position <strong>und</strong> Temperament — bei der Beratung von Politikern<br />

mit Wissenschaftlern konkurrieren. Die Verwaltung läßt sich zur Wahrung<br />

ihrer Handlungskompetenz eher Informationen statistisch <strong>und</strong> analytisch<br />

aufbereiten, um die eigentliche politische Empfehlung selbst zu erarbeiten.<br />

Sie steht „Strukturanalysen", die Handlungsalternativen als solche<br />

schon enthalten <strong>und</strong>/oder Empfehlungen mit politischen Handlungsalternativen<br />

eher restriktiv gegenüber. Letztere werden eher von Politikern bzw.<br />

politischen Instanzen bevorzugt, nicht zuletzt auch, um sich einen Spielraum<br />

der Unabhängigkeit von der Ministerialbürokratie zu wahren.<br />

Wenn auch soeben aufgezeigten Tendenzen für HIS durchaus spürbar<br />

sind, so kann nicht von gravierenden Problemen bei der Erstellung von<br />

Empfehlungen gesprochen werden. Gelegentlich bleiben Empfehlungen bei<br />

politischen Entscheidungen unberücksichtigt. Darin sieht HIS keinen Mißerfolg;<br />

Ratschläge können von dem, der sie erbeten hat oder ungebeten erhält,<br />

befolgt werden oder nicht. HIS ist durchaus der Auffassung, daß seine<br />

Arbeitsergebnisse, auch, soweit sie über Empfehlungen vermittelt wurden,<br />

vielfältig wirksam geworden sind, wenn auch z.T. nur indirekt durch Schärfung<br />

von Proble<strong>mb</strong>ewußtsein bei den Adressaten. Allerdings dauert es zuweilen<br />

sehr lange bis Erkenntnisse akzeptiert werden. Dabei spielt u.a. das<br />

Verhalten der Öffentlichkeit eine Rolle. Sie nimmt Ergebnisse empirischer<br />

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Untersuchungen häufig nur wahr, wenn sie in überkommene Argumentationsmuster<br />

passen. Solche, von Medien gepflegten Argumentationsmuster<br />

werden aber auch bewußt oder unbewußt von Angehörigen der Verwaltungen<br />

<strong>und</strong> von Politikern übernommen. So hat es fast sieben Jahre gedauert,<br />

bis daß die von HIS bereits 1975 ermittelte <strong>und</strong> seither auch von anderen<br />

Institutionen 4 immer wieder bestätigte Studienabbruchquote von etwa<br />

10% eines Studienanfängerjahrganges ernsthaft diskutiert wurde. 5 Ähnliche<br />

Erfahrungen hat HIS mit Ergebnissen der Studiendauer gemacht.<br />

Heute noch stößt die Feststellung, daß die durchschnittliche „persönliche"<br />

Studienzeit der Studenten zwischen 1975 <strong>und</strong> 1980 kaum zugenommen<br />

hat, auf großes Erstaunen <strong>und</strong> Ungläubigkeit, weil sie nicht ins Trugbild<br />

vom „bequemen Studenten" paßt. 6 Es läßt sich kaum vermitteln, daß die<br />

durchschnittliche Studienzeit in jenen Jahren lediglich dadurch zugenommen<br />

hat, daß — u.a. wegen des Rückzugs aus den Lehramtsstudiengängen —<br />

vermehrt Studiengänge mit längeren in den Prüfungsordnungen vorgeschriebenen<br />

Studienzeiten gewählt worden sind.<br />

5. Fazit<br />

Insgesamt gesehen hatten <strong>und</strong> haben die Projekte von HIS einen engen Bezug<br />

zu jeweils aktuellen bildungs- bzw. hochschulpolitischen Fragestellungen.<br />

Obwohl sich in ihnen gegenwärtig die vorrangige Notwendigkeit widerspiegelt,<br />

bestehende, sich verschärfende Probleme im Hochschulbereich<br />

kurzfristig bewältigen zu müssen <strong>und</strong> nur wenig Kraft <strong>und</strong> Zeit bleibt, neue<br />

langfristige Entwicklungskonzepte für den Hochschulbereich zu erarbeiten,<br />

dominieren bei HIS keineswegs Projekte, die ausschließlich auf die Unterstützung<br />

der Krisenbewältigung abgestellt sind. Die Ergebnisse der oben erwähnten<br />

Untersuchungsreihen sind sowohl für die Krisenbewältigung als<br />

auch für das Auffinden neuer hochschulpolitischer Ansätze nützlich. Es gibt<br />

darüber hinaus auch Projekte, die allein dem letztgenannten Aspekt dienen.<br />

Weder die Beteiligung aller wesentlichen mit Hochschulpolitik befaßten<br />

Institutionen beim Zustandekommen des Arbeitsprogramms, noch die Art<br />

der Finanzierung <strong>und</strong> der Abschluß von Vereinbarungen mit Interessenten<br />

über die Durchführung von Projekten führen dazu, daß HIS veranlaßt wird<br />

oder gezwungen ist, Studien zu erstellen, die darauf abzielen, bereits getroffene<br />

oder beabsichtigte politische Entscheidungen wissenschaftlich zu legitimieren,<br />

zu begründen bzw. zu bemänteln. Im Gegenteil, die Besetzung der<br />

Gremien, die auch gegenseitige Kontrolle bewirkt, die relative Arbeitsplatzsicherheit<br />

der Mitarbeiter durch die Art der Finanzierung, die personelle <strong>und</strong><br />

materielle Ausstattung dieses Arbeitsbereiches sichert größere Möglichkeiten<br />

als vielfach vermutet, Arbeitsziele <strong>und</strong> Methoden unabhängig zu bestimmen.<br />

Starker Bezug der Arbeiten zur politischen Diskussion bedeutet also<br />

nicht Abhängigkeit der zu bearbeitenden Themen von politischen Wünschen,<br />

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administrative Gängelung bei der Durchführung der Projekte <strong>und</strong> Verlust<br />

der Objektivität der Ergebnisse. Das würde auch dem Selbstverständnis von<br />

HIS widersprechen, das darauf gerichtet ist, auf der Gr<strong>und</strong>lage von mit kritischer<br />

Objektivität erarbeiteten Ergebnissen bildungspolitisch wirksam werdende<br />

handlungsleitende Hilfe zu geben.<br />

LITERATUR<br />

1 Hollmann, Liesel: „Wissenschaftliche Beratung der Politik dargestellt am Beispiel<br />

von IPEKS", in: Beiträge zur Politikwissenschaft, Bd. 27, Frankfurt/M., Bern,<br />

New York 1983.<br />

Lampe, K.: „Wissenschaft <strong>und</strong> politische Steuerung", in: Lampe, K. u.a.: Enquite-<br />

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5 Reissert, R.: „Studienabbruch im Widerstreit von Ergebnissen <strong>und</strong> Meinungen",<br />

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6 Reissert, R.: „Studienzeiten — Entwicklung <strong>und</strong> Ursachen", in: HIS-Kurzinformationen<br />

Ab, Hannover 1983.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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ZUR POLITIKBERATUNG DURCH BILDUNGSFORSCHUNG EVI<br />

BEREICH DER WEITERBILDUNG<br />

Wolfgang Schulenberg<br />

1. Zur Entstehung von Weiterbildungspolitik<br />

Wer im Bereich der Erwachsenenbildung/Weiterbildung von Politik sprechen<br />

will, hier also von Politikberatung durch Forschung, wird zunächst darauf<br />

hinweisen müssen, daß der Bereich der Weiterbildung anders als die Bereiche<br />

Schule <strong>und</strong> Hochschule in unserem Bildungswesen nicht Produkt <strong>und</strong><br />

Veranstaltung des Staates ist. Schulen <strong>und</strong> Hochschulen sind seit Jahrh<strong>und</strong>erten<br />

vor allem politisch von oben eingerichtet <strong>und</strong> organisiert worden,<br />

notfalls gegen den Widerstand der betroffenen Bevölkerung (wie bei der<br />

Durchsetzung der Schulpflicht). Die Ansätze zur Erwachsenenbildung, wie<br />

sie seit Ende des 18. <strong>und</strong> im Laufe des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts von <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Gruppen von unten in Gang gebracht worden sind, erfuhren dagegen<br />

von Seiten des Staates zumeist Widerstand (bis zur polizeilichen Verfolgung)<br />

oder doch mißtrauische Ablehnung. Die Erwachsenenbildung hatte es<br />

schwer, sich auf der Ebene individueller Initiativen, informeller Gruppen<br />

oder lokaler Vereine zu entwickeln. Selbst partikulare politische oder kirchliche<br />

Hilfen waren schwach, ebenso überregionale Verbindungen. (Zur<br />

Erinnerung: Die SPD ist aus kleinen Arbeiterbildungsvereinen hervorgegangen.)<br />

Erst in der Weimarer Verfassung von 1919 findet sich eine bescheidene<br />

staatlich-rechtliche Akzeptierung der Erwachsenenbildung durch die unverbindliche<br />

Empfehlung zur „Förderung" des Volksbildungswesens einschließlich<br />

der Volkshochschulen (Art. 148). Das ging zusammen mit einer<br />

bildungspolitischen Beachtungswelle, änderte aber an dem vereinsmäßigen<br />

Charakter der lokalen Aktivitäten wenig.<br />

Substantielle Gesetze zur Erwachsenenbildung sind erst ab 1970 (Niedersachsen)<br />

beschlossen worden. Mit „substantiell" ist hier gemeint, daß<br />

diese Gesetze von dauerhaften Erwachsenenbildungseinrichtungen ausgehen,<br />

denen ein Rechtsanspruch auf Förderung eingeräumt wird, während dieser<br />

Rechtsanspruch wiederum sich mit qualitativer Normierung für die Einrichtungen<br />

verbindet. Es gibt solche Gesetze inzwischen in den meisten B<strong>und</strong>esländern.<br />

Indes gibt es seit einigen Jahren auch schon deutliche Versuche,<br />

die Verpflichtungen aus diesen Gesetzen wieder abzuschütteln.<br />

Der Bereich der Weiterbildung ist ferner im Vergleich zu den Bereichen<br />

Schule, Hochschule <strong>und</strong> Berufsbildung in den politisch entscheidenden Dimensionen<br />

des hauptamtlichen Personals <strong>und</strong> der öffentlichen Mittel enorm<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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unterentwickelt. Dabei sind neben rechtlichen Regelungen (Institutionalisierungen)<br />

hauptamtliches Personal <strong>und</strong> öffentliche Mittel die wichtigsten Medien<br />

gestaltender Politik, der Politik also, die in der konventionellen Weise beraten<br />

werden kann. Andererseits ist der programmatische Anspruch <strong>und</strong><br />

der Kreis der Adressaten (für alle Erwachsenen) sehr groß, <strong>und</strong> die Zahl der<br />

tatsächlichen Nutzer ist mit Schule <strong>und</strong> Hochschule vergleichbar.<br />

Als in den 50er Jahren die ersten Arbeiten zur neueren Weiterbildungsforschung<br />

entstanden, gab es Tausende von Hochschullehrern <strong>und</strong> zigtausende<br />

von Schullehrern, aber in der Erwachsenenbildung nur ein paar Dutzend<br />

hauptamtliche Leiter <strong>und</strong> pädagogische Mitarbeiter. In den Kultushaushalten<br />

lag der Anteil für die Erwachsenenbildung unter 1%; er ist auch<br />

heute kaum höher. (In den meisten B<strong>und</strong>esländern liegt der Landeszuschuß<br />

zur gesamten Erwachsenenbildung des Landes unter dem Zuschuß für eine<br />

einzige mittlere Universität.)<br />

Während sich also die Bildungsforschung in den Bereichen Schule, Hochschule<br />

<strong>und</strong> Berufsbildung Praxisfeldern zugewandt hat, die seit langem<br />

etabliert <strong>und</strong> relativ hochentwickelt (wenn auch durchweg refor<strong>mb</strong>edürftig)<br />

sind, war die Weiterbildungsforschung gezwungen (oder hatte die Chance),<br />

mit einem selbst überhaupt erst entstehenden Bildungsbereich gleichsam<br />

aufzuwachsen.<br />

Was bedeutet unter diesen Umständen Politikberatung durch Bildungsforschung?<br />

In einem Bereich also, der einerseits außerhalb der anerkannten<br />

Strukturen staatlicher Politik liegt, institutionell immer noch stark provisorisch<br />

konstruiert <strong>und</strong> personell wie materiell äußerst schwach ausgestattet<br />

ist, der aber andererseits unter hohen programmatischen Ansprüchen steht,<br />

die überdies wohlbegründet <strong>und</strong> öffentlich unbestritten sind?<br />

Eine Politikberatung, die sich wie in den Bereichen Schule <strong>und</strong> Hochschule<br />

vor allem als direkte oder indirekte Beeinflussung der staatlichen Politik<br />

versteht, konnte hier nicht statthaben. (Offenk<strong>und</strong>ig wird unter Politikberatung<br />

prototypisch Beratung staatlicher Machtinhaber verstanden —<br />

die gestrige Plenumsdiskussion machte es noch einmal deutlich.) Analoges<br />

gilt übrigens auch für die Weiterbildung der Gewerkschaften, Kirchen usw.,<br />

sofern deren Weiterbildungsaktivitäten überhaupt so weit verselbständigt<br />

sind, daß sie für eine Politik erreichbar werden, die nicht nur eine Verlängerung<br />

oder Ausführung der übergeordneten Politik des Trägers ist.<br />

Die Weiterbildungsforschung mußte erkennen <strong>und</strong> akzeptieren, daß die<br />

Adressaten oder Partner für eine Politikberatung überhaupt erst bereit <strong>und</strong><br />

fähig werden mußten, Weiterbildungspolitik konstruktiv-planmäßig zu sehen<br />

<strong>und</strong> zu betreiben. Die Weiterbildungsforschung mußte sich zwangsläufig<br />

an diesem Konstitutionsprozeß in ihrem Praxisfeld beteiligen. (Daß dazu<br />

nebenbei auch das Entstehen einer wissenschaftlichen Disziplin Erwachsenenbildung<br />

<strong>und</strong> ihre Institutionalisierung an den Hochschulen gehörte, sei<br />

ausdrücklich vermerkt. Daß wiederum deren Forschungsbestände stark sozialwissenschaftlicher<br />

Provenienz sind, <strong>und</strong> z.B. relativ wenig Psychologie<br />

aufgenommen haben, wird aus dieser Genese verständlich.)<br />

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Wissenschaftler, die sich mit Weiterbildungsforschung befaßten, gerieten<br />

so in ein starkes Wechselverhältnis zu ihrem Forschungsfeld <strong>und</strong> seinen Bedingungen,<br />

vor allem auch politischen Bedingungen. Das hat in der alltäglichen<br />

Kommunikation <strong>und</strong> bei der sachlichen Verb<strong>und</strong>enheit zwischen allen<br />

Seiten zu einer eher allgegenwärtigen, aber diffusen Politikberatung im Rahmen<br />

einer breiteren Verwendung der Forschungsergebnisse geführt.<br />

Diese relativ starke Integration hatte auch für den einzelnen Forscher bemerkenswerte<br />

Folgen. Zunächst ist eine durchweg positiv empf<strong>und</strong>ene Folge<br />

zu nennen: Forschungsergebnisse fanden ein ungewöhnlich hohes Maß<br />

an Resonanz, auch im Sinne von politischer Diskussion. Die Rückkopplung<br />

zu allen Seiten (Praxis, Administration, Parlamentarier, Kommunen, Verbände,<br />

Presse etc.) erfolgte oft automatisch, sie war sonst relativ leicht herzustellen,<br />

denn auf allen Seiten fehlte es an der abweisenden etablierten<br />

Routine <strong>und</strong> an der Selbstverteidigung von politischen oder administrativen<br />

Apparaten. Wohlverstanden: Hohe Resonanz heißt nicht allein positive Aufnahme,<br />

sondern oft genug wütende Ablehnung, Verdrehungen, Rückweisungen.<br />

Aber die bitterste Frustration der Forschung, die gleichgültige Nichtbeachtung,<br />

war selten.<br />

2. Einige Beispiele von Politik <strong>und</strong> Forschung in der Weiterbildung<br />

Nach diesen allgemeinen Schilderungen mögen einige konkrete Beispiele angebracht<br />

sein, die veranschaulichen, was ich meine, wenn ich von Integration<br />

<strong>und</strong> Resonanz spreche. (Daß die Beispiele sich auf eigene Arbeiten<br />

beziehen, liegt in der Natur der Sache.)<br />

— 1952 veranlaßte das niedersächsische Kultusministerium eine Untersuchung<br />

in Hildesheim (auf Anregung des Volkshochschulleiters) über Vorstellungen,<br />

Erwartungen <strong>und</strong> Erfahrungen der Bevölkerung zur Erwachsenenbildung.<br />

63 Gruppendiskussionen erbrachten, daß das Bildungsbewußtsein<br />

der Bevölkerung unerwartet hoch (in bewußter Diskrepanz zum Bildungsverhalten)<br />

einzuschätzen sei, daß die Erwartungen an die Volkshochschule<br />

anspruchsvoller waren, als die zirkuläre Selbstbestätigung durch die<br />

laufende Arbeit vermuten ließ, daß die Faktoren Beruf <strong>und</strong> Schule zu Unrecht<br />

vernachlässigt würden u.a.m. Den Bef<strong>und</strong>en folgte keine einzige politische<br />

Maßnahme, dennoch wird ihre bildungspolitische Bedeutung heute<br />

sehr hoch eingeschätzt („realistische Wende"). Die Wirkung ist durch viele<br />

Diskussionen, durch Bewußtseinsprozesse, Beachtungssteigerung <strong>und</strong> indirekte<br />

Einflüsse erfolgt. Die 'Hildesheim-Studie' hat die Entstehung der Göttinger<br />

Seminarkurse gestärkt (Universitäre Erwachsenenbildung), sie hat das<br />

Erwachsenenbildungsgutachten des Deutschen Ausschusses (1961) beeinflußt<br />

<strong>und</strong> darüber die Initiativen für ein Erwachsenenbildungsgesetz in Niedersachsen.<br />

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— Zudem wurde von ihr die dreistufige „Göttinger Untersuchung" (1966)<br />

ausgelöst, die wiederum die Arbeiten am Erwachsenenbildungsgesetz vorangetrieben,<br />

den Durchbruch des Zertifikatssystems der Volkshochschulen<br />

(1968) wesentlich begründet <strong>und</strong> den Strukturplan 1970 des Bildungsrates<br />

beeinflußt hat. Alles in allem: Breite Rezeption, Zustimmung <strong>und</strong> Unruhe,<br />

vielfältige Wirkung; aber von klassischer Politikberatung keine Spur.<br />

— Geradezu ein Fehlschlag im Sinne klassischer Politikberatung scheint das<br />

1980 vom niedersächsischen Wissenschaftsminister in Auftrag gegebene <strong>und</strong><br />

1982 übergebene Gutachten zur Wirkung des Niedersächsischen Erwachsenenbildungsgesetzes<br />

gewesen zu sein. Nach 10jähriger Geltung wollte die<br />

neue Mehrheitsfraktion im Landtag dieses Gesetz restriktiv novellieren. Das<br />

Gutachten — nach Umfang <strong>und</strong> Charakter ein veritables Stück Forschung —<br />

spricht sich dagegen für Beibehaltung, ja Weiterführung des Gesetzes aus<br />

(welch Lob für Gesetzgeber <strong>und</strong> Fachminister!). Die Mehrheitsfraktion hat<br />

dennoch die beabsichtigte Novellierung durchgesetzt, der Minister hat die<br />

Argumente seines eigenen Gutachtens kaum vertreten. Eine Farce der Politikberatung<br />

durch Bildungsforschung? Unter den spezifischen Bedingungen<br />

des Praxisfeldes der Erwachsenenbildung wird auch hier die indirekte Wirkung<br />

entscheidend sein. Das zeigte schon die Art <strong>und</strong> Weise, wie man das<br />

Gutachten zu neutralisieren trachtete, es zeigt sich weiter in dem Bewußtsein<br />

der unterlegenen Seite, <strong>und</strong> das wird sich mittelfristig in der Vergleichsfunktion<br />

erweisen.<br />

— Einen ähnlichen 'Mißerfolg' erlebte unsere eben abgeschlossene Untersuchung<br />

über „Studienerfahrungen <strong>und</strong> Studienerfolg von Berufstätigen ohne<br />

Reifezeugnis in Niedersachsen". Das zuständige Ministerium hat fast gleichlaufend<br />

mit der Vorlage unserer Ergebnisse die betroffene Prüfungsordnung<br />

in gegensätzlichem Sinne revidiert. Gleichwohl geben uns viele Indizien<br />

die Zuversicht, daß die für eine Öffnung der Hochschulen sprechenden<br />

Bef<strong>und</strong>e auf längere Sicht ihre politische Wirkung nicht verfehlen, wenn<br />

auch die verantwortlichen Politiker heute noch vorziehen, davon unberaten<br />

zu bleiben.<br />

Politische Wirkung der Bildungsforschung <strong>und</strong> klassische Politikberatung<br />

gehen selbst in solchen Fällen auseinander, in denen der prototypische<br />

Adressat der Politikberatung (Minister) im Spiel ist. Ob darin noch eine verdeckte<br />

Auswirkung der Tatsache zu erkennen ist, daß die Erwachsenenbildung<br />

sich einmal gegen die staatliche Politik entwickelt hat, sei dahingestellt.<br />

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3. Bedeutung für die Soziologie als akademisches Fach oder praxisrelevante<br />

Wissenschaft<br />

Unter dem Postulat der Praxisrelevanz von Sozialforschung können meine<br />

Beobachtungen ganz stimuliert klingen. Andererseits mag es an dem, was ich<br />

die hohe Integration zum Feld nenne, liegen, daß die Arbeiten der Weiterbildungsforschung<br />

in der allgemeinen soziologischen Fachdiskussion nur eine<br />

geringe Rolle spielen. Ich will auch hier zwei Beispiele nennen: In der<br />

Weiterbildungsforschung haben seit Jahrzehnten qualitative Methoden kontinuierlich<br />

Anwendung gef<strong>und</strong>en, es gibt hier sogar eine vermutlich einzigartige<br />

Ko<strong>mb</strong>ination quantitativer <strong>und</strong> qualitativer Methoden (Göttinger Untersuchung),<br />

aber die derzeit stattfindende Diskussion um die „Wiederentdeckung"<br />

der qualitativen Forschung greift auf diese Erfahrungen kaum zurück.<br />

Ebenso steht es mit den Biographie- <strong>und</strong> Lebenslauf-Diskussionen, obgleich<br />

in der Forschung zur Erwachsenenbildung diese Ansätze naturgemäß<br />

seit jeher eine Rolle gespielt haben. Der Appetit der Fachdiskussion bevorzugt<br />

hier offenk<strong>und</strong>ig spekulative Aktualität. Das mag wissenschaftssoziologisch<br />

gesehen eben der Preis sein, den man für eine in dem beschriebenen<br />

Sinne praxisverflochtene Forschung zahlen muß. Aber die Soziologie sollte<br />

die Inflationsrate ihrer Papierwährung im Blick haben.<br />

Wenn ich anfangs sagte, daß die Weiterbildungsforschung erkennen <strong>und</strong><br />

akzeptieren mußte, daß sie einbezogen war in den Prozeß der beteiligten<br />

Kräfte, überhaupt erst konstruktiv politikfähig <strong>und</strong> politikbereit zu werden,<br />

so bin ich der Meinung, daß das im wesentlichen auch heute noch gilt. Noch<br />

für einige Zeit wird der Prüfstein für die Relevanz einzelner Forschungen<br />

auf dem Gebiet der Weiterbildung sein, wie weit sich der Forscher auf diesen<br />

Anspruch des Praxisfeldes einläßt. Gleichwohl zeigen sich auch in diesem<br />

Bereich Tendenzen, in denen sich Forschung <strong>und</strong> Praxis stärker separieren<br />

<strong>und</strong> vor allem Politikberatung aus dem Rahmen der wohl weiterhin<br />

stärker integrierten allgemeinen Verwendung sozialwissenschaftlicher Forschung<br />

ausschert <strong>und</strong> sich hier ebenfalls eher als selbständige Funktion der<br />

Wissenschaft versteht. Solche Politikberatung geht freilich das Risiko ein,<br />

mit größerer Beliebigkeit verwertet zu werden, aber für die Forschung mag<br />

diese Distanzierung auch einen Gewinn an Operationsmöglichkeiten versprechen.<br />

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WEITERBILDUNG UND POLITIKBERATUNG<br />

Wolfgang Zapf<br />

In diesem kurzen Beitrag will ich (1) einige Informationen über die bisherigen<br />

Zukunftskongresse der Landesregierung von Baden-Württe<strong>mb</strong>erg<br />

<strong>und</strong> die ihnen zugr<strong>und</strong>e liegenden Kommissionsberichte geben; (2) will<br />

ich die Schwerpunkte des Kommissionsberichts „Weiterbildung: Herausforderung<br />

<strong>und</strong> Chance" nennen, der Mitte Deze<strong>mb</strong>er 1984 vorgelegt wird.<br />

Ich selbst bin kein Experte für Weiterbildung, sondern habe in den letzten<br />

beiden Kommissionen als Sozialwissenschaftler mitgearbeitet <strong>und</strong> Probleme<br />

des sozialstrukturellen Wandels <strong>und</strong> der gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>n Innovationschancen<br />

behandelt.<br />

I<br />

Die Landesregierung von Baden-Württe<strong>mb</strong>erg hat, wie andere Regierungen<br />

auch, eine ganze Reihe von Kommissionen mit verschiedenen längerfristigen<br />

Problemanalysen befaßt. Es war aber eine besondere Initiative des Ministerpräsidenten,<br />

im Deze<strong>mb</strong>er 1982 die Ergebnisse der Kommission „Forschungspolitik"<br />

(<strong>und</strong> auch Ergebnisse der Kommission „Neue Medien")<br />

in einem großen öffentlichen Kongreß über „Zukunftschancen eines Industrielandes"<br />

vorzustellen. Dieser Kongreß hat große Aufmerksamkeit<br />

erfahren, aber den Veranstaltern auch den Vorwurf des Technokratentums<br />

<strong>und</strong> der Insensibilität gegenüber den sozialen Folgen neuer Technologien<br />

<strong>und</strong> Medien eingetragen.<br />

Dies war die Situation, in der dann auch Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaftler<br />

gefragt waren <strong>und</strong> gefragt wurden. 1983 wurde Rudolf Wildenmann<br />

mit der Leitung einer weiteren Kommission, „Zukunftsorientierte<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklungen", beauftragt, <strong>und</strong> in dieser Kommission<br />

haben dann u.a. H. Baier, K.W. Deutsch, B. Fritsch, H. Klages,<br />

H. Lübbe <strong>und</strong> ich selbst — um nur die engeren Fachkollegen zu<br />

nennen — mitgearbeitet. Der Kommissionbericht umfaßte drei Hauptteile:<br />

— Gesellschaftliche Vielfalt — Neue Lebenschancen, erneuerte Institutionen<br />

— Innovative soziale Marktwirtschaft — Beschäftigungschancen in einer<br />

wachsenden Wirtschaft<br />

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— Humanität, Flexibilität, Produktivität — Neue Chancen in der Arbeitswelt.<br />

Der Bericht <strong>und</strong> der zweite Kongreß „Zukunftschancen eines Industrielandes"<br />

(im Deze<strong>mb</strong>er 1983) haben erneut ein großes Echo gehabt. Mehr<br />

als 20.000 Exemplare des Berichts sind bestellt worden. Akademien haben<br />

Tagungen über die Gesamtthematik <strong>und</strong> einzelne Themen durchgeführt.<br />

Andere B<strong>und</strong>esländer haben ähnliche Veranstaltungen organisiert. Herr<br />

Wissenschaftsminister Krumsiek von Nordrhein-Westfalen hat in seiner<br />

gestrigen Eröffnungsrede unsere Kommission in m.E. unqualifizierter<br />

Weise zur Sprache gebracht, weshalb ich Sie auffordern möchte, sich die<br />

Materialien zu beschaffen <strong>und</strong> sich selbst ein Urteil zu bilden. Die Opposition<br />

in Baden-Württe<strong>mb</strong>erg hat der Regierung vorgeworfen, mit Kom­<br />

1<br />

missionen <strong>und</strong> Kongressen durch „exklusive Zirkel" <strong>und</strong> „modische Verfassungsorgane"<br />

am Parlament vorbeizugehen.<br />

Meine Erfahrungen mit dieser Art von Politikberatung sind folgende:<br />

— Man kann keine direkten Wirkungen erzielen, aber vielleicht doch die<br />

Agenda von Diskussionen beeinflussen <strong>und</strong> Akzente setzen. Politiker sind<br />

vielbeschäftigte Leute, die in der Regel nicht um Rat fragen <strong>und</strong> die sich<br />

nicht belehren lassen. Wie andere Führungsgruppen auch, suchen sie jedoch<br />

ständig nach Konzepten <strong>und</strong> Deutungsangeboten.<br />

— In der Beteiligung an der Konzeptualisierung von Problemen <strong>und</strong> Lösungsvorschlägen<br />

haben auch <strong>und</strong> gerade die Sozialwissenschaftler eine<br />

Chance. Wir haben nur wenige eigenständige Kompetenzen, aber empirisch<br />

gestützte Gesellschaftsanalysen bleiben gefragt. Wenn man Sozialwissenschaftler<br />

an solchen Unternehmungen beteiligt, kann man ihre Disziplin<br />

nicht mehr global diffamieren. Wenn sie in den Dialog mit Entscheidungsträgern<br />

eintreten, können sie Gesichtspunkte transportieren, die sonst nicht<br />

ausreichend wahrgenommen werden, z.B. die sozialen Voraussetzungen<br />

<strong>und</strong> Folgen technologischer Entwicklungen, eine differenziertere Sicht<br />

des sog. Wertewandels, kritische Analysen des politischen Prozesses selbst,<br />

<strong>und</strong> ganz generell die Perspektive von Ungleichheiten <strong>und</strong> Konflikten.<br />

— Die Medien reagieren in der Regel nur auf unerwartete Nachrichten.<br />

Inmitten der Krisenmeldungen, Angstkampagnen <strong>und</strong> Orwell-Visionen<br />

der Jahreswende 1983/84 haben unsere Thesen über die Innovationsprozesse<br />

<strong>und</strong> Innovationschancen in Gesellschaft, Wirtschaft <strong>und</strong> Arbeitswelt<br />

deshalb einen Nachrichtenwert gehabt; sie waren sozusagen die ideologiepolitische<br />

Neuigkeit des 1983er Berichts.<br />

II<br />

Aus dem Kongreß von 1983 hat sich „Weiterbildung" als Thema für eine<br />

weitere Kommission <strong>und</strong> den Kongreß Ende 1984 ergeben. Die Kommis-<br />

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sion „Weiterbildung" wird von dem Betriebswirtschaftler Eduard Gaugier<br />

geleitet; ihr Bericht umfaßt wiederum drei Teile sowie zusammenfassende<br />

Empfehlungen:<br />

— Das Innovationspotential der Weiterbildung — Herausforderungen<br />

<strong>und</strong> Ziele; eine Bestandsaufnahme der Weiterbildung; Zukunftsaufgaben<br />

der Weiterbildung<br />

— Allgemeine Weiterbildung: Aufforderung an alle — Ziele <strong>und</strong> Handlungsfelder;<br />

Künftige Schwerpunkte; Adressaten; Zielgruppen mit<br />

besonderem Bedarf<br />

— Berufliche Weiterbildung: Investitition in die Zukunft — Antriebskräfte<br />

<strong>und</strong> Perspektiven; Wachstumsfelder; Gestaltungsaufgaben.<br />

Wiederum mache ich mir keine Illusionen über die direkte Wirksamkeit<br />

der Analysen <strong>und</strong> Empfehlungen der Kommission. Aber ihre Berufung,<br />

ihr Bericht <strong>und</strong> der anschließende Kongreß stellen doch eine unübersehbare<br />

Selbstverpflichtung der Landesregierung dar, die Anstrengungen<br />

auf dem Gebiet der Weiterbildung zu verstärken — zumal Baden-Württe<strong>mb</strong>erg,<br />

bei allen sonstigen Standortvorteilen <strong>und</strong> Erfolgen, in der Weiterbildung<br />

bisher keine Spitzenstellung einnimmt. Ich nehme an, daß sich u.a.<br />

die folgenden Punkte aus dem Kommissionsbericht in der öffentlichen<br />

Diskussion festsetzen werden:<br />

— Die Weiterbildung ist vom quantitativen Gewicht <strong>und</strong> von ihrer zukünftigen<br />

Bedeutung her ein eigenständiger „vierter Bildungssektor" in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik (neben Schule, Berufsausbildung <strong>und</strong> Hochschule). Sie<br />

ist darüber hinaus derjenige Teil unseres Bildungswesens, der überwiegend<br />

nicht-staatlich organisiert oder geregelt ist. Hier gibt es einige der Möglichkeiten<br />

für Kooperation <strong>und</strong> Konkurrenz, für individuelle Wahl <strong>und</strong> Kompensation,<br />

die häufig in den anderen Bildungsbereichen vermißt werden.<br />

— Die Beteiligung an der Weiterbildung ist nach sozialen Gruppen sehr<br />

unterschiedlich, <strong>und</strong> diese Unterschiede haben sich offenbar in den lezten<br />

Jahren noch vergrößert. Die berufliche Weiterbildung wird zunehmend<br />

stärker Anpassungsqualifikation als Aufstiegsqualifikation, d.h. sie wird<br />

ein zentraler Mechanismus für die individuelle Bewältigung des notwendigen,<br />

wirtschaftlichen Strukturwandels. Dabei müssen — in der beruflichen<br />

wie in der allgemeinen Weiterbildung — die bisher unterrepräsentierten<br />

Gruppen verstärkt angesprochen <strong>und</strong> motiviert werden: un- <strong>und</strong> angelernte<br />

Beschäftigte, ältere Arbeitnehmer, Ausländer, Arbeitslose, Frauen,<br />

die in den Beruf zurück wollen, Senioren, die die „dritte Lebensphase"<br />

aktiv gestalten wollen.<br />

— Die staatliche Unterstützung der Weiterbildung muß nachhaltig verstärkt<br />

werden, ohne daß das Prinzip der Selbstbeteiligung der Teilnehmer<br />

<strong>und</strong> der Selbständigkeit der Träger aufgegeben wird: für hauptberufliches<br />

Personal, für nebenberufliche Lehrkräfte, für die Bildungseinrichtungen,<br />

für Organisation <strong>und</strong> Werbung. In diesem Rahmen ist auch das Thema<br />

des Bildungsurlaubs neu zu diskutieren.<br />

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Die Kommission „Weiterbildung" hat sich bemüht, eine realistische<br />

Zukunftsperspektive zu entwickeln <strong>und</strong> dabei auch Konflikte, Ungleichheiten<br />

<strong>und</strong> Ausleseprozesse anzusprechen, die in der Weiterbildung auch<br />

angelegt sind. Weiterbildung ist kein Allheilmittel. Insgesamt sieht sie<br />

jedoch im Wissen <strong>und</strong> Lernen eine prinzipiell unerschöpfliche Ressource<br />

der Innovation: der Kompetenzsteigerung, Flexibilisierung, Kompensation<br />

<strong>und</strong> der individuellen Wahlmöglichkeiten.<br />

In unserem Zusammenhang interessiert sicher auch, daß die Kommission<br />

zwei sozialwissenschaftliche Gutachten in Auftrag gegeben hat. 2<br />

Hier konnten Sozialwissenschaftler zeigen, daß sie in der Lage sind, in<br />

wenigen Wochen wesentliche Beiträge zur Klärung schwieriger Sachverhalte<br />

— der unterschiedlichen Beteiligung verschiedener sozialer Gruppen<br />

<strong>und</strong> Berufe <strong>und</strong> ihrer Determinanten — vorzulegen. Dies bestätigt mich<br />

in der Ansicht, daß die Mitarbeit in solchen Kommissionen auch für das<br />

Ansehen unseres Faches <strong>und</strong> für den Nachweis seiner Kompetenz, zu aktuellen<br />

Fragen übersichtliche <strong>und</strong> verständliche Antworten zu geben, eine<br />

wichtige Rolle spielen kann.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Die Kommissionsberichte <strong>und</strong> Kongreßberichte sind erhältlich beim Staatsministerium<br />

Baden-Württe<strong>mb</strong>erg, Richard-Wagner-Straße 15, 7000 Stuttgart 1: Zukunftsperspektiven<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklungen, Nove<strong>mb</strong>er 1983.<br />

Weiterbildung: Herausforderung <strong>und</strong> Chance, Nove<strong>mb</strong>er 1984.<br />

2 Es handelt sich um folgende Gutachten, die bei den angegebenen Projekten erhältlich<br />

sind:<br />

Heinz-Herbert Noll, „Die Bedeutung der Weiterbildung für Berufsverlauf <strong>und</strong><br />

Qualifikation", Sonderforschungsbereich 3 Frankfurt/Mannheim, Universität<br />

Mannheim.<br />

Angelika Willms/Karin Kurz, „Die Weiterbildungsteilnahme der Berufstätigen in<br />

Baden-Württe<strong>mb</strong>erg", VASMA-Projekt, Universität Mannheim.<br />

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BILDUNG UND WERTWANDEL: AM BEISPIEL VON<br />

„LEISTUNG" IN DER BUNDESREPUBLIK DEUTSCHLAND<br />

ZWISCHEN 1950 UND 1980 1<br />

Heiner<br />

Meulemann<br />

In der Geschichte der B<strong>und</strong>esrepublik laufen zwei Entwicklungen erstaunlicherweise<br />

fast parallel: die Bildungsexpansion <strong>und</strong> der Wertwandel. Die<br />

Bildungsexpansion bezeichnet die Tatsache, daß in der zweiten Hälfte der<br />

60er <strong>und</strong> der ersten Hälfte der 70er Jahre der Anteil der Sek<strong>und</strong>ar- <strong>und</strong> der<br />

Hochschüler an der Bevölkerung fast doppelt so stark zunimmt wie in den vorausgehenden<br />

Jahren (Meulemann 1982). Sie ist eine fast ruckartige Verstärkung<br />

des säkularen Trends steigender Bildungsteilhabe: Auf einen kontinuierlichen<br />

langsamen Anstieg folgt eine sprunghafte Steigerung, die heute wieder<br />

in eine langsame Steigerung oder gar Stagnation übergeht. Der Wertwandel<br />

läßt sich, wenn man alle verfügbaren, kontinuierlichen <strong>und</strong> längerfristigen<br />

Zeitreihen durchgeht (Meulemann 1983), mit folgenden Trends beschreiben:<br />

Leistung <strong>und</strong> religiöse Werthaltungen gehen zurück, politische Teilhabe <strong>und</strong><br />

Egalitarismus im Privatleben steigen an. Die vier Trends verlaufen weitgehend<br />

parallel. Auf eine Phase relativer Konstanz von 1950 bis in die Mitte der sechziger<br />

Jahre folgt eine Phase des U<strong>mb</strong>ruchs bis in die Mitte der siebziger Jahre,<br />

die wiederum von einer Phase relativer Konstanz abgelöst wird.<br />

Bildungsexpansion <strong>und</strong> Wertwandel fallen also fast genau in der zweiten<br />

Hälfte der sechziger Jahre zusammen, <strong>und</strong> in beiden Fällen ist weiterhin<br />

die Phase des akuten Wandels von Phasen relativer Konstanz vorher<br />

<strong>und</strong> nachher begleitet. Beruht das Zusammentreffen von Bildungsexpansion<br />

<strong>und</strong> Wertwandel auf Wandlungen im Zusammenhang zwischen Bildung<br />

<strong>und</strong> Werten? Auf diese Frage kann man eingehen, indem man Gruppen<br />

unterschiedlicher Bildungsniveaus im Zeitverlauf vergleicht. Gehen<br />

die besser Ausgebildeten im Wertwandel voran? Ändern sich die Zusammenhänge<br />

zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten im Laufe der Bildungsexpansion<br />

<strong>und</strong> des Wertwandels? Ich will im folgenden zunächst Hypothesen für<br />

Verlaufsformen des Wertwandels in Bildungsgruppen entwickeln (Abschnitt<br />

1) <strong>und</strong> sie dann an drei Indikatoren für den Wert Leistung überprüfen<br />

(Abschnitt 2).<br />

1. Hypothesen für Verlaufsformen des Wertwandels in Bildungsgruppen<br />

Über den Zeitraum von 30 Jahren können sich die Entwicklungen in den<br />

einzelnen Gruppen zu sehr vielen Bildern zusammenfügen. Um die Mög-<br />

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lichkeiten einzuschränken, setze ich zweierlei voraus: Erstens soll die dreiphasige<br />

Verlaufsform mit Konstanz-Wandel-Konstanz <strong>und</strong> der Rückgang<br />

des Leistungswertes auch für jede Bildungsgruppe gelten. Zweitens soll<br />

zumindest zu Anfang der Entwicklung in den besser ausgebildeten Gruppen<br />

Leistung höher bewertet sein. Dann sind folgende Hypothesen denkbar:<br />

Zunächst könnten die Entwicklungen in beiden Bildungsgruppen<br />

parallel verlaufen <strong>und</strong> die Beziehung zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten konstant<br />

bleiben. Dann liegt ein allgemeiner, von der Bildung unabhängiger Trend<br />

vor. Diese Hypothese nenne ich die Globaltrend-Hypothese. Sie geht zwar<br />

nicht auf Zusammenhänge zwischen Bildungsexpansion <strong>und</strong> Wertwandel<br />

ein, aber sie stellt eine Art Nullhypothese dar, von der ich vier weitere<br />

Hypothesen absetzen möchte, die inhaltlich gehaltvolle Aussagen über den<br />

Zusammenhang zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten machen.<br />

Die erste Hypothese unterstellt, daß die besser ausgebildete Gruppe in<br />

der Phase des Wandels vorangeht, die schlechter ausgebildete aber schließlich<br />

wieder nachzieht. Bildung hätte hier also die Funktion eines Multiplikators.<br />

Der akute Wertwandel setzt sich von oben nach unten durch,<br />

auf die Dauer aber bleiben die Unterschiede gleich. Entsprechend nenne<br />

ich diese Hypothese die Avantgarde-Hypothese. Sie sagt also nur eine<br />

vorübergehende Veränderung der Beziehung zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten<br />

voraus; über den ganzen Zeitraum ändert sich die Beziehung nicht. Sie<br />

dürfte vor allem dann zutreffen, wenn ein Wertwandel rein innerkulturell<br />

ausgelöst wird <strong>und</strong> abläuft: Mit charakteristischen Verzögerungen zwischen<br />

Milieus verschieben sich Werte, die Beziehungen zwischen Milieu <strong>und</strong><br />

Werten aber bleiben langfristig konstant. Das ist mit einem konstanten<br />

Anteil verschiedener Bildungsabschlüsse an der Bevölkerung durchaus<br />

vereinbar. Die erste Hypothese nimmt also keinen Bezug auf die Bildungsexpansion,<br />

die den Wertwandel begleitet. Das aber soll in den übrigen<br />

Hypothesen geschehen, für die die Rolle der Bildungsexpansion im Wertwandel<br />

genauer erläutert werden muß.<br />

Bildungsabschlüsse in modernen Industriegesellschaften sind doppeldeutig.<br />

Sie verweisen auf Qualifikationen <strong>und</strong> auf Werthaltungen. Sie bieten<br />

Lebenschancen, die sich im Beruf realisieren, <strong>und</strong> sie fordern eine Lebensführung,<br />

die sich in der Familie, in der Freizeit ausdrückt. Die Expansion<br />

weiterführender Bildung in den letzten 20 Jahren hat nun — so vermute<br />

ich — den Charakter von Bildung als Lebenschance <strong>und</strong> Lebensführung<br />

verändert. Sie hat die Selbstverständlichkeit des Statusanspruchs von<br />

Bildung erschüttert <strong>und</strong> die Lebenschance Bildung abgewertet. Zugleich<br />

aber wurde Bildung auch als Lebensführung — geistige Arbeit als zweckfrei<br />

betriebener, dennoch aber Sicherheit <strong>und</strong> materielle Versorgung garantierender<br />

Lebensinhalt — aufgelöst. Der Besitz von Bildungspatenten definiert<br />

heute statistische Gruppen, die sich durch die Teilhabe an der allgemeinen<br />

Kultur, durch Mitsprache an den öffentlichen Problemdefinitionen<br />

unterscheiden. Statt Lebenschancen zu bestimmen <strong>und</strong> eine Lebensführung<br />

zu prägen, ist Bildung mit einem kulturellen Lebensstil verb<strong>und</strong>en;<br />

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vom strukturellen ist Bildung zum kulturellen Merkmal geworden. Wenn<br />

nun durch die Bildungsexpansion der Bedeutungsschwerpunkt der Bildung<br />

sich von Lebenschancen zum Lebensstil verlagert hat, dann müßte<br />

sich auch die Beziehung zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten im Zeitverlauf nicht<br />

nur vorübergehend, sondern dauerhaft verändern. Entsprechend lassen<br />

sich drei weitere Hypothesen denken, die alle eine dauerhafte Veränderung<br />

der Beziehung unterstellen.<br />

Die zweite <strong>und</strong> dritte Hypothese unterstellen, daß die Größe der<br />

Differenz zwischen den Bildungsgruppen sich verändert, die Richtung<br />

jedoch gleich bleibt. Die zweite Hypothese nimmt an, daß die Differenz<br />

wächst, die dritte, daß sie schrumpft. Entsprechend bezeichne ich die<br />

zweite als die Differenzierungs-, die dritte als die Nivellierungshypothese.<br />

Die vierte Hypothese unterstellt, daß die Größe <strong>und</strong> die Richtung der<br />

Differenz sich verändert. Ich bezeichne die vierte Hypothese als die Lebensstil-Hypothese.<br />

Die Lebensstil-Hypothese ist eine Radikalisierung der<br />

Nivellierungshypothese. Die Annäherung der beiden Gruppen wird so weit<br />

getrieben, bis die Beziehung sich umkehrt. Wenn das passiert, dann liegt<br />

tatsächlich ein sehr deutliches Indiz vor, daß ganz unterschiedliche Sachverhalte<br />

unter dem Namen Bildung den Wert Leistung beeinflussen. Leistung<br />

ist ein Wert, der soziale Ungleichheiten rechtfertigen kann. Sie kann<br />

darüber hinaus um so eher das subjektive Bild von Selbst <strong>und</strong> Umwelt<br />

prägen, je höher die objektiven Chancen im sozialen Status sind. Solange<br />

Bildung daher ein Indikator für Lebenschancen ist, sollte sie mit der Betonung<br />

von Leistung positiv zusammenhängen. Auf der anderen Seite wurde<br />

das Leistungsprinzip in den letzten Jahren wegen seiner psychischen <strong>und</strong><br />

sozialen Kosten kritisiert, <strong>und</strong> diese Kritik war im höheren Bildungswesen<br />

besonders populär. Sobald also Bildung ein Indikator für einen kulturellen<br />

Lebensstil wird, sollte sie mit der Betonung von Leistung negativ zusammenhängen.<br />

Wenn also Bildung ihren Bedeutungsschwerpunkt von Lebenschancen<br />

zum Lebensstil verlagert hat, dann könnte man eine Umkehrung<br />

der Korrelation mit Leistung erwarten.<br />

Auch ein Umschlagen der Korrelation aber belegt noch keinen Zusammenhang<br />

zwischen Bildungsexpansion <strong>und</strong> Wertwandel. Einen wichtigen<br />

empirischen Hinweis dafür aber kann man gewinnen, wenn man den<br />

Einfluß der Bildung mit dem Einfluß des Berufs, des wichtigsten Indikators<br />

für Lebenschancen, im Zeitablauf vergleicht. Die für die Bildung<br />

unterstellte Umkehrung der Beziehung könnte dann auch für Berufsgruppen<br />

auftauchen. In diesem Falle müßte man für beide Statusvariablen unterstellen,<br />

daß sie früher für Lebenschancen, heute aber für Lebensstile stehen.<br />

Der Wandel des Charakters von Bildung ließe sich nicht spezifisch auf die<br />

Bildungsexpansion zurückführen. Taucht die Umkehrung der Beziehung<br />

jedoch nur bei der Bildung, nicht aber beim Beruf auf, so kann man sagen,<br />

daß Bildung sich von Lebenschancen- zum Lebensstil-Indikator gewandelt<br />

hat, der Beruf aber nach wie vor für Lebenschancen steht. Der Wandel<br />

bei der Bildung ließe sich dann mit einiger Berechtigung auf die Bildungs-<br />

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expansion zurückführen. Ich will Zeitreihen für Bildungsgruppen mit Zeitreihen<br />

für Berufsgruppen an drei Indikator-Fragen für den Wert Leistung<br />

vergleichen.<br />

2. Die Entwicklung von Leistung in Bildungs- <strong>und</strong> Berufsgruppen<br />

Die erste Frage — „Leben als Aufgabe" — wird zwischen 1956 <strong>und</strong> 1968<br />

von etwa 60%, zwischen 1972 <strong>und</strong> 1980 von etwa 50% der Bevölkerung<br />

bejaht. Leistung als umfassender Lebenswert geht also um etwa 10 Prozentpunkte<br />

zurück. Dieser Trend findet sich — wie man in Abb. 1 sehen<br />

kann — in beiden Bildungsgruppen wieder — jedoch in unterschiedlicher<br />

2<br />

Stärke <strong>und</strong> Gestalt. Bei den Volksschulabsolventen findet man nur einen<br />

sehr schwachen Rückgang, bei der Gruppe mit mehr als Volksschulabschluß<br />

dagegen einen um so stärkeren Rückgang, der sich ruckartig zum<br />

Ende der sechziger Jahre durchsetzt. Der Unterschied zwischen beiden<br />

Trends ist so stark, daß die Richtung der Beziehung umschlägt. Zwischen<br />

1956 <strong>und</strong> 1968 hängen Bildung <strong>und</strong> „Leben als Aufgabe" zu vier Zeitpunkten<br />

positiv, zwischen 1972 <strong>und</strong> 1981 zu vier Zeitpunkten negativ<br />

zusammen. Zwischen 1968 <strong>und</strong> 1972 blieb „Leben als Aufgabe" bei<br />

Volksschulabsolventen nahezu konstant, sank aber bei den besser Ausgebildeten<br />

um 15 Prozentpunkte. Diese Ergebnisse bestätigen die Lebensstil-Hypothese.<br />

In den fünfziger <strong>und</strong> frühen sechziger Jahren wird Leistung<br />

als ein sozial legitimierender Wert eher von denen bejaht, die über die besseren<br />

Lebenschancen verfügen; seit den späten sechziger Jahren aber wird<br />

Leistung als ein psychisch <strong>und</strong> sozial kostspieliger Wert eher von denen<br />

zurückgewiesen, die an einem kulturellen Lebensstil teilhaben können.<br />

In den fünfziger <strong>und</strong> frühen sechziger Jahren stand Bildung eher für Lebenschancen,<br />

seit den späten sechziger Jahren eher für einen Lebensstil.<br />

Auch in allen Berufsgruppen findet sich der globale Rückgang wieder,<br />

nun aber überall in ungefähr gleicher Stärke <strong>und</strong> Gestalt. Entsprechend<br />

3<br />

bleibt auch die Beziehung zwischen Beruf <strong>und</strong> „Leben als Aufgabe" über<br />

die Zeit konstant; die Rangfolge der Berufe ist, mit unwesentlichen Ausnahmen,<br />

zu jedem Zeitpunkt gleich: die Landwirte rangieren in der Betonung<br />

von Leistung vor den Beamten <strong>und</strong> Selbständigen <strong>und</strong> vor den<br />

Angestellten <strong>und</strong> Arbeitern. Sieht man von den Landwirten ab, so kann<br />

man die Berufsgruppen unter dem Gesichtspunkt der Lebenschancen als<br />

ordinale Variable interpretieren. Dann ist die Beziehung zwischen den<br />

Berufsgruppen <strong>und</strong> „Leben als Aufgabe" positiv <strong>und</strong> kann als Wirkung<br />

steigender Lebenschancen verstanden werden: Mit den Lebenschancen<br />

wachsen die Wertansprüche, die man an sich <strong>und</strong> sein Leben stellt. Die<br />

höheren Berufsgruppen identifizieren sich über den ganzen betrachteten<br />

Zeitraum stärker mit dem Wert Leistung — so wie die höheren Bildungsgruppen<br />

zu Beginn des betrachteten Zeitraums. Ganz offensichtlich hat<br />

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sich der Charakter des Berufs nicht gewandelt: Er steht nach wie vor für<br />

Lebenschancen.<br />

Der Wandel des Charakters der Bildung <strong>und</strong> die Konstanz des Charakters<br />

des Berufs legen es uns nahe, die Bildungsexpansion als einen Auslöser<br />

des Wertwandels zu sehen. Nicht nur ist der Anteil höherer Abschlüsse<br />

in der Bevölkerung gestiegen, sondern gerade in den besser ausgebildeten<br />

Bevölkerungsgruppen hat der Wert Leistung an Boden verloren. Die Beziehung<br />

zwischen Bildung <strong>und</strong> „Leben als Aufgabe" hat sich dadurch umgekehrt.<br />

Die Beziehung zwischen Beruf <strong>und</strong> „Leben als Aufgabe" über den<br />

gleichen Zeitraum ist jedoch konstant geblieben. Die Konkurrenz struktureller<br />

<strong>und</strong> kultureller Komponenten, die in Bildung immer enthalten ist,<br />

wird offenbar zunehmend zugunsten der kulturellen Komponenten aufgelöst.<br />

Die zweite Frage — „Leben ohne Arbeit" — wird zwischen 1952 <strong>und</strong><br />

1963 von etwa 12%, zwischen 1972 <strong>und</strong> 1981 von etwa 20% der Bevölkerung<br />

bejaht. Leistung als Lebenssinn geht also — da es sich um eine<br />

negativ formulierte Frage handelt — um etwa 8 Prozentpunkte zurück.<br />

Dieser Trend findet sich auch in beiden Bildungsgruppen. Wie bei „Leben<br />

4<br />

als Aufgabe" ist aber die Stärke der Entwicklung unterschiedlich: Wiederum<br />

ist der Rückgang des Wertes Leistung in der besser ausgebildeten<br />

Gruppe stärker. Allerdings gibt es nur eine Nivellierung der Unterschiede,<br />

kein Umschlagen der Beziehung: In der Periode vor 1963 sind die besser<br />

Ausgebildeten leistungsfre<strong>und</strong>licher, in der Periode nach 1972 gibt es nur<br />

noch minimale Unterschiede <strong>und</strong> einmal sogar ein Umschlagen der Beziehung.<br />

In der kritischen Periode zwischen 1963 <strong>und</strong> 1972 geht zwar in<br />

beiden Gruppen der Wert Leistung zurück, aber in der besser ausgebildeten<br />

Gruppe doch deutlich stärker. Die Ergebnisse bestätigen also nicht die<br />

Lebensstil-, sondern die Nivellierungshypothese. Die Nivellierung kann<br />

als ein Wandel von Lebenschancen zum Lebensstil verstanden werden,<br />

der nicht stark genug war, die Beziehung zwischen Bildung <strong>und</strong> Werten<br />

umzukehren.<br />

Auch in den meisten Berufsgruppen findet sich der globale Rückgang<br />

des Wertes Leistung wieder: „Leben ohne Arbeit" steigt bei Arbeitern,<br />

Angestellten <strong>und</strong> Beamten im Durchschnitt etwa 5 Prozentpunkte an,<br />

bei den Selbständigen <strong>und</strong> Landwirten ist die Entwicklung nicht einheitlich.<br />

Die Rangfolge aber, in der die Berufsgruppen sich ein Leben ohne<br />

Arbeit wünschen, bleibt — als eine Regel mit Ausnahmen — gleich. Die<br />

Regel ist, daß Arbeiter häufiger als Beamte <strong>und</strong> Angestellte <strong>und</strong> als Selbständige<br />

<strong>und</strong> Landwirte ein Leben ohne Arbeit wünschen. Interpretiert<br />

man die Berufsgruppen wiederum als ordinale Variable, so ist die Beziehung<br />

zwischen Beruf <strong>und</strong> „Leben ohne Arbeit" negativ, die Beziehung zwischen<br />

Beruf <strong>und</strong> dem Wert Leistung positiv. Die höheren Berufsgruppen<br />

identifizieren sich durchgängig mit dem Wert Leistung, so wie die höheren<br />

Bildungsgruppen zu Beginn der betrachteten Periode in starkem, zum<br />

Ende in sehr schwachem Maße. Der Charakter des Berufs hat sich nicht<br />

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gewandelt: Er steht nach wie vor für Lebenschancen. Wie beim „Leben als<br />

Aufgabe" kann man also auch beim „Leben ohne Arbeit" die Bildungsexpansion<br />

als einen Auslöser des Wertwandels sehen. Auch hier ist der<br />

Wandel besonders deutlich in den besser ausgebildeten Gruppen, während<br />

alle Berufsgruppen im wesentlichen gleich bleiben. „Leben ohne Arbeit"<br />

bestätigt also die Ergebnisse zu „Leben als Aufgabe", wenn auch in einer<br />

weniger deutlichen Weise.<br />

Die dritte Frage — „intrinsische Arbeitsqualität" — wird zwischen<br />

1949 <strong>und</strong> 1962 von etwa 55%, von 1974 bis 1979 von etwa 40% der<br />

Bevölkerung bejaht. Leistung als Sinn der Arbeit geht also um etwa 15 Prozentpunkte<br />

zurück. Dieser Trend findet sich in beiden Bildungsgruppen<br />

wieder, in fast vollständig gleicher Stärke <strong>und</strong> Gestalt. Von Differenzierung<br />

oder Nivellierung oder gar einer Umkehrung der Beziehung zwischen<br />

5<br />

Bildung <strong>und</strong> Leistung kann keine Rede sein. Die Ergebnisse bestätigen<br />

sehr klar die Globaltrend-Hypothese. In der Wertschätzung „intrinsischer<br />

Arbeitsqualität" drücken sich also unverändert Lebenschancen aus, die<br />

mit dem Bildungsgrad gemessen werden. Auch in allen Berufsgruppen<br />

findet sich der globale Rückgang wieder, <strong>und</strong> die Beziehung zwischen<br />

Beruf <strong>und</strong> „intrinsischer Arbeitsqualität" bleibt konstant; die Beamten<br />

rangieren in der Betonung von Leistung vor den Selbständigen <strong>und</strong> Landwirten,<br />

den Angestellten <strong>und</strong> den Arbeitern. Wenn man die Berufsgruppen<br />

wiederum als ordinale Variable interpretiert, so ist die Beziehung positiv:<br />

Je höher die Lebenschancen, desto besser die Bewertung der Arbeitsqualität.<br />

Die höheren Berufsgruppen identifizieren sich stärker mit dem Wert<br />

Leistung, genauso wie die höheren Bildungsgruppen. Gemessen an der<br />

Beziehung zur „intrinsischen Arbeitsqualität" hat sich der Charakter weder<br />

der Bildung noch des Berufs gewandelt.<br />

3. Bewertung <strong>und</strong> Schlußfolgerung<br />

Wenn man die Beziehungen aller drei Leistungs-Indikatoren mit Bildung<br />

<strong>und</strong> Beruf zwischen 1950 <strong>und</strong> 1980 überblickt, welche Hypothese schneidet<br />

dann am besten ab? Als erstes fällt auf, daß die Avantgarde-Hypothese<br />

in keinem Falle bestätigt wurde: Als ein rein innerkultureller Multiplikator-Prozeß<br />

kann der Wandel von Leistung nicht verstanden werden. Er<br />

muß im Zusammenhang mit den strukturellen Wandlungen der Bildungsexpansion<br />

gesehen werden: Allein die Globaltrend-Hypothese <strong>und</strong> die<br />

drei Hypothesen, die Bildung im Übergang von Lebenschancen zum Lebensstil<br />

sehen, werden den Ergebnissen gerecht. Von diesen drei Hypothesen<br />

wiederum wird die Differenzierungshypothese nicht, wohl aber die Nivellierungs-<br />

<strong>und</strong> die Lebensstil-Hypothese bestätigt, <strong>und</strong> dort, wo Nivellierungsoder<br />

Lebensstil-Hypothese für die Bildung bestätigt werden, läßt sich für<br />

den Beruf nur ein globaler Trend feststellen. Wenn Bildung also zunehmend<br />

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auf einen kulturellen Lebensstil deutet, so führt dies nicht zu einer Differenzierung,<br />

sondern zu einer Angleichung bis hin zu einer — wenn man so<br />

will — Überangleichung der beiden Bildungsgruppen. Die Lebensstil-Hypothese<br />

wird durch „Leben als Aufgabe", die Nivellierungshypothese durch<br />

„Leben ohne Arbeit", die Globaltrend-Hypothese durch „intrinsische Arbeitsqualität"<br />

bestätigt. Warum finden wir diese Unterschiede bei Indikatoren<br />

des gleichen Wertes Leistung?<br />

Die Erklärung liegt in der unterschiedlichen Allgemeinheitsstufe der<br />

Konzepte, die in den Frageformulierungen hervorgerufen werden. „Leben<br />

als Aufgabe" evoziert eine umfassende Wertorientierung, die von den realen<br />

Lebensbedingungen des Befragten abgehoben sein kann. „Leben ohne Arbeit"<br />

evoziert zwar den spezifischen Lebensbereich der Arbeit, ohne aber<br />

auf spezifische Dimensionen der Arbeit einzugehen. „Intrinsische Arbeitsqualität"<br />

evoziert spezifische Dimensionen des Lebensbereichs Arbeit. Je<br />

allgemeiner nun die evozierten Konzepte, desto mehr kann die Antwort<br />

durch kulturelle Bedingungen, durch den Lebensstil beeinflußt werden; je<br />

konkreter die evozierten Konzepte, desto mehr wird die Antwort durch<br />

strukturelle Bedingungen, durch Lebenschancen geprägt. „Leben als Aufgabe"<br />

ist daher sensibel für die unterstellte Gewichtsverlagerung der Bedeutungskomponenten<br />

von Bildung zugunsten des Lebensstils; es gibt keine<br />

objektiven Anhaltspunkte, keine Lebenschancen, die die Antworten der Befragten<br />

einschränken könnten. Ähnliches gilt in abgeschwächter Form für<br />

„Leben ohne Arbeit". „Intrinsische Arbeitsqualität" aber wird nicht nur<br />

von Wert-Positionen, sondern auch von den faktischen Bedingungen in der<br />

Arbeit beurteilt; hier brechen sich die Vorurteile des Lebensstils an den<br />

Realitäten der Lebenschancen. Aus diesen konzeptuellen Unterschieden<br />

zwischen den Fragen wird es also verständlich, daß „Leben als Aufgabe"<br />

den unterstellten Wandel des Charakters von Bildung durch eine Umkehrung<br />

der Beziehung zu Werten, „Leben ohne Arbeit" durch eine Nivellierung<br />

der Beziehung zu Werten <strong>und</strong> „intrinsische Arbeitsqualität" überhaupt<br />

nicht widerspiegelt. So gesehen hat sich die Annahme eines Bedeutungswandelt<br />

der Bildung bewährt, wo sie überhaupt eine Chance zur Bewährung hatte:<br />

in Einstellungen, die relativ unabgelenkt durch die Erfahrung realer Lebensbedingungen<br />

Werte repräsentieren können. So gesehen haben bildungsabhängige<br />

Lebensstile ihren Niederschlag in der Bewertung von Leistung gef<strong>und</strong>en.<br />

Akzeptiert man diese Interpretation der unterschiedlichen Trends bei<br />

den drei Indikatoren für den Wert Leistung, so ergeben sich zwei Schlußfolgerungen.<br />

Als erstes muß man die Befürchtungen, die von vielen — etwa<br />

von Kmieciak (1976) <strong>und</strong> Noelle-Neumann (1978) — mit dem Rückgang<br />

des Wertes Leistung verknüpft wurden, nicht unbedingt teilen. Aus dem<br />

Rückgang des Wertes Leistung wird nämlich häufig auf einen Rückgang der<br />

tatsächlichen Bereitschaft zu Leistung geschlossen. Die Ergebnisse hier zeigen<br />

nun, daß zwar der Wert Leistung tatsächlich in allen Gruppen zurückgeht,<br />

daß aber der Rückgang bei den Indikator-Fragen besonders ausgeprägt<br />

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ist, wo er am ehesten auf die Verbreitung kultureller Denkmuster zurückgeführt<br />

werden kann. Wenn aber der Wert Leistung am stärksten sich dort<br />

wandelt, wo er nicht durch Lebenschancen vorgeprägt ist, dann liegt es nahe,<br />

daß der Wandel des Wertes auch das Handeln relativ unberührt läßt. Der<br />

Rückgang von Leistung könnte ein überwiegend ideologisches Phänomen<br />

ohne Folgen für das Verhalten sein. Das aber ließe sich verallgemeinern zu<br />

einer zweiten Schlußfolgerung. So wie der Rückgang von Leistung überwiegend<br />

kulturell bedingt <strong>und</strong> vor allem ideologisch spürbar ist, so könnten<br />

Werte überhaupt von Erfahrungen abgelöst <strong>und</strong> für das Verhalten folgenlos<br />

werden. In dem Maße, in dem Werte nicht mehr durch Erfahrungen gestützt<br />

werden, würden sie auch nicht mehr die Tendenz haben, sich im Verhalten<br />

auszudrücken. Werte dienten dann in erster Linie der Selbstdeutung <strong>und</strong><br />

Selbstdarstellung ihrer Träger. Selbstdeutung <strong>und</strong> Selbstdarstellung aber<br />

sind Funktionen des Lebensstils. So gesehen, sind Werte in jedem Falle,<br />

ganz unabhängig von möglichen Interpretationen <strong>und</strong> Hintergründen des<br />

jüngsten Wertwandels, Gegenstand des Lebensstils.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Das Referat ist Teil eines längeren Arbeitsberichts „Bildungsexpansion <strong>und</strong> Wertwandel.<br />

Von Lebenschancen zum Lebensstil", der im Herbst 1985 erscheinen soll<br />

in: H. Meulemann/K.H. Reuband (Hg.), Sozialer <strong>und</strong> kultureller Wandel in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik. Frankfurt.<br />

2 Die Ergebnisse beruhen auf Sonderauswertungen des Instituts für Demoskopie,<br />

Allensbach, für die ich Herrn Werner Süßlin sehr herzlich danken möchte. — Die<br />

Frage lautete: Zwei Männer (Frauen) unterhalten sich über das Leben. Der (die)<br />

erste sagt: Ich möchte mein Leben genießen <strong>und</strong> mich nicht mehr abmühen als<br />

nötig. Man lebt schließlich nur einmal, <strong>und</strong> die Hauptsache ist, daß man etwas vom<br />

Leben hat. Der (die) zweite sagt: Ich betrachte mein Leben als Aufgabe, für die ich<br />

da bin <strong>und</strong> für die ich alle Kräfte einsetze. Ich möchte in meinem Leben etwas leisten,<br />

auch wenn das oft schwer <strong>und</strong> mühsam ist. — Dargestellt ist der Prozentsatz<br />

für die zweite Vorgabe.<br />

3 Aus Platzgründen muß ich für diesen <strong>und</strong> für alle folgenden Trends auf eine Abbildung<br />

verzichten.<br />

4 Die Ergebnisse beruhen wiederum auf Sonderauswertungen des Instituts für Demoskopie,<br />

Allensbach, die mir Herr Werner Süßlin fre<strong>und</strong>licherweise zur Verfügung<br />

gestellt hat. — Die Frage lautete: Glauben Sie, es wäre am schönsten zu leben, ohne<br />

arbeiten zu müssen? — Dargestellt ist der Prozentsatz für , Ja".<br />

5 Die Ergebnisse sind aus den EMNID-Informationen entnommen, die vom EMNID-<br />

Institut, Bielefeld, herausgegeben werden. — Die Frage lautete: Empfinden Sie Ihre<br />

Arbeit als schwere Last, notwendiges Übel, Möglichkeit, Geld zu verdienen, befriedigende<br />

Tätigkeit oder Erfüllung einer Aufgabe? — Als „intrinsische Arbeitsqualität"<br />

habe ich den Prozentsatz für „befriedigende Tätigkeit" <strong>und</strong> „Erfüllung einer<br />

Aufgabe" zusammengefaßt.<br />

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LITERATUR<br />

Kmieciak, Peter, 1976: Wertstrukturen <strong>und</strong> Wertwandel in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Göttingen.<br />

Meulemann, Heiner, 1982: „Bildungsexpansion <strong>und</strong> Wandel der Bildungsvorstellungen<br />

zwischen 1958 <strong>und</strong> 1979: Eine Kohortenanalyse." Zeitschrift für Soziologie 11:227-<br />

253.<br />

Meulemann, Heiner, 1983: „Value Change in West Germany, 1950-1980: Integrating<br />

the empirical evidence." Social Science Information 22:777-800.<br />

Noelle-Neumann, Elisabeth, 1978: Werden wir alle Proletarier? Wertewandel in unserer<br />

Gesellschaft. Zürich.<br />

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1956 1960 1964 1968 1972 1975 1978 1981<br />

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Abb. 1<br />

„Leben als Aufgabe" in Bildungsgruppen 1956 — 1981<br />

NO


Daten, Erklärungen, Prognosen -<br />

Wege der Annäherung<br />

EINLEITUNG<br />

Manfred Küchler<br />

Die Soziologie hat kein Monopol auf die Analyse <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklungen,<br />

auf die Erklärung des Vorfindbaren, auf die Vorhersage des Künftigen.<br />

Gleichwohl muß sich ihre Nützlichkeit, ihre Existenzberechtigung als<br />

eigenständige Disziplin in der Erfüllung genau dieser Aufgaben erweisen.<br />

Sie konkurriert dabei mit philosophischen <strong>und</strong> literarischen Deutungen, ja<br />

auch historischen Extrapolationen — einmal ganz abgesehen von den Alltagstheorien<br />

der Politiker, der Journalisten <strong>und</strong> der Durchschnittsbürger.<br />

Die meisten Erklärungen <strong>und</strong> Prognosen über <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklungen<br />

— sei es im Bildungsbereich oder anderswo — lassen sich vermutlich<br />

nicht einmal eindeutig einer dieser Kategorien zuordnen; die Grenzen sind<br />

fließend <strong>und</strong> Hegemonialansprüche nicht hinreichend begründbar. Literatur<br />

mag uns zuweilen mehr über die Wirklichkeit vermitteln als die Ergebnisse<br />

einer Meinungsumfrage, philosophische Begriffsbestimmungen einen<br />

Sachverhalt prägnanter fokussieren als eine operationale Definition. Anzuerkennen,<br />

daß Soziologie — <strong>und</strong> in ihrer konkreten Ausprägung empirische<br />

Sozialforschung — nur eine Möglichkeit ist, soziale Wirklichkeit im Bestand<br />

wie im Prozeß der Veränderung zu erfassen, bedeutet jedoch nicht notwendig,<br />

das empirische Forschen aufzugeben, ungestört von Daten zu philosophieren<br />

oder Romane, Gedichte <strong>und</strong> Essays zu schreiben.<br />

Empirische Sozialforschung ist gegenüber Philosophen <strong>und</strong> Literaten im<br />

Nachteil; sie muß die Basis ihrer Schlußfolgerungen systematisch offenlegen.<br />

Sie muß im Detail beschreiben, genau welche Einzelbef<strong>und</strong>e sie aus der<br />

schier unermeßlichen Fülle von Informationen ausgewählt <strong>und</strong> einer systematischen<br />

— im Prinzip im einzelnen nachvollziehbaren — Analyse unterzogen<br />

hat. Dies gilt für alle Spielarten empirischer Sozialforschung, auch<br />

wenn die Präzision dieser Angaben variiert. Empirische Sozialforschung<br />

kann immer nur einen — in Relation zum Ganzen sehr kleinen — Teil aller<br />

denkbarer Informationen systematisch einbeziehen; die Untersuchungsanlage<br />

oder das Forschungsdesign definiert ein „Fenster", durch das begrenzte<br />

Ausschnitte der Wirklichkeit in den Blick des Forschers geraten. Damit<br />

werden entscheidende Randbedingungen dafür gesetzt, welche Erklärungen,<br />

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welche Prognosen auf der Gr<strong>und</strong>lage des je spezifischen Forschungsvorhabens<br />

möglich sind.<br />

Die Beiträge in dieser Veranstaltung befassen sich mit unterschiedlichen<br />

Typen von Forschungsdesigns; sie versuchen, Vor- <strong>und</strong> Nachteile der einzelnen<br />

Ansätze generalisierend <strong>und</strong>/oder im exemplarischen Detail zu beschreiben.<br />

Ziel dieser Auseinandersetzung ist nicht die Fortführung des alten unfruchtbaren<br />

wissenschaftstheoretischen Streits, was denn die „richtige" Methode<br />

ist, vielmehr sollen Möglichkeiten der gegenseitigen Ergänzung deutlich<br />

werden. Der methodische Schulenstreit, die unversöhnliche Gegenübersetzung<br />

von „qualitativer" <strong>und</strong> „quantitativer" Forschung steht zwar nicht mehr<br />

auf der Tagesordnung, aber über das Stadium der gegenseitigen Duldung sind<br />

wir auch noch nicht hinausgekommen. Wünschenswert wäre — über den gegenwärtigen<br />

Methodenpluralismus hinaus — eine Kumulation verschiedenartiger<br />

methodischer Expertisen beim einzelnen Forscher, indem er/sie sich in aufeinanderfolgenden<br />

Studien unterschiedlicher „Wege der Annäherung" bedient.<br />

Der Normalfall empirischer Sozialforschung, die einmalige Querschnittsbefragung<br />

mit weitgehend standardisierten Erhebungsinstrumenten, braucht<br />

in diesem Zusammenhang nicht explizit behandelt zu werden. Die Grenzen<br />

dieses Forschungsdesign liegen klar auf der Hand. Daß dennoch viele heute<br />

durchgeführte Studien sich dieser Untersuchungsanlage bedienen, ist denn<br />

auch weniger der Borniertheit der Soziologen anzulasten als vielmehr handfesten<br />

praktischen Restriktionen in Form von (primär) verfügbaren Mitteln<br />

<strong>und</strong> (sek<strong>und</strong>är) verfügbarer Zeit. Unabhängig von Einzelfall ist sicher nicht<br />

zu entscheiden, wo ein Kompromiß zwischen methodischer Wünschbarkeit<br />

<strong>und</strong> verfügbaren Ressourcen nicht mehr angemessen ist, wo die Schlichtheit<br />

des Design zu weitgehender Beliebigkeit der Forschungsergebnisse führt.<br />

Eine These, die Martin Irle mit großem Nachdruck in seinem Beitrag über<br />

die Notwendigkeit von „Experimentalplänen in sozialwissenschaftlicher<br />

Forschung" vertritt.<br />

Im zweiten, hier abgedruckten Beitrag — beschäftigt sich Christel<br />

Hopf mit „Fragen der Erklärung <strong>und</strong> Prognose in qualitativen Untersuchungen",<br />

also in Studien, die nicht oder nur sehr begrenzt auf standardisierte<br />

Erhebungsinstrumente <strong>und</strong>/oder auf „Repräsentativität" angelegte Auswahl<br />

der zu untersuchenden Personen (allgemeiner: Einheiten) zurückgreifen.<br />

Das Problem von Kausalerklärungen im Rahmen derartiger Studien — wie<br />

der hier von Christel Hopf exemplarisch herangezogenen klassischen „Marienthal-Studie"<br />

— zu erörtern, mag sowohl dem orthodoxen „kritischen<br />

Rationalisten" wie dem traditionellen „Hermeneutiker" absurd anmuten;<br />

für pragmatisch orientierte, an konkreten Problemlösungen interessierte Sozialforscher<br />

wird damit jedoch ein interessanter Brückenschlag versucht.<br />

Praktische Restriktionen (knappe Fristen, beschränkter Raum) lassen es<br />

leider nicht zu, auch das dritte, von Walter Müller gehaltene Referat in diesem<br />

Band schriftlich zu dokumentieren. Gegenstand dieses Beitrags waren<br />

Möglichkeiten, auch längerfristige (historische) Entwicklungen datenorientiert<br />

mit Hilfe von Longitudinalstudien zu untersuchen.<br />

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Die Frage nach dem Scheitern der Bildungsprognosen ist in der Plenumsveranstaltung<br />

unterschiedlich beantwortet worden. Die Schroffheit des Urteils<br />

ist sicher abhängig von den Erwartungen, die an die einzelnen sozialwissenschaftlichen<br />

Studien gerichtet wurden. Über die Unterschiede hinaus<br />

ist aber deutlich geworden, daß empirische sozialwissenschaftliche Analysen<br />

nicht obsolet geworden sind, obwohl ihre Triftigkeit sicherlich der Verbesserung<br />

bedarf: nicht durch Rückzug in die Kontemplation, den soziologischen<br />

Lehnstuhl, jedoch, sondern durch kontinuierliche Verbesserung <strong>und</strong><br />

Verfeinerung der Untersuchungspläne, der Instrumente, der Techniken —<br />

kurz der „Werkzeuge der Sozialforschung".<br />

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EXPERIMENTAL—PLÄNE IN SOZIALWISSENSCHAFTLICHER<br />

FORSCHUNG<br />

Martin Irle<br />

Manche Experimentatoren in verhaltenswissenschaftlicher Forschung haben<br />

es nicht begriffen: Die experimentelle Methode ist die optimale Operationalisierung<br />

des deduktiven Erklärungsmodelles. In diesem Modell besteht das<br />

Explanans strikt aus einer Gesetzesaussage, etwas 'liberaler' aus einer Hypothese,<br />

die aus einer nomologischen Theorie gefolgert wird, <strong>und</strong> aus der Beschreibung<br />

einer konkreten Anfangsbedingung. Diese Anfangsbedingung<br />

muß eine quantitative Variation ihrer Qualität sein; sie kann konstante<br />

Randbedingungen enthalten. Die bezogene Theorie mag in sich logisch<br />

nicht absolut widerspruchslos sein; sie mag partiell tautologisch sein, sie<br />

mag in Gänze — unerkannt — durch eine andere Theorie erklärbar sein.<br />

Auch dann finden wir eine Hypothese — u.U. sogar als einen isolierten<br />

Einzelfall, (noch) nicht auf eine Theorie rückführbar —, die erklärt, warum<br />

ein konkreter Vorgang oder ein konkretes Objekt, als Einzelfall beschreibbar,<br />

ein anderes ebenso beschreibbares Ereignis an demselben Ort<br />

in Zeit <strong>und</strong> Raum herbeiführt: das Explanandum. Die Erklärung ist identisch<br />

mit einer Prognose in einem geschlossenen System. Wenn X hergestellt<br />

. wird oder wie immer eintrifft, dann wird auch Y auftreten. In den<br />

Verhaltens- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften können im strikten Sinne geschlossene<br />

Systeme nur sehr selten hergestellt werden. Trotz vieler praktischer<br />

Defizite folgt die experimentelle Methode diesem deduktiven Erklärungsmodell.<br />

Was haben manche Experimentatoren nicht begriffen? Sie haben das<br />

Laboratorium nicht begriffen. Ein Laboratorium ist das Gehäuse von mindestens<br />

partiell neu geschaffenen (Mikro-)Welten. Gemäß Folgerung aus einer<br />

Theorie werden konkrete Anfangsbedingungen hergestellt, die u.U.<br />

raumzeitlich erstmals eintreffen. Sie sind „künstlich", als sie erst- <strong>und</strong>/vielleicht<br />

einmalig sind. Damit sind sie nicht irreal; sie sind empirische Realität,<br />

<strong>und</strong> ebenso sind es die erklärten, prognostizierten, konkreten Konsequenzen.<br />

Auf vorhandene empirische Realitäten kann man nur schließen,<br />

wenn dort dieselben konkreten Anfangs- <strong>und</strong> Randbedingungen herrschen<br />

wie im Labor; denn die Hypothese als Folgerung aus einer Theorie erklärt<br />

den Zusammenhang je konkreter Ereignisse. Sie löst einen problematischen<br />

Sachverhalt auf. Verallgemeinerungen im Sinne induktiver Schlüsse sind logisch<br />

nicht erlaubt; es gibt keine Logik, die induktive Schlüsse begründet.<br />

Die Ergebnisse eines Experimentes, <strong>und</strong> seien sie noch so „natürlich", erlauben<br />

nichts anderes, als das Vertrauen in die Erklärungskraft einer Theorie<br />

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aufrechtzuerhalten oder zu mindern. Es ist ein anderes — psychologisches —<br />

Problem, daß solche 'Bestätigungen' einer Theorie das Vertrauen in ihre<br />

Erklärungskraft erhöhen: Manche Experimentatoren haben nicht begriffen,<br />

daß sie auch durch beliebig große Zahlen von Experimenten, z.B. durch beliebig<br />

viele Replikationen eines Experimentes, keine Chance haben, konkrete<br />

Ergebnisse generalisieren zu können. Sie prüfen eine Theorie auf ihre<br />

Erklärungskraft. Wollen sie mit dieser Theorie andere problematische Sachverhalte<br />

von Ereignissequenzen erklären, dann müssen sie neue Hypothesen<br />

aus dieser Theorie folgern, die für solche Sachverhalte die konkreten Anteile<br />

des Explanans passend fordern.<br />

Merke: Je kleiner die Zahl der Versuchseinheiten (Personen oder höhere<br />

soziale Einheiten) pro Versuchsbedingung ist, um so eher testet man gegen<br />

die Hypothese(n). Nur wer induktiv generalisieren will, wünscht sich hohe<br />

Zahlen von sozialen Einheiten pro Untersuchungsbedingung, damit auch<br />

geringste Effekte noch statistisch signifikant werden. Erlaubt diese Strategie<br />

eher zu generalisieren, obwohl es keine logische Begründung induktiver<br />

Schlüsse gibt? Sozialwissenschaftlern (z.B. Soziologen) erscheint es unglaublich,<br />

daß Verhaltenswissenschaftler (z.B. die biologiewissenschaftlich orientierten,<br />

aber auch die sozialwissenschaftlich orientierten Psychologen) in<br />

Experimenten mit 8-12 Versuchspersonen pro Versuchsbedingung auskommen<br />

wollen: Die erforschte Welt sei „künstlich", <strong>und</strong> dann wolle man z.B.<br />

noch von 8 Vpn x 4 Experimentalbedingungen =32 Personen auf irgendetwas<br />

schließen. Richtig! Nur, das Irgendetwas kann nichts anderes sein als<br />

der Erklärungsanspruch einer Theorie, der erschüttert oder nicht erschüttert<br />

werden kann.<br />

Die zentrale Aufgabe, die allein das Experiment erfüllen kann, ist diejenige,<br />

alternative Erklärungen auszuschließen. Anders kann empirisch nicht<br />

die Erklärungskraft, die realwissenschaftliche Geltung einer nomologischen<br />

Theorie geprüft werden. Das Experiment ist dazu da, Schlupflöcher zu verschließen.<br />

Wer weniger anspruchsvoll ist, gibt sich mit Deutungen zufrieden;<br />

er diskriminiert Theorien als Deutungsmuster (siehe: Donald T. Campbell<br />

& Julian C. Stanley: Experimental and Quasi-Experimental Designs<br />

for Research. Chicago: Rand McNally, 1966).<br />

Vielleicht eignet sich die Methode des Experimentes nur für ganz gewisse<br />

Typen von Forschungsprogrammen. Theo Herrmann („Die Psychologie<br />

<strong>und</strong> ihre Forschungsprogramme". Göttingen: Hogrefe, 1976) definiert<br />

solche Typen, weil er Psychologe ist, anhand psychologischer Forschung.<br />

Wir verbleiben im deduktiven Erklärungsmodell; wer ein induktives<br />

Erklärungsmodell — logisch <strong>und</strong>/oder sonst wie — für realisierbar hält,<br />

mag widersprechen.<br />

Es handelt sich um Idealtypen. Erstens, ein Forscher verfolge die Aufgabe,<br />

eine Theorie empirisch auf ihren Erklärungsanspruch, auf ihre Erklärungskraft<br />

in einem mit ihr definierten empirischen Geltungsbereich zu<br />

prüfen. Dieser oder diese empirischen Forscher werden die konkreten Explananda,<br />

so extrem wie forschungspraktisch machbar, streuen: Ein Ex-<br />

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planans für beliebig viele Explananda! Oder: Aus einer Theorie lassen sich<br />

beliebig viele Hypothesen folgern. Anders ausgedrückt: Diese Forscher haben<br />

das Forschungsziel, eine Theorie empirisch auf ihre realwissenschaftliche<br />

Geltung zu prüfen. Sie forschen theorieorientiert. Diese Strategie schließt<br />

nicht aus, daß es diesen Forschern als Nebenergebnis zufällt, dann <strong>und</strong><br />

wann einen konkreten, problematischen Sachverhalt aufzuklären. Zweitens,<br />

ein Forscher verfolge die Aufgabe, einen problematischen = unerklärten<br />

Sachverhalt oder eine (raumzeitliche) Serie derartiger Sachverhalte aufzuklären!<br />

So viele Explanantien wie nötig für ein Explanandum!<br />

Der zweite Typ von Forschungsprogrammen ist etwas genauer zu betrachten.<br />

Klassen problematischer Sachverhalte bestehen meistens aus einer<br />

Schar konkreter, operational zu definierender Explananda. Diese streuen in<br />

Zeit <strong>und</strong> Raum. Ein Ereignis (Vorgang/Objekt), das zum Zeitpunkt t-^ Explanandum<br />

war, mag zum Zeitpunkt t2 (an demselben räumlichen Ort)<br />

konkreter Anteil eines Explanans sein. Im Verlaufe der Zeit <strong>und</strong>/oder des<br />

Raumes, also: im Verlaufe der raum/zeitlichen Änderungen, mögen aus<br />

konkreten Anteilen von Explanantien Explananda werden; aus Explananda<br />

mögen konkrete Anteile von Explanantien werden. Neue „states of the<br />

world" mögen auftreten. 'Historische Kausalität' fragt, wie konkrete Anteile<br />

eines Explanans im Laufe der Zeit entstanden sind, 'ursprünglich' als<br />

Explananda! 'Systematische Kausalität' fragt, warum eine räumlich punktuell<br />

bestehende Konstellation konkreter Anteile eines Explanans ein Explanandum<br />

zur Folge haben kann. Ein Ereignis, das an dem einen Ort in Zeit<br />

<strong>und</strong> Raum mit einer Folgerung aus der Theorie A als Explanandum behandelt<br />

wurde, mag an dem nächsten Ort in Zeit <strong>und</strong> Raum gemäß Folgerung aus<br />

der Theorie B als konkreter Anteil eines Explanans behandelt werden.<br />

Die raum/zeitliche Folge für einen einzigen problematischen Sachverhalt<br />

mag eine 'pluralistische' Anwendung von Theorien fordern. Wer nicht<br />

begreift, daß sich ein problematischer Sachverhalt über Zeit <strong>und</strong> Raum erstreckt,<br />

sucht entweder Deutungsmuster aus großen Theorienperspektiven.<br />

Oder er bedient sich statistischer Verfahrensweisen, völlig theorien- <strong>und</strong><br />

somit vorurteilsfrei, um Tatsachen „für sich sprechen" zu lassen. Die empirischen<br />

Fakten <strong>und</strong> ihre Assoziationen sollen im Kausalmodell selbst entscheiden,<br />

wer das Explanans, wer der 'Moderator' <strong>und</strong> wer das Explanandum<br />

sei. Die statistische Datenverarbeitung gebiert die Auswahl eines Modelles<br />

gegen andere Modelle.<br />

Bevor entschieden werden kann, ob sich die Methode des Experimentes<br />

für beide Typen von Forschungsprogrammen: (1) theorie-orientierte Forschung<br />

(Herrmann, 1976: „quasiparadigmatische" Forschung), (2) problemorientierte<br />

Forschung (Herrmann, 1976: ,,Domain"-Forschung), oder nur<br />

für einen oder gar keinen dieser Programmtypen in empirischer Sozialforschung<br />

eignet, bedarf es einer Skizzierung der experimentellen versus 'korrelativen'<br />

Untersuchungspläne.<br />

Der 'Ideal'-Typ des Nicht-Experimentes ist die „one-shot case study"<br />

(Campbell & Stanley, 1966). Ein Ereignis trifft ein, z.B. als Aufhebung ei-<br />

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nes Ruhezustandes; ein zweites Ereignis trifft ebenso an diesem Ort in Raum<br />

<strong>und</strong> Zeit ein. Nur diese beiden Ereignisse werden als problematischer Sachverhalt<br />

registriert; ob das eine dem anderen als Antezedens vorausging oder<br />

ob es Konsequenz des anderen ist, darüber kann nur spekuliert werden, als<br />

auch darüber, welche dritten Ereignisse zu dieser Konstellation der beiden<br />

Ereignisse führten. Just im Augenblick des großen „blackout" vor einigen<br />

Jahren in New York City schloß dort eine Hausfrau ihr Bügeleisen mit geknickter,<br />

defekter Zuleitungsschnur an. Oft kritisiert von ihrem Mann, die<br />

Bügeleisenzuleitung reparieren zu lassen, schloß sie mit erdrückenden Schuldgefühlen,<br />

sie habe den „blackout" verursacht. Oder: Thalidomid sei der<br />

Verursacher einer zirkumskripten Form organischer Mißbildungen. Bis zur<br />

St<strong>und</strong>e ist es empirisch nicht gelungen oder auch nur versucht worden, eine<br />

Hypothese zu widerlegen, daß Thalidomid, z.B. als Contergan, eingenommen<br />

von Frühschwangeren, die Abstoßung mit mißbildenden Zellteilungen<br />

<strong>und</strong> Organe-Organisationen behafteten Föten aufhält. Thalidomid könnte<br />

'segensreich' wirken, wenn es keine Noxe ist, sondern Abstoßungen körperfremder<br />

Implantationen verhindert. Die Umfrage-Untersuchungen zur Wirkungsweise<br />

von Contergan waren ausschließlich korrelative Summierungen<br />

von „one-shot case studies"; man verließ sich auf statistische Signifikanzen,<br />

als könnten statistische Tests das Denken <strong>und</strong> die Entscheidungen zwischen<br />

Theorien ersetzen. Noch schlimmer ist die Naivität empirischer Sozialforschung<br />

in korrelativen Feldstudien via Umfragen, wenn man zusätzlich beachtet,<br />

daß die raumzeitliche Sequenz der Ereignisse anhand des Langzeitgedächtnisses<br />

der Interviewten rekonstruiert wird. Diese Reproduktionen<br />

des Sachverhaltes aus Gedächtnissen sind nicht die ursprüngliche Sequenz<br />

von Ereignissen in Raum <strong>und</strong> Zeit. Die Reproduktionen finden an dem besonderen<br />

raumzeitlichen Ort des Interviews statt: In diesem — 'angezapften'<br />

— kognitiven Feld können längst Ereignisse, die später vonstatten gingen,<br />

die Erinnerungen an frühere Ereignisse rekonstruiert haben: Das Langzeitgedächtnis<br />

ist nicht ein ruhendes Archiv von Akten, dem dann <strong>und</strong><br />

wann wohlgeordnet neue Akten summativ zugefügt werden. Die Panel-Methode<br />

ändert an der methodischen Fragwürdigkeit nichts. Die Panel-Mortalität<br />

ist nicht das eigentliche Problem. Das Problem ist, daß man kognitive<br />

Repräsentationen von außer- <strong>und</strong> inner-personalen Ereignissen als korrekte<br />

Spiegelbilder dieser Ereignisse ansieht. Das Interview, soweit es ausschließlich<br />

über kognitive Repräsentationen (wie reliabel <strong>und</strong>/oder valide<br />

sind die Meßinstrumente, welche theoretischen Variablen operationalisieren<br />

sie?) problematische Sachverhalte zu rekonstruieren sucht, ist kein<br />

Königsweg empirischer Sozialforschung, noch dazu gepaart mit dem Untersuchungsplan<br />

der (repetierten) „one-shot case study". Sicherlich bestimmt<br />

das Sein das Bewußtsein, aber das Bewußtsein spiegelt nicht das Sein, nicht<br />

einmal seitenverkehrt. Das außerpsychische Sein ist empirisch wahr, <strong>und</strong><br />

das Bewußtsein, das andere innerpsychische Sein, ist empirisch wahr. Ihre<br />

Beziehungen zueinander sind mehr oder minder veridikal. Die „one-shot<br />

case study" ist, unter bestimmten Voraussetzungen, in den Wissenschaften<br />

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der 'unbelebten' Natur ein akzeptabler Untersuchungsplan. In den Verhaltens-<br />

<strong>und</strong> Sozialwissenschaften ist er nur geeignet — aber viel zu aufwendig<br />

für diesen Zweck —, um Hypothesen zu generieren.<br />

Er generiert z.B. die Hypothese der Hausfrau in New York. Aber er liefert<br />

keine empirische Evidenz, auch wenn einer Zufallsstichprobe von New<br />

Yorker Hausfrauen ähnliches an nahen Orten in Raum <strong>und</strong> Zeit passiert<br />

sein sollte. Die empirische Masse macht nicht die empirische Evidenz. Was<br />

hilft es weiter, wenn ein von Null statistisch signifikant abweichender Anteil<br />

in einer Zufallsstichprobe von erwachsenen New Yorkern bek<strong>und</strong>et,<br />

soweit dieser Anteil weiblichen Geschlechtes ist <strong>und</strong> aus Nur-Hausfrauen<br />

besteht, daß Benutzung eines fehlerhaften elektrischen Haushaltsgerätes<br />

zum „blackout" geführt habe? Vielleicht erfährt man etwas über ein Vorurteil<br />

New Yorker Hausfrauen, ohne dieses empirisch als solches belegen zu<br />

können. Man sagt, daß diese Frauen vorurteilig sind, <strong>und</strong> schränkt ihre Menge<br />

per weiterer Randbedingungen ein, unter denen man die Menge der<br />

Hausfrauen mit solchen Vorurteilen maximiert. Gewinnt man Erkenntnis,<br />

wenn man Randbedingungen kennt, unter denen die Korrelationen von<br />

konkreten Anteilen des Explanans von vom Explanandum besonders hoch<br />

ausfallen?<br />

Dieser Untersuchungsplan gehört dem Sachverhalt des Entdeckungszusammenhanges<br />

von Theorien an, nicht dem Geltungszusammenhang von<br />

Theorien.<br />

Man kann die „one-shot case study" zum „one-group pretest posttest<br />

design" erweitern. Das ist die kürzeste Form der Panelstudie, hier via Interviews.<br />

Zum Zeitpunkt t j an einem konstanten Ort im Raum messe man das<br />

Explanandum. Sobald eine qualitative <strong>und</strong>/oder quantitative Änderung der<br />

konkreten Anteile des potentiellen Explanans zum Zeitpunkt t


noch gar keine alternative Erklärung ausgeschlossen, gemäß der X nicht Anteil<br />

eines Explanans für das Explanandum Y ist. Wir sind bei einer Felduntersuchung<br />

angelangt, in der n Variablen in einer Zufallsstichprobe registriert<br />

werden. Man müßte eine Theorie haben, die Beziehungen zwischen allen<br />

diesen empirischen Variablen zeitlich an einem Ort <strong>und</strong> räumlich an verschiedenen<br />

Orten erklären kann, <strong>und</strong> man könnte dennoch nicht alternative<br />

Erklärungen ausschließen. Eine Panel-Studie besteht aus Wiederholungen einer<br />

„multiple static-group comparison"; aus solchen Repetitionen entsteht<br />

kein Quasi-Experiment, geschweige denn ein Experiment.<br />

In einem Experiment, ob im Labor oder im Feld, wird der konkrete Anteil<br />

des Explanans hergestellt <strong>und</strong> planmäßig, der Hypothese folgend, variiert,<br />

<strong>und</strong> konkrete Randbedingungen werden konstant gehalten <strong>und</strong>/oder<br />

zufallig variiert. Übrigens liegt psychologische, besonders sozialpsychologische,<br />

experimentelle Forschung im Argen, wenn sie einerseits inner-personale<br />

Merkmale variiert, indem Versuchspersonen per Zufall den Bedingungs-<br />

Variationen eines Experimentes zugeordnet werden (Fehlervarianz), wenn<br />

sie aber andererseits ökologische Bedingungen konstant hält, ohne dieses<br />

durch die im Explanans enthaltene Hypothese begründen zu können.<br />

Der Typ der Forschungsprogramme, gemäß dem theorieorientierte<br />

(„quasiparadigmatische") Forschung betrieben wird, verlangt fast ohne<br />

Ausnahme nach der Methode des Experimentes. (Eine Ausnahme kann<br />

die Computer-Simulation eines Experimentes sein.) Noch einmal: Aus<br />

einer nomologischen Theorie können beliebig viele Hypothesen abgeleitet<br />

werden. Im Prinzip lassen sich Hypothesen folgern, für die die von ihnen<br />

geforderten Variationen konkreter Anfangsbedingungen als Teil des<br />

Explanans hergestellt <strong>und</strong> systematisch variiert werden können. Im Prinzip<br />

ist jede empirische Prüfung der Erklärungskraft einer Theorie dem Experiment<br />

zugänglich, einer soziologischen Theorie ebenso wie einer psychologischen<br />

Theorie. Man muß sich nur über eines klar sein: Der Aufwand für<br />

multifaktorielle Experimente mit mehr als einer unabhängigen <strong>und</strong> mehr als<br />

einer abhängigen Variablen ist ganz sicher in den Sozialwissenschaften höher<br />

als in den Verhaltenswissenschaften. Hinzu tritt der Aufwand der<br />

nicht mehr intuitiven, 'know-how'-Operationalisierungen der Meßinstrumente:<br />

Es ist das Risiko zu vermindern, daß eine empirische Untersuchung,<br />

statt die Theorie zu falsifizieren, die Korrespondenzregeln <strong>und</strong> folgend die<br />

Operationalisierungen als nicht valide <strong>und</strong>/oder nicht reliabel falsifizieren<br />

kann. Verhaltens- <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche Forschung vom Typ: 'Suche<br />

für ein konstantes Explanans variierende Explananda' ist wesentlich teurer,<br />

wenn sie experimentell statt gemäß „multiple static-group comparison" betrieben<br />

wird. Sie wird sich dem finanziellen Aufwand naturwissenschaftlicher<br />

<strong>und</strong> ingenieurtechnologischer Forschung annähern <strong>und</strong> ihn nicht selten<br />

übertreffen. Der 'Königsweg' empirischer Sozialforschung durch Interviews<br />

oder die korrelative Felderhebung ist billig, aber nicht deshalb auch<br />

nur angemessen, geschweige denn königlich. Das Vakuum von z.B. soziologischen,<br />

politikwissenschaftlichen <strong>und</strong> ökonomischen Experimenten könnte<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


indizieren, daß es in diesen Wissenschaften so gut wie keine Forschung dieses<br />

Types gibt. Wenn dem so ist, womit bestreiten dann Sozialwissenschaften<br />

ihren theoretischen Fortschritt? Werden in diesem Zusammenhang vielleicht<br />

klassische Theorien ohne Modifikation kraft empirischer Falsifikationen<br />

weiterhin gelehrt? Ist die theoretische Soziologie nichts anderes als Soziologiegeschichte?<br />

Oder sind soziologische Theorien nichts als Deutungsmuster,<br />

die ad libitum feilgehalten <strong>und</strong> für jede Immunisierung gegen jegliche<br />

empirische Falsifikation benutzt werden? Gibt es gar keine soziologischen<br />

Theorien, um derentwillen es sich lohnt, 'quasi-paradigmatische' Forschungsprogramme<br />

zu betreiben? Es ist hier nicht der Ort um vorzuführen,<br />

in welch erschreckendem Maße Reduktionisten — von Soziologie auf Psychologie<br />

— psychologische Theorien verballhornen, <strong>und</strong> das im „scientific<br />

lag" von ein bis drei Jahrzehnten, ob Theorien von Bandura, Festinger,<br />

Piaget, Skinner oder wem sonst, von Freud ganz zu schweigen.<br />

Wie steht es mit der problem-orientierten oder 'Domain'-Forschung?<br />

Eine Klasse mehrdimensional definierter problematischer Sachverhalte ist<br />

nur derart als Problem zu lösen (auch: aufzuklären), indem konkrete, 'singulare'<br />

Anteile als Explananda erklärt werden können. Diese Problemlösungsversuche<br />

richten sich auf problematische Sachverhalte, ob in der Natur<br />

<strong>und</strong>/oder in der Zivilisation, nicht auf Sachverhalte, die in einer partiell<br />

neuen Welt = Laboratorium hergestellt werden können. Zunahmen von<br />

Drogenkonsum, von verfassungsrechtlich fragwürdigen Gesetzen u.s.f. sind<br />

solche Klassen problematischer Sachverhalte. Diese mögen gar unbrauchbar<br />

indiziert sein; die konkreten Diagnosen/Prognosen sind empirisch unwahr<br />

<strong>und</strong>/oder logisch falsch. Soweit singulare Fälle, die unter eine Klasse problematischer<br />

Sachverhalte subsumiert werden können, nicht in einem Laboratorium<br />

simuliert werden können — <strong>und</strong> wann <strong>und</strong> wo ist dieses schon<br />

möglich? —, können sie nur in situ studiert werden. Puristen des Experimentierens<br />

verdrängen, daß weder die Astronomie noch die Metereologie<br />

(nicht einmal die „Astro-Physik") ihre Forschung dominant experimentell<br />

betreiben. Für einen Protagonisten experimenteller Forschungsmethodik,<br />

der soviel Feld- wie Laborforschung <strong>und</strong> soviel korrelative wie experimentelle<br />

Forschung betrieben hat, ist nur diese eine Strategie essentiell: So sehr<br />

artifizielles, von Artefakten bedrohtes Experimentieren indiziert <strong>und</strong> folglich<br />

eliminiert werden muß (meistens handelt es sich um theoriefreie ad<br />

hoc-Prüfungen einer sehr engen Idee, deren Ergebnisse sodann so induktiv<br />

wie hemmungslos generalisiert werden), so sehr sollten in der Feldforschung<br />

quasi-experimentelle Untersuchungspläne angestrebt werden. Sehr selten,<br />

aber immerhin sind Variationen von Versuchsbedingungen in der Natur<br />

<strong>und</strong> Zivilisation vorzufinden, die der empirische Forscher anderenfalls hätte<br />

im Labor herstellen müssen. Quasi-experimentelle Versuchspläne gemäß derer<br />

entweder nicht die Anfangsbedingungen hergestellt werden können <strong>und</strong><br />

deshalb abgewartet bzw. aufgesucht werden müssen oder gemäß derer die<br />

Zuteilung der sozialen Einheiten (minimal: Personen) zu der einen oder anderen<br />

Versuchsbedingung nicht durchgesetzt werden kann, sind Annäherun-<br />

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gen, die nahezu so viele alternative Hypothesen/Erklärungsansprüche wie<br />

Experimente selbst ausschalten können.<br />

Eine Klasse problematischer empirischer Sachverhalte kann zwar aufgeklärt,<br />

aber im eigentlichen Sinne des Wortes nicht erklärt werden. Es ist<br />

keineswegs viel einfacher, einen einzelnen, konkreten problematischen<br />

Sachverhalt zu erklären, besser: die bevorzugte Erklärung durch Prüfung<br />

dem Scheitern auszusetzen. Es sei noch einmal daran erinnert, daß solche<br />

problematischen Sachverhalte sich derart in Raum <strong>und</strong> Zeit erstrecken, daß<br />

aus Folgen an einem raumzeitlichen Ort Anfangsbedingungen an einem anderen<br />

Ort werden, daß zur Erklärung dieses einen Sachverhaltes oft nicht<br />

nur eine Summe von Theorien, sondern ein Geflecht aufeinander beziehbarer<br />

Theorien erforderlich ist.<br />

Sozial- (ebenso Verhaltens-) technologische Forschung ist problemorientierter<br />

Forschung insofern sehr nahe, als der Entwurf <strong>und</strong> die Planung von<br />

Programmen, von Interventionen multitheoretischer Anwendungen bedarf.<br />

Es mag hier dahingestellt sein, ob solche Verflechtungen wissenschaftlicher<br />

(nomologischer) Theorien schon je eine technologische Theorie sind; genaugenommen<br />

machen technologische Theorien präskriptive Aussagen. Sozialtechnologische<br />

Forschung ist theorienorientierter Forschung insofern sehr<br />

nahe, als sie empirische Prüfungen von Hypothesen erfordert, um technische<br />

Pläne dem Scheitern aussetzen zu können, bevor sie „ernsthaft" realisiert<br />

<strong>und</strong> praktiziert werden. Erbringt die Sozialtechnik als Instrument zur<br />

Erreichung von Zielen die prognostizierten Konsequenzen; folgen unerwartete,<br />

ob wünschbare <strong>und</strong>/oder unerwünschte Konsequenzen?<br />

Meine bange Frage ist diese: Wie lange können wir es uns noch leisten,<br />

Sozial- (Verhaltens-, Politik-, Wirtschafts-, Rechts-) Techniken im Versuch<strong>und</strong><br />

Irrtumverfahren dort zu erproben, wo wir nur positive Konsequenzen<br />

maximieren <strong>und</strong> negative Konsequenzen minimieren dürfen, dort, wo wir<br />

sie praktizieren? Sozial-Techniken haben eines mit Ingenieur-Techniken ge- ,<br />

meinsam, <strong>und</strong> sollte es nur dieses eine sein, daß sie — experimentell — auf<br />

Prüfständen simuliert werden müssen. Man fliegt nicht auf Verdacht zum<br />

Mond. Risiko-Minimierung, nicht nur in der ingenieur-technischen Zivilisation,<br />

wird durch korrelative Evaluationsforschung, auch „Begleitforschung"<br />

(Nomen est omen!) genannt, nicht erreicht: Die Methoden dieser Forschung<br />

führen zu arbiträren Ergebnissen.<br />

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FRAGEN DER ERKLÄRUNG UND PROGNOSE IN QUALITATIVEN<br />

UNTERSUCHUNGEN. DARGESTELLT AM BEISPIEL DER<br />

„ARBEITSLOSEN VON MARIENTHAL".<br />

Christel Hopf<br />

1. Problemstellung <strong>und</strong> methodische Vorbemerkungen<br />

Fragen der Erklärung <strong>und</strong> Prognose sind in dem Bereich der Sozialforschung,<br />

in dem überwiegend mit Hilfe offener Verfahren der Erhebung <strong>und</strong> Interpretation<br />

von Daten gearbeitet wird, unterschiedlich diskutiert worden. Es<br />

gibt Positionen, in deren Rahmen der Anspruch, Erklärungen <strong>und</strong> Prognosen<br />

zu erarbeiten, explizit zurückgewiesen wird <strong>und</strong> die Auseinandersetzung<br />

mit spezifischen Gegenstandsbereichen primär als verstehende <strong>und</strong> interpretierende<br />

Beschreibung gekennzeichnet wird. Eine in letzter Zeit in der Soziologie<br />

rasch rezipierte Darlegung dieser Position enthält Clifford Geertz'<br />

(1983) Aufsatzsammlung zu Fragen ethnographischer Forschung , in der<br />

1<br />

die Aufgaben der Kulturanalyse unter dem Schlüsselbegriff der „thick<br />

description" oder „dichten Beschreibung" abgehandelt werden, wobei der<br />

auf Gilbert Ryle zurückgehende Begriff der „dichten Beschreibung" sich<br />

auf die verstehende <strong>und</strong> deutende Beschreibung der Gegenstände unserer<br />

sinnlichen Wahrnehmung bezieht (vgl. Geertz, 1983, S. 10 ff.).<br />

Für andere Autoren ist hingegen der Anspruch, auch im Rahmen qualitativer<br />

Forschung Erklärungen <strong>und</strong> Prognosen zu erarbeiten, so selbstverständlich,<br />

daß er kaum kommentiert wird. Zu ihnen gehören eine Reihe<br />

von Soziologen der Chicagoer Schule. So beschreibt Howard Becker die<br />

Erarbeitung von Prognosen geradezu als definierendes Merkmal wissenschaftlicher<br />

Tätigkeit in der Soziologie (vgl. 1972, S. 219 ff.) <strong>und</strong> ähnlich halten<br />

Glaser <strong>und</strong> Strauss in ihrer Konzeption einer hypothesen- <strong>und</strong> theoriebildenden<br />

Forschung die Entwicklung von Erklärungen <strong>und</strong> Prognosen für einen<br />

zentralen Bestandteil qualitativer Forschung (vgl. 1968, S. 3 ff., oder<br />

1974, S. 246 ff.).<br />

Man könnte geneigt sein, in diesen Unterschieden eine Neuauflage der<br />

Debatte über Erklären <strong>und</strong> Verstehen in den Geschichts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften<br />

zu sehen. Dies ist jedoch nicht der Fall. Denn wenn man davon<br />

ausgeht, daß zu den zentralen Fragen der Erklären vs. Verstehen-Debatte<br />

gehören:<br />

1. die Frage nach der Relevanz deduktiv-nomologischer Erklärungen<br />

<strong>und</strong><br />

2. die Frage nach der Relevanz von Erklärungen, in denen nach Handlungsintentionen,<br />

Situationsdeutungen <strong>und</strong> Vorstellungen über Zweck-<br />

Mittel-Relationen gefragt wird, die man auch als verstehende oder „ra-<br />

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tionale Erklärungen" im Sinne Drays (1966, S. 118 ff.; 1975) bezeichnen<br />

kann 2 ,<br />

dann wird man feststellen, daß die erwähnten Autoren sich nicht ohne weiteres<br />

der einen oder anderen Seite zuordnen lassen. So orientieren sich auch<br />

jene Autoren, die für sich in Anspruch nehmen, Erklärungen zu erarbeiten,<br />

gleichwohl an der Konzeption einer verstehenden Soziologie <strong>und</strong> haben zudem<br />

mit deduktiv-nomologischen Erklärungen im strikten Sinne, nach dem<br />

die Explananda in Kausalerklärungen aus allgemeinen Gesetzen <strong>und</strong> Antezedensbedingungen<br />

logisch abzuleiten seien, wenig zu tun — weder auf der<br />

Ebene faktisch abgegebener Erklärungen noch auf programmatischer Ebene.<br />

Umgekehrt ist es nicht schwer nachzuweisen, daß auch solche Autoren,<br />

die von der Konzeption einer verstehenden <strong>und</strong> deutenden Beschreibung<br />

ausgehen, an Erklärungen interessiert sind. Wenn beispielsweise Clifford<br />

Geertz schreibt: „Unsere Aufgabe ist eine doppelte: Sie besteht darin, Vorstellungsstrukturen,<br />

die die Handlungen unserer Subjekte bestimmen ... aufzudecken<br />

<strong>und</strong> zum anderen ein analytisches Begriffssystem zu entwickeln,<br />

das geeignet ist, die typischen Eigenschaften dieser Strukturen ... gegenüber<br />

anderen Determinanten menschlichen Verhaltens herauszustellen" (1983,<br />

S. 39), dann werden hier deutlich Erklärungsinteressen artikuliert. Es geht<br />

darum, „Vorstellungsstrukturen" als „Determinanten menschlichen Verhaltens"<br />

im Vergleich zu anderen Determinanten zu analysieren.<br />

Es ist offenbar wichtig zu explizieren, was man meint, wenn man für<br />

oder gegen Erklärungen <strong>und</strong> Prognosen oder für oder gegen Kausalerklärungen<br />

in der Soziologie oder in der ethnographischen Forschung Stellung<br />

nimmt. Insbesondere: Was für Erklärungsbegriffe spielen eine Rolle, wenn<br />

nicht der deduktiv-nomologische? Ist es die Draysche Konzeption der „rationalen<br />

Erklärung" einzelner Handlungen, die eine enge Beziehung zu dem<br />

hat, was bei Max Weber mit Handlungs- <strong>und</strong> Motiv-Verstehen gemeint ist?<br />

Oder spielen andere Erklärungskonzepte eine Rolle: zum Beispiel ein weich<br />

gefaßtes Konzept der induktiv-probabilistischen Erklärung, wie es von Hempel<br />

als durchaus typisch für die Geschichtswissenschaft beschrieben wird<br />

(vgl. hierzu auch Donagan, 1975, S. 82 f.). In diesem Fall würden in die Erklärungen<br />

nicht allgemeine Gesetzesaussagen eingehen, sondern Verallgemeinerungen,<br />

die „ausgeprägte Tendenzen zum Ausdruck bringen, die man<br />

als überschlägige Wahrscheinlichkeitsaussagen formulieren kann" (Hempel,<br />

1972, S. 248; vgl. entsprechend Hempel, 1942, S. 41 f.).<br />

Oder spielen schließlich in qualitativen Untersuchungen Erklärungen<br />

eine Rolle, die sich Max Webers Auffassung von Kausalerklärungen in der<br />

Soziologie annähern? In diesem Fall würde es in qualitativen Studien um<br />

einen Kompromiß zwischen verstehenden <strong>und</strong> induktiv-probabilistischen<br />

Erklärungen gehen: Denn als „richtige kausale Deutung typischen Handelns"<br />

wird in den „Soziologischen Gr<strong>und</strong>begriffen" die Deutung beschrieben, in<br />

der sowohl Aussagen über mehr oder minder präzise formulierte statistische<br />

Zusammenhänge enthalten sind als auch Aussagen zur Verständlichkeit<br />

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(„Sinnadäquanz") dieser Zusammenhänge (Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, I,<br />

S. 9; vgl. entsprechend auch Weber, 1973, S. 427 ff.). Selbst die überzeugendste<br />

Feststellung der Sinnadäquanz des als typisch behaupteten Vorgangs<br />

führt nach Max Weber nur in dem Maß zu einer „richtige(n) kausale(n) Aussage,<br />

als der Beweis für das Bestehen einer (irgendwie angebbaren) Chance<br />

erbracht wird, daß das Handeln den sinnadäquat erscheinenden Verlauf<br />

tatsächlich mit angebbarer Häufigkeit oder Annäherung (durchschnittlich<br />

oder im 'reinen' Fall) zu nehmen pflegt." (Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, I,<br />

S. 9).<br />

Welche der hier vorgestellten Erklärungskonzeptionen in qualitativen<br />

Untersuchungen besonders wichtig sind, ist vorab schwer zu entscheiden.<br />

Nach der Relevanz zu urteilen, die der Verstehensbegriff in der qualitativen<br />

Sozialforschung im allgemeinen hat, könnte man meinen, daß es hier primär<br />

um Erklärungen nach dem Typus rationaler oder verstehender Erklärungen<br />

geht. Dies ist ein Eindruck, der beispielsweise auch in Wilsons (1973)<br />

Unterscheidung zwischen „normativen" <strong>und</strong> „interpretativen" Erklärungskonzeptionen<br />

in der Soziologie nahegelegt wird. Auf der anderen Seite werden<br />

in qualitativen Untersuchungen auch Generalisierungen formuliert <strong>und</strong><br />

es wird nach Regelmäßigkeiten in den Beziehungen zwischen unterschiedlichen<br />

Faktoren gefragt. Dies spräche dafür, daß in qualitativen Untersuchungen<br />

nicht nur intentionsbezogene, rationale Erklärungen, sondern auch<br />

andere Varianten eine Rolle spielen. Welche dies sind <strong>und</strong> wie sie im Kontext<br />

qualitativer Untersuchungen begründet werden, soll Gegenstand der<br />

folgenden Abschnitte sein.<br />

Ich versuche, mich dabei auf eine konkrete Untersuchung zu beziehen,<br />

nämlich auf die 1931/32 von Jahoda, Lazarsfeld, Zeisel <strong>und</strong> anderen durchgeführte<br />

Untersuchung „Die Arbeitslosen von Marienthal" . Bei Marienthal<br />

handelt es sich um einen Ort in der Nähe Wiens (vgl. zur Geschichte<br />

3<br />

dieses Ortes auch Fre<strong>und</strong>, 1983), in dem 1929 die für die Bewohner zentrale<br />

Textilfabrik ihre Produktion einstellte. Zum Zeitpunkt der Erhebung —<br />

Ende 1931, Anfang 1932 — waren mehr als drei Viertel der 478 Familien<br />

des Ortes von Arbeitslosigkeit betroffen <strong>und</strong> die Autoren versuchen in der<br />

Untersuchung, nach den psychischen <strong>und</strong> sozialen Folgen der Arbeitslosigkeit<br />

zu fragen.<br />

Als Beispiel einer qualitativen Untersuchung, an der man Fragen der Erklärung<br />

<strong>und</strong> Prognose — letztere werden in diesem Referat allerdings nur<br />

am Rande <strong>und</strong> in dem eingeschränkten Sinn der mit generalisierenden Hypothesen<br />

verb<strong>und</strong>enen Aussagen behandelt — erörtern kann, ist die Marienthal-Studie<br />

aus verschiedenen Gründen geeignet:<br />

— Sie gilt erstens allgemein als sehr gute, ja vorbildliche Untersuchung.<br />

— Sie repräsentiert zweitens in der Vielfältigkeit des methodischen Zugangs,<br />

bei dem neben offenen Interviews — in diesem Fall biographischen<br />

Interviews — Beobachtungen, Dokumentenanalysen, Expertengespräche<br />

unterschiedlicher Natur u.a.m. eine Rolle spielen, einen Typus<br />

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von Forschung, für den sich in der amerikanischen Methodenliteratur<br />

der Begriff der „teilnehmenden Beobachtung" eingebürgert hat <strong>und</strong> der<br />

von vielen Autoren geradezu als Prototyp qualitativer Forschung angesehen<br />

wird. 4<br />

— Und sie verfolgt schließlich drittens neben dem Interesse an einer verstehenden<br />

Beschreibung — die Autoren sprechen von dem „Sicheinleben<br />

in die Situation" als relevanter Anforderung (Jahoda u.a., 1975, S.<br />

24) — deutlich auch das Interesse an Erklärungen, <strong>und</strong> zwar kausalen<br />

Erklärungen, wie dies bereits aus dem Untertitel der 1933 zuerst veröffentlichten<br />

Studie hervorgeht: Es wird nach den „Wirkungen langandauernder<br />

Arbeitslosigkeit" gefragt. Da Erklärungsansprüche also direkt<br />

erhoben werden, ist die Untersuchung geeignet, im Rahmen einer genaueren<br />

Analyse empirischer <strong>und</strong> theoretischer Argumentationen zu<br />

fragen, wie denn die Autoren vorgehen, wenn sie sich nicht nur beschreibend<br />

<strong>und</strong> deutend, sondern auch erklärend <strong>und</strong> prognostizierend mit<br />

sozialer Realität auseinandersetzen.<br />

2. Was soll erklärt werden?<br />

Wenn man von einigen klar als Einzelfallstudien ausgewiesenen Untersuchungen<br />

(vgl. als Beispiel Hildenbrand, 1983) absieht, dann wird man für<br />

den Typus der mit dem Begriff der teilnehmenden Beobachtung bezeichneten<br />

Studien sagen können, daß es sich bei den Phänomenen, die Gegenstand<br />

von Erklärungen sind, meist um kollektive Phänomene handelt <strong>und</strong> nicht<br />

um singulare Ereignisse oder Handlungen (vgl. hierzu auch Hopf, 1982).<br />

Dies gilt auch für die „Arbeitslosen von Marienthal". Auch wenn in dem<br />

Untersuchungsbericht eine Fülle einzelner Beobachtungen, einzelner Äußerungen<br />

von Befragten, Textstellen aus Schüleraufsätzen u.a. wiedergegeben<br />

sind, so ist das Ziel der deskriptiven Analyse doch die Erarbeitung von generellen<br />

Aussagen über die Bewohner Marienthals <strong>und</strong> einzelne Untergruppen.<br />

In der Einleitung heißt es hierzu: „Vor allem ist unser Untersuchungsgegenstand<br />

das arbeitslose Dorf <strong>und</strong> nicht der einzelne Arbeitslose. Alles Charakterologische<br />

ist weggefallen, die ganze Psychopathologie fällt aus, <strong>und</strong><br />

nur dort, wo regelhafte Zusammenhänge von Vergangenheit <strong>und</strong> Gegenwart<br />

angedeutet werden konnten, wird die Frage bis nahe an das individuelle<br />

Schicksal herangeführt." (Jahoda u.a., 1975, S. 25)<br />

Die generellen Aussagen, die im Untersuchungsbericht bei der Zusammenfassung<br />

der Ergebnisse eine Rolle spielen, haben dabei, formal betrachtet,<br />

vor allem die folgenden Eigenheiten: Zum Teil handelt es sich um Aussagen,<br />

in denen ohne nähere Spezifizierung oder mit Hilfe unbestimmter<br />

Häufigkeitsbegriffe — wie: in der Regel, typisch, häufig, mitunter etc. —<br />

über die Bewohner Marienthals gesprochen wird. 5 Zum Teil handelt es sich<br />

um Aussagen, in denen direkt quantifiziert wird. Im Vergleich zu anderen<br />

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qualitativen Studien werden in der Marienthal-Untersuchung sogar relativ<br />

viele Informationen in dieser direkt quantifizierenden Form mitgeteilt, wobei<br />

es zum Anspruch der Autoren gehört, auch „komplexe Erlebnisweisen"<br />

quantitativ zu erfassen (vgl. Lazarsfeld, 1960, S. 14; vgl. entsprechend Zeisel,<br />

1975, S. 137 ff.). Paul Lazarsfeld schreibt hierzu in seinem Vorwort zu<br />

der neuen Auflage von 1960: „Der oft behauptete Widerspruch zwischen<br />

'Statistik' <strong>und</strong> phänomenologischer Reichhaltigkeit war sozusagen vom Anbeginn<br />

unserer Arbeiten 'aufgehoben', weil gerade die Synthese der beiden<br />

Ansatzpunkte uns als die eigentliche Aufgabe erschien." (1975, S. 14)<br />

Ein Beispiel für den Versuch, komplexere Erlebnisweisen quantitativ zu<br />

erfassen, welches zugleich zum inhaltlichen Kern der Studie hinführt, ist<br />

die Übersicht über die sogenannten Haltungstypen (vgl. vor allem Jahoda<br />

u.a., 1975, S. 64 ff.): Hier werden auf der Basis biographischer Interviews,<br />

von Informationen zum Tagesablauf oder zur Haushaltsführung in den Familien<br />

typische Formen des Umgangs mit der Arbeitslosigkeit herausgearbeitet,<br />

an Falldarstellungen erläutert <strong>und</strong> — bezogen auf 100 genauer analysierte Familien<br />

— in ihren quantitativen Relationen dargestellt. Aus zusätzlichen Informationen<br />

über die anderen Familien des Dorfes schließen die Autoren,<br />

daß in Marienthal insgesamt 23 Prozent der Familien als ungebrochen gelten<br />

können, 69 Prozent als resigniert <strong>und</strong> acht Prozent als verzweifelt oder<br />

apathisch (S. 74). Die resignierte Haltung, deren wichtigstes Kennzeichen<br />

der Verlust der Zukunftsperspektive <strong>und</strong> die Aufgabe von Planung ist, wird<br />

demnach als die bestimmende beschrieben, die das Ortsleben nach dem Eindruck<br />

der Autoren sogar noch stärker prägt, als es die Zahlen ausdrücken.<br />

Es dominiert im unmittelbaren Kontakt mit der Bevölkerung der „Eindruck<br />

einer als Ganzes resignierten Gemeinschaft, die zwar die Ordnung der Gegenwart<br />

aufrechterhält, aber die Beziehung zur Zukunft verloren hat" (S.<br />

75). An anderer Stelle reden die Autoren auch von einer „müden Gemeinschaft"<br />

(vgl. S. 55 ff.) <strong>und</strong> sie stellen in der Einleitung „die lähmenden<br />

Wirkungen" der Arbeitslosigkeit in den Vordergr<strong>und</strong> (S. 26).<br />

Über diese „lähmenden Wirkungen" wird im Untersuchungsbericht anhand<br />

einer Vielzahl weiterer Fragen <strong>und</strong> Indikatoren gesprochen. Wichtig<br />

ist dabei vor allem der „Zeitzerfall" (S. 25, S. 83 ff.), der bei arbeitslosen<br />

Männern <strong>und</strong> Frauen unterschiedlich ausgeprägt ist, <strong>und</strong> das geringe Niveau<br />

von Ansprüchen <strong>und</strong> Aktivitäten (S. 25; S. 55 ff.), das sich im politischen<br />

Bereich ebenso zeigen läßt wie im kulturellen Bereich.<br />

Da es hier primär um eine methodologische Auseinandersetzung mit der<br />

Studie geht, mag dieser knappe Überblick über das, was aus deskriptiver<br />

<strong>und</strong> interpretierender Ebene als relevantes Ergebnis der Arbeitslosigkeit in<br />

der Studie hervorgehoben wird, genügen. Im folgenden ist zu fragen, ob <strong>und</strong><br />

in welcher Weise die Autoren ihre Erklärungsansprüche einlösen <strong>und</strong> ob es<br />

ihnen gelingt, die dem Bericht zugr<strong>und</strong>e liegende kausale Deutung zu belegen.<br />

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3. Wie wird erklärt?<br />

Zunächst ist wichtig festzustellen, daß sich die Autoren bei der Begründung<br />

der Aussage, daß die beschriebenen Phänomene der Resignation <strong>und</strong> der<br />

Lähmung Folge der Arbeitslosigkeit seien, nicht auf vorhandene, wissenschaftlich<br />

f<strong>und</strong>ierte (bzw. induktiv abgesicherte) Generalisierungen stützen<br />

können — ganz zu schweigen von irgendwelchen gesetzesartigen Aussagen<br />

(vgl. zum Verhältnis von Kausalaussage <strong>und</strong> induktiv abgestützten Generalisierungen<br />

Mackie, 1980, S. 29 ff.). Die Diskussionssituation der damaligen<br />

Zeit wird vielmehr von Marie Jahoda wie folgt dargestellt: „Marienthal entstand<br />

zu einer Zeit, in der die öffentliche Debatte über die Konsequenzen<br />

der Massenarbeitslosigkeit scharf geteilt war: Manche hofften — oder fürchteten<br />

—, daß die Situation zur Revolution führen werde; andere behaupteten,<br />

daß die Arbeitslosigkeit den politischen Willen untergraben werde. Es<br />

gab gute Argumente auf beiden Seiten, aber vor unserer Untersuchung wenig<br />

systematische Dokumentation." (1980, S. 140)<br />

Vor dem Hintergr<strong>und</strong> dieser Diskussionssituation kann die Studie beschrieben<br />

werden als eine Untersuchung, in der es<br />

a) um die Überprüfung alternativer Hypothesen zu den Folgen der Arbeitslosigkeit<br />

geht, <strong>und</strong><br />

b) um die Entwicklung generalisierender Hypothesen, die besser als die<br />

damals geläufigen abgesichert sind <strong>und</strong> die — mit aller Vorsicht (vgl.<br />

hierzu die entsprechenden einschränkenden Bemerkungen in Jahoda<br />

u.a., 1975, S. 25 f.; S. 59 f. oder S. 96 f.) — auch prognostisch zu verwenden<br />

sind.<br />

Beides — sowohl die Hypothesenprüfung als auch die Hypothesen<strong>entwicklung</strong><br />

— setzt voraus, daß es den Autoren gelingt, den behaupteten Kausalzusammenhang<br />

zu belegen. D.h. sie müssen belegen, daß es sich bei den beschriebenen<br />

Phänomenen der Resignation <strong>und</strong> der Lähmung tatsächlich um<br />

Folgen der Arbeitslosigkeit handelt <strong>und</strong> nicht um Auswirkungen ganz anderer<br />

Bedingungen (z.B. längerfristig vorhandener kultureller <strong>und</strong> politischer<br />

Traditionen o.a.). 6 An der Art, in der sie dies tun, läßt sich nun zeigen,<br />

daß ihrer Arbeit implizit ein Erklärungskonzept zugr<strong>und</strong>e liegt, welches<br />

der Weberschen Darstellung kausaler Deutungen „typischen Handelns"<br />

(vgl. hierzu Abschnitt 1) am nächsten kommt. Die Autoren gehen erstens<br />

— ebenso wie Max Weber — nicht von einem deterministischen Kausalitätskonzept<br />

aus <strong>und</strong> sie bemühen sich zweitens in der Auseinandersetzung mit<br />

dem „Erlebnis der Arbeitslosigkeit" (Jahoda u.a., 1975, S. 24), das Verhalten<br />

der Marienthaler als verständliche Reaktion auf die Situation zu beschreiben.<br />

Die in Marienthal dominierende resignierte Haltung wird in ihrer Darstellung<br />

zu einem verständlichen Handlungstypus im Weberschen Sinn (vgl. zu diesem<br />

Begriff: Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, I, S. 9).<br />

Im einzelnen können aus der Art <strong>und</strong> Weise, in der die Autoren der Marienthal-Studie<br />

ihre Ergebnisse darstellen, bei der Begründung von kausalen<br />

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Aussagen vor allem die folgenden Formen der Argumentation <strong>und</strong> Beweisführung<br />

herausgearbeitet werden:<br />

1. die vergleichende Analyse von Fällen,<br />

2. die verstehende Deutung,<br />

3. (<strong>und</strong> in einer engen Beziehung zu 2) die Auseinandersetzung mit den<br />

kausalen Deutungen derer, die in die Untersuchung einbezogen sind.<br />

Zu 1: Vergleichende Analyse<br />

Der Vergleich spielt in dem Bericht in verschiedenen Varianten eine Rolle,<br />

wobei für die Unterstützung der kausalen Deutung wohl am wichtigsten der<br />

Vergleich mit dem Ort Marienthal vor Schließung der für den Ort zentralen<br />

Fabrik ist. Auch wenn die Marienthal-Untersuchung keine Längsschnitt-Studie<br />

ist, haben die Autoren durch die Art ihres Forschungszugangs doch die<br />

Möglichkeit, die Vergangenheit des Ortes zu rekonstruieren. Hierzu ziehen<br />

sie schriftliche Quellen ebenso heran wie mündliche Quellen — die biographischen<br />

Interviews, Interviews mit Partei- <strong>und</strong> Vereinsfunktionären, dem<br />

Bibliothekar Marienthals, dem Lehrer etc. Es ergibt sich bei dem Versuch<br />

der historischen Rekonstruktion ein Bild der Vergangenheit, welches der<br />

„einförmigen, bewegungsarmen" (Jahoda u.a., 1975, S. 55) <strong>und</strong> durch Resignation<br />

gekennzeichneten Gegenwart diametral entgegengesetzt ist. Marienthal<br />

war vor Schließung der Fabrik ein kulturell <strong>und</strong> politisch lebendiger<br />

Ort (vgl. S. 55 ff.), von dem die Autoren schreiben, er sei ein „politisch<br />

heißer Boden" gewesen (S. 36). Zum Zeitpunkt der Untersuchung ist hiervon<br />

wenig geblieben. Politische Beteiligung <strong>und</strong> politische Aktivitäten sind<br />

deutlich zurückgegangen (vgl. S. 58 ff.) wie ebenso auch andere Aktivitäten<br />

(vgl. z.B. den Rückgang der Leseaktivitäten <strong>und</strong> der Ausleihzahlen in der<br />

Bibliothek; S. 57 f.).<br />

Eine andere Variante der vergleichenden Analyse, die für die Unterstützung<br />

der kausalen Deutung gleichfalls von Bedeutung ist, <strong>und</strong> die zum festen<br />

Bestandteil der Argumentation in vielen quantitativen Untersuchungen<br />

gehört (vgl. zur Relevanz des Vergleichs für die Hypothesenbildung auf<br />

der Basis qualitativer Studien auch Glaser <strong>und</strong> Strauss, 1968, S. 45 ff.), ist<br />

der Querschnittsvergleich. Es werden in diesem Fall Aufsätze von Kindern,<br />

die in Marienthal leben, mit solchen verglichen, die von Kindern aus Orten<br />

der Umgebung geschrieben wurden, die nicht von Arbeitslosigkeit betroffen<br />

sind (vgl. Jahoda, 1975, S. 75 ff.). An der Analyse dieser Aufsätze läßt<br />

sich zeigen, daß die Marienthaler Kinder in die resignative Gr<strong>und</strong>haltung des<br />

Ortes einbezogen sind <strong>und</strong> sich hierin — im Durchschnitt betrachtet — von<br />

den Kindern der Umgebung unterscheiden.<br />

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Zu 2: Verstehende Deutung<br />

Mindestens ebenso wichtig für die Unterstützung der kausalen Deutung ist<br />

das, was in qualitativen Untersuchungen häufiger mit der Forderung, die<br />

untersuchte Realität „von innen her" zu sehen, bezeichnet wird. Die Autoren<br />

der Marienthal-Studie versuchen dies 7 <strong>und</strong> werden darin durch ihren<br />

offenen Forschungszugang unterstützt. Manche Reaktionen, die von außen<br />

betrachtet als rätselhaft erscheinen mögen, verlieren diesen Charakter, wenn<br />

man sie zusammen mit dem betrachtet, was die Autoren über die Erfahrung<br />

der Arbeitslosigkeit 1931/32 in Marienthal schreiben. Die Draysche rationale<br />

Erklärung, die in ihrer Orientierung an der Perspektive der Handelnden<br />

eine enge Beziehung zu den am Verstehensbegriff orientierten Wissenschaftstraditionen<br />

hat 8 , hat hier ihren Stellenwert. Um nur ein Beispiel zu nennen:<br />

Aus der genaueren Analyse einer Reihe von biographischen Interviews ergibt<br />

sich, daß Zukunftspläne von den befragten Männern <strong>und</strong> Frauen selten<br />

gemacht werden (vgl. Jahoda u.a., 1975, S. 77). Und sofern Pläne erwähnt<br />

werden (meist Pläne zur Abwanderung), handele es sich „eher um beiläufig<br />

ausgesprochene Wünsche als um konkrete Pläne" (ebenda).<br />

Die Autoren interpretieren bzw. erklären: „Die kaum überwindlichen<br />

Schwierigkeiten einer individuellen Besserung der Notlage lassen diese Haltung<br />

verständlich erscheinen." (Ebenda) Vor dem Hintergr<strong>und</strong> der an anderen<br />

Stellen des Buches genauer erläuterten Erfahrungen der Vergeblichkeit<br />

der Bemühungen um einen Arbeitsplatz (vgl. z.B. S. 93 f., S. 70 u.a.) werden<br />

Nicht-Handeln <strong>und</strong> Nicht-Planen also zu einem einleuchtenden Resultat<br />

der Abwägung zwischen Handlungszielen <strong>und</strong> wahrgenommenen Möglichkeiten<br />

der Zielverwirklichung.<br />

Wichtig ist jedoch, sich klar zu machen, daß die verstehende oder „rationale<br />

Erklärung" sich hier nicht auf den Einzelfall bezieht, sondern daß<br />

sie in eine zusammenfassende Betrachtung einer größeren Zahl von Fällen<br />

einbezogen ist. In den Begriffen Max Webers: 'Verstehen' heißt in diesem<br />

Fall „die deutende Erfassung" „des durchschnittlich <strong>und</strong> annäherungsweise<br />

gemeinten" <strong>und</strong> nicht „die deutende Erfassung des im Einzelfall real gemeinten"<br />

(Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, I, S. 7).<br />

Zu 3: Auseinandersetzung mit den kausalen Deutungen derer, die in die<br />

Untersuchung einbezogen sind<br />

Ein Beispiel für das Aufgreifen der Kausalinterpretationen der Untersuchten<br />

findet sich in der Marienthal-Studie im Zusammenhang mit der Darstellung<br />

<strong>und</strong> Interpretation der Veränderung der Lesegewohnheiten (Jahoda<br />

u.a., 1975, S. 57 f.). Bei dem Versuch, verständlich zu machen, warum trotz<br />

der Zunahme an freier Zeit weniger gelesen wird, greifen die Autoren auf die<br />

Selbstdeutungen der Befragten zurück. Als Erklärungen, denen sie häufiger<br />

begegnet seien, werden die folgenden Ausschnitte aus Gesprächen zitiert:<br />

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„Herr S.: 'Meine freie Zeit verbringe ich größtenteils zu Hause. Seit ich arbeitslos bin,<br />

lese ich fast überhaupt nicht mehr. Man hat den Kopf nicht danach.' —<br />

Frau F.: 'Früher habe ich viel gelesen, ich habe die meisten Bücher in der Bibliothek gekannt.<br />

Jetzt lese ich weniger. Mein Gott, man hat jetzt andere Sorgen!'"<br />

Einerseits sind diese Kommentare in den Versuch einer verstehenden oder<br />

rationalen Erklärung der Veränderung der Lesegewohnheiten einbezogen<br />

<strong>und</strong> könnten insofern zusammen mit der Interpretation der Autoren auch<br />

als Beispiel für die unter 2. abgehandelten Versuche der verstehenden Deutung<br />

herangezogen werden. Auf der anderen Seite wird mit dem Aufgreifen<br />

der kausalen Deutungen der Untersuchten jedoch noch ein anderer Akzent<br />

gesetzt. Sie erfüllen im Argumentationszusammenhang der Autoren die<br />

Funktion eines zusätzlichen empirischen Beleges, der die Kausalinterpretation<br />

der Autoren stützt. Diese von den Autoren eher beiläufig <strong>und</strong> nicht<br />

sehr bewußt eingesetzte Variante der induktiven Absicherung von Kausalhypothesen<br />

wird von Mirra Komarovsky in einer qualitativen Studie über<br />

den Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> Familienstruktur (1973<br />

— zuerst 1940) explizit aufgegriffen. Sie beschreibt unter dem Begriff des<br />

„discerning" eine Methode der Überprüfung von Kausalaussagen, die die<br />

Kausalinterpretationen der Befragten ausdrücklich berücksichtigt (vgl.<br />

1973, S. 1<strong>35</strong> ff.; vgl. zur Kommentierung auch die Einleitung Lazarsfelds<br />

<strong>und</strong> ebenfalls Barton <strong>und</strong> Lazarsfeld, 1979, S. 68 f.).<br />

Man kann die empirische Beweiskraft der kausalen Deutungen der Untersuchten<br />

sicher in unterschiedlicher Weise beurteilen. Kaum zu bestreiten<br />

ist meiner Ansicht nach jedoch, daß sie so oder so ein wichtiges sozialwissenschaftliches<br />

Datum sind. Denn auch wenn man den Kausalinterpretationen<br />

der Untersuchten mit ideologiekritischer Skepsis begegnet, bleiben sie<br />

als Teil der Situationsdefinition <strong>und</strong> als Informationshintergr<strong>und</strong>, der in<br />

verstehende oder rationale Handlungserklärungen eingeht, gleichwohl relevant.<br />

Die hier vorgestellten Varianten der Argumentation, mit der die Autoren<br />

der Marienthal-Studie die kausale Deutung der beschriebenen Phänomene<br />

der Resignation <strong>und</strong> Lähmung stützen, vermitteln sicher kein vollständiges<br />

Bild ihrer Argumentation. Trotzdem kann dieser Überblick doch<br />

dazu beitragen, tragende Elemente des zugr<strong>und</strong>eliegenden Erklärungskonzeptes<br />

zu verdeutlichen. Mit der Integration einer verstehenden <strong>und</strong> vergleichenden,<br />

mehr oder minder explizit quantifizierenden Betrachtungsweise<br />

steht die Marienthal-Untersuchung jener Auffassung von Erklärungen in<br />

der Soziologie am nächsten, wie sie von Weber in den „Soziologischen<br />

Gr<strong>und</strong>begriffen" vorgelegt wurde <strong>und</strong> bei der es um die Forderung geht,<br />

die verstehende <strong>und</strong> die statistische Argumentation — gegebenenfalls auch<br />

nur in vorsichtigen Annäherungen — miteinander zu verbinden: Die Art<br />

des Forschungszugangs macht es den Autoren möglich, reichhaltige Informationen<br />

zu Situationsdeutungen <strong>und</strong> Handlungsintentionen zu erheben,<br />

so daß empirisch abgestützte verstehende oder rationale Erklärungen gegeben<br />

werden können. Gleichzeitig ermöglicht es der an experimentellen An-<br />

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Ordnungen orientierte Vergleich — als Längsschnitt- <strong>und</strong> als Querschnittvergleich<br />

—, den Beweis für das Bestehen einer „Chance" zu erbringen, daß unter<br />

den Bedingungen langandauernder Arbeitslosigkeit in Orten wie Marienthal<br />

<strong>und</strong> vergleichbaren Orten (vgl. zu entsprechenden einschränkenden Bemerkungen<br />

Jahoda u.a., 1975, S. 25 f. oder S. 96 f.) „das Handeln den<br />

sinnadäquat erscheinenden Verlauf tatsächlich mit angebbarer Häufigkeit<br />

oder Annäherung ... zu nehmen pflegt." (Weber, Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

I, S. 9).<br />

4. Anmerkungen zum Begriff der Kausalerklärung<br />

Ich würde abschließend gern einige Bemerkungen zum Begriff der Kausalerklärung<br />

machen <strong>und</strong> damit zugleich auf die Ausgangsfragen dieses Vortrages<br />

zurückkommen: Soll oder kann man im Rahmen qualitativer Forschung<br />

Erklärungen oder Prognosen erarbeiten <strong>und</strong> insbesondere: Soll oder kann<br />

man kausal erklären?<br />

Wenn man sich am Sprachgebrauch der neo-positivistischen Wissenschaftstheorie<br />

<strong>und</strong> des kritischen Rationalismus orientiert, wird man sagen<br />

müssen, daß Kausalerklärungen in qualitativen Untersuchungen keine Rolle<br />

spielen. Denn Kausalerklärungen werden in dieser Tradition bekanntlich<br />

mit deduktiv-nomologischen Erklärungen identifiziert. In der Formulierung<br />

Poppers: „Einen Vorgang 'kausal erklären' heißt, einen Satz, der ihn beschreibt,<br />

aus Gesetzen <strong>und</strong> Randbedingungen deduktiv ableiten." (1966,<br />

5. 31).<br />

In diesem Sinne wird in der Marienthal-Untersuchung wie auch in vielen<br />

anderen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen — auch solchen, die mit<br />

Hilfe standardisierter Verfahren arbeiten — genau nichts erklärt, wie dies<br />

von Lazarsfeld in der Einleitung zur Neuauflage von 1960 auch expliziert<br />

wird: In der Marienthal-Untersuchung sei es nicht darum gegangen, die beschriebenen<br />

Phänomene der Lähmung oder des Zeitzerfalls „auf andere<br />

Gesetze oder präzise Zusammenhänge" zurückzuführen (1975, S. 17).<br />

Ebenso handele es sich bei den Folgerungen, die man aus den generalisierenden<br />

Formeln wie etwa der von der „müden Gemeinschaft" ableiten könne,<br />

keineswegs um logische Schlüsse. Die aus den integrierenden Interpretationen<br />

folgenden Hypothesen werden „nicht mit logischer Notwendigkeit"<br />

abgeleitet, sondern „mit großer Plausibilität <strong>und</strong> geleitet von zusätzlichem<br />

Wissen <strong>und</strong> allgemeiner Erfahrung" (ebenda).<br />

Ist es vor diesem Hintergr<strong>und</strong> also erforderlich, den Begriff der Kausalerklärung<br />

aus der Wissenschaftssprache der mit offenen Verfahren arbeitenden<br />

Sozialforschung zu verbannen? Diejenigen Autoren, die meinen, daß es<br />

in der qualitativen oder interpretativen Sozialforschung nicht um die Erarbeitung<br />

von Kausalerklärungen gehe, scheinen dieser Auffassung zu sein<br />

<strong>und</strong> binden sich damit noch in der Negation an die Begrifflichkeit des Neo-<br />

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positivismus. Aber zu fragen ist, ob diese Selbstbindung vernünftig ist <strong>und</strong><br />

ob die neopositivistische Sprachregelung durch die Weiter<strong>entwicklung</strong> der<br />

philosophischen Diskussion nicht überholt ist. So gibt es zum einen in der<br />

analytischen Philosophie eine Reihe von Autoren, die auch verstehende<br />

oder rationale Erklärungen als kausale begreifen (vgl. u.a. hierzu Davidson,<br />

1975). Und es gibt zum anderen Autoren, die der Auffassung sind, daß<br />

auch nicht-deterministische generalisierende Aussagen Kausalerklärungen<br />

stützen können (vgl. hierzu Mackie, 1980, S. 29 ff.). D.h. es gibt einige Argumente<br />

dafür, den Begriff der Kausalerklärung so weit zu fassen, daß er<br />

jene Explikation soziologischer Erklärungen, die Max Weber in den „Soziologischen<br />

Gr<strong>und</strong>begriffen" vorlegte, in sich einschließt.<br />

Orientiert man sich an einem derart weit gefaßten Begriff von Kausalerklärungen,<br />

wird man es kaum rechtfertigen können, in qualitativen Untersuchungen<br />

den Anspruch, Kausalerklärungen zu erarbeiten, rigoros fallen<br />

zu lassen. Man kann eher umgekehrt argumentieren: Gerade der offene <strong>und</strong><br />

am Anspruch des Verstehens orientierte Forschungszugang erleichtert die<br />

Erarbeitung plausibler Kausalerklärungen, <strong>und</strong> zwar dadurch, daß Aussagen<br />

zur Sinnadäquanz des zu erklärenden Handelns im Vergleich zu anderen<br />

Forschungsverfahren empirisch besser begründet werden können.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Ein empirisches Feld, in dem Geertz' Konzeption zu einiger Prominenz gekommen<br />

ist, ist beispielsweise der Bereich der Studien, in denen in der Organisationsforschung<br />

unter dem Stichwort „corporate culture" überwiegend qualitativ <strong>und</strong> am Vorbild<br />

ethnographischer Forschung orientiert gearbeitet wird (vgl. als Übersicht Smircich,<br />

1983). Ähnlich wie Geertz hebt auch Smircich hervor, daß es in diesen Studien, ungeachtet<br />

theoretischer Unterschiede, nicht primär um Vorhersagen, Generalisierungen,<br />

Kausalität <strong>und</strong> Kontrolle gehe, wie dies für die an standardisierten Verfahren<br />

orientierte vergleichende Organisationsforschung gelte, sondern um Verstehen <strong>und</strong><br />

Auslegung (vgl. insbesondere S. <strong>35</strong>3 ff.). Vgl. zur Rezeption Geertz' auch Sanday,<br />

1979.<br />

2 Vgl. als Übersichten über die unterschiedlichen Phasen der Auseinandersetzung über<br />

Erklären <strong>und</strong> Verstehen in den Geschichts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaften von Wright,<br />

1974, oder Apel, 1979; vgl. als Übersicht über unterschiedliche Positionen in der<br />

analytischen Philosophie auch Giesen <strong>und</strong> Schmid, 1975.<br />

3 Die Studie wurde zuerst im Januar 1933 bei S. Hirzl in Leipzig veröffentlicht, wurde<br />

im nationalsozialistischen Deutschland jedoch kurze Zeit nach dem Erscheinen<br />

konfisziert (vgl. hierzu Jahoda, 1981, S. 139 <strong>und</strong> Fre<strong>und</strong>, 1983, S. 22). Eine zweite<br />

deutsche Ausgabe erschien 1960 <strong>und</strong> wurde 1975 durch eine Taschenbuchausgabe<br />

einem breiteren Publikum zugänglich gemacht. Seit Anfang der siebziger Jahre erschienen<br />

auch englische <strong>und</strong> französische Ausgaben <strong>und</strong> heute gilt die Untersuchung<br />

als Klassiker der empirischen Sozialforschung. Vgl. zur wissenschaftsgeschichtlichen<br />

Einordnung der Studie Knoll u.a., 1981, S. 88 ff., oder Lepsius, 1981, S. 464 ff.<br />

Vgl. zur Kommentierung der Studie auch die Beiträge der Autoren, auf die im folgenden<br />

verschiedentlich Bezug genommen wird.<br />

4 Vgl. hierzu verschiedene Textsammlungen <strong>und</strong> einführende Darstellungen zu qualita-<br />

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tiven Verfahren (u.a. McCall <strong>und</strong> Simmons, 1969; Filstead, 1971; Schwartz <strong>und</strong><br />

Jacobs, 1979; Smith <strong>und</strong> Manning, 1982), aus denen — trotz unterschiedlicher inhaltlicher<br />

Akzentsetzungen — hervorgeht, wie stark qualitative Forschung in der<br />

amerikanischen Soziologie mit Feldforschung als „teilnehmender Beobachtung"<br />

verb<strong>und</strong>en ist. In der B<strong>und</strong>esrepublik hat sich dieser Forschungstyp allerdings auch<br />

in neueren qualitativen Untersuchungen nicht in dem Maße durchsetzen können,<br />

in dem man es angesichts der Orientierung an Forderungen nach Untersuchungen,<br />

in denen die natürlichen Lebenskontexte der Individuen berücksichtigt werden, erwarten<br />

könnte. Vgl. als eine Darstellung, in der die von den Autoren als „soziographisch"<br />

bezeichnete Marienthal-Untersuchung dem Typus der teilnehmenden Beobachtung<br />

zugeordnet wird, Jahoda u.a., 1962, S. 82 ff.<br />

5 Diese werden von Lazarsfeld an anderer Stelle auch als „quasi-statistische" Aussagen<br />

bezeichnet (vgl. Barton <strong>und</strong> Lazarsfeld, 1979, S. 69 ff.) <strong>und</strong> spielen in qualitativen<br />

Untersuchungen im allgemeinen eine nicht unerhebliche Rolle — auch bei solchen<br />

Autoren, die der Überzeugung sind, daß ihre eigenen Analysen mit Quantitäten<br />

überhaupt nichts zu tun haben (vgl. zu dieser Frage auch Bryman, 1984, S. 80).<br />

6 Vgl. als Darstellung <strong>und</strong> Diskussion alternativer Deutungen der auch in anderen<br />

empirischen Untersuchungen belegten Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit<br />

<strong>und</strong> Resignation <strong>und</strong> Lähmung, die von den Autoren unter einem breit gefaßten Begriff<br />

der Depressivität zusammengefaßt werden, Frese <strong>und</strong> Mohr, 1978, S. 317 f.<br />

7 Vgl. hierzu auch Zeisels Kommentierung (1975, S. 131 f.), in der ein direkter Bezug<br />

zu Webers methodologischen Arbeiten hergestellt wird <strong>und</strong> die Forderung erhoben<br />

wird, die subjektiven Aspekte der jeweils untersuchten Realität (Situationseinschätzungen<br />

der in sozialwissenschaftliche Untersuchungen Einbezogenen) systematisch<br />

zu berücksichtigen.<br />

8 Vgl. z.B. Dray, 1975, S. 263: „Verstehen ist dann erreicht, wenn der Historiker die<br />

Vernünftigkeit, den Sinn der Handlung einsehen kann, gerechnet an den Vorstellungen<br />

<strong>und</strong> Absichten der Handelnden. Seine Handlung kann dann in dem Sinne als erklärt<br />

gelten, als sie als 'angemessen' angesehen werden kann." Vgl. zur Erläuterung<br />

der Beziehungen zwischen „rationalen Erklärungen" <strong>und</strong> den am Verstehensbegriff<br />

orientierten Wissenschaftstraditionen von Wright, 1974, S. <strong>35</strong> ff., oder auch Stegmüller,<br />

1969, S. 379 ff. Vgl. zur Elaborierung des diesen <strong>und</strong> vergleichbaren Erklärungen<br />

zugr<strong>und</strong>eliegenden Argumentationsschemas des „praktischen Syllogismus"<br />

von Wright, 1974, S. 83 ff. <strong>und</strong> S. 36 f.<br />

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Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Themenbereich III:<br />

Terrorismus in der<br />

B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland<br />

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Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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EINLEITUNG<br />

Günter Albrecht<br />

Über viele Jahre hat die deutsche Öffentlichkeit <strong>und</strong> die staatlichen Sicherheitsorgane<br />

kein Thema so sehr beschäftigt wie der Terrorismus, der Sicherheit<br />

<strong>und</strong> Ordnung <strong>und</strong> das staatliche Gewaltmonopol so sehr herauszufordern<br />

schien, daß sich in der Gesellschaft der B<strong>und</strong>esrepublik gravierende<br />

Veränderungen einstellten. Dabei kam dem personellen, technischen <strong>und</strong><br />

organisatorischen Ausbau des staatlichen Kontrollapparates große Bedeutung<br />

zu, nicht zuletzt deshalb, weil er mit dem gleichzeitigen Aufbau von<br />

großen Informations- <strong>und</strong> Datensystemen in staatlicher Hand die Schrekkensvision<br />

vom totalen Überwachungsstaat auf den Plan rief. Sicher genauso<br />

problematisch waren jedoch die durch den Terrorismus <strong>und</strong> seine „politische<br />

Bewältigung" ausgelöste oder forcierte Änderung des politischen Klimas<br />

<strong>und</strong> die Einschränkung liberaler rechtsstaatlicher Prinzipien, die leider<br />

auch einige Jahre nach dem Höhepunkt terroristischer Aktivitäten nicht<br />

wieder vollständig rückgängig gemacht worden ist.<br />

Für die Diskussion der Frage, was der deutsche Terrorismus der 70er<br />

Jahre darstellte <strong>und</strong> wie man seine Entstehung <strong>und</strong> seine Verlaufsform zu<br />

erklären habe, die ja vom benachbarten Ausland trotz scheinbar ähnlicher<br />

Ausgangslage deutlich abwich, sollten sozialwissenschaftliche Forschungsergebnisse<br />

eigentlich eine zentrale Rolle spielen. Längere Zeit fehlte es jedoch<br />

an gr<strong>und</strong>legenden sozialwissenschaftlichen Studien über den deutschen<br />

Terrorismus. Die Soziologen zeigten eine sehr ausgeprägte Berührungsangst<br />

gegenüber diesem eminent wichtigen Phänomen <strong>und</strong> ließen sich<br />

erst durch das verlockende Angebot großzügiger staatlicher Auftragsforschung<br />

aus der Reserve locken. Seit ca. 3 Jahren sind nun mehrere umfassende,<br />

vom B<strong>und</strong>esminister des Inneren in Auftrag gegebene Studien unter<br />

dem Sammeltitel „Analysen zum Terrorismus" (vgl. Baeyer-Katte, Ciaessens,<br />

Feger <strong>und</strong> Neidhardt 1982; Fetscher <strong>und</strong> Rohrmoser 1981; Jäger,<br />

Schmidtchen <strong>und</strong> Süllwold 1981; Matz <strong>und</strong> Schmidtchen 1983; Sack <strong>und</strong><br />

Steinert 1984) erschienen, die von unterschiedlichen theoretischen Standpunkten<br />

<strong>und</strong> aus unterschiedlichem Gesichtswinkel die Problematik des<br />

Terrorismus zu erhellen versuchen. Die Analysen reichen von der Untersuchung<br />

der ideologischen Gr<strong>und</strong>lagen der Terroristen, über detaillierte<br />

Erforschung der Lebensläufe von Terroristen, die exakte Rekonstruktion<br />

der Gruppenprozesse bei der Entstehung, Verfestigung <strong>und</strong> Auflösung<br />

terroristischer Gruppen, die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Bedingungen <strong>und</strong> Legitimität in der B<strong>und</strong>esrepublik bis<br />

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zur brisanten Frage, ob nicht das Verhältnis von Protest <strong>und</strong> staatlicher<br />

Reaktion (oder auch Über-Reaktion) als Schlüssel für das Verständnis des<br />

Terrorismus in der B<strong>und</strong>esrepublik anzusehen ist. Dabei ist von besonderer<br />

Bedeutung die Streitfrage, ob die staatlichen Reaktionen angemessen zu<br />

verstehen sind als durch die terroristische Bedrohung qualitativ <strong>und</strong> quantitativ<br />

zwingend geforderte Reaktionen, bei denen der Politik keine Optionen<br />

offen blieben, durch die möglicherweise die dem Terrorismus zugr<strong>und</strong>eliegende<br />

Problematik politisch <strong>und</strong> nicht strafrechtlich hätte gelöst werden<br />

können. Oder handelte es sich bei diesen „Reaktionen" um Teilschritte<br />

einer „Strategie" der Transformation von aufbrechenden politisch-<strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Konflikten in Rechtskonflikte, durch die der Staat <strong>und</strong> interessierte<br />

mächtige <strong>gesellschaftliche</strong> Gruppen den Vorteil erlangten, auf politisch<br />

gemeinte Herausforderungen mit „Kriminalisierung" der Herausforderer<br />

reagieren zu können?<br />

Die beiden Referate von Friedhelm Neidhardt (Köln) <strong>und</strong> Fritz Sack<br />

(Ha<strong>mb</strong>urg) greifen aus der Vielzahl von Streitfragen unter anderem die auf,<br />

ob sich der Umschlag von Gruppierungen der außerparlamentarischen<br />

Opposition in terroristische Gruppen als Resultat von gruppendynamischen<br />

Prozessen (Neidhardt) oder als Ergebnis von übertriebenen Reaktionen oder<br />

gar Provokationen des Staates (Sack) verstehen läßt. Zugleich bieten beide<br />

Beiträge eine allgemeine soziologische Bestimmung dessen, was Terrorismus<br />

gesellschaftlich bedeutet. Beide Referate können selbstverständlich nur<br />

einen kleinen Teil des Argumentationshaushaltes vortragen, dessen sich die<br />

verschiedenen Studien bedienen, auf die deshalb ausdrücklich verwiesen<br />

werden muß. Beide Vorträge lassen auch erkennen, wie weit bei allem erkennbaren<br />

Bemühen, die Argumente des jeweils anderen aufzunehmen, die<br />

Interpretationen auseinandergehen. Bezieht man alle anderen Teilprojekte<br />

des Untersuchungsprogrammes „Ursachen des Terrorismus" in die Betrachtung<br />

mit ein, so ist nicht zu übersehen, daß die Studien teilweise zu völlig<br />

konträren Interpretationen gelangen, zwischen denen keine Vermittlung<br />

möglich zu sein scheint. So jedenfalls präsentieren es die Autoren der einzelnen<br />

Untersuchungsberichte, die sich in den publizierten Fassungen häufig<br />

äußerst kritisch aufeinander beziehen.<br />

Auch das Ergebnis der Podiumsdiskussion zum Terrorismusproblem, die<br />

als Begleitveranstaltung vorgesehen war (Teilnehmer außer Neidhardt <strong>und</strong><br />

Sack waren Dieter Ciaessens, Berlin, Eike Hennig, Kassel, Heinz Steinert,<br />

Frankfurt, Trutz von Trotha, Hannover/Freiburg, <strong>und</strong> Peter Waldmann,<br />

Augsburg), bestätigte diesen Eindruck der Unüberbrückbarkeit der Differenzen<br />

in den entscheidenden Fragen.<br />

Die Sicherung des wissenschaftlichen Ertrages der deutschen Terrorismusforschung<br />

wird demnach davon abhängen, daß die wissenschaftliche Gemeinschaft<br />

sich kritisch mit den vorgelegten Untersuchungen auseinandersetzt<br />

<strong>und</strong> die Diskussionsblockade zwischen den „Terrorismusforschern",<br />

die vor allem theoretische, wissenschaftstheoretische <strong>und</strong> methodische, aber<br />

auch politische Gründe hat, überwindet.<br />

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Nur dann, so behaupte ich, wird der sozialwissenschaftliche Beitrag zum<br />

Terrorismusproblem jener Zielsetzung dienen, die Steinert (1984, S. 391)<br />

für seine Studie wie folgt bestimmte: „Diesem Ziel ist die Untersuchung<br />

also verpflichtet: die Ereignisse des Terrorismus in der B<strong>und</strong>esrepublik, die<br />

Entwicklung, die zu ihnen hinführte, <strong>und</strong> die Art, wie auf diese Ereignisse<br />

aus dieser Entwicklung heraus reagiert wurde, der <strong>gesellschaftliche</strong>n Selbstreflexion,<br />

der Nachdenklichkeit über die eigenen Verhältnisse verfügbarer<br />

machen zu helfen, als sie das in ihrer alltäglichen Selbstverständlichkeit<br />

gewöhnlich sind. Dieser Versuch rechtfertigt sich durch die unentwegte<br />

Hoffnung, daß auch öffentliche Nachdenklichkeit noch folgenreich möglich<br />

ist, daß die Gestaltung möglicher <strong>gesellschaftliche</strong>r Zukünfte zumindest<br />

nicht ausschließlich den Zugriffen der „Macher" auf beiden Seiten überantwortet<br />

ist, nicht nur der manchmal verhängnisvollen „Konsequenz" angeblicher<br />

Sachzwänge folgen muß, sondern zumindest auch der diskursiven<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Selbstverständigung zugänglich ist <strong>und</strong> damit die Wahl<br />

zwischen verschiedenen 'Konsequenzen' zuläßt".<br />

LITERATUR<br />

Baeyer-Katte, Wanda von, Dieter Ciaessens, Hubert Feger <strong>und</strong> Friedhelm Neidhardt<br />

(Hrsg.), Gruppenprozesse. Analysen zum Terrorismus, Bd. 3, Opladen 1982.<br />

Fetscher, Iring, <strong>und</strong> Günter Rohrmoser (Hrsg.), Ideologien <strong>und</strong> Strategien. Analysen<br />

zum Terrorismus, Bd. 1, Opladen 1981.<br />

Jäger, Herbert, Gerhard Schmidtchen <strong>und</strong> Lieselotte Süllwold (Hrsg.), Lebenslaufanalysen.<br />

Analysen zum Terrorismus, Bd. 2, Opladen 1981.<br />

Matz, Ulrich, <strong>und</strong> Gerhard Schmidtchen (Hrsg.), Gewalt <strong>und</strong> Legitimität. Analysen<br />

zum Terrorismus, Bd. 4/1, Opladen 1983.<br />

Sack, Fritz, <strong>und</strong> Heinz Steinert (Hrsg.), Protest <strong>und</strong> Reaktion. Analysen zum Terrorismus,<br />

Bd. 4/2, Opladen 1984.<br />

Steinert, Heinz, unter Mitarbeit von Henner Hess, Susanne Karstedt-Henke, Martin<br />

Moerings, Dieter Paas <strong>und</strong> Sebastian Scheerer, „Sozialstrukturelle Bedingungen<br />

des 'linken Terrorismus' der 70er Jahre aufgr<strong>und</strong> eines Vergleichs der Entwicklungen<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, in Italien, Frankreich <strong>und</strong> den Niederlanden",<br />

in: Fritz Sack <strong>und</strong> Heinz Steinert (Hrsg.), Protest <strong>und</strong> Reaktion. Analysen<br />

zum Terrorismus, Bd. 4/2, Opladen 1984, S. 387-601.<br />

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GROSSE WIRKUNGEN KLEINER REIZE - SYMBOLISCH VERMIT­<br />

TELT. ZUR SOZIOLOGIE DES TERRORISMUS<br />

Friedhelm<br />

Neidhardt<br />

Die Terrorismusforschung ist hierzulande in einem außerordentlichen Maße<br />

von Bedingungen <strong>und</strong> Zwecken der Politikberatung bestimmt gewesen. Das<br />

sogen. ASÖTE-Projekt des B<strong>und</strong>esinnenministeriums hat 22 Wissenschaftler<br />

über mehrere Jahre zum Thema des Terrorismus beschäftigt <strong>und</strong> am Ende<br />

15 Untersuchungsberichte hervorgebracht, die in fünf Bänden veröffentlicht<br />

sind. Fragt man nach dem Ertrag dieser Großveranstaltung angewandter<br />

Forschung, so sind einerseits ihre praktischen Effekte in dem Bereich zu<br />

bestimmen, der sie veranlaßt <strong>und</strong> finanziert hat, also im Politikbereich;<br />

darüber soll in einer gesonderten Veranstaltung heute nachmittag diskutiert<br />

werden. Auf einem Soziologentag ist es andererseits natürlich unerläßlich,<br />

die fachliche Ausbeute dieser Art Forschung zu sichten <strong>und</strong> dann auch zu<br />

verarbeiten.<br />

Unternimmt man eine fachliche Bestandsaufnahme, so wird auch im<br />

vorliegenden Fall erkennbar, daß angewandte Forschung den beteiligten<br />

Wissenschaften leicht überschaubare Gewinne einbringt. Ihr besonderer<br />

Vorteil dürfte darin liegen, daß sie intensive Berührungen mit Materialfeldern<br />

erzwingt, die ohne Vermittlungen des Auftraggebers nicht einmal<br />

zugänglich wären. So sind auch im ASÖTE-Projekt mehrere Fallstudien entstanden,<br />

die man instruktiv <strong>und</strong> animierend finden kann. Die analytische<br />

Verarbeitung der in ihnen aufgebrachten Informationen <strong>und</strong> Einfälle erscheint<br />

jedoch offenk<strong>und</strong>ig gehemmt durch die Art der Fragen, die den<br />

Forschungszusammenhang begründeten, sowie durch die Stärke des Problemlösungsbedarfs,<br />

der ihm simuliert wurde. Von daher ergaben sich Einschnürungen<br />

auf raumzeitlich eng begrenzte Untersuchungsfelder <strong>und</strong> Vorlieben<br />

für Variablen, die einfach übersetzbar <strong>und</strong> praktisch steuerbar erscheinen<br />

— alles Bedingungen, die einer theoretischen Arbeit am Thema<br />

gewiß nicht förderlich waren. Praktisch bestimmte Forschungskontexte<br />

konzedieren den Beteiligten nur geringe Abstraktionstoleranzen; man wird<br />

für's Hier <strong>und</strong> Jetzt zur Kasse gebeten. Hinzu kam im vorliegenden Fall, daß<br />

die außerordentliche Politisierung des Gegenstandes, um den es bei Terrorismuskomplexen<br />

geht, bei allen Beteiligten für mancherlei Befangenheiten<br />

sorgte — mitgebrachten Befangenheiten <strong>und</strong> zusätzlich solchen, die sich mit<br />

der organisatorischen Einbindung der Projektgruppe in den Einflußbereich<br />

einer der Konfliktparteien einstellten. Ihre Zuordnung zum B<strong>und</strong>esinnenministerium<br />

mußte selber schon als Politikum begriffen werden. Jeder Beteiligte<br />

konnte wissen, daß bei allen Ko<strong>mb</strong>attanten Erkenntnisfragen auch<br />

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<strong>und</strong> nicht zuletzt als Schuldfragen verrechnet werden, <strong>und</strong> er mußte davon<br />

ausgehen, daß dies auf der einen wie auf der anderen Seite tendenziös geschehen<br />

würde. Von daher ergab sich der Hang zu einer mindestens untergründigen<br />

Moralisierung der Argumentation, auch die Tendenzen zu ihrer<br />

taktischen Inszenierung. Es gab in dieser Lage kein Recht zur Unbekümmertheit.<br />

Unbekümmertheit aber braucht man für den Prozeß theoretischer Reflexion.<br />

Mit dem Versuch der Verallgemeinerung verläßt man den gut<br />

recherchierten Einzelfall, überzieht die gesicherte Erfahrung, bemächtigt<br />

sich auch des nur ungefähr Vergleichbaren, verdrängt dabei eine Fülle von<br />

im Einzelfall wichtigen Details. Theoriearbeit ist eine Art Ausschreitung,<br />

die ohne Skrupellosigkeit <strong>und</strong> Indifferenz gar nicht gelingen kann. Mir<br />

scheint, daß man in der Terrorismusforschung beim gegenwärtigen Stand<br />

der Dinge solche Ausdrucksformen einer inneren Distanz zum Gegenstand<br />

eher ermuntern als ihre unstrittige Eigenproblematik beschwören sollte.<br />

Allerdings entsteht sofort die Frage, ob Terrorismus als ein Phänomen<br />

besonderer Art für Theoriebildung überhaupt taugt. Walter Laqueur, einer<br />

der erfahrensten Empiriker der Terrorismusforschung, bestreitet dies, wenn<br />

er sagt: „Im Auftreten des Terrorismus läßt sich auch ein Zufallselement<br />

feststellen. Aus diesem Gr<strong>und</strong>e ist eine wirklich wissenschaftliche, prognostische<br />

Untersuchung in der Tat unmöglich." (Laqueur 1977, S. 51 f.). Nun<br />

ist es sicher richtig, daß Zufallsmomente sowohl in den Innenbereichen als<br />

auch in den Umwelten des Terrorismus eine besondere Rolle spielen. Terrorismus<br />

ist Ergebnis <strong>und</strong> fortlaufender Bestandteil von Konflikten, die in<br />

der Regel wenig institutionalisiert sind, also keine festen Normen <strong>und</strong> Formen<br />

besitzen (Neidhardt 1981, S. 245 ff.). Insofern gibt es in seiner Entstehung<br />

<strong>und</strong> in seinem Ablauf eine hohe Wahrscheinlichkeit von Überraschungen<br />

<strong>und</strong> Unwägbarkeiten — mit der Folge auch, daß einzelnen Personen <strong>und</strong><br />

ihren oft geheimnisvoll bleibenden Besonderheiten eine außerordentliche<br />

Prozeßbedeutung zukommt. Aber solche Merkmale eines Handlungssystems<br />

sind letztlich nur eine Gradfrage. Nichts ist ohne Zufall, <strong>und</strong> nichts ist nur<br />

Zufall. Insofern ist Theorie allemal möglich, nur muß sie den Zufallsmengen<br />

ihres Gegenstandsbereichs angemessen sein. Das heißt unter anderem: Sie<br />

muß mehr oder weniger Raum lassen für bloße Deskription <strong>und</strong> darf diese<br />

nicht desavouieren <strong>und</strong> verdrängen wollen. Manches läßt sich eben nur erzählen<br />

<strong>und</strong> nicht mehr erklären.<br />

Unabhängig davon — zweifelhaft ist, ob sich die Soziologie überhaupt<br />

auf jenen Aspekt des Terrorismus fixieren lassen sollte, den Walter Laqueur<br />

so resignativ anspricht, nämlich sein „Auftreten" — die Frage also: unter<br />

welchen Bedingungen <strong>und</strong> auf welche Weise er entsteht. Ohne diese Frage<br />

gering zu schätzen, läßt sich doch die andere Frage nach seinen Wirkungen<br />

als die für Soziologen vielleicht aufschlußreichere ansehen. Terrorismus als<br />

Stimulus! Wann immer <strong>und</strong> wo immer er auftritt, bedeutet er eine Aufstörung<br />

von Normalität, eine Beunruhigung eingepegelter Gleichgewichte. Er<br />

schafft Ausnahmezustände. Ist dies nicht verw<strong>und</strong>erlich, wenn man be-<br />

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denkt, daß Terrorismus typischerweise Kleingruppenhandeln ist — seine<br />

Wirkung also einen Ubergriff von Mikroereignissen auf Makrodimensionen<br />

des Gesellschaftlichen dargestellt? Was gibt dem kleinen Reiz so große Wirkungen?<br />

Welche Empfindlichkeiten müssen Gesellschaften besitzen, um von<br />

ein paar Terroristen durcheinandergebracht werden zu können? — Ich will<br />

mich im folgenden vor allem diesen Fragen zuwenden.<br />

1. Terrorismus als Kleingruppenpolitik<br />

Um am Beispiel des Terrorismus die scheinbare UnVerhältnismäßigkeit von<br />

Reiz-Reaktion-Sequenzen begreifen zu können, muß man sich zuerst der<br />

Stimulusqualität des Terrorismus vergewissem. Sog. „Reaktionsansätze"<br />

dürfen in der Soziologie nicht dazu führen, daß der Stimulus unbelichtet<br />

bleibt, auf den reagiert wird. Es gilt festzustellen, was am Terrorismus in<br />

welcher Weise provozieren kann. Dem läßt sich in ersten Schritten näherkommen,<br />

wenn man das, was Terrorismus genannt werden kann, mit zwei<br />

benachbarten, aber doch aufschlußreich abweichenden Phänomenen vergleicht,<br />

erstens mit Gewaltkriminalität, zweitens mit Guerillakampf.<br />

Zum ersten: Terrorismus ist eine politische Handlungsstrategie, die<br />

durch Ausübung von Gewalt erschrecken will. Insofern Gewaltausübung<br />

widerrechtlich ist, stellt Terrorismus ex definitione Gewaltkriminalität<br />

dar. Als bloßer Teil dieser Gewaltkriminalität ist er jedoch in den meisten<br />

Gesellschaften, die ihn erleben, eine völlig harmlose Größe. In der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

wird die materielle Schadenswirkung, die der Terrorismus in<br />

10 Jahren erreichte, von der „gewöhnlichen" Gewaltkriminalität innerhalb<br />

einer Woche übertroffen. Es ist dann auch gar nicht die Gewaltausübung<br />

als solche, die am Terrorismus erregt, sondern der Anspruch, daß seine<br />

Gewaltausübung legitim sei. Dieser politisch gemeinte sy<strong>mb</strong>olische „Kriminalitätsüberschuß"<br />

(Sack 1984, S. 40) ist das Besondere am Terrorismus.<br />

Sein Rechtmäßigkeitsanspruch kollidiert mit dem Gewaltmonopolanspruch<br />

aller modernen Staaten. Da Monopole ex definitione unteilbar<br />

sind, ist diese Kollision total; es gibt keine Kompromißchancen.<br />

Zum zweiten: Wie wenig die Störung durch Terrorismus mit seiner materiellen<br />

Schadenswirkung zu tun hat, wird mit seinen Unterschieden zum<br />

Guerillakampf vielleicht noch deutlicher. „Geht es der im Rahmen der<br />

Guerillastrategie angewandten Gewalt vornehmlich um deren physische<br />

Folgen, die Sprengung von Straßen, Brücken, Eisenbahnlinien usw., bzw.<br />

um die Vernichtung gegnerischer Kampfverbände, so intendiert terroristische<br />

Gewaltanwendung vor allem psychische Reaktionen." (Fetscher et al.<br />

1981, S. 26). Die terroristische Strategie setzt nicht auf Raum- <strong>und</strong> Materialgewinne,<br />

sie ist eine Strategie der Nadelstiche, die den Zweck verfolgt,<br />

die staatliche Gewalt zu kompromittieren — zu kompromittieren auf zweierlei<br />

Weise: erstens durch eine „Propaganda der Tat", durch den Nachweis<br />

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nämlich, daß Gegengewalt überhaupt möglich ist, zweitens durch Provokation<br />

staatlichen Fehlverhaltens, nämlich durch „Auslösen einer Reaktion,<br />

die skandalisiert werden kann" (Steinert 1984, S. 439). Es geht also beim<br />

Terrorismus nicht um unmittelbare Herrschaftsaneignung, sondern um weniger:<br />

um Delegitimierung bestehender Herrschaft als Voraussetzung dafür,<br />

daß diese danach direkt angegriffen <strong>und</strong> gestürzt werden kann.<br />

Die Unterscheidung zwischen Guerillakampf <strong>und</strong> Terrorismus gibt mit<br />

diesen Differenzierungen nun auch Hinweise auf die empirischen Entstehungsbedingungen<br />

beider Typen politischer Gewalttätigkeit. „Die Differenz<br />

der beiden strategischen Konzepte entsteht daraus, daß die Guerillastrategie<br />

prinzipiell davon ausgeht, die Guerillagruppe werde bei ihren Aktionen<br />

durch die Bevölkerung unterstützt, während die terroristische Strategie<br />

diese Unterstützung durch die Bevölkerung gerade nicht voraussetzt, sondern<br />

sie durch ihre Aktionen erst gewinnen will." (Fetscher et al. 1981,<br />

S. 98). Terrorismus ist insofern ein Indiz politischer Schwäche, ein Mittel<br />

der Wahl machtloser Gruppen, von Kleingruppen, die ein Defizit an sozialen<br />

Ressourcen durch Militarisierung ihres eigenen Einsatzes zu kompensieren<br />

versuchen.<br />

Für diese Interpretation spricht der empirische Bef<strong>und</strong>, daß terroristische<br />

Gruppen häufig als Ausfallprodukte sozialer Protestbewegungen zu<br />

einem Zeitpunkt entstanden sind, als diese, ohne ihr Ziel erreicht zu haben,<br />

resignierten <strong>und</strong> zusammenbrachen. Das trifft nicht nur auf die deutsche<br />

RAF zu (Neidhardt 1982, S. 339 ff.), sondern z.B. auch auf die russische<br />

Narodnaja Volja sowie auf die Terroristen der Sozialrevolutionären Partei<br />

Rußlands im späten 19. bzw. im frühen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert (Hildermeier 1982,<br />

S. 107). Sie begriffen sich als Avantgarde erschlaffter Protestpotentiale, <strong>und</strong><br />

die terroristische Tat war als Initialzündung eines neuen Aufbruchs kalkuliert.<br />

Das Gelingen dieser Kalkulation ist allerdings höchst voraussetzungsvoll.<br />

Es geht darum, daß der kleine Konflikt, den Terroristen mit eigener<br />

Kraft bewerkstelligen können, zu einem großen Konflikt eskaliert. Diese<br />

Eskalation hängt nicht nur von den Operationen der Terroristen ab, sondern<br />

wesentlich von den Reaktionen der Gegenspieler; <strong>und</strong> entscheidend<br />

für den Ausgang ist, wie beide Seiten von den Massen wahrgenommen <strong>und</strong><br />

gedeutet werden. Es geht beim Terrorismus (anders als im Guerillakampf)<br />

in erster Linie nicht um rohe Machtfragen, sondern in deren Vorfeld um<br />

Legitimitätskonkurrenzen. Und diese entscheiden sich im Bewußtsein der<br />

Massen <strong>und</strong> nicht auf den Schlachtfeldern.<br />

2. Staatliche Reaktionen<br />

Reagiert ein politisches System auf terroristische Provokationen in einer<br />

Weise, die von den Massen verstanden <strong>und</strong> gebilligt wird? Reagiert es<br />

überhaupt? Und wenn ja: warum?<br />

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In einem klugen Aufsatz über „Die Strategie des Terrorismus" hat<br />

David Fromkin folgendes notiert: „Der Terrorismus kann nur siegreich sein,<br />

wenn man in der von den Terroristen gewollten Form reagiert... Wenn man<br />

es vorzieht, überhaupt nicht oder aber in einer anderen als von ihnen gewünschten<br />

Weise zu reagieren, wird es ihnen nicht gelingen, ihre Ziele<br />

zu erreichen. Die entscheidende Schwäche des Terrorismus besteht darin,<br />

daß seine Gegner die Wahl haben." (Fromkin 1977, S. 97 f.). Haben, so<br />

kann man dagegen fragen, seine Gegner wirklich die Wahl? Können sie<br />

sich etwa leisten, gar nicht zu reagieren?<br />

Man darf die Provokation des Terrorismus nicht mit dem Argument<br />

unterschätzen, daß sein Angriff materiell relativ unerheblich ist <strong>und</strong> weder<br />

die Produktionsbasis einer Gesellschaft noch deren „human resources"<br />

ernsthaft verletzt. Die Provokation der Terroristen liegt nicht in den kriminellen<br />

Aktionen, die sie begehen, sondern in den sogen. Bekennerbriefen,<br />

die sie dazu schreiben. Ihr Angriff reizt vor allem durch seine Sy<strong>mb</strong>olik.<br />

Dies wird unterstützt durch die Auswahl der Angriffsobjekte: Amerikahaus<br />

<strong>und</strong> jüdischer Friedhof, Schleyer <strong>und</strong> Buback, Polizisten <strong>und</strong> Türken — das<br />

sind im Einzelfall auswechselbare Repräsentanten von Sinnzusammenhängen<br />

<strong>und</strong> Sachverhalten, die hinter ihnen stehen. Und diese unter Einsatz<br />

von Gewalt nicht nur tatsächlich zu verletzen, sondern dafür auch Rechtmäßigkeit<br />

zu beanspruchen, beeinträchtigt nicht in erster Linie <strong>und</strong> unmittelbar<br />

das Gewaltmonopol des Staates, sondern den Mythos, den dieses<br />

Privileg offensichtlich braucht, um intakt zu bleiben.<br />

Die Soziologie wird solche Zusammenhänge nicht angemessen begreifen,<br />

wenn sie die kulturellen Dimensionen <strong>gesellschaftliche</strong>r Prozesse nicht<br />

ernsthaft <strong>und</strong> systematisch bedenkt. Gesellschaften sind neben allem anderen<br />

Sy<strong>mb</strong>olgemeinschaften, die sich über Mythen <strong>und</strong> Tabus ebenso steuern<br />

wie über Geld <strong>und</strong> Macht. Deshalb gibt es auch gegenüber Kollektiven so<br />

etwas wie Beleidigung, Ehrverletzung <strong>und</strong> Schuld; unser Strafgesetzbuch<br />

spricht in seinen §§ 96 <strong>und</strong> 97 sicherlich nicht gr<strong>und</strong>- <strong>und</strong> folgenlos von<br />

„Beschimpfung der B<strong>und</strong>esrepublik" <strong>und</strong> „Verunglimpfung von Organen".<br />

Wir Soziologen haben zu wenig kategoriale Sensibilität gegenüber diesen<br />

Dimensionen entwickelt, <strong>und</strong> deshalb sind in der Soziologie des Terrorismus<br />

die <strong>gesellschaftliche</strong>n Reaktionen auf Terrorismus weithin unbegriffen<br />

geblieben; verschwörungstheoretische Konstruktionen haben für Scheinerklärungen<br />

gesorgt.<br />

Natürlich kann man sich vorstellen, daß sich Gesellschaften gegen den<br />

Terrorismus durch konsequente Verdrängung immunisieren, also ihn gar<br />

nicht zur Kenntnis nehmen; dann wäre in der Tat seine Wirkung harmlos.<br />

Gegen diese Möglichkeit spricht allerdings ein Sachverhalt, der zumindest in<br />

liberal-demokratischen Gesellschaften mit hoher Eigendynamik Realitäten<br />

eigener Art schafft, nämlich die Existenz der Massenmedien. Da Terrorismus<br />

einen außerordentlichen Unterhaltungswert besitzt, ist er aus der Massenkommunikation<br />

gar nicht herauszuhalten. Massenmedien sind deshalb allemal<br />

sehr wirkungsvolle Unterstützer terroristischer Strategie, werden von<br />

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ihnen auch, wie wir wissen, ausdrücklich mitkalkuliert. Sie diff<strong>und</strong>ieren den<br />

kleinen Reiz der terroristischen Aktion <strong>und</strong> dramatisieren ihn auf diese Weise<br />

in den Rang eines öffentlichen Problems. Er kann dann nicht als Dunkelziffer<br />

gehalten werden. Unter solchen Bedingungen können Gesellschaften<br />

allgemein <strong>und</strong> politische Systeme im besonderen schwerlich nicht reagieren.<br />

Über Art <strong>und</strong> Ausmaß dieser Reaktionen ist damit allerdings noch<br />

nichts gesagt. Fragt man nach deren Bedingungen, so stößt man jenseits<br />

soziostruktureller <strong>und</strong> konkret politischer Konstellationen sehr bald wieder<br />

auf Faktoren, die dem soziokulturellen Bereich zugehören. So findet Heinz<br />

Steinert bei seiner interessanten international vergleichenden Terrorismusstudie<br />

etwas, was er in Unterscheidung zu niederländischen, französichen<br />

<strong>und</strong> italienischen Reaktionsstilen die „deutsche Emfindlichkeit" nennt, <strong>und</strong><br />

er spricht in diesem Zusammenhang von der hierzulande auffälligen „Linksfürchtigkeit"<br />

(Steinert 1984, S. 549 <strong>und</strong> 561) — ich würde gern hinzugesetzt<br />

sehen: auch Rechtsfürchtigkeit. Dergleichen läßt sich nicht zum Produkt<br />

von Gegenstrategien auflösen, mit denen die politischen Nutznießer<br />

des Terrorismus durch Angsterzeugung ihr Geschäft betreiben. Ist auch dies<br />

mit im Spiel, so ist das in unserer Gesellschaft gegenüber Extremismus <strong>und</strong><br />

Terrorismus vorfindliche Überreaktionspotential selber doch viel allgemeiner<br />

bedingt. Diese nationale Disposition ist ein kulturell verselbständigter<br />

Reflex auf kollektive Erfahrungen — auf Weimar, auf Holocaust, auf geopolitische<br />

Frontlagen im „kalten Krieg", auf anhaltende Defizite an nationaler<br />

Souveränität <strong>und</strong> sicher vielem mehr. Unsere Gesellschaft besitzt wenig<br />

Selbstbewußtsein, ist deshalb auch leicht irritierbar — <strong>und</strong> das sichert dem<br />

Terrorismus Anfangserfolge allein dadurch, daß er selbst bei mäßigem Reiz<br />

schon zu einem Problem definiert wird, das Notstandsgrößen erreicht.<br />

Überreaktionswahrscheinlichkeiten ergeben sich allerdings auch unabhängig<br />

von kollektiver Reizbarkeit aus den Reizen des Terrorismus selber.<br />

Zweierlei ist in diesem Zusammenhang zu beachten. Erstens: Hat ein politisches<br />

System die Herausforderung von Terroristen angenommen, dann<br />

gewinnt deren Verfolgung sehr schnell zumindest den Anschein von Unverhältnismäßigkeit.<br />

Dies resultiert aus dem Sachverhalt, daß Terrorismus ein<br />

Kleingruppenphänomen ist. Hängt zwar damit zusammen, daß er aus eigener<br />

Kraft nicht gewinnen kann, so zieht er aus dem gleichen Umstand aber<br />

auch taktische Vorteile, die ausreichen, um den Verfolgern Serien von Niederlagen<br />

zuzufügen. Einerseits fällt es sog. Verfolgungsbehörden sowieso<br />

schwer, einem Handlungssystem auf die Spur zu kommen, das nicht der<br />

Logik ihrer eigenen bürokratischen Organisationsform, sondern den abweichenden<br />

Rationalitätskriterien von Kleingruppen folgt. Und andererseits<br />

brauchen diese, weil klein, nur winzige Nischen, um sich dem Zugriff<br />

der Verfolgung zu entziehen. Daraus ergibt sich für die Reaktion die Tendenz,<br />

nicht nur mit sogen. Zielfahndung, sondern auch mit jenem Typus<br />

der Rasterfahndung zu antworten, der an Rollkommandos <strong>und</strong> Flächenbo<strong>mb</strong>ardements<br />

erinnert. Zu viele Unbeteiligte geraten damit in Verdacht<br />

<strong>und</strong> unter Druck. Dergleichen geht an die liberale Substanz einer Gesellschaft.<br />

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Zweitens: In die gleiche Richtung zielt die allgemeine Präponderanz<br />

des Sy<strong>mb</strong>olischen am Phänomen des Terrorismus. Da sein Skandal sich<br />

weniger aus Kriminalität als solcher denn aus den Gesinnungen ergibt, die<br />

an diese Kriminalität gekoppelt sind, liegt die Versuchung nahe, nun auch<br />

Gesinnungen zur Spurensuche zu verwenden, mehr noch: sie selber schon<br />

für kriminell zu halten. Die Differenz zwischen Recht <strong>und</strong> Moral, die für<br />

liberale Gesellschaften konstitutiv ist, wird zusammengedrückt. Da reicht<br />

am Ende schon die „klammheimliche Freude" eines nicht einmal eindeutigen<br />

Sympathisanten, um Großalarm auszulösen. Und wer den Rassenwahn<br />

der Nazis für eine gute Sache hält, riskiert nicht nur den Widerspruch <strong>und</strong><br />

Verachtung, sondern Gefängnis.<br />

Die Wahrscheinlichkeit ist also gegeben, daß sich politische Systeme<br />

unter dem Druck von Terroristen mehr oder weniger dem Bilde anzunähern<br />

beginnen, das diese zur Begründung ihres Angriffs schon entworfen hatten.<br />

Sie unterstützen insofern deren Begründung <strong>und</strong> tragen in diesem Sinne<br />

zur Produktion des Reizes bei, auf den sie nur zu reagieren meinen. Die<br />

Frage ist allerdings, ob Terroristen von diesem Zirkel letztlich profitieren.<br />

3. Koalitionschancen<br />

Die Profite in diesem Kampf werden am Ende von den Zuschauern entschieden.<br />

Beide Akteure, Terroristen <strong>und</strong> staatliche Instanzen, agieren auf<br />

einer Bühne, <strong>und</strong> der Beifall des Publikums bestimmt den Sieger. Er kann<br />

sogar dem Verlierer des Kampfes zufallen <strong>und</strong> insofern den sichtbaren<br />

Spielausgang ins Gegenteil drehen. Ein gelingender Anschlag kann ein<br />

Fiasko sein, wenn er als Unrecht gedeutet wird, <strong>und</strong> die physische Vernichtung<br />

von Terroristen kann umgekehrt ihren Triumph über den Gegner bedeuten,<br />

wenn ihr Tod als Indiz für die Grausamkeit dieses Systems erscheint.<br />

Es geht bei allen Aktionen wesentlich um die Gunst des Publikums.<br />

Und insofern der Einfluß dieses „Dritten" im Kalkül beider Akteure gesehen<br />

<strong>und</strong> berücksichtigt wird, ist ihr Kampf auch nicht völlig regellos. Man<br />

kann das am besten an dem erkennen, was sie nicht tun, obwohl es technisch<br />

möglich <strong>und</strong> taktisch nützlich wäre, es zu tun. Der angestrebte Publicity-Effekt<br />

schränkt die Angriffsziele <strong>und</strong> Handlungsmittel auf beiden Seiten<br />

ein (F. Neidhardt 1982, S. 467 f.).<br />

Wer unter diesen Bedingungen am Ende die Oberhand behält, läßt sich<br />

in allgemeiner Betrachtung natürlich nicht pauschal bestimmen. Sicher<br />

hängt der Verlauf der Kämpfe neben allen Zufällen auch von sozio-ökonomischen<br />

<strong>und</strong> politischen Lagebedingungen ab, die den Legitimitätsbestand<br />

der gegebenen Herrschaft mitbestimmen. Inmitten innerlich schon zerrütteter<br />

Systeme <strong>und</strong> angesichts eines schon vorhandenen Umsturzpotentials<br />

kann der kleine Reiz terroristischer Aktionen Auslöser kräftiger Veränderungen<br />

in Richtung des Reizes sein. Dieser Effekt läßt sich aber in der<br />

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großen Zahl empirischer Fälle, soweit ich sehen kann, nur äußerst selten<br />

beobachten. Häufiger sind terroristische Aktionen für die politische Bewegung,<br />

der sie voranhelfen sollten, kontraproduktiv gewesen. Um das zu begreifen,<br />

ist davon auszugehen, daß der Ausgang der Kämpfe nicht nur,<br />

wahrscheinlich nicht einmal in erster Linie, von den Legitimitätsproblemen<br />

des vorhandenen politischen Systems bestimmt ist, sondern auch, vielleicht<br />

mehr noch, von den davon unabhängigen Legitimitätsproblemen des Terrorismus<br />

selber.<br />

Das Ausmaß der Rechtfertigungsschuld, die den Terrorismus zuerst<br />

einmal in eine moralische Defensive bringt, ist in elementarster Weise kulturell<br />

bestimmt, nämlich abhängig davon, in welchem Maße sich Gewalttabus<br />

allgemein durchgesetzt haben. Sind diese mit der Zivilisationsgeschichte<br />

von Gesellschaften in der Bevölkerung verinnerlicht worden, dann löst<br />

ihre Verletzung peinliche Begründungszwänge aus. Um diese zu lösen, reicht<br />

es wahrscheinlich nicht aus, daß es der terroristischen Theorie gelingt, die<br />

Kritik an dem bestehenden System zu dramatisieren, wenn sie nicht gleichzeitig<br />

überzeugende Bilder eines machbaren besseren Lebens entwerfen<br />

kann. Es geht hierbei um Utopie. Besitzt sie die Qualität, Nachfolge zu mobilisieren?<br />

Dies dürfte nicht nur von ihrer sozialen Validität abhängen, d.h.<br />

davon, in welchem Maße sie die in einer Gesellschaft tatsächlich vorhandenen<br />

Überschüsse an Wünschen <strong>und</strong> Träumen authentisch aufgenommen <strong>und</strong><br />

verarbeitet hat; sondern auch von dem, was man Utopiequantum nennen<br />

könnte, dem Ausmaß nämlich, in dem das als ideal Vorgestellte den Status<br />

quo übersteigt. Der soziale Effekt dieser Größe läßt sich mit dem aus der<br />

Motivationspsychologie bekannten Gesetz der „dosierten Diskrepanz"<br />

(H. Heckhausen) kalkulieren. Ein zu geringes Utopiequantum rechtfertigt<br />

nicht den Aufwand des Kampfes, ein zu großes schreckt ab, weil es ins<br />

Unvorstellbare verschwimmt <strong>und</strong> als nicht einlösbar erscheint. Terroristische<br />

Gruppierungen unterscheiden sich in dieser Hinsicht folgenreich. Wahrscheinlich<br />

operiert der Terrorismus separatistischer Bewegungen — siehe die<br />

baskische ETA oder die nordirische IRA (Waldmann 1984) — deshalb relativ<br />

erfolgreich, weil ihr Ideal, nämlich Autonomie, gleichzeitig stimulierend<br />

<strong>und</strong> faßbar ist. Sozialrevolutionäre Umsturzbewegungen sind in dieser Hinsicht<br />

in der Regel ehrgeiziger <strong>und</strong> überfordernder. Alles soll anders werden.<br />

Auch die Terroristen dieser Idee können Bew<strong>und</strong>erung auslösen. Ihr bewaffneter<br />

Kampf fasziniert wegen seiner heroischen Konsequenz. Aber<br />

Heroismus ist kein generalisierbares Handlungsmuster. Diese Terroristen<br />

geraten deshalb häufig in die absurde Lage einer Avantgarde von nichts.<br />

Wahrscheinlicher als Nachfolge ist unter den genannten Bedingungen<br />

eine Gegenbewegung für „law and order". Wenn sich terroristische Gewalt<br />

nicht als gleichzeitig notwendige <strong>und</strong> produktive Gegengewalt rechtfertigen<br />

kann, befördert sie eher eine Ritualisierung des Status quo. Man weiß, was<br />

man hat. Und wer wenigstens dies garantiert, erhält im Notfall Rückendekkung.<br />

Zu diesem Reaktionsmuster ist einschlägig, was Heinrich Popitz über<br />

den „Ordnungswert der Ordnung als Basislegitimität" geschrieben hat<br />

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(Popitz 1968, S. 33 f.). Auf den Status quo, sofern er nur eine Struktur besitzt,<br />

kann man sich einstellen <strong>und</strong> einrichten. Dies ist die Voraussetzung<br />

für alles weitere. Wer sie angreift, verstärkt ihre Bedeutung.<br />

Es ist genau dieser Mechanismus, der sich in unserem Lande während<br />

der siebziger Jahre als Reaktion auf Terrorismus abgespielt hat. Wie Manfred<br />

Murck mit empirischen Daten hat belegen können (Murck 1980,<br />

S. 148 ff.), kam es in der Bevölkerung zum Terrorismusthema zwar zu gewissen<br />

Polarisierungen, aber deutlich stärker werdende Mehrheiten sahen<br />

einerseits unseren Staat durch Terroristen „in eine schwere Krise gestürzt"<br />

<strong>und</strong> forderten andererseits, der Staat müsse gegen Terroristen „hart <strong>und</strong> mit<br />

allen erdenklichen Mitteln zurückschlagen". Ich stimme der Ansicht von<br />

Murck zu, daß sich im Vergleich zu diesen <strong>gesellschaftliche</strong>n Reaktionen,<br />

die sich in den Bewegungen der öffentlichen Meinung niederschlugen, die<br />

staatlichen Reaktionen als eher zögerlich <strong>und</strong> behutsam ausnahmen. Sie<br />

wurden von den Massen keineswegs als Überreaktionen gedeutet. Die Provokation<br />

des Terrorismus erzeugte zu Lasten liberaler Kultur einen <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

backlash ins Reaktionäre, der vom politischen System zum<br />

Teil, aber eben nur begrenzt aufgefangen <strong>und</strong> ausbalanciert wurde. Natürlich<br />

kann auch eine Regression auf „law and order" im Zielkatalog von<br />

Terroristen stehen. Man wird diese eher auf der rechten als auf der linken<br />

Seite des politischen Spektrums finden können <strong>und</strong> darf in diesem Zusammenhang<br />

durchaus die Folgerung ziehen, daß der Rechtsterrorismus mehr<br />

als der Linksterrorismus die Chance besitzt, anhaltende Gewinne zu erzielen.<br />

Er ist — bei sonst gleichen Ausgangsbedingungen — tendenziell erfolgreicher,<br />

weil die politische Reaktion auf ihn selber mit höherer Wahrscheinlichkeit<br />

in die Richtung seiner eigenen Zwecke führt.<br />

4. Streit um Worte<br />

Wie weit eine reaktionäre Tendenz sich durchsetzt <strong>und</strong> in welchem Maße<br />

widerstandslos die damit verb<strong>und</strong>enen Prozesse ablaufen, ist von zusätzlichen<br />

Faktoren abhängig <strong>und</strong> von Fall zu Fall gesondert zu beurteilen.<br />

Wichtig sind in dieser Hinsicht nicht nur die durchschnittlichen Meinungstendenzen,<br />

sondern vor allem die vorhandenen Meinungsverteilungen. Auch<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik ließ sich als Reaktion auf Terrorismus nicht nur die<br />

zunehmend repressive Stimmung wachsender Mehrheiten erkennen, sondern<br />

bei sich deutlich profilierenden Minderheiten auch die scharfe Opposition<br />

dazu, insgesamt also eine Polarisierung der öffentlichen Meinung.<br />

Entsteht diese Konstellation, dann wird die unmittelbare Auseinandersetzung<br />

mit dem Terrorismus von einem Meta-Konflikt überlagert <strong>und</strong> durchsetzt,<br />

der im wesentlichen eine Auseinandersetzung über die staatlichen<br />

Reaktionen auf den Terrorismus darstellt. Ein solcher Meta-Konflikt besitzt<br />

die Tendenz, sich zu verselbständigen <strong>und</strong> mit hoher Eigendynamik weit<br />

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über seine eigentlichen Anlässe hinauszuführen. Er äußert sich vor allem als<br />

ein Streit um Worte. Sprache wird zum Mittel des Kampfes. Dies ist für den<br />

Soziologen lehrreich, weil es ihn auf etwas stößt, das zu begreifen immer<br />

wieder lohnt: daß Wirklichkeit eine verfügte <strong>und</strong> verhandelte Fiktion ist,<br />

ein soziales Definitionsprodukt, das sich über die Gegenstände legt, sich von<br />

ihnen entfernt, ein Eigenleben beginnt, sich abschließt. Die große Wirkung<br />

des kleinen Reizes, den Terrorismus darstellt, macht diesen allgemeinen<br />

Sachverhalt am besonderen Fall hervorragend deutlich. Die Frage ist, warum<br />

dies am Beispiel des Terrorismus so deutlich wird <strong>und</strong> was es für diesen<br />

Fall am Ende auch für die Soziologie bedeutet.<br />

Terrorismus ist selber von Anfang an sy<strong>mb</strong>olisches Handeln. Seine Botschaft<br />

ist ein Angriff auf die sozialen Bestandsgarantien von Herrschaft,<br />

nämlich auf deren Legitimation oder — um es mit Max Weber zu sagen —<br />

auf ihr „Prestige der Vorbildlichkeit oder Verbindlichkeit" (Weber 1956,<br />

S. 23). Der Adressat dieser Botschaft ist das Bewußtsein der Massen. Es<br />

soll aufgerührt <strong>und</strong> verändert werden. Darum ist es nicht zufällig, daß die<br />

„Propaganda der Tat" von Terroristen so häufig mit Erläuterungen <strong>und</strong><br />

Rechtfertigungen, also mit Sprache, komplettiert wird. Der Terrorismus ist<br />

eine untypisch redselige Art von Kriminalität; er liefert die Metakommunikation<br />

über sein Handeln regelmäßig mit. In gewisser Weise ist auch dies ein<br />

Indiz seiner Schwäche. Der Rekurs auf Sprache ist im politischen Bereich<br />

ein Anzeichen dafür, daß es Defizite an Geld, Macht <strong>und</strong> Prestige gibt. Dies<br />

trifft nun auch auf politische Systeme zu, die von Terroristen angegriffen<br />

werden, insofern ihre Herrschaft der Zustimmung der Unterworfenen bedarf.<br />

Je mehr sie sich dieser Zustimmung ungewiß sind, umso mehr werden<br />

auch sie dazu neigen, Überzeugungsarbeit mit Hilfe von Sprachpolitik zu<br />

betreiben. Beiden Seiten geht es darum, das eigene Recht gegen das Unrecht<br />

des Gegners zu erklären.<br />

Bei dieser Konkurrenz geht es vordergründig <strong>und</strong> unmittelbar um Fragen<br />

der Benennung. Lassen sich bestimmte Sachverhalte in bestimmten<br />

Wörtern unterbringen, mit ihnen etikettieren? Darf z.B. die Praxis unserer<br />

Gefängnisse „Isolationsfolter" genannt werden? Ist Heinrich Böll ein „Sympathisant"?<br />

Die Entscheidung solcher Fragen ist folgenreich; sie bereitet<br />

Handlungen vor. Unabhängig davon wird an den Beispielen aber auch schon<br />

der Effekt erkennbar, der über die konkreten Situationen hinausführt, indem<br />

er sich kulturell verankert: Es geht nicht nur um die Anwendung von<br />

Wörtern, sondern auch <strong>und</strong> nachhaltiger um ihre Definition. Die Sprache<br />

selber wird verhandelt. Und je mehr sich der Konflikt um Terrorismus<br />

ausdehnt <strong>und</strong> vervielfältigt, umso mehr Sprache gerät in den Wirbel. Begriffe<br />

werden ausgedehnt oder eingeschränkt, erhalten positive oder negative<br />

Ladungen. Kapitalismus, Imperialismus, Faschismus, deutsch, Gewalt,<br />

Regelverletzung, Verfassungsfeind, Extremismus, links, rechts — all dies ist<br />

nachher nicht mehr das, was es vorher war. Und die <strong>gesellschaftliche</strong> Praxis<br />

sog. Ursachenforschung sorgt für eine Potenzierung der semantischen<br />

Umdispositonen. Das fängt z.B. bei Marxismus <strong>und</strong> „Frankfurter Schule"<br />

an <strong>und</strong> hört bei Wohngemeinschaften <strong>und</strong> Familie noch nicht auf.<br />

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Eine Soziologie, die solche Prozesse beobachtet, besitzt ein angestammtes<br />

Aufgabenfeld darin, die Strukturen dieser Prozesse festzustellen <strong>und</strong> sie<br />

zur Erklärung der Prozeßausgänge zu benutzen. Sie wird dabei auf hierarchische<br />

Ungleichgewichte in dem Streit um Worte stoßen <strong>und</strong> z.B. bei der<br />

Prüfung der Funktionen von Gerichten, Parlamenten <strong>und</strong> Massenmedien<br />

folgenreiche Probleme hinsichtlich der <strong>gesellschaftliche</strong>n Kontrolle dieses<br />

Streits erkennen können. Fritz Sack hat dies in seiner ASÖTE-Studie zur<br />

„Pathologie politischer Konflikte" mit Recht angesprochen (Sack 1984,<br />

bes. S. 45 ff.). Vor zweierlei sei allerdings gewarnt.<br />

Zum ersten: die Soziologie darf die Organisierbarkeit kultureller Prozesse<br />

nicht überschätzen. Sicher begegnen ihr in diesem Felde Manipulationen,<br />

Verdrängungsmechanismen der Zensur, auch glatte Fälschungen, mit<br />

denen von oben nach unten Einfluß ausgeübt wird. Aber es darf nicht übersehen<br />

werden, daß Manipulationen von den Menschen, auf die sie einwirken,<br />

auch angenommen werden müssen. Und ob sie angenommen werden,<br />

entscheidet sich nicht schon mit dem Geschick der Manipulateure <strong>und</strong> der<br />

Macht, die sie besitzen. Sie selber bedürfen einerseits eines Minimums an<br />

Vertrauen, das sie sich haben erwerben müssen, andererseits muß ihre Botschaft<br />

dem „gemeinen Menschenverstand" plausibel sein, in seine Erfahrungen<br />

passen, seinen Wirklichkeitskonstruktionen konsonant sein, Öffentlich<br />

wirksamer Betrug ist natürlich für eine engagierte Sozialforschung<br />

eine beachtliche, weil mit Recht skandalisierbare Entdeckung. Aber die<br />

konkrete Empörung sichert noch keinen allgemeinen Erkenntnisgewinn.<br />

Die theoretische Bedeutung aufgedeckter Manipulationen bleibt marginal,<br />

wenn sie nicht im Rahmen der äußerst diffusen Prozesse analysiert werden,<br />

die über ihre kollektive Wirkung entscheiden. Dies bleibt unvollständig,<br />

wenn die kritische Größe unbefragt bleibt, die wir Bevölkerung oder Masse<br />

oder Öffentlichkeit nennen. Wir Soziologen haben uns angewöhnt, sie den<br />

Meinungsbefragungsinstituten zu überlassen.<br />

Zum zweiten: Wir Soziologen sollten sehr vorsichtig sein bei der Behauptung<br />

dessen, was in Konfliktlagen wirklich <strong>und</strong> wahr sei. Wirklichkeit<br />

begegnet auch uns überwiegend als Sprache. Und wenn diese in <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Konfliktlagen auseinanderbricht, dann begegnen uns zu dem gleichen<br />

Sachverhalt mehrere Wirklichkeiten, hinter denen ungleiche Menschengruppen<br />

mit unterschiedlichen Erfahrungen, Interessen <strong>und</strong> Überzeugungen<br />

stehen. Was gibt uns die Kriterien, um die eine Wirklichkeit für angemessener<br />

als die andere zu halten? Woher nehmen wir die Maßstäbe, um z.B. von<br />

der Überreaktion einer Seite zu sprechen? Unsere Schwierigkeit beginnt<br />

schon mit der Sprache, die wir reden. Wessen Sprache reden wir, wenn die<br />

Wörter strittig <strong>und</strong> ihre Bedeutung parteilich ist? Kann man in der Analyse<br />

Wörter wie Imperialismus oder Sympathisant oder Gewalt noch anders als<br />

in Anführungszeichen benutzen? Vielleicht besteht die allgemeinste <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Funktion der Soziologie gegenüber den Parteien darin, Zitate zu<br />

übersetzen, soll heißen: die Sprachsysteme der einen Seite der anderen Seite<br />

verständlich zu machen. Das könnte dazu beitragen, daß eine Kommunikation<br />

zwischen den Gegnern möglich bleibt, die ohne Waffen auskommt.<br />

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LITERATUR<br />

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Murck, Manfred 1980, Soziologie der öffentlichen Meinung, Frankfurt/M.<br />

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Popitz, Heinrich 1968, Prozesse der Machtbildung, Tübingen.<br />

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Steinert, Heinz 1984, „Strukturelle Bedingungen des 'linken Terrorismus' der 70er Jahre.<br />

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Waldmann, Peter 1984, Gewaltsamer Separatismus. Am Beispiel der Basken, Franco-<br />

Kanadier, Katalanen <strong>und</strong> Nordiren. Mskr.<br />

Weber, Max 1964, Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Studienausg. 1. Halbbd., Köln <strong>und</strong><br />

Berlin.<br />

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ZUR SOZIOLOGIE DES TERRORISMUS<br />

Fritz Sack<br />

Einleitung<br />

Die heutige Veranstaltung wird im offiziellen Programm der Gesellschaft als<br />

Forum bezeichnet, auf dem — so wird gesagt — „teilweise sehr kontroverse"<br />

Ergebnisse dargestellt <strong>und</strong> erörtert werden sollen. Den Beitrag, den ich dazu<br />

leisten möchte, besteht darin, meine eigenen Erfahrungen, Entscheidungen<br />

<strong>und</strong> Lösungen zur Bewältigung der Aufgabe <strong>und</strong> des Auftrags, den „Ursachen<br />

des Terrorismus" nachzugehen, darzulegen. In Erinnerung der Diskussionen,<br />

die es bei der Erstellung meiner Studie gab, <strong>und</strong> angesichts der Tatsache,<br />

daß sich in einem Referat manche Dinge weniger umwegreich <strong>und</strong><br />

systematisch eingebettet sagen lassen als in einem Bericht mehrerer h<strong>und</strong>ert<br />

Seiten, werden sicher auch hier Kontroversen nicht ausbleiben. Sie würden<br />

allerdings gewiß heftiger ausfallen, wenn an der heutigen Veranstaltung das<br />

volle personelle Spektrum der Wissenschaftler repräsentiert wäre, das an der<br />

Erforschung der „Ursachen des Terrorismus" beteiligt war. „Ursachen des<br />

Terrorismus" — das war auch der offizielle Arbeitstitel des wissenschaftlichen<br />

Unternehmens, das im Verlaufe der gewalteskalierenden Konflikte<br />

zwischen der Studentenbewegung <strong>und</strong> der außerparlamentarischen Opposition<br />

Anfang bis Mitte der 70er Jahre in amtlichen Kreisen allmählich heranreifte.<br />

Zur organisatorischen <strong>und</strong> finanziellen Verwirklichung kam es aber<br />

erst, als im Jahre 1977 mit den drei spektakulärsten terroristischen Handlungen<br />

— der Ermordung des Generalb<strong>und</strong>esanwaltes Buback, der Ermordung<br />

des Bankiers Ponto <strong>und</strong> der blutigen Entführung <strong>und</strong> späteren Ermordung<br />

des damaligen Arbeitgeberführers Schleyer — das offizielle <strong>und</strong> alltägliche<br />

Leben in der B<strong>und</strong>esrepublik ganz in den Sog des Terrorismus zu geraten<br />

schien.<br />

Ich möchte drei Punkte behandeln, unter die sich die Probleme fassen<br />

lassen, von denen ich mir vorstellen könnte, daß sie Teil der heutigen Diskussion<br />

werden. Es sind dies:<br />

— Über die Suspendierung der natürlichen Anschauung der Dinge <strong>und</strong> des<br />

Untersuchungsauftrages<br />

— Theoretische Überlegungen <strong>und</strong> empirische Bef<strong>und</strong>e zum Zusammenhang<br />

von Politik, Recht <strong>und</strong> Gewalt<br />

— Probleme der empirischen Erschließung von Konfliktabläufen<br />

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1. Die Suspendierung der natürlichen Anschauung der Dinge <strong>und</strong> des<br />

Untersuchungsauftrages<br />

Was hiermit gemeint ist, bedarf, so denke ich, einer längeren Erläuterung.<br />

Die Soziologie kennzeichnet über ihre verschiedenen theoretischen Positionen<br />

hinweg ein, wie P.L. Berger (1963, S. 38) es m.E. treffend bezeichnet<br />

hat, methodologisch f<strong>und</strong>iertes spezifisches Bewußtsein, das die Dinge nicht<br />

so nimmt, wie sie sind oder erscheinen. Hiermit ist offensichtlich mehr gemeint<br />

als eine im engeren Sinne ideologiekritische Attitüde. Eine der zentralen<br />

Pointen funktionalistischer Analysen besteht in der systematischen<br />

Suche nach den Ironien sozialer Strukturen <strong>und</strong> Institutionen, für die sie<br />

das Konzept der latenten Funktionen bereitgestellt hat. Marxistische Gesellschaftstheorie<br />

hat seit ihren Anfängen bis auf den heutigen Tag den Impetus<br />

durchgehalten, die Dinge von ihrem Kopf auf die Füße stellen zu wollen.<br />

Im Kontext interpretativer Theorieansätze schließlich wird die Suspendierung<br />

bzw. Einklammerung der Wirklichkeit bis zu ihrer vollständigen<br />

Verflüchtigung methodologisch radikalisiert. Wirklichkeit ist nicht unmittelbar<br />

<strong>und</strong> jungfräulich zur Hand, sondern sie wird uns nur über Sprache, Sy<strong>mb</strong>ole<br />

<strong>und</strong> Zeichen zugänglich <strong>und</strong> verfügbar. Diese aber sind den Dingen der<br />

Wirklichkeit nicht schlicht zu entnehmen. Sie werden vielmehr an sie<br />

herangetragen <strong>und</strong> gehen mit ihnen eine Verbindung ein, die mehr oder<br />

weniger eng ist <strong>und</strong> sich nach Graden der Löslichkeit unterscheidet. In diesem<br />

Sinne hat der Linguist F.D. Saussure die Sprache als Konvention bezeichnet.<br />

Was das auch für die Sprache meint, ist in unnachahmlicher Weise<br />

von L. Carroll in einem Dialog zwischen seinen Märchenfiguren Alice <strong>und</strong><br />

Goggelmoggel ausgedrückt: „Aber" — so beginnt dieser Dialog — „Glocke"<br />

heißt doch gar nicht ein „einmalig schlagender Beweis", wandte Alice ein.<br />

„Wenn ich ein Wort gebrauche", sagte Goggelmoggel in recht hochmütigem<br />

Ton, „dann heißt es genau, was ich für richtig halte — nicht mehr <strong>und</strong> nicht<br />

weniger". „Es fragt sich nur", sagte Alice, „ob man Wörter einfach etwas<br />

anderes heißen lassen kann". „Es fragt sich nur", sagte Goggelmoggel, „wer<br />

der Stärkere ist, weiter nichts!". Ganz offensichtlich ist es die Dimension<br />

der Macht, die hier ins Spiel kommt <strong>und</strong> in eine Nähe zur Sprache <strong>und</strong><br />

ihren einzelnen Elementen gebracht wird. Und diese Nähe, wird man einmal<br />

auf sie gestoßen, macht bekanntlich sprachlos, was nichts anderes heißt, als<br />

die Logik der Sprache durch die sozialer Beziehungen <strong>und</strong> Verhältnisse auszutauschen.<br />

Bei Carroll heißt es dann auch weiter: „Alice war viel zu verwirrt,<br />

um darauf noch eine Antwort zu finden, <strong>und</strong> so sprach Goggelmoggel<br />

nach kurzem Stillschweigen weiter".<br />

Die Analyse des Terrorismus war von vornherein eingebettet in einen<br />

Kampf um die angemessenen Kategorien, Begriffe <strong>und</strong> Interpretationen. Sie<br />

werden sich vielleicht noch daran erinnern, daß es eine bis ins Parlament<br />

hineingetragene <strong>und</strong> mit großen emotionellen <strong>und</strong> politischen Investitionen<br />

gespickte Diskussion darüber gab, ob man die terroristischen Täter als<br />

Bande, Vereinigung oder schlicht als Gruppe zu bezeichnen habe. Wohl-<br />

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gemerkt, diese Diskussion spielte sich nicht zwischen den Terroristen auf<br />

der einen <strong>und</strong> der Öffentlichkeit auf der anderen Seite ab, sondern sie entzweite<br />

<strong>und</strong> teilte die Öffentlichkeit <strong>und</strong> deren Repräsentanten <strong>und</strong> Träger.<br />

Es lassen sich eine Reihe anderer Beispiele anführen, die ähnlich dem<br />

Streit um das richtige Wort für den kollektiven Charakter des Terrorismus<br />

signalisierten, daß es bei dem Terrorismus nicht nur um<br />

Rechtsgutsverletzu<br />

keinen Zweifel, daß die Taten selbst, die Morde, Entführungen, Bo<strong>mb</strong>enanschläge<br />

keine strafrechtlichen Subsumptionsprobleme darstellten. Daß<br />

trotz dieser Eindeutigkeit geradezu beschwörend auf ihr insistiert wurde;<br />

daß dies nicht von den dazu allein befugten staatlichen Amtsträgern, den<br />

Gerichten, Staatsanwaltschaften <strong>und</strong> Polizeibehörden, sondern von Politikern,<br />

Publizisten, Trägern <strong>und</strong> Sprechern der verschiedenen <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Institutionen <strong>und</strong> Bereiche getan wurde; daß weiter die Verfolgung<br />

dieser Straftaten nicht nur in dem beschriebenen Sinne institutionell entgrenzt<br />

wurde, sondern auch unter Verletzung einer Reihe staatlicher, überstaatlicher<br />

<strong>und</strong> strafrechtlicher Regeln <strong>und</strong> Prinzipien der Strafverfolgung<br />

geschah: alle diese Umstände kann die soziologische Analyse des Terrorismus<br />

m.E. nicht aus sich entlassen <strong>und</strong> in den Kontext des zu analysierenden<br />

Geschehens verweisen.<br />

Die zitierten Ereignisse der Entgrenzung institutioneller Art, wie ich<br />

sie gerade angedeutet habe, belegen, daß Politiker, Journalisten <strong>und</strong> nichtwissenschaftliche<br />

Repräsentanten handelnd soziologische Einsichten vollzogen,<br />

denen gegenüber die Vertreter der Disziplin ein Nachsehen hatten<br />

<strong>und</strong> nicht so recht auf die Spur kommen konnten. Auf einem anderen Blatt<br />

steht natürlich, daß die Handlungen von Politik <strong>und</strong> Öffentlichkeit dem<br />

Terrorismus gegenüber von einer Rhetorik begleitet waren, die keine Kandidaten<br />

für die Aufnahme in soziologische Bücher oder Zeitschriften hervorbrachte,<br />

jedenfalls nicht in alle <strong>und</strong> jede.<br />

Ich wüßte indessen nicht, daß diese Diskrepanz nachhaltig der Anstrengung<br />

soziologischer Registrierung oder gar soziologischer Analyse für wert<br />

bef<strong>und</strong>en worden wäre.<br />

Ich erinnere mich statt dessen noch gut an eine Diskussion im R<strong>und</strong>funk<br />

oder Fernsehen aus jener Zeit des „deutschen Herbstes" — so der Titel<br />

eines Buches, das die Ereignisse im Jahre 1977 sprachlich treffend zusammengezogen<br />

hat. In dieser Diskussion versagte sich ein deutscher Soziologe,<br />

nach einer analytischen <strong>und</strong> soziologischen Bemerkung zum Terrorismus gefragt,<br />

die Antwort mit dem Hinweis darauf, daß dies nicht die St<strong>und</strong>e der<br />

Analyse, sondern die der strafrechtlichen Verfolgung, der Polizei sei.<br />

Zu jener Zeit war allerdings in Kreisen von Staat <strong>und</strong> Politik längst das<br />

Eingeständnis herangereift, daß Strafrecht <strong>und</strong> Polizei nicht die angemessene<br />

<strong>und</strong> volle Anwort auf den Terrorismus böten. Der damalige Justizminister<br />

hat die folgende Feststellung des Politologen Lübbe: „Im Kampf<br />

gegen den Terror können Polizei <strong>und</strong> Gerichte nur Nacharbeit leisten, an<br />

die Ursachen des Terrorismus kommt man mit Verfahren <strong>und</strong> Verurteilun-<br />

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gen nicht heran", zu der Schlußfolgerung weitergeführt: „Deshalb sind gerade<br />

die geistig-politische Auseinandersetzung <strong>und</strong> die kriminologische Ursachenforschung<br />

von herausragender Bedeutung" (1979, S. 41). Die hier<br />

vorzustellenden <strong>und</strong> heute zu diskutierenden Studien sind u.a. das Produkt<br />

dieser Einsicht.<br />

Freilich wird man genau hinhören müssen: geistig-politische Auseinandersetzung<br />

<strong>und</strong> kriminologische Ursachenforschung: Handlungsaufforderung<br />

das eine, handlungshemmender Ruf nach Wissenschaft das andere. Nur<br />

im nachhinein mag man in dieser Formulierung eine Bedachtsamkeit obwalten<br />

sehen, die sich auf den ersten Blick nicht erschließt. Die geistig-politische<br />

Auseinandersetzung mit dem Terrorismus war mehr oder weniger identisch<br />

mit der Wortschöpfung des Sympathisanten <strong>und</strong> den nicht nur sy<strong>mb</strong>olischen<br />

Kampagnen gegen diese Spezies unserer Gesellschaft. Ich erinnere an<br />

die Spalten der Presse, die Minuten der Tagesschau, die Akten der Staatsanwaltschaft<br />

füllenden Ereignisse um das sog. Mescalero-Flugblatt, an<br />

Sendungs- <strong>und</strong> Auftrittsverbote in den Medien, an die Attacken auf Konfliktpädagogik,<br />

hess. Rahmenrichtlinien, an Kritik an Schulbüchern, öffentlichen<br />

Bibliothekssortimenten. Die Liste ist verlängerbar <strong>und</strong> ließe sich zu<br />

einem empirischen Reservoir für eine Soziologie der sozialen <strong>und</strong> politischen<br />

Skandalisierung anhäufen. Beobachter wie Betroffene dieser Vorgänge<br />

mögen unter ihnen sein, <strong>und</strong> ich kann mir deshalb Einzelheiten, Belege<br />

<strong>und</strong> weitere Beschreibungen aus zweiter Hand ersparen.<br />

Diese geistig-politische Auseinandersetzung mit dem Terrorismus wies<br />

<strong>und</strong> griff, wie das Zitat verspricht, über das Strafrecht hinaus, freilich in<br />

einem ganz anderen Sinne als man es auch vermuten könnte. Sie verlängerte<br />

<strong>und</strong> generalisierte das Strafrecht in die Gesellschaft. Sie war beherrscht <strong>und</strong><br />

bestimmt von der Rhetorik <strong>und</strong> dem Ziel der Ausgrenzung von Ideen, Personen<br />

<strong>und</strong> Gruppen. Es war deshalb nur folgerichtig <strong>und</strong> entsprach dem öffentlich<br />

wirksam gewordenen Programm staatlicher Reaktion auf den Terrorismus,<br />

wenn der gezielte — <strong>und</strong> keineswegs wohl zufällige — Zugriff auf<br />

gerade die kriminologische Ursachenforschung fiel. Damit auf jene Teildisziplin<br />

innerhalb der Sozial- <strong>und</strong> Verhaltenswissenschaften, die in ihrer bisherigen<br />

Geschichte zweifellos den größten alltagspraktischen, kriminalpolitischen<br />

<strong>und</strong> forensischen Verwertungszumutungen ausgesetzt war <strong>und</strong> weitgehend<br />

auch willfahren hat. Das ist knapp <strong>und</strong> in den Ohren mancher<br />

sicherlich zu polemisch formuliert. Was in einer unverfänglicheren, wissenschaftlich<br />

lizensierteren Sprache damit gemeint ist, hat Luhmann in seinen<br />

oft unnachahmlich a<strong>mb</strong>ivalenten Theorieüberlegungen — hier in seiner<br />

Rechts<strong>soziologie</strong> — wie folgt zum Ausdruck gebracht. Die Abwicklungen<br />

von Erwartungsenttäuschungen, wie Luhmann abweichendes Verhalten<br />

theoretisch faßt, geschähe in modernen Gesellschaften nach dem Prinzip<br />

der lernunwilligen — <strong>und</strong> -unfähigen, „kontrafaktischen Stabilisierung"<br />

von Erwartungen. „Schon die Tatsache", so Luhmann (1972, S. 55), „daß<br />

ein enttäuschendes Verhalten überhaupt als Abweichung erlebt wird, bestätigt<br />

die Norm ... Damit ist die Norm schon gerettet <strong>und</strong> der Nor<strong>mb</strong>recher<br />

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fast schon verloren". „Die Erklärung (...) muß daher das enttäuschende Ereignis<br />

von der Norm distanzieren" (S. 56) — den Terrorismus, so lautet die<br />

Übersetzung für unsere Zwecke, von der Gesellschaft. Auf diese Weise entziffert<br />

Luhmann die gesamte „kriminologische Ursachenforschung" in dem<br />

hier gemeinten Sinn als „moderne Varianten pseudowissenschaftlicher Begriffe<br />

<strong>und</strong> Gesetzmäßigkeiten" (S. 56), deren Vorverständnis geprägt sei<br />

durch die „unüberschreitbaren Grenzen", die „moderne Rechtsordnungen"<br />

der „wissenschaftlichen Erklärung abweichenden Verhaltens" setzten, statt<br />

dessen letztere durch „eine weitgehend fiktive Erklärung ersetzten: durch<br />

die Annahme individueller Schuld" (S. 58).<br />

Eine solche „vorsoziologische Konzeption abweichenden Verhaltens<br />

bleibe geb<strong>und</strong>en an eine vorgegebene Präferenzstruktur" (a.a.O., S. 121)<br />

des Guten <strong>und</strong> des Bösen, wohingegen eine soziologische Analyse gerade<br />

diese Präferenzstruktur zum Problem zu machen hätte. Dabei bestreite<br />

diese vorsoziologische Konzeption des abweichenden Verhaltens dem Bösen<br />

in „einseitiger Parteilichkeit die eigene Normativität <strong>und</strong> (verquickte) den<br />

Gegensatz von Gut <strong>und</strong> Böse mit dem von Norm <strong>und</strong> Faktum" (a.a.O.). Die<br />

Soziologie des abweichenden Verhaltens habe sich, obwohl sie „außerhalb<br />

der Rechts<strong>soziologie</strong> ... konsolidiert" sei, gerade in diese Richtung zu entwickeln,<br />

da sich ihr „theoretischer Ansatz" „im Gr<strong>und</strong>e von der Rechts<strong>soziologie</strong><br />

nicht trennen lasse" (a.a.O.). Diese letzte Bemerkung verweist<br />

Luhmann (1972) zwar in den Status einer Fußnote, er hätte dies jedoch<br />

sicherlich nach der inzwischen erfolgten theoretischen Diskussion innerhalb<br />

der Rechts<strong>soziologie</strong> <strong>und</strong> der Soziologie des abweichenden Verhaltens<br />

heute nicht mehr nötig.<br />

Es kann keine Frage sein, daß die wissenschaftliche Analyse des Terrorismus,<br />

die staatlicherseits unter Federführung eines ministeriellen Arbeitsstabes<br />

mit dem Titel „Öffentlichkeitsarbeit zum Terrorismus" auf den Weg<br />

gebracht wurde, eine Forschung nicht im Sinn hatte, die eine solche soziologische<br />

Perspektive zum Ausgangspunkt nehmen würde. Statt dessen war<br />

eine Analyse anvisiert, die gerade nicht darin bestand — ich zitiere nochmals<br />

Luhmann —, „abweichendes Verhalten ... als normales Korrelat von Systemstrukturen<br />

(zu sehen), nicht mehr als bedauerliche, auf die Natur des<br />

Menschen zurückführbare Ungehorsamsquote, sondern als eine Folge von<br />

Strukturentscheidungen des sozialen Systems" (a.a.O., S. 122).<br />

Ich habe genau dies versucht, muß aber natürlich Luhmann aus der Haftung<br />

für diese Einlösung herausnehmen. Allerdings möchte ich, bevor ich<br />

detaillierter in den Versuch einer so verstandenen Analyse eintrete, Risiken<br />

<strong>und</strong> Voraussetzungen dafür nochmals im Luhmanns Worten bezeichnen:<br />

„Sie (die soziologische Analyse — F.S.) ist nur denkbar, wenn der Forscher<br />

aus der Perspektive des moralischen Urteils heraustritt <strong>und</strong> die Beschäftigung<br />

mit abweichendem Verhalten <strong>und</strong> sein Urteil darüber nicht ihm selbst<br />

zum Vorwurf gereichen ... Die Auswahl der Erklärung darf, mit anderen<br />

Worten, weder subjektiv noch objektiv durch die Moralität des zu erklärenden<br />

Ereignisses behindert werden". (Ebd.).<br />

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Ganz offensichtlich geht es hier nicht alleine mehr um das Verhalten<br />

des Wissenschaftlers, der eine solche Analyse probiert, sondern um den<br />

Kontext, in den ein solcher Versuch gestellt ist. Das relativ späte Erscheinen<br />

des Bandes, in dem meine Studie, zusammen mit anderen, unter dem<br />

Gesamttitel „Protest <strong>und</strong> Reaktion" veröffentlicht ist, hatte nicht nur mit<br />

seiner späten Fertigstellung, sondern auch damit zu tun, daß sie u.a. dem<br />

Vorwurf mangelnder Vertragserfüllung ausgesetzt war <strong>und</strong> daß ihre Publizierbarkeit<br />

in der staatlich subventionierten Reihe in Zweifel stand.<br />

2. Theoretische Überlegungen <strong>und</strong> empirische Bef<strong>und</strong>e zum Zusammenhang<br />

von Politik, Recht <strong>und</strong> Gewalt<br />

Den Zusammenhang von Politik, Recht <strong>und</strong> Gewalt, um den es mir in meinem<br />

zweiten Punkt geht, möchte ich unter drei Gesichtspunkten erörtern:<br />

— erstens möchte ich unter Rückgriff auf R.K. Merton (1957, S. <strong>35</strong>7 ff.)<br />

die soziale Dynamik politischer Kriminalität beleuchten;<br />

— zweitens will ich daraus Überlegungen zur Verknüpfung von Studentenbewegung<br />

<strong>und</strong> Terrorismus herleiten;<br />

— drittens geht es mir um die Analyse von Eskalationsprozessen <strong>und</strong> die<br />

Rolle staatlichen Handelns in ihnen.<br />

a) Zur Dynamik politischer Kriminalität<br />

Ich komme zunächst zu dem Problem der genaueren theoretischen Interpretation<br />

des politischen Elements des Terrorismus. In Anknüpfung an die<br />

Arbeit von S. Ranulf (1938) unterscheidet Merton zwei Typen abweichenden<br />

Verhaltens, deren Differenz er nicht gemäß ihren manifesten, strafrechtlich<br />

definierten Handlungen bestimmt, sondern die er bezugsgruppentheoretisch<br />

faßt. Manifest <strong>und</strong> empirisch faßbar wird nach Merton die Differenz<br />

zwischen beiden Formen abweichenden Verhaltens — Merton nennt<br />

sie die „Nonkonformität" in einem, „Abweichung" in einem anderen Falle<br />

— in der Art der sozialen Reaktion auf sie. Diese die beiden Typen abweichenden<br />

Verhaltens differenzierende soziale Reaktion bestimmt Merton<br />

nun in der Weise, daß im Falle der Abweichung die Reaktion sich gründe<br />

auf einer „im wahrsten Sinne des Wortes aferinteressierten moralischen Entrüstung",<br />

wohingegen im Falle der Nichtkonformität die moralische Entrüstung<br />

eine interessierte sei.<br />

Es geht hierbei — <strong>und</strong> das ist erstens zu unterstreichen — um die Reaktion<br />

nicht der unmittelbar von einem kriminellen Geschehen be- <strong>und</strong> getroffenen<br />

Mitglieder einer Gesellschaft, sondern um die Reaktion der daran un-<br />

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eteiligten Mitglieder der Gesellschaft. Merton sieht die Effektivität <strong>und</strong> die<br />

Wirksamkeit sozialer Kontrolle in diesem — wie er es nennt —, „Reservoir<br />

moralischer Entrüstung" begründet: Ohne es „wären die Mechanismen sozialer<br />

Kontrolle in ihrer Funktionsweise erheblich beschränkt", „denn" —<br />

so Merton weiter — „nicht nur die relativ geringe Anzahl der durch die Abweichung<br />

unmittelbar beeinflußten Personen, sondern auch die anderen<br />

Mitglieder einer Gesellschaft, die die kulturell akzeptierte Norm teilen, werden<br />

aktiviert, um den Abweichenden ... auf die Linie der Norm zurückzuholen."<br />

Eine zweite Anmerkung möchte ich zum Begriff der „desinteressierten<br />

moralischen Entrüstung" anfügen. Moral <strong>und</strong> Interesse sind zwei entgegengesetzte<br />

Organisationsprinzipien: Moral ist ein generalisierter, unbedingter<br />

<strong>und</strong> bedingungsloser Verhaltensanspruch, wohingegen Interesse für partikulare,<br />

geb<strong>und</strong>ene <strong>und</strong> abgeleitete Erwartungen steht. Insofern ist „desinteressierte<br />

moralische Entrüstung" im Gr<strong>und</strong>e ein Begriffspleonasmus <strong>und</strong> „interessierte<br />

moralische Entrüstung" ein semantischer Widerspruch. Denn eine<br />

interessierte moralische Entrüstung bedeutet ja, daß sie nicht mehr gleichsam<br />

automatisch <strong>und</strong> unvermittelt verfügbar ist <strong>und</strong> wirkt, sondern nur<br />

nach Maßgabe <strong>und</strong> in Abhängigkeit von spezifischen <strong>und</strong> partikularistischen<br />

Interessen. Damit ist aber der sozial-integrative Beitrag, die Einigungsfunktion<br />

von Moral für das Kollektiv gefährdet, Moral in den Sog von Interessen<br />

geraten <strong>und</strong> auf den Weg der Zersetzung gebracht.<br />

Die soziale <strong>und</strong> politische Brisanz einer solchen Interessenbefleckung<br />

der Moral mag an zwei Episoden demonstriert sein, von denen die eine am<br />

Anfang, die zweite am Ende der Periode des Terrorismus steht, die eine nur<br />

in historischen Quellen nachlesbar, die andere Kristallisationspunkt öffentlicher<br />

<strong>und</strong> offizieller Erregung <strong>und</strong> von mir oben bereits erwähnt. Das<br />

Mescalero-Flugblatt mit seiner Zwar-Aber-Haltung zur Ermordung des damaligen<br />

Generalb<strong>und</strong>esanwalts Buback — der „klammheimlichen Freude"<br />

einerseits <strong>und</strong> der umwegreichen Ablehnung der Gewalt gegen Personen aus<br />

politischen Motiven andererseits — signalisierte genau jenen Prozeß der moralischen<br />

Entkonditionierung <strong>und</strong> der Unterwerfung der Moral unter das<br />

politische Interesse. Den soziologisch gleichen Gehalt hatte ein Vorgang im<br />

Zusammenhang mit dem Mordanschlag auf Rudi Dutschke am 11.4.1968,<br />

der auch nicht nur ,,desinteressierte moralische Entrüstung" auslöste,<br />

sondern — dem Historiker der „Ära Brandt-Scheel", A. Baring (1982,<br />

S. 76/77), zufolge — z.B. den CSU-Vorsitzenden veranlaßte, dem damaligen<br />

B<strong>und</strong>eskanzler ,,Kiesinger schon wegen seines Telegramms an Gretchen<br />

Dutschke eine empörte Szene" zu machen.<br />

Diese Beispiele stehen m.E. für einen zentralen soziologischen Aspekt<br />

des Terrorismus überhaupt. Sie machen deutlich <strong>und</strong> erklären die Heftigkeit<br />

der politischen <strong>und</strong> öffentlichen Auseinandersetzung mit dem Terrorismus.<br />

Trotz aller geradezu beschwörenden Versuche, die Terroristen als<br />

nichts anderes als gemeine Mörder <strong>und</strong> Kriminelle zu betrachten, hatten<br />

letztere — um noch einmal Merton zu zitieren — die „Chance, wenn nicht<br />

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immer die Wirklichkeit der Zustimmung <strong>und</strong> Billigung durch andere ... Mitglieder<br />

der Gesellschaft für sich" (a.a.O., S. 363). „Nichts einigt eine Gesellschaft<br />

mehr als ihre Mörder" — das auf diese zynische Kurzformel gebrachte,<br />

von Durkheim soziologisch begründete Integrations- <strong>und</strong> Nützlichkeitspostulat<br />

des Verbrechens für eine Gesellschaft, schien im Falle des Terrorismus<br />

nicht mehr automatisch verbürgt zu sein, sondern bedurfte der staatlichen,<br />

politischen <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>n Einübung qua Dramatisierung,<br />

Mobilisierung <strong>und</strong> Aktivierung sämtlicher verfügbarer Ressourcen. Umgekehrt<br />

wurden daran die Bedingungen deutlich, unter denen die moralische<br />

Dimension der rechtlich vermittelten <strong>und</strong> konstituierten Kriminalität seine<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Funktion entfaltet bzw. unter denen der Verhaltensaspekt<br />

von Kriminalität sich von seinem moralischen Bewertungskontext abzulösen<br />

tendiert.<br />

b. Die soziologische Verknüpfung von Studentenbewegung <strong>und</strong><br />

Terrorismus<br />

Ich möchte diese Überlegungen nutzen, um nunmehr einen Brückenschlag<br />

zu der dem Terrorismus nicht zur zeitlich, sondern in vieler Hinsicht auch<br />

inhaltlich vorangegangenen politischen Bewegung der Studenten <strong>und</strong> der<br />

außerparlamentarischen Opposition zu tun. Ich spinne dafür den Faden<br />

weiter, den ich Mertons Unterscheidung des Abweichers <strong>und</strong> des Nonkonformisten<br />

entnommen habe. Es hat auch gegenüber der Studentenbewegung<br />

massive Versuche gegeben, ihren politischen Gehalt dadurch zu ignorieren,<br />

zu desavouieren <strong>und</strong> zu diskreditieren, daß man die Träger der Bewegung<br />

isolierte, dämonisierte <strong>und</strong> kriminalisierte.<br />

Diese Strategie der Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung<br />

<strong>und</strong> der außerparlamentarischen Opposition läßt sich auch im Sinne Mertons<br />

als Versuch interpretieren, gegen die Träger des Protests jenes die<br />

Reaktion auf den Kriminellen verstärkende <strong>und</strong> Effektivität verbürgende<br />

Reservoir „desinteressierter moralischer Entrüstung" ins Feld zu führen.<br />

Wir wissen aber, daß gerade diese Versuche außerordentlich a<strong>mb</strong>ivalent,<br />

risikoreich <strong>und</strong> zum Teil kontraproduktiv waren. Und dies galt auch <strong>und</strong> in<br />

besonderer Weise für die Verfolgung von Straftaten gegen die Studenten<br />

<strong>und</strong> Träger des Protests. Solche Maßnahmen gegen Studenten <strong>und</strong> Demonstranten<br />

— <strong>und</strong> es gibt zahlreiche Beispiele dafür — hatten oft die Isolierung<br />

der Studenten aufbrechende Solidarisierungen <strong>und</strong> Mobilisierungen von Anhängern<br />

zur Folge. Das der Erinnerung wohl noch zugänglichste Beispiel<br />

einer solchen kontraproduktiven Wirkung strafrechtlicher Sozialkontrolle<br />

waren sicherlich die Vorgänge um den Schah-Besuch Anfang Juni 1967 in<br />

Berlin, als der Student B. Ohnesorg von einer Polizistenkugel tödlich getroffen<br />

wurde. Die öffentliche, weit ins Ausland reichende Empörung darüber<br />

war zwar einerseits <strong>und</strong> langfristig auf eine ironische Weise für die Studentenbewegung<br />

wegen des damit verb<strong>und</strong>enen zusätzlichen Handlungsdruckes<br />

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eher abträglich <strong>und</strong> zerstörerisch, aber dieser Vorgang ließ sehr deutlich das<br />

riskante Moment sichtbar werden, das in dem Versuch begründet liegt, politischen<br />

Bewegungen mit den Mitteln des Strafrechts <strong>und</strong> seiner Instanzen<br />

zu begegnen.<br />

Damit ich nicht mißverstanden werde: es gab genügend Anlässe <strong>und</strong><br />

Handlungen auf Seiten der Studentenbewegung, die unter strafrechtliche<br />

Tatbestände mühelos zu subsumieren waren — Hausfriedensbruch, Nötigungen,<br />

Beleidigungen, Sachbeschädigungen, Verstöße gegen das Strafrecht <strong>und</strong><br />

seine Nebengesetze, Ordnungswidrigkeiten. Und es gab die sog. Strategie<br />

der begrenzten Regelverletzungen.<br />

Das aber ist nicht der entscheidende Punkt. Soziologisch allein interessant<br />

<strong>und</strong> politisch relevant scheint mir die Tatsache zu sein, daß deren<br />

staatliche Verfolgung der Studentenbewegung nicht das politische Wasser<br />

abzugraben vermochte, sondern das Protestpotential eher stärkte. Ja, man<br />

kann sagen, daß die Strategie der begrenzten Regelverletzung sich aus der<br />

Sicht der Bewegung rentierte. Man könnte diesen Effekt Überreaktionsgewinne<br />

von Regelverletzung politischer <strong>und</strong> sozialer Bewegungen nennen, die<br />

darauf zurückführbar sind, daß in solchen Fällen die strafrechtlich-repressive<br />

Reaktion als ,,Überreaktion" darstellbar ist, ganz unabhängig von der<br />

Frage der subsumtionslogischen <strong>und</strong> legalen Korrektheit oder Unkorrektheit<br />

der staatlichen Maßnahmen.<br />

Will man den Unterschied <strong>und</strong> die herzustellende Verknüpfung zwischen<br />

Studentenbewegung <strong>und</strong> Terrorismus auf eine griffige Pointe bringen,<br />

so läßt sich dies unter Rückgriff auf die eingangs schon erwähnte Figur des<br />

sog. Sympathisanten tun, die ja in der Auseinandersetzung mit dem Terrorismus<br />

eine zentrale Rolle spielte. Sympathisanten der Studentenbewegung<br />

gab es natürlich auch, <strong>und</strong> es gab sie zahlreicher, vor allem aber <strong>und</strong><br />

anders als zur Zeit des Terrorismus: zur Zeit der Studentenbewegung gab<br />

es keinen Anlaß, sich dieses Etiketts zu erwehren, im Gegenteil: man konnte<br />

sich seiner eher rühmen, <strong>und</strong> man konnte damit auch politische <strong>und</strong> andere<br />

Karriere machen. Man kann diesem Gedanken noch eine andere Wendung<br />

geben <strong>und</strong> sagen, daß sich zur Zeit der Studentenbewegung das Zwar<br />

ihrer politischen Anliegen <strong>und</strong> Inhalte nicht durch das Aber ihrer regelverletzenden<br />

Aktionsformen bändigen oder kontrollieren ließ, wohingegen der<br />

Terrorismus gerade dies ermöglichte. Was nichts anderes heißt, als daß die<br />

politischen Inhalte entweder wieder zurückzuversetzen waren in die Welt<br />

der wissenschaftlichen Rhetorik <strong>und</strong> des politischen Rituals oder sie ganz<br />

zum Schweigen zu bringen waren.<br />

c) Die Analyse von Eskalationsprozessen <strong>und</strong> der Rolle der Gewalt in<br />

ihnen<br />

Dem skizzierten Unterschied zwischen Studentenbewegung <strong>und</strong> Terrorismus<br />

in bezug auf die Effektivität staatlicher <strong>und</strong> strafrechtlicher Kontrolle<br />

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entsprach auf der Ebene des Verhaltens <strong>und</strong> der Aktionsformen eine zunehmende<br />

Gewalthaftigkeit <strong>und</strong> kriminelle Form. Dieser Prozeß wird oft<br />

als der der Gewalteskalation beschrieben, selten jedoch genauer analysiert<br />

<strong>und</strong> nachgezeichnet. Dies will ich andeutungsweise tun.<br />

Betrachtet man das Geschehen unter konfliktanalytischen Gesichtspunkten<br />

<strong>und</strong> teilt das Ergebnis unserer bisherigen Überlegungen, daß nämlich<br />

die Bändigung <strong>und</strong> Domestizierung des politischen Gehalts der Studentenbewegung<br />

erst mit dem Terrorismus leichter gelang, dann läßt sich zunächst<br />

feststellen, daß die Eskalation der Auseinandersetzungen in die Gewalthaftigkeit<br />

objektiv die Adressaten des Protests gegenüber seinen Trägern<br />

in die Oberhand brachte. Die Gewalt des Protests entlegitimierte diesen<br />

<strong>und</strong> seine Inhalte — das ist die auf allen Seiten gebrauchte Formel für<br />

diesen Vorgang, wenn auch die Distanzierung auf Seiten derjenigen, die<br />

zwar den Protest zur Zeit der Studentenbewegung teilten, den Schritt in<br />

die Gewalt jedoch nicht mitgingen, von zeitlichem Zögern, hinhaltendem<br />

Argumentieren <strong>und</strong> von der Angst vor falscher Motivattribution geprägt<br />

<strong>und</strong> bestimmt war.<br />

Ich will damit nicht die Antwort auf eine Frage geben, die sich bei solchen<br />

Eskalationen von Konflikten in die Gewalthaftigkeit immer stellt,<br />

nämlich die Frage danach, wer den ersten Stein warf, das Feuer schürte <strong>und</strong><br />

die Eskalation in Gang hielt. Ich möchte diese Frage auch ausdrücklich als<br />

jenseits wissenschaftlicher Zielsetzung liegend zurückweisen. Sie stellt sich<br />

ja vor allem aus Gründen der politischen <strong>und</strong> vor allem strafrechtlichen<br />

Haftbarmachung, <strong>und</strong> die Schwierigkeit der wissenschaftlichen Analyse besteht<br />

darin, die eigenen Bef<strong>und</strong>e nicht in eine solche Grammatik überführen<br />

zu können. Eskalationsprozesse lassen sich methodologisch nicht als unilineare<br />

Ursache-Wirkungs-Beziehungen rekonstruieren, zudem nicht als solche,<br />

die die Bedingungen strafrechtlicher Subsumtion erfüllen, nämlich eindeutige<br />

Zurechnungen von Ursachen <strong>und</strong> Wirkungen zu handelnden Personen<br />

zu ermöglichen. Vielmehr erfordern sie eine Methodologie wechselseitiger<br />

Kausalbeziehungen, um Prozesse zu beschreiben, die ein „unbedeutendes<br />

oder zufälliges Ausgangsereignis ausweiten, zu einer Abweichung aufbauen<br />

<strong>und</strong> zu einer Entfernung vom Ausgangszustand treiben" (M. Maruyama<br />

1968, S. 304). Dabei läßt sich der sogen, „initial kick", das die Eskalation<br />

auslösende Ausgangsereignis, natürlich schwer zeitlich <strong>und</strong> örtlich<br />

genau bestimmen. Er ist im Gr<strong>und</strong>e — <strong>und</strong> das ist für die Logik solcher<br />

Modelle der springende Punkt — indeterminiert, d.h., er steht zum Eskalationsprodukt<br />

— hier der Gewalt — in höchst beliebiger <strong>und</strong> zufälliger Beziehung.<br />

Dies sei vorausgeschickt, um die folgenden Ausführungen gegen eine<br />

kausale oder strafrechtliche Um- oder Parallelinterpretation zu wappnen.<br />

Sicherlich laufen auf der anderen Seite soziale Eskalationsprozesse nicht<br />

naturwüchsig <strong>und</strong> irreversibel ab. Da es sich um Konfliktabläufe mit verschiedenen<br />

Konfliktpartnern handelt, sind die zentralen Elemente des Geschehens<br />

die jeweiligen Entscheidungen der einzelnen Konfliktpartner, ihre<br />

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Strategien, ihre einzelnen Konflikt- bzw. Spielzüge, um eine Begrifflichkeit<br />

einzuführen, die sichtbar machen soll, daß es hier auch nicht um voraussetzungslose,<br />

sondern um regelgeleitete Handlungen geht. Dabei fasse ich<br />

den Regelbegriff in Anlehnung an die sozialhistorischen Arbeiten um<br />

Ch. Tilly (1978) sehr weit: damit sind sowohl präskriptive Regeln im Sinne<br />

geschriebener Vorschriften, also Rechtsnormen, gemeint als auch implizite<br />

Regeln im Sinne von ungeschriebenen Anwendungsregeln, wie sie gerade<br />

im Zusammenhang mit präskriptiven Regeln des ersten Typs existieren.<br />

Darunter fallen aber auch Regeln im Sinne von faktischen Regelmäßigkeiten,<br />

die zwar nicht ausdrücklicher oder ausgesprochener Bestandteil von<br />

Einzel- oder Globalstrategien sind, aber als Ressourcen oder situationsbezogene<br />

Umstände zum unterstellbaren, gewußten oder unbewußten Kalkulations-<br />

oder Erwartungshorizont der Konfliktpartner hinzugehören.<br />

Ich komme nunmehr zurück auf die Frage nach den Bedingungen, terminologisch<br />

treffender: den Mechanismen der Eskalation des Konflikts in<br />

die Gewalthaftigkeit. Ich konzentriere mich dabei auf die Seite der staatlichen<br />

Akteure <strong>und</strong> deren Strategien, <strong>und</strong> zwar, wie ich meine, deshalb aus<br />

gerechtfertigten systematischen Erwägungen, weil infolge der Legitimität<br />

physischer Gewaltanwendung <strong>und</strong> infolge des daraus herzuleitenden Systems<br />

eines berufsrollenmäßig organisierten, routinierten <strong>und</strong> insoweit normalisierten<br />

Umgangs mit Gewalt die Wahrscheinlichkeit der Einführung von<br />

Gewalt in einen Konflikt, der hier untersuchten Art auf Seiten der staatlichen<br />

Konfliktpartner am größten ist. Diese Vermutung ist im übrigen für<br />

Konflikte zwischen politischen <strong>und</strong> sozialen Bewegungen <strong>und</strong> den etablierten<br />

politischen <strong>und</strong> staatlichen Instanzen empirisch vielfach bestätigt <strong>und</strong><br />

belegt.<br />

Als gewaltbegünstigende generelle Strategie von Seiten der staatlichen<br />

<strong>und</strong> politischen Institutionen kann man zunächst festhalten, daß das staatliche<br />

Handeln von dem Bestreben bestimmt war, den politischen Konflikt<br />

in einen rechtlichen bzw. in eine Serie rechtlicher, genauer: strafrechtlicher<br />

Konflikte zu verwandeln. Dies begünstigt staatliche Gewaltanwendung insofern,<br />

als die Umsetzung einer solchen Strategie in konkretes Handeln ja<br />

bedeutet, daß Täter identifiziert, sistiert werden <strong>und</strong> sog. unmittelbarer<br />

Zwang in zahlreichen konkreten Interaktionen exekutiert wird. Insofern ist<br />

Rechtsdurchsetzung <strong>und</strong> -Implementierung, insbesondere im Kontext des<br />

sogen, staatlichen Strafanspruchs, immer <strong>und</strong> systematisch mit dem Einsatz<br />

staatlicher Gewalt verb<strong>und</strong>en.<br />

Tatsächlich ist staatliche, polizeiliche Gewaltanwendung — <strong>und</strong> dies ist<br />

einer der zentralsten, umstrittensten, analytisch m.E. wichtigsten Momente<br />

in der Gewalteskalation — nicht nur häufig praktiziert, sondern taktisch<br />

eingesetzt worden zur Erteilung von Lektionen, zur Demonstration von<br />

staatlicher Gewalt oder — wie es so schön in politisch-euphemistischer Umschreibung<br />

heißt — damit „der Staat Flagge zeigt", damit das Selbstverständnis<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik als „wehrhafte Demokratie" Ausdruck erhält.<br />

Tatsächlich ist weiter — <strong>und</strong> dies so zu sagen, ist gewiß riskant — staatliches<br />

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Handeln unter Verletzung der Regeln geschehen, die diesem gesetzlich vorgegeben<br />

sind, <strong>und</strong> das nicht nur ausnahmsweise <strong>und</strong> vereinzelt, sondern vielfach<br />

<strong>und</strong> — wie ich meine — strukturell induziert. Konkret: staatliche Amtsträger<br />

haben unter Paragraphen des Strafrechts, der Strafprozeßordnung,<br />

des Ordnungswidrigkeitenrechts subsumierbare Handlungen begangen, von<br />

denen sicherlich als bekanntestes Beispiel die von einem Gericht als tatbestandsmäßige<br />

<strong>und</strong> rechtswidrige Tötung von B. Ohnesorg festgestellte Handlung<br />

zu bezeichnen ist.<br />

Unter dem Thema der Einführung von Gewalt in den Konflikt seitens<br />

staatlicher Instanzen ist insbesondere für das Entstehen <strong>und</strong> die Aussonderung<br />

terroristischer Subsysteme auch der Bereich staatlicher Kontrollaktivitäten<br />

einzubeziehen, der mittlerweile zum rechtlichen, politischen <strong>und</strong><br />

öffentlichen Diskussionsthema gehört: der Einsatz <strong>und</strong> die Praxis sog.<br />

proaktiver bzw. präventiver Kontrollstrategien. Damit sind Konfliktstrategien<br />

gemeint, die generell darin bestehen, sich in Nähe zum Konfliktpartner<br />

zu dem Zweck zu bringen, dem Konflikt eine für sich günstige Wendung zu<br />

geben. Solche Strategien gehören zum normativen <strong>und</strong> damit erwartbaren<br />

Routineinventar staatlicher Kontrolle <strong>und</strong> werden insbesondere dort <strong>und</strong><br />

dann eingesetzt, wo der Konfliktgegner einen gewissen Organisationsgrad<br />

aufweist <strong>und</strong> Systemgrenzen unterhöhlt. Politische Bewegungen, das weiß<br />

man aus der Literatur <strong>und</strong> aus vielen Beispielen, gehören zum bevorzugten<br />

Objekt solcher proaktiver Kontrollstrategien. Diese auch rechtlich umstrittene<br />

Kontrollstrategie bringt in den Verlauf eines Konflikts insofern eine<br />

Eskalationsgefahr, als sie Ausdruck einer Gewalterwartung <strong>und</strong> -Zumutung<br />

gegenüber dem Objekt seiner Anwendung ist, deren Manifestation um so<br />

dringlicher wird, je rechtlich zweifelhafter sie erscheint. Das ist der Moment<br />

des agent provocateurs, der Regelverletzungen entweder unter Dissimulation<br />

seiner Identität begeht oder Arrangements des Handlungsszenarios<br />

besorgt, die das Begehen von kriminellen Handlungen oder das Eintreten<br />

von Gewalt möglich machen, begünstigen, nahelegen usw.<br />

Obwohl dieser Bereich staatlichen Handelns auch in bezug auf Gewalteskalation<br />

der 60er <strong>und</strong> 70er Jahre keineswegs voll ausgeleuchtet ist, sind<br />

Zipfel solchen Geschehens doch gelüftet. Die Frage indessen, inwieweit sie<br />

nicht nur für konkrete Konfrontationsereignisse, so etwa für die Osterunruhen<br />

im Jahre 1968 im Anschluß an das Attentat auf R. Dutschke, als ein<br />

staatlicher V-Mann Molotow-Cocktails <strong>und</strong> deren Handhabung bereitstellte,<br />

eskalierend wirkten, sondern einen darüber hinausgehenden Beitrag zur zunehmenden<br />

Gewalthaftigkeit der Ereignisse leisteten, scheint mir — auch für<br />

den Wissenschaftler — neben der empirischen Evidenz vor allem von der<br />

Intensität <strong>und</strong> der subjektiven Gewißheit der Gewaltvermutung gegenüber<br />

den Adressaten solcher Konfliktpraktiken abzuhängen.<br />

Ich möchte weiter einen gewalteskalierenden Faktor ansprechen, der<br />

mir nicht nur empirisch von besonderem Gewicht zu sein scheint, sondern<br />

der auch das rechtstaatliche Selbstverständnis von Demokratien im allgemeinen<br />

<strong>und</strong> der B<strong>und</strong>esrepublik im besonderen betrifft. Vermutlich — dies<br />

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ist konfliktanalytisch ebenso erklärbar wie empirisch belegbar — hat nichts<br />

den Konflikt so angeheizt wie die fehlende oder versagende Kontrolle von<br />

Regelverletzungen durch staatliche Instanzen in der Auseinandersetzung<br />

mit der Studentenbewegung. Die Entgrenzungen staatlicher Gewalt, die sich<br />

auf der Basis der Rekonstruktion konkreter Konfliktereignisse detailliert<br />

nachzeichnen lassen, blieben ungeahndet. Ihnen gegenüber versagten die<br />

Kontrollinstitutionen, denen gemäß dem Prinzip staatlicher Gewaltenteilung<br />

die Aufgabe zukommt, staatliche Gewalt in Grenzen zu halten.<br />

Kontrollimmunität ließ sich bezüglich der Durchführung justizieller<br />

Verfahren gegen Regelverletzungen staatlicher Instanzen ebenso feststellen,<br />

wie es fast ausnahmslos zum Ritual der politisch Verantwortlichen gehörte,<br />

nach Konfrontation zwischen Demonstranten <strong>und</strong> den staatlichen Instanzen<br />

Rechtmäßigkeitserklärungen noch vorab aller Rechtmäßigkeitsprüfungen<br />

abzugeben. Und wiederum trat dies am eindrucksvollsten aus Anlaß des<br />

Schah-Besuchs in Berlin zutage, als der damalige Regierende Berliner Bürgermeister<br />

bald nach der Teilnahme am Festakt in der Berliner Staatsoper<br />

der Polizei öffentlich behutsames <strong>und</strong> in den Grenzen des Rechts <strong>und</strong> der<br />

Vorschriften gebliebenes Handeln bescheinigt hatte, was ihn — neben dem<br />

damaligen Polizeipräsidenten <strong>und</strong> dem Innensenator — ja auch dann bald<br />

das Amt kostete. Und selbst noch in der Arbeit des Berliner parlamentarischen<br />

Untersuchungsausschusses, der die Vorgänge um den 2. Juni aufklären<br />

sollte, wurde das Kontrolldefizit sichtbar, das gegenüber den staatlichen<br />

Instanzen obwaltete. Im übrigen kann man dies alles als eine zynische verhaltensmäßige<br />

Materialisierung dessen betrachten, was in der Zeit der Auseinandersetzung<br />

als das notwendige „Zusammenrücken aller staatlichen<br />

Instanzen <strong>und</strong> Gewalten" genannt, gefordert <strong>und</strong> praktiziert wurde.<br />

Gravierender <strong>und</strong> verhängnisvoller — <strong>und</strong> dies soll meine letzte Bemerkung<br />

zu Eskalationsmechanismen sein — als die Regelverletzung selbst <strong>und</strong><br />

das Nichtfunktionieren der Kontrollinstitutionen war für die Eskalation des<br />

Konflikts ein weiterer Umstand, der sich als eine Steigerung des institutionellen<br />

Zynismus begreifen läßt. Nicht nur wurden Gewaltentgrenzungen<br />

<strong>und</strong> Rechtsverletzungen der staatlichen Instanzen geleugnet, ignoriert, mit<br />

Gegenanzeigen der Verleumdung oder des Widerstands gegen die Staatsgewalt<br />

konterkariert, sondern zum Beweis der Begründetheit dieser Leugnung<br />

<strong>und</strong> zur Rechtmäßigkeit des Handelns wurde die Tatsache genommen, daß<br />

Anzeigen <strong>und</strong> Verfahren gegen staatliche Amtsträger eingestellt, nicht verfolgt<br />

<strong>und</strong> abgewiesen wurden. Die sich darin ausdrückende staatliche Selbstgerechtigkeit,<br />

die strukturell begründet ist in der buchstäblich zu verstehenden,<br />

rechtlich verankerten Möglichkeit <strong>und</strong> Praxis der Herrschaft über die<br />

Wirklichkeit, scheint mir zum einen der treffendste Begriff für die beschriebenen<br />

Zusammenhänge, zum anderen eine spiegelbildliche Aufnahme <strong>und</strong><br />

Reaktion des Staates <strong>und</strong> seiner Amtsträger auf den moralischen Rigorismus<br />

der Studenten <strong>und</strong> ihrer daraus verständlichen Behauptung, daß der<br />

Rechtsstaat nur Maskerade sei.<br />

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3. Empirische Probleme der Analyse<br />

Lassen Sie mich jetzt zu den empirischen Schwierigkeiten der Analyse kommen.<br />

Ich glaube, ich kann mich dazu kurz fassen, weil die Probleme eigentlich<br />

schon im Vorhergehenden implizit deutlich geworden sind. Ich möchte<br />

drei allgemeine Bemerkungen machen. Die erste bezieht sich darauf, daß die<br />

Analyse von Konfliktabläufen, die noch in die Gegenwart hineinreichen,<br />

empirisch deshalb an Grenzen stößt, weil die Informationen, Daten <strong>und</strong><br />

Dokumente über sie in den Sog <strong>und</strong> den Verlauf des Konflikts auf vielfältige<br />

Weise hineingeraten. Zweifellos trifft das für sämtliche im Forschungsverb<strong>und</strong><br />

„Ursachen des Terrorismus" angefertigte Studien zu. Die Konfliktbeteiligten<br />

handeln <strong>und</strong> informieren unter strategischen <strong>und</strong> taktischen Gesichtspunkten,<br />

<strong>und</strong> das heißt vor allem mit Blick auf die Konfliktgegner,<br />

aber auch mit Blick auf unbeteiligte Dritte, auf Öffentlichkeit, Kontrollinstitutionen<br />

etc., die ja für den weiteren Verlauf eines Konflikts eine kritische<br />

Größe darstellen, wie wir gesehen haben. Die Konfliktereignisse aus<br />

der Studentenbewegung, erst recht diejenigen aus der Zeit des Terrorismus,<br />

ragen auf vielfache Weise bis in unsere Zeit hinein, in Form rechtlicher <strong>und</strong><br />

politischer Verarbeitungen der Rechtfertigung, Warnung, der Konfliktfortsetzung<br />

usw.. Dies gilt sicherlich für beide Konfliktseiten, <strong>und</strong> amtliche<br />

Dokumente, erst recht daran in irgendeiner Form beteiligte Amtsträger,<br />

die nicht befragt zu haben, meiner Studie den im Vorwort des Herausgebers<br />

abgedruckten Vorwurf des Verzichts auf Primärerhebungen eintrug, sind<br />

davon aus den oben genannten Gründen der Selbstrechtfertigung natürlich<br />

in besonderer Weise geprägt. Erst in dem Maße, in dem solche Ereignisse<br />

in den Horizont der Geschichte eintreten, stellt sich auch jene Absonderung<br />

des Interesses an der Darstellung eines Geschehens vom Geschehen selbst<br />

ein, die als eine Bedingung wissenschaftlicher Rekonstruktion zu betrachten<br />

ist. Man steht damit als Sozialwissenschaftler vor dem Dilemma, daß die<br />

zeitliche Nähe der Analyse zu ihrem Gegenstand zwar einerseits der erinnernden<br />

Verzerrung engegensteht, aber andererseits <strong>und</strong> aus differenten<br />

Gründen, die selektive Information begünstigt. Eine zweite Bemerkung<br />

möchte ich in Anknüpfung an das von H.S. Becker (1967) theoretisch <strong>und</strong><br />

methodologisch gemeinte Konzept der „Hierarchie der Glaubwürdigkeit"<br />

machen, über sämtliche Konfliktereignisse gab es naturgemäß verschiedene<br />

<strong>und</strong> oft widersprüchliche Informationen aus separaten Datenquellen. Ihre<br />

analytische Verwertung erzwang deshalb Entscheidungen über die empirische<br />

Triftigkeit der Informationen, die in der Tat oft nicht auskamen ohne<br />

Glaubwürdigkeitsurteile oder -Vermutungen. Ein Problem ist dabei sicherlich<br />

die Kontrolle der eigenen Subjektivität. Ich möchte diese für mich sehr<br />

persönlich beantworten. Ich habe die Erfahrung gemacht, daß Verlautbarungen,<br />

Dokumente <strong>und</strong> Darstellungen staatlicher Handlungen <strong>und</strong> Maßnahmen<br />

unter einem erklärbar strengeren Druck der Organisierung, der<br />

Folgen- <strong>und</strong> Konsequenzenantizipation standen als solche der Konfliktgegenseite.<br />

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Für staatliches Handeln gilt die Regel, daß es sich in der Darstellung von<br />

Ereignissen an den präskripten Regeln seiner Handlungsbefugnisse orientiert,<br />

daß gleichsam die Deskription mit der Präskription in Übereinstimmung<br />

gebracht wird, d.h. daß staatliche Dokumente des Konfliktgeschehens<br />

unter einem strukturellen Glaubwürdigkeitsverdacht stehen.<br />

Die dritte Bemerkung schließlich bezieht sich auf einen Kernpunkt<br />

meiner Studie, nämlich die staatlichen Regelverletzungen. Hier besteht ein<br />

Dilemma nicht nur in empirisch-phänomenologischer Hinsicht, sondern<br />

auch mit Blick auf jenes Eingangszitat aus Alice im W<strong>und</strong>erland. Ich möchte<br />

das Problem in die Form einer Frage bringen: darf man in einer wissenschaftlichen<br />

Untersuchung Bilddokumente, unwidersprochene Zeugenaussagen<br />

über Polizisten, die auf am Boden liegende Demonstranten einschlagen,<br />

in den Kategorien <strong>und</strong> der Sprache des Strafrechts beschreiben, also<br />

etwa als Körperverletzungen im Amt <strong>und</strong> damit als kriminell bezeichnen,<br />

auch wenn etwa eine entsprechende Anzeige eingestellt, eine gerichtliche<br />

Überprüfung aus Gründen der strafprozessualen Unklärbarkeit negativ ausgefallen<br />

oder —- was die Regel zu sein scheint —, wenn ein solcher Vorgang<br />

überhaupt nicht zur Aufmerksamkeit der Justiz gebracht wird? Mit guten<br />

Gründen ließe sich argumentieren, daß solche Feststellungen <strong>und</strong> die Verwendung*<br />

solcher Kategorien des Strafrechts der Zuständigkeit der staatlich<br />

dafür vorgesehenen Instanzen <strong>und</strong> Prozesse vorbehalten bleiben sollten.<br />

Andererseits basiert z.B. die Dunkelfeldforschung der Kriminologie<br />

darauf, solche juristischen Wertungen <strong>und</strong> Feststellungen zu treffen. Andererseits<br />

auch läßt sich für die Studien zur Studentenbewegung <strong>und</strong> zum<br />

Terrorismus zeigen, daß es offenbar keine Hemmungen gibt, die Handlungen<br />

der Studenten umstandslos in die Semantik des Strafrechts zu übertragen,<br />

bei der Beschreibung der Handlungen der staatlichen Instanzen<br />

jedoch schlicht von Regelverletzungen zu sprechen, sie, wenn nicht juristisch<br />

erwiesen, als nichtexistent zu betrachten oder sie in einer Weise zu<br />

beschreiben, die die subjektive Komponente, d.h. das intentionale Element<br />

einer strafbaren Handlung ausspart.<br />

Das Dilemma besteht, auf eine kurze Formel gebracht, in dem Verhältnis<br />

von justizieller zur wissenschaftlichen Wahrheit: ist man als Wissenschaftlicher<br />

den Kriterien, Indikatoren, Beweisregeln <strong>und</strong> Urteilen unterworfen,<br />

die das Recht vorschreibt <strong>und</strong> anwendet, um die Wirklichkeit<br />

festzustellen? Ist die Wirklichkeit fürs Recht auch diejenige für die Wissenschaft?<br />

Die Frage so gestellt, scheint zwar die Antwort schon mitzuliefern,<br />

es empfiehlt sich aber, bei ihrer genauen Formulierung eine sprachliche<br />

Anleihe bei Radio Eriwan zu machen, um nicht wie ein kriminologischer<br />

oder sozialwissenschaftlicher Don Quichotte dazustehen: Im Prinzip hat<br />

die Wissenschaft natürlich ihre eigenen Regeln der Wirklichkeitserfassung,<br />

aber es kommt darauf an, wen <strong>und</strong> was sie untersucht.<br />

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Schlußbemerkung<br />

Ich bin damit am Ende meiner Skizzen <strong>und</strong> Überlegungen zu den Bef<strong>und</strong>en<br />

der Terrorismusforschung <strong>und</strong> zu den begrifflichen, methodischen<br />

<strong>und</strong> empirischen Problemen ihrer Gewinnung.<br />

Meine Damen <strong>und</strong> Herren, lassen Sie mich als letzte Bemerkung die<br />

Hoffnung ausdrücken, daß mir hier gelungen ist, was mir offenbar gegenüber<br />

dem Auftraggeber meiner Studie mißlungen ist.<br />

LITERATUR<br />

Baring, Arnulf 1982, Machtwechsel. Die Ära Brandt-Scheel, Stuttgart.<br />

Becker, Howard S. 1967, „Whose Side Are We On?", in: Social Problems, Bd. 14,<br />

1967, S. 239-247.<br />

Berger, Peter L. 1963, Invitation to Sociology, Garden City, N.Y.<br />

Maruyama, Magoroh 1968, „The Second Cybernetics: Deviation-Amplifying Mutual<br />

Causal Processes", in: American Scientist, Bd. 51, 1963, S. 164-179; wieder abgedr.<br />

in: W. Buckley (Hrsg.), Modern Systems of Research for the Behavioral Scientist,<br />

Chicago 1968, S. 304-312.<br />

Luhmann, Niklas 1972, Rechts<strong>soziologie</strong>, 2 Bde., Reinbek 1972 (2. Aufl. 1983).<br />

Merton, Robert K. 1957, Social Theory and Social Structure, New York—London.<br />

Sack, Fritz 1984, unter Mitarbeit von Uwe Berlit, Horst Dreier <strong>und</strong> Hubert Treiber,<br />

„Staat, Gesellschaft <strong>und</strong> politische Gewalt: Zur 'Pathologie Politischer Konflikte",<br />

in Ders. <strong>und</strong> Heinz Steinert (Hrsg.), Protest <strong>und</strong> Reaktion. Analysen zum Terrorismus,<br />

Bd. 4/2, Opladen, S. 18-387.<br />

Tilly, Charles 1978, From Mobilization to Revolution, Reading, Mass.<br />

Vogel, Hans-Jochen 1979, „Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen der strafrechtlichen Terrorismusbekämpfung",<br />

in: B<strong>und</strong>eszentrale für politische Bildung (Hrsg.), Freiheit <strong>und</strong><br />

Sicherheit. Die Demokratie wehrt sich gegen den Terrorismus, Bd. 148 der Schriftenreihe,<br />

Bonn 1979, S. 37-43<br />

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Themenbereich IV:<br />

Gesellschaftliche<br />

Voraussetzungen von<br />

Technik<strong>entwicklung</strong><br />

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EINLEITUNG<br />

Hartmut Neuendorff, Gert Schmidt<br />

Kernenergie, Bio- <strong>und</strong> Gentechnologie, Robotereinsatz, BTX <strong>und</strong> nicht zuletzt<br />

Mikroelektronik sind Signalworte eines erneuten „Streites um die<br />

Technik". Technikangst <strong>und</strong> -feindlichkeit belasten die allgemein<strong>gesellschaftliche</strong><br />

Verständigung zum Thema „Technik <strong>und</strong> Gesellschaft" ebenso<br />

wie Technikeuphorie <strong>und</strong> naiver Technikoptimismus.<br />

Die Hauptreferate <strong>und</strong> die Diskussionsbeiträge im Rahmen der Plenarveranstaltung<br />

„Gesellschaftliche Voraussetzungen von Technik<strong>entwicklung</strong><br />

— Soziale Konsequenzen <strong>und</strong> interessenpolitische Optionen für den Arbeitskräfteeinsatz"<br />

zeigen zu je verschiedenen Themen <strong>und</strong> an methodisch ganz<br />

unterschiedlich verfahrenden Untersuchungen anknüpfend, daß empirische<br />

Sozialforschung den Anspruch auf gesellschaftlich relevante Technikforschung<br />

<strong>und</strong> Prognoseorientierung aufgreift.<br />

Gegen verbreitete „einfache" <strong>und</strong> „einseitige" Vorstellungen über das<br />

Verhältnis von Gesellschaft <strong>und</strong> Technik, die nicht nur in der Öffentlichkeit,<br />

sondern auch in wissenschaftlichen Behandlungen dieses Themas anzutreffen<br />

sind, entwickelt B. Joerges aus Berlin in seinem Vortrag über „Technologie<strong>entwicklung</strong><br />

zwischen Eigendynamik <strong>und</strong> öffentlichem Diskurs"<br />

theoretisch-analytische Vorschläge, um die Komplexität dieses Verhältnisses<br />

angemessen in den Griff zu bekommen.<br />

Durch die Analyse der für einzelne Techniken verschiedenen Organisations-<br />

<strong>und</strong> Steuerungszusammenhänge zwischen den relevanten Akteuren<br />

(Wissenschaft, Industrie, politisch administratives System, Öffentlichkeit),<br />

die auf die Entwicklung von Techniken Einfluß nehmen, soll geklärt werden,<br />

ob in diesen Entwicklungen Rationalitätsmuster aufzufinden sind, die<br />

die Möglichkeit vernünftiger Steuerung von technischen Entwicklungen erhöhen.<br />

Die beiden Kommentare (W.Ch. Zimmerli aus Braunschweig <strong>und</strong><br />

H. Neuendorff aus Dortm<strong>und</strong>) behandeln Defizite, die auch das vorgeschlagene<br />

umfassende Analyseschema gleichwohl noch enthält.<br />

Aufbauend auf eine breit angelegte empirische Untersuchung in der<br />

Automobilindustrie, in der Chemie-Industrie <strong>und</strong> im Maschinenbau, die Erhebungen<br />

sowohl auf der Seite des Managements wie bei betrieblichen Interessenvertretungen<br />

<strong>und</strong> Arbeitnehmern einbezieht, kommen die beiden<br />

Göttinger Industriesoziologen H. Kern <strong>und</strong> M. Schumann zu dem Ergebnis,<br />

daß die betriebliche Nutzung neuer Fertigungstechnologien in wichtigen<br />

Industriebereichen künftig verstärkt zu „Neuen Produktionskonzepten"<br />

führt, deren wichtigste Merkmale eine radikale Abkehr von „tayloristi-<br />

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schen" Arbeitsformen, eine erweiterte Einbeziehung von Qualifikationsreserven<br />

der Arbeitskräfte <strong>und</strong> eine veränderte, betriebspolitisch stärker<br />

partnerschaftliche, Wahrnehmung des qualifizierten Teils der Arbeiterschaft<br />

seitens des Managements sind. Der Vortrag von H. Kern <strong>und</strong> M.<br />

Schumann provozierte pointiert-kritische Kommentare: Die von ihnen<br />

beabsichtigte Herausforderung ist gelungen. Die Skepsis der Forscher-<br />

Kollegen (zu Wort kamen Rudi Schmidt aus Erlangen <strong>und</strong> Klaus Düll<br />

aus <strong>München</strong>) wider die „optimistische" Tendenzaussage der Göttinger<br />

bezüglich der „Neuen Produktionskonzepte" ist groß.<br />

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TECHNOLOGIEENTWICKLUNG ZWISCHEN EIGENDYNAMIK UND<br />

ÖFFENTLICHEM DISKURS.<br />

KERNENERGIE, MIKROELEKTRONIK UND GENTECHNOLOGIE IN<br />

VERGLEICHENDER PERSPEKTIVE<br />

Bernward Joerges, Gotthard Bechmann, Rainer<br />

Hohlfeld<br />

1. Vorüberlegungen<br />

Der folgende Beitrag ist ein Diskussionsangebot „aus der Retorte" — er<br />

formuliert, aus einem gemeinsamen Arbeitsprozeß heraus, Fragen <strong>und</strong> Thesen<br />

zu einer zukünftigen Wissenschafts- <strong>und</strong> Technikforschung. Der heuristische<br />

Charakter dieser Überlegungen ergibt sich aus der gegenwärtigen Situation:<br />

Für die Analyse großtechnischer Systeme hat bislang keine Disziplin<br />

ein Konzept vorgelegt, das der Komplexität <strong>und</strong> Brisanz der Phänomene<br />

Rechnung trägt.<br />

Der Vorschlag, drei wichtige wissenschaftlich-technische Felder — Kernenergie,<br />

Mikroelektronik <strong>und</strong> Gentechnologie — in einen analytischen Rahmen<br />

zu stellen, wirft unmittelbar die Frage auf, ob es denn überhaupt zulässig<br />

sei, von „der" Kerntechnik, „der" Mikroelektronik <strong>und</strong> „der" Gentechnologie<br />

zu sprechen (Sorge 1984), <strong>und</strong> warum gerade diese drei gewählt<br />

werden. Einmal natürlich, weil sie in aller M<strong>und</strong>e sind <strong>und</strong> als irgendwie<br />

einheitliche Phänomene wahrgenommen werden. Zum anderen, weil gerade<br />

sie „modern" genannt werden können, jedenfalls aus wissenschaftssoziologischer<br />

Sicht. Mit ihnen wird in großem Stil der Schritt von einer Verarbeitung<br />

von Natur zu ihrer Konstruktion <strong>und</strong> industriellen Produktion getan:<br />

Von der Entnahme von Energieträgern zur Konstruktion von Energieträgern<br />

<strong>und</strong> ihrer Herstellung in fortgeschrittenen Reaktoren, vom Denken<br />

mit dem Hirn zur Konstruktion von programmierbaren Denkmaschinen,<br />

von der Zuchtwahl zur Konstruktion neuer Organismen.<br />

Modern sind diese Technologien also insofern, als eine sich verändernde<br />

Gesellschaft in ihnen der Natur in großem Umfang Aufgaben abnimmt, im<br />

doppelten Wortsinn, die sie ihr früher überlassen hat. In konsequenter Fortführung<br />

eines neuzeitlichen Rationalisierungsprozesses, der mit der Idee der<br />

neuen Naturwissenschaften <strong>und</strong> mit dem Prozeß der Industrialisierung im<br />

17. <strong>und</strong> 18. Jahrh<strong>und</strong>ert seinen Anfang nahm, wird vorfindliche Natur <strong>und</strong><br />

traditionell gewachsene Sozialität auf breiter Front substituiert durch theoretisch<br />

<strong>und</strong> technisch beherrschbare Konstrukte, Apparaturen <strong>und</strong> Systeme.<br />

Habermas (1969) <strong>und</strong> viele andere haben die „Errungenschaften der Moderne",<br />

als deren Synthese dieser Prozeß betrachtet werden kann, herausgearbeitet:<br />

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— wissenschaftliche Beherrschung von Naturprozessen in einem industriellen<br />

Rahmen;<br />

— Anwendung von bürokratischen Organisationsprinzipien bei der Planung,<br />

Erzeugung <strong>und</strong> Nutzung entsprechender Technologien;<br />

— Ausdifferenzierung einer Vielzahl von technischen Einzelelementen <strong>und</strong><br />

Arbeitsvorgängen <strong>und</strong> deren Integration zu einer Systemstruktur;<br />

— Verschränkung <strong>gesellschaftliche</strong>r Subsysteme (Politik, Wirtschaft, Wissenschaft)<br />

bei der Erzeugung solcher Technologien;<br />

— Verlust konkreter Zuschreibung von Verantwortlichkeit.<br />

Der Titel dieses Beitrags faßt in eine Formel, was vielen Leuten dabei am<br />

meisten auffällt: die augenscheinlich unangreifbare Eigendynamik technologischer<br />

Entwicklungen <strong>und</strong> die umfassenden <strong>gesellschaftliche</strong>n Kontroversen,<br />

die sie auslösen.<br />

Ein drittes Phänomen ist der mythenbildende Charakter moderner<br />

Technologien: Kernenergie, Mikroelektronik, Gentechnologie <strong>und</strong> ihre<br />

„Leitfossile" Reaktoren, Mikroprozessoren, Gene aus der Retorte geben für<br />

viele Leute mächtige Metaphern ab, Kristallisationskerne gewissermaßen für<br />

vielerlei <strong>gesellschaftliche</strong> Leitideen, Ängste <strong>und</strong> Hoffnungen, ja für umfassende<br />

Deutungen gegenwärtiger <strong>und</strong> künftiger Wirklichkeiten.<br />

Schaut man nach, wer sich in den Sozialwissenschaften mit großen<br />

technischen Systemen befaßt, dann sind das — soweit Soziologen beteiligt<br />

sind — neben einigen Wissenschaftssoziologen vor allem Forscher aus dem<br />

Bereich der Industrie<strong>soziologie</strong> <strong>und</strong> der sogenannten Technologiefolgenabschätzung<br />

(TA) (so z.B. Conrad 1983, Janshen u.a. 1981, Kruedener &<br />

Schubert 1983, Liao & Darby 1982, Paschen u.a. 1978, Rapp 1982, Ropohl<br />

u.a. 1978, Wynne 1975 u.v.a.). Von einer Kritik der TA wird im folgenden<br />

ausgegangen, in der Absicht, einen Analyseansatz <strong>und</strong> einige vorläufige<br />

Thesen zur wissenschaftlich-technischen Entwicklung zu formulieren,<br />

die das Konzept einer sozialwissenschaftlichen Technologiefolgenabschätzung<br />

ergänzen sollen.<br />

Theorie <strong>und</strong> Praxis der Technologiefolgenabschätzung greifen nach unserer<br />

Auffassung in mindestens dreierlei Hinsicht zu kurz:<br />

— Sie interessiert sich wenig für die wechselseitige Artikulation wissenschaftlicher<br />

<strong>und</strong> technischer Entwicklungen (Verwissenschaftlichung<br />

von Technik/Technisierung von Wissenschaft). Moderne Technik isi zunächst<br />

großwissenschaftlich ermögüchte <strong>und</strong> gesicherte Substitution vorgef<strong>und</strong>ener<br />

stofflich-natürlicher Prozesse durch konstruierte Prozesse. Man<br />

kann also moderne Technik kaum verstehen, wenn man die Bedingungen<br />

der Produktion wissenschaftlichen Wissens ausblendet (Knorr-Cetina 1981,<br />

Shruns 1984). Anders gesagt: Die TA arbeitet mit einem verkürzten Technikbegriff.<br />

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— Sie vernachlässigt die überbetrieblichen Formen, Strategien <strong>und</strong> Medien<br />

der Steuerung wissenschaftlich-technologischer Entwicklungen im Zusammenwirken<br />

<strong>und</strong> Gegeneinanderwirken politisch-administrativer, industrieller<br />

<strong>und</strong> wissenschaftlicher Akteure (Horwitch 1979; dagegen Keck 1985,<br />

LaPorte 1984). Damit läßt sie diejenigen sozialen Prozesse weitgehend<br />

außen vor, die den äußeren Schein eines Selbstlaufs der Technik zu allererst<br />

erzeugen.<br />

— Sie erfaßt kulturelle Implikationen technischer Entwicklungen nur ungenügend.<br />

Die Substitutionsleistungen technischer Systeme müssen kulturell<br />

angeeignet werden; das kann gelingen oder mißlingen. In Gestalt einer Akzeptanz-<br />

oder Akzeptabilitätsforschung ist die TA dieser Frage auf der<br />

Spur, aber man kann nicht sagen, sie hätte geeignete Konzepte erarbeitet<br />

für die Analyse alltäglicher Widerstände <strong>und</strong> öffentlicher Debatten (gegebenenfalls<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Diskurse), die dem Sinn, der Richtung, der Frage<br />

legitimer Kontrolle technischer Entwicklungen gelten (Bechmann &<br />

Wingert 1981, Douglas & Wildavsky 1982, Joerges u.a. 1985, Sachs 1985,<br />

Thompson 1983, Winner 1980, Wynne 1983).<br />

Ein weiterer Kritikpunkt kommt hinzu <strong>und</strong> bringt die genannten Defizite<br />

auf einen gemeinsamen Nenner: Technologiefolgenabschätzungen bleiben<br />

generell blind für die zeitlichen Verhältnisse der Technik<strong>entwicklung</strong>. Wie<br />

kommt es, daß einmal adoptierte technische Entwicklungslinien fast immer<br />

irreversibel sind? Wie kommt es, daß technische Entwicklungen gerechtfertigt<br />

werden können mit Bedürfnissen <strong>und</strong> Bewußtseinslagen, die mit Sicherheit<br />

von ihnen verändert werden? Wie kommt es, daß Probleme, die einer<br />

wachsenden Komplexität moderner Technik zugeschrieben werden, durch<br />

Techniken höherer Komplexität angegangen werden? Wie kommt es, <strong>und</strong><br />

was bedeutet es, daß zum selben Zeitpunkt, zu dem in den Labors von heute<br />

die entscheidenden Arbeiten für die Nachfolgetechnologien der Gentechnik<br />

gemacht werden, öffentliche Kontroversen sich an den Spätfolgen der<br />

Vorläufertechnologien entzünden? Wie interagieren verschiedene, aber zeitlich<br />

versetzte technische Entwicklungen?<br />

2. Vorschlag für einen vergleichenden Ansatz<br />

Eine Technikforschung, die über Technologiefolgenabschätzung hinausführt,<br />

sollte demnach mindestens zweierlei Dinge leisten:<br />

— Sie sollte sich auf zentrale <strong>gesellschaftliche</strong> <strong>und</strong> kulturelle Kategorien<br />

<strong>und</strong> Prozesse beziehen, von denen gesagt wurde, sie blieben in Technologiefolgenabschätzungen<br />

tendenziell ausgeblendet.<br />

— Sie sollte eine vergleichende Perspektive einnehmen, wobei der Vergleich<br />

sowohl auf Gemeinsamkeiten als auch auf Unterschiede zwischen<br />

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verschiedenen wissenschaftlich-technischen Entwicklungsschüben abstellt.<br />

Am Beispiel der drei Technikfelder Kernenergie, Mikroelektronik <strong>und</strong> Gentechnologie<br />

wird im folgenden eine entsprechende Vorgehensweise skizziert<br />

<strong>und</strong> anhand einiger inhaltlicher Thesen erläutert.<br />

Zunächst zur Selektion zentraler Kategorien <strong>und</strong> Prozesse. Da eine ausgeführte<br />

Theorie wissenschaftlich-technischen Wandels, aus der Vergleichsgesichtspunkte<br />

für einzelne Technologien abzuleiten wären, nicht verfügbar<br />

ist, schlagen wir die Entwicklung eines einheitlichen Analyseschemas vor,<br />

das es erlaubt, Materialien zu verschiedenen Technik<strong>entwicklung</strong>en schrittweise<br />

aufzuarbeiten <strong>und</strong> zu interpretieren. Interpretationsleitend ist dabei<br />

die Frage nach der Steuerung wissenschaftlich-technischer Entwicklungen,<br />

d.h. die Vorstellung, daß tatsächliche Entwicklungen als Produkt „rationaler<br />

Projekte" unterschiedlicher <strong>gesellschaftliche</strong>r Akteure begriffen werden<br />

können. Ein solches Analyseschema ist noch keine Theorie, sondern ordnet<br />

lediglich bestimmte Beobachtungen einer Reihe von Analyseschritten zu,<br />

die an verschiedenen Stellen den Rückgriff auf ganz unterschiedliche theoretische<br />

Überlegungen möglich <strong>und</strong> erforderlich machen. Das Schema<br />

sieht im wesentlichen drei Analyseschritte <strong>und</strong> eine entsprechende Reihe<br />

von Vergleichen vor.<br />

Ein erster, eher beschreibender Schritt sollte in einer zeitlich (gegebenenfalls<br />

räumlichen) Anordnung wichtiger wissenschaftlich-technischindustrieller<br />

Entwicklungen bestehen. Wir unterscheiden dabei ganz konventionell<br />

zwischen den Bereichen Gr<strong>und</strong>lagenforschung; ingenieurmäßige<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung; erste industrielle Anwendung; breiter industrieller<br />

Einsatz; Ablösung durch neue Generationen technischer Systeme,<br />

gegebenenfalls Abschwung einer Technik. Am Beispiel der Kerntechnik<br />

hieße das also: Entwicklungen in der Kernphysik; Reaktorforschung <strong>und</strong><br />

Versuchsreaktoren; erste kommerzielle Nutzung; breiter Einsatz von Kernkraftwerken;<br />

Ablösung durch neue Reaktortypen. Dabei wird in keiner<br />

Weise eine strikte zeitliche Abfolge dieser Stufen unterstellt; es geht hier<br />

vielmehr um die zeitliche Spezifizierung mehr oder weniger parallel verlaufender<br />

Prozesse in diesen fünf (oder anderweitig zweckdienlich abgegrenzten)<br />

Bereichen. 1<br />

Dieser erste Schritt gilt primär der Analyse der spezifischen Substitutionsleistungen<br />

einer gegebenen technischen Entwicklung in natürlichen<br />

<strong>und</strong> in sozialen Systemen (siehe Abschnitt 3). Einfaches Beispiel: Ein Aufzug<br />

substituiert bestimmte Wege <strong>und</strong> körperliche Aktivitäten, Bauformen,<br />

die Kehrwoche, die Notwendigkeit, mit Nachbarn zu kommunizieren usw.<br />

durch eben Aufzugtechnik mit allem, was dazu gehört — etwa neuen baupolizeilichen<br />

Verordnungen, bestimmten Kommunikationsformen, Service-<br />

Organisationen, hohen statt flachen Bauformen usw.<br />

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Ein zweiter Schritt gilt der Analyse der beteiligten Akteure, ihrer Strategien<br />

<strong>und</strong> Rollen, der Arenen, in denen sie agieren, <strong>und</strong> der Konfigurationen<br />

<strong>und</strong> Konflikte, die sich ergeben im langen Verlauf einer mehr oder weniger<br />

erfolgreichen Durchsetzung <strong>und</strong> soziokulturellen Aneignung technischer<br />

Entwicklungen. Wir schlagen vor, auch diesem Schritt ein einfaches<br />

Klassifikationsschema zugr<strong>und</strong>e zu legen, in dem einerseits dominante, an<br />

der Durchsetzung einer gegebenen Technologie interessierte Akteure<br />

(Wissenschaft <strong>und</strong> Großforschung, Industrie <strong>und</strong> Betreiber, politisch-administrative<br />

Akteure), andererseits <strong>gesellschaftliche</strong> Mit- <strong>und</strong> Gegenspieler<br />

(organisierte Öffentlichkeit, soziale Bewegungen, kritische Wissenschaft)<br />

unterschieden werden. 2<br />

Dieser zweite Schritt gilt der Analyse einer Reihe von Prozessen (siehe<br />

Abschnitt 4): den Interessenlagen, Steuerungsmedien, Entscheidungs- <strong>und</strong><br />

Rechtfertigungsstrategien, Folgeerwartungen <strong>und</strong> Folgewahrnehmungen<br />

einzelner dominanter Akteure; den wechselnden Konstellationen, die sich<br />

zwischen ihnen ergeben; den Reaktionsformen bestimmter <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Gruppen <strong>und</strong> den Rückwirkungen auf das System dominanter Akteure;<br />

Prozessen der kulturellen Assimilation sozio-technischer Systeme (auch<br />

Abschnitt 6).<br />

Ein dritter Schritt ist in hohem Maß interpretativ <strong>und</strong> gilt der Rekonstruktion<br />

von Rationalitätsmustern, aus denen heraus tatsächliche Entwicklungen<br />

verständlich werden (siehe Abschnitte 5 <strong>und</strong> folgende). Unter Rationalitätsmuster<br />

werden hier die verschiedenen Deutungsmuster <strong>und</strong> Orientierungen<br />

verstanden, die dem Handeln verschiedener Akteure zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen. So könnten etwa, mit Habermas <strong>und</strong> anderen, zweckrationale Handlungsmuster<br />

oder eine „instrumenteile Rationalität" von einem verständigungsorientierten<br />

Handeln <strong>und</strong> einer „kommunikativen Rationalität" unterschieden<br />

werden.<br />

Sodann zur Vergleichsperspektive. Wir haben bewußt drei zeitlich versetzte,<br />

sich überlagernde wissenschaftlich-technische Entwicklungen herausgegriffen:<br />

Kerntechnik, interpretiert als eine in den siebziger Jahren voll<br />

industrialisierte <strong>und</strong> konfliktgenerierende Technik (z.B. Radkau 1983;<br />

Roßnagel 1983); Mikroelektronik, interpretiert als eine Technik, die in<br />

den achtziger Jahren voll durchgesetzt sein <strong>und</strong> Konfliktstoff liefern<br />

wird (z.B. Friebe & Gerybadze 1984; Halfmann 1984; OECD 1981, 1982a);<br />

Gentechnologie, interpretiert als ein System, das in den neunziger Jahren<br />

auf breiter Front industrielle Anwendungen <strong>und</strong> Konfliktpotentiale zeugen<br />

wird (z.B. Nordhoff 1985; OECD 1982b).<br />

Der Versuch, diese drei Fälle vergleichend zu betrachten, soll sich an<br />

zwei Fragestellungen orientieren:<br />

— Wenn man die drei Technikfelder oder Technikschübe je gesondert ansieht,<br />

lassen sich dann charakteristische Gemeinsamkeiten einerseits,<br />

auffällige Unterschiede andererseits ausmachen?<br />

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— Wenn man die drei Technikfelder als Komponenten eines Gesamtprozesses<br />

auffaßt, läßt sich dann eine übergreifende Dynamik ausmachen?<br />

In Termini des Titels formuliert: Kommt es im Lauf der Zeit zu einer<br />

Verstärkung der Eigendynamik technischer Entwicklungen gegenüber<br />

Versuchen ihrer <strong>gesellschaftliche</strong>n Steuerung <strong>und</strong> Aneignung oder<br />

kommt es zu <strong>gesellschaftliche</strong>n Lernprozessen <strong>und</strong> zur Institutionalisierung<br />

öffentlicher Diskurse, damit vielleicht zu einem vernünftigeren<br />

Umgang mit einer augenscheinlich autonomen Technik<strong>entwicklung</strong>?<br />

3. Natürliche <strong>und</strong> soziale Substitutionsleistungen technischer Systeme<br />

Um die zeitliche Entwicklung technischer Systeme wissenschafts- <strong>und</strong> techniksoziologisch<br />

adäquat fassen zu können, schlagen wir also vor, zunächst<br />

die Geschichte ihrer natürlichen <strong>und</strong> sozialen Substitutionsleistungen (<strong>und</strong><br />

gegebenenfalls deren räumlicher Inzidenz) zu verfolgen. In äußerst verkürzter<br />

Form lassen sich die drei Technikfelder unter diesem Gesichtspunkt<br />

etwa folgendermaßen charakterisieren.<br />

In der Kerntechnik wird ein gewaltiger Schritt in Richtung eines Übergangs<br />

von der Nutzung in der Natur vorfindlicher Energieträger zur gezielten<br />

Konstruktion eines Energieträgers getan. Die Außerordentlichkeit dieses<br />

Vorgangs kann man sich daran klarmachen, daß er ausdrücklich verb<strong>und</strong>en<br />

wurde <strong>und</strong> wird mit der Vorstellung, zumindest in diesem Bereich<br />

könne es gelingen, ein an natürliche Knappheiten geb<strong>und</strong>enes Verteilungsproblem<br />

endgültig in ein Produktionsproblem zu überführen. In der Atomwirtschaft<br />

wird der Versuch unternommen, zahllose auf die Bereitstellung<br />

großer Energiequanten angewiesene Handlungskontexte weitgehend abzulösen<br />

von einer laufenden Brennstoffzufuhr aus vielen fossilen Energiequellen.<br />

Statt dessen wird in einem eigens dafür aufgebauten, äußerst komplexen<br />

Handlungsgefüge ein Energieträger konstruiert, industriell produziert<br />

<strong>und</strong> verwertet. In weit höherem Maß als in der Verwertung von öl<br />

oder Kohle wird in der verfügbaren Fissionstechnik, <strong>und</strong> zumal in Brüter<strong>und</strong><br />

möglicherweise bevorstehenden Fusionstechnologien, Naturgeschichte<br />

durch artifizielle Prozesse ersetzt — man kann auch sagen: durch ihre weitgehende<br />

Verwandlung in ein System von Artefakten wird Natur sozialisiert,<br />

in einem ganz bestimmten Sinn vergesellschaftet.<br />

Kerntechnik substituiert nicht nur natürliche (organische) Prozesse. Die<br />

produktionstechnischen Lösungen, die sie ermöglicht <strong>und</strong> erfordert, lassen<br />

zahlreiche menschliche Handlungssysteme entfallen oder verlegen sie in<br />

vorgefertigte kraftwerkstechnische Einrichtungen <strong>und</strong> Kontrollsysteme. In<br />

diesem Sinn werden menschliche Handlungssysteme durch materialisierte<br />

ersetzt. Theoretisch würde diese Entwicklung in der Schließung der Brennstoffkreisläufe<br />

in Form weitgehend integrierter <strong>und</strong> automatisierter Reaktor-<br />

<strong>und</strong> Wiederaufbereitungssysteme kulminieren, vorbereitet in der Idee<br />

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der „safeguards" <strong>und</strong> der „inhärenten Sicherheit" (Radkau 1963: 366ff.,<br />

369ff.).<br />

Doch der Prozeß ist offenbar nicht ab schließbar. Der Ausschluß natürlicher<br />

<strong>und</strong> sozialer Kontingenzen der <strong>gesellschaftliche</strong>n Bereitstellung von<br />

Energie erfordert den Anschluß an neue, umfassendere natürliche <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Bedingungen. Naturseitig werden zum Beispiel die natürlichen<br />

Wärmehaushalte systemrelevant oder das Problem, mit zusätzlicher<br />

radioaktiver Strahlung umzugehen. Handlungsseitig ist nun mit Faktoren zu<br />

rechnen wie der Wissenschaftsintensität des Ingenieursystems (Häfele 1963,<br />

1974), der Disziplinierbarkeit des Bedienungspersonals, der Organisierbarkeit<br />

<strong>und</strong> Finanzierbarkeit langfristiger interorganisationeller Großprojekte<br />

(LaPorte 1984), der Steuerungskapazität des politischen Systems (Keck<br />

1984, 1985), der Tragfähigkeit des bestehenden Rechts (Roßnagel 1983),<br />

der Fähigkeit zur kulturellen Reinterpretation augenscheinlich kontextfrei<br />

funktionierender Systeme von Großartefakten (Wynne 1983).<br />

Die kernenergietechnische Entwicklung bringt also zunehmend neue<br />

natürliche <strong>und</strong> soziale Kontingenzen ins Spiel, für deren Bearbeitung verfügbare<br />

kognitive, institutionelle <strong>und</strong> sozialaffektive Handlungsmuster nicht<br />

(oder noch nicht) ausreichen. Sie ist aus diesen Gründen an einem schwierigen<br />

Punkt ihrer Entwicklung angekommen; fraglich ist insbesondere der<br />

mögliche Übergang zur Brüter- oder Fusionstechnik. Es wäre aber unvorsichtig<br />

zu glauben, das kerntechnische Projekt sei an diesen Problemen<br />

endgültig gescheitert. Sofern bestimmte wissenschaftlich bereitzustellende<br />

Konstruktionspotentiale <strong>und</strong> gesellschaftlich — in Teilen vielleicht auch<br />

sozialwissenschaftlich — bereitzustellende Kontroll- <strong>und</strong> Verarbeitungspotentiale<br />

mobilisiert werden, kann es zu einem weiteren Ausbau kommen<br />

— wenn auch nicht unbedingt hierzulande (Collingridge 1984).<br />

Im Fall der Mikroelektronik haben wir es mit einem fortschreitenden<br />

Übergang von Prozessen der Informationsverarbeitung, die im Medium<br />

natürlicher Sprachen <strong>und</strong> dafür geeigneter stofflicher Träger bewerkstelligt<br />

werden, zu einer Verarbeitung im Medium maschinell realisierter artifizieller<br />

Sprachen <strong>und</strong> entsprechender Datenträger zu tun. Die vor allem formalwissenschaftlich<br />

zu leistende Entwicklung <strong>und</strong> Weiter<strong>entwicklung</strong> solcher<br />

Sprachen, ihre mikroelektronische Implementierung <strong>und</strong> die industrielle<br />

Produktion entsprechender Geräte bzw. Netze ermöglichen wiederum<br />

zweierlei: Auf der Seite der organischen Natur werden in wachsendem<br />

Umfang von menschlichen Organismen abzuwickelnde Informations<strong>und</strong><br />

Kommunikationsprozesse substituiert; auf der Handlungsseite werden<br />

Prozesse geistiger Arbeit <strong>und</strong> tradierter sozialer Kommunikation sowie eine<br />

Unzahl von organisatorischen Strukturen substituiert (z.B. Steinmüller<br />

1982).<br />

Prinzipiell wäre diese Technik abgeschlossen mit der Möglichkeit, hermeneutische<br />

Kommunikationsprozesse durch technische, d.h. auf maschinell<br />

implementierbaren Regeln basierende Kommunikation zu ersetzen.<br />

Vorläufig kulminiert die Entwicklung in der Konstruktion von Denkappara-<br />

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ten, die nicht nur fähig sind, eingegebene Informationen zu bearbeiten <strong>und</strong><br />

miteinander auszutauschen, sondern sie selbsttätig in einer Weise zu transformieren,<br />

die sie den Benutzern dieser Technik als neu, die Geräte in diesem<br />

Sinne als kreativ erscheinen läßt: Produktion künstlicher Intelligenz<br />

(Becker 1984; Rich 1983; Ritchie 1984). Äußerst kontrovers wird gegenwärtig<br />

diskutiert, ob — etwa mit der Entwicklung einer fünften Generation<br />

von Computern in Verbindung mit anstehenden Ergebnissen der Gehirnforschung<br />

— eine Stufe der Sy<strong>mb</strong>olverarbeitung zu erreichen ist, in der solche<br />

Systeme so etwas wie eine eigene Semantik erzeugen, quasi-intentionalen<br />

Charakter annehmen werden (in diesem Zusammenhang Dennett 1984).<br />

Worauf es uns hier ankommt, ist, daß die Substitutionsleistungen der<br />

Mikroelektronik in ähnlichen Kategorien gefaßt werden können, wie wir sie<br />

in der Analyse der Kernenergie <strong>und</strong> anschließend der Gentechnik verwenden:<br />

Mikroelektronik als eine Form der schrittweisen Ablösung bestimmter<br />

Handlungskontexte von natürlichen (organismischen) <strong>und</strong> gleichzeitig sozialen<br />

Kontingenzen. Wiederum setzt diese Entwicklung allerdings den Anschluß<br />

an weitere natürliche <strong>und</strong> soziale Kontingenzen voraus: Naturseitig<br />

kommen etwa neue organische Belastungen oder im Verb<strong>und</strong> mit biotechnischen<br />

Entwicklungen Interferenzen mit umfassenderen Ökosystemen ins<br />

Spiel; handlungsseitig ist dieser Prozeß beispielsweise durch soziale Krankheitsbilder<br />

wie die von Weizenbaum (1978) oder Turkle (1984) beschriebenen<br />

obsessiven <strong>und</strong> narzistischen Syndrome, oder die gesamte Problematik<br />

des „gläsernen Menschen" im öffentlichen <strong>und</strong> betrieblichen Bereich<br />

(Seltz 1984), oder die Verwandlung von Ingenieuren in Arbeiter in bestimmten<br />

Industrien, möglicherweise eine umfassende kulturelle Prägung<br />

durch die „Definitionsmacht" der Computertechnik (Bolter 1984) indiziert.<br />

Die anstehende Entwicklung macht eine Vielzahl neuer kognitiver,<br />

institutioneller <strong>und</strong> sozialaffektiver Zusatzleistungen erforderlich, die ihrerseits<br />

gegebenenfalls weitere Substitutionsprozesse ermöglichen.<br />

Im Fall der Gentechnologie wird die bisher übliche Selektion erwünschter<br />

Organismen aus einem vorgegebenen Pool ersetzt durch die Konstruktion<br />

<strong>und</strong> industrielle Produktion von Organismen. Am augenfälligsten<br />

3<br />

wird das in der Anwendung molekulargenetischer Verfahren zur Herstellung<br />

künstlicher Mikro-Organismen, die ihrerseits zur Produktion, Reduktion<br />

oder Veränderung zahlreicher Stoffe eingesetzt werden können. Organismen<br />

werden hier endgültig zu Artefakten. Molekulargenetiker <strong>und</strong> Biochemiker<br />

können nun „machen, was die Natur noch nicht gemacht hat". Damit<br />

ist die Biologie in die Phase einer „synthetischen" Wissenschaft (Winnacker<br />

1984: 58f.) eingetreten <strong>und</strong> erreicht ein technisches Niveau, wie es<br />

im Bereich der Chemie mit der Ablösung der Naturstoffchemie durch die<br />

Chemie der zyklischen Kohlenwasserstoffverbindungen im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert,<br />

zunächst in der technischen Synthese organischer Farben möglich<br />

wurde.<br />

Gentechnik würde prinzipiell in einer gezielten genetischen Umwandlung<br />

auch höherer Lebewesen kulminieren. Sollte es gelingen, molekularge-<br />

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netische, zell- <strong>und</strong> <strong>entwicklung</strong>sbiologische Verfahren zur partiellen Rekonstruktion<br />

höherer Organismen — <strong>und</strong> letzten Endes von Menschen — einzusetzen,<br />

wird dabei ihr Anwendungsbereich weit über den der industriellen<br />

Produktion im engeren Sinn hinausgehen. Anfänge dieser Entwicklung sind<br />

in der Fortpflanzungsmedizin realisiert (Jüdes 1983; Hohlfeld 1984).<br />

Eine Charakterisierung der sozialen Substitutionsleistungen der Gentechnik<br />

ist bisher schwierig, weil ihre Anwendungsmöglichkeiten — ähnlich<br />

wie in der Mikroelektronik — äußerst vielfältig <strong>und</strong> offen sind. Anschaulich<br />

<strong>und</strong> gegenwärtig breit diskutiert sind die sozialen Substitutionsleistungen<br />

eines schnell wachsenden Angebots an technischen Lösungen im Vorfeld<br />

molekulargenetischer Technik für das Problem der Unfruchtbarkeit. Die<br />

,,biopsychosoziale Einheit" von Mutter- <strong>und</strong> Elternschaft wird durch die<br />

moderne Fortpflanzungsmedizin technisch in ihre Komponenten aufgelöst,<br />

Voraussetzung für fast beliebige menschliche Brutprogramme (Grobstein<br />

u.a. 1983). Die Fortschritte, die hier in der Auseinandersetzung mit einer<br />

widrigen Natur gemacht werden, suspendieren eine Vielzahl sozialer Orientierungen<br />

<strong>und</strong> Handlungsmuster bei allen Beteiligten: von den Eltern über<br />

Forscher <strong>und</strong> Ärzte, Rechtsanwälte, Richter, Gesetzgeber, Leihmütter <strong>und</strong><br />

Samenspender, bis zu den Kindern. Kulturell einigermaßen verbindliche<br />

affektiv-soziale Bezüge, institutionelle Regelungen <strong>und</strong> kognitive Orientierungen<br />

verlieren ihren Sinn <strong>und</strong> erfordern Ersatz (Benda 1984).<br />

Im Fall der Gentechnik käme man kaum auf die Idee, diese Prozesse<br />

seien technisch abschließbar, weder im Sinne einer abschließenden wissenschaftlich-technischen<br />

Kontrolle, etwa von Fortpflanzungsvorgängen, noch<br />

im Sinne einer widerstandslos hingenommenen sozialen <strong>und</strong> kulturellen<br />

Entleerung <strong>und</strong> Verödung. In der Gentechnik scheinen vielmehr schon in<br />

der Frühphase der Substitution relativ unkontrollierter organischer <strong>und</strong><br />

sozialer Prozesse eine Unzahl von neuen Widrigkeiten der Natur <strong>und</strong> sozialen<br />

Widerständigkeiten aufzutauchen. Entsprechend scheint diese Technologie<br />

schneller <strong>und</strong> auf breiterer Front neue Kontingenzen <strong>und</strong> Handlungsherausforderungen<br />

zu generieren als beispielsweise die Kerntechnik. Das gilt<br />

sowohl naturseitig, also im wissenschaftlich-ingenieurtechnischen „Zuständigkeitsbereich",<br />

als auch auf der Handlungsseite, also juristisch-gesetzgeberisch,<br />

politisch, ökonomisch, lebensweltlich — <strong>und</strong> damit im „Zuständigkeitsbereich"<br />

der Sozialwissenschaften.<br />

Diese wenigen Hinweise auf Inhalt <strong>und</strong> Richtung der Entwicklung in<br />

den drei Feldern müssen hier genügen. Mit der Vorstellung von natürlichen<br />

Substitutionsleistungen (Ablösung von natürlichen Kontingenzen) auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage konstruktiv-synthetisierend verfahrender Wissenschaften, von<br />

damit einhergehenden sozialen Substitutionsleistungen (Ablösung von<br />

sozialen Kontingenzen), von dadurch neu ins Spiel kommenden natürlichen<br />

wie sozialen Kontingenzen <strong>und</strong> entsprechenden neuen Handlungsanforderungen<br />

ist ein Technikbegriff umrissen, der sich, wie wir glauben, auf moderne<br />

wissenschaftlich-technische Entwicklungen ganz allgemein fruchtbar<br />

anwenden läßt.<br />

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4. Prozesse der Steuerung wissenschaftlich-technisch-industrieller<br />

Entwicklungen<br />

Eine Beschreibung der Konstruktion <strong>und</strong> der natürlichen <strong>und</strong> sozialen Substitutionsleistungen<br />

bestimmter technischer Systeme ist zwar im Detail<br />

nicht möglich ohne Bezugnahme auf bestimmte soziale Akteure, sagt aber<br />

noch nicht viel über Prozesse der Steuerung, also der strategischen Organisation<br />

<strong>und</strong> Kontrolle wissenschaftlich-technischer Entwicklungen. Eine vorläufige<br />

Betrachtung der Interaktionsdynamik im System dominanter Akteure<br />

<strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>r Gegenspieler ergibt folgende Hinweise für unsere<br />

drei Beispiele.<br />

Zunächst ist für alle drei Fälle festzustellen, daß im Bereich der Wissensproduktion<br />

die institutionelle Trennung von akademischer Forschung <strong>und</strong><br />

industrieller Forschung <strong>und</strong> Entwicklung effektiv aufgehoben ist. Es entstanden<br />

oder entstehen Großforschungskomplexe mit einem starken wissenschafts-<br />

<strong>und</strong> technikpolitischen Management, in denen es zu enger Zusammenarbeit<br />

<strong>und</strong> gegenseitigen Aushandlungsprozessen zwischen Akteuren<br />

aus dem Wissenschaftssystem, dem industriellen System <strong>und</strong> dem politischadministrativen<br />

System kommt (z.B. Prüß 1974; Keck 1984; Weinberg<br />

1970).<br />

Typischerweise wechselt die Führungsrolle in diesen quasi-korporatistischen<br />

Verbündeten über Zeit <strong>und</strong> von Technologie zu Technologie. So ist<br />

die kerntechnische Entwicklung in der B<strong>und</strong>esrepublik zunächst vom wissenschaftspolitischen<br />

Establishment in Zusammenarbeit mit staatlichen Bürokratien<br />

in Gang gebracht worden. Die Industrie, insbesondere die Energiewirtschaft,<br />

hat sich erst relativ spät <strong>und</strong> dann auch nur zögernd in die Entwicklung<br />

eingeschaltet <strong>und</strong> spielte im ganzen eher eine bremsende Rolle<br />

(Keck 1984; Radkau 1983).<br />

Bei der Mikroelektronik befinden sich, erst seit kurzem, Ansätze zu<br />

neuen Verb<strong>und</strong>systemen in Entstehung, in denen universitäre Wissenschaft,<br />

staatliche Großforschungseinrichtungen <strong>und</strong> Industrie zusammengeschlossen<br />

werden. (So zum Beispiel im Projekt „Entwicklung integrierter Schaltkreise",<br />

an dem 30 universitäre Lehrstühle, die Gesellschaft für Mathematik<br />

<strong>und</strong> Datenverarbeitung <strong>und</strong> Siemens beteiligt sind.)<br />

Bei der Gentechnologie erweisen sich sowohl die vom politischen<br />

System initiierten Großforschungseinrichtungen als auch industrielle <strong>und</strong><br />

akademische Hierarchien als zu starr, um Ergebnisse der Molekulargenetik<br />

<strong>und</strong> Gentechnologie für eine industrielle Modernisierung nutzbar zu machen.<br />

Gegenwärtig übernehmen offenbar auch hier bestimmte Forschungseliten<br />

die Führungsrolle in relativ durchlässig <strong>und</strong> flexibel in Form von<br />

„Technologieparks" organisierten Genzentren (Hack & Hack 1985). Dieser<br />

Vorgang ist zugleich mit einem stärkeren Engagement der Industrie <strong>und</strong><br />

einer geschickteren staatlichen Förderung verb<strong>und</strong>en als etwa im Fall der<br />

Kerntechnik.<br />

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Sodann läßt sich feststellen, daß andere, außerhalb dieser relativ geschlossenen<br />

wissenschaftlich-industriell-politischen Komplexe agierende<br />

Gruppen <strong>und</strong> Instanzen die Bühne der Auseinandersetzungen typischerweise<br />

erst spät betreten (Kitschelt 1980). Im pauschalen Vergleich scheint das<br />

im Fall der Kerntechnik sehr spät, in der Mikroelektronik bislang überhaupt<br />

nur bedingt, in der Gentechnologie relativ früh geschehen zu sein. Soweit<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Gegenspieler — repräsentiert vor allem in einem Teil der<br />

Medien, in mehr oder weniger organisierten sozialen Bewegungen <strong>und</strong> Initiativen<br />

kritischer Wissenschaftler — sich in die Debatten eingeschaltet<br />

haben, kam es allerdings bislang kaum zu einer effektiven Erweiterung der<br />

Entscheidungs- <strong>und</strong> Kontrollbasis (Nelkin 1977). Die Bedeutung öffentlicher<br />

Auseinandersetzungen lag eher darin, daß — in der Kernenergie sehr<br />

erfolgreich — ein erhöhter Legitimationsbedarf für technologiepolitische<br />

<strong>und</strong> unternehmerische Strategien angemeldet wurde, <strong>und</strong> zwar im Hinblick<br />

auf eine äußerst breite Palette naturseitiger <strong>und</strong> gesellschaftsseitiger Folgewirkungen.<br />

Sowohl Akteure im politisch-administrativen System wie in den<br />

betreffenden Industrien haben aus dieser typischen Ablaufstruktur gelernt<br />

<strong>und</strong> entwickeln heute für Teilbereiche der Informationstechnologie <strong>und</strong> der<br />

Molekularbiologie/Gentechnik Formen der Vorabproduktion von Legitimation.<br />

Der Zusammenschluß dominanter Akteure zu quasi-korporatistischen<br />

Komplexen erlaubt noch keine Rückschlüsse auf die Strategien, die von den<br />

beteiligten Akteuren verfolgt werden. Betrachtet man ihr Zusammenspiel<br />

im langen Verlauf, dann läßt sich für alle drei Fälle vermuten, daß keine der<br />

beteiligten Akteursgruppen durchgehend einen beherrschenden Einfluß<br />

nehmen konnte (z.B. Keck 1984; Mettler-Meibom 1983; Rammert 1982).<br />

Darüber hinaus kann man zeigen, daß keine dieser Gruppen sich durchgängig<br />

auf diejenigen Steuerungsmedien verläßt, auf deren Rationalität sie<br />

sich prinzipiell berufen (Meixner 1983). Weder läßt sich sagen, daß wissenschaftliche<br />

Instanzen nach Regeln einer autonomen wissenschaftlichen Forschung<br />

agieren (Borkenbus 1983), noch daß industrielle Instanzen sich<br />

allein an Marktverhältnissen orientieren, noch daß politisch-administrative<br />

Systeme sich vorwiegend auf parlamentarisch-administrativ-rechtliche Formen<br />

der Kontrolle stützen. Die Betrachtung der kerntechnischen Entwicklung<br />

legt den Schluß nahe, daß hier sowohl politisches System wie Wirtschaft<br />

<strong>und</strong> Wissenschaft, gemessen an ihren je eigenen Rationalitätskriterien,<br />

in der Steuerung einer technischen Entwicklung versagt haben (Kosolowski<br />

1983, in einer etwas anderen Interpretation Keck 1984b).<br />

5. Übergreifende Rationalitätsmuster?<br />

Mit dem bisherigen ist schon gesagt, daß es uns schwerfällt, in der Interaktion<br />

zwischen dominanten Akteuren der Technik<strong>entwicklung</strong> eine übergrei-<br />

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fende, auf einem einheitlichen Rationalitätsmuster beruhende Strategie zu<br />

entdecken, die gelegentlich postuliert wird (Ullrich 1979). Zwar rechtfertigt<br />

die konstitutive Rolle des Wissenschaftssystems <strong>und</strong> die hochgradige institutionelle<br />

Verschränkung von Wissenschaft, Industrie <strong>und</strong> Politik die Rede<br />

von der Herausbildung wissenschaftlich-industriell-politischer Komplexe.<br />

Im Ergebnis verlaufen aber die Entwicklungen in den drei Technikfeldern<br />

weder planmäßig noch geradlinig. Die Analyse natürlicher <strong>und</strong> sozialer<br />

Substitutionsleistungen neuer Technologien ebenso wie die Analyse der<br />

Konfliktdynamik im System dominanter Akteure <strong>und</strong> im Verhältnis zu<br />

organisiertem <strong>gesellschaftliche</strong>m Protest machen diesen Bef<strong>und</strong> durchaus<br />

verständlich. Etwaige Zugewinne an strategischer Rationalität werden offenbar<br />

laufend wettgemacht durch neu auftretende Kontrollerfordernisse<br />

— sowohl auf der Ebene der Produktion von Wissenschaft <strong>und</strong> Ingenieurtechnik<br />

als auch der Legitimationsbeschaffung für industrielle <strong>und</strong> politische<br />

Projekte <strong>und</strong> der Bearbeitung lebensweltlicher Störungen.<br />

Es entsteht ein paradoxes Bild. Einem Defizit an gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Rationalität <strong>und</strong> Rechtfertigungsstrategien steht ein im Detail fraglos<br />

erratischer, im Gesamtverlauf ebenso fraglos eigendynamischer <strong>und</strong> irreversibel-gerichteter<br />

Entwicklungsgang gegenüber. Die Weiterverfolgung der<br />

Kerntechnik, die Anstrengungen zur sozialen Installation von Informationstechnologien<br />

<strong>und</strong> zur Realisierung der Möglichkeiten einer „synthetischen<br />

Biologie", verb<strong>und</strong>en mit einem gegenüber den siebziger Jahren wiedererstarkten<br />

Glauben an Fortschritt <strong>und</strong> Wachstum, technische Machbarkeit<br />

<strong>und</strong> rationale Konfliktbewältigung, zeigen an, daß die Dynamik dieser<br />

Prozesse ungebrochen ist. Warum also wird das Projekt sukzessiver wissenschaftlich-technologischer<br />

Modernisierung dennoch durchgehalten <strong>und</strong> ertragen,<br />

wenn es doch kaum auf durchgängige Rechtfertigungsstrategien<br />

zurückgreifen kann <strong>und</strong> im langen Verlauf seiner Realisierung immer risikoreicher<br />

erscheint <strong>und</strong> kontroverser diskutiert wird? Wie hat man sich den<br />

Prozeß der <strong>gesellschaftliche</strong>n Durchsetzung neuer Technologien vorzustellen,<br />

wenn er nicht so sehr als Ergebnis rational handelnder Subjekte rekonstruierbar<br />

ist, sondern sich „hinter dem Rücken" der Akteure einzustellen<br />

scheint, durch die das „Dogma von der industriellen Vernunft" als verbindliches<br />

Deutungsmuster hochindustrialisierter Gesellschaften gleichsam „hindurchgreift"<br />

(Habermas 1982: 297 ff.)? Dieser Frage wollen wir im folgenden<br />

Abschnitt ein wenig nachgehen.<br />

6. Kulturelle Deutungen wissenschaftlich-technischer Entwicklungen<br />

Der enge Zusammenhang zwischen bestimmten technischen Innovationen<br />

<strong>und</strong> soziokulturellem Wandel ist vielfach untersucht worden. Man denke an<br />

die Schlüsselrolle, die Sozialhistoriker <strong>und</strong> Sozialtheoretiker so verschiedenen<br />

Techniken wie künstlichem Feuer, Pflug, Uhr, Steinaxt <strong>und</strong> Steigbügel,<br />

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Druckerpresse, mechanischen Webstuhl, Dampfmaschine, Auto, TV, Computer<br />

zugeschrieben haben. Man kann dabei unterscheiden zwischen für <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Wandel „wichtigen" Technologien <strong>und</strong> dem, was Bolter<br />

(1984) „definierende" Technologien nennt: Technologien, die in besonderer<br />

Weise „deutungsmächtig" sind, die umfassend in die Interpretationen<br />

sozialer <strong>und</strong> natürlicher Verhältnisse einer Gesellschaft eingreifen <strong>und</strong> selbst<br />

zu Metaphern erwünschter oder befürchteter gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklungen<br />

werden. Wir haben solche Prozesse eingangs als mythenbildende<br />

Funktionen gerade der hier interessierenden Technologien apostrophiert.<br />

Welche Bedeutung könnte technischen Mythen <strong>und</strong> Gegenmythen für die<br />

langfristige Stabilisierung (oder DeStabilisierung) wissenschaftlich-technischer<br />

Entwicklungen zukommen? 4<br />

In technischen Mythen ist die soziale Realität einer Technik sy<strong>mb</strong>olisch<br />

repräsentiert; sie haben umfassend handlungsorientierenden Charakter <strong>und</strong><br />

sind bei jeder beteiligten Gruppe, ob dominanten oder marginalen Akteuren,<br />

ob Experten oder Laien, nachzuweisen (z.B. Cotgrove 1982). Sie ermöglichen<br />

eine drastische Reduktion vieler disparater Sinndeutungen, über<br />

Differenzen in der sozialen Struktur <strong>und</strong> im historischen Verlauf hinweg.<br />

Das ist möglich durch ihre Bildhaftigkeit <strong>und</strong> ihre einfache, oft binäre Kodierung:<br />

Technik erscheint als gut oder böse, bedeutet ewiges Feuer oder<br />

Weltenbrand, Superman oder Frankenstein, das Füllhorn der Ceres oder die<br />

schwarze Box der Pandora. s<br />

Der Wandel technischer Mythen <strong>und</strong> Gegenmythen im langen Verlauf<br />

der Entwicklung großer technischer Systeme ist nicht leicht zu rekonstruieren<br />

— Mythen kann man eigentlich nur nacherzählen. Am Fall der Kernenergie<br />

kann man ablesen, daß Mythen <strong>und</strong> Gegenmythen von den frühesten<br />

politisch-spekulativen Anfängen an in den Debatten präsent waren.<br />

Charakteristisch für das Frühstadium der Entwicklung waren ganzheitliche<br />

(aber relativ „techniknahe") Deutungen, normative Appelle <strong>und</strong>, unbeschadet<br />

mahnender Stimmen, eine insgesamt positive Zukunftsperspektive.<br />

Im weiteren Verlauf wurden dann die Anfangsmythen sukzessive abgewandelt<br />

<strong>und</strong> abgearbeitet. Emphatische Zukunftsbilder wurden demontiert<br />

<strong>und</strong> tauchten nun zum Teil als empirisch belegte Argumente auf. Im Zuge<br />

der Konkretisierung <strong>und</strong> sozialen Installation verschiedener technischer<br />

Varianten erwiesen sich ständig frühere Prophezeiungen <strong>und</strong> Erwartungen<br />

als unrealistisch oder überholt, <strong>und</strong> der Wechsel der Akteure <strong>und</strong> der Umstände<br />

erzwang einen häufigen Austausch von Legitimationsmustern. Diese<br />

Prozesse der Verwissenschaftlichung <strong>und</strong> Veralltäglichung von Ausgangsmythen,<br />

sowohl auf der Seite der Befürworter wie auf der Seite der Gegner<br />

der Kernenergie, in denen zunehmend auf empirische Evidenz <strong>und</strong> augenscheinlich<br />

rationale Bewertungsverfahren zurückgegriffen wurde, haben<br />

allerdings kaum zu einer Minderung der Konflikte um die Kernenergie<strong>entwicklung</strong><br />

beigetragen. Im Gegenteil, die Alternativität von Werthaltungen<br />

<strong>und</strong> zunehmend allgemein-<strong>gesellschaftliche</strong>n Deutungen trat besonders<br />

scharf hervor (dazu Del Sesto 1980; Wildavsky & Tenenbaum 1981; Wynne<br />

1982).<br />

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Es stellt sich dann die Frage nach der Mächtigkeit <strong>und</strong> Funktion von<br />

technischen Gegenmythen. Zunächst kann man festhalten, daß nur ganz<br />

wenige Gruppen einfach die negative Seite der Anfangsmythen weiter ausbauen<br />

in Gestalt eines reinen Mythos vom „Leben ohne Technik". Gegenmythen<br />

dieser Art hat bisher vor allem die Auseinandersetzung mit der<br />

Kerntechnik hervorgebracht. Vielmehr kommt es typischerweise zur<br />

Ausarbeitung von Vorstellungen über ein „Leben mit anderer Technik"<br />

oder „Technik für ein anderes Leben", oder zu beidem.<br />

Sodann wird man sagen können, daß solche Gegenmythen von ganz erheblicher<br />

Bedeutung für die Herausbildung <strong>und</strong> Bündelung einer sozialen<br />

Identität in der Regel sehr disparater Gegenakteure sind. Das ist wiederum,<br />

in einem historisch einmaligen Ausmaß gerade in der B<strong>und</strong>esrepublik, am<br />

Beispiel der Antikernkraftbewegung abzulesen. Dieser Fall zeigt aber auch,<br />

daß Gegenmythen bislang kaum zur Herausbildung alternativer institutioneller<br />

Strukturen auf der Stufe der Wissens- <strong>und</strong> Technikproduktion geführt<br />

haben. Im Fall der Mikroelektronik <strong>und</strong> der Gentechnik dürfte das<br />

nicht anders sein. In der Auseinandersetzung um die Kerntechnik haben<br />

Gegenmythen also vor allem zu einer Verlangsamung <strong>und</strong>, im Zusammenspiel<br />

mit einer zeitweilig recht breiten Abkehr vom umfassenden Wachstumsmythos,<br />

zu einer (zeitweiligen) Blockierung bestimmter Projekte beigetragen.<br />

Die Funktion von Gegenmythen dürfte darüber hinaus in einer Kaschierung<br />

der Interessenlagen von im dominanten System strukturell schwach<br />

verankerten Akteuren liegen. Bemerkenswert ist, daß die Gegenmythen der<br />

Antikernkraftbewegung teilweise eine Verbindung mit Anfangsmythen im<br />

Bereich der Mikroelektronik <strong>und</strong> der Biotechnologie eingegangen sind. In<br />

Form einer „Technik für ein anderes Leben" werden diese Zukunftstechnologien<br />

als zumindest potentiell sanfte, gute Technik gedeutet <strong>und</strong> einer harten,<br />

bösen Kerntechnik gegenübergestellt (Wiesenthal 1982). 6<br />

7. Eine abschließende Überlegung zur übergreifenden Dynamik<br />

Die letzte Beobachtung führt hinüber zur Frage der Interaktionen zwischen<br />

den drei technischen Entwicklungslinien. Man kann, wie eingangs angedeutet,<br />

die Frage nach einer übergreifenden Dynamik sukzessiv sich überlagernder<br />

wissenschaftlich-technischer Schübe auf zweierlei Weise formulieren:<br />

Wird eine Weiterführung des Kurses der Moderne in Richtung einer progressiven<br />

„Rekonstruktion der äußeren, sozialen <strong>und</strong> inneren Natur des Menschen"<br />

stabilisiert durch die weitere Entwicklung quasi-korporatistischer<br />

Steuerungskomplexe, möglicherweise ultrastabilisiert durch technische<br />

Mythenbildung <strong>und</strong> teilweise durchaus funktionale Gegenmythen; oder lernen<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Kräfte, Teile der Öffentlichkeit, soziale Bewegungen,<br />

kritische Wissenschaft, ihre Einwände <strong>und</strong> Widerstände gegen einen solchen<br />

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Kurs zu institutionalisieren, strategischen Einfluß in Systemen dominanter<br />

Akteure zu gewinnen <strong>und</strong> andere kulturelle Deutungsmuster bis in das<br />

Kernsystem der Wissens- <strong>und</strong> Technikproduktion hineinzutragen?<br />

Manches spricht dafür, die erste Frage mit einem vorsichtigen Ja zu beantworten.<br />

Im Vergleich zur Kerntechnik scheint im Fall der Mikroelektronik<br />

<strong>und</strong>, ganz gezielt, im Fall der Gentechnik die Steuerung des Innovationstransfers<br />

zwischen Wissenschaftssystem <strong>und</strong> Produktionssystem flexibler<br />

<strong>und</strong> offener, die staatliche Katalysatorrolle effektiver organisiert zu<br />

werden. Das politisch-administrative System bemüht sich um die Installation<br />

von Frühwarnsystemen, Ansätze einer Technologiefolgenabschätzung<br />

setzen früher ein, sinnvollere institutionelle Arrangements für die Einbindung<br />

von Öffentlichkeit <strong>und</strong> kritischer Wissenschaft <strong>und</strong> damit Legitimationsbeschaffung<br />

sind zu beobachten (BMFT 1984a: 22-30).<br />

Die zweite Frage wäre also mit einem vorsichtigen Nein zu beantworten.<br />

Die Institutionalisierung von „Gegenmacht" aus der Öffentlichkeit, aus<br />

sozialen Bewegungen <strong>und</strong> aus einer kritischen Wissenschaft hat bislang nur<br />

im Ausstrahlungsbereich der Kerntechnik stattgef<strong>und</strong>en <strong>und</strong> ist insgesamt<br />

schwach geblieben. Die Installation mikroelektronischer Systeme <strong>und</strong> entsprechender<br />

Netze hat vorerst überhaupt nicht zu einer vergleichbaren breiten<br />

Ausarbeitung von Gegenmythen <strong>und</strong> Gegenstrategien geführt. Ein Teilbereich<br />

ist hier von den im System dominanter Akteure wohl verankerten<br />

Gewerkschaften okkupiert, die über erprobte Strategien der Konfliktbegrenzung<br />

<strong>und</strong> -austragung verfügen. Im Fall der Gentechnologie fällt eine<br />

Interpretation noch außerordentlich schwer. Der Stand der öffentlichen<br />

Diskurse <strong>und</strong> die Aufnahme einer parlamentarischen Debatte (Benda 1984;<br />

BMFT 1984b; Deutscher B<strong>und</strong>estag 1984a,b) zu einem Zeitpunkt, zu dem<br />

die industrielle Nutzung noch keine vollendeten Tatsachen geschaffen hat,<br />

könnte für einen <strong>gesellschaftliche</strong>n Lernprozeß sprechen, der über partielle<br />

Rationalitätsgewinne im System dominanter Akteure hinausgeht. Andererseits<br />

dürfte die Mannigfaltigkeit der zu erwartenden physischen <strong>und</strong> sozialen<br />

Risiken <strong>und</strong> die Diffusität der Folgewirkungen biotechnischer Entwicklungen<br />

eine Konzertierung der Gegenstimmen hier erheblich schwieriger<br />

machen als im Fall der Kernenergie.<br />

Insgesamt ist es wohl so, daß die Erfahrungen mit der Kernenergiedebatte<br />

einen gleichzeitig sensibilisierenden <strong>und</strong> kultivierenden Effekt für<br />

Folgedebatten gehabt haben. Kritische einzelne mikroelektronische, biotechnologische<br />

<strong>und</strong> -medizinische Entwicklungen werden allerorts schneller<br />

aufgenommen, während die Debatten insgesamt weniger polarisiert verlaufen.<br />

Es wäre verfrüht, aus diesen Überlegungen zu einer vergleichenden<br />

Technikanalyse ein Resümee zu ziehen. Immerhin scheint uns die Abfolge<br />

von Kerntechnik, Mikroelektronik <strong>und</strong> Gentechnologie zu zeigen, daß im<br />

Bereich der Technik<strong>entwicklung</strong> keine Auflösung von „mythischen Gestalten<br />

in Vernunftwahrheiten" geschieht. Die Komplexität der Verhältnisse<br />

erlaubt es nicht, den Gang der Entwicklung so zu denken, als folge nach<br />

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einer Epoche des mythisch-verklärten technischen Fortschritts ein Zeitalter<br />

des vernünftigen Umgangs mit Technik. Der Mythos von einer rationalen<br />

Technik im Sinne der möglichen <strong>und</strong> legitimen Substitution vorgef<strong>und</strong>ener<br />

Natur durch konstruierte <strong>und</strong> industriell produzierte Natur ist zentral im<br />

kulturellen System moderner Gesellschaften (dazu Lenk 1982). Auf dieser<br />

Folie treiben zu mächtigen Komplexen zusammengeschlossene wissenschaftlich-industriell-politische<br />

Akteure erratisch, aber irreversibel entsprechende<br />

Projekte voran. Die partiellen <strong>und</strong> widersprüchlichen Rationalitätsmuster<br />

dieser Akteure scheinen dabei stets hinter den neuen Kontrollerfordernissen,<br />

die ihre Projekte schaffen, zurückzubleiben. Und es könnte dieser<br />

mehr oder weniger große, mehr oder weniger disproportional wachsende<br />

Überschuß an Kontrollerfordernissen sein, der die Dynamik der Entwicklung<br />

maßgeblich speist.<br />

So gesehen paßt das vielgebrauchte Bild im Titel dieses Beitrags nicht<br />

so recht. Die technische Entwicklung ist nicht eingespannt zwischen eine<br />

geheimnisvolle Eigendynamik <strong>und</strong> einen öffentlichen Diskurs. Sie ist vielmehr<br />

durch mehrere Eigendynamismen gekennzeichnet: Eine Eigendyna­<br />

7<br />

mik der Beantwortung neuer naturwissenschaftlich-ingenieurtechnischer<br />

Kontrollprobleme durch mehr Naturwissenschaft <strong>und</strong> Ingenieurtechnik;<br />

eine Eigendynamik der Beantwortung soziokultureller Störungen <strong>und</strong> Enteignungen<br />

durch diskursive Prozesse, durch Etablierung von Widerstand<br />

<strong>und</strong> U<strong>mb</strong>au kultureller Deutungsmuster; eine Eigendynamik schließlich<br />

der Beantwortung von Legitimationsverlusten, Machtverlusten, Verlusten<br />

an Wettbewerbspositionen <strong>und</strong> Kontrolle über Ressourcen durch die<br />

Herausbildung institutioneller Superstrukturen in den Systemen dominanter<br />

Akteure.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Die Beobachtung ist sicher zutreffend, daß die institutionelle Trennung von Gr<strong>und</strong>lagenforschung<br />

<strong>und</strong> ihrer industriellen Anwendung weitgehend aufgehoben ist (vgl.<br />

z.B. Hack & Hack 1985, auch weiter unten in diesem Beitrag). Das kann jedoch<br />

nicht darüber hinwegtäuschen, daß systematische Unterschiede bestehen bleiben,<br />

wie sich leicht an der zeitlichen Rekonstruktion des theoretischen Vorlaufs industrieller<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung zeigen läßt (Böhme, van den Daele, Hohlfeld<br />

1979). In der Kernenergie wurden die Gr<strong>und</strong>lagen ihrer Nutzung in den dreißiger<br />

<strong>und</strong> vierziger Jahren gelegt, in der Mikroelektronik, was die formalwissenschaftliche<br />

Seite angeht, wohl in den vierziger Jahren, in der Gentechnologie zwischen 1953<br />

<strong>und</strong> 1973. Die institutionelle Aufhebung der Trennung mag vielmehr u.a. ein Indikator<br />

dafür sein, daß in immer mehr Bereichen der Naturbeherrschung die „gr<strong>und</strong>legende<br />

Arbeit" getan ist, jedenfalls in den Bereichen, in denen industrielle Nutzungen<br />

absehbar sind.<br />

2 Der hier verwendete Technikbegriff rückt <strong>gesellschaftliche</strong> Akteure, Arenen <strong>und</strong><br />

Konflikte ins Zentrum der Technikanalyse. Er grenzt sich sowohl von kausalen wie<br />

von finalen Technikbegriffen ab, in denen Technik als nicht <strong>gesellschaftliche</strong> Sach-<br />

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verhalte gefaßt wird, deren Sozialität sich erst in den sozialen Folgewirkungen<br />

der Anwendung von Technik zeigt. Vielmehr gehen wir vom systemischen Charakter<br />

der Technik aus: Technik nicht als eine Ansammlung isolierter Artefakte, sondern<br />

als ein System von Leistungen <strong>und</strong> Beziehungen, das durch strategisch handelnde<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Akteure erzeugt <strong>und</strong> durch divergierende Orientierungskomplexe<br />

bestimmt wird.<br />

3 Angesichts der relativen Neuheit dieser Technologie scheint es angebracht zu betonen,<br />

daß es sich bei der Gentechnologie, ebensowenig wie bei der Kerntechnik <strong>und</strong><br />

bei der Mikroelektronik, nicht um eine wissenschaftliche Disziplin handelt, die<br />

durch einen geschlossenen Gegenstandsbereich definiert werden kann (wie z.B. die<br />

Molekulargenetik (molekulare Prozesse <strong>und</strong> Strukturen der Vererbung bei Organismen)).<br />

Gentechnologie ist vielmehr ein Verfahren: die Neuko<strong>mb</strong>ination von beliebigem<br />

genetischen Material im Reagenzglas, das sog. Genspleißen. Gegenwärtige Brisanz<br />

<strong>und</strong> Bedeutung liegen darin, daß mit ihrer Hilfe bestimmte phylogenetische<br />

<strong>und</strong> ontogenetische Barrieren der Verfügbarkeit von Organismen überw<strong>und</strong>en werden<br />

können. „Playing God" ist die damit mögliche Konstruktion bzw. Rekonstruktion<br />

der genetischen Basis von Leben plastisch genannt worden. Will man diese<br />

Technik bewerten, muß deshalb die Gentechnologie immer im Zusammenhang mit<br />

den Phänomenbereichen betrachtet werden, die mit ihrer Hilfe beherrschbar gemacht<br />

werden sollen, z.B. im Zusammenhang mit der Weiter<strong>entwicklung</strong> herkömmlicher<br />

biotechnologischer Verfahren oder der Erweiterung humangenetischer<br />

Diagnostik oder der Korrektur befruchteter Eizellen in der „Kei<strong>mb</strong>ahntherapie".<br />

4 Wenn wir von Mythos sprechen, ist damit keine einfache Opposition von „Logos<br />

<strong>und</strong> Mythos" gemeint, etwa in dem Sinn, daß der rationalen Technik ein Alltagsmythos<br />

der Technik gegenübergestellt wird. Vielmehr wäre gerade die Verschränkung<br />

von Mythos <strong>und</strong> Vernunft aufzuzeigen. Dem Mythos selbst ist Vernunft nicht<br />

unverträglich, <strong>und</strong> die Vernunft kann selbst wieder mythisch werden. Die Komplexität<br />

dieses Verhältnisses läßt sich gerade an den technischen Mythen im Zusammenhang<br />

mit Kernenergie, Computer- <strong>und</strong> Gentechnik aufzeigen, beruhen sie doch<br />

zu einem guten Teil auf wissenschaftlichen Prognosen <strong>und</strong> diskursiven Strukturen,<br />

bei gleichzeitiger Überhöhung durch ganzheitlich-<strong>gesellschaftliche</strong> Deutungen der<br />

jeweiligen Technologien. (Zur Analyse des Mythos als semiologischem System vgl.<br />

sehr erhellend Barthes 1964: 85ff.).<br />

5 Wir erinnern an die Schlußfolgerung, die Max Weber aus seinen Analysen universeller<br />

Rationalisierungs- <strong>und</strong> Vergesellschaftungsprozesse als „Entzauberung der Welt"<br />

zieht: „Die alten vielen Götter, entzaubert <strong>und</strong> daher in Gestalt unpersönlicher<br />

Mächte, entsteigen ihren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben <strong>und</strong> beginnen<br />

miteinander wieder ihren ewigen Kampf" (1968: 610). Technische Mythen,<br />

obwohl es sich schon um rationalisierte Deutungsmuster handelt, haben den Charakter<br />

„unpersönlicher Mächte", die den Prozeß der Technisierung mitsteuern. Ob<br />

man hier von der Paradoxie des Rationalisierungsprozesses insgesamt sprechen<br />

kann, wie das Schluchter (1979) im Anschluß an Weber tut, mag dahingestellt<br />

bleiben.<br />

6 Der Charme der Mikroelektronik hat „linke" <strong>und</strong> „grüne" Gruppierungen in beeindruckender<br />

Weise in seinen Bann gezogen. Ein schönes Beispiel ist Andre Gorz'<br />

(1981) postindustrialistischer <strong>und</strong> antiproduktionistischer Sozialismus.<br />

7 „Dis-kursus: Das ist ursprünglich die Tätigkeit des Hin- <strong>und</strong> Herlaufens, das ist<br />

Kommen <strong>und</strong> Gehen, 'Machenschaften', 'Ränkeschmieden'..." (R. Barthes).<br />

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Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Kommentare zum Beitrag von<br />

Joerges, Bechmann, Hohlfeld<br />

TECHNOLOGIEENTWICKLUNG<br />

ÖFFENTLICHEM DISKURS<br />

ZWISCHEN EIGENDYNAMIK UND<br />

Hartmut<br />

Neuendorff<br />

Das vorgestellte Analyseschema beansprucht nicht, schon eine Theorie zu<br />

sein, trotz verschiedener theoretischer Anleihen, die in ihnen enthalten<br />

sind. Ich verzichte auf den Versuch, dem vorgeschlagenen Analyseraster<br />

eine implizit vorhandene theoretische Technikkonzeption nachzuweisen<br />

<strong>und</strong> beschränke mich auf einige Bemerkungen zu einer fehlenden Analyseebene<br />

in dem Vorschlag. Die Ausarbeitung dieser Leerstelle dürfte allerdings<br />

den theoretisch-konzeptuellen Überlegungen zur Erfassung von Technik<strong>entwicklung</strong><br />

eine etwas andere Richtung geben, die zugleich engere Anknüpfungspunkte<br />

zu Fragestellungen der Industrie<strong>soziologie</strong> eröffnet. In dieser<br />

Hinsicht scheint mir dann auch der aus den aufgezeigten Defiziten der bisherigen<br />

soziologischen Technikthematisierung entwickelte neue Technikbegriff<br />

selbst noch nicht umfassend genug, bzw. zu unbestimmt zu sein.<br />

Obwohl in dem Analyseschema unter der Rubrik: Akteure — Arenen —<br />

Strategien alle <strong>gesellschaftliche</strong>n Teilsysteme genannt werden, die mit der<br />

Entwicklung von Techniken positiv oder negativ zu tun haben (Wissenschaftssystem,<br />

Industrie <strong>und</strong> Betreiber, politisch administratives System,<br />

Öffentlichkeit, soziale Bewegungen, kritische Wissenschaft) werden diese<br />

Akteure <strong>und</strong> Arenen in ihren Konfigurationen, Interaktionsbeziehungen<br />

<strong>und</strong> Konflikten fast ausschließlich unter dem Gesichtspunkt der Steuerung<br />

<strong>und</strong> Kontrolle von technischen Entwicklungen gesehen.<br />

In dieser Blickrichtung wird m.E. aber schon analytisch unterstellt, daß<br />

Techniken tendenziell eigendynamisch sich entwicklen, wobei das Hauptaugenmerk<br />

der Soziologie dann dem Aufweis der Möglichkeiten ihrer Steuerung<br />

<strong>und</strong> Kontrolle zu gelten habe.<br />

Ausgeblendet oder zumindest für nicht primär entscheidend hält man in<br />

diesem analytischen Zugriff auf Technik die Frage, worin die besonderen<br />

Bedingungen <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>n Organisationsformen der Erzeugung<br />

— also der Produktion — neuer Technologien bestehen.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Das Neue bzw. die spezifische Differenz der hier verglichenen Technologien<br />

gegenüber früheren scheint mir nämlich nicht nur in ihren Wirkungen<br />

— den besonderen Substitutionsleistungen — sondern gerade auch in den<br />

neuartigen Strukturen ihrer Generierung zu liegen.<br />

Die Veränderungen in der Erzeugungsstruktur von neuen Technologien<br />

sind zwar angesprochen worden: Zum einen etwa mit den Verweisen auf<br />

die Durchbrechung des altehrwürdigen linearen Modells der Stufen technischer<br />

Entwicklung (von der Gr<strong>und</strong>lagenforschung bis zur Anwendung)<br />

durch Querverbindungen zwischen diesen Stufen, die vor allem in den<br />

Großforschungszentren „zielorientierter Forschung" systematisch organisationsstrukturell<br />

zu bewältigen sind. In die gleiche Richtung gehen auch<br />

die Hinweise auf relativ geschlossene „wissenschaftnch-industriell-politische<br />

Komplexe" bzw. auf „quasi korporatistische Komplexe zwischen<br />

Akteuren, deren Dominanz im Verlauf der Entwicklung einer Technik<br />

wechselt" oder auch der Verweis auf die Verwissenschaftlichung der Technik<br />

<strong>und</strong> die gegenläufige Technisierung der Wissenschaft.<br />

Ich halte es aber für notwendig, über die Analyse der neuen institutionellen<br />

Arrangements hinauszugehen <strong>und</strong> die Klärung der sich in diesem Zusammenhang<br />

vollziehenden neuen Produktions- <strong>und</strong> Arbeitsstrukturen zur<br />

Erzeugung von Techniken ins Zentrum zu rücken. Das dürfte m.E. auch<br />

dazu beitragen, die Frage nach den Rationalitätsmustern technischer Entwicklung<br />

neu zu beleuchten. Außerdem scheint mir mit den <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Formen der Erzeugung wissenschaftlichen <strong>und</strong> technischen Wissens<br />

auch die Analyseebene angegeben zu sein, von der her die Verbindung zu<br />

Fragestellungen der Gesell Schaftstheorie herzustellen wäre. Denn zur<br />

Klärung der <strong>gesellschaftliche</strong>n Strukturwandlungen <strong>und</strong> Entwicklungstendenzen<br />

gehört m.E. nach wie vor zentral die Analyse des Produktionssystems<br />

einer Gesellschaft, zu dem heute als integraler Bestandteil das<br />

Wissenschaftssystem gehört.<br />

Auf diese Ebene gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>r Analyse zielt m.E. auch die<br />

das Produktionsproblem ins Zentrum rückende Rede von der Industrialisierung<br />

der Wissenschaft <strong>und</strong> der Verwissenschaftlichung der Industrie.<br />

Damit ist — zumindest in der Version, die L. Hack <strong>und</strong> I. Hack in ihrer<br />

Untersuchung über die „Wirklichkeit, die Wissen schafft" dieser doppelten<br />

Entwicklung gegeben haben — ein wechselseitiges Begründungsverhältnis<br />

gemeint in der Weise, daß „Strukturen der Industrialisierung", die genetisch<br />

<strong>und</strong> strukturell ihr Muster in der kapitalistisch organisierten Warenproduktion<br />

haben, heute das an die Besonderheit von wissenschaftlicher <strong>und</strong><br />

technischer Wissenserzeugung angepaßte <strong>und</strong> insofern das von der materiellen<br />

Produktion auch verschiedene Modell bilden, das zunehmend die Organisationsformen<br />

der Erzeugung von wissenschaftlichen <strong>und</strong> technischen<br />

Entwicklungen bestimmt.<br />

Die Zentralität dieses Wissens <strong>und</strong> nicht erst der Techniken ergibt sich<br />

gerade aus seiner konstitutiven Rolle für die technische <strong>und</strong> organisatorische<br />

Effektivierung kapitalistischer Warenproduktion. Die Industrialisie-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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ung der Wissensproduktion — nicht nur in der Industrieforschung, sondern<br />

auch in den Organisationen der Großforschung <strong>und</strong> tendenziell auch in der<br />

Hochschulforschung — besteht also in der Entwicklung von Organisationsformen,<br />

die Ökonomisierungszwängen gerecht werden müssen, die sich in<br />

der Warenproduktion immer schon geltend gemacht haben.<br />

Der allzu knappe Hinweis auf das wechselseitige Bedingungsverhältnis<br />

von Industrialisierung der Wissenschaft <strong>und</strong> Verwissenschaftlichung der<br />

Industrie kann zu einer instrumentalistischen Mißdeutung im Sinne der<br />

1<br />

kruden Handlangertheorie „das Kapital steuert die Wissenschaft" führen.<br />

Eine solche Interpretation wäre jedoch von vorneherein nicht nur verkürzt,<br />

sondern sachlich falsch. Denn die empirisch <strong>und</strong> theoretisch-kategorial<br />

zugleich zu vollziehende Ausarbeitung dieses wechselseitigen Bedingungsverhältnisses<br />

setzt ja geradezu voraus, daß die Herstellung von wissenschaftlichem<br />

<strong>und</strong> technischem Wissen in seiner kognitiven Struktur <strong>und</strong> gemäß<br />

den Rationalitätsmustern der dazu erforderlichen Organisations- <strong>und</strong><br />

Handlungsstrukturen eine gegenüber den Rationalitätsstrukturen kapitalistischer<br />

Warenproduktion verschiedene Sache darstellt. Unter Beachtung<br />

der sachlichen Verschiedenheit von Wissenserzeugung <strong>und</strong> Warenproduktion<br />

gleichwohl eine Ebene der Begriffsbildung auszuarbeiten, auf der auch<br />

die strukturellen Gemeinsamkeiten in dem gleichzeitig sich vollziehenden<br />

Prozeß der Industrialisierung der Wissenschaft <strong>und</strong> der Verwissenschaftlichung<br />

der Industrie erfaßt werden können, scheint mir die vordringliche<br />

Aufgabe zu sein, wenn man den Prozeß der technischen Entwicklung<br />

im Gegenwartskapitalismus — also die sich fortsetzende kapitalistische<br />

Industrialisierung — verstehen will, um dann auch die Grenzen <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

seiner Kontrolle <strong>und</strong> Steuerung zu klären.<br />

Dazu ist wohl auch die enge Kooperation von Wissenschafts- <strong>und</strong> Industrie<strong>soziologie</strong><br />

notwendig, <strong>und</strong> dies dürfte auch den Abschied von tradierten<br />

<strong>und</strong> liebgewonnenen Vorstellungen in beiden Disziplinen über das notwendig<br />

machen, was die sozialen Strukturen der Wissenserzeugung einerseits<br />

<strong>und</strong> die Produktions- <strong>und</strong> Arbeitsstrukturen kapitalistischer Warenproduktion<br />

andererseits sind.<br />

LITERATUR<br />

L. Hack, I. Hack: Die Wirklichkeit, die Wissen schafft. Zum wechselseitigen Begründungsverhältnis<br />

von 'Verwissenschaftlichung der Industrie <strong>und</strong> Industrialisierung<br />

der Wissenschaft', Frankfurt/M. 1985.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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DEFIZITE DER TECHNIKSOZIOLOGIE<br />

Walther Ch. Zimmerli<br />

Die Überlegungen des vorhergehenden Beitrags gehen aus von „Defiziten<br />

der Technologiefolgenabschätzung". Krugs enzyklopädisch-philosophisches<br />

Lexikon verzeichnet im 1832 erschienenen ersten Band der 2., verbesserten<br />

<strong>und</strong> vermehrten Auflage, daß „Defect oder Deficit (von deficere,<br />

mangeln)" „ein Mangelndes oder Fehlendes" sei, „das sich nicht bloß in<br />

Cassen <strong>und</strong> Rechnungen, sondern auch in Wissenschaften, mithin auch in<br />

der Philosophie zeigen kann". Der Artikel endet allerdings mit der versöhnlichen<br />

Bemerkung, daß „übrigens ... das Deficit in allen Wissenschaften unvermeidlich"<br />

sei, „weil sie alle dem beschränkten Menschengeiste ihr Dasein<br />

verdanken <strong>und</strong> daher immerfort ergänzt werden müssen" (Krug 1832 I,<br />

567). Insofern <strong>und</strong> in diesem versöhnlichen Sinne liegt mir daran, von philosophischer<br />

Seite her einige der Defizite des von Herrn Joerges vorgelegten<br />

Forschungsprogrammes zu benennen <strong>und</strong> zu diskutieren.<br />

Beginnen möchte ich mit einem — allerdings auch dem einzigen — Satz,<br />

dem ich vollkommen zuzustimmen vermag: Bei den thematischen Technologien,<br />

sagen die Autoren, sei die wissenschaftlich-technische Wissensproduktion<br />

so organisiert worden, „daß die institutionelle Trennung wissenschaftlicher<br />

Gr<strong>und</strong>lagenforschung, angewandter Forschung <strong>und</strong> industrieller<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung effektiv aufgehoben ist". Dies trifft zur Kennzeichnung<br />

der gegenwärtigen Wissenschafts- <strong>und</strong> Techniksituation fraglos<br />

zu, — allerdings nur von Seiten der Wissenschaft. Hier ist es weder sinnvoll<br />

noch faktisch der Fall, daß eine abgeschottete Gr<strong>und</strong>lagenforschung des älteren<br />

Typs weitergeführt würde. Wissenschaftliche Innovationen geschehen<br />

vielmehr sowohl in der Kernfissionstechnologie als auch in der Informations-<br />

<strong>und</strong> der Biotechnologie auf dem Wege der Ausbreitung <strong>und</strong> Distribution<br />

des Wissens im immediaten Bezug zur industriellen Anwendung. Umgekehrt<br />

aber bedarf die industrielle Nutzung einer eimal implementierten<br />

Technologie nicht zwingend der Begleitung oder gar der Durchdringung der<br />

Wissenschaft.<br />

Mit dieser so korrigierten Gr<strong>und</strong>einsicht gehen jedoch die meisten Überlegungen<br />

des vorgelegten Papiers nicht konform, <strong>und</strong> daran lassen sich die<br />

meisten Defizite dieses Ansatzes festmachen, deren gemeinsame Quelle<br />

m.E. in der mangelnden historischen Differenzierung liegt. Die Autoren haben,<br />

wie ich meine, den epochalen Charakter unterschätzt, den der Schritt<br />

zur Informations- <strong>und</strong> zur neuen Biotechnologie unter Einschluß der Gentechnologie<br />

bedeutet. Ich will dies in einer ersten These so formulieren:<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Obwohl sich in gewissen Bereichen sicher Ähnlichkeiten feststellen lassen,<br />

krankt der Vergleich der drei genannten Technologien an deren<br />

technologietheoretischer Ungleichzeitigkeit. Während die Kerntechnik<br />

(oder wie ich lieber sage: Kernfissionstechnologie) im Prinzip energietechnisch<br />

traditionell verfährt, handelt es sich bei der Mikroelektronik<br />

(ich sage lieber: Informationstechnologie) <strong>und</strong> der Gentechnik (ich sage<br />

allgemeiner: Biotechnologie) um sogenannte 'reflexive Technologien'.<br />

Mit diesen beiden Technologien ist eine qualitativ neue Stufe mit qualitativ<br />

neuen Problemen erreicht.<br />

Diese These bedarf des Kommentars. Die von Herrn Joerges <strong>und</strong> seinen<br />

Ko-Autoren namhaft gemachten Kennzeichnungen der Kernfissionstechnologie<br />

treffen, sieht man genauer zu, allesamt auch auf jede traditionelle<br />

Energietechnologie der zweiten Stufe zu. Mit 'Energietechnologie der zweiten<br />

Stufe' ist jener Typ von Technologie gemeint, bei dem mindestens zwei<br />

Umwandlungsschritte nötig sind: Heizen durch Verbrennen von Holz ist<br />

eine Energietechnologie erster Stufe, während Heizen durch Verbrennen<br />

von Holz zur Erzeugung von warmem Wasser, das die Heizkörper füllt, eine<br />

Energietechnologie zweiter Stufe ist, ebenso natürlich alle Wasserdampftechnologien<br />

<strong>und</strong> so auch die Kernfissionstechnologie. Zwar trifft zu, daß,<br />

wie die Autoren sagen, „diese wissenschaftlich-technische Leistung im<br />

energetischen Bereich Naturgeschichte durch einen artifiziellen Prozeß"<br />

ersetzt, aber dies trifft für jede andere zweitstufige Energietechnologie auch<br />

zu. Und daraus gar zu folgern, daß „Natur in ihrer Funktion als Energiereservoir<br />

... durch ihre Umwandlung in ein System von Artefakten sozialisiert,<br />

vergesellschaftet" werde, halte ich entweder für trivial oder aber für<br />

betriebsblind. Ebenso trifft nicht zu, daß in einer qualitativ verändernden<br />

Art <strong>und</strong> Weise durch die Kernfissionstechnologie „eine große Zahl menschlicher<br />

Handlungssysteme substituiert bzw. obsolet" würden, vielmehr wird<br />

durch die industrielle Nutzung der Kernfissionstechnologie nur die Zahl<br />

der in diesen Handlungssystemen Tätigen drastisch reduziert.<br />

Ganz anders verhält es sich indessen bei der Informationstechnologie,<br />

deren Thematisierung in dem vorliegenden Konzept erstaunlich knapp,<br />

kurz <strong>und</strong> materialiter inadäquat erfolgt. Man geht meiner Einschätzung<br />

zufolge wohl kaum zu weit, wenn man in dieser Technologie eine sowohl<br />

qualitativ als auch quantitativ umwälzende Änderung unseres ganzen<br />

Systems erblickt. Walther Helberg hat bereits 1962 die Differenz zwischen<br />

klassischer Technik <strong>und</strong> nichtklassischer Ausweitung derselben weit vorausblickend<br />

formuliert:<br />

„Die bisherige Erfahrung hat ... erwiesen, daß die zuerst in Anlehnung an die Mechanik<br />

gegebene klassische Charakterisierung der Technik zu eng geworden ist. Technik ist<br />

mehr als nur herstellender <strong>und</strong> gebrauchender Umgang mit Gegenständen. Technik wird<br />

heute als Umwandlung <strong>und</strong> Veränderung von vorgef<strong>und</strong>enen oder vorgegebenen Daten<br />

sehr verschiedener Art erfahren." (Helberg 1962, 15 7).<br />

Während jede andere Technik zwar in der Tat auch jene menschlichen Leistungen,<br />

die sie ersetzt (Organprojektionsthese Kapp 1877), übertrifft,<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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leibt aber immer noch die intellektuelle Steuer- <strong>und</strong> Kontrollfunktion im<br />

Besitz <strong>und</strong> im Griff des Menschen. Die Informationstechnologie ersetzt nun<br />

aber eben die Steuer- <strong>und</strong> Kontrollkapazität selbst. Sie ist deswegen eine<br />

wesentlich reflexive Technik, <strong>und</strong> seit es sie gibt, <strong>und</strong> seit sie in alle anderen<br />

Techniken hineindiff<strong>und</strong>iert, macht es keinen Sinn mehr, die eingangs angeführte<br />

Differenz zwischen reiner theoretischer Gr<strong>und</strong>lagenforschung, angewandter<br />

Forschung <strong>und</strong> Entwicklung zu machen, da alle diese Bereiche dadurch<br />

geeint sind, daß sie informationstechnologievermittelt sind. Insofern<br />

sprechen wir seither — <strong>und</strong> zwar mit Recht — nicht mehr schlicht von<br />

'Technik', sondern von 'Technologie'. Der epochale Wandel, von dem die<br />

Rede war, besteht also im Wandel vom wissenschaftlich-technischen zum<br />

technologischen (von anderen auch als 'technetronisch' bezeichneten) Zeitalter.<br />

Die Durchsetzung dieser Sorte von Technologie bedarf keiner Lobby,<br />

<strong>und</strong> es ist nicht verw<strong>und</strong>erlich, daß die Proteste gegen sie eine andere <strong>und</strong><br />

viel kleinere Dimension haben als diejenigen gegen die Kernenergie. Kurz:<br />

Ich denke, daß die im Kontext der Informationstechnologie sich ergebenden<br />

Probleme die wichtigsten Gegenstände einer wissenschafts- <strong>und</strong> technikforscherischen<br />

Aktivität der Sektion Wissenschaftsforschung in den<br />

nächsten Jahren sein sollten.<br />

Und die gentechnologisch arbeitende Biotechnologie? — Zum einen halte<br />

ich es für eine Engführung des Papiers, wenn es sich hier auf die Gentechnik<br />

beschränkt, zumal im engeren Sinne mit 'Gentechnik' stets vor allem<br />

die Humananwendung, genauer noch: die Humananwendung durch Gentransfer<br />

in Kei<strong>mb</strong>ahnzellen assoziiert wird. Und dabei handelt es sich nun<br />

keinesfalls um eine mit der Informationstechnologie vergleichbare, wirtschaftlich<br />

angewendete, industriell genutzte Technologie. Vielmehr muß in<br />

den Vergleich die industriell bereits breit genutzte Enzy<strong>mb</strong>iotechnologie<br />

einbezogen werden. Zum anderen aber sollte man sich nicht durch die hohe<br />

Publizität, die die Gentechnologie derzeit aufgr<strong>und</strong> der Notwendigkeit einer<br />

politischen Regulierung des Umgangs mit ihr hat, dazu verleiten lassen, das<br />

Augenmerk auf die falschen Elemente zu richten. Zwar trifft zu, daß die<br />

gentechnologisch arbeitende Enzy<strong>mb</strong>iotechnologie eine in dem Sinne reflexive<br />

Technologie ist, daß die sonst immer nur vorausgesetzte Naturbasis,<br />

mit der von der Käsezubereitung bis hin zur Waschmittelproduktion gearbeitet<br />

werden mußte, selbst zum möglichen Gegenstandsbereich des technologischen<br />

Umwandlungseingriffes des Menschen wird. Aber es sind gerade<br />

nicht jene Sektoren, die den Mythos der Gentechnologie ausmachen, sondern<br />

dort geht es um die Humananwendung. Der hier zu erwartende <strong>und</strong><br />

sich bereits formierende Protest der öffentlichen Meinung richtet sich daher<br />

gegen etwas ganz anderes als die zu untersuchende Technologie. Auch hier<br />

müßte genauer differenziert werden. Und letztlich handelt es sich — bei genauerem<br />

Zusehen — auch bei der gentechnologisch arbeitenden Biotechnologie<br />

um eine von ihrem Theorieansatz her informationstechnologisch<br />

geprägte Technologie. — Aber dies nur nebenbei.<br />

Soviel zu den Defiziten der Gegenstandsbereichswahl. Ein weiteres, in<br />

meinen Augen entscheidendes Defizit ergibt sich aus dem Entwickelten für<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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den theoretisch-methodologischen Gr<strong>und</strong>ansatz. Abgesehen davon, daß die<br />

Kritik an den vorliegenden theoretischen Konzepten der Technikfolgenabschätzung<br />

sehr pauschal <strong>und</strong> im einzelnen unzutreffend ist (welches<br />

Monitum Sie mir als dem Vorsitzenden des Bereiches „Mensch <strong>und</strong> Technik"<br />

des VDI erlauben mögen), fällt auch hier die ahistorische Konzeption<br />

ins Auge. Ein im einzelnen nicht genauer vorgeführtes Raster dreidimensionalen<br />

Zuschnitts (Würfelraster) soll den beschwerlichen Versuch einer genaueren<br />

begrifflichen Bestimmung der Untersuchungsgegenstände ersparen<br />

helfen. Dabei wird ein Schrittmuster in Ansatz gebracht, das völlig an der<br />

klassischen Technik orientiert ist, <strong>und</strong> deswegen mindestens zwei der drei<br />

genannten Technologien, nämlich die Informationstechnologie <strong>und</strong> die<br />

gentechnologisch arbeitende Biotechnologie, von vornherein schon verfehlen<br />

wird. Ich formuliere diesen Einwand als zweite These:<br />

Mit einer einheitlichen Fragen-Checklist an unterschiedliche Technologien<br />

heranzugehen, macht nur unter der Voraussetzung Sinn, daß die<br />

Fragen gegenstandsbereichsrelevant sind. Weder das Stufenmodell noch<br />

die Frage nach Akteuren <strong>und</strong> Gegenspielern noch auch die Thematisierung<br />

von Konfigurationen <strong>und</strong> Prozessen kultureller Aneignung wissenschaflich-technischer<br />

Entwicklungen greifen bei allen thematisierten<br />

Technologien. Der Versuch, abschließend ein Rationalitätsmuster zu rekonstruieren,<br />

beruht auf dem Kategorienfehler, daß die Rationalität der<br />

Rekonstruktion mit der Rationalität des Rekonstruierten verwechselt<br />

wird. Nur unter der Bedingung dieser Verwechslung hängt von der Rekonstruktion<br />

des Rationalitätsmusters die Prognostizierbarkeit, die ökologische<br />

<strong>und</strong> soziale Tragbarkeit, die Kontrollierbarkeit <strong>und</strong> die kulturelle<br />

Assimilierbarkeit ab.<br />

Es würde wenig Sinn machen, die Tatsache, daß der Pilot eines Ju<strong>mb</strong>o-Jets<br />

vor jedem Abflug eine Checklist überprüft, mit dem Ausdruck zu umschreiben:<br />

Er verfügt über ein theoretisches Konstrukt. Außerdem würde<br />

es keinen Sinn machen, einen Piloten eines Alouette-Hubschraubers mit<br />

derselben Checklist auszurüsten. Mithin bedarf es eines theoretischen Modells<br />

der zu untersuchenden Technologien, bevor ein solches Frageraster<br />

angelegt wird. Um die Bestimmung des Gegenstandsbereiches kommt man<br />

eben auch auf diesem Wege nicht herum. Hier scheint mir wie auch in der<br />

Detailarbeit, die noch sehr viel differenzierter die unterschiedlichsten jetzt<br />

in eine Fragedimension verpackten Hinsichten auseinanderzuhalten hat, für<br />

die einzelnen Projekte innerhalb der Sektion noch sehr viel zu tun zu sein.<br />

LITERATUR<br />

Helberg, Walther: Beitrag zum Strukturverständnis des technischen Daseins. In: VDI-<br />

Zeitschrift 104 (1962), Nr. 15; Teilabdruck in: Sachsse, H. (Hg.): Technik <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

3: Selbstzeugnisse, Philosophie der Technik (<strong>München</strong> 1976).<br />

Kapp, Ernst: Gr<strong>und</strong>linien einer Philosophie der Technik (1877, Neudruck <strong>München</strong><br />

1976).<br />

Krug, Traugott Wilhelm: Enzyklopädisches philosophisches Wörterbuch. Allgemeines<br />

Handbuch der philosophischen Wissenschaften. Bd. I-V. Faksimile-Neudruck der<br />

2. Aufl. von 1832/38 (Stuttgart-Bad Cannstatt 1969).<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


INDUSTRIEARBEIT IM UMBRUCH-VERSUCH EINER VORAUSSAGE<br />

Horst Kern, Michael<br />

Schumann<br />

Sehen um vorauszusehen diesem Comte'schen Anspruch an „wahrhafte<br />

Wissenschaft" ist in der neueren Industrie<strong>soziologie</strong> kaum widersprochen<br />

worden — zu behaupten, sie hätte sich an ihm abgearbeitet, wäre aber sicher<br />

übertrieben. Lange stand vielmehr die Entdeckung des Gegenwärtigen im<br />

Vordergr<strong>und</strong> ihrer Forschung. Ziel war, ein authentisches Bild von Produktion,<br />

Arbeit <strong>und</strong> Arbeitern zu gewinnen, Bestandsaufnahmen zu machen<br />

<strong>und</strong> geltende Interpretationen in handfester Empirie zu überprüfen. Manche<br />

gängige Formel um Arbeiterverbürgerlichung <strong>und</strong> Gesellschaftsnivellierung<br />

wurde so dem Druck der Tatsachen ausgesetzt. Ideologiekritik stand bei<br />

vielen Industriesoziologen also zunächst auf dem Programm. Und als sich<br />

das Wissen über vorfindbare Sachverhalte <strong>und</strong> Strukturen sicherte <strong>und</strong> verbreiterte,<br />

gewannen zwar Fragen ihrer Genesis <strong>und</strong> der Identifizierung von<br />

allgemeinen Mechanismen an Bedeutung: Beim Versuch, noch so differenzierte<br />

Ex-post-Analysen über die Erklärung des Gegenwärtigen aus dem Vergangenen<br />

als dezidierte Trendaussagen zu fassen, fühlten wir Industriesoziologen<br />

uns aber meist auf zu dünnem, ungesichertem Eis. Oft wurde daraus<br />

erst in der Rezeption der Studien Handfestes über künftige Entwicklungen.<br />

Die Polarisierungsthese ist hierfür ein ganz hübsches Beispiel.<br />

Man kann der Industrie<strong>soziologie</strong> der letzten 30 Jahre kaum einen gewissen<br />

Beitrag zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Aufklärung streitig machen. Selbstkritisch<br />

ist nur gleichermaßen festzuhalten: Zu Voraussagen, mit denen sich<br />

heute <strong>und</strong> auch morgen wirklich etwas anfangen ließe, konnten ihre Ansätze<br />

nicht führen. Die Gründe liegen auf der Hand: 1. Das einfache <strong>und</strong><br />

früher so beliebte Verfahren einer unreflektierten Verlängerung des empirisch-faßbaren<br />

Status quo ist heute ganz <strong>und</strong> gar unsinnig. In einer Situation<br />

des ökonomischen <strong>und</strong> politischen U<strong>mb</strong>ruchs, der natürlich auch alle industriesoziologischen<br />

Phänomene betrifft, kann das nur zu Trugschlüssen führen.<br />

2. Die Alternative einer Verarbeitung unseres Wissens zu einer Theorie<br />

der Gesamt<strong>entwicklung</strong>, aus der sich schlüssig auf die künftige Gestalt der<br />

für uns wichtigen Variablen schließen ließe — ein Weg, auf den viele Industriesoziologen<br />

im Zusammenhang mit der Rezeption der politischen Ökonomie<br />

große Hoffnungen gesetzt hatten — hat sich als domenreicher als<br />

gedacht erwiesen <strong>und</strong> ist immer noch nicht in einem gangbaren Zustand.<br />

Die Bemühungen einer Deduktion konkreter Entwicklungen (z.B. „Abstraktifikation<br />

der Arbeit") aus allgemeinen Theorien (z.B. „reelle Subsumtion<br />

unter's Kapital") mögen als Abstraktionen ihre Verdienste haben. Triftige<br />

Verlaufsaussagen haben sie nach aller Erfahrung nicht gebracht.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Manchmal hat man den Eindruck, daß angesichts dieses Ausmaßes der<br />

Schwierigkeiten, die Gegenwart als Spiegel der Zukunft zu betrachten, in<br />

den letzten paar Jahren in unserer Industrie<strong>soziologie</strong> viele den Anspruch<br />

auf Voraussage stillschweigend ganz fallengelassen haben. Der Zug zur<br />

immer weiteren Detaillierung <strong>und</strong> Ausdifferenzierung in der Beschreibung<br />

industriesoziologischer Sachverhalte, der die Chancen üb ergreifender Interpretationen<br />

verbauen muß, ist dafür ein Indiz. Ist nicht aber auch das Sich-<br />

Einlassen vieler Industriesoziologen auf das Geschäft der Beratung <strong>und</strong> der<br />

konkreten betrieblichen Gestaltung als eine Antwort auf das Voraussageproblem<br />

zu verstehen? Voraussicht war ja entsprechend den Soziologietraditionen,<br />

in denen die meisten von uns denken, die Brücke zur <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Praxis. Als diese einzustürzen schien, hat mancher sich an der kleinen<br />

Praxis im Diesseits festzuklammern versucht.<br />

Daß sich die Soziologie mit ihrem diesjährigen Kongreß wieder ausdrücklich<br />

dem Anspruch stellt, das im gewachsenen Fach gewaltig akkumulierte<br />

Wissen in Voraussagen umzusetzen, sehen wir auf diesem Hintergr<strong>und</strong><br />

als Schritt in die bessere Richtung. Doch das bereits Gesagte dürfte auch<br />

verdeutlichen, wie vorsichtig tastend hier Schritte zunächst nur gesetzt<br />

werden können. Als wir uns in unserer neuen Studie dem Zwang unterworfen<br />

sahen, den Blick nach vorn zu wagen, ist uns besonders klar geworden,<br />

wie wenig vorbereitet wir in der Industrie<strong>soziologie</strong> auf Forschungen sind,<br />

die ausdrücklich auch einen Ergebnisstatus anpeilen, der Voraussage sein<br />

will. Insofern handelt unser Erfahrungsbericht über diese Studie mehr von<br />

Schwierigkeiten, improvisierten Lösungen <strong>und</strong> vorläufigen Resultaten denn<br />

von gesicherten Beständen.<br />

In fünf Punkten werden wir zunächst den methodisch-konzeptionellen<br />

Ansatz für unsere auch auf Voraussage gerichete Studie kurz beschreiben,<br />

um anschließend in sieben Thesen unsere wichtigsten inhaltlichen Ergebnisse<br />

zu umreißen.<br />

I<br />

Unsere neue Untersuchung war ursprünglich als reine Folgestudie zu ,,Industriearbeit<br />

<strong>und</strong> Arbeiterbewußtsein" gedacht gewesen: Analyse der Rationalisierungsbewegungen<br />

in den Jahren 1965 bis 1980, also Beitrag zur Rekonstruktion<br />

der historischen Verlaufs formen von Rationalisierung. Im Laufe<br />

unserer Arbeit verdichtete sich freilich immer stärker der Eindruck, daß<br />

man die Rationalisierungs<strong>entwicklung</strong> der letzten fünfzehn Jahre nur richtig<br />

versteht, wenn man sie auch <strong>und</strong> vor allem als Inkubationszeit begreift, d.h.<br />

als Aufbau eines Rationalisierungspotentials. Die Hauptsache, die industrielle<br />

Anwendung im großen Maßstab, lag <strong>und</strong> liegt — so unser Eindruck —<br />

noch in der Zukunft. Diese noch ausstehenden Entwicklungen in den Betrieben<br />

mußten wir auf jeden Fall mit zu erfassen suchen, wollten wir nicht<br />

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am Ende als schlichte Biographen von Rationalisierungsverläufen dastehen<br />

— noch dazu von einer Phase, deren Spezifik gerade darin liegt, daß die für<br />

sie charakteristischen Konzepte bald auf dem Schrottplatz der Rationalisierungsgeschichte<br />

abgelegt sein könnten. Das war der in der Sache liegende<br />

Zwang zur Antizipation, zur Prédiction im Sinne Horkheimers, zur historischen<br />

Voraussage also, dem wir uns ausgesetzt sahen. Wie aber kann man<br />

sich angesichts der schon deutlich gewordenen Schwierigkeiten darauf<br />

einlassen?<br />

II<br />

Gewiß, ungelöste Probleme gibt es zuhauf, aber auch manche brauchbaren<br />

Anknüpfungspunkte <strong>und</strong> viel verwertbares Wissen. Es bestehen u.E. gute<br />

Gründe, in folgenden Überlegungen Bausteine einer Antizipation von Rationalisierung<br />

zu suchen:<br />

a) Die Logik kapitalistischer Rationalisierung (Bemühung um die höhere<br />

Ergiebigkeit der lebendigen Arbeit mit dem Ziel besserer Kapitalverwertung)<br />

realisiert sich entsprechend den spezifischen markt- <strong>und</strong> produktionsökonomischen<br />

Bedingungen in konkreten, typisierbaren Formen der Rationalisierung.<br />

Mit einer Veränderung der Rationalisierungsformen ist dann zu<br />

rechnen, wenn veränderte Verwertungsbedingungen oder auch nur Interpretationen<br />

die Suche nach adäquateren Produktionskonzepten stimulieren.<br />

Die Verwertungsprämisse drängt dann nach neuen Einlösungen. Offenbar<br />

befinden wir uns gegenwärtig in einer solchen U<strong>mb</strong>ruchsituation.<br />

b) Alle bisher bekannten Formen kapitalistischer Rationalisierung suchten<br />

eine Einlösung der Verwertungsprämisse entlang folgender Linien: Lebendige<br />

Arbeit wurde als zu überwindende Schranke der Produktion verstanden,<br />

das Residuum lebendiger Arbeit als potentieller Störfaktor. Die markt<strong>und</strong><br />

produktionsökonomischen Bedingungen bewirkten Differenzierungen<br />

nur auf den durch diese Linien definierten Bahnen. Wir sehen aber keine<br />

theoretische Notwendigkeit für die Schlußfolgerung, kapitalistische Rationalisierung<br />

müsse sich ad infinitum auf diesen Bahnen bewegen. Hier liegt<br />

auch ein empirisches, theoretisch für uns nicht vorab entscheidbares Problem.<br />

c) Gegenüber empirisch begründeten Zukunftsaussagen muß immer ein<br />

Wahrheitsvorbehalt aufrechterhalten werden; über ihre letztendliche Richtigkeit<br />

kann nur die geschichtliche Entwicklung selbst entscheiden. Ob also<br />

die aktuelle U<strong>mb</strong>ruchsituation so radikal ist, daß die Rationalisierungsformen<br />

aus den bisherigen Bahnen herausgehoben werden oder nicht, wird sich<br />

mit unseren empirischen Recherchen heute nicht definitiv feststellen lassen.<br />

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d) Im Bewußtsein dieser Einschränkung sehen wir aber Möglichkeiten,<br />

die Empirie gezielter als bisher üblich für Ergebnisse mit Voraussage-Status<br />

einzusetzen. Wir sprechen in diesem Zusammenhang von einer „Ex-ante-<br />

Empirie". Diese macht sich zwei theoretisch wie empirisch zweifelsfreie<br />

Tatbestände zunutze. Die Ungleichzeitigkeit von Rationalisierungsmaßnahmen<br />

<strong>und</strong> die (jedenfalls im Großunternehmen typische) Langfristigkeit<br />

von Rationalisierungsplanungen. Durch empirische Analyse von stilbildenden<br />

Rationalisierungen — das wären in Schumpeters Sprache die „neuen<br />

Ko<strong>mb</strong>inationen" im noch nicht abgeschlossenen Innovationsschub — sowie<br />

von darauf gerichteten längerfristigen Planungsmaßnahmen — „neue Ko<strong>mb</strong>inationen"<br />

im Status nascendi — läßt sich der Vorhang zur Zukunft ein<br />

Stückweit lüften. Zur uns interessierenden Frage, ob die gegenwärtige Rationalisierungsbewegung<br />

in den alten Bahnen verharrt oder ob sie den Duktus<br />

kapitalistischer Rationalisierung tangiert <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legend gewandelte<br />

Formen bewirkt, lassen sich also mit einer Ex-ante-Empirie Argumente beibringen.<br />

Entsprechend diesen vier Gr<strong>und</strong>überlegungen studierten wir die Verwertungsbedingungen<br />

zentraler Industriezweige im Hinblick auf die in ihnen<br />

enthaltenen Impulse für weitere Rationahsierungen. In allen Branchen<br />

stießen wir in der Tat auf Veränderungskonstellationen. Unser Programm,<br />

diese genau auszuloten, in Stichworten:<br />

— Genaue Ex-post-Analysen, bei denen wir auf unsere Empirie aus „Industriearbeit<br />

<strong>und</strong> Arbeiterbewußtsein" aufbauen konnten, verschafften<br />

uns Klarheit über bisher typische Lösungen.<br />

— Durch Adäquanzüberlegungen — inwieweit passen die alten Formen in<br />

die aktuelle Verwertungssituation? — gewannen wir Vorstellungen darüber,<br />

wo in den Betrieben heute die offenen Flanken liegen. Soweit wir<br />

dann auf konkrete Projekte, erprobte Modelle oder wenigstens seriöse<br />

Planungsvorhaben stießen, mit denen flankenschließende Intentionen<br />

verfolgt wurden, haben wir diese aufgenommen <strong>und</strong> weiter recherchiert.<br />

— In einer abschließenden Evaluation versuchten wir ein Urteil darüber zu<br />

gewinnen, inwieweit diese Maßnahmen plausible Antworten auf die<br />

heutigen Verwertungsprobleme darstellen. Bei einem positiven Bef<strong>und</strong><br />

sprechen wir von stilbildenden Rationalisierungen, d.h. von technischorganisatorischen<br />

Maßnahmen, die — nach vorne geschaut — eine große<br />

Diffusionschance besitzen <strong>und</strong> Spitze eines Eisbergs sein könnten, obwohl<br />

sie für die Realität der Betriebe heute noch nicht unbedingt bestimmend<br />

sind.<br />

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Gestützt auf diese Analysen behaupten wir als zentrale These, daß sich gegenwärtig<br />

vor unseren Augen ein gr<strong>und</strong>legender Wandel in der Nutzung der<br />

Arbeitskräfte vollzieht. Neue Produktionskonzepte werden formuliert <strong>und</strong><br />

durchgesetzt, deren Generalnenner lautet: keine technische Autonomisierung<br />

der Produktionsprozesse um jeden Preis, wachsende Wertschätzung<br />

von Qualifikation <strong>und</strong> fachlicher Souveränität. Der Duktus kapitalistischer<br />

Rationalisierung wird anders. Bei unveränderter Logik der Rationalisierung<br />

bilden sich doch gr<strong>und</strong>legend neue Formen aus.<br />

Diese These von den neuen Produktionskonzepten formulieren wir<br />

nicht als Postulat, sondern als Resultat einer interpretierenden Verarbeitung<br />

empirischer Erfahrungen nach dem Konzept der Ex-ante-Empirie. Wenn<br />

wir die neuen Produktionskonzepte prognostizieren, so umreißen wir die<br />

Entwicklungsrichtung, in die hinein die U<strong>mb</strong>ruchsituation in den Betrieben<br />

nach unserer Einschätzung aufgelöst wird. Die neuen Produktionskonzepte<br />

stellen aus unserer Sicht also heute mehr dar als eine objektive Möglichkeit,<br />

nur vorübergehende Irritationen bei der Einführung neuer Technologien<br />

oder bloße Insellösungen. Sie markieren die Bandbreiten der weiteren Entwicklung<br />

in den industriellen Kernsektoren.<br />

IV<br />

„Bandbreite" umreißt eine bestimmte Entwicklungsrichtung, innerhalb<br />

derer aber viele Pfade mit gleichem Marschziel gegangen werden können.<br />

Damit wollen wir unsere Voraussage gegenüber eindeutiger Prognose im<br />

Sinne der definitiven Behauptung einer bestimmten Entwicklungslinie abgrenzen.<br />

Daß eine derart exakte „Prognose" erkenntnislogisch gar nicht<br />

haltbar wäre, können wir nur noch einmal wiederholen. Unterhalb dieser<br />

prinzipiellen Schwelle bestehen freilich Voraussagemöglichkeiten, <strong>und</strong> zwar<br />

unterschiedlichen Genauigkeitsgrades. Dabei erscheint uns klar, daß wir den<br />

vorhandenen Genauigkeitsspielraum heute noch nicht ausschöpfen können.<br />

Auch wenn wir mit der Industrie<strong>soziologie</strong> heute schon manches Terrain<br />

erschlossen haben: Viel nachgreifende Forschung ist noch nötig.<br />

Die Aussageunsicherheiten, die bei einem Antizipationsversuch bestehen,<br />

bestimmen sich aber immer auch aus dem spezifischen Forschungsgegenstand.<br />

Bei unserem Thema — der betrieblichen Rationalisierung — ist zu<br />

bedenken, daß der technisch-organisatorische Wandel im Betrieb in all seinen<br />

Phasen sozial determiniert ist. (Uber die Technokratiethese, die etwas<br />

anderes behauptet, braucht man wohl nicht mehr zu streiten.) Soziale<br />

Determiniertheit der Rationalisierung bedeutet aber, daß Rationalisierung<br />

im Betrieb aus einem dynamischen sozialen Kräftefeld heraus entsteht <strong>und</strong><br />

daß über ihre konkreten Konturen in vielschichtigen Bargaining-Prozessen<br />

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entschieden wird, deren Details nicht vorherzusehen sind. Auch wenn man<br />

nun — wie wir dies in unserer Studie versucht haben — die hier relevanten<br />

betrieblichen Handlungskonstellationen in ihrer inneren Dynamik <strong>und</strong> Konfliktualität<br />

in die Analyse mit einbezieht, so müssen wir trotz solcher Bemühungen<br />

konstatieren: Der Ausgang der Prozesse selbst ist prinzipiell<br />

noch offen. Über das letztendliche Resultat, den Fahrweg der Rationalisierung,<br />

ist noch nicht entschieden. Diese Offenheit besteht umso mehr, als<br />

die Beschreibung der Handlungskonstellationen — sofern sie politisiert<br />

wird — ihrerseits zu einer Veränderung des Kräftefeldes führen kann. In<br />

unserem Fall, bei einer praxisorientierten Sozialforschung, ist diese Veränderung<br />

ja sogar ausdrücklich gewünscht. Antizipierbar sind aber solche<br />

Rückkopplungseffekte kaum.<br />

Der Begriff Bandbreite hebt also die Offenheit <strong>und</strong> Gestaltbarkeit der<br />

Situation, das Faktum der noch bestehenden Eingriffschancen hervor. Die<br />

These von den neuen Produktionskonzepten umreißt in unserem Verständnis<br />

eine neue Konstellation, eine vermutlich wichtiger werdende Handlungs<strong>und</strong><br />

Gestaltungsmöglichkeit, nicht aber einen definitiven Vorgang <strong>und</strong><br />

schon im Detail bestimmte Ergebnisse. Sie soll nach unserer Vorstellung<br />

einmünden in eine Politik der Modernisierung, die die in der beschriebenen<br />

Konstellation hegenden Chancen nach vorn hin öffnet: Modernisierung als<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>s Projekt. Antizipierbar erscheinen uns in erster Linie die<br />

Problemkonstellationen, die Entwicklungsrichtung <strong>und</strong> die Handlungsmöglichkeiten,<br />

nicht aber schon die konkreten Resultate.<br />

V<br />

Unser Verfahren der Voraussage können wir also zusammenfassend als<br />

theoretisch angeleitete <strong>und</strong> empirisch gestützte Bandbreitenbestimmung<br />

kennzeichnen. „Theoretisch angeleitet", weil wir uns auf eine Theorie der<br />

kapitalistischen Entwicklung beziehen, die von der Unterscheidung zwischen<br />

Logik <strong>und</strong> Formen der Rationalisierung ausgeht <strong>und</strong> bestimmte Annahmen<br />

über den Formwandel („bisherige Formen", „Ungleichzeitigkeitstheorem",<br />

„Planungstheorem", „Bargainingtheorem") enthält. „Empirisch<br />

gestützt", weil wir den Nachweis einer beginnenden Ablösung der alten Formen<br />

durch neue Produktionskonzepte mit empirischen Mitteln führen. Der<br />

Begriff der „Bandbreite" soll Felder <strong>und</strong> Grenzmarken abstecken, innerhalb<br />

derer die weitere Entwicklung zu erwarten ist.<br />

Es dient vielleicht dem Verständnis unseres Verfahrens, wenn wir anmerken,<br />

daß wir gelegentlich einen Seitenblick auf die Prognoseansätze in<br />

der Wirtschaftsforschung <strong>und</strong> der Unternehmens- <strong>und</strong> Politikberatung geworfen<br />

haben. Orientierungshilfen brachten sie uns kaum — <strong>und</strong> zwar nicht<br />

nur wegen der Unterschiede im gesellschaftstheoretischen Gr<strong>und</strong>verständnis<br />

<strong>und</strong> im Erkenntnisinteresse. Dabei sind die Fortschritte in diesen Diszipli-<br />

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nen nicht zu übersehen: Mit Projektionen im Sinne schlichter Prolongationen<br />

vergangener Trends, früher dort durchaus hoffähig, gibt sich heute<br />

kaum noch jemand zufrieden. So werden bei Prognosen vom Typ der indikativen<br />

Vorausschätzung die mathematisch-statistischen Trendverlängerungen<br />

zumeist in theoretische <strong>und</strong> empirisch-qualitative Erwägungen eingebettet<br />

<strong>und</strong> insofern relativiert; das bedeutet einen Gewinn an Realitätsnähe.<br />

Und bei Prognosen in der Form von hypothetischen Szenarien wird auf<br />

exakte Vorausberechnungen von Verlauf <strong>und</strong> Zeitpunkt künftiger Ereignisse<br />

häufig ganz verzichtet, <strong>und</strong> man beschränkt sich darauf, Gefahrenpunkte<br />

<strong>und</strong> Grenzwerte der Entwicklung zu benennen; dies kann durchaus<br />

nützliche Anregungen für effektive Problemlösungen erbringen. Dennoch<br />

konnten diese Ansätze für uns kein Modell sein. Zu sehr sind sie immer<br />

noch durch ein auffälliges Mißverhältnis zwischen nicht nachvollziehbaren<br />

oder nicht nachprüfbaren Annahmen einerseits <strong>und</strong> der beanspruchten Aussagegenauigkeit<br />

andererseits gekennzeichnet. Es bleibt ein Unbehagen, weil<br />

pauschale Statements <strong>und</strong> fragwürdige empirische Annahmen mit detailliertesten<br />

quantitativen Aussagen ko<strong>mb</strong>iniert werden.<br />

Daß sie der Magie der Quantifizierung erliegen könnte, ist gewiß nicht<br />

das Problem der Industrie<strong>soziologie</strong>. Doch wo sind unsere Chancen, es<br />

besser zu machen? Wer als Industriesoziologe sein Handwerk einigermaßen<br />

gelernt hat, kann vielleicht einen gewissen Realitätssinn für sich in Anspruch<br />

nehmen, der ihn die Vielfältigkeit <strong>und</strong> Widersprüchlichkeit sozialer<br />

Phänomene in der Industrie halbwegs deutlich sehen läßt. Das Gesetz<br />

der komparativen Kostenvorteile nutzend, war es folglich unser Bemühen,<br />

bei der Vorbereitung unserer Antizipation sehr genau hinzuschauen <strong>und</strong> die<br />

Lösung gerade nicht auf dem Wege der Glättung <strong>und</strong> der Handhabbarmachung<br />

der industriellen Wirklichkeit für Modellzuordnungen zu suchen.<br />

Unsere Aussagen beruhen auf in cross examination gewonnenen Informationen.<br />

Sie sollen sein: Zusammenfassung <strong>und</strong> Verdichtung eines reichhaltigen<br />

Datenmaterials zu einem integrierten Konzept; ein die Widersprüche<br />

austragender Gesamteindruck, der sich in Form von Evidenzargumenten<br />

aus unserem Material dokumentieren läßt <strong>und</strong> der sich mit unseren theoretischen<br />

Kenntnissen zumindest zu einem plausiblen Bild zusammenfügt.<br />

Was wir anstrebten waren transparente, nachvollziehbare Gesamtinterpretationen.<br />

So viel zu der methodischen Plattform, die wir uns zusammengezimmert<br />

haben, um einen Blick auf die Zukunft der Industriearbeit werfen zu<br />

können. Nun die Aussicht selbst in Kurzbeschreibung. In den restlichen<br />

sieben Punkten wollen wir die Entwicklung der, sagen wir, nächsten zehn<br />

Jahre umreißen.<br />

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Unsere Hauptaussage bedeutet: In den industriellen Kernsektoren vollzieht<br />

sich vor unseren Augen ein gr<strong>und</strong>legender Wandel in der Nutzung der Arbeitskräfte.<br />

Zu beobachten ist ein Umdenken in der Arbeitsgestaltung, der<br />

Ausbildungs- <strong>und</strong> Personalpolitik sowie des Arbeitseinsatzes. Durchaus<br />

kann man von einem arbeitspolitischen Paradigmenwechsel in den Betrieben<br />

des industriellen Kernbereichs sprechen. Dieser steht im Zusammenhang<br />

mit jenem umfassenden Gesamtprozeß, den wir als das Aufkommen<br />

neuer Produktionskonzepte bezeichnet haben <strong>und</strong> der uns deshalb so bemerkenswert<br />

erscheint, weil seine Arbeitsimplikationen kapitalistischer Rationalisierung<br />

eine neue Gestalt geben.<br />

Dieser Wandel ist freilich weitgehend verborgen geblieben, weil sich die<br />

Diskussion um die Wirkungen der neuen Technologien ganz auf deren gesteigerte<br />

Freisetzungspotenz konzentrierte. Der gewerkschaftliche Kampf<br />

um die <strong>35</strong>-St<strong>und</strong>en-Woche unterstreicht diese Wahrnehmung: Rationalisierung<br />

steht heute mehr denn je als Synonym für massenhafte Arbeitsplatzvernichtung.<br />

Nun erwarten auch wir in der Zukunft in dieser Hinsicht<br />

Problemverschärfungen. In vielen Industrien endet gerade erst die schon<br />

erwähnte Inkubationszeit, in der das erweiterte Rationalisierungswissen aufgebaut<br />

wurde. Erst jetzt <strong>und</strong> in den kommenden Jahren werden diese Möglichkeiten<br />

ausgereizt. Da es keinerlei Anhaltspunkte dafür gibt, daß die Karte<br />

der Kompensation noch sticht, wird dem <strong>gesellschaftliche</strong>n Skandal der<br />

Arbeitslosigkeit nur mit politischen Lösungen beizukommen sein.<br />

Doch die gesteigerte Freisetzungspotenz stellt nur das eine neue Moment<br />

der eingeleiteten Rationalisierungsbewegungen dar. Im Bruch mit der<br />

bisher üblichen Arbeitspolitik liegt die zweite, vielfach noch übersehene<br />

Veränderung. Es klingt paradox: Gerade zu jenem historischen Zeitpunkt,<br />

zu dem die technischen Möglichkeiten zur Substitution menschlicher Funktionen<br />

geradezu explodieren, steigt gleichzeitig das Bewußtsein für die qualitative<br />

Bedeutung menschlicher Arbeitsleistung; steigt die Wertschätzung<br />

der besonderen Qualitäten lebendiger Arbeit. Denn das Credo der neuen<br />

Produktionskonzepte lautet:<br />

a) Autonomisierung des Produktionsprozesses gegenüber lebendiger Arbeit<br />

durch Technisierung ist kein Wert an sich. Die weitestgehende Komprimierung<br />

lebendiger Arbeit bringt nicht per se das wirtschaftliche Optimum.<br />

b) Der restringierende Zugriff auf Arbeitskraft verschenkt wichtige Produktivitätspotentiale.<br />

Im ganzheitlicheren Aufgabenzuschnitt liegen keine<br />

Gefahren, sondern Chancen. Qualifikation <strong>und</strong> fachliche Souveränität auch<br />

der Arbeiter sind Produktivkräfte, die es verstärkt zu nutzen gilt.<br />

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Für die von uns en detail untersuchten Branchen — Automobilindustrie,<br />

Werkzeugmaschinenbau, chemische Industrie — lassen sich die neuen Produktionskonzepte<br />

in bezug auf die technische <strong>und</strong> organisatorische Produktionsgestaltung<br />

wie folgt konkretisieren:<br />

Die neuen Produktionskonzepte — Funktionsgestaltung<br />

Technisch<br />

Arbeitsorganisatorisch<br />

Automobilindustrie<br />

Offensive Nutzung der<br />

neuen Technologien —<br />

insbesondere in den<br />

bisher arbeitsintensiven<br />

Montagesektoren;<br />

Mechanisierungssprung<br />

auf teilautomatisierte<br />

Einzelaggregate <strong>und</strong><br />

Maschinensysteme<br />

Trendwende in der<br />

Arbeitsgestaltung:<br />

— Aufgabenintegration<br />

— Reprofessionalisierung<br />

der Produktionsarbeit<br />

Werkzeugmaschinenbau<br />

Offensive Nutzung der<br />

neuen Technologien in<br />

der spanabhebenden<br />

Fertigung;<br />

Mechanisierungssprung<br />

auf teilautomatisierte<br />

Einzelaggregate <strong>und</strong><br />

Maschinensysteme<br />

Facharbeiterbetrieb<br />

als positives Gestaltungskonzept,<br />

nicht<br />

mehr „notwendiges<br />

Übel"<br />

Chemische Industrie<br />

Schrittweise Komplettierung<br />

des Automatisierungsgrades<br />

in<br />

Richtung Vollautomation<br />

Fortsetzung des Trends<br />

zur Professionalisierung<br />

der Produktionsarbeit<br />

Gemeinsamer Nenner<br />

Forcierte Technisierung,<br />

aber keine Komprimierung<br />

der lebendigen<br />

Arbeit um jeden Preis<br />

Der ganzheitliche Aufgabenzuschnitt<br />

erschließt<br />

neue Produktivkräfte<br />

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Daß sich in diesen Branchen die neuen Produktionskonzepte durchzusetzen<br />

beginnen, sehen wir nicht zuletzt im ökonomischen F<strong>und</strong>ament <strong>und</strong><br />

in den Zukunftsperspektiven dieser Industriezweige begründet. In unterschiedlichem<br />

Ausmaß hat die „Krise der Wachstumsökonomie" zwar auch<br />

an diesen Industrien genagt, doch bestand <strong>und</strong> besteht genug Substanz für<br />

eine nach vorne gerichtete Strategie, wie sie in den neuen Produktionskonzepten<br />

zum Ausdruck kommt, Ökonomische Potenz bildet ohne Zweifel<br />

eine notwendige Voraussetzung für einen weittragenden Sprung in Richtung<br />

Modernisierung der Produktionsapparate <strong>und</strong> damit zusammenhängenden<br />

Produktinnovationen. Deswegen scheint es uns angebracht, in den industriellen<br />

Kernsektoren insgesamt, also im Zentralbereich der Industrieproduktion,<br />

soweit er nach wie vor auf halbwegs soliden Beinen steht, das<br />

Experimentier- <strong>und</strong> Diffusionsfeld der neuen Produktionskonzepte zu<br />

sehen. Das bedeutet umgekehrt: Unsere These von den neuen Produktionskonzepten<br />

ist keine Aussage über den industriellen Sektor. Sie gilt nur für<br />

das funktionierende Zentrum der Industrieproduktion.<br />

Daß in diesen Industrien neue Produktionskonzepte eine Bewährungschance<br />

bekommen, hat u.E. mit einer umfassenden Umgruppierung <strong>und</strong><br />

Neubewertung der Verwertungsbedingungen zu tun <strong>und</strong> läßt sich nicht<br />

etwa nur technologisch begründen. Das Umdenken in Richtung neuer arbeitspolitischer<br />

Konzepte erhält aber umso mehr Anstöße, je mehr neue<br />

Technologien Anwendung finden. Das hängt besonders damit zusammen,<br />

daß (von stark rückläufigen Bedienungspositionen abgesehen) an automatisierten<br />

Großanlagen oft kein Platz mehr ist für ganz <strong>und</strong> gar unqualifiziertes<br />

Personal. Auch in der Fertigung, in welchem Ausmaß immer, wird der<br />

geschickte, diagnosefähige, verhaltenssouveräne Arbeiter gebraucht.<br />

VIII<br />

Die arbeitssoziologische Bedeutung einer Produktionsgestaltung nach dem<br />

Muster der neuen Konzepte liegt darin, daß diese nur unter der Voraussetzung<br />

einer Wiedereinführung <strong>und</strong> Verankerung von Produktionsintelligenz<br />

praktiziert werden können. Kapitalverwertung selbst erfordert den U<strong>mb</strong>ruch<br />

in der Nutzung von Arbeitskraft. Je mehr die Produktkonzeption<br />

auf die Erzeugung hochkomplexer Qualitätsartikel hinausläuft <strong>und</strong> die<br />

Produktionskonzepte auf den breitflächigen Einsatz der neuen Technologien<br />

abzielen, desto mehr bietet sich als optimales Arbeitseinsatzkonzept<br />

der ganzheitlichere Aufgabenzuschnitt <strong>und</strong> die breitere Verwendung von<br />

Qualifikationen an. In der Frage, wo im Betrieb die produktionsnotwendige<br />

Intelligenz verankert werden soll: allein in werkstatt-externen Planungs<strong>und</strong><br />

Dispositionsagenturen, denen eine rein ausführende Fertigung ohne<br />

jede Kompetenz <strong>und</strong> Qualifikation gegenübersteht (das wäre die Fortschreibung<br />

alter Linien), oder aber auch in der Produktion selbst, deren Know-<br />

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how <strong>und</strong> Erfahrung nicht als ärgerliches Residuum, sondern als unverzichtbarer<br />

Bestandteil der Produktivkraft<strong>entwicklung</strong> anerkannt wäre (das sind<br />

die neuen Produktionskonzepte), gewinnt die zweite Position allmählich die<br />

Oberhand. Höhere Produktivität ist unter den gegenwärtigen Umständen<br />

ohne pfleglicheren, „aufgeklärteren" Umgang mit der lebendigen Arbeit<br />

nicht zu bekommen — das ist eine Erfahrung, die auch das Kapital machen<br />

muß.<br />

IX<br />

Je nach konkreter Ausprägung der neuen Produktionskonzepte weisen<br />

die Arbeitsveränderungen, die wir hier im Auge haben, unterschiedliche<br />

Konturen auf. Bezieht man sich wiederum auf die drei Bereiche, in denen<br />

wir hauptsächlich empirisch gearbeitet haben, so sind in bezug auf die vorherrschenden<br />

Arbeits- bzw. Berufstypen <strong>und</strong> deren Qualifikationsprofile<br />

folgende Differenzierungen angebracht:<br />

Die neuen Produktionskonzepte — Arbeitsveränderungen<br />

Arbeits-/Berufstyp<br />

Qualifikationsinhalt<br />

Automobilindustrie<br />

Werkzeugmaschinenbau<br />

Chemische Industrie<br />

Produktionsfacharbeiter<br />

neuen Typs: orientiert<br />

am Berufsbild eines<br />

„Fertigungsmechanikers"<br />

Weiter<strong>entwicklung</strong> des<br />

Zerspanungs-Handwerkers<br />

zum „Syste<strong>mb</strong>etreuer"<br />

Chemie-Facharbeiter<br />

als Produktionsarbeiter<br />

Ausbaufähige Gr<strong>und</strong>kenntnisse<br />

über technisch-physikalische<br />

Funktionsprobleme<br />

moderner Produktionsanlagen<br />

mit maschinentechnischer<br />

Akzentuierung<br />

Ergänzung der Zerspanungskenntnisse<br />

<strong>und</strong> der handwerklichen<br />

Fähigkeiten um<br />

Gesamtübersicht <strong>und</strong> Eingriffskompetenz<br />

in CNC-gesteuerte<br />

Maschinensysteme<br />

Ausbaufähige Gr<strong>und</strong>kenntnisse<br />

über die chemischphysikalischen<br />

Abläufe bei<br />

Stoffumwandlung mit produktionstechnischen<br />

Bezügen<br />

Gemeinsamer Nenner Produktionsfacharbeiter Erweiterte technisch/physikalisch/chemische<br />

Gr<strong>und</strong>kenntnisse<br />

<strong>und</strong> Eingriffskompetenzen<br />

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Diese Entwicklungen stellen für die Zukunft der Industriearbeit sicher<br />

keine Marginalien dar. Es geht um den Erhalt bzw. die Reetablierung von<br />

Facharbeit. Das Ende der Arbeitsteilung — darauf könnte unter dem Einfluß<br />

der neuen Produktionskonzepte die Entwicklung in einem wichtigen<br />

Teil der industriellen Produktion hinauslaufen.<br />

X<br />

Mit den neuen Produktionskonzepten werden vielen Arbeitern in den industriellen<br />

Kernbereichen Offerten gemacht. Die höhere Attraktivität der verbleibenden<br />

Arbeit bietet bessere Chancen für ein Arrangement mit Rationalisierung.<br />

Zugleich liegt in der größeren Wertschätzung der lebendigen<br />

Arbeit durch die Betriebe für die Beschäftigten eine Möglichkeit, den Druck<br />

auf die Arbeitskonditionen einschließHch der Arbeitsplatzsicherheit abzufangen.<br />

Weil der Unternehmer mit den Arbeitern modernisieren will, muß<br />

er auch etwas bieten. Deswegen können die Belegschaften <strong>und</strong> ihre Vertretungen<br />

auch einen Preis fürs Mitspielen im betrieblichen Prozeß der Modernisierung<br />

fordern.<br />

Bezogen auf die allgemeine Betriebspolitik heißen die verbreiteten<br />

Forderungen:<br />

• Entlassungsschutz bzw. akzeptable Übergangsregelungen; bei unabweislichem<br />

Personalabbau gesicherte <strong>und</strong> finanziell tragbare Frühverrentung;<br />

„Arbeitszeitverkürzung" als Antwort auf Arbeitsplatzvernichtung.<br />

• Besitzstandsicherung bei innerbetrieblichen Umsetzungen.<br />

• Beteiligung am Rationalisierungsgewinn als Ausgleich für übernommene<br />

Risiken <strong>und</strong> Lasten <strong>und</strong> als Anspruch an Produktivitätssteigerungen.<br />

Hinsichtlich der Ausgestaltung der Modernisierung<br />

Erwägungen:<br />

stießen wir auf folgende<br />

• Anspruchsvolle Arbeitsplatzdefinitionen für möglichst viele Arbeiter;<br />

d.h. keine Bündelung der Qualifikationseffekte für kleine Spezialistentruppen,<br />

wie es oft Betriebspraxis ist; mutiges Ausschöpfen der erweiterten<br />

Gesamtmasse qualifizierterer Funktionen.<br />

• Ausrichtung der Bildungsinhalte an einem umfasssenden Qualifikationsbegriff;<br />

d.h. keine Beschränkung auf prozeßspezifische Fähigkeiten, worauf<br />

sich viele Betriebe zunächst zu beschränken suchen. Orientierung an souveräner<br />

Berufsarbeit; vielfältige berufliche wie private Anwendbarkeit der<br />

Kenntnisse <strong>und</strong> Fähigkeiten.<br />

• Verpflichtung auf den Leistungskompromiß; d.h. keine einseitige Festlegung<br />

der Leistungsanforderungen, wie sie in der heutigen betrieblichen<br />

Praxis oft geschieht <strong>und</strong> zu gravierender Arbeitsintensivierung gerade an<br />

den neuen Arbeitsplätzen führt.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Alles in allem: statt des Kampfes für alternative Rationalisierung also<br />

Kampf um die angemessene Beteiligung an betrieblicher Rationalisierung<br />

<strong>und</strong> die systematische Einbeziehung von Beschäftigteninteressen in die betrieblichen<br />

Modernisierungsstrategien. Ein politisches Programm, welches<br />

Modernisierung über ihre einzelwirtschaftliche, betriebliche Borniertheit<br />

hinaustreiben will, könnte an diesen Belegschaftsforderungen anknüpfen.<br />

XI<br />

Die neuen Produktionskonzepte markieren — wie gesagt — in unserem Verständnis<br />

den wahrscheinlichen Entwicklungspfad allein der industriellen<br />

Kernsektoren. Sie sind ein wichtiger Bestandteil von deren Versuch, den<br />

Kopf aus der Schlinge der Krise zu ziehen <strong>und</strong> im nationalen wie internationalen<br />

Wettbewerb den Boden unter den Füßen zu halten oder wiederzubekommen.<br />

Am anderen Pol stehen die krisenhaften Branchen, die heute<br />

kaum noch eine Perspektive haben <strong>und</strong> in denen es ums nackte ökonomische<br />

Überleben geht. Vor allem also die Werften, die Stahlindustrie, der<br />

Bergbau. In diesen industriellen Krisensektoren ist wenig Platz für die Idee<br />

neuer Produktionskonzepte: Ihr Überlebenskampf steht unter dem Zeichen<br />

der Kapazitätsvernichtung <strong>und</strong> der Auspowerung.<br />

Innerhalb der Arbeiterschaft spiegeln sich diese ökonomischen Strukturen<br />

in einer Verfestigung interner Grenzlinien wider. Für die innere Dynamik<br />

des sich herausbildenden Sozialgefüges scheinen uns vier Konstellationen<br />

<strong>und</strong> Gruppen von besonderer Bedeutung:<br />

Erste Gruppe: Die personellen Träger der neuen Produktionskonzepte:<br />

moderne Produktions-Facharbeiter, Instandhaltungsspezialisten; außerdem<br />

das ganze Feld derer, die allmählich in solche Positionen einrücken könnten.<br />

Sie sind die Rationalisierungsgewinner. Im Rationalisierungsprozeß ist<br />

ihr Verhalten das der Mitspieler, der Protagonisten der betrieblichen Umgestaltung;<br />

sie haben einen hohen betrieblichen Status <strong>und</strong> können für sich<br />

Gratifikationen reklamieren. Sie dürften aus dieser Entwicklung sogar mit<br />

Machtzugewinn herauskommen.<br />

Zweite Gruppe: Die Arbeiter auf den traditionellen Arbeitsplätzen in<br />

den Kernsektoren, die aber wegen persönlicher Merkmale — fortgeschrittenes<br />

Alter, keine polyvalenten Qualifikationen — für einen Arbeitseinsatz<br />

nach dem neuen Produktionskonzept den Betrieben nicht attraktiv erscheinen.<br />

Ihr Verhalten im Rationalisierungsprozeß dürfte das der Rationalisierungsdulder<br />

sein. Sie sind zwar überwiegend durch Tarifvertrag <strong>und</strong> Betriebsvereinbarung<br />

vor dem Schlimmsten geschützt. Doch ist ihre Interessenwahrnehmung<br />

gehemmt, weil für sie allemal die Gefahr besteht, ausgefiltert<br />

zu werden. Die Kämpfe bei Talbot 1983 zeigen die Brisanz, die dann<br />

entsteht, wenn die Beschäftigteninteressen dieser Gruppe betrieblich nicht<br />

mehr eingelöst werden <strong>und</strong> sie dadurch ganz auf die Verliererstraße geraten.<br />

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Dritte Gruppe: Die Arbeiter in den krisenbestimmten Branchen. Sie<br />

sind schon Verlierer. Bei kollektiver Betroffenheit, d.h. bei Betriebsstillegungen,<br />

ist hier ein sehr hohes Aktivitätspotential gegeben. Die Betriebsbesetzungen<br />

in der Werftindustrie 1983 deuten dies an. Das Verhalten dieser<br />

Gruppen im Rationalisierungsprozeß ist zumeist nicht gegen betriebliche<br />

Rationalisierung gerichtet, sondern gegen „falsche" Betriebskonzepte bzw.<br />

gegen den gänzlichen Verzicht auf Rationalisierungsbemühungen, die das<br />

Überleben des Betriebes vielleicht sichern könnten.<br />

Vierte Gruppe: Die Risiko träger am Arbeitsmarkt <strong>und</strong> vor allem die<br />

Dauerarbeitslosen. Sie werden noch stärker ins Ghetto der Dauerarbeitslosigkeit<br />

verbannt, weil mit den neuen Produktionskonzepten die Außenabschottung<br />

der Betriebe ebenso wächst wie die spezifischen Qualifikationsnachfragen.<br />

Ein konkreter Bezug auf betriebliche Rationalisierungskonzepte<br />

fällt bei dieser Gruppe zwangsläufig weg.<br />

Das Ende der Arbeitsteilung im Inneren der Zentren der Industrieproduktion<br />

fällt also zusammen mit einer tendenziellen Verschärfung der Abgrenzung<br />

nach außen. Deshalb sprechen wir auch von der Segmentierung<br />

als einer neuen Variante der Polarisierung. Seit den unmittelbaren Nachkriegsjahren<br />

sind die Lageunterschiede innerhalb der Arbeiterschaft noch<br />

nie so groß gewesen wie jetzt. Noch nie sind die mit industrieller Arbeit<br />

verknüpften Risiken <strong>und</strong> Chancen unter den Arbeitern so unterschiedlich<br />

verteilt gewesen wie heute.<br />

XII<br />

Es ist dieses Novum, das uns dazu veranlaßt, im Hinblick auf die gegenwärtige<br />

Phase der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung den Begriff der Neoindustrialisierung<br />

einzuführen. Neo- in Abgrenzung zur Reindustrialisierung, einem<br />

durch einen korporativistischen Politikansatz zur Förderung des vernachlässigten<br />

Investitionsgütersektors in den USA plötzlich hochgespielten Terminus.<br />

Reindustrialisierung redet der Wiederentdeckung der industriellen<br />

Kernsektoren das Wort <strong>und</strong> fordert ausschließlich Erneuerung der Infrastruktur<br />

auf der Basis der neuen Technologien. Neoindustrialisierung soll<br />

mehr ausdrücken: eine an die Substanz gehende Neufassung des Begriffs<br />

kapitalistischer Rationalisierung. Der Prozeß, den wir damit benennen wollen,<br />

meint nicht Restitution von Bekanntem, sondern Eindringen in Neuland<br />

— neue Produktionskonzepte auch <strong>und</strong> gerade durch einen anderen<br />

Umgang mit der lebendigen Arbeit. Neoindustrialisierung verstehen wir entsprechend<br />

nicht als technologisches Phänomen, sondern als einen komplexen<br />

U<strong>mb</strong>ruch der Industriestruktur, für den uns der arbeitspolitische Paradigmenwechsel<br />

in den Betrieben konstitutiv zu sein scheint.<br />

Obgleich wir die Eingeb<strong>und</strong>enheit der neuen Produktionskonzepte in<br />

die industriellen Kernsektoren sehen müssen, markiert ihre Entstehung <strong>und</strong><br />

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Verallgemeinerung einen Vorgang von übersektoraler, man kann ruhig sagen:<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Bedeutung. Im Gravitationsfeld jener Prozesse, die<br />

hier in Rede stehen, werden die Reproduktionsmöglichkeiten <strong>und</strong> Lebenschancen<br />

innerhalb der Gesellschaft umverteilt. In dem Maße, in dem auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage der neuen Produktionskonzepte die Modernisierung der industriellen<br />

Kernsektoren gelingt, werden diese Bereiche zu ökonomischen<br />

Machtzentren, aus denen für jeden etwas abfällt, der zu ihnen Zugang hat<br />

<strong>und</strong> behält. Auch wenn hinter den krisenhaften Zuspitzungen in den Grenzsektoren<br />

industrieller Produktion <strong>und</strong> im Arbeitslosen-Segment des Arbeitsmarktes<br />

ein ganzes Bündel von Gründen steckt: Am Elend dieser Bereiche<br />

ist die Modernisierung der industriellen Kernsektoren als eine Ursache<br />

durchaus mitbeteiligt. Teils sind es die Abwälzungsstrategien, mit denen die<br />

mächtigen Kernsektoren einen Teil der „Kosten" ihrer Modernisierungserfolge<br />

„sozialisieren"; teils sind es aber auch Abschottungspraktiken, mit<br />

denen sich die Branchen des Kernbereichs einer solidarischen Übernahme<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Aufgaben entziehen. Das Vorhandensein solcher Mechanismen<br />

bedeutet allemal, daß die Kernsektoren in einem gewissen Maße<br />

zu Lasten anderer Bereiche gedeihen.<br />

In diesen disparitären Lebensverhältnissen sind große Probleme der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Integration begründet. Wenn die von uns beobachteten Segmentierungstendenzen<br />

weiter verstärkt <strong>und</strong> verfestigt werden, dann wird<br />

Neoindustrialisierung in die sogenannte Zwei-Drittel-Gesellschaft einmünden.<br />

Gelänge es aber, durch eine am Begriff gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>r Rationalität<br />

orientierte Politik der Modernisierung die disparitären, betrieblich<br />

bornierten Momente auszugleichen, dann könnte Neoindustrialisierung<br />

langfristig zu <strong>gesellschaftliche</strong>m Fortschritt führen.<br />

Auf den großen Segelschiffen im Zeitalter der Entdeckungen hatte der<br />

Mann im Ausguck einen reizvollen, aber reichlich riskanten Platz. Er konnte<br />

abstürzen oder gar das Schiff auf Gr<strong>und</strong> setzen. Mancher schlechte Ausrufer<br />

soll als Strafe auf einer einsamen Insel ausgesetzt worden sein.<br />

Über so harte Sanktionen verfügt unser Fach glücklicherweise nicht. Wir<br />

wissen, daß unsere Voraussage, mit neuen Produktionskonzepten werde<br />

der Duktus kapitalistischer Rationalisierung gr<strong>und</strong>legend verändert, für Sie<br />

zunächst nur eine These sein kann. Unserem eigenen Anspruch auf empirische<br />

Belege sowie auf Transparenz <strong>und</strong> Nachvollziehbarkeit der Argumentation<br />

konnten wir in unserem Vortrag kaum genügen. Aber Sie haben ja die<br />

Möglichkeit, die im Untersuchungsbericht enthaltenen Details in Ruhe zu<br />

prüfen. Den Skeptikern bleibt im übrigen der Trost: Irrtümer in einer<br />

1<br />

Analyse, in der es auch um Antizipation geht, werden ans Licht kommen<br />

— durch den Gang der Dinge.<br />

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ANMERKUNG<br />

1 Horst Kern, Michael Schumann, Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in<br />

der industriellen Produktion: Bestandsaufnahme, Trendbestimmung, <strong>München</strong><br />

1984.<br />

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Kommentare zum Beitrag von<br />

Kern, Schumann<br />

EINIGE KRITISCHE ÜBERLEGUNGEN ZUM ENDE DER ARBEITS­<br />

TEILUNG<br />

Klaus Düll<br />

Horst Kern hat die tragenden Gedankengänge der Konzeption einer „Neoindustrialisierung"<br />

so brillant vorgetragen, daß der Korreferent vor der unbequemen<br />

Wahl steht, die Rolle des Claqueurs oder die des notorischen<br />

Nörglers zu übernehmen. Als Ausweg bietet sich wohl nur die Flucht nach<br />

vorn: Ich will versuchen, die Gedanken, die mir bei der Lektüre des Referatstextes<br />

<strong>und</strong> des neuen Buches durch den Kopf geschossen sind (<strong>und</strong> die<br />

auch in den Diskussionen mit Norbert Altmann, Günter Bechtle <strong>und</strong> anderen<br />

Kollegen aus dem <strong>ISF</strong> auftauchten), zu einer immanenten Kritik zu verdichten<br />

<strong>und</strong> auf ihrer Basis einige Gegenthesen aufzustellen.<br />

Mit diesen Gegenthesen will ich nicht das Verdienst schmälern, das<br />

Horst Kern <strong>und</strong> Michael Schumann für das spannende Unternehmen zukommt,<br />

mit den Methoden einer Follow-Up-Studie zu prognostischen Aussagen<br />

über die Entwicklung kapitalistischer Rationalisierung vorzustoßen<br />

<strong>und</strong> in ihrem Lichte bisherige — <strong>und</strong> vor allem auch eigene — industriesoziologische<br />

Ergebnisse zu überprüfen <strong>und</strong> zu revidieren. Wenn ich in den folgenden<br />

Thesen einige ihrer Argumente <strong>und</strong> Schlußfolgerungen in Zweifel<br />

ziehe, so geschieht dies vor allem deshalb, weil ich diesen eine zentrale Bedeutung<br />

für die Diskussion um eine prognose-orientierte <strong>und</strong> prognosefähige<br />

Industrie<strong>soziologie</strong> zumesse. Ich will meine Thesen auf die drei folgenden<br />

Fragen konzentrieren:<br />

1. Reichen die von Kern/Schumann vorgetragenen Ergebnisse <strong>und</strong> Argumente<br />

aus, um die weitreichende These eines arbeitspolitischen Paradigmenwechsels<br />

im Rahmen kapitalistischer Rationalisierung zu stützen?<br />

2. Berechtigen die von Kern/Schumann vorgestellten Bef<strong>und</strong>e dazu, in<br />

neuen Produktionskonzepten Ansatzpunkte einer konsistenten <strong>und</strong> verall-<br />

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gerneinerungsfähigen Modernisierungspolitik zu sehen, die es bei allem<br />

Wenn <strong>und</strong> Aber auch politisch zu unterstützen gilt?<br />

3. Und schließlich: Heißt die in den Thesen von Kern/Schumann enthaltene<br />

Aufforderung zu einer Ex-ante-Empirie <strong>und</strong> zu vorausschauender<br />

Interpretation, daß die Industrie<strong>soziologie</strong> ihr Selbstverständnis <strong>und</strong> ihre<br />

theoretischen Prämissen allein deshalb zum alten Eisen werfen muß?<br />

Um die erste Frage zu beantworten, ist es notwendig, sich über einen<br />

Schlüsselbegriff der Konzeption von Kern/Schumann klar zu werden, nämlich<br />

über den Stellenwert der „neuen Produktionskonzepte". Bilden die Planungen<br />

<strong>und</strong> policies des Managements wesentliche Inhalte ab, die einer veränderten<br />

Struktur der Kapitalverwertungsstrategien entsprechen, bringen<br />

sie also einen Paradigmenwechsel zum Ausdruck? Unterstellt man allerdings<br />

nicht von Anfang an einen Gleichklang zwischen Managementkonzeptionen<br />

<strong>und</strong> der realen Durchsetzung von Strategien der Kapitalverwertung, dann<br />

wird die Frage nach dem Realitätsgehalt von „neuen Produktionskonzepten"<br />

zum Prüfstein einer darauf aufbauenden, vorausschauenden Industrie<strong>soziologie</strong>.<br />

Nun entsprechen die „neuen Produktionskonzepte" in ihrem Inhalt ja<br />

vielfach Bef<strong>und</strong>en, die andere <strong>und</strong> auch unsere eigenen Analysen veränderter<br />

Formen der Nutzung von Arbeitskraft zutage gefördert haben. Als<br />

Stichworte seien genannt: die These der facharbeitergestützten Rationalisierung<br />

oder die These einer qualitativ veränderten Leistungspolitik im Zusammenhang<br />

mit Maßnahmen der Arbeitsstrukturierung. Nur berechtigen<br />

diese Bef<strong>und</strong>e nicht — <strong>und</strong> damit beginne ich mit meiner ersten Gegenthese<br />

—, von einem Paradigmenwechsel kapitalistischer Rationalisierung zu<br />

sprechen. Das, was wir beobachten, ist ein Formwandel kapitalistischer<br />

Rationalisierung insofern, als Formen der Nutzung von Arbeitskraft entwickelt<br />

<strong>und</strong> durchgesetzt werden, die die immanenten Schranken tayloristischer<br />

<strong>und</strong> fordistischer Produktionsmodelle zu überwinden trachten oder<br />

aber den Einsatz des Arbeitsvermögens an den veränderten Nahtstellen der<br />

Mensch-Maschine-Systeme neu bestimmen. Es ist nun wahrlich keine neue<br />

Einsicht, daß die Betriebe beim erweiterten Zugriff auf das Arbeits- <strong>und</strong><br />

Leistungsvermögen vorhandene oder verfügbare Qualifikationen nutzen<br />

oder sie als Überschußqualifikation bereithalten, ja in den Grenzen ihrer<br />

Nutzungsinteressen Qualifikationen auch neu aufbauen. Darin kommt aber<br />

kein „an die Substanz gehender" arbeitspolitischer Paradigmenwechsel zum<br />

Ausdruck, sondern in der Tat die unveränderte Logik der Kapitalverwertung,<br />

die darin besteht, auf dem jeweils erreichten Niveau der Produktivkraft<strong>entwicklung</strong><br />

die historisch gegebenen Schranken der Nutzung von Arbeitskraft<br />

hinauszuschieben. In diesem Sinne war auch in der Vergangenheit<br />

das „Residuum lebendiger Arbeit" niemals nur potentieller Störfaktor;<br />

lebendige Arbeit wird immer zu einem Störfaktor nur insoweit, als die historisch<br />

durchgesetzten Formen ihrer Nutzung die Verwertungsstrategien<br />

des Kapitals beschränken.<br />

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Zur zweiten Frage: Das Postulat einer <strong>gesellschaftliche</strong>n Modernisierungspolitik,<br />

die sich die „neuen Produktionskonzepte" zunutze macht,<br />

baut in der von Kern/Schumann vorgetragenen Argumentation zumindest<br />

auf den drei folgenden Voraussetzungen auf:<br />

(1) daß die „neuen Produktionskonzepte" sich mit großer Breitenwirkung<br />

durchsetzen;<br />

(2) daß die „neuen Produktionskonzepte" in den Kernsektoren der Industrie<br />

eine Professionalisierung der Produktionsarbeit einleiten;<br />

(3) <strong>und</strong> schließlich, daß den Arbeitskräften, die auf der Seite der Rationalisierungsgewinner<br />

stehen, eine neue bargaining power gegenüber dem Management<br />

zuwächst.<br />

Gegen alle drei Voraussetzungen lassen sich einige Bedenken ins Feld führen:<br />

Erstens: Viele von Kern/Schumann selbst vorgetragenen Belege — aber<br />

auch unsere eigenen Bef<strong>und</strong>e — deuten darauf hin, daß veränderte Formen<br />

der Nutzung von Arbeitskraft, die beim Einsatz neuer Technologien durchgesetzt<br />

werden, einen insularen Charakter aufweisen. Dies gilt insbesondere<br />

für den Bereich der Massenfertigung, aber auch im Werkzeugmaschinenbau<br />

sind die zukünftigen Entwicklungslinien — auch nach den Aussagen von<br />

Kern/Schumann — durchaus offen. (Die Chemie-Industrie mag hier in der<br />

Tat einen Sonderfall darstellen.) Neue Produktionskonzepte entstehen<br />

— nicht zufällig — an jenen Schnittstellen des betrieblichen <strong>und</strong> zwischenbetrieblichen<br />

Produktionszusammenhangs, die als die größten Barrieren<br />

zeitökonomischer Rationalisierung wirksam wurden <strong>und</strong> die bei dem Einsatz<br />

neuer Technologien besonders hohe Rationalisierungspotentiale versprechen;<br />

dies führt in der Regel zu neuen Formen der Abspaltung <strong>und</strong><br />

Gliederung von Produktions- <strong>und</strong> Arbeitsprozessen zu neuen Formen differentiellen<br />

Arbeitskräfteeinsatzes. Der insulare Charakter „neuer Produktionskonzepte"<br />

ist nicht das Ergebnis von „Halbherzigkeiten" oder von<br />

Erprobungssperren oder auch von differentiellen Positionsinteressen auf Seiten<br />

des Managements, sondern entspricht der Logik kapitalistischer Rationalisierung:<br />

nämlich die in Arbeitskraft <strong>und</strong> in neuen Technologien angelegten<br />

Ressourcen isoliert <strong>und</strong> partikular zu nutzen, diese aber gleichzeitig<br />

durch Organisierung des Produktionszusammenhangs <strong>und</strong> durch Strukturierung<br />

des betrieblichen Gesamtarbeiters zu integrieren <strong>und</strong> zu optimieren.<br />

Gerade der Einsatz neuer Informations- <strong>und</strong> Steuerungstechnologien begünstigt<br />

die Vernetzung von Produktionsprozessen mit unterschiedlichem<br />

technischem Niveau <strong>und</strong> erleichtert Insellösungen, ohne die Möglichkeiten<br />

betrieblicher Kontrolle über Produktionsprozesse <strong>und</strong> Arbeitskraft einzuschränken.<br />

Zweitens: Ich bestreite durchaus nicht, daß mit dem Einsatz neuer<br />

Technologien auch neue Formen der Nutzung von Arbeitskraft mit einem<br />

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ganzheitlichen Aufgabenzuschnitt durchgesetzt werden. Daraus allein kann<br />

aber nicht auf eine allgemeine Tendenz der Professionalisierung der Produktionsarbeit<br />

in den industriellen Kernsektoren geschlossen werden. Ein ganzheitlicher<br />

Aufgabenzuschnitt <strong>und</strong> der erweiterte Zugriff auf das Arbeits<strong>und</strong><br />

Leistungsvermögen enthalten ja nicht nur eine qualifikatorische, sondern,<br />

<strong>und</strong> dies sogar in erster Linie, eine leistungspolitische Komponente.<br />

Bei der Neubestimmung der betrieblichen Leistungspolitik verbinden sich<br />

fachliche Anforderungen immer enger mit neuen Anforderungen an Verhalten<br />

<strong>und</strong> Belastbarkeit; die erweiterte Fachkompetenz reicht — nach allen<br />

unseren Erfahrungen — gerade so weit wie der betriebliche Leistungsanspruch.<br />

Auch in den Bef<strong>und</strong>en von Kern/Schumann bleiben schließlich der<br />

Einsatz von Produktionsfacharbeitern im traditionellen Angelerntenbereich<br />

<strong>und</strong> der Aufbau neuer technischer Qualifikationen im herkömmlichen<br />

Facharbeiterbereich quantitativ begrenzt.<br />

Drittens: Ich muß gestehen, daß mir der innere logische Zusammenhang<br />

von zwei zentralen Thesen verschlossen geblieben ist: der These nämlich,<br />

daß die neuen Produktionskonzepte für die Kapitalverwertung keine Gefahren,<br />

sondern Chancen enthalten, <strong>und</strong> der gleichzeitig vertretenen These, daß<br />

die Rationalisierungsgewinner in den Kernsektoren über eine verbesserte<br />

bargaining power verfügen. Die Begründung für die These, daß die Unternehmen<br />

bei der Durchsetzung neuer Produktionskonzepte den „Arbeitern<br />

auch etwas bieten" müßten, um sie zu „Protagonisten der Modernisierung"<br />

zu machen, leuchtet mir angesichts andauernder Massenarbeitslosigkeit <strong>und</strong><br />

deutlich verbesserter Selektionschancen der Betriebe auf den internen <strong>und</strong><br />

externen Arbeitsmärkten ganz <strong>und</strong> gar nicht ein. Mir scheint, daß sich<br />

Kern/Schumann mit ihren — ja sicherlich richtigen <strong>und</strong> wichtigen — Segmentationsthesen<br />

<strong>und</strong> einer vielleicht allzu glatten typologischen Unterscheidung<br />

in Rationalisierungsgewinner, -dulder, -Verlierer <strong>und</strong> Dauerarbeitslose<br />

den Blick auf die Selektionsmechanismen verstellen, die bei der<br />

Konstitution der Kerngruppen, also der Gewinner, wirksam werden. Es sind<br />

aber gerade Selektionsmechanismen, die den betrieblichen Kontroll- <strong>und</strong><br />

Leistungsanspruch über die neu entstehenden Kerngruppen sichern <strong>und</strong><br />

deren bargaining power von vornherein begrenzen. Auch scheint mir, daß<br />

eine theoretische Tradition, die aufbaut auf der identitätsstiftenden Kraft<br />

ganzheitlicher Arbeitsvollzüge, den Blick für die Doppelbödigkeit von Nutzungsformen<br />

trübt, die die Arbeitskraft mit ihren motivationalen Fähigkeiten<br />

auch als Person dem Verwertungsprozeß unterwerfen.<br />

Meine zweite Gegenthese lautet also: Neue Produktionskonzepte setzen<br />

sich nicht generell, sondern überwiegend nur inselförmig durch <strong>und</strong> führen<br />

nicht zu einer weitreichenden Reprofessionalisierung der Produktionsarbeit.<br />

Der Inselcharakter „neuer Produktionskonzepte" stellt ein Element betrieblicher<br />

Strategie dar. Solche Konzepte sind verb<strong>und</strong>en mit einem verschärften<br />

Kontroll- <strong>und</strong> Leistungsanspruch der Betriebe, die ihrerseits Selektionsmechanismen<br />

auch nutzen, um relevante bargaining power neu entstehender<br />

Kerngruppen ex ante zu blockieren. „Neue Produktionskonzepte" sind<br />

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damit nicht der Angelpunkt einer verallgemeinerungsfähigen <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Modernisierungspolitik, sondern verlangen umgekehrt von den Gewerkschaften<br />

<strong>und</strong> den Betriebsräten neuartige Formen der Interessenvertretung<br />

<strong>und</strong> der Steuerungs- bzw. Schutzpolitik — auch für die Gruppe der<br />

„Rationalisierungsgewinner".<br />

Zur dritten Frage: Man kann Horst Kern <strong>und</strong> Michael Schumann nicht<br />

Mut absprechen, wenn sie da oben im Ausguck den Blick in die Ferne wagen,<br />

aber die Gefahr ist groß, daß sie die Riffe nicht rechtzeitig erkennen.<br />

Der Aufforderung an die Industrie<strong>soziologie</strong>, prognosefähige Ansätze <strong>und</strong><br />

prognostische Aussagen zu liefern, kann sich kein Vertreter unseres Faches<br />

mit ernsthaften Argumenten widersetzen. Die Frage ist nur, ob der auch<br />

von Kern/Schumann erhobene <strong>und</strong> pauschale Vorwurf, die Industrie<strong>soziologie</strong><br />

habe bisher nur Ex-post-Analysen geliefert, berechtigt ist <strong>und</strong> ob der<br />

von ihnen propagierte Weg der Ex-ante-Empirie <strong>und</strong> der vorausschauenden<br />

Interpretation wirklich den Königsweg darstellt, der die Industrie<strong>soziologie</strong><br />

zu neuen Höhen führt. Was den ersten Gesichtspunkt betrifft, so ist man in<br />

einer ersten Reaktion dazu geneigt, Kern/Schumann alt gegen Kern/Schumann<br />

neu in Schutz zu nehmen. Schließlich hat „Industriearbeit <strong>und</strong> Arbeiterbewußtsein"<br />

ja deshalb allgemeine <strong>und</strong> prognostische Aussagen über den<br />

Gang kapitalistischer Rationalisierung zutage gefördert, weil in empirisch<br />

gehaltvollen Analysen die Konzepte <strong>und</strong> Ideologien des Managements mit<br />

harten Fakten betrieblicher Wirklichkeit konfrontiert wurden. Hierfür ist<br />

die Polarisierungsthese in der Tat ein „hübsches Beispiel". Was den zweiten<br />

Gesichtspunkt betrifft, so bezweifle ich, ob der Rückgriff auf eine phänomenologisch<br />

ausgerichtete „verstehende" Soziologie wirklich die tragfähige<br />

Brücke sein kann, die über den Abgr<strong>und</strong> führt, der zwischen kapitaltheoretischen<br />

Annahmen <strong>und</strong> der Analyse betrieblicher Wirklichkeit klafft. Das<br />

Bild ganzheitlicher Arbeit als Gegenbild zur Arbeitsteilung, das in der Frühgeschichte<br />

unserer Disziplin Proudhon <strong>und</strong> Marx entgegensetzt (<strong>und</strong> in der<br />

französischen Industrie<strong>soziologie</strong> zu einer berühmt gewordenen Kontroverse<br />

zwischen G. Friedmann <strong>und</strong> P. Naville geführt) hat, paßt zu fugenlos zu<br />

dem Postulat einer ganzheitlichen Methode, als daß man den Vater des Gedankens<br />

nicht erahnen könnte. Die Ex-ante-Empirie, in der Ex-post-Analysen,<br />

Adäquanzüberlegungen <strong>und</strong> ganzheitliche Zusammenschau eine neuartige<br />

Verbindung eingehen, <strong>und</strong> in der das Bandbreitentheorem eine<br />

methodische Schlüsselstellung einnimmt, mag es erlauben, Rationalisierungskonzepte<br />

in der „Inkubationszeit" zu erkennen <strong>und</strong> die empirischen<br />

Einzelbef<strong>und</strong>e gewissermaßen gegen den Strich zu bürsten; sie birgt aber<br />

gleichzeitig die Gefahr in sich, daß die einmal identifizierten Konzeptionen<br />

gegen empirische Gegenbeweise immunisiert werden — das Bandbreitentheorem<br />

erlaubt Abweichungen, zwingt aber nicht dazu, darin Gegentendenzen<br />

zu erkennen.<br />

Mir scheint — <strong>und</strong> damit leite ich meine letzte Gegenthese ein —, daß<br />

nur die geduldige Weiterarbeit an dem freilich ungelösten Problem der Vermittlung<br />

zwischen kapitaltheoretischen Annahmen <strong>und</strong> der Analyse empi-<br />

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isch <strong>und</strong> historisch erfahrbarer Wirklichkeit der Industrie<strong>soziologie</strong> jene<br />

Prognosefähigkeit sichern oder neu beschaffen kann, die sie heute dringender<br />

benötigt denn je. Dieses aber setzt voraus, daß Managementkonzeptionen<br />

auf die eigenen, ihnen innewohnenden <strong>und</strong> durchaus widersprüchlichen<br />

Interessenstrukturen zurückgeführt <strong>und</strong> ihrerseits gegen den Strich gebürstet<br />

werden.<br />

Ich weiß nur zu gut, daß das Postulat — oder vielleicht besser das Desiderat<br />

—, die Industrie<strong>soziologie</strong> könne prognostische Aussagen nur auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage einer ausgebauten Theorie kapitalistischer Rationalisierung entwickeln,<br />

solange Gefahr läuft, „Klinkengeld für offene Türen zu bezahlen",<br />

als konkrete Wege seiner Umsetzung nicht aufgezeigt sind. Aber vielleicht<br />

gibt das andere — scheinbar paradoxe — Postulat zu denken, daß eine<br />

vorausschauende Industrie<strong>soziologie</strong> nur historisch verfahren könne. Dies<br />

bedeutet, daß prognostische Aussagen nur dort gelingen, wo mit Ex-post­<br />

Analysen <strong>und</strong> präzisen Bestandsaufnahmen die Potentiale der Produktivkraft<strong>entwicklung</strong><br />

ausgemacht werden, die betriebliche Strategien nutzen<br />

können, um die jeweiligen historischen Schranken der Kapitalverwertung<br />

<strong>und</strong> -realisierung zu überwinden. An diesen Schranken werden aber gleichzeitig<br />

die Chancen höherer individueller <strong>und</strong> kollektiver Handlungsautonomie<br />

durch die Kontroll- <strong>und</strong> Herrschaftsinteressen der Betriebe begrenzt.<br />

Es ist zweifellos eines der Verdienste des neuen Buches von H. Kern <strong>und</strong><br />

M. Schumann, daß es auch die Skeptiker unter uns zwingt, über Voraussetzungen<br />

<strong>und</strong> Chancen einer Politik der „Neoindustrialisierung" genauer<br />

als bisher nachzudenken. Sinn dieser Anmerkungen war es, auf die leistungspolitischen<br />

Aspekte <strong>und</strong> die Kontrollinteressen der Betriebe aufmerksam<br />

zu machen, die mit dieser Entwicklung verknüpft sind, Implikationen,<br />

die gerade jene sich mit besonderer Schärfe vor Augen halten müssen, die<br />

darin auch Ansatzpunkte einer <strong>gesellschaftliche</strong>n Politik der Modernisierung<br />

erkennen.<br />

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ANMERKUNGEN ZUM KONZEPT EINER INDUSTRIELLEN<br />

'MODERNISIERUNG ALS GESELLSCHAFTLICHEM PROJEKT'<br />

Rudi<br />

Schmidt<br />

Der provozierende Titel des neuen Buches von Kern/Schumann „Ende der<br />

Arbeitsteilung?"* tut schon allenthalben seine Wirkung. Die von den Autoren<br />

zur Beantwortung dieser Frage in die Debatte geworfenen Begriffe wie<br />

„Neoindustrialisierung", „Reprofessionalisierung" geben den von ihnen<br />

beobachteten „neuen Produktionskonzepten" <strong>und</strong> den Aufgabenerweiterungen<br />

an den technologisch gr<strong>und</strong>legend veränderten Arbeitsplätzen in<br />

zentralen Bereichen dreier Kernbranchen der deutschen Industrie ein programmatisches<br />

Gewicht. Über die damit benannten neuen Inhalte scheint<br />

ein Pfad in eine technologische <strong>und</strong> arbeitspolitische Entwicklung eröffnet,<br />

welche nach ihrer Vorstellung in eine nicht allein den Kapitalinteressen<br />

dienende „Politik der Modernisierung" münden soll <strong>und</strong> zu „langfristigem<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Fortschritt" (a.a.O., S. 23) führen könnte.<br />

Ist damit der säkulare Kompromiß gef<strong>und</strong>en zwischen Kapital <strong>und</strong> Arbeit<br />

unterhalb des unversöhnlichen Klassenantagonismus?<br />

„Visionen sind wieder gefragt" heißt es kokett zu Beginn des 7. Kapitels<br />

ihres neuen Buches. Und sie stehen nicht an, gleich damit aufzuwarten.<br />

Ihr Mut ist zu bew<strong>und</strong>ern, denn Propheten hatten seit jeher einen schwierigen<br />

Stand. Eben haben wir von Klaus Düll gehört, wie massiv die Einwände<br />

vorgetragen werden; <strong>und</strong> es dürften sicher nicht die einzigen bleiben.<br />

Nun verfahren Kern/Schumann in der ausführlichen Präsentation ihrer<br />

differenzierten Bef<strong>und</strong>e sehr behutsam <strong>und</strong> sichern sich vielfach konjunktivisch<br />

ab. Eine in zehn, fünfzehn Jahren vorgenommene Bestandsaufnahme<br />

fände kaum Anlaß zur Kritik, wenn sich die aufgezeigten Anzeichen einer<br />

neuen arbeitspolitischen Entwicklung als insulare Prozesse ohne nachhaltige<br />

Diffusion herausstellen sollten. Uberhaupt sollte bei aller Kritik an den<br />

visionären Ausblicken nicht übersehen werden, daß hier die gegenwärtig<br />

wohl umfassendste <strong>und</strong> differenzierteste Gesamtanalyse dreier Industriebranchen<br />

mit zentraler wirtschaftlicher Bedeutung vorgelegt worden ist, die<br />

auch für die weiterführenden Diskussionen ein F<strong>und</strong>ament bleiben wird.<br />

Problematisch sind ja in erster Linie die Interpretationen der Beobachtungen,<br />

die zuweilen allzu schlanken, euphorischen Konklusionen, aus denen<br />

die jetzt angefachte Debatte auch ihre Schärfe bezieht.<br />

Trendbestim­<br />

Rationalisierung in der industriellen Produktion: Bestandsaufnahme,<br />

mung, <strong>München</strong> 1984<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Wenn ich auch die Düllschen Einwände überwiegend teile <strong>und</strong> deshalb<br />

hier nicht wiederholen will, so sehe ich doch in den über den empirischen<br />

Sachverhalt hinausreichenden perspektivischen Überlegungen keinen netzlosen<br />

Drahtseilakt, sondern einen wichtigen provokatorischen Anstoß, der<br />

nicht in der Kritik am z.T. ungesicherten Wirklichkeitsbezug verloren gehen<br />

sollte.<br />

Man muß sich das nur drastisch genug vor Augen führen: da, wo alle kritischen<br />

Geister nur auf die negativen Folgen gegenwärtiger <strong>und</strong> erst recht<br />

künftiger Rationalisierung weisen <strong>und</strong> nur zu düsteren Gesamtanalysen gelangen:<br />

dauerhafte <strong>und</strong> eher noch ansteigende Massenarbeitslosigkeit, eine<br />

durch Mitgliederauszehrung <strong>und</strong> Interessendivergenz geschwächte Gewerkschaftsbewegung,<br />

eine konservative Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialpolitik der Privatisierung<br />

von materieller Not <strong>und</strong> Daseinsfürsorge da treten Kern <strong>und</strong><br />

Schumann auf den Plan <strong>und</strong> verkünden das Projekt der 'Modernisierung'<br />

mit der gesellschaftsimmanenten Intention technologischer <strong>und</strong> arbeitsstruktureller<br />

Erneuerungen unter weiterhin kapitalistischen Vorzeichen.<br />

Wo Defätismus um sich greift, Aussteigermentalität in Richtung auf<br />

eine '2. Gesellschaft' sich breitmacht <strong>und</strong> auch Industriesoziologen aus dem<br />

Scheitern zu weit gespannter sozialreformerischer Hoffnungen eines staatlich<br />

initiierten Programms der 'Humanisierung der Arbeit' die resignative<br />

Konsequenz ziehen, den irreversiblen Restriktionen im 'Reich der Notwendigkeit'<br />

sei nur mit permanenten Arbeitszeitverkürzungen beizukommen<br />

<strong>und</strong> im übrigen in die Distanz des unbeteiligten Beobachters sich zurückziehen,<br />

da setzen Kern <strong>und</strong> Schumann die entschiedene These entgegen,<br />

daß das Industriesystem „als conditio sine qua non weiteren <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Fortschritts" aufgefaßt werden müsse (321), <strong>und</strong> daß die industrielle<br />

Arbeit für den nach wie vor dominanten Typ des Vollzeitarbeiters „eine so<br />

wichtige Handlungssphäre (ist), daß Identitätsbildung nicht losgelöst von<br />

Arbeit erfolgen kann <strong>und</strong> die Perspektive der Lebensautonomie ohne mehr<br />

Autonomie in der Arbeit eine Fiktion bleibt." (326)<br />

Darin sehe ich den Kern ihrer programmatischen Aussagen <strong>und</strong> von hier<br />

aus sind ihre weitreichenden Interpretationen vorerst nur keimhaft erkennbaren<br />

arbeitsorganisatorischen <strong>und</strong> qualifikationspolitischen Wandels im<br />

Gefolge einer sozial beeinflußten technologischen Innovation zu verstehen.<br />

Nur wenn man diese Gr<strong>und</strong>annahme teilt — <strong>und</strong> nicht die Fähigkeit des<br />

Subjekts zu rigorosem Instrumentalismus <strong>und</strong> zu einer nichtpathologischen<br />

dichotomischen Existenz unterstellt — wird man überhaupt bereit sein, sich<br />

auf den von Kern/Schumann aufgezeigten Pfad zu begeben <strong>und</strong> allen eben<br />

sichtbaren Anzeichen für eine „Wiedereinführung <strong>und</strong> Verankerung von<br />

Produktionsintelligenz" (322) <strong>und</strong> für einen „ganzheitlichen Aufgabenzuschnitt"<br />

(323) die gleiche hochgespannte Aufmerksamkeit zu leihen.<br />

Nun wäre es sicher falsch, Kern <strong>und</strong> Schumann angesichts der aktuell<br />

negativen Rahmenbedingungen Naivität vorzuhalten; ihre Projektidee der<br />

strukturellen Modernisierung von Industriearbeit hat auch in ihren Augen<br />

nur Chancen, wenn die „neuen Produktionskonzepte" aus „ihrer privati-<br />

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stischen Verengung" (321) „mit politischen Mitteln befreit" werden (324).<br />

„Eine dem Begriff gerecht werdende Modernisierungspraxis verlangt die<br />

soziale Steuerung der Innovation". (322) Ohne diese Intervention von<br />

außen würden „die <strong>gesellschaftliche</strong>n Disparitäten nur verschärft" (321),<br />

eine 2/3-Gesellschaft etabliert. Indessen, woher soll die politische Intervention<br />

kommen?<br />

Bei den von den Autoren genannten Forderungen für die konkrete<br />

„Ausgestaltung der Modernisierung" werden die Belegschaften, die Betriebsräte<br />

<strong>und</strong> Gewerkschaften auf die Herren Blüm <strong>und</strong> Bangemann nicht<br />

zählen dürfen. Sie sind auf sich selbst verwiesen.<br />

Wie weit reicht gegenwärtig ihre Gestaltungsmacht?<br />

Angesichts einer millionenfachen industriellen Reservearmee vor den<br />

Fabriktoren <strong>und</strong> noch ungewissen, auf unabsehbare Zeit wohl noch nicht<br />

verarbeiteten Spätfolgen der 84er Streiks sieht es im zentralen Metallbereich<br />

für die unerläßlichen 'politischen Interventionen' nicht eben günstig<br />

aus.<br />

Dennoch liegen die Chancen in der aufgezeigten Perspektive, an denen<br />

es festzuhalten gilt. Wenn man die Erwartungen vielleicht nicht so hoch<br />

schraubt <strong>und</strong> statt einer „Modernisierung als <strong>gesellschaftliche</strong>m Projekt"<br />

sich schon mit der systematischen Verbesserung der Lage relevanter Teile<br />

der Industriebelegschaften zufriedengibt, wäre für die gewerkschaftliche<br />

Rationalisierungspolitik vielleicht ein Ausweg aus dem konzeptionslosen<br />

Reagieren gef<strong>und</strong>en. Statt der Praxis monetärer Kompensation von Belastungen<br />

aus dem für unvermeidlich gehaltenen Fortschritt wie in früheren<br />

Jahren, der eher hilflos-restriktiven Reaktion, wie es gegenwärtig zu beobachten<br />

ist, ließen sich hieraus Anhaltspunkte für eine offensive Rationalisierungspolitik<br />

der Gewerkschaften entwickeln, die ihren Ausstrahlungseffekt<br />

auch auf andere Arbeitsbereiche haben könnte. (Vgl. das Referat<br />

von E. Hildebrandt/R, Seltz, S. 434 ff.)<br />

Dies setzt freilich eine intensivierte Betriebsarbeit <strong>und</strong> verbesserte<br />

Qualifikation der gewerkschaftlichen Kader voraus; aber um die Bewältigung<br />

dieser Aufgabe kommen die Gewerkschaften ohnehin nicht herum.<br />

Um ein die Debatte nur unnötig verschärfendes Mißverständnis gleich<br />

aus der Welt zu schaffen, möchte ich eine m.E. unzutreffende Interpretation<br />

der von Kern <strong>und</strong> Schumann vorgestellten unterschiedlichen Managementphilosophien<br />

<strong>und</strong> der sich darin ausdrückenden „neuen Produktionskonzepte"<br />

durch Klaus Düll zurechtrücken.<br />

Die beiden Autoren sprechen verschiedentlich von einem veränderten<br />

„Duktus kapitalistischer Rationalisierung", von „einem gr<strong>und</strong>legenden<br />

Wandel der Produktionskonzepte" (Ende der Arbeitsteilung?) <strong>und</strong> von<br />

einem „arbeitspolitischen Paradigmenwechsel"; ich kann mich aber keiner<br />

Passage entsinnen, wo sie — wie Düll es ihnen unterstellt — einem „Paradigmenwechsel<br />

kapitalistischer Rationalisierung" (Düll, S. 399, Hervorhebung<br />

durch Verf.) das Wort reden. In dieser Redeweise vermag ich<br />

ohnehin keinen Sinn zu erkennen; das Verwertungsinteresse industriel-<br />

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len Kapitals zielt immer darauf, die Produktivität lebendiger Arbeit zu<br />

erhöhen. Es kann daher überhaupt nur einen Formenwandel geben. Anderenfalls<br />

hätten wir es mit dem sozialen Wandel zu philanthropischen<br />

Stiftungen zu tun. Schließlich heißt es auch ausdrücklich bei Kern <strong>und</strong><br />

Schumann: „Bei unveränderter Logik der Rationalisierung bilden sich<br />

doch gr<strong>und</strong>legend neue Formen aus."<br />

Andererseits wäre eine präzisere Begrifflichkeit bei der Beschreibung<br />

der neuen Phänomene wünschenswert gewesen. Trotz des wohl unvermeidlichen<br />

Höhenwinds im Ausguck der Visionäre — eine Wendung wie diese<br />

provoziert vermeidbare Mißverständnisse: im Begriff der „Neoindustrialisierung",<br />

heißt es in der Buchfassung, drücke sich „eine an die Substanz gehende<br />

Neufassung des Begriffs kapitalistischer Rationalisierung" aus.<br />

(a.a.O., S. 24)<br />

Wenn ich es recht sehe, treffen auch Dülls kritische Anmerkungen zur<br />

phänomenologischen Methode bei Kern <strong>und</strong> Schumann nicht deren wirkliches<br />

Vorgehen. Ich glaube nicht, daß sie hierdurch einer ganzheitlichen<br />

Methode in der Industrie<strong>soziologie</strong> das Wort reden wollten, die am Ende die<br />

f<strong>und</strong>amentale Widerspruchsstruktur ihres Gegenstands eskamotiert. Der bei<br />

ihnen neue Gedanke ist doch nur, den Betrieb stärker als sozialen Wirkungszusammenhang,<br />

als „Sozialsystem" (34) zu sehen <strong>und</strong> die beteiligten Gruppen<br />

entsprechend ihrer Funktion, Lage <strong>und</strong> ihren Interessen durch die jeweilige<br />

Selbstdarstellung hindurch möglichst umfassend <strong>und</strong> differenziert<br />

auch unter der Perspektive zu beschreiben, daß in ihnen Subjekte im Rahmen<br />

bestimmter, gestaltbarer Spielräume agieren.<br />

Ich finde dies Verfahren legitim <strong>und</strong> meine deshalb, daß Kritik daran<br />

sich nur am Resultat festmachen sollte. In dem damit erzielbaren Ergebnis<br />

sehe ich eher einen Gewinn: denn es verstellt doch den Zugang zu konkreten<br />

Analysen der Konzepte <strong>und</strong> Strategien des Managements, wenn dessen<br />

Vertreter — wie lange Zeit in der polit-ökonomisch verkürzten Diskussion<br />

üblich — bloß als Charaktermasken <strong>und</strong> blinde Exekutoren des Rentabilitätsprinzips<br />

verstanden werden <strong>und</strong> man sie nicht vielmehr als individuelle<br />

Funktionsträger begreift, die angesichts der prinzipiellen Anarchie des<br />

Marktes die Antizipation einer sich als profitabel erweisenden Produktionsgestaltung<br />

aus einer Fülle historisch disparaten, auch spekulativen <strong>und</strong> ideologisch<br />

gefärbten Erfahrungswissens heraus zu treffen haben <strong>und</strong> nicht allein<br />

auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnis, welcher Provenienz auch<br />

immer. Folglich wird es stets unterschiedliche Vorstellungen im Management<br />

darüber geben, wie die notwendigen Anpassungen der Produktionsstruktur<br />

an geänderte ökonomische Erfordernisse vorzunehmen seien. Je<br />

komplexer <strong>und</strong> differenzierter die dem Flexibilitätsgebot folgenden neuen<br />

Produktionsstrukturen gestalten werden, umso weniger kann von einem einheitlichen,<br />

konsistenten Rationalisierungsmuster gesprochen werden; damit<br />

wachsen — zumindest potentiell — auch die arbeitspolitischen Modifikationschancen.<br />

(Vgl. hierzu das Referat von Krohn/Rammert „Technik<strong>entwicklung</strong>:<br />

Autonomer Prozeß oder industrielle Strategie"?, hier S. 411 ff.)<br />

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Rechtfertigt es der auf diese Weise neu in den Blick genommene Spielraum<br />

betrieblicher Rationalisierungspolitik — unter der freilich unveränderten<br />

Maxime der Kapitalrentabilität — von der Existenz zweier so gr<strong>und</strong>legend<br />

verschiedener Managementlinien auszugehen, daß der Sieg der einen<br />

die Verlängerung der Misere von Dequalifikation, Spezialisierung <strong>und</strong> Heteronomie,<br />

der Sieg der anderen aber den <strong>gesellschaftliche</strong>n Fortschritt auf<br />

dem Wege der Entfaltung individueller Fähigkeiten <strong>und</strong> mehr Autonomie<br />

begründen?<br />

Und daran anschließend: können die Vertreter der ,,empirisch-unideologischen"<br />

Linie, die ,,Modernisten" — ihre empirische Relevanz unterstellt —<br />

sich gegenüber den „Technokratisch-Bornierten", den „Traditionalisten" so<br />

weit vom konsensualen Zwang zu einem kompromißfähigen betrieblichen<br />

Rationalisierungsmuster dispensieren, daß sie in der Lage sind, einen „stilbildenden"<br />

Modus herauszubilden <strong>und</strong> einen Sog auszulösen?<br />

Ohne die bereits bekannten Argumente pro <strong>und</strong> contra zu wiederholen,<br />

soll das eher skeptische Resümee der möglichen Antworten anhand ergänzender<br />

Überlegungen gezogen werden.<br />

Die Entwicklung der industriellen Weltmarkt struktur hat zu einer Auslagerung<br />

lohnintensiver Serienfertigung von Gebrauchsgütern aus den hochindustrialisierten<br />

Staaten in die der Dritten Welt <strong>und</strong> in die Schwellenländer<br />

geführt, wovon inzwischen auch klassische Industriebranchen wie die Stahl<strong>und</strong><br />

Werftindustrie erfaßt worden sind. In den kapitalistischen Industriestaaten<br />

konzentriert sich die Fertigung zunehmend auf komplexe Güter<br />

hoher Produktqualität, die sich gegen die Weltmarktkonkurrenz behaupten<br />

können. Ihr verkürzter Innovationszyklus <strong>und</strong> die vor allem durch die Elektronik<br />

mögliche Prozeßinnovation verlangen bzw. erlauben eine komplexe<br />

<strong>und</strong> flexible Produktionsstruktur. Dies erfordert (sichert?/erweitert?) auch<br />

künftig den Einsatz qualifizierter Facharbeit, bei indessen weiterhin sinkendem<br />

Gesamtarbeitsvolumen.<br />

Der steigende Kapitaleinsatz für diese flexiblen Fertigungsstrukturen<br />

relativiert andererseits die Lohnkosten (in einzelnen Sektoren der Metallindustrie<br />

sind sie bereits unter 10 % gesunken) <strong>und</strong> erleichtert die Finanzierung<br />

des Qualifikationsüberschusses von Arbeitskraft als Sicherheitsreserve<br />

gegenüber dem schwer eliminierbaren Rest des maschinellen Störungspotentials.<br />

Die Flexibilitätsanforderungen der komplexen Fertigungsstrukturen<br />

nötigen aber nicht nur zum Einsatz erweiterter Arbeitsqualifikationen,<br />

sondern unterstellen auch ein gewandeltes Arbeitsverhältnis. Bemerkenswert<br />

ist in diesem Zusammenhang die mühelose Integration der durch<br />

konservatives Lamento angezettelten Debatte über den sog. „Wertewandel"<br />

in die strategischen Überlegungen einer progressiven Unternehmerfraktion<br />

zu einer neuen Führungs- <strong>und</strong> Personalpolitik. Der Anspruch auf Selbstverwirklichung,<br />

mehr Autonomie <strong>und</strong> Kreativität, der demzufolge als Resul­<br />

1<br />

tat sozio-kulturellen Wandels über die jugendliche Alternativbewegung<br />

hinaus Bedeutung gewonnen habe, fügt sich offenbar besser in das Flexibili-<br />

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tätskonzept als die traditionelle Arbeitsmoral mit ihrem Untertanenkanon<br />

von Pflicht, Fleiß <strong>und</strong> Gehorsam, ohne ganz verzichtbar zu sein. Aber wo<br />

bereits über Arbeitnehmermentalität <strong>und</strong> Risikoscheu in Führungsetagen<br />

geklagt wird, ist eine alternative Subjektivität willkommen, deren erratische<br />

Widerständigkeit man über die betrieblichen Identifikationsangebote<br />

schon glaubt domestizieren zu können.<br />

So weit steht es nicht schlecht um die Chancen der 'Modernisten', ihre<br />

Linie weg von der subjektgleichgültigen Leistungsforderung durchzusetzen,<br />

der Trend der Zeit spräche für sie.<br />

Nun führen Kern/Schumann ihren Nachweis für die These, daß der technologisch<br />

ermöglichte, betriebspolitisch erwünschte arbeitspolitische Paradigmenwechsel<br />

konstitutiv für „einen komplexen U<strong>mb</strong>ruch der Industriestruktur"<br />

sei <strong>und</strong> eine „Neoindustrialisierung" einleite, trotz gegenteiliger<br />

Beteuerung fast ausschließlich mit technologischen Bef<strong>und</strong>en <strong>und</strong><br />

z.T. noch mit arbeitsorganisatorischen Argumenten. Nun ist aber gerade<br />

die technologische Entwicklung <strong>und</strong> d.h. die sich enorm steigernde <strong>und</strong><br />

für unterschiedliche Richtungen offene Prozeßinnovation eher ein Unsicherheitsfaktor<br />

als eine sichere Orientierungsbasis für Prognosen über<br />

eine künftige Industriestruktur. Die von Kern/Schumann einbezogene<br />

Interessenperspektive von Belegschaftsgruppen, Betriebsrat <strong>und</strong> Gewerkschaft<br />

müßte eher noch ernster genommen <strong>und</strong> um weitergehende soziale<br />

<strong>und</strong> gesellschaftspolitische Erwägungen ergänzt werden.<br />

Auch die Managementvertreter der 'traditionalistischen' Rationalisierungsformen<br />

sind um Argumente nicht verlegen. Da im Kampf zweier Linien<br />

um die größere Effizienz <strong>und</strong> die höhere Rentabilität nur die Resultate<br />

zählen, werden die 'Technokratisch-Bornierten', die zur Übertechnisierung<br />

neigen, nicht ruhen, bis sie den Nachweis für das störungsfreie Funktionieren<br />

vollintegrierter flexibler Fertigungssysteme erbringen können oder bis<br />

ihnen z.B. die enge Verknüpfung von CAD- <strong>und</strong> CNC-Maschinen in Richtung<br />

CAD/CAM friktionslos gelingt. Wenn der Übergang vom zweidimensionalen<br />

Entwurf auf die dreidimensionale Konstruktion bewältigt ist, wird<br />

man diesem Ziel einen entscheidenden Schritt nähergerückt sein. Und dann<br />

muß vom Konstrukteur am Bildschirm bis zum Maschinenführer mit der<br />

Kompetenz zur Programmoptimierung arbeitspolitisch alles neu aufgerollt<br />

werden; dies ginge wohl kaum in Richtung des von Kern/Schumann erhofften<br />

erweiterten Aufgabenprofils oder wenn doch, dann um den Preis<br />

einer nochmaligen dramatischen Ausdünnung der Belegschaft. Das bleibende<br />

Aktionsfeld der 'Traditionalisten' begründen auch die von Klaus Düll<br />

schon vorgetragenen Argumente, darunter insbesondere sein Hinweis auf<br />

die Fähigkeit der Unternehmen, Insellösungen' divergierender Produktionsstrukturen<br />

durch die entwickelte Informations- <strong>und</strong> Steuerungstechnologie<br />

kompatibel zu vernetzen.<br />

Wenn also Argumente für eine neue Arbeitspolitik der „fachlichen Souveränität"<br />

beigebracht werden sollen, dann glaube ich nicht, daß sie in<br />

erster Linie aus dem unmittelbar technologischen Begründungszusammen-<br />

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hang zu erlangen sind, sondern aus vielfältigen Rahmenerwägungen, von<br />

den Implikationen einer weltmarktbestimmten Produktqualität bis hin zur<br />

Neuf<strong>und</strong>ierung von Arbeitsmotivationen. Die technologische Entwicklung<br />

schafft die materiellen Bedingungen für die Umsetzung nicht-fordistischer<br />

Produktionskonzepte, erleichtert ihre Realisierung, nur — daß sie auch in<br />

dieser Richtung genutzt wird, ist zum wenigsten immanente technologischorganisatorische<br />

Konsequenz, ist vielmehr ein eminent politisches Problem<br />

der beteiligten Gruppen, vor allem von Belegschaft, Betriebsrat <strong>und</strong> Gewerkschaft.<br />

Sie erhalten mit der Analyse von Kern/Schumann eine perspektivische<br />

Argumentationsgr<strong>und</strong>lage, wie sie bei den anstehenden Rationalisierungen<br />

in technologisch avancierten Teilbereichen der prosperierenden<br />

Industrie auch ihre Forderung nach mehr Entfaltungschancen in der Arbeit,<br />

mehr Mitbestimmung am Arbeitsplatz offensiv, d.h. über eine partielle<br />

Koinzidenz mit einer gewandelten Produktions struktur begründen können.<br />

Das ist weniger, als die Vision einer „Modernisierung der Gesellschaft"<br />

verheißt, aber es könnte mehr sein, als der skeptische Attentismus unserer<br />

Zunft für möglich hält.<br />

ANMERKUNG<br />

1 So inzwischen Mark Wössner in seinem Referat am 23.11.84 auf dem Berliner<br />

'Symposium zur Zukunft der Industriegesellschaft'. Vgl auch Ernst Zander <strong>und</strong><br />

Claus Zoellner in Die Zeit vom 7.12.84<br />

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TECHNOLOGIEENTWICKLUNG: AUTONOMER PROZESS<br />

UND INDUSTRIELLE STRATEGIE<br />

Wolfgang Krohn, Werner Rammert<br />

Einleitung<br />

Zwei allgemeine Beobachtungen zu den Beziehungen von wissenschaftlichtechnischer<br />

<strong>und</strong> industrieller Entwicklung dürfen auf breite Zustimmung<br />

rechnen:<br />

Die erste Beobachtung ist die einer zunehmenden Verwissenschaftlichung<br />

der technischen Entwicklungen. Man kann dabei die Zunahme anwendungsorientierter<br />

<strong>und</strong> angewandter Wissenschaften im Auge haben, wie<br />

auch die Entstehung von Technikwissenschaften. Achtet man auf institutionelle<br />

Tatbestände, sind die Ergebnisse in beiden Fällen gleich: Zunahme der<br />

Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungslabors, des akademisch qualifizierten Personals,<br />

<strong>und</strong> von Transferinstitutionen, die zwischen Gr<strong>und</strong>lagenforschung <strong>und</strong><br />

technischer Entwicklung vermitteln.<br />

Die zweite Beobachtung ist die einer zunehmenden Industrialisierung<br />

<strong>und</strong> Vergesellschaftung der wissenschaftlich-technischen Forschung, Prozesse,<br />

die sich zunächst auf die Zielplanung <strong>und</strong> auf die Arbeitsorganisation<br />

erstrecken, dann auch auf die veränderten Abhängigkeitsverhältnisse der<br />

Forschung von ihren Ressourcen, <strong>und</strong> schließlich (mit geteilter Zustimmung)<br />

auf die Determination der Entwicklungsrichtungen.<br />

Die beiden Beobachtungen scheinen zueinander gegenläufig zu sein:<br />

entweder Verwissenschaftlichung oder Industrialisierung. „Eine Formulierung<br />

wie 'Industrialisierung der Wissenschaft' läßt sich jedenfalls nicht als<br />

eine selbstverständliche Deskription unproblematischer empirischer Tendenzen<br />

handhaben, sie ist vielmehr als Paradoxon zu definieren." (Hack<br />

1984, 13).<br />

Die Argumentationsziele dieses Aufsatzes sind auf die Bewältigung dieser<br />

paradoxalen, zumindest kontroversen Situation gerichtet. Wir wollen<br />

zeigen, daß reduktionistische Strategien versagen. Reduktionistische Strategien<br />

beabsichtigen, die Dominanz des einen Entwicklungsmusters über<br />

das andere darzustellen. Die Dominanz der Verwissenschaftlichung zu behaupten,<br />

bedeutet letztlich einen Rekurs auf die Annahme, daß die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklung durch eine „Logik" der Technologie- oder Wissenschafts<strong>entwicklung</strong><br />

bestimmt sei. Die Dominanz der Vergesellschaftung<br />

zu behaupten, enthält die Annahme, daß die wissenschaftlich-technische<br />

Entwicklung der Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle politischer <strong>und</strong>/oder ökonomischer<br />

Instanzen, die ihrer eigenen „Logik" folgen, unterworfen ist oder<br />

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wird. Beide Formen des Reduktionismus unterstellen, wenn auch mit verschiedenen<br />

Rollenverteilungen, ein statisches Verhältnis der Funktionalisierbarkeit<br />

des einen für das andere.<br />

Aber eine solche Funktionalisierbarkeit ist nicht durchführbar. Wir werden<br />

zeigen, daß es stattdessen zur Ausbildung komplexer Handlungsstrategien<br />

kommt, die sowohl industriell wie wissenschaftspolitisch neu sind. Die<br />

neuen Merkmale sind die Beteiligung von Akteuren aus verschiedenen Lagern,<br />

die Einbeziehung zusätzlicher Kontingenzfaktoren hinsichtlich der<br />

Zukunftserwartungen, die Vermehrung von Eingriffschancen in die Planungsprozesse,<br />

die Abnahme einsinnig wirkender Entscheidungsimperative.<br />

Um die Unterschiede zuzuspitzen, nennen wir den neuen, industrielle <strong>und</strong><br />

forschungsplanende Entscheidungen koordinierenden Strategietypus: wissenschaftlich-reflexiv.<br />

Im günstigen Fall führt eine solche Strategie dazu, sowohl<br />

die Funktionalität der Forschung zu steigern als auch ihre Innovativität.<br />

Damit würde sich ein klassischer Trend der modernen Gesellschaft in<br />

diesem Bereich umkehren: nicht mehr die Ausdifferenzierung von spezialisierten<br />

Handlungssystemen (oder Sozialstrukturen), sondern die Organisation<br />

komplexer, systemübergreifender Handlungsfelder verspricht die<br />

erfolgreichsten Beschleunigungseffekte.<br />

Unsere Analyse, die gleichermaßen auf Ansätze der Wissenschafts- <strong>und</strong><br />

Technikforschung wie der Industrie<strong>soziologie</strong> zurückgeht, gliedert sich in<br />

zwei große Teile. Im ersten wird die Technik<strong>entwicklung</strong> aus zunächst<br />

handlungstheoretischen dann strukturtheoretischen Perspektiven dargestellt.<br />

Er ist ein Versuch, einen tragfähigen Begriff von technologischer<br />

Rationalität aufzubauen. Der zweite Teil behandelt den Vergesellschaftungsprozeß<br />

von Wissenschaft <strong>und</strong> Technik, beginnt also strukturtheoretisch,<br />

<strong>und</strong> untersucht dann neue Handlungsstrategien, die zur Bewältigung<br />

<strong>und</strong> Dynamisierung dieser Entwicklung beitragen.<br />

1. Technische Entwicklung <strong>und</strong> innovatorisches Handeln<br />

Es ist ausgeschlossen, die technische Entwicklung zusammenhängend <strong>und</strong> in<br />

allen ihren Dimensionen zu analysieren. Wir wählen als Ausgangspunkt eine<br />

Kennzeichnung der Technik, die erstens spezifisch zutreffend ist für die<br />

industrielle, wenn nicht <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung in Europa, die zweitens<br />

im Verlauf dieser Entwicklung zunehmend an Bedeutung gewonnen<br />

hat. Dieser Ausgangspunkt ist die Analyse der Technik<strong>entwicklung</strong> als innovatorisches<br />

Handeln. Die historische Herausbildung <strong>und</strong> soziale Integration<br />

dieses Typus des Handelns ist der alleinige Gr<strong>und</strong> dafür, daß eine vermeintliche<br />

oder tatsächliche Autonomie der technischen Entwicklung überhaupt<br />

als Thema aufgeworfen werden kann. Für alle Gesellschaften, in denen<br />

innovatorisches Handeln als eine spezialisierte, legitimierte <strong>und</strong> institutionalisierte<br />

Form des Handelns nicht ausgebildet ist, würde man schwerlich auf<br />

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die Idee kommen, für die vorfindlichen Techniken <strong>und</strong> deren Verwendungen<br />

einen anderen als einen sozialen Rahmen zu suchen. Daß technische<br />

Entwicklung in der Moderne vornehmlich in der Erzeugung neuer Techniken<br />

besteht, läßt sich noch einmal verschärfen: die zentrale Kategorie, der<br />

das technikbezogene innovatorische Handeln zuzuordnen ist, ist die der<br />

Forschung als eine auf Erfinden, Entdecken, Vorhersage <strong>und</strong> Konstruktion<br />

gerichtete Tätigkeit.<br />

Forschung soll hier als eine Kategorie eingeführt werden, die der Unterteilung<br />

in „Wissenschaft" <strong>und</strong> „Technologie" übergeordnet ist <strong>und</strong> keine<br />

problematischen Vorentscheidungen benötigt. Insbesondere soll Forschung<br />

nicht auf Wissenschaft oder wissenschaftliche Interessen eingeschränkt werden<br />

<strong>und</strong> dann der Technologie die sek<strong>und</strong>äre Rolle einer „angewandten"<br />

Wissenschaft oder einer „Entwicklungstätigkeit" zugewiesen werden. Im<br />

Gegenteil: Forschungen im Bereich der Technik sind eher älter als solche<br />

im Bereich der Wissenschaften bzw. Naturphilosophien (vergl. z.B. Zilsel<br />

1976, 98ff. zur Entstehung der experimentellen Methode). Noch wichtiger<br />

ist, daß kein F<strong>und</strong>ierungsverhältnis zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Technologie<br />

oder auch nur eine systematische wechselseitige Abhängigkeit besteht<br />

(Brooks 1965). Die historisch angemessene <strong>und</strong> im Ansatz einfache Lösung<br />

ist daher, Forschung als einen übergeordneten Handlungstypus einzuführen,<br />

der sich dann — abhängig von Orientierungskomplexen <strong>und</strong> den in ihnen<br />

artikulierten Erkenntnisinteressen <strong>und</strong> Relevanzkriterien — als stärker wissenschaftlich<br />

oder technisch orientiert spezifizieren läßt. Das Ausmaß der<br />

Wechselwirkungen zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Technik wird dann zu einer<br />

historischen Fragestellung, die nicht durch unzweckmäßig eingerichtete<br />

analytische Trennungen verstellt wird.<br />

Allerdings hat die Entscheidung, das durch Forschung gekennzeichnete<br />

innovative Handeln als übergeordnete, generische Kategorie einzuführen,<br />

auch die Ausgrenzung von Bereichen der technischen Entwicklung zur Folge,<br />

die unter anderen Perspektiven wichtig sein können. So spielen in der<br />

folgenden Untersuchung weder die materialen Aspekte der Abfolge <strong>und</strong><br />

Kumulation der technischen Entwicklung eine Rolle, wie sie etwa in den<br />

Produktivkrafttheorien (Schuchardin 1963) analysiert werden, noch die<br />

anthropologischen Aspekte, die etwa von den Funktionskreistheoretikern<br />

herausgestellt worden sind (Gehlen 1957). Durch die Fokussierung auf die<br />

Kategorie der Forschung können weder diese noch andere Theorieansätze<br />

ersetzt werden. Zu betonen ist, daß daher auch die Beziehung zwischen<br />

technischer Entwicklung (die nicht unbedingt an Forschung geb<strong>und</strong>en ist,<br />

aber für die <strong>gesellschaftliche</strong> Arbeit konstitutiv ist) <strong>und</strong> Technologie<strong>entwicklung</strong><br />

(die an Forschung geb<strong>und</strong>en ist <strong>und</strong> weniger integriert sein kann)<br />

nicht thematisiert wird. Wir wollen speziell einen Zugang zu den dynamischen<br />

Aspekten der Technologie<strong>entwicklung</strong> eröffnen.<br />

Was ist Forschung? Soziologisch ist Forschung die Ausdifferenzierung<br />

eines bestimmten, auf Erfindung, Entdeckung, Prognose <strong>und</strong> Konstruktion<br />

gerichteten Handlungstypus. Die <strong>gesellschaftliche</strong> Bedeutung dieses Hand-<br />

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lungstypus kann am besten vor Augen gestellt werden durch Darstellung<br />

der wichtigsten Stationen seiner historischen Ausdifferenzierung.<br />

(1) Entstehung des innovatorischen Handelns<br />

(13./14. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

Um 1<strong>35</strong>0 entstand das deutsche Wort „Vorscher" durch Conrad von Megenburg (1309<br />

-74) in seinem „Poch der Natur" als Bezeichnung für diejenigen, die die „Haimlichkeit<br />

der Natur ervorschen wolt ..." Ähnliche Bezeichnungen derselben Zeit sind „Incignerius",<br />

„Ingeniator", die in den Bauhütten entstanden. Sie standen im Zusammenhang<br />

mit einer Beschleunigung des technischen Fortschritts in vielen Berufszweigen des Spätmittelalters,<br />

die mit einer starken Vermehrung der Zünfte <strong>und</strong> Gilden verb<strong>und</strong>en war.<br />

Dennoch waren die Zünfte durchgängig traditional. Innovatorische Aktivitäten wurden<br />

nur (a) gelegentlich (b) im Kontext eines Berufsfeldes <strong>und</strong> (c) im Falle der Verträglichkeit<br />

mit der Tradition akzeptiert.<br />

(2) Ausgrenzung des Handlungstypus des Forschungshandelns<br />

(15./16. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

Im Zeitalter der Renaissance kommt es zur sozialen Definition des Forschens als einer<br />

spezifischen <strong>und</strong> eigenständigen Tätigkeit. Zugang zu den darunter fallenden Tätigkeiten<br />

fanden Forscher aus ganz unterschiedlichen Traditionen: Handwerker <strong>und</strong> Kaufleute,<br />

die aus den Zunft- <strong>und</strong> Gildentraditionen ausbrachen, humanistisch gebildete Architekten,<br />

Ärzte <strong>und</strong> Literaten, die sich auf neue Wissensgebiete einließen, schließlich Scholastiker,<br />

die die experimentelle Methode assimilierten. Der Verschiedenheit dieser sozialen<br />

Herkunft entspricht, daß weder ein gemeinsames Handlungsfeld noch eine epistemologische<br />

Kohärenz über die Interpretation des neuen Wissens, das durch Forschungsprozesse<br />

erzeugt wird, bestand. Die Wissensziele <strong>und</strong> Arbeitsbereiche dieser Zeit reichen von den<br />

Geheimwissenschaften über die Astrologie, den traditionellen Naturphilosophien, über<br />

Bergbau, Meteorologie bis hin zu den neuen Ingenieurwissenschaften <strong>und</strong> künstlerischästhetischen<br />

Bereichen.<br />

(3) Die Legitimation des Forschungshandelns<br />

(17./18. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

Mit der Gründung der Akademien <strong>und</strong> wissenschaftlichen Gesellschaften <strong>und</strong> den technischen<br />

Corps gibt es für Forscher eine soziale Anerkennung durch Mitgliedschaft in<br />

Institutionen. Die Institutionen sind ihrerseits im Zeitalter des Absolutismus mit Privilegien<br />

ausgestattet (z.B. Kommunikationsfreiheit, Druckprivileg, Erlaubnis der medizinischen<br />

Sektion, auch die Entfaltung des Patentwesens ist unter die Privilegien zu<br />

rechnen).<br />

(4) Professionalisierung der Forschung<br />

(19. Jahrh<strong>und</strong>ert)<br />

Bis in das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert herrschte in den Wissenschaften <strong>und</strong> Techniken der Amateur<br />

<strong>und</strong> versierte Generalist vor. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert kommt es zur Einrichtung aller wesentlichen<br />

Elemente einer spezifischen auf Forschung hin angelegten Berufswelt. (Entstehung<br />

der technischen Universitäten, spezialisierte Studiengänge, Entstehung von Forschungslaboratorien<br />

in den Universitäten, Entstehung von SpezialZeitschriften, Kongresse<br />

usw., Erweiterung der akademischen Berufsfelder in der Gesellschaft). Die Herausbildung<br />

dieser selbstreferenziellen Binnenstrukturen (Forschung — Lehre — Ausbildung —<br />

Berufsfeld, arbeitsteilige Organisation — Fachpublikationen <strong>und</strong> -kritik) sind die wesentlichen<br />

soziologischen Bedingungen, die für die autonome Organisation des Handlungsfeldes<br />

gegeben sein müssen.<br />

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Für die soziologische Systemtheorie ist die Herausbildung des Forschungs<strong>und</strong><br />

Lehrbetriebs im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert ein klassischer Fall der Autonomisierung.<br />

Die Beschleunigungseffekte des weitgehend der Selbstregulation<br />

überlassenen Subsystems sind so erheblich, daß die Verwendung der Ergebnisse<br />

weit nützlicher war als der Versuch, die Produktion der Ergebnisse<br />

nach außerwissenschaftlichen Nützlichkeitskriterien zu steuern (Pasteur:<br />

,,Es gibt keine angewandte Wissenschaft; es gibt nur Wissenschaft <strong>und</strong> ihre<br />

Anwendung" (1922, VII, 215). In einem späteren Abschnitt, der die Weiter<strong>entwicklung</strong><br />

der Forschungsstrukturen über die Phase der Autonomisierung<br />

hinaus zum Gegenstand hat, werden wir allerdings zeigen, daß<br />

schon im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts die autonomistische Ideologie<br />

überholt wurde durch die Gründung einer großen Zahl anwendungsorientierter<br />

Forschungseinrichtungen (Industrieforschung, industrielle Gemeinschaftsforschung,<br />

staatliche Forschungsanstalten, Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft).<br />

Sie machen zwar die akademischen Einrichtungen nicht überflüssig,<br />

entkräften aber die Gleichung, daß der Nutzen der Forschung von Handlungsentlastung<br />

<strong>und</strong> institutioneller Autonomie abhängt. Dennoch ist als<br />

Ergebnis der Darstellung der sozialen Ausdifferenzierung des Forschungshandelns<br />

das folgende festzuhalten:<br />

These 1:<br />

Im Verlauf der Neuzeit mit einem Kulminationspunkt im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert ist<br />

es zu einer <strong>gesellschaftliche</strong>n Ausdifferenzierung des Forschungshandelns gekommen,<br />

die folgende Elemente umfaßt: Definition der Tätigkeitsmerkmale;<br />

Legitimation der Tätigkeit; Institutionalisierung <strong>und</strong> Professionalisierung. Soweit<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Technik an diesem ausdifferenzierten System partizipieren,<br />

sind sie im soziologischen Sinn autonom: ihre Innensteuerung <strong>und</strong><br />

Selbstreferenz dominiert die Außensteuerung <strong>und</strong> Referenz.<br />

2. Die Orientierungskomplexe der technischen Forschung<br />

Bei dem Ansatz, Forschung als übergeordnete Kategorie der technologischen<br />

<strong>und</strong> wissenschaftlichen Entwicklung zu wählen, bleibt die Frage nach<br />

den Bezugspunkten der Forschung offen. Bisher standen die Struktur des<br />

Handlungstypus <strong>und</strong> seine historische Entfaltung, nicht dessen sachliche<br />

Ziele oder Tätigkeitsfelder zur Diskussion. Auch für das autonomistische<br />

Forschungssystem der Universitäten <strong>und</strong> Technischen Hochschulen des<br />

19. Jahrh<strong>und</strong>erts ist nur diese Struktur thematisiert worden. Wir wollen die<br />

sachlichen Bezugspunkte der Forschung über die Kategorie der „Orientierungskomplexe"<br />

einführen (vergl. hierzu, wenn auch begrifflich anders,<br />

Weingart 1982). Orientierungskomplexe der Forschung sollen als Verbindungsglieder<br />

zwischen Forschung <strong>und</strong> denjenigen Bereichen der Gesellschaft<br />

dienen, in denen Forschung institutionalisiert worden ist. Kategorial<br />

ist es mögüch, Orientierungskomplexe auf jeder Aggregationsebene<br />

des sozialen Handelns (etwa individuelle, institutionelle, subsystemische<br />

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Orientierungskomplexe) zu unterscheiden. Für die gesellschaftstheoretischen<br />

<strong>und</strong> historischen Dimensionen dieses Aufsatzes müssen hoch aggregierte<br />

Ebenen gewählt werden. Historisch betrachtet lassen sich dann vier<br />

Orientierungskomplexe unterscheiden, die zunächst idealtypisch mit dem<br />

Ziel aufgeführt werden, analytische Trennungen herauszuheben. Später<br />

wird argumentiert, daß der entscheidende soziale Prozeß der Modernisierung<br />

gerade in der wechselseitigen Durchdringung besteht. Der Rückweg<br />

in systemtheoretische Abgrenzungen dient also nur begrifflichen Zwecken.<br />

(a) Der Orientierungsrahmen<br />

der Realitätserkenntnis<br />

Dieser Orientierungsrahmen ist der Standardrahmen der Wissenschaften <strong>und</strong><br />

ihrer klassischen akademischen Institutionen, durch den Forschung zum<br />

Zweck der Realitätserkenntnis als legitimes Ziel anerkannt wird. Seinen<br />

historischen Hintergr<strong>und</strong> <strong>und</strong> systematischen Kern bilden philosophische<br />

Problemstellungen (Naturphilosophie <strong>und</strong> Erkenntnistheorie), deren universalistische<br />

Ansprüche allerdings weitgehend durch die nicht-philosophischen<br />

Verfahren der Forschung modifiziert sind. Insbesondere wird ihnen<br />

gegenüber keine Rechenschaft durch den einzelnen Wissenschaftler verlangt.<br />

Sie sind virtualisiert <strong>und</strong> werden nur in der historischen Verkettung<br />

der Forschungsprogramme sichtbar (Henrich 1982). Dem Orientierungsrahmen<br />

der Wirklichkeitserkenntnis kommt gegenüber allen Forschungsprozessen,<br />

die an anderen Orientierungsrahmen ausgerichtet sind, eine privilegierte<br />

Stellung zu: Jede Forschung ist mit irgendeiner Form der Wirklichkeitserkenntnis<br />

verknüpft <strong>und</strong> damit anknüpfbar an die Forschungsprogramme<br />

<strong>und</strong> Geltungskriterien, die dieser Orientierungsrahmen setzt. Auf<br />

diesen inneren Zusammenhang von wissenschaftlicher Orientierung <strong>und</strong> der<br />

Erweiterung des erfolgskontrollierten Handelns durch Forschung werden<br />

wir unter dem Thema der technologischen Rationalität zu sprechen kommen.<br />

(b) Der kulturelle<br />

Orientierungskomplex<br />

Der gemeinsame Nenner dieses Komplexes sind <strong>gesellschaftliche</strong> Wert- <strong>und</strong><br />

Sinnorientierungen. Hineinzurechnen sind etwa ästhetische Orientierungen,<br />

die in der Forschung der Renaissance eine große Rolle spielten (Architektur,<br />

Musik, perspektivische Malerei), hedonistische Varianten, die allerdings<br />

heute über die Unterhaltungsindustrie großenteils dem ökonomischen<br />

Sektor zugehören, dann auch besonders ethisch-ideologische Varianten, die<br />

als Szientismus <strong>und</strong> Naturalismus am Ende des 19. <strong>und</strong> im 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

zu großer Bedeutung kamen <strong>und</strong> in enger Verbindung mit politischen<br />

Orientierungen standen (Sozialdarwinismus, Eugenik, usw.). Schließlich<br />

können auch die Orientierung der medizinischen Wissenschaften an ihren<br />

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esonderen Werten (Krankheit, Ges<strong>und</strong>heit) sowie weitere Humanwissenschaften<br />

hier hineingerechnet werden.<br />

(c) Der politisch-administrative<br />

Orientierungskomplex<br />

An diesem Komplex sind alle Forschungen, die der Staat für seine eigene<br />

Ordnungs- <strong>und</strong> Leistungsverwaltung betreibt, orientiert. Zu nennen sind<br />

hier heute vor allem der Rüstungssektor, das Meß- <strong>und</strong> Eichwesen, öffentliche<br />

Prüfung <strong>und</strong> Kontrolle in Bereichen wie Sera, Arzneien, Kosmetika,<br />

Pflanzengiften, Lebensmittel, Materialprüfungen, usw.; weiter spielt die<br />

öffentliche Infrastruktur <strong>und</strong> die Ökonomie nichtmarktfähiger Güter eine<br />

Rolle <strong>und</strong> schließlich die Forschung auf dem Gebiet aufwendiger <strong>und</strong> risikoreicher<br />

Zukunftstechnologien. Etwa seit dem letzten Viertel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

hat die Mobilisierung der Forschung für staatliche Zwecke zu<br />

einem weitverzweigten Netz öffentlicher Forschungseinrichtungen geführt<br />

(Forschungsanstalten mit behördlichen Befugnissen <strong>und</strong> nachgeordneten<br />

Ämtern, Forschungsinstituten <strong>und</strong> Großforschungseinrichtungen). Die<br />

Entwicklung der staatlichen Forschung entwickelte sich qualitativ <strong>und</strong><br />

quantitativ annähernd parallel zum ökonomischen Sektor.<br />

(d) Der ökonomische<br />

Orientierungskomplex<br />

Die Relevanz dieses Orientierungskomplexes für Forschung ist in seinen Ursprüngen,<br />

genauer in seinen ideologischen Formulierungen bis in die Zeit<br />

der wissenschaftlichen Revolution zurückzuverfolgen (Francis Bacon). Die<br />

tatsächliche institutionelle Entfaltung beginnt allerdings gleichzeitig mit<br />

dem staatlich-administrativen Sektor erst im letzten Drittel des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Beginnend mit der chemischen <strong>und</strong> elektrotechnischen Industrie,<br />

gefolgt von den Kommunikationsmedien <strong>und</strong> der Aeronautik ist es zu einer<br />

ständig zunehmenden Verflechtung von auf Innovation gerichteter Erkenntnis<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Betriebszielen gekommen. Die Entwicklung dieser<br />

Wechselwirkungen wird weiter unten im Detail dargestellt.<br />

Damit sind die vier f<strong>und</strong>amentalen Orientierungskomplexe der Forschung<br />

umrissen. Diese sind natürlich nicht wechselseitig exklusiv. Es gibt sowohl<br />

Übergangsformen wie Überlappungen. Es kommt in unserem Zusammenhang<br />

auch nicht darauf an, ob die hier gewählte Klassifikation der Orientierungskomplexe<br />

besonders zweckmäßig ist. Sie folgt der bekannten<br />

Aufgliederung der generalisierten Medien der <strong>gesellschaftliche</strong>n Problemlösungen<br />

(Wahrheit, Werte, Macht, Geld) (Luhmann 1975, 177 ff.). Wichtig<br />

ist dagegen nur, daß alle Forschungsvorhaben Orientierungskontexten zuzuordnen<br />

sind, ohne die Forschung richtungslos wäre.<br />

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Forschung ist, so wurde im ersten Abschnitt argumentiert, im Kern eine<br />

ausdifferenzierte Handlungskompetenz, zu Entdeckungen, Erfindungen,<br />

Prognosen oder Konstruktionen zu kommen. Handlungsziele <strong>und</strong> Relevanzkriterien<br />

ergeben sich nicht aus dieser, sondern aus den Orientierungskomplexen.<br />

Wir fassen die Ergebnisse des ersten <strong>und</strong> zweiten Abschnittes zusammen:<br />

These 2: Technik<strong>entwicklung</strong> ist determiniert einerseits durch die ausdifferenzierten<br />

Handlungselemente der Forschung <strong>und</strong> andererseits durch die Aufgabenbereiche<br />

<strong>und</strong> Zielhorizonte der Forschung, die durch die Orientierungskomplexe<br />

gegeben sind. Die erste Determination betrifft den Aspekt der Autonomie<br />

<strong>und</strong> der mit dieser gegebenen institutionellen Handlungsvorteile; die zweite<br />

Determination betrifft die funktionale Angewiesenheit der Technik<strong>entwicklung</strong><br />

auf nichttechnische Handlungsbereiche.<br />

3. Technologische Rationalität<br />

Technologie ist nicht als ein eigenständiger Orientierungskomplex eingeführt<br />

worden. Damit ist trotz aller faktischen Überschneidungen ein gr<strong>und</strong>sätzlicher<br />

Unterschied zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Technologie unterstellt.<br />

Während Wissenschaft im Rahmen des Ansatzes zur Orientierung der Forschung<br />

auf Realitätserkenntnis bestimmt wurde, kann Technologie offenbar<br />

nur indirekt als die Bereitstellung von Wissen definiert werden, das in den<br />

jeweiligen Orientierungskomplexen als relevant gilt. Ist damit eingeräumt,<br />

daß es keine Autonomie der technologischen Entwicklung gibt? Wir werden<br />

diesen Schluß, der aus professionellen Gründen unter Sozialwissenschaftlern<br />

leicht Zustimmung findet, nicht ziehen, allerdings auch nicht schlichtweg<br />

den entgegengesetzten. Wir werden einen Begriff von technologischer Rationalität<br />

einführen, der in der Zwischenlage dieser Alternative verbleibt <strong>und</strong><br />

die Hauptthese des Aufsatzes vorbereitet, daß Funktionalität <strong>und</strong> Autonomie<br />

der Technologie aus einer spezifischen Rationalität der technologischen<br />

Forschung folgen. Wir gehen zunächst von einem soziologisch gefaßten<br />

„Autonomie-Begriff" aus (These 1). In Frage steht also nicht eine immanente<br />

Eigengesetzlichkeit („Entwicklungslogik") der Technologie. Wenn<br />

technische Handlungsziele sich nicht aus der Technologie, sondern nur aus<br />

Orientierungskomplexen ergeben können, dann kann eine Autonomie allenfalls<br />

in einer auf die Forschung selbst bezogenen Rationalität bestehen.<br />

Wenn man also auf der einen Seite der Technologie keine immanenten<br />

Orientierungsleistungen imputiert, so kann man auf der anderen Seite durch<br />

die exponierte Kategorie der Forschung der Technologie<strong>entwicklung</strong> Beschleunigungseffekte<br />

zusprechen, die die Orientierungskomplexe zu Anpassungsleistungen<br />

zwingen. Woher kann die technologische Forschung diese<br />

Handlungsvorteile beziehen? Dies soll anhand der besonderen Beziehung,<br />

die zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Technologie eben durch diese Kategorie eingerichtet<br />

ist, diskutiert werden.<br />

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Es ist heute ein Gemeinplatz, daß zwischen Technologie <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

trotz heterogener Wurzeln <strong>und</strong> verbleibender institutioneller Unterschiede<br />

nicht mehr substantiell, sondern nur noch kontextuell (nämlich<br />

durch Rekurs auf Orientierungskomplexe) unterschieden werden kann<br />

(Layton 1977, Böhme, van den Daele, Krohn 1978, Barnes 1982). Aber es<br />

wird dabei durchgängig übersehen, daß damit keine Identifikation ausgesprochen<br />

wird, die streng genommen einen der beiden Ausdrücke überflüssig<br />

oder an jeder Stelle des anderen einsetzbar machen würde. Unter der<br />

Hand wird auf einer zumindest analytischen Trennung beharrt, deren Bestimmung<br />

allerdings geschenkt wird. Aber gerade die Bestimmung von<br />

Gemeinsamkeit <strong>und</strong> Differenz ist der Schlüssel für ein Verständnis der technologischen<br />

Rationalität. Die wichtigste <strong>und</strong> gr<strong>und</strong>legende Gemeinsamkeit<br />

besteht darin, daß Wissenschaft <strong>und</strong> Technologie über die Kategorie der<br />

Forschung an denselben operativen Wahrheitsbegriff geb<strong>und</strong>en sind. Dieser<br />

Wahrheitsbegriff besagt, daß die Erkenntnis von etwas in der Angabe der<br />

Möglichkeiten seiner Erzeugung besteht. Ein Naturgesetz ist „mehr <strong>und</strong><br />

mehr nur eine Angabe über die Möglichkeit <strong>und</strong> den Ausfall von Experimenten;<br />

ein Gesetz unserer Fähigkeit, Phänomene hervorzubringen" (von<br />

Weizsäcker 1960, 173). Es gibt Wissensbereiche, in denen die Diskrepanz<br />

über lange Zeit groß ist (z.B. die Erklärung der Planetenbahnen durch die<br />

Gravitation <strong>und</strong> die Erzeugung von künstlichen Planeten; z.B. alte Medikamente,<br />

deren Wirkungsweise unerklärt ist). Sieht man von zahlreichen<br />

methodologischen Verfeinerungen ab, <strong>und</strong> liest die Äquivalenz von Erklärung<br />

<strong>und</strong> Erzeugung als ein regulatives Ideal, dann lassen sich zwei gr<strong>und</strong>legende<br />

<strong>und</strong> exemplarisch leicht belegbare Aussagen formulieren: Jede<br />

wissenschaftliche Wirklichkeitserkenntnis entwickelt ein Potential zur<br />

Konstruktion von Realität auf theoretischer Gr<strong>und</strong>lage, — <strong>und</strong> das heißt<br />

zur Technologie. Und umgekehrt, jede Entwicklung von Technik <strong>und</strong> Technologie<br />

kann ein wissenschaftliches Interesse nach Erklärung oder nach<br />

rationaler Rekonstruktion des erfolgreichen Funktionierens nach sich<br />

ziehen. Für die Wissenschaft spielt es im Prinzip keine Rolle, ob sich die<br />

Realitätserklärung auf naturgegebene oder auf technische Wirklichkeiten<br />

bezieht. In ihren Theorien besteht zwischen beiden Realitäten keine Grenzziehung.<br />

Für die Technologie ist es im Prinzip gleichgültig, ob sie auf wissenschaftlich-theoretischer<br />

Gr<strong>und</strong>lage oder „durch Versuch- <strong>und</strong> Irrtum"<br />

arbeitet; die Entscheidungen werden pragmatisch getroffen.<br />

Damit sind implizit die Unterschiede zwischen Wissenschaft <strong>und</strong> Technologie<br />

schon angesprochen. Auf ihren allgemeinsten Nenner gebracht bestehen<br />

sie darin, daß Wissenschaft letztlich analytisch <strong>und</strong> reduktionistisch<br />

orientiert ist, Technologie dagegen synthetisch <strong>und</strong> holistisch. Diese Unterscheidung<br />

lehnt sich an historisch eingespielte Klassifikationen an, — z.B.<br />

der in analytische <strong>und</strong> technische Mechanik, in analytische <strong>und</strong> synthetische<br />

Chemie in (reduktionistische) genetische Biologie <strong>und</strong> (synthetische)<br />

Gentechnologie. Sie ist auch darauf abbildbar, daß in den Wissenschaften<br />

möglichst einfache Theorien <strong>und</strong> idealisierte Modelle bevorzugt werden,<br />

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während in der Technologie die Zwecke des Designs zur Komplexität zwingen<br />

(Layton 1977, Simon 1969). Verzichtet man an dieser Stelle auf die<br />

Detaildiskussion von Einschränkungen <strong>und</strong> Komplikationen, dann läßt sich<br />

mit Hilfe der Unterscheidung eine wichtige Asymmetrie zwischen Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Technologie formulieren: Die wissenschaftiiche Analyse ist<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich finit <strong>und</strong> gerät zu relativ endgültigen Resultaten, (z.B. verläßliche<br />

Modelle (periodisches System der Elemente) <strong>und</strong> abgeschlossene<br />

Theorien (klassische Mechanik)). Die technologische Synthese ist immer offen<br />

<strong>und</strong> ziellos; sie stellt ein Potential dar, dem immanente Relevanzkriterien<br />

<strong>und</strong> Erkenntnisinteressen fehlen. Diesem Tatbestand entspricht die Angewiesenheit<br />

der Technologie auf Orientierungskomplexe.<br />

Diese Herausstellung von Gemeinsamkeiten <strong>und</strong> Unterschieden zwischen<br />

Wissenschaft <strong>und</strong> Technologie ist idealtypisch. Man kann sie nicht<br />

ohne weiteres auf Organisationen, Berufsfelder <strong>und</strong> Disziplinenbezeichnungen<br />

anwenden. Nach traditionalen Benennungen ausgebildete Wissenschaftler<br />

(Physiker, Biologen) können technologische Forschung betreiben<br />

<strong>und</strong> umgekehrt; die Benennung dieser Forschung hängt wiederum vom Organisationstypus<br />

ab: Dieselbe Tätigkeit wird in der Hochschule Wissenschaft,<br />

im betrieblichen Labor Technologie genannt. Schließlich folgt die<br />

Bezeichnung der Gebiete (engineering sciences; science of the artificial)<br />

stärker legitimatorischen als sachlichen Gesichtspunkten. Dennoch werfen<br />

diese wechselhaften Benennungen kein gr<strong>und</strong>sätzliches Problem auf. Denn<br />

die idealtypische Kennzeichnung von Wissenschaft <strong>und</strong> Technologie soll ja<br />

gerade die enge Wechselwirkung zwischen ihnen herausstellen.<br />

Diese Wechselwirkung wird garantiert durch den gemeinsamen operativen<br />

Wahrheitsbegriff, in dem „Erklären" <strong>und</strong> „Erzeugen", „knowing" and<br />

„doing" amalgamiert sind. Durch diesen Bezugspunkt kann Forschung als<br />

eine Art „Schleuse" funktionieren, über die die Niveauunterschiede zwischen<br />

wissenschaftücher Analyse <strong>und</strong> technischer Synthese, die durch unterschiedliche<br />

Orientierungen entstehen, ausgeglichen werden können. Jede<br />

Technik kann verwissenschaftlicht, jede Wissenschaft kann zur Technologie<br />

werden. Was läßt sich im Ergebnis für den Begriff der technologischen Rationalität<br />

festhalten?<br />

Die technologische Rationalität wird aus zwei Ressourcen gespeist: Auf<br />

der einen Seite ist sie zieloffen <strong>und</strong> bezieht Handlungsinteressen <strong>und</strong> Relevanzkriterien<br />

aus den Orientierungsrahmen. Auf der anderen Seite besteht<br />

eine immanente Beziehung zur wissenschaftlichen Rationalität: Beide sind<br />

über eine im Prinzip nicht unterscheidbare Realitätserkenntnis verknüpft,<br />

die demselben Wahrheitsbegriff unterliegt. Technologische Rationalität<br />

besteht in einer spezifischen Vermittlung dieser beiden Ressourcen. Von<br />

Seiten der Orientierungskomplexe der Technologie aus leistet sie durch Anbindung<br />

an Forschung <strong>und</strong> Wahrheitsentscheid eine Dekontextualisierung<br />

<strong>und</strong> Verwissenschaftlichung der Handlungsziele (Interessen, Präferenzen).<br />

Sie erzeugt „Erkenntnisdruck". Von Seiten des wissenschaftlichen Orientierungskomplexes<br />

aus leistet sie gegenläufig deren Kontextualisierung als<br />

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ökonomisierung <strong>und</strong> Politisierung. Sie erzeugt „Relevanzdruck". Je stärker<br />

diese Beziehungen ausgebaut <strong>und</strong> je flexibler sie genutzt werden, desto<br />

stärker wird der Entwicklungsdruck, den die technologische Rationalität<br />

für alle Orientierungskomplexe erzeugt. Zusammengefaßt in eine These<br />

lautet das Ergebnis:<br />

These 3: Technologische Rationalität besteht in einer speziellen Vermittlungsleistung<br />

zwischen sozialen Handlungszielen <strong>und</strong> Realitätserkenntnis. Je enger sie an<br />

die Forschung geb<strong>und</strong>en ist, desto unabhängiger <strong>und</strong> determinierender kann<br />

diese Vermittlung in beide Richtungen werden. Daher kann durch denselben<br />

Prozeß sowohl die Funktionsfähigkeit als auch ihre Autonomie gesteigert<br />

werden.<br />

4. Stufen der Interdependenz von Industrie <strong>und</strong> Forschung<br />

Bisher haben wir uns mit dem Spezifikum moderner Technik<strong>entwicklung</strong><br />

befaßt: ihrem Charakter als Forschungshandeln <strong>und</strong> der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Ausdifferenzierung der Forschung als Bedingung für ihre „funktionelle<br />

Autonomie". Jetzt wechseln wir die Thematisierungsrichtung <strong>und</strong> betrachten<br />

die Formen, in denen die <strong>gesellschaftliche</strong> Orientierung der Technologie<strong>entwicklung</strong><br />

verlaufen ist. Dabei beschränken wir uns auf den ökonomischen<br />

Orientierungskomplex, der auf die industrielle Entwicklung im Kapitalismus<br />

<strong>und</strong> ihr Verhältnis zur Forschung einwirkt.<br />

Gesellschaftliche Orientierungskomplexe hatten wir bisher phänomenologisch<br />

eingeführt. In analytischer Perspektive lassen sie sich als Rationalitätsmuster<br />

der funktional ausdifferenzierten Subsysteme der Gesellschaft<br />

begreifen, z.B. als Kapitalrechnung in der Wirtschaft, als Machtdifferential<br />

im politischen System oder als operativer Wahrheitsentscheid in der Wissenschaft.<br />

Die meisten vorliegenden gesellschaftstheoretischen Ansätze zum Verhältnis<br />

von Industrie <strong>und</strong> Forschung greifen jeweils eines dieser Rationalitätsmuster<br />

auf <strong>und</strong> leiten daraus für die Orientierung moderner Technologie<strong>entwicklung</strong><br />

jeweils eine „Logik" der Vergesellschaftung, z.B. der Verwissenschaftlichung,<br />

der Subsumtion unter das Kapital oder der Beherrschung<br />

ab. Außerdem neigen sie dazu, die Industrie als empirisches Phänomen<br />

ausschließlich unter der Abstraktion als ökonomisches System zu betrachten,<br />

als ob es nicht eine Politik der Industrie, eine politische Kultur<br />

der industriellen Beziehungen oder eine Industriekultur geben würde, die<br />

für die <strong>gesellschaftliche</strong> Orientierung der technischen Entwicklung ebenfalls<br />

von Bedeutung wären.<br />

Gegenüber diesen reduktionistischen <strong>und</strong> ökonomischen Vorgehensweisen<br />

nehmen wir die Interdependenzen zwischen den ausdifferenzierten<br />

Teilsystemen der Gesellschaft ernst <strong>und</strong> fragen nach dem historischen Wandel<br />

ihrer Intensität <strong>und</strong> ihrer Form. Was in anderen Ansätzen vorab als Sub-<br />

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sumtion der Wissenschaft unter das Kapital oder als Entdifferenzierung von<br />

Ökonomie <strong>und</strong> Forschung interpretiert wird, könnte sich unserer Ansicht<br />

nach bei differenzierter Betrachtung als gesteigerte Interdependenz <strong>und</strong><br />

darauf reagierende reflexive Subsyste<strong>mb</strong>ildung, also als Fortsetzung der<br />

Systemdifferenzierung nach innen, erweisen. Die Frage der Dominanz eines<br />

Teilsystems ist jeweils historisch neu zu stellen <strong>und</strong> empirisch zu untersuchen.<br />

Die industrielle Orientierung moderner Technologie<strong>entwicklung</strong> läßt<br />

sich nicht anhand eines einzigen Rationalitätsmusters hinreichend rekonstruieren.<br />

In <strong>gesellschaftliche</strong> Orientierungskomplexe gehen empirische<br />

Mischungen von Rationalitätsmustern ein, die sich aus den historisch<br />

variierenden Interdependenzbeziehungen ergeben.<br />

Woran lassen sich diese Orientierungsweisen festmachen <strong>und</strong> wie kann<br />

man sich den Wirkungsmechanismus vorstellen?<br />

Auch in dieser Hinsicht ist es vorteilhaft, das Handeln der sozialen<br />

Akteure nicht als Oberflächenausdruck einer tieferen Logik herzuleiten,<br />

sondern die Beziehung zwischen Gesellschafts- <strong>und</strong> Handlungsebene kontingenter<br />

anzusetzen, d.h. auch analytisch radikaler Funktionsbereich <strong>und</strong><br />

soziale Einheit zu entkoppeln. Damit folgen wir der Einsicht, „daß keine<br />

der zentralen Funktionen des Gesellschaftssystems auf ein einheitliches<br />

Organisationssystem übertragen werden kann — <strong>und</strong> zwar heute weniger<br />

als zuvor." (Luhmann 1981, 15) Im <strong>München</strong>er Ansatz der unternehmerischen<br />

Autonomiestrategien wurde dieser Weg schon früh eingeschlagen.<br />

Unter Strategie wird dabei weder eine voluntaristische Entscheidung eines<br />

Akteurs noch ein durch eine Logik objektiv für die Handlungsebene vorgegebener<br />

Imperativ verstanden. Vom voluntaristischen Ansatz grenzt sich<br />

dieser Strategiebegriff ab, indem er sich auf für die Akteure objektive Erfordernisse<br />

<strong>und</strong> Problemkonstellationen in ihrer Umwelt bezieht. Vom<br />

objektivistischen Ansatz unterscheidet er sich durch die Annahme einer<br />

doppelten Kontingenz zwischen System- <strong>und</strong> Akteurebene, wie sie sich<br />

einmal im Verhältnis von Umwelt <strong>und</strong> Strategieformulierung <strong>und</strong> zum<br />

anderen im Verhältnis von Strategie <strong>und</strong> organisatorisch-technischer Implementierung<br />

zeigt (vgl. neuerdings Lutz 1983).<br />

Unter diesem Blickwinkel ist es z.B. auch verkürzt, die soziale Einheit<br />

Industrieunternehmen als rein ökonomische Organisation oder nur als Ort<br />

der Realisation der Kapitalverwertung zu sehen. Das moderne Unternehmen<br />

ist gleichzeitig Element im politischen Entscheidungssystem wie auch ein<br />

Ort der Forschung. Seine Besonderheit läßt sich nur aus der Verknüpfung<br />

der unterschiedlichen Erfordernisse <strong>und</strong> Rationalitätsmuster herleiten, die<br />

sich historisch als bestimmte Strategien herauskristallisiert haben.<br />

„Reflexiv" wollen wir solche Strategien nennen, die Anforderungen<br />

<strong>und</strong> Rationalitätsmuster der in der Umwelt liegenden Handlungssysteme<br />

mit ihrem eigenen Rationalitätsmuster verkoppeln, sie also nicht unterordnen,<br />

verändern oder auflösen. Als These ist festzuhalten:<br />

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These 4:<br />

Der Mechanismus der <strong>gesellschaftliche</strong>n Orientierung erfolgt nicht über die<br />

Durchsetzung konsistenter Rationalitätsmuster oder einer Logik der Handlungsimperative<br />

für Akteure, sondern über „reflexive Strategien", mit denen<br />

die Akteure unterschiedliche <strong>und</strong> z.T. inkonsistente Rationalitätsmuster<br />

ko<strong>mb</strong>inieren.<br />

Wir stellen unseren weiteren Überlegungen wieder eine historische Darstellung<br />

voran.<br />

„Klassische Industrie",<br />

(I. Stufe seit 1760)<br />

Fabrikanten <strong>und</strong> Maschinenerfindung<br />

Forschung <strong>und</strong> Industrie verlaufen weitgehend getrennt voneinander. Es gibt allerdings<br />

einzelne Kontakte zwischen Wissenschaftlern, Erfindern <strong>und</strong> Unternehmern in den wissenschaftlich-technischen<br />

Gesellschaften, z.B. der Lunar Society, der Manchester Literary<br />

and Philosophical Society (das Beispiel der Dampfmaschine: Black-Watt-Boulton).<br />

Die Vermittlung zwischen beiden Bereichen erfolgte wesentlich über die neuen Maschinen,<br />

die von experimentell orientierten Erfindern entwickelt <strong>und</strong> zur technischen Basis<br />

der „großen Industrie" wurden. (Maudsley, Nasmyth) Die Fabrikanten sind nur an der<br />

langfristigen <strong>und</strong> massenökonomischen Verwertung einer einmal getätigten Investition<br />

in die neue Maschinerie interessiert, erfahren jedoch nach einiger Zeit die aus der Erfindungsdynamik<br />

resultierenden Grenzen, wie das schnelle Veralten von Produktionsanlagen<br />

<strong>und</strong> die Verkürzung des Produktzyklus.<br />

„Innovative Industrie", Erfinderunternehmer <strong>und</strong> industrielle Gemeinschaftsforschung<br />

(II. Stufe seit 1860)<br />

Dieses Problem wird in der „innovativen Industrie" zum Bezugspunkt für die Herausbildung<br />

neuer Strategien. Ihr Interesse an fortlaufender Produkt- <strong>und</strong> Verfahrensinnovation<br />

führt zu häufigen, engeren <strong>und</strong> dauerhafteren Kontakten zwischen Forschern<br />

<strong>und</strong> Industrie. Das Drängen der Erfinder zum Patentgeschäft oder zur Firmengründung<br />

trifft sich mit der unternehmerischen Innovationsstrategie. Aus anfänglichen Beraterverträgen<br />

<strong>und</strong> Auftragsforschungen entstehen institutionalisierte Formen der Zusammenarbeit,<br />

wie die Geschäftspartnerschaft, bei der das technologische Wissen in das<br />

Unternehmen hineingeholt wird, oder die industrielle Gemeinschaftsforschung, bei der<br />

Industriebranchen durch Forschungsinstitutionen außerhalb der Unternehmen eine<br />

wissenschaftlich orientierte Lösung ihrer gemeinsamen Probleme dauerhaft organisieren.<br />

„Science-based Industries", Konzerne <strong>und</strong> „Industrieforschung"<br />

(III. Stufe seit 1890)<br />

Vor allem in der elektronischen <strong>und</strong> chemischen Industrie verlagert sich das Interesse<br />

von Einzelerfindungen <strong>und</strong> Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse für bestehende<br />

Produktionsprobleme auf die Monopolisierung von Marktchancen durch Systemerfindungen<br />

<strong>und</strong> Forschungsvorsprünge bei der Suche nach neuen Stoffen <strong>und</strong> Verfahren.<br />

Der Ausbau der kleinen Experimentierlabors zu großen industriellen Forschungsinstitutionen<br />

<strong>und</strong> die Beschäftigung einer großen Anzahl von Wissenschaftlern <strong>und</strong> Ingenieuren<br />

kennzeichnen dieses Stadium der Beziehung. Der Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsprozeß<br />

wird ein funktional selbständiger Bestandteil des Großunternehmens;<br />

industriespezifische Gewichtungen <strong>und</strong> Bewertungen gehen in die kognitive Struktur<br />

der Forschung ein, die als eigenständige „Industrieforschung" neben der Hochschul<strong>und</strong><br />

Staatsforschung sich etabliert.<br />

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korporatistische Akteure <strong>und</strong> wissenschaft­<br />

„Wissenschaftlich-industrielle Komplexe",<br />

lich-reflexive Programmforschung<br />

(IV. Stufe seit 1945)<br />

Die wissenschaftlich-industriellen Komplexe entstanden aus den staatlich koordinierten<br />

Großprojekten (Manhattan, Apollo, Brüterprogramm, Krebsforschung), mit denen Grenzen<br />

einzelunternehmerischer Finanzkraft überw<strong>und</strong>en <strong>und</strong> Probleme intersystemischer<br />

Abstimmung von Wissenschaft, Industrie, Militär <strong>und</strong> Politik gelöst wurden. Mit Hilfe<br />

des vor allem im militärisch-industriellen Komplex während des II. Weltkriegs erprobten<br />

korporatistischen Steuerungsmodells werden um aussichtsreiche Forschungsprogramme<br />

herum Wissenschaftszentren <strong>und</strong> innovative Industrien inklusive ihrer verdichteten<br />

Interaktion <strong>und</strong> günstigen Infrastruktur organisiert (Route 128 um Boston; Silicon<br />

Valley, Science Parcs, Gentechnologische Zentren, Wissenschaftsstädte). Die industrielle<br />

Entwicklung ist zunehmend von der wissenschaftlichen Forschung <strong>und</strong> Entwicklung<br />

abhängig; diese wiederum wird zunehmend von industriellen Prioritäten <strong>und</strong> korporatistischen<br />

Programmentscheidungen abhängig. Die Reflexion der wechselseitigen Interessen<br />

<strong>und</strong> Potentiale wird Bestandteil sowohl der industriellen als auch der wissenschaftlichen<br />

Produktionsstrategie.<br />

5. Kritik reduktionistischer Vergesellschaftungskonzepte<br />

Die skizzierte Entwicklung des Verhältnisses von Industrie <strong>und</strong> Forschung<br />

wird zwar äußerst kontrovers interpretiert; den unterschiedlichen Theorieansätzen<br />

ist jedoch gemeinsam, daß sie den Wandel auf die Vergesellschaftung<br />

durch nur eine vorherrschende Logik zurückzuführen suchen.<br />

Eine Logik der wissenschaftlich-technischen Entwicklung unterstellen<br />

Theoretiker, die eine Umformung oder Ablösung der Industrie durch moderne<br />

Technologie<strong>entwicklung</strong> <strong>und</strong> Verwissenschaftlichungsprozesse behaupten.<br />

Der prominente Postindustrialismus-Theoretiker Daniel Bell z.B.<br />

spricht von der Ablösung der industriellen Gesellschaft, die um die Achse<br />

Fabrikation <strong>und</strong> maschinelle Güterherstellung rganisiert ist, durch eine<br />

nachindustrielle Gesellschaft. Letztere werde durch „das Exponentialwachstum<br />

<strong>und</strong> die Ausdifferenzierung des Wissens, das Aufkommen einer neuen<br />

intellektuellen Technologie, die systematische Forschung durch entsprechende<br />

Gelder <strong>und</strong> all dies krönen <strong>und</strong> zusammenfassend, die Kodifizierung<br />

des theoretischen Wissens" (Bell 1979, 53) hervorgebracht.<br />

In schwächeren Varianten dieses technologischen Transformationsansatzes<br />

wird nur die zunehmende Abhängigkeit der industriellen <strong>und</strong> wirtschaftlichen<br />

Entwicklung von Forschung <strong>und</strong> technologischer Invention<br />

behauptet. In Anknüpfung an Schumpeters (1961) <strong>und</strong> Kondratieffs (1926)<br />

Arbeiten zu kurzen <strong>und</strong> langen Konjunkturzyklen kommt Gerhard Mensch,<br />

einer der interessantesten Vertreter der „technology-push"-These, zu der<br />

empirisch erhärteten Auffassung, daß lange Phasen wirtschaftlichen Aufschwungs<br />

allein durch die Umwandlung von wissenschaftlichen Entdeckungen<br />

<strong>und</strong> Erfindungen in Basisinnovationen <strong>und</strong> die sich daraus ergebende<br />

Dynamik von Innovationsschwärmen zustande kommen. Die nach der<br />

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Verwertungslogik der Industrie bevorzugten Verbesserungs- <strong>und</strong> Scheininnovationen<br />

führten demgegenüber immer wieder in die Depression <strong>und</strong><br />

Stagnation (Mensch 1977, 66 ff.).<br />

Die konsequenteste Formulierung <strong>und</strong> die radikalste Version einer<br />

durch die Logik moderner Technologie<strong>entwicklung</strong> beherrschten Gesellschaft<br />

können wir bei Jacques Ellul finden. Er begreift moderne Technik<strong>entwicklung</strong><br />

— in Abgrenzung zur traditionellen Technik — als verselbständigten<br />

Automatismus von Technikwahlen, der sich ausschließlich am<br />

internen Rationalitätsmuster des „one best way", am Kalkül der technischen<br />

Effizienzsteigerung, orientiert. Zwar sind Konsumenten, Kapitalakkumulation,<br />

Forschungsbüros, Laboratorien <strong>und</strong> Produktionsstätten daran<br />

gleichsam mechanisch beteiligt, es ist jedoch die „kollektive, anonyme<br />

Forschung", welche die Technik mit dem Resultat der ständigen Selbst-<br />

Vermehrung" fortentwickelt (Ellul 1964, 85 f.). Der „Monismus", der<br />

Zwang zur Anschließbarkeit an andere Techniken <strong>und</strong> der „technische<br />

Universalismus" sorgen seiner Ansicht nach dafür, daß alle anderen geographischen<br />

Regionen <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>n Handlungsbereiche dem technologischen<br />

Rationalitätsmuster unterworfen werden. „Today technique<br />

imposes itself, whatever the environment." (Ebda. 118). Aus seinen Bef<strong>und</strong>en,<br />

daß die technische Entwicklung weder von ökonomischen noch von<br />

politischen Entscheidungen konditioniert wird, daß sie weder moralische<br />

Grenzen noch geistige Werte akzeptiert, daß sie vor physikalischen <strong>und</strong> biologischen<br />

Gesetzen nicht haltmacht, sondern sie umgeht, öder in ihrem<br />

Sinne auf Kosten der natürlichen Umwelt nutzt, <strong>und</strong> daß sie als selbstvermehrender<br />

<strong>und</strong> selbst-kontrollierender Prozeß immer weniger auf<br />

menschliche Interventionen angewiesen ist, leitet Jacques Ellul seine<br />

These von der „Autonomie" moderner Technik<strong>entwicklung</strong> ab (ebda.<br />

133 ff.).<br />

Die hier nur kurz angerissenen Gr<strong>und</strong>gedanken einer technologischen<br />

Vergesellschaftungstheorie sollen ausreichen, auf eine wesentliche Stärke<br />

<strong>und</strong> zugleich Schwäche aufmerksam machen zu können. Auf der einen<br />

Seite verleiht die konsequente Behandlung technologischer Forschung <strong>und</strong><br />

Konstruktion als eigenständiges ausdifferenziertes System, das wegen seines<br />

Rationalitätsmusters „Effizienzkalkül" seine Leistungsfähigkeit selbstreferentiell<br />

<strong>und</strong> ohne äußere Stoppregeln grenzenlos steigern kann, diesem Ansatz<br />

eine hohe Geschlossenheit <strong>und</strong> Attraktivität, zumal viele empirisch<br />

beobachtbaren Phänomene sich ihr ohne Problem zuordnen lassen. Auf der<br />

anderen Seite ist diese Geschlossenheit weder logisch noch empirisch mit<br />

dem offenen Prinzip der Effizienz Steigerung vereinbar. Erstens ergibt eine<br />

Steigerung der Steigerung für sich allein keinen Sinn; sie ist kategorial<br />

immer auf eine Referenz angewiesen, z.B. die Steigerung der Produktionssteigerung;<br />

damit verliert sie jedoch ihren autonomen <strong>und</strong> geschlossenen<br />

Charakter. Zweitens mehren sich ständig die Belege dafür, daß es aus technologischer<br />

Sicht viele „best ways" gibt, aus denen dann je nach vorherrschender<br />

Referenz eine Variante ausgewählt wird.<br />

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Im Unterschied zur wissenschaftlichen Erkenntnis, die in der Regel auf<br />

eine eindeutige Lösung abzielt, ergibt sich aus dem Synthesecharakter der<br />

Technik<strong>entwicklung</strong> eine Vielfalt möglicher Konstruktionen. Im Unterschied<br />

zum ökonomischen System, das sich über das Medium Geld selbstreferentiell<br />

steuern kann, besitzt das ausdifferenzierte System der Technologie<strong>entwicklung</strong><br />

mit dem Prinzip der technischen Effizienz kein selbständiges<br />

Rationalitätsmuster <strong>und</strong> bleibt auf Referenzen angewiesen.<br />

Zu ganz anderen Einschätzungen gelangen die Theoretiker, welche die<br />

Vergesellschaftung auf die Logik ökonomischer Entwicklung zurückführen:<br />

Sie sehen statt der Verwissenschaftlichung <strong>und</strong> Entindustrialisierung eine<br />

zunehmende Subsumtion der Wissenschaft unter das Kapital, die sich von<br />

der anfänglichen ökonomischen Orientierung der Erfindung über die an<br />

Verwertungsimperativen ausgerichtete Forschung bis hin zur Industrialisierung<br />

der Wissenschaft steigert.<br />

So einleuchtend auf den ersten Blick die weiche These der „Demand"-<br />

Theoretiker unter den Innovationsökonomen ist, so begrenzt tauglich sind<br />

ihre Ergebnisse, um eine von der Logik des Kapitals determinierte Technologie<strong>entwicklung</strong><br />

empirisch zu erhärten: der Erfindungsfortschritt läßt sich<br />

nicht nur als Steigerung der Arbeits- <strong>und</strong> Kapitalersparnis rekonstruieren;<br />

die ökonomisch einträglichsten Technologie<strong>entwicklung</strong>en entstammen<br />

zum größten Teil nicht-ökonomisch induzierter Forschung <strong>und</strong> es vermehren<br />

sich die Fälle, in denen die Industrie gezwungen ist, kostenvermehrende<br />

Techniken einzuführen, z.B. Kontroll- oder Umweltschutztechnologien.<br />

In der industriesoziologischen Forschung neigen viele Wissenschaftler<br />

dazu, moderne Technologie<strong>entwicklung</strong> durch den Verwertungsprozeß des<br />

Kapitals bestimmt zu sehen. Insofern damit die technischen Verbesserungen<br />

<strong>und</strong> Erneuerungen gemeint sind, die den größten Anteil des betrieblichen<br />

Alltags bisher ausmachten, <strong>und</strong> insofern man sich auf den innerbetrieblichen<br />

Anwendungs- <strong>und</strong> Implementationsaspekt neuer Technologien beschränkt,<br />

mag diese These noch aufrechterhalten werden können. Sobald<br />

jedoch der von uns mit dem Begriff Forschung ausgezeichnete Prozeß<br />

moderner Technologie<strong>entwicklung</strong> angesprochen <strong>und</strong> der einzelbetriebliche<br />

Rahmen in Richtung auf das intersystemische Verhältnis von Industrie<br />

<strong>und</strong> Forschung überschritten wird, verändert sich der Charakter der Behauptung:<br />

sie wird zur „starken" These der reellen Subsumtion der Forschung<br />

unter das Kapital.<br />

Mit diesem Theorem hatte Marx schon den Übergang von der Manufaktur<br />

zur „großen Industrie" Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> in der ersten<br />

Hälfte des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts erfaßt. Vertreter des Frankfurter Instituts für<br />

Sozialforschung griffen es anfangs dazu auf, „einen generellen Strukturwandel"<br />

der Lohnarbeit seit Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts auf den Begriff zu bringen<br />

(Schmiede 1980, 473). Es wurde schließlich in den letzten Jahren zum<br />

„Subsumtions-Modell" ausgebaut, das dem Bedeutungsverlust der Arbeit<br />

<strong>und</strong> dem entsprechenden Bedeutungsgewinn von Technik <strong>und</strong> Wissenschaft<br />

für die kapitalistische Vergesellschaftung im gegenwärtigen 20. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

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esser Rechnung tragen soll (Brandt/Papadimitriou 1983, 145 ff.). Logisch<br />

wird die mögliche „Unterwerfung von Wissenschaft <strong>und</strong> verwissenschaftlichter<br />

Technik unter Prinzipien der Kapitalverwertung" (ebda. 151) mit<br />

der These der „doppelseitigen Subsumtion des Konkreten unter das Abstrakt-Allgemeine",<br />

nicht nur des Gebrauchswerts unter den Wert in Form<br />

des Kapitals, sondern auch „der sinnlichen Erfahrung unter den wissenschaftlichen<br />

Verstand in Form des Schematismus" begründet (Schmiede<br />

1983, 60). Empirisch werden Prozesse der Industrialisierung der Forschung<br />

in den „science-based industries", Prozesse der Rationalisierung <strong>und</strong> Taylorisierung<br />

geistiger Arbeit <strong>und</strong> der „Annektierung der Biologie durch das<br />

Kapital" am Beispiel der Biotechnologie als Belege angeführt. Sie kommen<br />

schließlich zum Ergebnis, „daß mit fortschreitender Organisation des Wissenschaftsbetriebs<br />

der Prozeß wissenschaftlicher Erkenntnis selbst bis in<br />

seine Struktur hin der Steuerung durch Verwertungsimperative unterworfen<br />

wird" (Brandt/Papadimitriou 1983, 153 f.).<br />

Ähnlich wie die Verwissenschaftlichungs-These zieht der Subsumtions-<br />

Ansatz seine Stärken <strong>und</strong> Schwächen aus seiner Geschlossenheit, nur daß<br />

hier die Logik des Kapitals als geschlossenes <strong>und</strong> sich selbst steuerndes<br />

System begriffen wird. Ihr soll es gelingen, den „Prozeß wissenschaftlicher<br />

Reflexion" in einen „Prozeß algorithmischer Problemlösungen zu transformieren"<br />

(Ebda. 152). Es wird zwar eingestanden, daß der Vollzug der<br />

reellen Subsumtion durch Widerstände modifiziert werden kann, jedoch<br />

werden keine systematischen Grenzen dieser kapitalistischen Vergesellschaftungsform<br />

angeführt, z.B. die Unmöglichkeit, geistige Prozesse bei der analytischen<br />

Modellierung vollständig abzubilden, oder die Unmöglichkeit, bei<br />

hoher Systemkomplexität das Optimierungskalkül anzuwenden.<br />

Auch die Konzeptualisierung der Wissenschafts<strong>entwicklung</strong> als Prozessieren<br />

„reiner Verstandestätigkeit" (Schmiede 1983, 60) <strong>und</strong> der Technologie<strong>entwicklung</strong><br />

als „Unterwerfung unter eine abstrakte 'technologische' <strong>und</strong><br />

'ökonomische Rationalität'" (Schmiede 1980, 478) schenkt sich die analytisch<br />

relevante Frage, wie die Interdependenz zwischen Erkenntnis <strong>und</strong><br />

Ökonomie ohne Leistungsverlust organisierbar ist. Bei einer solchen reduktionistischen<br />

Begriffsstrategie, die sich allein durch die Annahme einer<br />

„Analogie" oder einer „strukturellen Affinität" (Ullrich 1982) von Kapitallogik<br />

<strong>und</strong> Wissenschaftlogik legitimiert, geraten die Interdependenzbeziehungen<br />

nicht mehr ins theoretische Blickfeld; <strong>und</strong> Fragen nach den empirischen<br />

Bedingungen gegenseitiger Begrenzung <strong>und</strong> auch gegenseitiger<br />

Leistungssteigerung von Forschung <strong>und</strong> Industrie bleiben ausgeblendet.<br />

Eine dritte Gruppe von Ansätzen läßt sich unter dem Stichwort „Vergesellschaftung<br />

durch die 'Logik' der Beherrschung" zusammenfassen. In<br />

ihren radikalen Varianten wird die moderne Technologie<strong>entwicklung</strong> als<br />

verselbständigte Form von Klassenherrschaft aufgefaßt. Ist die Technologie<br />

z.B. bei Herbert Marcuse aufgr<strong>und</strong> des „zuinnerst instrumentalistischen<br />

Charakters moderner wissenschaftlicher Rationalität nicht nur Mittel, sondern<br />

selbst eine Form sozialer Kontrolle <strong>und</strong> Herrschaft (Marcuse 1968,<br />

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172), läßt sich bei Lewis Mumford die Technikgeschichte aus den Herrschaftsbedürfnissen<br />

der Mächtigen <strong>und</strong> den herrschenden Orientierungen<br />

von „Machtkulturen" (Mumford 1963 <strong>und</strong> 1978) herleiten.<br />

Im „labor-controV'-Ansatz von Harry Braverman <strong>und</strong> Richard Edwards<br />

wird eine machtsoziologische Interpretation kapitalistischer Vergesellschaftung<br />

gegeben. Sie rekonstruieren die technisch-wissenschaftliche<br />

Entwicklung der Produktion als kontinuierlichen Prozeß der Ausweitung<br />

der kapitalistischen Kontrolle über die Arbeitskräfte (Braverman 1977;<br />

Edwards 1981). Bezogen auf mögliche Technikwahlen hat Stephan Marglin<br />

zugespitzt formuliert, daß weder die technologische Effektivität noch die<br />

ökonomische Effizienz, sondern historische Herrschafts- <strong>und</strong> Kontrollinteressen<br />

für die Auswahl entscheidend sind (Marglin 1977). Wichtiger für<br />

unser Thema der Technikerzeugung ist die Studie von David Noble über<br />

die „science-based industries", in der er die „Verheiratung von Wissenschaft<br />

<strong>und</strong> Industrie" auch nach dem Modell der Ausdehnung der Kontrolle des<br />

Kapitals über die wissenschaftliche Entwicklung beschreibt, von der Kontrolle<br />

über das Produkt (Patenterwerb), über die Kontrolle des Forschungs<strong>und</strong><br />

Entwicklungsprozesses (Industrieforschung) bis hin zur Kontrolle der<br />

Infrastruktur (Wissenschaftliche Institutionen, Wissenschaftspolitik) (Noble<br />

1977).<br />

Allerdings sieht er auch einen umgekehrten Einflußprozeß auf das Kapital,<br />

das sich in seiner institutionalisierten Form verändert. Besonders auch<br />

in seiner Fallstudie zur Entwicklung der NC-Technik wird sein analytischer<br />

Bezug auf verschiedene „Logiken" <strong>und</strong> ihre historische Relationierung<br />

deutlich (Noble 1978).<br />

Die Kritik am Überziehen der Logik der Beherrschung wird weitgehend<br />

innerhalb dieser Ansätze selbst schon geleistet. Vor allem historische Studien,<br />

z.B. Craig Littlers Arbeit zur Entwicklung des Arbeitsprozesses im<br />

Kapitalismus (1982), Nobles Arbeit zur Entwicklung der Maschinentechnik<br />

(1984) <strong>und</strong> auch Lothar <strong>und</strong> Irmgard Hacks Arbeiten zur Großindustriellen<br />

Chemie- <strong>und</strong> Biotechnologieforschung (1985a <strong>und</strong> b), machen deutlich, daß<br />

es nicht sinnvoll ist, weiterhin die moderne Technologie<strong>entwicklung</strong> aus nur<br />

einer Logik erklären zu suchen. Damit kommen wir zu der anfangs von uns<br />

vorgeschlagenen Optik zurück.<br />

6. Der Wandel vom industriellen zum wissenschaftlich-reflexiven Strategietyp<br />

Wir gehen von der Existenz mehrerer „Logiken" nebeneinander aus, die als<br />

Ergebnis funktionaler Ausdifferenzierung von Rationalitätsmustern <strong>und</strong><br />

entsprechender Subsysteme angesehen werden.<br />

Organisationen wie Industrieunternehmen, Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsbetriebe<br />

oder akademische Forschungsinstitute sind durch die beson-<br />

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dere Art der Verknüpfung verschiedener Rationalitätsmuster charakterisiert.<br />

Reflexive Strategien der Akteure vermitteln zwischen ihnen. Die<br />

strategische Umwandlung externer Herausforderungen in interne Organisationsstrukturen<br />

schlägt sich in historisch-situativen Lernprozessen nieder<br />

(Vgl. Rammert/Projektgruppe Technikforschung 1985).<br />

Es entsteht zum Beispiel ein schiefes <strong>und</strong> zudem historisch falsches<br />

Bild, wenn der Taylorismus nur als „adäquate Form der Arbeitsorganisation"<br />

aus der Logik des Kapitals (vgl. für viele andere Mendner 1975) oder<br />

wenn er anschließend aus der Logik der Beherrschung <strong>und</strong> Kontrolle der<br />

Arbeitskraft hergeleitet wird (Braverman 1977). Taylorismus als eine reflexive<br />

Strategie begreifen heißt, ihn als historische Ko<strong>mb</strong>ination von Ökonomisierungszielen<br />

<strong>und</strong> Beherrschungsabsichten <strong>und</strong> als situativ herausgebildete<br />

Antwort der Unternehmen auf bestimmte ökonomische <strong>und</strong> politische<br />

Herausforderungen zu untersuchen. Nur so kann die mögliche Vielfalt strategischer<br />

Lösungsversuche (vgl. Littler/Salomon 1983, Wood 1982) erklärt<br />

<strong>und</strong> das Entstehen neuer Strategien in einigen Bereichen, wie das von Horst<br />

Kern <strong>und</strong> Michael Schuman referierte „neue Produktionskonzept" (1984)<br />

oder das von Michael Burawoy nachgezeichnete Konzept der Einbindung<br />

der Arbeiter durch strategisch gewährte Spielräume (Burawoy 1983) entdeckt<br />

werden.<br />

Wenden wir den reflexiven Strategiebegriff auf unsere Problemstellung,<br />

der Analyse der Vergesellschaftung moderner Technologie<strong>entwicklung</strong>, an,<br />

kommen wir auch hier zu anderen Einsichten <strong>und</strong> Ergebnissen als z.B. der<br />

Subsumtions-Ansatz. Dort wird die Entstehung der „science-based industries"<br />

fast ausschließlich als erweiterter Zugriff des Kapitals auf die Forschung<br />

gesehen. Dabei wird die relative Autonomie der Forschung als auf<br />

Dauer vernachlässigbare Widerständigkeit behandelt. Konzeptualisieren wir<br />

den Prozeß als Umorganisation eines Interdependenzverhältnisses zwischen<br />

Forschung <strong>und</strong> Ökonomie, so fällt uns die seit 1890 ansteigende Abhängigkeit<br />

der Unternehmen der elektrotechnischen <strong>und</strong> chemischen Industrie<br />

vom wissenschaftlich induzierten Prozeß der Technologie<strong>entwicklung</strong> auf.<br />

Die rasante Dynamik der Erfindungen, die gesteigerte Konkurrenz um die<br />

Patente <strong>und</strong> die mit der Innovationskonkurrenz beschleunigte Produktveraltung<br />

bedrohte auch die Handlungsfreiheit, vor allem die Berechenbarkeit<br />

<strong>und</strong> Sicherstellung des ökonomischen Erfolgs der Unternehmen. Die<br />

Herausbildung industrieeigener Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsabteilungen<br />

kann daher auch als unternehmerische Strategie interpretiert werden, die<br />

aus der Wissenschaftsdynamik erwachsenden Einschränkungen seiner Autonomie<br />

zu begrenzen. Die Gründung eigener Industrieforschungslabors bedeutete<br />

nicht nur die organisatorische Kontrolle über einen beschränkten<br />

Ausschnitt des gesamten Forschungssystems, sondern auch die Sicherung<br />

des Anschlusses der Industrie an die Entwicklungen im Wissenschaftssystem,<br />

war also auch Ausdruck der strategisch organisierten Interdependenz.<br />

Ein zweiter wesentlicher Gesichtspunkt, der häufig übersehen oder unterschätzt<br />

wird, ist die Tatsache, daß mit der Hereinnahme der Forschung<br />

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in das Industrieunternehmen Probleme der Integration der verschiedenen<br />

Rationalitätsmuster entstehen: die Unterordnung des „stochastischen"<br />

Forschungsprozesses unter die strengen betriebswirtschaftlichen ökonomisierungsverfahren<br />

würde gerade die gewünschte Steigerung des Innovationspotentials<br />

verhindern. Die Unterwerfung des wissenschaftlich arbeitenden<br />

Forschungspersonals unter Methoden der bürokratisch-industriellen Kontrolle<br />

würde die erwartete Kreativität <strong>und</strong> wissenschaftliche Produktivität<br />

stark einschränken. Sollen weder die ökonomischen Ziele der industriellen<br />

Ökonomie gefährdet noch die innovative Kapazität der industriellen Forschung<br />

beeinträchtigt werden, müssen sich im Vergleich zur klassischen<br />

industriellen Strategie offenere <strong>und</strong> reflexivere Formen der Verknüpfung<br />

der beiden Rationalitätsmuster herausbilden. Diese reflexive Strategie gibt<br />

sich durch die Abkehr von der „Unterordnung" zur „unternehmerisch organisierten<br />

Autonomie", von der „direkten Einwirkung" zur „Orientierung"<br />

durch Struktur- <strong>und</strong> Umweltvorgaben <strong>und</strong> von der „hierarchischen Integration"<br />

zur projektbezogenen „Selbstorganisation" von Interdependenzbeziehungen<br />

zu erkennen (vgl. Rammert 1983).<br />

Als These halten wir fest:<br />

These 5:<br />

Die Herausbildung der „science-based industries" wird mit dem Begriff der<br />

„Industrialisierung der Wissenschaft" <strong>und</strong> der These der einseitigen Ausweitung<br />

der industriellen Kontrolle über den Forschungsprozeß nur unzureichend<br />

erfaßt. Die gleichzeitige „Verwissenschaftlichung der Industrie", die zunehmende<br />

Abhängigkeit des ökonomischen Erfolgs von der internen Innovationskapazität<br />

<strong>und</strong> vom Anschluß an die externen wissenschaftlich-technologischen<br />

Entwicklungstrends, verweisen auf die tendenzielle Ablösung des industriellen<br />

durch einen wissenschaftlich-reflexiven Strategietyp.<br />

Die Herausbildung korporatistisch organisierter wissenschaftlich-industrieller<br />

Komplexe in der Gegenwart, vom Manhattan-Projekt bis zur japanischen<br />

MITI-Politik, stellt eine qualitativ neue Stufe der Interdependenz von Industrie<br />

<strong>und</strong> Forschung dar, die über das Muster der „science-based industries"<br />

hinausgeht. Auf dieser Stufe erhöhter Komplexität wird das Versagen reduktionistischer<br />

Vergesellschaftungstheorien besonders offensichtlich:<br />

Die Verlängerung <strong>und</strong> zeitliche Phasendifferenzierung moderner Technik<strong>entwicklung</strong><br />

lassen es immer weniger zu, nur das Industrieunternehmen<br />

oder das Forschungsinstitut als bevorzugten sozialen Ort der Realisierung<br />

der entsprechenden Logik zu behandeln. Von der Gr<strong>und</strong>lagenforschung bis<br />

zur Implementation gibt es verschiedene Instanzen, in die jeweils unterschiedliche<br />

soziale Akteure eingreifen können. Herbert Kitschelt (1980),<br />

Joachim Radkau (1983) <strong>und</strong> Otto Keck (1984) haben diese Vielfalt von politischen<br />

Arenen, von Akteuren <strong>und</strong> ihren Rationalitätsmustern sowie ihrer<br />

sich fördernden oder begrenzenden Interdependenzen am Beispiel der Kernforschungspolitik,<br />

ihrer Geschichte <strong>und</strong> am Fall der Brutreaktor<strong>entwicklung</strong><br />

aufgezeigt.<br />

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Die Ausdehnung moderner Technologien über die Subsystemgrenzen<br />

hinaus — diese Tendenz wird meist als „Großtechnologie" angesprochen —<br />

vergrößert das Spektrum der betroffenen Bereiche sowie der mit ihr in Beziehung<br />

kommenden Akteure. Am Projekt der Breitbandverkabelung sind<br />

nicht nur unterschiedliche Anbieter-, Anwender- <strong>und</strong> Entscheider-Akteure<br />

beteiligt (Mettler-Meibom 1983), sie differenzieren sich noch weiter in<br />

profitierende <strong>und</strong> auskonkurrierte Industriefraktionen <strong>und</strong> in fördernde,<br />

reformierende oder boykottierende Politikfraktionen.<br />

Angesichts solcher Interessenvielfalt ist die Durchsetzung nur einer<br />

Logik nicht nur unwahrscheinlich, sondern führt geradezu den Mißerfolg<br />

herbei. Es scheinen sich vielmehr korporatistische Zwischengremien als<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Orientierungsinstanzen herauszubilden, in denen durch<br />

die Koordination der reflexiven Strategien zentraler Akteure der erhöhten<br />

Interdependenz Rechnung getragen wird.<br />

Als These fassen wir zusammen:<br />

These 6: Der zeitlich verlängerte <strong>und</strong> der grenzüberschreitende Charakter moderner<br />

Technologie<strong>entwicklung</strong> hat die Zahl der sozialen Instanzen <strong>und</strong> der sozialen<br />

Akteure so sehr vermehrt, daß die Steuerung von außen über eine Logik<br />

immer unwahrscheinlicher <strong>und</strong> durch eine „reflexiv koordinierte Selbststeuerung"<br />

abgelöst wird.<br />

Dieser Strategietyp muß sowohl die konfliktreiche Verflechtung der Rationalitätsmuster<br />

miteinander als auch die reflexive Antizipation der anderen<br />

Akteurstrategien einbeziehen können, um angesichts der gesteigerten Interdependenz<br />

<strong>und</strong> Kontingenz Technologie<strong>entwicklung</strong> orientieren zu können.<br />

Unsere Ausführungen lassen sich in der These resümieren:<br />

These 7:<br />

Moderne Technologie<strong>entwicklung</strong> kann nur dadurch industriell strategisch<br />

orientiert werden, daß ihrem Charakter als Forschung durch eine reflexiv<br />

organisierte Autonomie ihres Erzeugungsprozesses Rechnung getragen wird.<br />

Während bei der Funktionalisierung der Forschung ihre Leistung beschränkt<br />

würde, wird bei gelungener reflexiv organisierter Interdependenz gerade durch<br />

die wechselseitige Begrenzung der Handlungsspielräume eine gemeinsame<br />

Leistungssteigerung möglich: in diesem Fall die der ökonomischen Effizienz<br />

<strong>und</strong> der wissenschaftlichen Innovativität.<br />

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GEWERKSCHAFTLICHE TECHNOLOGIEPOLITIK ZWISCHEN<br />

STATUSSICHERUNG UND ARBEITSGESTALTUNG*<br />

Eckart Hüdebrandt, Rüdiger Seltz<br />

Einleitung<br />

Es dürfte keinem Zweifel mehr unterliegen, daß die veränderte wirtschaftliche<br />

Situation in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland sowie der massive Einsatz<br />

von neuer Datentechnologie in den Betrieben die Arbeitssituation der<br />

Beschäftigten deutlich beeinflußt haben. Weniger wird diskutiert, welchen<br />

Einfluß diese Entwicklungen direkt <strong>und</strong> indirekt auf die Möglichkeiten <strong>und</strong><br />

Perspektiven von Gewerkschaftspolitik haben. Im Mittelpunkt stehen häufig<br />

die Auswirkungen einer breiten Technik-Anwendung <strong>und</strong> neuer Management-Strategien.<br />

Neuere Analysen des Rationalisierungsprozesses in der<br />

Industrie haben zu der Annahme geführt, daß sog. Neue Produktionskonzepte<br />

(Kern/Schumann 1984a) zunehmend die Strategie der Unternehmen<br />

bestimmen. Die Nutzung der Gestaltungsmöglichkeiten neuer Technologien<br />

zusammen mit einer umfassenden Nutzung des menschlichen Arbeitsvermögens<br />

führe zumindest in prosperierenden Teilbereichen der Industrie zu<br />

einer „Reprofessionalisierung" von Facharbeit, der Abschwächung von<br />

Herrschaft als Rationalisierungsziel <strong>und</strong> zu einer teilweisen Stärkung der<br />

Position der betrieblichen Interessenvertretung. Eine solche These hat natürlich<br />

für die zukünftigen Anforderungen an Gewerkschaftspolitik eine<br />

zentrale Bedeutung, da sie eine (neue) Gewährleistung von Gewerkschaftszielen<br />

— ohne deren Intervention — über eine zumindest partielle Interessenidentität<br />

nahelegt.<br />

Der folgende Beitrag bezieht sich an verschiedenen Stellen auf diese<br />

These, die sicher für eine längere Zeit die Auseinandersetzung bestimmen<br />

wird. Dazu werden in einem ersten Teil die neuen <strong>gesellschaftliche</strong>n Rahmenbedingungen<br />

von Gewerkschaftspolitik skizziert,<br />

im zweiten Teil einige wesentliche Aussagen der „Neuen Produktionskonzepte"<br />

diskutiert, <strong>und</strong><br />

im dritten Teil wird versucht, die veränderten <strong>gesellschaftliche</strong>n <strong>und</strong> betrieblichen<br />

Bedingungen zu einem Ansatz gewerkschaftlicher Gestaltungspolitik<br />

zusammenzuführen.<br />

Die empirischen Hinweise im Mittelteil basieren auf vorläufigen Ergebnissen des<br />

Forschungsprojekts „Politik <strong>und</strong> Kontrolle beim Einsatz computergesteuerter<br />

Produktionsplanung <strong>und</strong> -Steuerung", das von G. Dörr/E. Hildebrandt/R. Seltz<br />

am Wissenschaftszentrum Berlin/Schwerpunkt Arbeitspolitik durchgeführt wird.<br />

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Teil I: Rahmenbedingungen zukünftiger Gewerkschaftspolitik<br />

Eine steigende Anzahl von Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwissenschaftlern geht von<br />

einer zunehmenden Segmentierung der Volkswirtschaft aus. Sie unterscheiden<br />

z.B. einen sog. funktionierenden Kernbereich (z.B. Chemieindustrie,<br />

Automobilindustrie, Elektronikindustrie), krisenbestimmte Branchen (z.B.<br />

Bergbau, Stahl <strong>und</strong> Werften), sowie den Bereich der Arbeitslosigkeit (sog.<br />

Schattenwirtschaft). Für eine solche Entwicklungstendenz gibt es insbesondere<br />

in anderen westlichen Industrienationen ausreichende Indikatoren.<br />

Bisher war die ökonomische Gr<strong>und</strong>lage der nationalen Gewerkschaftspolitik<br />

die Ausweitung der Industrialisierung auf weitere Wirtschaftsbereiche<br />

<strong>und</strong> Gruppen der Arbeitsbevölkerung, das Wachstum der Produktionseinheiten<br />

<strong>und</strong> die Homogenisierung von Arbeitsverhältnissen <strong>und</strong> -bedingungen.<br />

Sie ermöglicht eine Politik, die eine Verallgemeinerung <strong>und</strong> Angleichung<br />

von Arbeits- <strong>und</strong> Einkommensbedingungen auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

möglichst umfassender Organisierung verfolgte.<br />

Aus der Auseinander<strong>entwicklung</strong> von ökonomischen Strukturen (Segmentierung<br />

<strong>und</strong> Flexibilisierung) <strong>und</strong> dem Politikziel der Verallgemeinerung<br />

<strong>und</strong> Angleichung ergeben sich gravierende Gefährdungen gewachsener<br />

Gewerkschaftspolitik:<br />

— eine quantitative Schwächung der Organisationsmacht durch Verringerung<br />

des traditionellen Mitgliederpotentials;<br />

— eine zunehmende Durchbrechung des Politikziels der Angleichung<br />

durch eine Segmentierung der Wirtschaftsbereiche, des Arbeitsmarktes<br />

<strong>und</strong> der Arbeitsverhältnisse.<br />

Die mangelnde Anpassung der Gewerkschaftspolitik an diese neue Konstellation<br />

hat bereits zu einer faktischen Aushöhlung des Verallgemeinerungs<strong>und</strong><br />

Angleichungspostulats geführt: durch eine „Entgewerkschaftlichung"<br />

bestimmter Sektoren <strong>und</strong> durch die Konzentration von Politik auf traditionelle<br />

Kerngruppen der Beschäftigten.<br />

Die b<strong>und</strong>esdeutschen Gewerkschaften stehen also vor dem Problem,<br />

ob sie bei veränderten ökonomischen (<strong>und</strong> politischen) Gr<strong>und</strong>lagen entweder<br />

das Ziel der Verallgemeinerung <strong>und</strong> Angleichung aufrechterhalten<br />

<strong>und</strong> entsprechende Politiken entwickeln <strong>und</strong> vorrangig-propagieren sollen;<br />

oder aber mit einer Segmentierung der Gewerkschaftspolitik reagieren in<br />

dem Sinne, daß sie in den verschiedenen Segmenten organisieren <strong>und</strong> dort<br />

unterschiedliche Politiken (<strong>und</strong> wenn: welche?) verfolgen;<br />

oder aber sich auf einen funktionierenden Kernbereich beschränken, in<br />

dem Mindeststandards an Arbeitsverhältnissen (Arbeitsvertragsdauer, Arbeitszeit,<br />

Mindesteinkommen) <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen (Tätigkeitsanforderungen,<br />

Arbeitsschutzmaßnahmen etc.) aufrechtzuerhalten oder sogar zu<br />

verbessern sind.<br />

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Sicherlich sind Tendenzen in alle drei Richtungen vorhanden. Besonders<br />

eine pragmatische Politik der Einzelgewerkschaften bei einem schwachen<br />

Dachverband sowie eine betriebszentrierte (Betriebsrats-)Politik, die am<br />

stärksten auf aktuelle Gefährdungen im eigenen Organisationsbereich reagieren,<br />

tendieren zur Segmentierung. Damit einher geht dann die Unmöglichkeit,<br />

eine über soziale Zugeständnisse <strong>und</strong> Korrekturen hinausgehende<br />

Politik zu konzipieren <strong>und</strong> durchzusetzen. Gewerkschaftliche Politik wird<br />

zum Reflex der Sektoren- bzw. Unternehmens<strong>entwicklung</strong>. Demgegenüber<br />

wäre Bedingung einer übergreifenden Politik, daß der Dachverband DGB im<br />

Sinne perspektivischer Denkanstöße, Strategievorschläge, Koordination<br />

<strong>und</strong> Hilfestellung gestärkt wird.<br />

Das Problem läßt sich also in einer Weise bestimmen, daß das Ziel der<br />

Verallgemeinerung <strong>und</strong> Angleichung auf veränderter historischer Gr<strong>und</strong>lage<br />

neu formuliert <strong>und</strong> nur mit einer neu konzipierten Politik angestrebt werden<br />

kann. Dazu gehört, daß<br />

erstens die Gewerkschaften im funktionierenden Kernbereich der Wirtschaft<br />

so stark <strong>und</strong> zudem bereit sind, Umverteilungsforderungen aufzustellen<br />

<strong>und</strong> durchzusetzen, die der Segmentierung entgegenwirken;<br />

zweitens die Gewerkschaften sich in den ,,nicht-funktionierenden Randbereichen"<br />

darauf orientieren, zumindest vorübergehend auch abweichende<br />

Arbeitsverhältnisse zu organisieren, um damit auch dort Gegenkräfte gegen<br />

die Segmentierung aufzubauen, <strong>und</strong> es<br />

drittens gelingt, die Produkt- <strong>und</strong> Produktionspolitik im funktionierenden<br />

Kernbereich so zu beeinflussen (zu gestalten), daß die fortschreitende<br />

Produktion von Arbeitslosigkeit <strong>und</strong> unterwertigen Arbeitsverhältnissen<br />

gestoppt oder sogar umgekehrt wird. Denn der funktionierende Kernbereich<br />

ist qua Definition der Bereich, in dem die Produktionstechnologien<br />

<strong>und</strong> Produkte hergestellt werden, die Fertigungsverfahren, Dienstleistungen<br />

<strong>und</strong> damit Arbeitsbeziehungen, Tätigkeiten <strong>und</strong> Arbeitssituationen strukturieren.<br />

Die Produktions- <strong>und</strong> Produktpolitik der Unternehmen hat ja im<br />

Zusammenwirken mit dem Konsumverhalten der Bevölkerung zu einer<br />

Vernutzung <strong>und</strong> Schädigung natürlicher Ressourcen geführt, die sich zu<br />

einer sich immer bedrohlicher abzeichnenden ökologischen Schranke<br />

traditioneller Industriepolitik verdichtet hat. Diese ökologische Schranke<br />

wird damit zugleich Schranke für traditionelle Gewerkschaftspolitik (vgl.<br />

die Entgegensetzung von Umweltschutz <strong>und</strong> Arbeitsplatzsicherung).<br />

Alle drei Bedingungen stellen gegenüber der Wachstumsphase der 60er<br />

<strong>und</strong> 70er Jahre neuartige Anforderungen an Gewerkschaftspolitik in dem<br />

Sinne, daß in einer sektorbezogenen Politik zumindest die Perspektive einer<br />

sektorübergreifenden Angleichung materiell enthalten sein müßte.<br />

Traditionelle Gewerkschaftsforderungen beruhen auf den materiellen<br />

Interessen der Mitglieder, d.h. erfahrbaren, sichtbaren Mängeln der eigenen<br />

Arbeitssituation (unzureichendes verfügbares Einkommen, Arbeitsbelastungen,<br />

Dequalifizierung etc.) <strong>und</strong> zielen auf direkte persönliche Verbesserungen.<br />

Den o.g. Politiken dagegen fehlt diese persönliche Unmittelbarkeit,<br />

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indem sie nur indirekte, zeitlich versetzte <strong>und</strong> noch nicht einmal genau zu<br />

kalkulierende Effekte für die Gewerkschaftsmitglieder erbringen. Noch gravierender,<br />

sie können als Umverteilungspolitik innerhalb der Arbeitsbevölkerung<br />

sogar zu einem Abzug vom möglichen Forderungsvolumen im funktionierenden<br />

Kernbereich zugunsten der anderen Bereiche führen — also<br />

nicht Besitzstandswahrung <strong>und</strong> -mehrung, sondern gesellschaftspolitische<br />

Umverteilung im Interesse der Gesamtorganisation. Diese Problematik hat<br />

sich erstmals bei den vergangenen Verhandlungen um Arbeitszeitverkürzung<br />

voll entfaltet <strong>und</strong> dürfte — neben den Auswirkungen der Krise — eine Ursache<br />

dafür sein, daß „die Basis in den Betrieben zurückweicht".<br />

Mit diesen einleitenden Bemerkungen sollte im wesentlichen darauf hingewiesen<br />

werden, daß sowohl die Gewerkschaften wie auch — allerdings in<br />

anderer Weise — die Unternehmen unter dem Einfluß starker <strong>und</strong> veränderter<br />

globaler Entwicklungen stehen, die die Gestaltungsautonomie nach<br />

außen weitgehend einschränken <strong>und</strong> die sowohl eine veränderte Gewerkschaftspolitik<br />

wie auch neue Managementkonzepte erfordern. Es erscheint<br />

uns daher in jedem Fall als verkürzt <strong>und</strong> wenig perspektivisch, die Anforderungen<br />

<strong>und</strong> Möglichkeiten für Gewerkschaftspolitik maßgeblich auf Branchen-<br />

oder Betriebsebene bzw. aus neuen Rationalisierungsstrategien der<br />

Unternehmen abzuleiten. Deren Situation ist viel außengeleiteter <strong>und</strong> unsicherer,<br />

als z.B. die Darstellungen über Rationalisierungsstrategien erkennbar<br />

werden lassen.<br />

Teil II: Flexible Automatisierung — „Neue Produktionskonzepte"<br />

am Beispiel des Maschinenbaus<br />

Aus dem ersten Teil können wir die These mit herübernehmen, daß die Gestaltungsautonomie<br />

der Unternehmen durch neue Markt<strong>entwicklung</strong>en,<br />

schnelle technologische Interventionsschübe, politische Konstellationen<br />

<strong>und</strong> soziale Entwicklungen erstens stark eingegrenzt <strong>und</strong> zweitens in der<br />

Perspektive stark verunsichert ist.<br />

Da die Möglichkeiten, die sich verändernden Anforderungen zu beeinflussen<br />

bzw. zu neutralisieren i.d.R. gering sind, konzentrieren sich die<br />

Unternehmen auf die interne Anpassung an externe Anforderungen.<br />

Bei den „Neuen Produktionskonzepten" sehen wir die Tendenz, daß<br />

sich die Marktanforderungen im funktionierenden Kernbereich relativ<br />

bruchlos in geschlossene Managementstrategien umzusetzen scheinen, sich<br />

als solche im Betrieb implementieren lassen <strong>und</strong> auch Interessen der Produktionsarbeiter<br />

positiv aufnehmen. Wir wollen diese Thesen an einem<br />

spezifischen Ausschnitt des Bereichs überprüfen, für den solche „Neuen<br />

Produktionskonzepte" angenommen werden. Nach unseren Erfahrungen<br />

bezüglich der Einführung von Produktionsplanungs- <strong>und</strong> -steuerungssystemen<br />

im Maschinenbau — ein Sektor des Kernbereichs mit hohem, traditio-<br />

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nellem Bestand an Produktionsintelligenz — dürfte der derzeitige Stand eher<br />

dadurch gekennzeichnet sein, daß konsistente <strong>und</strong> alternative Konzepte in<br />

der Betriebsrealität kaum existieren, also Konzepte, die z.B. eine Klassifizierung<br />

in einerseits eindeutig zentral-deterministische <strong>und</strong> andererseits<br />

dezentral-offene Systeme zulassen. Solche Konzepte sind eher als Orientierung<br />

oder Philosophie bei einzelnen Vertretern der Unternehmensleitungen<br />

präsent. Dazu trägt die Erkenntnis bei, daß erst die betriebsspezifische<br />

Anpassung <strong>und</strong> Auslegung über die Funktionalität <strong>und</strong> Effektivität<br />

der Systeme entscheidet. Unsere These ist, daß unter veränderten externen<br />

Anforderungen eine betriebspolitische Ausdifferenzierung von Technikpotentialen<br />

stattfindet. Das bedeutet, daß es sich bei der computergestützten<br />

Modernisierung von Planung <strong>und</strong> Steuerung, oder allgemeiner gesprochen,<br />

den neuen Produktionskonzepten, weniger um eine schlanke innerbetriebliche<br />

Realisierung von aufgeklärten Managementvorstellungen handelt,<br />

sondern auch um das Resultat innerbetrieblicher (realer oder antizipierter)<br />

Konflikte, Aushandlungen, Kompromiß findungen <strong>und</strong> Regelungen.<br />

Produktionskonzepte sind demnach Resultat funktionaler <strong>und</strong> betriebspolitischer<br />

Anforderungen im Rahmen der betrieblichen Gesamtarbeit.<br />

D.h., über „Konkreta der Produktionskonzepte" (Kern/Schumann) wird<br />

auf verschiedenen betrieblichen Ebenen unter der Beteiligung verschiedener<br />

betrieblicher Gruppen gerungen.<br />

Da der Bezugspunkt betrieblicher Reorganisation die betriebliche Gesamtarbeit<br />

ist, muß es außerdem neben dem Bezug auf neue Facharbeit<br />

weitere „Produktionskonzepte" für die anderen relevanten Gruppierungen<br />

im Betrieb (Ingenieure etc.) geben. Die Frage besteht dann gerade darin,<br />

ob sich im Betrieb unter diesen beiden Bedingungen (Produktionskonzepte<br />

als betriebspolitisches Resultat, Bezug auf Gesamtarbeit) solche „fortschrittlichen"<br />

Produktionskonzepte für eine betriebliche Gruppe (z.B.<br />

Facharbeiter in der Werkstatt) überhaupt durchsetzen bzw. welche Modifikation<br />

stattfindet.<br />

Die Gr<strong>und</strong>tendenz von Managementkonzepten wird sicher nach wie vor<br />

von „tayloristischen Vorstellungen" geprägt, also klarer Ablauforganisation<br />

<strong>und</strong> Aufgabenzuweisung, Vorgabe <strong>und</strong> Kontrolle von Eckpunkten der Fertigung,<br />

Transparenz über die Werkstatt <strong>und</strong> zunehmend stärker auch über<br />

die produktionsvorbereitenden Bereiche (Arbeitsvorbereitung, Konstruktion<br />

usw.).<br />

Darin ist eine Negativvorstellung menschlicher Tätigkeit impliziert, die<br />

sich als Arbeitseinsparung sowie Steuerung <strong>und</strong> Kontrolle von Tätigkeiten<br />

charakterisieren läßt. Die Gegenvorstellung, daß der „Mensch im Mittelpunkt"<br />

stehe, ist zunächst eine soziale Attitüde, die erst in einem späteren<br />

Stadium, bei der Feinplanung der Systeme, reale arbeitspolitische Gestaltungskraft<br />

erhalten könnte.<br />

Wir wollen uns daher im folgenden mit zwei Faktoren beschäftigen,<br />

die eine neue Dynamik in die Arbeitsgestaltung bei informationstechnologischen<br />

Rationalisierungen hineinbringen <strong>und</strong> für gewerkschaftliche Ansätze<br />

zur Gestaltungspolitik relevant sind:<br />

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1. dem Charakter betrieblicher Einführungs- <strong>und</strong> Anpassungsprozesse<br />

von Informationssystemen;<br />

2. der Abhängigkeit von menschlichem Wissen, Erfahrung <strong>und</strong> Kreativität<br />

bei flexibler Fertigung <strong>und</strong> deren Kontrolle.<br />

Wir konzentrieren uns folglich auf das moderne, technologiegeprägte<br />

Segment.<br />

1. Der Charakter betrieblicher Einführungs- <strong>und</strong> Anpassungsprozesse von<br />

Informationssystemen<br />

Die betrieblichen Einführungsprozesse erhalten daraus ihre Bedeutung, daß<br />

neue computergestützte Produktionsplanungs- <strong>und</strong> Steuerungssysteme sowie<br />

parallel neue Maschinensteuerungstechnologien auf die spezifischen Marktbedingungen,<br />

das Produktsortiment, die Ablauforganisation, die Fertigungsstrukturen<br />

<strong>und</strong> natürlich auf bereits vorhandene, bereichs- <strong>und</strong> funktionsspezifische<br />

Informations- <strong>und</strong> Kommunikationssysteme abzustimmen sind.<br />

Da diese Systeme das Potential zu einer erheblichen Reorganisation der fertigungsbezogenen<br />

Planungs-, Steuerungs- <strong>und</strong> Kontrollfunktionen enthalten,<br />

berühren sie den Status <strong>und</strong> die Tätigkeit verschiedener Abteilungen,<br />

ihre Kooperationsbeziehungen <strong>und</strong> die betriebliche Binnenkommunikation.<br />

Da diese Systeme bestehende Datenbestände <strong>und</strong> Informationsflüsse aufgreifen,<br />

sind sie auf den Wissens- <strong>und</strong> Informationstransfer <strong>und</strong> auf die<br />

laufende Mitarbeit dieser Abteilungen <strong>und</strong> Systeme angewiesen.<br />

Unter diesen Bedingungen haben wir u.a. folgende Probleme <strong>und</strong> Prozesse<br />

beobachtet:<br />

(1) Unternehmen mittlerer Betriebsgröße verfügen i.d.R. kaum über Erfahrungen,<br />

die neuen marktmäßigen <strong>und</strong> technologiebezogenen Anforderungen<br />

nach innen umzusetzen <strong>und</strong> die Unternehmensplanung auf eine neue Basis<br />

zu stellen. Es gibt i.d.R. kein auf oberer Ebene institutionalisiertes <strong>und</strong> professionelles<br />

Projektmanagement. Bei der Einführung neuer Technologien<br />

gibt es im Gegenteil einige strukturelle Hemmnisse im Organisationsaufbau<br />

der Unternehmen. Solche sind z.B. ein dominierendes Hauptabteilungsdenken<br />

(„Fürstentümer"), es sind unterschiedliche Interessenlagen nach betrieblichen<br />

Funktionen (z.B. die Interessendifferenz zwischen Konstruktion<br />

<strong>und</strong> Vertrieb) <strong>und</strong> die oft defizitäre Organisation von Innovationsprozessen.<br />

Daher werden z.B. neue PPS-Systeme bei der Einführung im Betrieb von<br />

ausgesprochenen Protagonisten der mittleren Managementebene (Fachabteilungen)<br />

getragen <strong>und</strong> d.h. ohne aktive Beteiligung von Facharbeitergruppen,<br />

wie das bei den „Neuen Produktionskonzepten" erscheint.<br />

Von der Stellung dieser Protagonisten, ihrer Durchsetzungsfähigkeit<br />

im Betrieb, der Möglichkeit zur Koalitionsbildung <strong>und</strong> letztlich von der betrieblichen<br />

Organisationsstruktur hängt es entscheidend ab, ob, wie schnell<br />

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<strong>und</strong> mit welchen Einschränkungen das Projekt im Betrieb angenommen<br />

wird.<br />

(2) Die Projekt-, Grob- <strong>und</strong> Feinplanung wird zunehmend in zeitlich befristeten<br />

Teams, häufiger unter Hinzuziehung von externen Syste<strong>mb</strong>eratern<br />

organisiert. Es werden aus den berührten Abteilungen Systemgruppen gebildet,<br />

die die zukünftigen Funktions-Kreisläufe des Systems widerspiegeln.<br />

In der Feinplanung bildet eine solche Systemgruppe bereits die Folie eines<br />

zukünftigen Arbeitszusammenhangs, der bisherige, rigidere Formen der<br />

horizontalen <strong>und</strong> vertikalen Arbeitsteilung partiell auflöst. Im Planungsprozeß<br />

selbst findet also Wissenstransfer von den beteiligten Mitarbeitern<br />

in das System wie auch Vermittlung von Systemwissen an die Mitarbeiter<br />

statt. Es findet darüber hinaus auch eine Aushandlung von funktionalen,<br />

positioneilen <strong>und</strong> sozialen Interessen statt. Die Aushandlung insbesondere<br />

der sozialen Interessen <strong>und</strong> ihre Bedeutung für die Systemeinführung <strong>und</strong><br />

Systemauslegung sind im Betrieb gr<strong>und</strong>sätzlich de thematisiert <strong>und</strong> sozialwissenschaftlich<br />

bisher wenig erforscht. Da der Entwurf <strong>und</strong> die strategische<br />

Planung solcher Systemkonzeptionen in kleinen Gruppen auf mittlerer<br />

<strong>und</strong> oberer Managementebene stattfindet <strong>und</strong> der Betriebsrat i.d.R. als<br />

anerkannter „Vertreter sozialer Interessen" davon ausgeschlossen ist, gibt es<br />

dabei auch keine Instanz, Kompetenz <strong>und</strong> Honorierung für das Einbringen<br />

sozialer Positionen.<br />

Wir vertreten die These, daß die gewachsenen Statuspositionen betrieblicher<br />

Gruppen gerade im traditionellen Maschinenbau das Veränderungspotential<br />

entscheidend beeinflussen. Entscheidungen werden maßgeblich nicht durch<br />

Rationalität <strong>und</strong> Überzeugung (rationales Entscheidungsmodell), sondern<br />

durch Blockieren, Verweigern, Verschleppen <strong>und</strong> Verlagern bestimmt (politisches<br />

Entscheidungsmodell, non-decision).<br />

In diesem 'Blockieren' drückt sich aber nicht nur ein diffuser „Skeptizismus"<br />

oder „Inflexibilität" aus, sondern auch das Interesse an der Erhaltung<br />

gewachsener <strong>und</strong> bewährter Schutzfunktionen, die von der angestrebten<br />

Reorganisation in Frage gestellt werden können. Die Abwägung des Nutzens<br />

der Managementkonzepte für den einzelnen gegenüber den bewährten,<br />

personenbezogenen Schutzmechanismen ist für die meisten betrieblichen<br />

Gruppen weder soweit geklärt noch so eindeutig, wie das in der Perspektive<br />

der fortschrittlichen Produktionskonzepte aufscheint. Wenn dieser soziale<br />

Aushandlungsprozeß negiert wird, bzw. in ihm kein Kompromiß gef<strong>und</strong>en<br />

wird, führt das zur Ineffektivität des Systems, zu Unzufriedenheit <strong>und</strong> z.B.<br />

zum Auseinanderfallen von offiziellen Plandaten <strong>und</strong> realem Arbeitsprozeß.<br />

D.h., daß das am Anfang stehende Managementkonzept sich in beiden Fällen<br />

nicht ungebrochen realisieren läßt.<br />

Wichtig für unseren Zusammenhang ist auf jeden Fall, daß mit diesen Aushandlungsprozessen<br />

auf mittlerer Politikebene ein Partizipationsfeld sich<br />

konturiert, das bisher noch von keiner der beteiligten Gruppen im Betrieb<br />

systematisch genutzt wird.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


(3) Diesem Beharrungsvermögen des Betriebs als Organisation stehen allerdings<br />

Mechanismen gegenüber, die die Realisierung der Projekte fördern<br />

<strong>und</strong> stabilisieren. Mit der Teilnahme an einer Planungsgruppe, an Schulungskursen,<br />

am Probelauf, <strong>und</strong> letztlich auch durch die faktische Arbeit mit dem<br />

System, wird ein neues Kriterium der Personalselektion etabliert: die Technikakzeptanz.<br />

Die Arbeit mit der neuen Technik wird zur definitiven Scheidelinie<br />

zwischen unterschiedlichen Karrieren. Die „Einsteiger in die neue<br />

Technik" festigen ihre Position bezüglich Arbeitsplatz, Einkommen <strong>und</strong><br />

Qualifikation auf absehbare Zeit. Bezüglich Qualifikation muß damit erstmal<br />

nicht mehr gemeint sein als die Bereitschaft <strong>und</strong> die Entwicklung der<br />

Fähigkeit, die neuen Technologien zu benutzen. Der „Verweigerer" —<br />

durchaus auf den verschiedenen Hierarchieebenen von der Werkstatt bis<br />

zum Abteilungsleiter — werden in die Randbelegschaft abgedrängt. Wir<br />

finden also auch eine Segmentationslinie innerhalb der Betriebe, die auf<br />

Technikakzeptanz abstellt <strong>und</strong> teilweise quer zu den bekannten Segmentationslinien<br />

verläuft. Auffällig ist allerdings die Parallele zwischen Technikakzeptanz<br />

<strong>und</strong> Altersstufe, d.h. der generationsmäßigen Segmentation.<br />

Diese Scheidelinie stellt wahrscheinlich — wenn sich nicht doch noch wirklich<br />

alternative Produktionskonzepte entwickeln — ein Ubergangsphänomen<br />

dar, bis die informationstechnologische Durchdringung der Betriebe abgeschlossen<br />

ist. Sie begründet aber auf absehbare Zeit die Dynamik innerbetrieblicher<br />

Politikprozesse zumindest im Maschinenbau <strong>und</strong> ermöglicht erst<br />

die Herausbildung eines „empirisch-unideologischen Produktionskonzeptes"<br />

wie es z.B. Kern/Schumann für den Maschinenbau (<strong>und</strong> für ein eng umrissenes<br />

Segment von Facharbeit in der Fertigung!) beschrieben haben. Weiterhin<br />

bedeutsam ist, daß sich nicht die ganze Gruppe der traditionellen<br />

Facharbeiter, die das Rückgrat von Gewerkschaftspolitik im Betrieb bilden,<br />

auf der technologieorientierten Seite finden. Die Segmentationslinie geht<br />

quer durch den Facharbeiterstamm <strong>und</strong> führt neue Status- <strong>und</strong> Interessengruppen<br />

zusammen.<br />

Ein zweiter Mechanismus der Überwindung des betrieblichen Beharrungsvermögens<br />

beruht darauf, daß die Beteiligung am Einführungsprozeß dazu<br />

führt, daß von dieser Gruppe — selbst wenn die eigene Position sich nicht<br />

durchgesetzt hat — die konkrete Einführung unterstützt <strong>und</strong> gegenüber den<br />

anderen Beschäftigten legitimiert wird. Wenn qualifizierte <strong>und</strong> betroffene<br />

Mitarbeiter an Entwurf <strong>und</strong> Ausgestaltung beteiligt waren <strong>und</strong> das System<br />

bzw. bestimmte Systemkomponenten vertreten, hat natürlich eine nachträgliche<br />

Kritik anderer Betroffener kaum Durchsetzungschancen. Gleiches<br />

gilt — <strong>und</strong> hier wird es gewerkschaftspolitisch bedeutsam — für die Intervention<br />

der Betriebsräte. Ihr bisheriges Verhandlungsmonopol, allgemeinverbindliche<br />

Regelungen zum betrieblichen Einsatz neuer Technologien<br />

mit der Unternehmensleitung zu vereinbaren, wird dadurch faktisch<br />

ausgehöhlt. Neben dem traditionellen <strong>und</strong> institutionalisierten Verhandlungsfeld<br />

der Sozialpartner entsteht ein zweites, syste<strong>mb</strong>ezogenes Politikfeld.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Zusammenfassend läßt sich also der gegenwärtige Einführungsprozeß<br />

von Informationstechnologie im Industriebetrieb nach unseren Erfahrungen<br />

<strong>und</strong> im Unterschied zu den Analysen der Neuen Produktionskonzepte<br />

als eine betriebspolitische Ausdifferenzierung von Technikpotentialen charakterisieren,<br />

d.h., daß betriebsspezifische Lösungen auftreten, deren<br />

Effizienz in verschiedener Hinsicht noch gar nicht ausgetragen ist. Das<br />

bedeutet gleichzeitig, daß die Rationalisierungsstrategien der Unternehmensleitungen<br />

nicht einfach mit (Fach-)Arbeiterinteressen zusammenfallen,<br />

sondern zumindest teilweise in einem Aushandlungs- <strong>und</strong> Kompromißfindungsprozeß<br />

ermittelt werden, der sich bezüglich sozialer Interessen/Position<br />

i.d.R. „stumm" vollzieht. Vermutlich liegt darin eine Ursache<br />

für das beobachtbare <strong>und</strong> zunehmende Ungleichgewicht zwischen dem<br />

Niveau technisch-betriebswirtschaftlicher Optimierung <strong>und</strong> dem passiven<br />

Mitschleppen sozialer Dimensionen.<br />

2. Abhängigkeit von menschlichen Fähigkeiten <strong>und</strong> die Kontrolle von<br />

Tätigkeit, Kommunikation <strong>und</strong> Verhalten<br />

Die Situation in den fertigungsnahen Bereichen ist durch eine relative<br />

Verringerung des Personalbestands gekennzeichnet, die durch den Einsatz<br />

teilautomatisierter Fertigungstechnologien (NC-Maschinen, Bearbeitungszentren,<br />

erste flexible Fertigungssysteme mit Palettenwechsel <strong>und</strong> automatischem<br />

Werkzeugwechsel) <strong>und</strong> auch durch Fremdvergabe von Aufträgen,<br />

die kostenmäßig nicht im eigenen Unternehmen zu fertigen sind, ermöglicht<br />

wird. Ein Resultat ist, daß die relative Bedeutung der Lohnkosten in der<br />

Fertigung abnimmt.<br />

Zweitens ist die Situation gekennzeichnet durch die 'Herauslösung' der<br />

Produktionsarbeiter aus den unmittelbaren Fertigungsfunktionen <strong>und</strong> die<br />

Zunahme systemsteuernder, -bedienender <strong>und</strong> -überwachender Aufgaben.<br />

Damit ist zumindest für die Gruppe der „Einsteiger" eine Zusatzqualifizierung<br />

in der Bedienung neuer Technologien <strong>und</strong> im Verständnis von<br />

Systemzusammenhängen verb<strong>und</strong>en (Arbeitssystem, Steuerungssystem).<br />

Ihr Beitrag zur Leistungsfähigkeit des Systems besteht weniger in einer unmittelbaren,<br />

maximalen Fertigungstätigkeit, sondern in der Gewährleistung<br />

des programmierten Fertigungsablaufs (Zuarbeit, Überwachung, Intervention<br />

bei Störungen). Ein Resultat ist, daß die klassische Leistungslohnform<br />

Akkord stark an Bedeutung verliert <strong>und</strong> Übergänge zu Prämien- <strong>und</strong> Zeitlohnformen<br />

zu beobachten sind.<br />

Wenn die Produktionsarbeiter zunehmend quasi „neben den stofflichen<br />

Fertigungsfluß treten", werden traditionelle Einbindungen abgeschwächt,<br />

die Produktionsarbeiter konturieren sich stärker als Personen, deren Einbindung<br />

im Betrieb neu organisiert werden muß. Hierbei — <strong>und</strong> dies hat viel<br />

mit Kontrolle zu tun — können wir folgende Mechanismen beobachten:<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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— Die wichtigste diesbezüghche Veränderung scheint uns die Transformation<br />

der maschinellen Taktbindung in eine Art „informatorische Taktbindung"<br />

zu sein. Mit den Fertigungssteuerungs- <strong>und</strong> Kontrollsystemen wird<br />

sukzessive ein differenziertes Netzwerk von objektivierten Zeit- <strong>und</strong> Sachstrukturen<br />

im Sinne einer „vorwegnehmenden Optimierung" aufgebaut,<br />

das die Interventionsanforderungen der Produktionsarbeiter definiert <strong>und</strong><br />

automatisch auf ihre Einhaltung kontrolliert. Diese Taktbindung ist so<br />

stark formalisiert <strong>und</strong> transparent, daß auch von dieser Seite her traditionelle<br />

Leistungslohnanreize überflüssig werden.<br />

Diese neue Form der Einbindung von Beschäftigten in das betriebliche<br />

Informationssystem bedeutet mehr Transparenz über den Arbeitsablauf<br />

<strong>und</strong> damit (zwangsläufig) über die Tätigkeiten <strong>und</strong> das Verhalten von Personen.<br />

Diese Form der „abgeleiteten Kontrolle" dürfte bisher in der unternehmerischen<br />

Planung i.d.R. nur ein Nebeneffekt der flexiblen Automatisierung<br />

sein <strong>und</strong> wird nach unseren Erfahrungen bisher auch kaum offensiv<br />

genutzt. Die Gründe dafür liegen in ihrer Dysfunktionalität <strong>und</strong> in der<br />

Antizipation von betrieblichen Konflikten. Das darf aber nicht darüber hinwegtäuschen,<br />

daß das vorhandene Kontrollpotential wesentlich umfassender<br />

<strong>und</strong> tiefgreifender als das traditioneller Kontrollsysteme einzuschätzen ist.<br />

— Ein weiterer Mechanismus ist der sukzessive Aufbau direkt personenbezogener<br />

Kontrollen durch neue Lohnabrechnungsverfahren, Zugangskontrollen,<br />

Zeiterfassungssysteme etc., die gerade die Relativierung von<br />

traditionellen Kontrollformen (individuelle Arbeitsleistung, Meisteraufsicht)<br />

reflektieren.<br />

— Ein dritter Mechanismus ist mit dem Motivations- <strong>und</strong> Integrationsaspekt<br />

der neuen Partizipationsform bereits angesprochen (Systemgruppen,<br />

Qualitätszirkel etc.). Sie reflektieren im wesentlichen den Tatbestand, daß<br />

die Einbindung in ein Netzwerk von Zeit- <strong>und</strong> Sachstrukturen gemessen an<br />

traditionellen Berufsbildern keine ausreichenden Möglichkeiten arbeitsinhaltlicher<br />

Identifikation bietet <strong>und</strong> die Innovationspotentiale der Systemanwender<br />

ungenutzt läßt.<br />

Zusammenfassend läßt sich also durchaus eine neue Ausrichtung im Einsatz<br />

von Arbeitskraft im technologieorientierten Segment feststellen. Die Notwendigkeit<br />

der aktiven Beteiligung der Systemanwender an der Auslegung,<br />

betrieblichen Anpassung <strong>und</strong> Feinsteuerung von Informationssystemen, die<br />

Notwendigkeit der permanenten menschlichen Intervention sowie das Zusammenwachsen<br />

verschiedener Arbeitsplätze zu integrierten Systemen<br />

eröffnen neue <strong>und</strong> qualifizierte Gestaltungsräume <strong>und</strong> Tätigkeitsfelder.<br />

Unsere These lautet, daß diese „neue Nutzung von Produktionsintelligenz"<br />

nicht im Widerspruch zu neuen informationstechnologischen Kontrollen<br />

von Leistung <strong>und</strong> Verhalten der Beschäftigten steht. Zentrale Kontrolle<br />

mittels Information einerseits <strong>und</strong> Handlungsfreiheit dezentraler<br />

Einheiten andererseits stehen nebeneinander bzw. genauer: sie ergänzen<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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sich. Pointiert: im Gegensatz zu den „Neuen Produktionskonzepten" sehen<br />

wir keine Bedeutungsverminderung von Herrschaftssicherung als Rationalisierungsziel,<br />

sondern einen Formwandel von Kontrolle.<br />

Teil III: Einige Schlußfolgerungen in Richtung einer<br />

Gestaltungspolitik<br />

gewerkschaftlichen<br />

Wir haben in den vorangegangenen Teilen einige veränderte Rahmenbedingungen<br />

gewerkschaftlicher Politik skizziert <strong>und</strong> sind auf einige mehr betriebsbezogene<br />

Aspekte neuer Rationalisierungs- <strong>und</strong> Produktionskonzepte<br />

eingegangen. Ein zentrales <strong>und</strong> strukturelles Problem liegt nun in einer<br />

nicht nur additiven <strong>und</strong> formalen Verknüpfung beider Bereiche. Gewerkschaftliche<br />

Politik muß sich nach wie vor auf konkrete Arbeitserfahrungen<br />

<strong>und</strong> -interessen der Beschäftigten beziehen, gleichzeitig werden die Gr<strong>und</strong>lagen<br />

ihrer Politik von globalen Entwicklungen wie Massen- <strong>und</strong> Dauerarbeitslosigkeit,<br />

Sozialabbau, Segmentierung, vielfältigen ökologischen<br />

Schranken <strong>und</strong> Gefährdungen bestimmt. Beide Politikebenen werden bisher<br />

getrennt behandelt, also als Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialpolitik einerseits <strong>und</strong><br />

Tarif- <strong>und</strong> Betriebspolitik andererseits. Wir vertreten die Auffassung, daß<br />

die Trennung <strong>und</strong> die zunehmende Widersprüchlichkeit von Politik auf diesen<br />

verschiedenen Ebenen bei den Gewerkschaftsmitgliedern zu einem<br />

Gefühl der Unangemessenheit <strong>und</strong> UnVerhältnismäßigkeit geführt hat, das<br />

die Unterstützung traditioneller Forderungen wie auch neuer Versuche<br />

der Verknüpfung schwächt; also einerseits eine partikulare, betriebsbezogene<br />

Regelungspolitik, andererseits globale Problemlagen, die die Beschäftigten<br />

aber auch als Personen auch im Betrieb berühren. Die Kontroverse<br />

um die Beschäftigungswirkungen der Arbeitszeitverkürzung bzw. um den<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Gehalt der <strong>35</strong>-St<strong>und</strong>en-Wochen-Forderung sowie die<br />

Kontroverse um Arbeitsplatz Sicherung versus Umweltschutz sind prägnante<br />

Beispiele. Sie belegen, daß die Gewerkschaften ohne differenzierte <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Gestaltungspolitik sowohl substantiell an Einfluß wie auch an<br />

Glaubwürdigkeit auch in ihren traditionellen Organisationsbereichen verlieren<br />

dürften.<br />

Der zweite wichtige Aspekt war die innerbetriebliche Segmentierung. Es<br />

deutet sich an, daß die gewachsenen Formen der gewerkschaftlichen<br />

Besitzstandssicherungspolitik zunehmend nur für die schrumpfenden,<br />

konventionellen Betriebsbereiche angemessen sind. Und das heißt Bereiche,<br />

die zunehmend weniger facharbeiterspezifisch sind, <strong>und</strong> die kaum eine Bedeutung<br />

für die zukünftige Gestaltung von Produktionspolitik <strong>und</strong> Arbeitsbedingungen<br />

in den Unternehmen haben.<br />

Neue Perspektiven von Facharbeit dagegen entwickeln sich wesentlich im<br />

„modernen oder zentralen Segment", das durch den Einsatz neuer Produktions-,<br />

Transport- <strong>und</strong> Informationstechnologien geprägt ist, das quer durch<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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die arbeitsvorbereitenden, -begleitenden <strong>und</strong> produzierenden Bereiche verläuft,<br />

<strong>und</strong> für das wir eine relativ offene betriebliche Gestaltungssituation<br />

behauptet haben. Hier finden wir neue Gruppierungen <strong>und</strong> Tendenzen in<br />

der Arbeitssituation vor, die mit dem gewachsenen gewerkschaftlichen Interessenverständnis<br />

<strong>und</strong> Regelungsbestand kaum zu vereinbaren bzw. zu<br />

erfassen sind. Das sind z.B.<br />

— Tendenzen zum Drei-Schicht-Betrieb, gleichzeitig Flexibilisierung der<br />

individuellen Arbeitszeit;<br />

— Tendenzen zum Zeitlohn bei gleichzeitiger betriebspolitisch austarierter<br />

Leistungsdetermination <strong>und</strong> -kontrolle durch informatorische Steuerungs-<br />

<strong>und</strong> Durchsetzungssysteme;<br />

— Tendenzen zur Bildung von Arbeitssystemen <strong>und</strong> Systemgruppen mit<br />

teamförmiger Arbeit <strong>und</strong> gleichzeitiger Bindung von Kommunikation<br />

<strong>und</strong> Kooperation zwischen den Beschäftigten an Informationssysteme;<br />

— Tendenzen zur Beteiligung qualifizierter Beschäftigungsgruppen im<br />

Rahmen betrieblich-instrumenteller Organisationsmodelle, gleichzeitig<br />

die Einschränkung der gewerkschaftlichen Einwirkungsmöglichkeiten;<br />

— Tendenzen zur Entkopplung der Beschäftigten aus unmittelbaren Arbeitsvollzügen,<br />

gleichzeitig die Tendenz zur Verplanung, Steuerung <strong>und</strong><br />

Kontrolle mittels personenbezogener Informationssysteme.<br />

Die gewerkschaftliche Perspektive kann nun sicherlich nicht nur darin liegen,<br />

den entstandenen Regelungsbedarf durch neue, partialisierte Mindestnormen<br />

<strong>und</strong> Schutzbestimmungen auszufüllen, wie dies z.B. im Bereich des<br />

Datenschutzes schon weit fortgeschritten ist. Sie kann auch nicht darin liegen,<br />

Interessenpolitik quasi außerhalb der beschriebenen, globalen <strong>und</strong> betrieblichen<br />

Entwicklungen zu definieren, weil diese gefährlich bzw. a<strong>mb</strong>ivalent<br />

sind. Diese Gefahr ist bei der Rationalisierungsschutz- <strong>und</strong> Besitzstandssicherungspolitik<br />

deutlich geworden <strong>und</strong> hat dazu geführt, daß erstens die<br />

Gewerkschaftspolitik in diesem Bereich immer weniger realitätstüchtig<br />

wurde <strong>und</strong> zweitens immer mehr Real<strong>entwicklung</strong>en von den Gewerkschaften<br />

nicht als eigenes Problem zur Kenntnis genommen werden konnten<br />

bzw. einfach abgelehnt wurden: Teilzeit arbeit, flexible Arbeitszeit,<br />

Qualitätszirkel. Dies gilt auch für den Bereich innerbetrieblicher Beteiligungsformen,<br />

den wir abschließend noch einmal aufnehmen wollen.<br />

Die neuen Formen der unternehmerischen Einbindung (Einführungs-<br />

Teams, Systemgruppen; umfassendere Verantwortlichkeit der Konstruktion<br />

für die Vorstrukturierung von Fertigung <strong>und</strong> Montage etc.) sind sowohl<br />

Formen der Reorganisation des Arbeitsprozesses, die auf bestimmte Interessen<br />

der Beschäftigten eingehen, wie auch neue Formen der Beherrschung<br />

<strong>und</strong> der Ausschaltung gewerkschaftlicher Gegenmacht. Wenig überzeugend<br />

ist eine Sichtweise, die Aspekte der Privilegisierung <strong>und</strong> der Herrschaftssicherung<br />

in solchen Arbeitsformen zum alleinigen Maßstab macht, solche<br />

Arbeitsformen ablehnt <strong>und</strong> ihnen Forderungen nach Besitzstandssicherung<br />

<strong>und</strong> Mindestnormen von außen entgegensetzt. Damit ginge der Einfluß<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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auf diese Beschäftigtengruppen <strong>und</strong> auf die von ihnen getragenen Arbeitsprozesse<br />

verloren.<br />

Uns erscheint der aussichtsreichere Weg darin zu liegen, sich weder auf den<br />

alten Regelungsbestand noch auf aufgeklärte Managementkonzepte zu verlassen,<br />

sondern in diese modernen Produktionsbereiche gewerkschaftlich<br />

offensiv einzudringen, indem die neuen Arbeitsformen <strong>und</strong> -inhalte als Ausgangspunkte<br />

für eine betrieblich f<strong>und</strong>ierte, aber gesellschaftlich orientierte<br />

Gestaltungspolitik angenommen werden. Anknüpfungspunkte für eine solche<br />

Gestaltungspolitik sind im Vorangegangenen angedeutet worden <strong>und</strong><br />

wir wollen sie noch einmal zusammenfassen:<br />

Die betrieblichen Entwicklungs-, Einführungs- <strong>und</strong> Ausgestaltungsprozesse<br />

von computergestützter Produktion sind oder werden zunehmend<br />

Bestandteil von Arbeitsprozessen der qualifizierten, technologieorientierten<br />

Belegschaftsteile.<br />

— Diese Arbeitsprozesse beinhalten gleichzeitig die Gestaltung der zukünftigen<br />

Stellung der Systemanwender wie auch indirekt der traditionellen<br />

Restbelegschaft. Es muß folglich für diese Gruppen ein Verständnis entwickelt<br />

werden, daß ihre Gestaltungstätigkeit im Arbeitsprozeß gleichzeitig<br />

<strong>und</strong> prozeßimmanent gewerkschaftliche Interessenpolitik im Betrieb ist.<br />

— Diese beschriebenen Arbeitsprozesse sind gleichzeitig Formen betrieblicher<br />

Beteiligung, die größtenteils neben <strong>und</strong> in Konkurrenz zu institutionalisierten<br />

betrieblichen <strong>und</strong> gewerkschaftlichen Mitbestimmungsregelungen<br />

verlaufen. Insofern müßte das gewerkschaftliche Verständnis bezüglich<br />

des betrieblichen Politikfeldes <strong>und</strong> der Träger von Politik auf diese betrieblich-instrumentellen<br />

Beteiligungsprozesse ausgeweitet werden.<br />

— Schließlich werden in der betrieblichen Forschungs- <strong>und</strong> Entwicklungsarbeit<br />

im modernen Sektor, in der Produkt- <strong>und</strong> Marktpolitik die <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Folgen betrieblicher Entscheidungen vorgeprägt. Die Segmentierung<br />

der Volkswirtschaft <strong>und</strong> damit die Produktion von strukturell<br />

gewerkschaftsfeindlichen Bedingungen, die sozialen <strong>und</strong> ökologischen<br />

Folgen neuer Technologien werden hier vorentschieden.<br />

Wenn es gelingt, diese <strong>gesellschaftliche</strong>n Perspektiven in die Betriebe <strong>und</strong><br />

in die Arbeit der Produzenten zurückzuvermitteln', dann können sich<br />

den Beschäftigten ganz neue Kompetenzen <strong>und</strong> Gestaltungsfelder eröffnen,<br />

<strong>und</strong> dann wird die Situation überw<strong>und</strong>en, daß die Kritik an den Auswirkungen<br />

des Industriesystems — auch die gewerkschaftliche Kritik — nicht nur<br />

von außen <strong>und</strong> teilweise gegen die Interessen der dort Beschäftigten, <strong>und</strong><br />

damit halbherzig vorgetragen wird.<br />

Eine solche, hier erst angedeutete Gestaltungspolitik wäre dann auch<br />

eine angemessene Gr<strong>und</strong>lage, um die Beschäftigtengruppen des modernen<br />

Sektors (also Techniker, Ingenieure, Naturwissenschaftler) gewerkschaftlich<br />

stärker zu organisieren.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


LITERATUR<br />

Dörr/Hildebrandt/Seltz, „Kontrolle durch Informationstechnologien in Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Betrieb", in: Jürgens/Naschold, Arbeitspolitik, Opladen 1984.<br />

Forschungsprojekt, Politik <strong>und</strong> Kontrolle bei computergestützter Produktionsplanung<br />

<strong>und</strong> -Steuerung, IIVG/dp84-219.<br />

M. Helfert, „Beteiligungsstrategien der Betriebe <strong>und</strong> Mitbestimmung am Arbeitsplatz",<br />

in: WSI-Mitteilungen 12/1983, S. 748 ff.<br />

E. Hildebrandt, „Aktuelle Tendenzen der Arbeitnehmerbeteiligung in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

Deutschland", in: Fricke/Schuchardt (Hg.), Beteiligung als Element gewerkschaftlicher<br />

Arbeitspolitik, Bonn 1984, S. 197 ff.<br />

Kem/Schumann, „Neue Produktionskonzepte haben Chancen", in: Soziale Welt,<br />

Heft 1/1984, S. 146 ff.<br />

Manske/Wobbe-Ohlenburg, „Alles unter Kontrolle? Betriebliche Widerstandspotentiale<br />

gegen Computereinsatz zur Leistungserfassung", in: Neue Medien <strong>und</strong> Technologien<br />

— wie damit umgehen? Berlin 1984, S. 66 ff.<br />

Walther Müller-Jentsch, „Klassen-Auseinander-Setzungen, Lesarten über die Arbeitskonflikte<br />

der siebziger Jahre <strong>und</strong> Mutmaßungen über die Zukunft der Gewerkschaften",<br />

in: Prokla, Heft 54, 1984, S. 10 ff.<br />

H. Schauer, „Gewerkschaftspolitik <strong>und</strong> Beteiligung", in: Fricke/Schuchardt (Hg.),<br />

Beteiligung als Element gewerkschaftlicher Arbeitspolitik, Bonn 1984, S. 227 ff.<br />

R. Seltz, Neue betriebliche Machtressourcen <strong>und</strong> Wandel des Kontrollsystems durch<br />

elektronische Informations- <strong>und</strong> Kommunikationstechnologien, IIVG/dp84-202.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


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Themenbereich V:<br />

Theorien der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Entwicklung der Moderne<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


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EINLEITUNG<br />

Bernhard Giesen<br />

Das Thema dieses Soziologentages rahmt nicht nur Versuche zur empirischen<br />

Auslotung sozialer Wandlungstrends, sondern es begünstigt auch das<br />

— dem Empiriker eher verdächtigte — Augurengeschäft der Gesellschaftstheorie,<br />

die sich mit der Frage nach der strukturellen Kontinuität oder Diskontinuität<br />

der Moderne beschäftigt. Die große Gesellschaftstheorie der<br />

Klassiker war immer auch eine Theorie der Moderne, die die zwiespältige<br />

Zukunft dieser Gesellschaft im Auge hatte. Mit den gesellschaftstheoretischen<br />

Entwürfen <strong>und</strong> Diagnosen der Klassiker ist jedem Versuch zu sozialer<br />

Zeitdiagnose ein paradigmatischer Ausgangspunkt <strong>und</strong> Blickwinkel vorgegeben,<br />

dem empirische Analysen <strong>und</strong> Rezeptionen zeitgenössischer Prozesse<br />

sozialen Wandels nur schwerlich entrinnen können. Solche Analysen<br />

erhalten ihr besonderes Gewicht durch ein alltägliches Krisenbewußtsein,<br />

das das Ende des „Projektes der Moderne", zumindest aber einen Bruch<br />

seiner Kontinuität <strong>und</strong> ein Schwinden der daran geknüpften Hoffnungen<br />

anzukündigen scheinen. Damit rückt in den Mittelpunkt dieser Veranstaltung<br />

die Frage, ob die modernitätskritische Stoßrichtung neuer sozialer<br />

Bewegungen, die alltägliche Zukunftsangst <strong>und</strong> strukturelle Brüche auf dem<br />

Wege zur postmodernen Gesellschaft eine Revision oder Relativierung der<br />

klassischen Thesen zur Moderne erfordern oder ob sich alles dies im Rahmen<br />

eines weiterentwickelten <strong>und</strong> fortgeschriebenen Modernitätskonzepts<br />

einordnen <strong>und</strong> klären läßt. Daß die genannten <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklungen<br />

die analytische Kapazität der Gesellschaftstheorie Webers oder<br />

Marxens herausfordern, darüber besteht kaum Zweifel. Ob die bei den<br />

Klassikern vorgesehenen Muster zur Diagnose von Geburtswehen <strong>und</strong> Krisen<br />

der modernen Gesellschaft hierzu ausreichen, oder ob die postmoderne<br />

Gesellschaft auch eine radikale Revision jener klassischen Annahmen über<br />

Rationalisierung, Differenzierung <strong>und</strong> Individualisierung erfordern, dies läßt<br />

sich durchaus in Frage stellen.<br />

Die erste Gruppe von Beiträgen zu dieser Veranstaltung geht von einer<br />

gewissen Kontinuität f<strong>und</strong>amentaler Prinzipien der Moderne aus <strong>und</strong> sieht<br />

keinen Anlaß <strong>und</strong> wohl auch keine Möglichkeit, außerhalb des Bezugsrahmens<br />

der Moderne einen soziologischen Standpunkt zur Analyse aktueller<br />

sozialer Entwicklungstendenzen zu finden. Der düsteren Krisenperspektive<br />

des Alltagsbewußtseins steht hier das Beharren auf der Kontinuität der Moderne<br />

gegenüber, die bei aller Widersprüchlichkeit <strong>und</strong> Verschiedenartigkeit<br />

doch keinen f<strong>und</strong>amentalen Bruch ihrer Dynamik zeigt. Dies wird vor allem<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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in den Beiträgen von Münch <strong>und</strong> Oevermann deutlich. Richard Münch versucht,<br />

vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Weberschen Analyse des modernen Weltbeherrschungsmotivs<br />

unterschiedliche Entwicklungspfade der Moderne zu<br />

differenzieren <strong>und</strong> jene Bedingungen zu beschreiben, die zur Institutionalisierung<br />

des okzidentalen Aktivismus in unterschiedlichen nationalen Kulturen<br />

führen <strong>und</strong> damit auch den kulturellen Rahmen neuer sozialer Bewegungen<br />

abgeben. Ulrich Oevermann nimmt die Beziehung von Individualisierung<br />

<strong>und</strong> wissenschaftlicher Rationalisierung in modernen Gesellschaften<br />

zum Ausgangspunkt seiner Analyse, die an Adornos Dialektik der Aufklärung<br />

ausgerichtet ist <strong>und</strong> sich durchaus kritisch mit der „Selbsttechnokratisierung"<br />

von Identitätsbildung gerade bei jenen avancierten Gruppen unserer<br />

Gesellschaft beschäftigt, die die Formung <strong>und</strong> Bewahrung von Identität<br />

in den Mittelpunkt ihrer Lebenspraxis stellen. Thomas Luckmann wird<br />

dann im Rahmen evolutionstheoretischer Überlegungen die Kontinuität von<br />

religiösem Wissen auch in modernen Gesellschaften erläutern, einer Religiosität<br />

freilich, die aus den <strong>gesellschaftliche</strong>n Makrosystemen ausgewandert<br />

ist <strong>und</strong> sich auf den Alltag der Akteure zurückgezogen hat.<br />

Im zweiten Teil werden Analysen zu Wort kommen, die in aktuellen<br />

Entwicklungsprozessen der Moderne Anlaß genug sehen, die fortdauernde<br />

Verbindlichkeit klassischer Annahmen in Frage zu stellen; dabei werden<br />

Kontinuitätsbrüche <strong>und</strong> Krisen, die das Alltagsbewußtsein wahrnimmt,<br />

auch als empirisch-historische Argumente gegen die Fortschreibung dieser<br />

Annahmen genutzt. Johannes Berger nimmt die Kontrastierung von Schumpeters<br />

<strong>und</strong> Marxens Prognose über den Zusammenbruch des Kapitalismus<br />

zum Anlaß, nach nicht-ökonomischen Krisenmechanismen eines ökonomisch<br />

durchaus überlebenskräftigen Gesellschaftssystems zu fragen. Christian<br />

von Ferber stellt dann die Gleichsetzung von sozialer Differenzierung<br />

<strong>und</strong> Rationalitätsgewinn in Frage <strong>und</strong> kontrastiert dies mit Materialien zu<br />

Deprofessionalisierung <strong>und</strong> Laisierung. Der Beitrag von Georg Elwert<br />

schließlich sucht die Stabilitätsrisiken aufzuzeigen, die eine unbegrenzte<br />

ökonomisierung aller <strong>gesellschaftliche</strong>n Prozesse mit sich bringt. Sein<br />

Hinweis auf die Erosion der moralischen Gr<strong>und</strong>lage auch ökonomischen<br />

Handelns gewinnt wieder Anschluß an klassische Theoriegr<strong>und</strong>lagen.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


WEGE DER MODERNE. ZWISCHEN TRADITION UND MODERNITÄT,<br />

PARTIKULARISMUS UND UNIVERSALISMUS, ROUTINE UND<br />

REVOLUTION, KONFORMITÄT UND ENTFREMDUNG<br />

Richard Münch<br />

Einleitung<br />

Max Weber hat nach der von ihm diagnostizierten Entzauberung der Welt<br />

durch die moderne Wissenschaft <strong>und</strong> der Zerstörung aller religiös-sinnhaften<br />

Gr<strong>und</strong>lagen der modernen Welt nur eine düstere Zukunft der modernen Gesellschaften<br />

gesehen. Die Rationalisierung <strong>und</strong> Verselbständigung der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Sphären des Kapitalismus, der Bürokratie <strong>und</strong> des Rechts<br />

schlägt in eine irrationale Herrschaft der sachlichen Eigengesetzlichkeiten<br />

über den Menschen um. Diese gewinnen eine nie zuvor erahnte Macht über<br />

den Menschen. Und eine allgemein verbindliche sinnhafte Steuerung auf der<br />

Basis allgemeiner Ideen <strong>und</strong> Werte ist auf dem entzauberten Boden der Moderne<br />

ausgeschlossen. Was bleibt, ist der unversöhnliche Kampf konträrer<br />

Wertorientierungen <strong>und</strong> Wertordnungen um die Vorherrschaft in der Gestaltung<br />

der Gesellschaft. Die mit dem Calvinismus erreichte innere Verbindung<br />

von Ethik <strong>und</strong> Welt ist unwiederbringlich verloren. Die innerweltliche<br />

Askese hat sich zu einem innerweltlichen Aktivismus der rein instrumentellen<br />

Weltbeherrschung gewandelt. 1<br />

Ich will hier aufzeigen, daß diese Einschätzung Webers über die allein<br />

mögliche Entwicklung der modernen Gesellschaften eine Deutung des Verhältnisses<br />

zwischen Ethik <strong>und</strong> Welt <strong>und</strong> der daraus folgenden Form des<br />

innerweltlichen Aktivismus zum Ausdruck bringt, die von den Möglichkeiten<br />

begrenzt wird, die in der deutschen Kultur durch den Lutherischen Protestantismus<br />

<strong>und</strong> durch seine Säkularisierung im deutschen Idealismus gesetzt<br />

worden sind. In anderen westlichen Gesellschaften haben sich ganz<br />

andere Formen des Verhältnisses zwischen Ethik <strong>und</strong> Welt <strong>und</strong> des innerweltlichen<br />

Aktivismus entwickelt, die als kultureller Code sowohl der Entwicklung<br />

bis zu Webers Lebenszeit als auch darüber hinaus bis heute zugr<strong>und</strong>e<br />

liegen. Dieser gesellschaftlich-kulturelle Code hat sich in den einzelnen<br />

Gesellschaften seit der Reformationszeit in einem Prozeß der Deutung,<br />

Anwendung <strong>und</strong> Säkularisierung der religiösen Ethik herausgebildet. Er<br />

hat dann einerseits als Tiefenstruktur die Möglichkeiten der weiteren kulturellen<br />

Entwicklung abgesteckt <strong>und</strong> ist andererseits durch die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklung kontinuierlich verändert worden, ohne allerdings seine<br />

generelle Identität zu verlieren.<br />

Ich will die unterschiedlichen Verhältnisse zwischen Ethik <strong>und</strong> Welt<br />

<strong>und</strong> die unterschiedlichen Formen des innerweltlichen Aktivismus skizzie-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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en, die sich in England, in den Vereinigten Staaten, in Frankreich <strong>und</strong> in<br />

Deutschland herauskristallisiert <strong>und</strong> die kulturellen Grenzen der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Entwicklung gezogen haben. Mein Ziel ist dabei, zu einer<br />

Relativierung der Position Webers über die mögliche Entwicklung der<br />

Kultur der modernen Gesellschaften zu gelangen. Aus den Schlagworten,<br />

mit denen man die Beziehungen zwischen Ethik <strong>und</strong> Welt <strong>und</strong> die Konzepte<br />

des innerweltlichen Aktivismus in den einzelnen Ländern auf den Begriff<br />

bringen könnte, habe ich für jedes Land eine Oszillation zwischen zwei<br />

entgegengesetzen Polen gewählt: England zwischen Tradition <strong>und</strong> Modernität,<br />

die Vereinigten Staaten von Amerika zwischen Partikularismus <strong>und</strong><br />

Universalismus, Frankreich zwischen Routine <strong>und</strong> Revolution, Deutschland<br />

zwischen Konformität <strong>und</strong> Entfremdung. Gewiß handelt es sich dabei um<br />

eine Selektion, aber wohl um die Selektion des markantesten Merkmals unter<br />

einer Mehrzahl von besonderen Merkmalen der einzelnen <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Kulturen. Um die Unterschiede zwischen den einzelnen Ländern<br />

möglichst scharf hervortreten zu lassen, stelle ich die unterscheidenden<br />

Merkmale besonders klar heraus <strong>und</strong> übertreibe dabei natürlich in idealtypischer<br />

Überzeichnung. Im einzelnen betrachte ich in jedem Land (1) (L)<br />

den Charakter der ethischen Ideen <strong>und</strong> ihr Verhältnis zu den <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Sphären, (2) (G) die Kräfte des Aktivismus, (3) (I) die Träger der<br />

Ethik <strong>und</strong> den Charakter ihrer Verbindlichkeit <strong>und</strong> schließlich (4) (A) die<br />

Kräfte <strong>und</strong> Formen des Wandels <strong>und</strong> der Erneuerung. Ich kann dabei allerdings<br />

nicht mehr bieten als eine Zusammenfassung der Ergebnisse einer umfangreichen<br />

vergleichenden Studie über die Entwicklung der Kultur der<br />

Moderne in den genannten Gesellschaften. Hier ist nicht mehr Platz als<br />

für ein paar Stichworte zu England, Amerika <strong>und</strong> Frankreich, um dann<br />

wenigstens auf die Entwicklung in Deutschland etwas genauer eingehen<br />

zu können. 2<br />

1. England: Zwischen Tradition <strong>und</strong> Modernität<br />

In England herrscht ein traditionalistisch begrenzter Aktivismus (G) vor,<br />

der in ein kulturelles Umfeld einer integrierten Opposition von Orthodoxie<br />

<strong>und</strong> Heterodoxie eingebettet ist (L), durch eine inklusive, aber<br />

dennoch ständisch differenzierte <strong>gesellschaftliche</strong> Gemeinschaft gesteuert<br />

(I) <strong>und</strong> durch eine loyale Opposition einem allmählichen Wandel unterworfen<br />

wird (A). Die Fusion von Tradition <strong>und</strong> Modernität kennzeichnet den<br />

innerweltlichen Aktivismus Englands. 3<br />

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2. Amerika: Zwischen Universalismus <strong>und</strong> Partikularismus<br />

In den Vereinigten Staaten hat sich ein innerweltlicher Aktivismus entwickelt,<br />

der in dem Auftrag Gottes an die ersten puritanischen Pilger wurzelt<br />

<strong>und</strong> in den Ideen der Revolution gegen England einen säkularen normativen<br />

Maßstab hat (L). Die Umsetzung des Auftrages geschieht in der zunehmenden<br />

Beherrschung der Wildnis (G). Der heilige Vertrag mit Gott sichert<br />

die Verbindlichkeit des Auftrags (I). Die Dynamik der Erneuerungsbewegungen<br />

sorgt für ständigen Wandel (A). Das Dilemma besteht hier in der<br />

Diskrepanz zwischen universellem Anspruch <strong>und</strong> partikularer Wirklichkeit.<br />

4<br />

3. Frankreich: Zwischen Routine <strong>und</strong> Revolution<br />

In Frankreich wird die Beziehung zwischen Ethik <strong>und</strong> Welt <strong>und</strong> der daraus<br />

folgende innerweltliche Aktivismus zunächst durch den kirchlichen Traditionalismus<br />

<strong>und</strong> die administrative Routine als Faktoren der Beharrung bestimmt<br />

(I). Der Aktivismus äußert sich im funktionalen Aktivismus der administrativen<br />

Elite (G). Der intellektuelle Radikalismus entwirft die großen<br />

Ideen gegen die bestehende Gesellschaft (L). Der Wandel kann sich nur in<br />

der großen <strong>gesellschaftliche</strong>n Krise vollziehen (A). Routine <strong>und</strong> Revolution<br />

sind die gegensätzlichen Kräfte, die in Frankreich den innerweltlichen Aktivismus<br />

gestalten/<br />

4. Deutschland: Zwischen Konformität <strong>und</strong> Entfremdung<br />

Das deutsche Modell der Beziehung zwischen Ethik <strong>und</strong> Welt <strong>und</strong> des<br />

daraus folgenden innerweltlichen Aktivismus wird durch folgende Faktoren<br />

gebildet: Innerlichkeit als Gr<strong>und</strong>lage einer persönlichen Identität, die sich<br />

nur außerhalb der Gesellschaft verwirklichen kann (L); der Machtstaat als<br />

treibende Kraft des innerweltlichen Aktivismus, <strong>und</strong> die eigengesetzliche<br />

Rationalisierung <strong>gesellschaftliche</strong>r Sphären (G); Konformität <strong>und</strong> Anpassung<br />

als orthodoxe Haltungen zu den bestehenden Ordnungen (I); Entfremdung<br />

<strong>und</strong> Rebellion als Reaktion auf die eigendynamische Entfaltung der<br />

versachlichten Sphären (A). Konformität <strong>und</strong> Entfremdung sind die vorherrschenden<br />

Haltungen, die in Deutschland den innerweltlichen Aktivismus<br />

formen. 6<br />

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4.1 Die Innerlichkeit<br />

Luthers Protestantismus hat in Deutschland keinen mit dem Puritanismus<br />

Neuenglands vergleichbaren selbstverantwortlichen Aktivismus hervorgebracht.<br />

An die Stelle der neuenglischen Verbindung des natürlichen bürgerlichen<br />

Aktivismus des selbstverantwortlich handelnden Individuums mit<br />

dem Auftrag Gottes zur Gestaltung der Welt nach seinen Anforderungen ist<br />

im Lutherischen Deutschland das Bündnis der protestantischen Kirche mit<br />

dem Staat getreten. Die beiden Formen des Protestantismus hatten völlig<br />

verschiedene Träger. 7<br />

Der Unterschied beginnt schon mit Luther <strong>und</strong> Calvin. Während Calvin<br />

als freier Bürger der Stadt Genf einen aktiven Einfluß auf die Gestaltung<br />

des politischen Gemeinwesens nahm <strong>und</strong> dieses als eine Theokratie den religiösen<br />

Ideen unterordnete, suchte der Wittenberger Mönch Luther Zuflucht<br />

bei seinem Landesherrn gegen die päpstliche Verfolgung. Luther<br />

mußte den Protestantismus den Machtinteressen der Landesfürsten unterordnen.<br />

Von dieser Konstellation ausgehend, hat der Lutherische Protestantismus<br />

nie eine Idee für die Formung des politischen Gemeinwesens entwickelt,<br />

wie das für den Calvinismus <strong>und</strong> für die von ihm beeinflußten<br />

puritanischen Glaubensgemeinschaften galt. Nach Luthers Lehre der zwei<br />

Reiche, der göttlichen Ordnung <strong>und</strong> der staatlichen Ordnung, ist die politische<br />

Herrschaft von Gott als notwendig eingesetzt worden, um die unvollkommene<br />

Welt der menschlichen Triebe <strong>und</strong> Konflikte durch den äußeren<br />

staatlichen Zwang in Ordnung zu halten. Eine Idee des selbständigen<br />

Bürgers als eine selbstverantwortlich handelnde Persönlichkeit <strong>und</strong> ein Verständnis<br />

des politischen Gemeinwesens als eine Vereinigung freier Bürger<br />

konnte in diesem Kontext nicht entstehen. Von einem aktiven Eingreifen<br />

des Individuums in die Welt konnte keine Rede sein.<br />

Nicht anders hat Luthers Berufsidee gewirkt. Sie bedeutete zwar ein<br />

Ausströmen der Anforderungen an ein gottgefälliges Leben aus dem Kloster<br />

in die Welt, hatte aber keine gestalterische Wirkung auf die Welt. Beruf war<br />

nicht die Berufung zu einer besonderen Aufgabe in der Gestaltung der Welt<br />

nach den ethischen Geboten Gottes, sondern die Berufung an einen Platz<br />

in einem traditionell festgelegten beruflichen Gefüge.<br />

Die Lutherische Auffassung des Menschen als Gefäß Gottes impliziert<br />

keine innerweltliche Askese als eine aktive Formung der Welt nach universellen<br />

ethischen Maßstäben, sondern einen innerweltlichen Mystizismus als<br />

eine Anpassung an die herrschenden Gegebenheiten in der Welt. Was immer<br />

in der Welt in den verschiedensten <strong>gesellschaftliche</strong>n Kontexten geschehen<br />

mag, welchen <strong>gesellschaftliche</strong>n Gesetzen der Lutheraner in seinem Handeln<br />

auch folgen mag, er weiß sich in seinem Vertrauen in Gott auf dem richtigen<br />

Weg zu Gott. Nicht das Handeln führt ihn zu Gott, sondern der richtige<br />

Glaube <strong>und</strong> das Vertrauen in Gott, das reine Gefühl des Erfülltseins von<br />

Gott.<br />

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Mit dem innerweltlichen Mystizismus des Lutherischen Protestantismus<br />

verbindet sich das Prinzip der Innerlichkeit als Persönlichkeitsideal, das<br />

auch unter den Bedingungen der Säkularisierung erhalten geblieben ist.<br />

Nach diesem Ideal verwirklicht sich das Individuum nicht in äußeren Werken,<br />

sondern in einer inneren Haltung <strong>und</strong> in einem inneren Gefühl.<br />

Innerlichkeit bedeutet Privatheit <strong>und</strong> Rückzug aus der Öffentlichkeit.<br />

Die Sphäre der Öffentlichkeit ist eine Sphäre der äußeren Welt, an der man<br />

teilnimmt <strong>und</strong> in der man seine Pflichten erfüllt, in der man sich aber nicht<br />

als Person aktiv engagiert <strong>und</strong> in der man nicht seine Identität findet. Alles<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Handeln ist reines Rollenhandeln, ohne jede Zugabe an<br />

Rollengestaltung aus der persönlichen Identität heraus. Es ist deshalb nicht<br />

überraschend, wenn auch heute noch die politische Teilnahme mehr als<br />

Pflicht <strong>und</strong> weniger als persönliches Engagement betrachtet wird. Diese<br />

weit in die kulturelle Tradition des protestantischen Deutschland zurückreichende<br />

Einstellung äußert sich heute noch in der großen Diskrepanz<br />

zwischen der hohen Beteiligung an Wahlen <strong>und</strong> der relativ geringen aktiven<br />

Teilnahme an politischen EntScheidungsprozessen zwischen den Wahlentscheidungen.<br />

Zur Wahl geht man aus Pflicht, Zeit in die aktive Teilnahme<br />

an politischen Entscheidungsprozessen investiert man aus persönlichem<br />

Engagement.<br />

4.2 Der Staat <strong>und</strong> die <strong>gesellschaftliche</strong> Rationalisierung<br />

Ohne die gestalterische Teilnahme des Lutherischen Protestantismus an<br />

der Entwicklung von Politik, Recht, Wirtschaft <strong>und</strong> Wissenschaft ist die<br />

Entfaltung des Aktivismus der Moderne anderen Kräften überlassen geblieben.<br />

Der Aktivismus ist in Deutschland vorwiegend aus der reinen Entwicklungsdynamik<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Sphären hervorgegangen. Diese Entwicklung<br />

hat in Deutschland relativ spät, dafür aber um so durchgreifender<br />

im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert eingesetzt. Die Entwicklung wurde dabei nicht — wie<br />

in England <strong>und</strong> noch mehr in Amerika — von einem selbstbewußten Bürgertum<br />

vorangetrieben, das religiöses Sendungsbewußtsein <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Veränderung miteinander verband. In Deutschland ist die Dynamik<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung von Anfang an <strong>und</strong> bis heute vom Staat<br />

bestimmt worden. Die Selbstbehauptung im europäischen Konkurrenzkampf<br />

war es, die in Deutschland die Industrialisierung, die Ausbreitung<br />

der Wissenschaft <strong>und</strong> die Staatsbildung unter Führung Preußens wesentlich<br />

beeinflußt hat. Dementsprechend herrscht überall der Staat vor, wo man<br />

vor allem in Amerika private <strong>und</strong> gemeinschaftliche Unternehmung antrifft.<br />

Zuerst hat sich aus dem traditionellen Patrimonialismus der Landesherren<br />

zu Luthers Zeit ein Absolutismus herausentwickelt, der nach administrativer<br />

Modernisierung strebte, um sich gegen andere Gewalten innerhalb<br />

<strong>und</strong> außerhalb der eigenen Grenzen behaupten zu können. Die staat-<br />

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liehe Bürokratie ist die erste Einrichtung der Moderne, mit der die Deutschen<br />

konfrontiert wurden <strong>und</strong> die bis heute das Markenzeichen des deutschen<br />

Staates geblieben ist. Der Staat hat dementsprechend auch die Führung<br />

in der rechtlichen, wissenschaftlichen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Entwicklung<br />

übernommen. Die Rationalisierung des Rechts war das Resultat einer<br />

einheitlichen Kodifikation durch Juristen im Dienste des absolut herrschenden<br />

Landesherrn. Das Aufblühen der Wissenschaft ist durch die staatliche<br />

Neugründung der Berliner Universität im Jahre 1810 eingeleitet <strong>und</strong><br />

durch die weitere staatliche Investition in wissenschaftliche Hochschulen<br />

weitergetrieben worden. Die Industrialisierung erfolgte in erster Linie<br />

unter Initiative <strong>und</strong> Obhut des Staates <strong>und</strong> der großen Banken. Sie führte<br />

viel schneller zur Konzentration in Großunternehmen als in den anderen<br />

Industrieländern.<br />

Aus dieser materiellen Entwicklung der Gesellschaft konnte kein<br />

individualistischer <strong>und</strong> selbstverantwortlicher Aktivismus eines selbstbewußten<br />

Bürgertums wie in England <strong>und</strong> vor allem in Amerika hervorgehen.<br />

Die aktive Gestaltung der Welt ist hier eine Aufgabe der politischen Führung<br />

der großen Banken <strong>und</strong> Wirtschaftsunternehmen, eine Aufgabe der<br />

wenigen großen Männer, keine Aufgabe eines jeden Bürgers. Bismarck ist<br />

die Gestalt, in der sich der deutsche Aktivismus verkörpert. Aktivismus<br />

geht dabei eine enge Verbindung mit Realpolitik ein. Die Steigerung der<br />

staatlichen Macht nach innen <strong>und</strong> außen ist der letzte Gr<strong>und</strong> dieses machtpolitischen<br />

Aktivismus. Es ist ein Aktivismus, dem im Gegensatz zum<br />

angelsächsischen Aktivismus jede Verwurzelung in darüber hinausgreifenden<br />

Ideen abgeht. Wie Helmuth Plessner treffend formuliert hat, war<br />

Bismarcks Reich eine Großmacht ohne Staatsidee.* Dieses Fehlen einer<br />

ideellen Gr<strong>und</strong>lage bedeutete aber, daß es keinen kulturellen Maßstab gab,<br />

der die Machtpolitik hätte transzendieren können <strong>und</strong> der eine Formung<br />

des Aktivismus durch normative Ideale ermöglicht hätte.<br />

4.3 Konformität <strong>und</strong> Indifferenz<br />

Die Beziehung zwischen religiöser Innerlichkeit <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Äußerlichkeit im Lutherischen Protestantismus ist auch durch die Art<br />

seiner gemeinschaftlichen Organisation <strong>und</strong> durch die Eigenart seiner <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Sphären bestimmt worden.<br />

Aus der Fusion von Luthertum <strong>und</strong> preußischem Beamten- <strong>und</strong> Offiziersgeist<br />

ergaben sich prinzipiell zwei orthodoxe Möglichkeiten der Verknüpfung<br />

von persönlicher Identität <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>m Rollenhandeln.<br />

Die Beamten- <strong>und</strong> Offiziersdisziplin konnte mit der persönlichen Identität<br />

zusammenfallen. Die religiöse Innerlichkeit löste sich hier in der Disziplin<br />

als persönlichem Handlungsprinzip auf. Der Protestant konnte sich aber<br />

auch nur äußerlich an die Dienstpflichten anpassen <strong>und</strong> im tiefsten Inneren<br />

sein Vertrauen auf Gott bewahren, das mit seinem äußeren Handeln gar<br />

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nichts zu tun hatte. Es waren diese orthodoxen Verknüpfungen von persönlicher<br />

Identität <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>m Rollenhandeln, die nicht nur dem<br />

Kaiserreich gehorsame Untertanen beschert haben, sondern auch Hitler<br />

genügend willfährige Diener in der Ausführung des von oben verordneten<br />

Massenmordes an Juden <strong>und</strong> Regimegegnern.<br />

4.4 Entfremdung <strong>und</strong> Rebellion<br />

Die Verbindung zwischen persönlicher Identität <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>m<br />

Rollenhandeln kannte jedoch nicht nur orthodoxe Lösungen. Mit der zunehmenden<br />

Entfaltung der Eigendynamik der <strong>gesellschaftliche</strong>n Sphären<br />

erschienen im Bezugsrahmen des Lutherischen Protestantismus die orthodoxen<br />

Lösungen für sensiblere Menschen zunehmend als problematisch.<br />

Heterodoxe Lösungen gewannen an Bedeutung. Von ihnen ging die Dynamik<br />

der sozialen Bewegungen aus, eine Dynamik, die Kräfte gegen den<br />

herrschenden kalten Aktivismus mobilisierte, dabei aber auch in fataler<br />

Weise mit dem Protest gegen den verselbständigten Aktivismus auch den<br />

Protest gegen die Moderne überhaupt verband. Für empfindliche Seelen,<br />

denen die Macht der äußeren Welt im Prozeß der Rationalisierung zunehmend<br />

Furcht einjagte, gab es nur den Rückzug aus der Welt in die tiefsten<br />

Winkel der Privatheit. Nur außerhalb der kalten Rationalität der Welt,<br />

in der Privatheit individueller Beziehungen oder in der Einheit mit der<br />

Natur konnte sich der Mensch noch selbst <strong>und</strong> Gott finden. Schließlich<br />

blieb für diejenigen, die sich mit dem Rückzug nicht bescheiden wollten,<br />

nur der Protest gegen den Rationalismus der <strong>gesellschaftliche</strong>n Sphären<br />

in Politik, Recht, Wirtschaft <strong>und</strong> Wissenschaft übrig.<br />

Immer hatten das protestantische Pfarrhaus als Hort der Lutherischen<br />

Innerlichkeit <strong>und</strong> das Lehrerkollegium als Hort des deutschen Idealismus<br />

einen wesentlichen Anteil an den deutschen Erneuerungsbewegungen<br />

durch alle Höhen <strong>und</strong> Tiefen hindurch. Beide, die Orthodoxie <strong>und</strong> die<br />

Heterodoxie hatten ihre feste protestantische Verankerung. Der Protestantismus<br />

hat stets genügend Diener des jeweiligen politischen Regimes <strong>und</strong><br />

auch stets genügend Protestierende gegen die Regimes geliefert.<br />

Diese Fatalität der Oszillation zwischen orthodoxer Ergänzung von<br />

Disziplin <strong>und</strong> Befehl <strong>und</strong> heterodoxer Rebellion gegen die verselbständigte<br />

Rationalität im besonderen <strong>und</strong> gegen die Modernität im allgemeinen hat<br />

mit dem Zusammenbruch des Nationalsozialismus keineswegs ein Ende<br />

gef<strong>und</strong>en. Auch in der B<strong>und</strong>esrepublik ist bis heute die Logik dieses kulturellen<br />

Codes bei aller sonstigen Durchsetzung der Modernität spürbar.<br />

Dennoch ist die kultureile Situation in der B<strong>und</strong>esrepublik heute so weit<br />

verändert, daß die Ideen, die von den neuen Bewegungen aufgegriffen<br />

werden, auch in erheblichem Maße Neuinterpretationen des modernen<br />

Wertmusters bieten, das als kultureller Code der Moderne über die gegenwärtige<br />

Gesellschaft hinausweist. Von diesen Bewegungen wird heute der<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Materialismus der fünfziger Jahre abgelehnt, der im Besitz eines Autos, mit<br />

dem man überall hinfahren kann, wo man will, schon die Verwirklichung<br />

der Freiheit sah. Statt dessen sucht man neue, weitere Formen der Verwirklichung<br />

von Freiheit, so z.B. die Freiheit der Entscheidung am Arbeitsplatz<br />

oder die Freiheit der Entfaltung persönlicher Empfindungen. Das ist<br />

nichts anderes als eine konsequente Logik der Ausschöpfung des Interpretationspotentials<br />

des kulturellen Codes der Moderne, also ein Weg der fortschreitenden<br />

Moderne. Es ist auch kein radikaler Wertwandel, wie uns etwas<br />

kurzsichtige Sozialwissenschaftler weismachen wollen 9 , sondern ein Wandel<br />

der Interpretation ein <strong>und</strong> desselben kulturellen Codes der Moderne. Mit<br />

dieser Logik der fortschreitenden Moderne verknüpft sich jedoch in diesen<br />

Bewegungen die kulturelle Rückbindung an den spezifisch deutschen kulturellen<br />

Code <strong>und</strong> an die Logik, die in diesem Code für heterodoxe soziale<br />

Bewegungen vorgesehen ist: der Protest gegen die Moderne selbst.<br />

So vermischen sich in der B<strong>und</strong>esrepublik in den neuen sozialen Bewegungen<br />

vier Elemente miteinander: erstens eine Logik der zunehmenden<br />

interpretatorischen Ausschöpfung des kulturellen Codes der Moderne, ein<br />

Fortschritt der Moderne, zweitens ein Protest gegen die kalte Rationalität<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Sphären, die im Kaiserreich ihre fatalen Wurzeln hat,<br />

drittens ein Protest gegen die Orthodoxie des deutschen Konformismus<br />

<strong>und</strong> viertens — aus der Logik der protestantischen Innerlichkeit — ein<br />

Protest gegen die Moderne selbst. Daran ist zu erkennen: Der kulturelle<br />

Code der B<strong>und</strong>esrepublik kann zwar seine Verwandtschaft zur kulturellen<br />

Tradition Deutschlands nicht verheimlichen, aber ebensowenig kann man<br />

seine Annäherung an den kulturellen Code der Moderne leugnen. Weder<br />

die blinde Vereinnahmung der B<strong>und</strong>esrepublik für eine gelungene Modernität<br />

noch der ebenso blinde rückwärtsgewandte Fatalismus sind hier angemessene<br />

Positionen. Gefordert ist vielmehr ein wachsamer Optimismus.<br />

Schlußbetrachtung<br />

Niemand hat wohl den Gegensatz zwischen der religiösen Ethik <strong>und</strong> den<br />

verschiedenen Sphären der Welt, der Ökonomie, der Politik, der Kunst, der<br />

Erotik <strong>und</strong> der Wissenschaft, schärfer formuliert als Max Weber. Er bringt<br />

die charakteristische deutsche Spaltung zwischen religiöser Innerlichkeit<br />

<strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>r Äußerlichkeit in besonders prägnanter Weise zum<br />

Ausdruck <strong>und</strong> trägt selbst wesentlich zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Definition des<br />

Verhältnisses zwischen Ethik <strong>und</strong> Welt bei. Ethik gibt es für Weber unter<br />

den modernen Bedingungen nur noch im tiefsten Inneren der Persönlichkeit<br />

<strong>und</strong> in der Privatheit kleinster Gemeinschaften, keinesfalls aber als eine gesellschaftlich<br />

verbindliche Ethik. Jeder muß für sich den Dämon finden, der<br />

seines Lebens Fäden hält. In der Gesellschaft tobt der unversöhnliche<br />

Kampf der Wertordnungen; es ist ein Kampf wie zwischen Gott <strong>und</strong> Teufel;<br />

was des einen Gott ist, das ist des anderen Teufel. 10<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Max Webers Aussagen über die Entwicklung der modernen Gesellschaften<br />

müssen jedoch im Hinblick auf den geseUschaftlich-kulturellen Kontext<br />

relativiert werden in dem sie formuliert wurden. Dieser Kontext ist vom<br />

Lutherischen Protestantismus <strong>und</strong> seiner Säkularisierung im deutschen<br />

Idealismus definiert worden. Die hier betrachteten Gesellschaften haben<br />

ihre ganz spezifische Beziehung zwischen Ethik <strong>und</strong> Welt <strong>und</strong> ihre ganz<br />

spezifische Variante des innerweltlichen Aktivismus entwickelt. Wenn man<br />

die Eigenart der neuen sozialen Bewegungen richtig verstehen <strong>und</strong> erklären<br />

will, dann muß man dieser Tatsache weit mehr Rechnung tragen als dies in<br />

der Regel in den meist recht positivistisch verfahrenden soziologischen<br />

Untersuchungen getan wird. Die Bewegungen sind einerseits Teil einer<br />

die einzelnen Länder überspannenden Universalierung der modernen Kultur<br />

<strong>und</strong> reagieren auf eine ebenso überspannende Rationalisierung <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Sphären. Die Art <strong>und</strong> Weise, in der sie darauf reagieren, ist jedoch<br />

durch den gesellschaftlich-kulturellen Code der einzelnen Länder bestimmt.<br />

Die Kultur der Moderne erhält ihre innovative Kraft von den ganz unterschiedlichen<br />

Beiträgen der geschilderten <strong>gesellschaftliche</strong>n Varianten.<br />

Es ist deshalb gar nicht wünschenswert, daß sie sich vollkommen angleichen<br />

oder einer einzigen Variante annähern. Die Dynamik der Moderne lebt von<br />

der unauflöslichen Spannung zwischen der universellen Idee <strong>und</strong> ihrer partikularen<br />

Verwirklichung.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religions<strong>soziologie</strong>, Bd. I, Tübingen (1920)<br />

1972, S. 1-16, 203-04, 237-75, 536-73; ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre,<br />

Tübingen (1922) 1973, S. 151-56, 505-08, 517, 539-40, 593-613;<br />

ders., Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, Tübingen (1922) 1976, S. 348-67. Siehe dazu<br />

R. Münch, Theorie des Handelns, Frankfurt 1982, S. 487-501; ders., Die Struktur<br />

der Moderne, Frankfurt 1984.<br />

2 Eine umfassende Ausarbeitung der folgenden Skizze findet sich in R. Münch, Die<br />

Entwicklung der Moderne: England, Amerika, Frankreich <strong>und</strong> Deutschland, Frankfurt<br />

1986.<br />

3 Siehe dazu u.a. R. Rose, „England: The Traditionally Modern Political Culture",<br />

in: L.P. Pye <strong>und</strong> S. Verba (Hg.), Political Culture and Political Development,<br />

Princeton 1965, S. 83-129; B. Jessop, Traditionalism, Conservatism and British<br />

Political Culture, London 1974.<br />

4 Ich nenne nur: A. de Tocqueville, Über die Demokratie in Amerika. <strong>München</strong><br />

(18<strong>35</strong>/40) 1976; R. Bellah, The Broken Covenant: American Civil Religion in<br />

Time of Trial, New York 1975.<br />

5 Siehe z.B. A. de Tocqueville, Der alte Staat <strong>und</strong> die Revolution, Reinbek bei Ha<strong>mb</strong>urg<br />

(1856) 1969; M. Crozier, The Bureaucratic Phenomenon, Chicago 1964.<br />

6 Siehe u.a. H. Plessner, Die verspätete Nation, Stuttgart 1959; R. Dahrendorf,<br />

Gesellschaft <strong>und</strong> Demokratie in Deutschland, <strong>München</strong> 1971; F.K. Ringer, The<br />

Decline of the German Mandarins. The German Academic Community, 1890-1933,<br />

Ca<strong>mb</strong>ridge, Mass. 1969.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


7 Zur Interpretation von Luther vgl. A.E. Berger (Hg.) Luthers Werke, Leipzig <strong>und</strong><br />

Wien 1917; M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religions<strong>soziologie</strong>, Bd. I, op. cit.,<br />

S. 63-83.<br />

8 H. Plessner, Die verspätete Nation, op. cit., S. 39-46.<br />

9 R. Inglehart, The Silent Revolution: Changing Values and Political Styles among<br />

Western Publics, Princeton 1977.<br />

10 M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, op. cit., S. 153, 507, 603,<br />

613.<br />

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VERSOZIALWISSENSCHAFTLICHUNG DER IDENTITÄTSFORMA­<br />

TION UND DER VERWEIGERUNG VON LEBENSPRAXIS: EINE<br />

AKTUELLE VARIANTE DER DIALEKTIK DER AUFKLÄRUNG<br />

Ulrich Oevermann<br />

Vorbemerkung<br />

Während in der „empirischen Sozialforschung" der akademischen Soziologie<br />

ein subsumtionslogisches Vorgehen vorherrscht, in dem Datenmaterial<br />

aus der sozialen Realität von vornherein unter Gesichtspunkten allgemeiner,<br />

vorweg konstruierter Begriffe sortiert wird <strong>und</strong> man über empirische Verallgemeinerungen<br />

allmählich zu axiomatisierbaren Theorien fortzuschreiten<br />

hofft, bildet für eine Soziologie, die sich als hermeneutisch-rekonstruktive<br />

Erfahrungswissenschaft versteht, die Analyse der sequentiellen Strukturiertheit<br />

von textförmigen Protokollen, in der die Reproduktion der Struktur<br />

eines konkreten sozialen Gebildes als Ablauf sich manifestiert, das zentrale<br />

Geschäft. Diese auf materiale Strukturanalyse ausgehende soziologische<br />

Forschung behandelt natürliche, durch Forschungsinstrumente noch<br />

nicht zurechtgestutzte Protokolle solcher Abläufe als Erscheinungsformen<br />

der Reproduktion von Fallstrukturen, die ihrerseits allgemeinere <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Substrukturen <strong>und</strong> Typen in ihrem Reproduktions- <strong>und</strong> Transformationsprozeß<br />

ausschnitthaft zum Ausdruck bringen. Man hofft, „in<br />

the long run" über die Integration verschiedener Fallrekonstruktionen,<br />

in denen konkrete Strukturanalyse betrieben wird, zur Rekonstruktion<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Totalität einer Epoche oder eines historischen Typs<br />

zu gelangen <strong>und</strong> sich bei diesem Bemühen mit den anderen geistes- <strong>und</strong><br />

kulturwissenschaftlichen Disziplinen zu treffen.<br />

Für die Verwirklichung eines solchen Programms, das man auch als<br />

genetischen Strukturalismus oder als historische Strukturanalyse bezeichnen<br />

könnte, sind zeitdiagnostisch ausgerichtete Materialanalysen von<br />

großer Wichtigkeit, in denen man versucht, latenten Entwicklungstrends<br />

einer <strong>gesellschaftliche</strong>n Konstellation oder Lage auf die Spur zu kommen.<br />

Solche Forschungen werden gegenwärtig von der Soziologie im Vergleich<br />

zu sektoralen Problemfeld-Analysen, Surveys, Querschnittsumfragen <strong>und</strong><br />

eingegrenzte Hypothesen überprüfenden Befragungen zu wenig ernst genommen,<br />

während sie von der älteren Soziologie, die sich ihrer Verwandtschaft<br />

mit den historischen Disziplinen bewußter war, noch als zentraler<br />

Teil ihrer wirklichkeitswissenschaftlichen Aufgabenstellung betrachtet<br />

wurden. Dabei lassen sie sich im Vergleich zu jenem anderen Forschungstyp<br />

mit geringem Aufwand <strong>und</strong> auf der Gr<strong>und</strong>lage einer Vielfalt von Datentypen<br />

— Interviews, Zeitungsberichte, literarische Zeugnisse, Tagebücher,<br />

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Briefe, Reden, Verlautbarungen, usf. — gewinnbringend durchführen.<br />

Man wird vor allem versuchen, den nicht direkt abfragbaren, weil von den<br />

Befragten nicht leicht explizierbaren Konzepten der Erschließung von sozialer<br />

Realität <strong>und</strong> den Identitätsformationen nachzuspüren, die wie eine<br />

generative Formel, wie ein Deutungsmuster, die konkreten Urteile <strong>und</strong><br />

Handlungen gewissermaßen hinter der Bühne der konkreten Meinungen,<br />

Vorurteile <strong>und</strong> Überzeugungen auf Angemessenheit hin prüfen <strong>und</strong> strukturieren<br />

<strong>und</strong> ihrerseits, so sehr sie eine eigenständige Ebene der Strukturierung<br />

sozialer Realität ausmachen, in der Auseinandersetzung mit objektiven<br />

Handlungsproblemen <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>n Bedingungen sich bilden.<br />

Die analytische Eingrenzung der Wirklichkeitsebene:<br />

Von besonderer Bedeutung sind dem zeitdiagnostisch auf das Material<br />

blickenden Soziologen solche Daten, die jeweils Trends in der Formation<br />

der sozial verbindlichen Normalitätsentwürfe von Persönlichkeitsstrukturen<br />

erkennen lassen. In der Vergangenheit sind typologische Vorschläge für die<br />

Rekonstruktion des herrschenden Sozialcharakters wie „die autoritäre<br />

Persönlichkeit", der „außengeleitete" <strong>und</strong> der „innengeleitete" Mensch<br />

in der einsamen Masse oder der „eindimensionale Mensch" der technokratischen<br />

Gesellschaft des Fachmenschentums von großem Einfluß gewesen.<br />

Allerdings waren bei diesen recht global argumentierenden Typologien<br />

die Ebenen der tatsächlichen psychischen Struktur, der in Deutungsmustern<br />

verdichteten <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwürfe einer normalen Persönlichkeit,<br />

der Muster des diesen Typ jeweils hervorbringenden sozialisatorischen<br />

Milieus <strong>und</strong> der letzteres produzierenden objektiven <strong>gesellschaftliche</strong>n Bedingungen<br />

nicht klar genug voneinander getrennt.<br />

Für zeitdiagnostische Analysen sind die verinnerlichten Normalitätsentwürfe<br />

deshalb besonders wichtig, weil in ihnen sich, den jeweiligen kodifizierten<br />

sozialen Normen vorgelagert, der für die gegenwartstypischen<br />

Problemstellungen einer <strong>gesellschaftliche</strong>n Lage geeignete <strong>und</strong> geschätzte<br />

Habitus als eine zeitgeistgeb<strong>und</strong>ene latente Sinnlogik am ehesten fassen<br />

läßt. Wenn es gelingt, von diesen Habitusformationen auch nur einige typische<br />

Knotenpunkte zu identifizieren, erhält man sogleich Einblick in gesamtgesellschaftlich<br />

bedeutsame Entwicklungstrends, die als abfragbare<br />

Manifestationen sich erst später ausblühen. Damit soll nun keineswegs behauptet<br />

werden, daß es sich hierbei um autonome Entwicklungstendenzen<br />

der Gesellschaft handele, die ihrerseits nicht wiederum Reaktionen auf<br />

Transformationen des gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>n Prinzips der Organisation<br />

der Produktivkräfte <strong>und</strong> der Produktionsverhältnisse darstellten. Vielmehr<br />

macht man sich nur zunutze, daß zum einen solche Habitusformationen<br />

seismographisch die objektiv erzwungenen Problemstellungen anzeigen <strong>und</strong><br />

ihrerseits bei der Erzeugung von Problemlösungsmustern eine eigenständige<br />

Strukturierungsbedeutsamkeit haben.<br />

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Normalitätsentwürfe für Persönlichkeitsstrukturen drücken vor allem<br />

die jeweils für den Zeitgeist spezifische Deutung des Verhältnisses von Individuum<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft aus. Dieses Verhältnis stellt nicht nur begrifflich<br />

für die soziologische Strukturanalyse eine zentrale Dimension ihrer Betrachtung<br />

von Gesellschaft <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklungen, in welchen<br />

Epochen <strong>und</strong> Kulturkreisen auch immer, dar, sondern bildet real eine<br />

für die Lebenspraxis selbst zentrale Dimension von Deutungsproblemen.<br />

Daß mit der Entfaltung der Geschichte zur Moderne hin eine beständige<br />

Ausdifferenzierung von Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft für den einzelnen mit<br />

der Folge der Erhöhung von Individuierungs- <strong>und</strong> Autonomiechancen einerseits<br />

<strong>und</strong> der Zunahme von Problemdruck <strong>und</strong> Entfremdung andererseits<br />

verb<strong>und</strong>en ist, gehört zu den elementaren Topoi der Soziologie seit langem.<br />

Im folgenden soll ausschnitthaft einer spezifischen Ausformung von<br />

Identitätsentwürfen im Bezugsrahmen dieses Verhältnisses von Individuum<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft nachgegangen werden, wie es sich in einer Vielzahl von<br />

Daten aus ganz verschiedenen Forschungsbereichen dem Betrachter aufgedrängt<br />

hat. Der dabei herauskristallisierbare, hier nicht mehr als den Status<br />

einer Heuristik beanspruchende Typ von Identitätsformation in der gegenwärtigen<br />

Generation von 20- bis 30-jährigen mit weiterführender Ausbildung<br />

vermag vielleicht auch den immer wieder aufgeworfenen Fragen nach<br />

dem Weg, die diese Generation als Träger zukünftiger <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Entscheidungen gehen wird, eine Antwort durchaus bescheidenen Umfangs<br />

vorzuschlagen.<br />

Die Heuristik der Analyse: Die strukturelle Dialektik von Lebenspraxis<br />

Ich werde bei dieser Betrachtung mit einem sehr einfachen, heuristischen<br />

Begriff von Lebenspraxis arbeiten, der sowohl auf die Lebensführung einzelner<br />

Personen, wie die von Gruppen <strong>und</strong> ganzen Gesellschaften sowie deren<br />

Repräsentanten angewendet werden kann. Eine Lebenspraxis entfaltet, sehr<br />

allgemein gesprochen, jede autonom handlungsfähige, <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Instanz, ob nun Person oder höher aggregiertes System. Lebenspraxis verstehe<br />

ich als eine widersprüchliche Einheit von Begründungs- <strong>und</strong> Entscheidungszwang.<br />

Wo Handlungssituationen gr<strong>und</strong>sätzlich offen sind, Alternativen<br />

offerieren <strong>und</strong> durch Entscheidungen strukturiert werden müssen<br />

— die komplementäre Seite der Medaille von Handlungsautonomie —, konstituiert<br />

sich zugleich der Zwang zur Begründung von zu treffenden Entscheidungen,<br />

denn die durch Entscheidungsalternativen freigesetzte Handlungsautonomie<br />

realisiert sich erst in dem Maße, in dem die getroffenen<br />

Entscheidungen als vernünftig sich rechtfertigen lassen. Widersprüchlich ist<br />

die lebenspraktische Einheit von Entscheidungs- <strong>und</strong> Begründungszwang<br />

deshalb, weil gr<strong>und</strong>sätzlich die Offenheit von Handlungssituationen, generell:<br />

die Zukunftsoffenheit von Geschichte, nicht durch Einrichtung ahisto-<br />

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isch gültiger <strong>und</strong> deduktiv-nomologisch anwendbarer Entscheidungsprämissen<br />

aufgelöst werden kann, es sei denn im Grenzfall einer durchtechnokratisierten<br />

Gesellschaft. Auch in traditionellen Gesellschaften ändert die<br />

Geltung von Routinen, von Brauch, Sitte <strong>und</strong> dumpfer Gewohnheit gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

nichts daran, daß deren Begründungspotential für die Bewältigung<br />

von Entscheidungsproblemen der Lebenspraxis nicht ausreicht; andernfalls<br />

hätte es systematische historische Transformationen traditionaler Gesellschaften<br />

trivialerweise nicht geben können.<br />

Lebenspraxis ist also dadurch geprägt, daß beständig Entscheidungen<br />

mit Anspruch auf Vernünftigkeit getroffen werden müssen, obwohl zugleich<br />

deutlich ist, daß für die Aufhebung des mit dem Vernunftanspruch gesetzten<br />

Begründungszwanges ausreichende Rechtfertigungsargumente nicht<br />

immer zur Verfügung stehen. Lebenspraxis höbe sich selbst auf, wenn sie<br />

— in Anlehnung an das Modell der technologischen Anwendung von Wissenschaft<br />

— ein Defizit von Begründungsargumenten zum Anlaß nähme, die zu<br />

treffenden Entscheidungen zu vertagen. Bei genauerem Hinsehen trifft<br />

selbst dies nicht zu, denn für die Lebenspraxis gilt generell, daß sie bis auf<br />

den Grenzfall der Selbstauflösung durch Passivität — sich nicht nicht entscheiden<br />

kann, denn auch eine Nicht-Entscheidung ist lebenspraktisch eine<br />

Entscheidung, bildet allerdings den Grenzfall einer Entscheidung zur Aufgabe<br />

der Autonomie. Nicht-Entscheidung bedeutet lebenspraktisch gesehen<br />

die Einrichtung von Abhängigkeit, ebenso wie die Verleugnung der Verantwortlichkeit<br />

für Entscheidungsfolgen.<br />

Würden jeweils in einer Gesellschaft zur Verfügung stehende Begründungsargumente<br />

als für alle lebenspraktisch eintretenden Entscheidungssituationen<br />

ausreichend angesehen werden, dann wäre gewissermaßen das<br />

Ende der Geschichte erreicht. Daß Handlungssituationen gr<strong>und</strong>sätzlich<br />

offen sind, <strong>und</strong> eingerichtete Begründungsargumente, auch wissenschaftlich<br />

validierte, immer nur für den allerdings rein quantitativ die überwiegende<br />

Mehrzahl bildenen Routinefall ausreichen, darin besteht gerade das Moment<br />

von Lebenspraxis als nicht hintergehbarer Quelle von materialer Rationalität.<br />

Was in der Gegenwart einer im Lichte des bestehenden Wissens <strong>und</strong> geltender<br />

Normen nicht zu begründenden Entscheidung sich zunächst mit Bezug<br />

auf diese historisch spezifische, rationale Begründungsbasis als irrational<br />

ausnimmt, erweist sich potentiell in der Zukunft als entfaltete materiale Rationalität;<br />

dann nämlich, wenn in rekonstruktiver Einstellung die Entscheidung<br />

als unter den gegebenen Situationsbedingungen von den eingetretenen<br />

Folgen her nachträglich zu begründende sich erweist. Diese Begründung<br />

trägt aber den Charakter der Nachträglichkeit nicht, weil sie in der Eile der<br />

Entscheidungssituation nur nicht schnell genug aufgef<strong>und</strong>en werden konnte,<br />

sondern weil — gr<strong>und</strong>sätzlich — die Rekonstruktion der Entscheidungssituation<br />

zugleich offenbart, warum das bis dahin geltende Wissen für eine<br />

vernünftige Entscheidung nicht ausreichte <strong>und</strong> inwiefern die getroffene Entscheidung<br />

faktisch — bezogen auf die vorausgehende Wissensbasis — eine Erfahrungserweiterung<br />

herbeigeführt hat. Mit diesem Argument ist zugleich<br />

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der Primat der lebenspraktischen Erfahrung vor der wissenschaftlichen Erkenntnis<br />

begründet; Erfahrungswissenschaft rekonstruiert immer nur, was<br />

die Lebenspraxis selbst in konkreten Entscheidungssituationen erfahrbar<br />

macht. Das methodisch kontrollierte wissenschaftliche Experiment ist<br />

nichts anderes als eine gedankenexperimentell konstruierte Simulation von<br />

Handlungssituationen <strong>und</strong> erfährt darin zugleich auch seine Grenze. Die<br />

Wirkung der inzwischen viel berufenen Verwissenschaftlichung des Alltags<br />

beruht, in diesem Lichte gesehen, genau darin, daß sie das Bewußtsein vom<br />

Primat der lebenspraktischen Erfahrung tendenziell auflöst <strong>und</strong> damit auch,<br />

in einer veränderten Form von Entfremdung innerhalb der Dialektik der<br />

Aufklärung, die lebenspraktische Handlungsautonomie selbst.<br />

Diese Auslegung von Lebenspraxis wird nicht nur in der gegenwärtigen<br />

Gesellschaft, sondern gerade auch in der Soziologie mit einem gewissen<br />

Mißtrauen betrachtet. Man erblickt darin gern Anzeichen für Irrationalismus<br />

<strong>und</strong> Dezisionismus. Nicht selten wird eingewandt, was schon gegen<br />

die „Geworfenheit" <strong>und</strong> die darin enthaltene Heroisierung des Individuums<br />

in seinem einsamen Entscheidungszwang (innerhalb des Existentialismus)<br />

vorgebracht wurde. Verwiesen wird dann auf die sozial institutionalisierten,<br />

Entscheidungen schon vorweg bestimmenden Handlungsorientierungen <strong>und</strong><br />

darauf, daß der normale Alltagsmensch die widersprüchliche Einheit von<br />

Entscheidungs- <strong>und</strong> Begründungszwang deshalb nicht als beunruhigend erfahre,<br />

weil selbstverständlich geltende Relevanzsysteme <strong>und</strong> Erwartungshorizonte<br />

schon immer einen hinreichenden Vorrat an akzeptablen Begründungen<br />

zur Verfügung stellten, ja von sich aus überhaupt erst die Entscheidungssituation<br />

erfahrbar machten.<br />

Einwände dieser Art verkennen den strukturalistischen Charakter der<br />

Argumentation, deren ich mich hier bediene <strong>und</strong> sehen nicht, daß solche<br />

wie selbstverständlich geltenden Orientierungen <strong>und</strong> Relevanzsysteme als<br />

Entscheidungsroutinen gerade in Reaktion auf die dialektische Struktur von<br />

Lebenspraxis eingerichtet worden sind, um das prinzipiell handlungsautonome<br />

Individuum zu entlasten, daß aber die gr<strong>und</strong>legende Struktur von<br />

Lebenspraxis als widersprüchlicher Einheit dadurch keineswegs aufgehoben<br />

ist, sondern die Konstitution von Routinen <strong>und</strong> Orientierungen als Formen<br />

eines praktikablen Umgangs mit ihr allererst erklärt. Der referierte Einwand<br />

verwechselt mithin Wesen <strong>und</strong> Erscheinung in der Strukturierung sozialer<br />

Realität.<br />

Vor allem aber verschütten Einwände dieser Art den Blick auf eine einfach<br />

zu fassende, zentrale Dimension des historischen Prozesses der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Rationalisierung <strong>und</strong> ihrer Dialektik. Sieht man nämlich die<br />

widersprüchliche Einheit von Begründungs- <strong>und</strong> Entscheidungszwang als die<br />

strukturale Dialektik von Lebenspraxis überhaupt an, in der material sowohl<br />

das spezialisierte Denken wie die — als soziales Handeln gefaßte —<br />

wissenschaftliche Erkenntnis <strong>und</strong> professionalisierte Kunst als spezialisierte<br />

Formen der Kritik von lebenspraktisch geb<strong>und</strong>ener Alltagserfahrung letztlich<br />

f<strong>und</strong>iert sind, dann ist nicht nur die Entfaltung dieser Dialektik selbst<br />

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dem historischen Wandel unterworfen, sondern sie gibt für die historisch-<strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklung den Rahmen ab. Diese vollzieht sich unter diesem<br />

Blickwinkel als Entfaltung der jeweils institutionalisierten Umgangsweisen<br />

mit dem universellen Strukturproblem der gleichzeitigen Entscheidungs<strong>und</strong><br />

Begründungsverpflichtung. So gesehen kommt der Institutionalisierung<br />

wissenschaftlichen Handelns im 17. Jahrh<strong>und</strong>ert eine wesentliche Schubkraft<br />

im <strong>gesellschaftliche</strong>n Rationalisierungsprozeß zu, weil mit der kritischen<br />

Prüfung von Alltagsüberzeugungen nach expliziten Kriterien der<br />

Geltung auf der einen Seite die Standards, Ansprüche <strong>und</strong> Möglichkeiten<br />

rationaler Begründung explosionsartig gesteigert wurden, auf der anderen<br />

Seite aber auch angesichts der verschärften Kriterien rationaler Begründung<br />

die wie selbstverständlich geltenden Tradtitionen <strong>und</strong> Überzeugungen für<br />

die Rechtfertigung von lebenspraktischen Entscheidungen in den Strudel<br />

des Zweifels gerieten <strong>und</strong> entsprechend der Problemdruck für die Lebenspraxis<br />

stieg, anders gesprochen, das Individuum an Autonomie potentiell<br />

gewann, zugleich dafür aber auch den Preis höherer Inanspruchnahme <strong>und</strong><br />

Verantwortlichkeit zu entrichten hatte.<br />

Dies kann man sich am ehesten vergegenwärtigen, wenn man das Argument<br />

am Beispiel elementarer lebenspraktischer Entscheidungsprobleme<br />

durchspielt, die sich gr<strong>und</strong>sätzlich nicht auf technische Fragen oder auf<br />

Fragen der Geltung von Gesetzeshypothesen reduzieren lassen, sondern auf<br />

Fragen der Lebenspraxis selbst beziehen, bei denen die Dignität des Individuierungsentwurfs<br />

als Bestandteil individueller Handlungsautonomie selbst<br />

auf dem Spiel steht. Zu solchen Entscheidungsproblemen gehören ebenso<br />

elementare wie wissenschaftlich gr<strong>und</strong>sätzlich nicht beantwortbare Fragen<br />

wie: Soll ich eine bestimmte Person heiraten oder nicht? <strong>und</strong>: Soll ein Kind<br />

gezeugt werden oder nicht? Für den Menschen der primitiven oder traditionalen<br />

Gesellschaften sind dies höchstwahrscheinlich nicht wirklich bedrängende<br />

Fragen gewesen, die ihn in Entscheidungsnöte gebracht hätten. Ihre<br />

Beantwortung war quasi automatisch durch Sitte, Tradition <strong>und</strong> Konvention<br />

vorgegeben, so daß sie als belangvolle Entscheidungsprobleme nicht<br />

ins Bewußtsein traten. Gleichwohl mußte die tatsächlich getroffene Entscheidung<br />

gute Gründe in Anspruch nehmen können, wie die starke negative<br />

Sanktionierung von abweichenden Fällen gerade in diesen Gesellschaften<br />

zeigt. Aber die richtige Entscheidung war, den Einzelnen entlastend,<br />

schon in kollektiven Regeln vorgeprägt oder im Falle der Nachkommenschaft<br />

durch Begrenzung der Kontrollierbarkeit faktisch vorgegeben. Die<br />

strukturale Dialektik von Lebenspraxis drang gewissermaßen nicht bis ins<br />

individuelle Bewußtsein, das von ihr überfordert worden wäre, vor, sondern<br />

wurde auf der Ebene von Brauchtum, Sitte <strong>und</strong> den institutionalisierten<br />

Normen abgefangen. Aber sie war dennoch als universales Strukturproblem<br />

latent präsent. Anders gesprochen: Die Ausdifferenzierung des dialektischen<br />

Verhältnisses von Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft war noch nicht so<br />

weit gediehen, daß die widersprüchliche Einheit von Entscheidungs- <strong>und</strong><br />

Begründungszwang zu einem Problem der Bewältigung individueller Autonomie<br />

hätte werden können.<br />

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In dem Maße, in dem in den italienischen Stadtrepubliken die tradierten<br />

Legitimationsbestände für politische Herrschaft nicht mehr greifen, erwächst<br />

aus dem beständigen Kampf um die reale Macht der Politiker, der<br />

seine Entscheidungen ad hoc vor einer quasi-bürgerlichen Öffentlichkeit begründen<br />

muß <strong>und</strong> sich nicht mehr auf geltende Traditionen allein berufen<br />

kann. Und in dem Maße, in dem die zunächst auf einen sehr eingeschränkten<br />

Objektbereich sich beziehenden Erfahrungswissenschaften institutionalisiert<br />

werden <strong>und</strong> als solche die legitimatorisch bedeutsamen Weltbilder erschüttern,<br />

wird in der Neuzeit das entscheidungsautonome, einer universalen<br />

Ethik begründungsverpflichtete Subjekt der bürgerlichen Gesellschaft<br />

entlassen. Nun tritt aber zur Schließung der von Traditionen freigemachten<br />

Entscheidungsoffenheit nicht wissenschaftliche Erkenntnis oder im einzelnen<br />

inhaltlich durchgeführte Ethik an die Stelle der früheren, das Begründungsproblem<br />

von vornherein lösenden Wissens- <strong>und</strong> Argumentationsbestände.<br />

Diese im neuzeitlichen Denken immer wieder auftauchende technokratische<br />

Variante würde ja die einmal in der Form des autonomen Subjekts<br />

freigesetzte dialektische Struktur von Lebenspraxis sogleich wieder verschütten,<br />

<strong>und</strong> es ist sehr die Frage, ob das gr<strong>und</strong>sätzlich ohne Rest noch<br />

möglich ist. Auch logisch würde ja diese Variante letztlich auf die materiale<br />

Absurdität hinauslaufen, Lebenspraxis in wissenschaftliche Rationalität<br />

hermetisch abgedichtet aufgehen zu lassen, in jene Rationalität also, die<br />

ihrerseits ohne die Einbettung in die materiale Rationalität von Lebenspraxis<br />

gar nicht denkbar wäre.<br />

Die Auflösung des Traditionalismus bedeutet also nicht nur das Heraustreten<br />

einer wissenschaftlich in Regie genommenen Rationalisierung, sondern<br />

zugleich strukturell auch die Manifestation der latent schon immer der<br />

Chance nach vorliegenden Autonomie der Lebenspraxis, sei es als individuelle,<br />

familiäre oder gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>. Die in ihr freigesetzte Dialektik<br />

von Entscheidungs- <strong>und</strong> Begründungszwang kann nun nicht einfach<br />

durch das historisch neue, wissenschaftlich verwaltete Repertoire von Begründungen<br />

ähnlich den vorausgehenden allzuständigen Traditionen stillgestellt<br />

werden, wie es die technokratische Ideologie sich vorstellt. Die Kernfragen<br />

der Lebenspraxis gehören vielmehr einer kategorialen Ordnung an,<br />

die sich einer wissenschaftlichen Problemlösung allein deshalb schon nicht<br />

erschließt, weil strukturell <strong>und</strong> handlungslogisch gesehen der Sinn lebenspraktischer<br />

Fragen sich nicht auf ihren propositionalen Gehalt in den Begriffen<br />

des Allgemeinen reduzieren läßt bzw. als solcher sich schon kategorial<br />

geändert hätte, wenn er losgelöst von der konkreten, besonderen Perspektivität<br />

der jeweiligen Lebenspraxis, aus der heraus diese Fragen sich<br />

sinnvoll entfaltet haben, betrachtet würde, wie es in der wissenschaftlichen<br />

Problemlösung notwendig der Fall sein müßte. Damit ist keineswegs behauptet,<br />

lebenspraktische Fragen ließen sich wissenschaftlich nicht als<br />

solche behandeln. Aber wo das in Not- <strong>und</strong> Grenzfällen geschieht, bedarf es<br />

zur Sicherung der Autonomie dieser Lebenspraxis besonderer Vorkehrungen,<br />

die in der Logik des dafür zuständigen professionalisierten Handelns<br />

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sozial ausgebildet vorliegen, hier aber nicht ausgebreitet werden können.<br />

Die Ausdifferenzierung von Wissenschaft als Handlungssystem ist also<br />

selbst in jene Dialektik von Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft eingeb<strong>und</strong>en, die<br />

zur manifesten Ausdifferenzierung des autonomen Subjekts als Strukturgebilde<br />

führt.<br />

Dieses sieht sich vor die Verpflichtung rationaler Entscheidungsbegründung<br />

gestellt, in die zunehmend der Modus der wissenschaftlichen Rationalität<br />

<strong>und</strong> die Berücksichtigung ihrer Ergebnisse einwandert: Die mit der Befreiung<br />

von Traditionen verb<strong>und</strong>ene Erweiterung der expliziten rationalen<br />

Begründbarkeit steigert zugleich die Ansprüche an die Rationalität der Begründung<br />

von Entscheidungen. Dies ist unproblematisch bei technischen<br />

Fragen <strong>und</strong> Fragen der angemessenen Handlungsstrategie in Begriffen einer<br />

Mittel-Zweck-Rationalität. Aber diese Steigerung muß als Problemdruck, als<br />

belastend dort empf<strong>und</strong>en werden, wo elementare lebenspraktische Entscheidungen<br />

anstehen, die auf der einen Seite jedermann betreffen, insofern<br />

also als alltäglich <strong>und</strong> <strong>und</strong>ramatisch, für jedermann lösbar erscheinen, für<br />

die aber andererseits zum einen wissenschaftliche Lösungen prinzipiell,<br />

ohne Kategorienfehler zu begehen, nicht zur Verfügung stehen können, andererseits<br />

aber auch traditionale, vorwissenschaftliche Argumentationsbestände<br />

nicht mehr beigezogen werden können, da sie ja gerade durch die<br />

Institutionalisierung von Wissenschaft ein für alle Mal entwertet worden<br />

sind <strong>und</strong> auch durch Nostalgie, Regression oder die exotisierende Wertschätzung<br />

außereuropäischer Lebenswelten gültig nicht zurückgewonnen<br />

werden können.<br />

Das vorläufige Schema einer versozialwissenschaftlichten Identitätsformation<br />

Diese Steigerung des Problemdrucks, so meine zentrale These, prägt typische<br />

Identitätsformationen, die wir heute in der jüngeren Generation als<br />

eine spezifische Antwort auf die explizierte dialektische Struktur von Lebenspraxis<br />

antreffen. Bezogen auf die elementaren Fragen von Ehe <strong>und</strong><br />

Nachkommenschaft läßt sich das empirisch vielfach belegen. Der Boom an<br />

popularisierten sozialisationstheoretischen Schriften, an Lebens- <strong>und</strong> Erziehungsberatung<br />

in den Kirchen <strong>und</strong> Kommunen <strong>und</strong> in der Literatur ist<br />

nur ein Reflex auf die Verunsicherung, die subjektiv auf diese Problemdrucksteigerung<br />

eingetreten ist. Was subjektiv als Einlösen der Rationalitätsverpflichtung<br />

<strong>und</strong> der Verpflichtung zu aufgeklärtem Verhalten erscheint<br />

<strong>und</strong> sich in der Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse auf die eigene<br />

Lebenspraxis äußert, ist objektiv das genaue Gegenteil: die in Selbst-Technokratisierung<br />

sich vollziehende Flucht vor der bewußten Wahrnehmung<br />

einer lebenspraktischen Autonomie, deren Verpflichtung zu materialer Rationalität<br />

durch die bloße Anwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse<br />

gr<strong>und</strong>sätzlich nicht abgedeckt werden kann. Den Rückgang der Geburtenziffern<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik würde ich im wesentlichen auf diesen Pro-<br />

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lemdruck zurückführen. Nicht Bequemlichkeit oder ökonomische Restriktionen<br />

verursachen ihn, wie häufig angeführt worden ist, sondern die Verunsicherung<br />

gegenüber einem elementaren lebenspraktischen Entscheidungsproblem,<br />

für dessen Vergegenwärtigung <strong>und</strong> Dramatisierung eine Versozialwissenschaftlichung<br />

des Alltags weitgehend verantwortlich ist, dessen<br />

Lösung aber von denselben Sozialwissenschaften der Sache nach nicht angeboten<br />

werden kann, wenn auch häufig genug suggeriert worden ist.<br />

In diesem Zusammenhang bildet die in den letzten Jahren besonders in<br />

den akademisch gebildeten Schichten häufig verneh<strong>mb</strong>are Argumentation,<br />

man könne doch im Angesicht der ökologischen <strong>und</strong> militärischen Bedrohungen<br />

der Zukunft es nicht verantworten, Kinder in die Welt zu setzen,<br />

eine interessante <strong>und</strong> instruktive Erscheinung. Die Vergegenwärtigung allgemeiner<br />

Zukunftsprobleme bei privaten Entscheidungen bedeutet zunächst<br />

einmal eine Steigerung der Begründungs- <strong>und</strong> Rationalitätsverpflichtung<br />

<strong>und</strong> wird subjektiv auch als solche empf<strong>und</strong>en <strong>und</strong> als Vermeidung einer<br />

dumpf über einen kommenden Schicksalhaftigkeit ausgegeben. Aber die<br />

moralische Figur, die daraus gemacht wird, verweist zugleich auf eine selbsttechnokratisierende<br />

Verweigerung der strukturellen Dialektik von Lebenspraxis<br />

auf Seiten einer <strong>gesellschaftliche</strong>n Gruppierung, die sich als Aufklärungsavantgarde<br />

zumeist empfindet. Denn faktisch läuft diese Begründung<br />

auf eine omnipotente, unerwachsene <strong>und</strong> selbst-entmündigende Verweigerung<br />

von Lebenspraxis insgesamt hinaus, nicht auf eine spezifische, besondere<br />

Rationalität für sich in Anspruch nehmende Entscheidung innerhalb<br />

der Lebenspraxis.<br />

Dies läßt sich leicht erkennen, wenn man die Implikationen des Beispielarguments<br />

gegen die Zeugung von Nachkommen sich klar macht. Selbst<br />

wenn die antizipierbaren Zukunftsprobleme eines würdigen Lebens als<br />

schier unlösbar erscheinen sollten, dann behält diese Erwartung doch immer<br />

den Charakter einer falsifizierbaren Prognose. Jede andere Interpretation<br />

liefe — lebenspraktisch gesehen — auf omnipotenten, die reale Entfaltung<br />

von Geschichte stillstellenden Dogmatismus hinaus. Im Unterschied zu<br />

naturwissenschaftlichen Gegenstandsbereichen können gesellschaftswissenschaftliche<br />

Prognosen nicht nur dadurch falsifiziert werden, daß sie bei<br />

invariant bleibender Struktur des Gegenstandes sich als tatsächlich falsch<br />

erweisen, sondern daß sie, obwohl für eine bestimmte historische Entwicklungsphase<br />

durchaus empirisch triftig, durch die reale historische Entwicklung<br />

im Gegenstandsbereich selbst widerlegt werden oder veralten. Zu dieser<br />

realen historischen Entwicklung bedarf es aber der Nachkommen, die<br />

sich der Offenheit einer zukünftigen <strong>gesellschaftliche</strong>n Praxis stellen <strong>und</strong><br />

problemlösend materiale Rationalität sachlich herstellen. Generalisierte<br />

man nun das besagte Argument gegen Nachkommen zu einer ethischen<br />

Maxime, deren Charakter es ja prinzipiell für sich in Anspruch nimmt, dann<br />

liefe dessen Handlungsfolge darauf hinaus, der zukünftigen Lebenspraxis<br />

das Personal zu entziehen <strong>und</strong> sie damit als solche abzuschaffen.<br />

Diese Diagnose gilt allerdings nur, wenn in einer Familie entsprechend<br />

argumentiert wird, ohne daß der abstrakten wissenschaftlichen Prognose als<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Begründungsargument in den konkreten Lebensumständen etwas entspräche.<br />

Ganz anders liegen die Dinge, wenn etwa mit Verweis auf die voraussehbare<br />

Inbetriebnahme eines Kernkraftwerkes in der Nachbarschaft <strong>und</strong><br />

den voraussehbaren Zwang, am Ort bleiben zu müssen, mit Verweis auf<br />

konkrete Bedingungen der eigenen Lebenspraxis also, eine Entscheidung<br />

gegen Nachkommen begründet wird. Im letzteren Fall läge eine Entscheidung<br />

vor, die innerhalb der Lebenspraxis in ihrer konkreten Ausformung<br />

vollzogen worden ist, im ersteren Falle eine durch Versozialwissenschaftlichung<br />

verbrämte Vermeidung der Lebenspraxis selbst.<br />

Diese Vermeidung von Lebenspraxis scheint im Kern hinter den viel<br />

berufenen <strong>und</strong> beschworenen, in der Regel kulturkritisch verkürzt interpretierten<br />

Formen von Leistungsverweigerung, Motivationsverlust <strong>und</strong> Aussteigertum<br />

zu stecken. Auch auf die zweite erwähnte elementare lebenspraktische<br />

Frage: Soll ich eine bestimmte Person heiraten oder nicht, werden<br />

ähnliche, Lebenspraxis vermeidende Antworten, im Bezugsrahmen dieser<br />

aktuellen selbst-technokratisierenden Identitätsformation gegeben. Die<br />

Verwendung des Wortes „Beziehung" verweist darauf. Wenn es heißt „ich<br />

komme gerade aus meiner Beziehung" oder „ich habe Beziehungsprobleme",<br />

dann kommt darin zum Ausdruck, daß man in der Betrachtung dieser<br />

Probleme eine Versozialwissenschaftlichung schon vorgenommen hat. Der<br />

besondere, individuierte Charakter der diffusen Beziehung zu einer bestimmten,<br />

unverwechselbaren <strong>und</strong> unvertretbaren Person ist darin schon<br />

aufgelöst, die Struktur einer Inti<strong>mb</strong>eziehung als solche also schon aufgegeben<br />

worden. Übrig bleibt nur noch das, was allein einer wissenschaftlichen<br />

Betrachtung des Problems zugänglich wäre: nämlich genau der allgemeine,<br />

strukturelle Charakter solcher Beziehungen, wie er sich unabhängig von den<br />

lebenspraktisch konkret gegebenen Personen formulieren läßt. Man glaubt<br />

offensichtlich, durch objektivierende wissenschaftliche Betrachtung aufgeklärt<br />

die lebenspraktischen Entscheidungsprobleme bewältigen zu können<br />

<strong>und</strong> bemerkt nicht, daß man sie als lebenspraktische durch Reduktion auf<br />

wissenschaftliche Problemlösung gerade umgeht.<br />

Ganz ähnliche Phänomene ließen sich für die Bewältigung von Erziehungsproblemen<br />

in der Familie anführen, aber auch für Fragen, die in den<br />

dramatischen Grenzbezirken der Lebensbewältigung, also im Hinblick auf<br />

Krankheit <strong>und</strong> Tod, entstehen.<br />

Die Explikation des Argumentes von der widersprüchlichen strukturellen<br />

Einheit der Lebenspraxis soll nun hier keinesfalls den Anschein einer<br />

quasi-evolutionstheoretischen Argumentation erwecken, sondern die Abbildungsfolie<br />

für Erscheinungen abgeben, die sich, bei allen sonstigen inhaltlichen<br />

Differenzen, in verschiedenen Bereichen der Identitätsformation der<br />

gut ausgebildeten, jüngeren, sich als Aufklärungsavantgarde verstehenden<br />

Generation der Gegenwart auf die Figur einer bestimmten Identitäts- oder<br />

Selbstbildinformation bringen lassen, die ihrerseits eine durch Versozialwissenschaftlichung<br />

der Alltagserfahrung wesentlich angeleitete Reaktion auf<br />

die strukturell bedingte Gegenwartsprägung der allgemeinen strukturel-<br />

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len Dialektik von Entscheidungs- <strong>und</strong> Begründungszwang darstellt, <strong>und</strong> die<br />

die Paradoxie von subjektiver Avantgarde <strong>und</strong> objektiver Regression qua<br />

Autonomie-Verweigerung als etwas historisch Neues hat entstehen lassen.<br />

Bevor an exemplarischen Datenmaterialien diese Figur näher bestimmt<br />

<strong>und</strong> belegt werden kann, soll sie zusammenfassend allgemein bezeichnet<br />

werden. Es ist eine Identitätsfiguration, die eingespannt zu sehen ist in die<br />

historische Ausdifferenzierung des dialektischen Verhältnisses von Individuum<br />

<strong>und</strong> Gesellschaft. Man gewinnt den Eindruck, daß in der industriellen<br />

Gegenwartsgesellschaft dieser dialektische Bogen bis zum Zerreißen gespannt<br />

ist <strong>und</strong> zunehmend subjektiv nicht mehr in Spannung gehalten werden<br />

kann, weil unter dieser Dialektik das zur Autonomie verurteilte Subjekt<br />

sich überfordert fühlt. Es geht der widersprüchlichen Einheit von Begründungs-<br />

<strong>und</strong> Entscheidungszwang dadurch aus dem Wege, daß es einerseits<br />

die fortgeschrittensten Erkenntnisse für die Begründung der eigenen Lebensführung<br />

in Anspruch nimmt, andererseits aber damit gerade die Vermeidung<br />

von Entscheidungsverpflichtungen begründet, die sich aus dem Bezug zum<br />

öffentlichen Wohl der <strong>gesellschaftliche</strong>n Praxis ergeben, deren Mitglied man<br />

ist. Während auf der einen Seite fast grenzenlos die eigene Lebenspraxis<br />

unter den anspruchsvollen Rationalitätsanspruch der modernen Sozialwissenschaften<br />

gestellt <strong>und</strong> universalisiert wird, wird auf der anderen Seite im<br />

proportionalen Verhältnis dazu die Verbindung der eigenen Lebenspraxis<br />

zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Praxis der Gegenwart aufgekündigt <strong>und</strong> jene partikularisiert.<br />

Auf diese Weise wird die widersprüchliche Einheit als solche zerrissen.<br />

Die versozialwissenschaftlichte, in einer Flut von wohlfeilen Paperbacks<br />

unter die Leute gebrachte Argumentation wird wörtlich, als Lebenshilfe,<br />

als die sie zumeist auch angepriesen ist, auf die eigene Lebenspraxis angewendet<br />

<strong>und</strong> die unauflöslichen Folgen dieses Kategorienfehlers, in dem die<br />

Komplexität <strong>und</strong> Zukunftsoffenheit des konkreten Lebens überspielt ist,<br />

werden in der Affirmation von weiterführenden Antworten, die sich zugleich<br />

in der Form der sozialwissenschaftlichen Terminologie kritisch geben<br />

können, verdrängt, indem deren praktischer Anwendungsbereich auf die<br />

insulierte soziale Existenz einer „Szene", einer „WG" einer „Arbeitsgemeinschaft"<br />

oder irgendeiner anderen primärgruppenhaften privaten Existenzform<br />

beschränkt wird. Dadurch sind die aus der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Existenz der eigenen Lebenspraxis resultierenden Problemstellungen von<br />

vornherein entschärft. In dieser Zurichtung <strong>und</strong> Selektivität des Anwendungsbereichs<br />

der überlegenen Begründungsmoral können alle jene lebenspraktischen<br />

Entscheidungsprobleme, die, würden sie nicht verdrängt oder<br />

beiseitegeschoben, als im Rahmen der Moral nicht lösbar erkannt werden<br />

müßten, der umgebenden Gesellschaft angelastet werden. Wo die wörtlich<br />

genommene Begründungsmoral versagen <strong>und</strong> die lebenspraktisch in ihrem<br />

Namen vollzogene Entscheidung im Hinblick auf ihre Folge verantwortet<br />

werden müßte, steht zur Verdrängung dieses Folgeproblems die elitäre<br />

Abgrenzung zur umgebenden „unaufgeklärten" Gesellschaft zur Verfügung,<br />

deren Praxis man sich im Besitz der besseren Argumentation nur entziehen<br />

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kann. Wo Zweifel an der eigenen Lebensführung aufkommen könnten, ist<br />

der mechanisch verwendbare Hinweis auf die „<strong>gesellschaftliche</strong> Bedingtheit"<br />

des eigenen Verhaltens schon bereitgestellt, in deren Namen Verantwortlichkeit<br />

beliebig aufgekündigt werden kann, ohne daß daraus ein moralischer<br />

Zweifel entstehen könnte. Denn die Konsistenz <strong>und</strong> Integrität der<br />

Moral wird ja zugleich hinreichend durch die beziehungsdynamische Virtuosität<br />

<strong>und</strong> überlegene Rücksichtnahme in der überschaubaren Binnenszene<br />

unter Beweis gestellt.<br />

Daraus resultiert das widersprüchliche Bild einer aufgeklärten Generation,<br />

die einerseits in der eigenen Binnenkultur von Inti<strong>mb</strong>eziehungen,<br />

Fre<strong>und</strong>schaften <strong>und</strong> Gesinnungsgemeinschaften in gesteigerter moralischer<br />

Sensibilität <strong>und</strong> Rücksichtnahme lebt, andererseits den zur eigenen Lebenspraxis<br />

konstitutiv gehörenden Gemeinwohlbezug zur eigenen Gesellschaft<br />

<strong>und</strong> die sich daraus ergebenden Rationalitätsverpflichtungen vergleichsweise<br />

leichthändig aufkündigen kann. Die auf der einen Seite gesteigert zum<br />

Ausdruck kommende Individuierung wird auf der anderen Seite durch<br />

Flucht <strong>und</strong> Verweigerung regressiv hintergangen.<br />

Diesem Riß im Spannungsverhältnis von Individuum <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

korrespondiert ein Riß in der Präsentation des Subjekts selbst. Hier steht<br />

nämlich, so das zentrale Element in der hier vertretenen Typologie einer<br />

Identitätsformation der Gegenwart, einer gesteigert sensibilisierten, aber auf<br />

passive Rezeption regredierten Komponente des Selbst, das permanent „betroffen"<br />

ist, eine versozialwissenschaftlichte Selbstwahrnehmungskomponente<br />

unvermittelt gegenüber, die im begrifflichen Bezugsrahmen sozialwissenschaftiicher<br />

Theorien sich ganz kühl <strong>und</strong> distanziert über das Selbst<br />

beobachtend beugt, es als „betroffen" registriert <strong>und</strong> daraus seine theoriegeleiteten<br />

Schlüsse zieht. In diesem Auseinanderfallen der strukturellen Dialektik<br />

des autonomen Subjekts erscheint die Gesellschaft nicht mehr primär<br />

als das, woran man wesentlich über den sozialen Prozeß der eigenen Bildungsgeschichte<br />

Anteil hat <strong>und</strong> woran man über die praktische Übernahme<br />

der Verpflichtung zur Einlösung des so gebildeten Vermögens, nicht zuletzt<br />

in der Form der begründeten Kritik von Gesellschaft, weiterhin Anteil<br />

nimmt, sondern verdinglicht als etwas, was dem sensibilisierten Betroffenheits-Selbst<br />

gegenüber nur noch als Quelle von Betroffenheit erscheint.*<br />

* Diese Ausführungen sind die Einleitung zu einer Reihe von empirischen Fallanalysen<br />

auf der Datenbasis von verschrifteten qualitativen Tonband-Interviews. Diese Fälle<br />

bilden auf den Ebenen von Persönlichkeitsstruktur <strong>und</strong> sozialer Herkunft zwar deutliche<br />

Kontraste, weisen aber trotz aller Heterogenität gemeinsam die Zugehörigkeit<br />

zu dem Typ einer selbst-technokratisierend versozialwissenschaftlichten Identitätsformation<br />

mehr oder weniger deutlich auf. Aus Platzgründen kann hier keine der Fallanalysen<br />

exemplarisch abgedruckt werden. Bei der Einschätzung der empirischen<br />

Triftigkeit des vorgestellten Modells ist zu berücksichtigen, daß es letzlich erst „in der<br />

Sprache des Falles", d.h. im materialaufschließenden Nachweis, Gültigkeit beanspruchen<br />

kann. Aus solchen Materialanalysen ist es hervorgegangen, nicht aus von der<br />

Sachanalyse abgetrennten theoretischen Reflexionen. Dennoch handelt es sich um<br />

nicht mehr als ein heuristisches Modell, dessen Wert sich primär sowohl an der geeigneten<br />

Vorstrukturierung als auch an der Struktur generalisierenden Kraft von konkreten<br />

Fallrekonstruktionen zu erweisen hat.<br />

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BEMERKUNGEN ZU GESELLSCHAFTSSTRUKTUR, BEWUSSTSEINSFO<br />

Thomas<br />

Luckmann<br />

Zuallererst eine kurze Erläuterung der im Titel verwendeten Begriffe:<br />

Unter „Gesellschaftsstruktur" verstehe ich ein System — oder die Annäherung<br />

an ein System — von Handlungsregulierungen, von Institutionen.<br />

Unter „Bewußtsein" verstehe ich das, was subjektive Erfahrungen konstituiert<br />

— also Bewußtseinsleistungen —, <strong>und</strong> das, was sich in subjektiven<br />

Erfahrungsverläufen konstituiert — also Bewußtseinsgegenstände. Die konkrete<br />

empirische Organisation der Bewußtseinsgegenstände <strong>und</strong> ihre Zuordnung<br />

zu einem Subjekt <strong>und</strong> die Prägung des Subjekts zur persönlichen<br />

Identität sind <strong>gesellschaftliche</strong> <strong>und</strong> daher geschichtliche Konstruktionen.<br />

Unter Religion verstehe ich jenen Kern der <strong>gesellschaftliche</strong>n Organisation<br />

des Bewußtseins, der sich ausdrücklich auf vor allem außeralltägliche<br />

Erfahrungstranszendenzen bezieht.<br />

Eine Bemerkung zu meinen Annahmen über das Verhältnis von Gesellschaftsstruktur<br />

<strong>und</strong> Bewußtsein. Daß das menschliche Leben <strong>und</strong> die individuelle<br />

Orientierung in der Welt 'mehr oder weniger' unmittelbar <strong>und</strong><br />

'mehr oder weniger' durchgängig von der Gesellschaftsstruktur bestimmt<br />

wird, ist eine allgemeine soziologische — <strong>und</strong> auch meine — Gr<strong>und</strong>annahme.<br />

Max Weber folgend, ziehe ich jedoch die Möglichkeit in Betracht, daß die<br />

Bestimmung der historischen Veränderungen im menschlichen Leben durch<br />

sozialstrukturelle Faktoren nicht unbegrenzt ist. Ich gehe also von der zusätzlichen<br />

Annahme aus, daß sowohl das Maß als auch die Unmittelbarkeit<br />

der strukturellen Determination des menschlichen Lebens selbst historischen<br />

Wandlungen unterworfen sind. Damit bin ich bei der Frage angelangt,<br />

die ich in meinem Beitrag angehen möchte. Was sind die <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Bedingungen der Religion — als Modell der Bewußtseinsorganisation — in<br />

modernen Industriegesellschaften?<br />

Es ist ratsam, zuerst zu fragen, ob an der Religion in der modernen<br />

Industriegesellschaft überhaupt etwas spezifisch neu ist. Kann man allgemeine<br />

Bedingungen für die religiöse Organisation des Bewußtseins in jeder Gesellschaft,<br />

einerlei, ob modern oder nicht, angeben?<br />

Die f<strong>und</strong>amentale Bedingung der Religion in allen Gesellschaften besteht<br />

im Verhältnis einer <strong>gesellschaftliche</strong>n Ordnung zu den Einzelorganismen<br />

der Gattung, die erst zu Personen werden, indem sie in der jeweiligen,<br />

historisch einzigartigen <strong>gesellschaftliche</strong>n Ordnung aufwachsen. Das Bestehen<br />

einer solchen Beziehung kann als anthropologische Konstante angesehen<br />

werden, die besondere Art dieser Beziehung variiert jedoch historisch,<br />

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wenn auch innerhalb fester Grenzen. Diese sind vorgegeben, erstens, durch<br />

die gr<strong>und</strong>legenden Merkmale des menschlichen Bewußtseins <strong>und</strong>, zweitens,<br />

durch allgemeine Merkmale der menschlichen Gesellschaftsorganisation. Die<br />

elementaren Strukturen des menschlichen Bewußtseins <strong>und</strong> der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Organisation haben sich phylogenetisch entwickelt <strong>und</strong> tragen noch<br />

immer deutliche Züge unserer Säugetier- <strong>und</strong> Primaten-Ahnenherrschaft.<br />

Die menschlichen Gesellschaftsstrukturen haben sich jedoch zu einem<br />

erheblichen Maß von den phylogenetischen Beschränkungen frei gemacht<br />

<strong>und</strong> stellen geschichtliche, nicht natürliche Strukturen dar; sie bestehen aus<br />

den zusammengesetzten Ergebnissen individuellen <strong>und</strong> kollektiven menschlichen<br />

Handelns, nicht aus genetisch vorprogrammiertem Verhalten. Da<br />

Handlungen durch das Bewußtsein motiviert <strong>und</strong> bestimmt werden, können<br />

<strong>gesellschaftliche</strong> Strukturen, als Handlungsfolgen, auch als eine „objektive"<br />

Ablagerung des „subjektiven" Bewußtseins angesehen werden. Aber da <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Strukturen in Handlungen nicht als solche intendiert werden,<br />

können diese „objektiven" Ablagerungen auch als Produkt der überindividuellen<br />

Ironie der Geschichte betrachtet werden. Wie dem auch immer sei,<br />

die gr<strong>und</strong>sätzliche <strong>gesellschaftliche</strong> Bedingung der Religion ist die Beziehung<br />

der Menschen zu den historischen Ergebnissen <strong>und</strong> Folgen menschlicher<br />

Handlungen. Ist es möglich, systematische Veränderungen dieser Beziehung<br />

zu erkennen?<br />

Der Übergang von primitiven <strong>und</strong> archaischen zu traditionalen (antiken<br />

<strong>und</strong> feudalen) Gesellschaften stellt gewiß eine solche gr<strong>und</strong>legende Veränderung<br />

dar. Diese wurde im allgemeinen von einer Verlagerung von Stammes-<br />

zu „universalistischen" Religionen begleitet. Die hier interessierende<br />

Veränderung ist jedoch diejenige von traditionalen zu modernen Gesellschaften<br />

<strong>und</strong> dann von frühneuzeitlichen zu industriell-bürokratischen Gesellschaften.<br />

Zu dieser Veränderung gehört die Subjektivierung der persönlichen<br />

Existenz <strong>und</strong> die Privatisierung der Religion <strong>und</strong> der Bewußtseinsorganisation.<br />

Um die Gründe für die Privatisierung des individuellen Lebens während<br />

der letzten Generationen verstehen zu können, müssen die sozialpsychologischen<br />

Folgen des allgemeinen sozialen Wandels, der in der Entstehung der<br />

modernen Industriegesellschaften mündete, in Betracht gezogen werden.<br />

Seit unseren soziologischen Großvätern <strong>und</strong> Vätern sind uns die Gr<strong>und</strong>züge<br />

dieser Entwicklung wohl bekannt, obwohl sie schon von ihnen sehr unterschiedlich<br />

gedeutet <strong>und</strong> bewertet wurden. Weniger gut erfaßt sind jedoch<br />

die Auswirkungen dieser strukturellen Veränderungen auf das Alltagsleben<br />

der Menschen. Zwar haben Marx' Begriff der Entfremdung, Durkheims<br />

Begriff der Anomie <strong>und</strong> der Webersche Begriff der Rationalisierung einiges<br />

Licht auf manche Folgen der strukturellen Veränderungen geworfen.<br />

Doch haften diesen Begriffen Mängel an, wenn man sie zur Erfassung der<br />

subjektiven Korrelate moderner Gesellschaftsstrukturen verwendet. Um diese<br />

zu erfassen, werde ich hauptsächlich von Gehlen borgen <strong>und</strong> beginne mit<br />

einer ersten Skizze, die kaum Unbekanntes enhält.<br />

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Die sozialstrukturellen Determinanten der typischen, spezifisch 'modernen'<br />

Bewußtseinsorganisation sind das Ergebnis der Differenzierung der Gesellschaftsstruktur<br />

<strong>und</strong> der funktionalen Spezialisierung der Institutionen in<br />

einem einzigartigen historischen Prozeß. Von den Anfängen des modernen<br />

Kapitalismus an hat die sich ausgrenzende Wirtschaft die Entwicklung<br />

angeführt, ohne dabei zunächst die institutionalisierte Religion als Kern<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Bewußtseinsorganisation abzulösen. Von besonderer<br />

Bedeutung ist hier natürlich die institutionelle Spezialisierung — <strong>und</strong> die<br />

damit verb<strong>und</strong>ene bürokratische Organisation der Religion.<br />

Die wichtigsten kulturellen Faktoren bei der Formung des individuellen<br />

Bewußtseins in der modernen Gesellschaft bestehen in der Abschwächung<br />

des inneren Zusammenhangs der Wirklichkeitskonstruktionen <strong>und</strong> der Ausbreitung<br />

des sogenannten „Pluralismus". Der letztere ist durch die Ersetzung<br />

eines hierarchischen Prinzips der Organisation der Kultur durch Marktprinzipien<br />

gekennzeichnet.<br />

Nach dieser vorgeschobenen groben Skizze zurück zum Ausgangspunkt.<br />

Die sozialen Bedingungen, die am engsten mit der Organisation des Bewußtseins<br />

in der Moderne verb<strong>und</strong>en sind, leiten sich vom hohen Grad der funktionalen<br />

Spezialisierung <strong>gesellschaftliche</strong>n Handelns in modernen Industriegesellschaften<br />

ab. Dies kontrastiert mit anderen Gr<strong>und</strong>typen <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Organisation.<br />

Die Institutionen des <strong>gesellschaftliche</strong>n Lebens sind in archaischen Gesellschaften<br />

nicht spezialisiert. Institutionalisierte Handlungen verschmelzen<br />

mit dem gesamten <strong>gesellschaftliche</strong>n Leben der Gemeinschaft, <strong>und</strong> sie erfüllen<br />

mehrere Funktionen zugleich, Ökonomische, verwandtschaftliche,<br />

politische <strong>und</strong> religiöse Funktionen bilden die verschiedenen Dimensionen<br />

sozialer Handlungen, die zwar nicht in ihrer Funktion, wohl aber ihrem<br />

Sinn nach für die Handelnden einheitlich sind. In den modernen Industriegesellschaften<br />

sind die Funktionen dagegen viel schärfer voneinander getrennt,<br />

<strong>und</strong> die funktionalen Subsysteme folgen ihren eigenen „zweckrationalen"<br />

Normen. Für Rollenhandeln in ihnen wird eine pragmatische<br />

Orientierung an (unbefragten) Zielen entwickelt <strong>und</strong> mit einer bürokratischen<br />

Organisation der Mittel verb<strong>und</strong>en. Die „zweckhaften Rationalitäten"<br />

des einen Bereichs decken sich nicht einfach mit den „zweckhaften<br />

Rationalitäten" eines anderen. Die Normen sind nicht von Bereich zu Bereich<br />

übertragbar, um eine durchgehende Lebensführung zu orientieren. Die<br />

Sinnsysteme der Institutionen sind auf anonyme Funktionen <strong>und</strong> nicht<br />

einmal entfernt auf Personen bezogen. Die Normen der nicht-religiösen<br />

Institutionsbereiche entbehren jeder übergreifenden religiösen Bedeutung.<br />

Die institutionelle Spezialisierung der Religion war Teil eines umfassenden<br />

sozialen Wandels <strong>und</strong> kam nicht unabhängig, etwa als Folge eines endogenen<br />

religiösen Prozesses, zustande. Man muß bedenken, daß eine religiöse<br />

„Logik" die beherrschende oder die wenigstens rhetorisch beherrschende<br />

„Logik" aller Institutionen in archaischen, traditionellen <strong>und</strong>, in abnehmendem<br />

Maße, früher moderner Gesellschaften bildete. In den modernen Indu-<br />

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Striegeseilschaften liegen die Dinge völlig anders. Die zunehmende Komplexität<br />

der Arbeitsteilung, die Produktion eines Überschusses über das<br />

Subsistenzminimum hinaus, das Anwachsen gemeinschafts- <strong>und</strong> stammesübergreifender<br />

politischer Organisationen, die Ausbildung differenzierter<br />

Berufsrollen <strong>und</strong> die Bildung potentiell oder tatsächlich miteinander in<br />

Konflikt stehender sozialer Klassen, all diese Entwicklungen waren mit der<br />

funktionalen Differenzierung verb<strong>und</strong>en, lange bevor moderne Industriegesellschaften<br />

auf der Bildfläche erschienen. Doch die „Logik" einer<br />

sakralen Wirklichkeit stützte <strong>und</strong> legitimierte noch weiterhin zugleich die<br />

gesamte Gesellschaftsordnung <strong>und</strong> die <strong>gesellschaftliche</strong> Organisation des<br />

Bewußtseins. Die sakrale „Logik" diente zudem — mehr oder weniger erfolgreich<br />

— dazu, den Sinn der unterschiedlichsten Handlungen miteinander<br />

zu verknüpfen: Handlungen, die sich in ihren „objektiven" Funktionen<br />

stark voneinander unterscheiden, waren für den einzelnen immer noch sinnvoll,<br />

<strong>und</strong> der Sinn des individuellen Lebens stand in Beziehung zu dem<br />

Leben der Gemeinschaft.<br />

In den modernen Industriegesellschaften sind die ökonomischen <strong>und</strong><br />

politischen Aspekte des Einzeldaseins unmittelbar mit den „großen" funktional<br />

spezialisierten Bereichen des <strong>gesellschaftliche</strong>n Lebens verb<strong>und</strong>en.<br />

Große Teile des Lebens eines Individuums, vor allem seine berufliche Existenz,<br />

werden von den „objektiven" Erfordernissen der institutionellen<br />

Funktion <strong>und</strong> bürokratischen Organisation bestimmt. Hochgradig spezialisierte<br />

ökonomische <strong>und</strong> politische Institutionen scheinen derart den Charakter<br />

einer „zweiten Natur" oder eines „eisernen Käfigs", eines „Systems"<br />

anzunehmen. *<br />

Die funktionale Spezialisierung der Institutionen, welche die Sozialstruktur<br />

moderner Industriegesellschaften charakterisiert, zieht typische<br />

subjektive Folgen nach sich. Anonym definierte Rollenverrichtungen setzen<br />

sich im Berufsleben der Mehrheit der Bevölkerung durch. Die Rollenverrichtungen<br />

sind gemäß der funktionalen „Logik" der institutionellen Bereiche<br />

bestimmt <strong>und</strong> deshalb austauschbar. Diese Logik in andere Lebensbereiche<br />

zu übertragen, ist kaum möglich, <strong>und</strong> nur wenigen Menschen gelingt<br />

es ohne weiteres, die „objektiv" bestimmten Aspekte ihres Alltagslebens in<br />

eine sinnvolle Ordnung in ihre Biographie einzugliedern.<br />

Anonyme Verrichtungen, die wesentliche Ausschnitte der Einzelexistenz<br />

ausmachen, sind für die modernen Gesellschaftsordnungen zentral.<br />

Aber sie verlieren oft ihre eigentliche Bedeutung für das Individuum. Rollenverrichtungen<br />

sind natürlich in allen Gesellschaften „funktional". Aber<br />

das außerordentlich hohe Maß an Anonymität, das viele, wenn nicht sogar<br />

alle funktional notwendigen sozialen Handlungen auszeichnet, kommt<br />

allein in modernen Industriegesellschaften vor. Dieser Tatbestand bildet die<br />

strukturelle Gr<strong>und</strong>lage für das, was an Religion <strong>und</strong> der Organisation des<br />

Bewußtseins in unserer Zeit eigentümlich modern ist.<br />

Die institutionelle Spezialisierung der Religion hat bestimmte strukturelle<br />

Voraussetzungen. Die Religion wird auf einen institutionellen Bereich<br />

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in solchen Gesellschaften eingeengt, die schon einen hohen Grad an struktureller<br />

Komplexität, ökonomischer <strong>und</strong> politischer Differenzierung erreicht<br />

haben. In diesen Gesellschaften können religiöse Normen <strong>und</strong> Orientierungen<br />

nicht so erfolgreich <strong>und</strong> allgemein vermittelt werden, wie mythisch-religiöse<br />

Weltsichten in archaischen Gesellschaften vermittelt werden<br />

konnten. In Gesellschaften, die ein bestimmtes Maß an struktureller Komplexität<br />

überschritten haben, kann eine bestimmte religiöse Wirklichkeitskonstruktion<br />

nicht mehr allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen bzw.<br />

durchsetzen. Eine religiös homogene Gesellschaft mit einer verbindlichen<br />

Organisation des Bewußtseins bedarf einer hochgradig integrierten Gesellschaftsstruktur,<br />

die beinahe ausschließlich auf unmittelbare Sozialbeziehungen<br />

gegründet ist. Ihr Fortbestand setzt verhältnismäßig gleichartige<br />

Sozialisationsprozesse voraus.<br />

Während des größten Teils der Menschheitsgeschichte waren diese<br />

Bedingungen wenigstens annähernd erfüllt. Die gesamte Gesellschaftsstruktur<br />

stützte eine sakrale Wirklichkeit, während der sakrale Kosmos<br />

die gesamte Gesellschaftsstruktur legitimierte. Religiöse Repräsentationen<br />

durchdrangen in archaischen Gesellschaften die verschiedensten Institutionen,<br />

aber schon in etwas komplexeren Gesellschaften — in den frühen<br />

Hochkulturen wie schon in etwas „einfacheren" Stammeskönigtümern —<br />

entfaltete der sakrale Kern der Wirklichkeitskonstruktion eine starke<br />

Verbindung zu bestimmten Institutionen, besonders zur Herrschaftsorganisation.<br />

Die religiöse Institutionalisierung der Religion aber veränderte das<br />

Verhältnis von heiligem Kosmos <strong>und</strong> Sozialstruktur gr<strong>und</strong>legend. Eine besondere<br />

Art von Institution übernahm es, den sakralen Kern der Wirklichkeitskonstruktion<br />

aufrechtzuerhalten <strong>und</strong> zu vermitteln. Die Religion nahm<br />

einen klar bestimmten <strong>und</strong> begrenzten Raum der Sozialstruktur ein.<br />

Die institutionelle Spezialisierung der Religion war eine vorwiegend<br />

auf den Westen beschränkte Entwicklung. Sie entstand unter eigentümlichen<br />

Bedingungen. Während einer erstaunlich langen Vorphase der Entwicklung<br />

der modernen Industriegesellschaften war die institutionelle<br />

Spezialisierung der Religion mit etwas verknüpft, das einer allgemeinen<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Verbreitung der institutionell spezialisierten Religion<br />

verhältnismäßig nahe kam.<br />

Als das weströmische Reich zerfiel, hatte das Christentum schon<br />

einen hohen Grad an institutioneller Spezialisierung erreicht. Den Hintergr<strong>und</strong><br />

des Christentums bildeten der stark ausgesonderte sakrale Kosmos<br />

des Alten Israel, daneben eine noch nicht dagewesene Entmythologisierung<br />

<strong>und</strong> Entpersönlichung der Natur <strong>und</strong> eine beginnende Sakralisierung der<br />

individuellen — wenn nicht privatisierten — Beziehung zur Transzendenz.<br />

Dazu kam der hellenistische <strong>und</strong> spätrömische Pluralismus der Weltsichten.<br />

Religiöse Sondergemeinschaften sprossen aus dem Boden. Auch die politischen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Institutionen hatten eine beträchtliche funktionale<br />

Selbständigkeit erlangt. In der Nach-Konstantinischen Epoche wurde<br />

das Christentum nicht nur von herausragenden theologischen Experten, die<br />

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die Lehre systematisierten <strong>und</strong> das Ritual vereinheitlichten, gefestigt, sondern<br />

auch von fähigen Verwaltungsspezialisten. Darauf folgte eine Phase,<br />

die durch die Entdifferenzierung der Gesellschaftsordnung gekennzeichnet<br />

war. Während des ganzen Frühmittelalters entwickelte sich die Wirtschaft<br />

auf eine einfachere Organisationsebene zurück, <strong>und</strong> die Politik nahm zunächst<br />

wieder Stammescharakter an. Die organisatorische Basis des christlichen<br />

heiligen Kosmos blieb jedoch weiterhin institutionell spezialisiert.<br />

Kurzum: Religion behielt einen hohen Grad institutioneller Spezialisierung<br />

bei, während der politische <strong>und</strong> ökonomische Bereich seine funktionelle<br />

Autonomie noch nicht zurückgewonnen hatte. Diese einzigartige Ubergangssituation<br />

erklärt das strukturell sozusagen 'unwahrscheinliche' Schicksal<br />

des Christentums als einer institutionell spezialisierten <strong>und</strong> gesellschaftlich<br />

(beinahe) universalen Religion in den Gesellschaften des europäischen<br />

Mittelalters. In verschiedenen Säkularisierungstheorien wurde diese Konstellation<br />

übrigens als eine fast naturwüchsige Verbindung von Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Religion verkannt.<br />

Das Gegenteil sollte langsam unter Beweis gestellt werden. Kompetenzstreitigkeiten<br />

(z.B. über Investitur, Wucher) zwischen Staat, Religion <strong>und</strong><br />

dem entstehenden Kapitalismus kennzeichnen die Übergangsphase vom Mittelalter<br />

zur Neuzeit. Die Verselbständigung der Macht im Staat <strong>und</strong> der<br />

Aufstieg absolutistischer Staaten mit zentralistischen Verwaltungsapparaten,<br />

das Wachstum der Städte, der Kontakt mit fremden Kulturen, besonders<br />

mit dem Islam, die „Wiederentdeckung" antiker Wissenssysteme während<br />

der Renaissance, die eigentümlich abendländische technologische Nähe<br />

<strong>und</strong> Anwendung der Wissenschaft, all das veränderte die Gr<strong>und</strong>strukturen<br />

der Gesellschaft. Eine der wichtigsten Folgen dieser Entwicklung war, daß<br />

die Religion zur „Ideologie" eines institutionellen Subsystems wurde. Die<br />

strukturelle Differenzierung führte dazu, daß die Kompetenz institutionalisierter<br />

Religion zunehmend auf den privaten Bereich eingegrenzt wurde.<br />

(Das eigentliche Aufkommen eines Begriffes, der unserem Verständnis von<br />

Privatheit entspricht, läßt sich natürlich erst auf die Moderne zurückdatieren.)<br />

Die Verbindung des heiligen Kosmos zum Alltag wurde entscheidend<br />

geschwächt. Die „säkularisierten" Teile der Gesellschaftsstruktur entwickelten<br />

pragmatische Normen, deren zweckrationaler Charakter die Ablösung<br />

dieser institutionellen Bereiche von den durch den traditionellen heiligen<br />

Kosmos verkörperten Werten rechtfertigte. Es entstanden zahlreiche, miteinander<br />

konkurrierende theoretisch-ideologische Systeme, jedes auf einer<br />

eigenen <strong>gesellschaftliche</strong>n Basis.<br />

Diese Entwicklung beschleunigte sich gegen Ende des 18. <strong>und</strong> im Laufe<br />

des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts. Während der traditionelle christliche heilige Kosmos<br />

aufhörte, weite Bereiche des Alltagslebens mit auch nur einigermaßen zusammenhängendem<br />

Sinn zu erfüllen, nahmen bestimmte Werte, die im politischen<br />

<strong>und</strong> ökonomischen Lebensbereich verwurzelt waren (genauer: dem<br />

sich zuspitzenden Klassenkonflikt dieser Zeit entstammten), den Charakter<br />

„sakraler" Themen an. Politische <strong>und</strong> ökonomische Ideologien wären Aus-<br />

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druck zuerst der durchzusetzenden, später der zu verteidigenden Interessen<br />

des Bürgertums — meist in Verbindung mit dem aufkommenden Nationalismus.<br />

Später artikulierten sich die Hoffnungen des Proletariats als sakrale<br />

Themen — auch sie häufig mit nationalistischen Untertönen. Elemente dieser<br />

Ideologien verschmolzen mit den vorherrschenden religiösen Themen<br />

christlichen Ursprungs oder nahmen ihren Platz ein. Diese Entwicklung<br />

trug dazu bei, die ohnehin schon bestehende Tendenz zum kulturellen Pluralismus<br />

zu verstärken, eine Tendenz, deren Ursprung schon in den die institutionelle<br />

Spezialisierung begleitenden Kompetenz- <strong>und</strong> Abgrenzungsstreitigkeiten<br />

zu finden ist.<br />

Die Themen, welche sich auf die verschiedenen Ebenen der Transzendenz<br />

beziehen <strong>und</strong> als Balken im Gerüst der Bewußtseinsorganisation dienen,<br />

sind deshalb in den modernen Industriegesellschaften sehr vielgestaltig.<br />

Es kommen nicht nur Themen vor, die aus dem traditionellen christlichen<br />

Anliegen an jenseitigen Transzendenzen entsprangen, sondern auch solche,<br />

deren Ursprung in diesseitigen Transzendenzadressaten wie Rasse, Nation,<br />

klassenlose Gesellschaft etc. zu suchen ist. Im großen <strong>und</strong> ganzen ist es den<br />

spezialisierten Institutionen (Kirchen <strong>und</strong> Sekten) gelungen, das Monopol<br />

über die traditionellen religiösen Themen beizubehalten. Aber schon seit<br />

mehreren Generationen ist der traditionelle heilige Kosmos nicht mehr die<br />

einzige transzendente sy<strong>mb</strong>olische Wirklichkeit, die breiten Schichten der<br />

Bevölkerung gesellschaftlich vermittelt wird. Die traditionelle, institutionell<br />

spezialisierte Religion konkurriert mit Nationalismus, egalitärem Sozialismus<br />

<strong>und</strong> verschiedenen totalitären Ideologien — mit mehr oder weniger<br />

Erfolg. Auf diese Weise haben sich die Bedingungen, unter denen Modelle<br />

der Bewußtseinsorganisation produziert <strong>und</strong> verteilt werden, gr<strong>und</strong>legend<br />

geändert.<br />

Die strukturelle Konsistenz der Weltsicht, deren Funktion es ist, den<br />

sakralen Kern der Wirklichkeitskonstruktion glaubhaft mit den Routinen<br />

des Alltags zu verbinden, ist verhältnismäßig gering. Weltsichten konkurrieren<br />

untereinander über Massenmedien, Bücher, Wanderprediger, Priester<br />

<strong>und</strong> Gurus aus allen Ecken der Welt, <strong>und</strong> ausdrücklich religiöse Orientierungen<br />

konkurrieren mit Sozialisationsmodellen, die keine spezifisch religiösen<br />

Repräsentationen, wohl aber Orientierungen zu diesseitigen Transzendenzen<br />

enthalten.<br />

Daß aber der kulturelle Pluralismus <strong>und</strong> ein insgesamt loser innerer Zusammenhang<br />

von nicht-totalitären Modellen der Bewußtseinsorganisationen<br />

zu beherrschenden <strong>und</strong> beinahe durchgängigen Merkmalen des modernen<br />

Lebens wurden, ist nicht das einzige Ergebnis des sozialen Wandels. Strukturelle<br />

Veränderungen bestimmen das Verhältnis des typischen „modernen"<br />

Individuums zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Ordnung auf viel unmittelbarere<br />

Weise <strong>und</strong> beeinflussen damit die Bewußtseinsorganisation des einzelnen.<br />

Die Werte <strong>und</strong> Orientierungen, die über das unmittelbar Gegebene<br />

hinausgehen <strong>und</strong> auf das Transzendente gerichtet sind, werden natürlich<br />

allerorten in sozialen Prozessen vermittelt, angefangen mit der Primärsozia-<br />

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lisation des Kindes <strong>und</strong> fortgesetzt bis ins Erwachsenenalter. Aber auch hier<br />

gibt es Unterschiede. In den vormodernen Gesellschaften verstärkten sich<br />

solche Prozesse im allgemeinen gegenseitig. Somit hatte das, was ohnehin<br />

eine verhältnismäßig stimmige Wirklichkeitskonstruktion genannt werden<br />

kann, gute Aussichten, zu einem Gr<strong>und</strong>muster der Bewußtseinsorganisation<br />

zu werden <strong>und</strong> es auch zu bleiben. In modernen Industriegesellschaften<br />

werden Werte <strong>und</strong> Orientierungen in sehr unterschiedlichen <strong>und</strong> ungleichen<br />

sozialen Prozessen vermittelt. Schon in archaischen Gesellschaften variieren<br />

sie nach Geschlecht <strong>und</strong> Verwandt Schaftsstatus. In feudalen Gesellschaften<br />

waren schon die Modelle der Orientierung in der Welt durch die Theorie der<br />

feudalen Ordnung in unterschiedliche Versionen gegliedert <strong>und</strong> dementsprechend<br />

den verschiedenen Ständen vermittelt worden. In den neuzeitlichen<br />

Gesellschaften <strong>und</strong> den modernen Industriegesellschaften werden sie in<br />

strukturell, hauptsächlich ethnisch-national <strong>und</strong> klassenbedingt differenzierten<br />

Sozialisationsvarianten vermittelt. Aber moderne Industriegesellschaften<br />

zeichnen sich durch ein weiteres Merkmal aus: die Modelle der primären<br />

(familialen) Sozialisation werden nicht nachdrücklich <strong>und</strong> systematisch von<br />

einer gesamten Gesellschaftsordnung gestützt, wie es in anderen Gesellschaftstypen<br />

der Fall ist. Zwar ist das, was in der Primärsozialisation vermittelt<br />

wird, noch immer im wesentlichen durch ethnische Zugehörigkeit<br />

<strong>und</strong> Klassenlage der Familie bestimmt. Aber Faktoren wie soziale Mobilität,<br />

Migration, Verstädterung, vorwegnehmende Sozialisation, Pluralismus, Einfluß<br />

der Massenmedien u.a. schaffen eine Situation, in der selbst gr<strong>und</strong>legende<br />

Bestandteile der frühen Sozialisationsprozesse kaum nachhaltige Bestätigung<br />

in späteren sozialen Beziehungen finden.<br />

Ein bemerkenswerter Bruch zwischen der primären <strong>und</strong> der sek<strong>und</strong>ären<br />

Sozialisation ist die Folge der strukturellen Absonderung der Familie von<br />

Schule <strong>und</strong> Berufssystem. Keine Spielart der Weltsichten, kein spezifisch<br />

<strong>und</strong> traditionell religiöses Modell der Bewußtseinsorganisation, kein sonstiges<br />

Vorbild der Orientierung in der Wirklichkeit hat ein Monopol auf die<br />

sek<strong>und</strong>äre Sozialisation. Die Wahlmöglichkeiten zwischen einzelnen Bestandteilen<br />

der Modelle <strong>und</strong> die Möglichkeiten für „zufällige", individuelle<br />

synkretistische Neuverbindungen sind sehr viel größer als in anderen Gesellschaftstypen.<br />

Es sind die gleichen strukturellen Veränderungen, die zur Entstehung<br />

des kulturellen „Pluralismus" <strong>und</strong> zum Bruch zwischen primärer <strong>und</strong> sek<strong>und</strong>ärer<br />

Sozialisation führten. Der kulturelle „Pluralismus" <strong>und</strong> der Bruch<br />

zwischen den Sozialisationsprozessen begünstigen die subjektive Bricolage<br />

(religiöse Fleckerlteppichnäherei), wie man den Vorgang bezeichnen könnte,<br />

mittels dessen sich Menschen ihre Orientierung in den verschiedenen<br />

funktionell differenzierten Bereichen der Gesellschaftsstruktur schaffen.<br />

Trotz oberflächlicher Ähnlichkeiten läßt sich in traditionalen (z.B. hellenistischen)<br />

Formen des kulturellen Synkretismus nichts voll Vergleichbares<br />

zu solcher Bricolage finden. Frühere Synkretismen ließen sich im Zusammenprall<br />

unterschiedlicher kultureller Traditionen sozial verorten <strong>und</strong><br />

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waren für gewöhnlich durch sozusagen „äußere" Bedingungen wie Eroberung,<br />

Wanderungen u.a. verursacht <strong>und</strong> typischerweise auf sozial Marginale<br />

beschränkt. Der moderne Synkretismus hat einen anderen, typischerweise<br />

nicht marginalen sozialen Ort: die privatisierte Sphäre des einzelnen, jener<br />

Teil seines Lebens, der für das Funktionieren der Gesellschaftsstruktur<br />

unerheblich ist.<br />

Auf eine polemisch vereinfachende Formel gebracht: In der modernen<br />

Gesellschaft spiegelt das Bewußtsein das Sein in einem (weit) geringeren<br />

Maße wider als jemals zuvor. Die Privatisierung der individuellen Existenz<br />

ist das Ergebnis eines umfassenden <strong>gesellschaftliche</strong>n Wandels. Eine merkwürdige<br />

Folge dieses Wandels ist aber, daß das Bewußtsein <strong>und</strong> die individuelle<br />

Orientierung in der Wirklichkeit weitaus schwächer gesellschaftlich<br />

geprägt werden.<br />

Die Privatisierung des individuellen Lebens in der modernen Gesellschaft<br />

ist mit den langfristigen Folgen der institutionellen Spezialisierung<br />

traditioneller Religionen verknüpft. Diese Folgen wurden allgemein unter<br />

dem Titel Säkularisierung zusammengefaßt. Sie können treffender als strukturell<br />

bestimmte Privatisierung der Religion gedeutet werden. Es geht nicht<br />

um den Schw<strong>und</strong> der Religion (oder des Christentums), weil ihre „Ideen"<br />

nicht mehr zum modernen Leben paßten oder weil sie mit Aufklärung <strong>und</strong><br />

Wissenschaft in Konflikt stünden. Die Privatisierung der Religion ist vielmehr<br />

ein Bestandteil der allgemeinen Privatisierung des individuellen Lebens.<br />

Diese strukturelle Privatisierung der Religion steht in einem „wahlverwandtschaftlichen"<br />

Verhältnis zu einer anderen, nämlich „inhaltlichen"<br />

Entwicklung der Bewußtseinsorganisation: zur Tendenz, Orientierungen,<br />

die weit über das unmittelbar Gegebene hinausgehen, von den „großen"<br />

Transzendenzen eines Jenseits auf die „mittleren" Transzendenzen des<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>n Lebens <strong>und</strong> zuweilen auf die „kleinen" Transzendenzen<br />

des Selbst zu verlagern. Traditionelle religiöse Orientierungen, d.h. Orientierungen<br />

auf eine jenseitige Wirklichkeit, sind zwar nicht verschw<strong>und</strong>en,<br />

doch ist ihre <strong>gesellschaftliche</strong> Verteilung gegenüber Orientierungswerten wie<br />

„Selbstverwirklichung" schmaler geworden. Die Kirchen sind zu Institutionen<br />

unter anderen Institutionen geworden, genau so, wie die traditionellen<br />

religiösen Orientierungen auf Gott hin mit anderen Orientierungen auf<br />

diesseitige Wirklichkeiten, wie Nation, soziale Klasse, Familie, im Wettstreit<br />

stehen.<br />

Das Wuchern verschiedener religiöser Bewegungen während der letzten<br />

Jahrzehnte hat gezeigt, daß der hohe Grad an Privatisierung des Daseins <strong>und</strong><br />

der Bewußtseinsorganisation, der die Industriegesellschaften des Westens<br />

kennzeichnet, nicht unbedingt ausschließt, daß sich Gemeinschaften unterhalb<br />

der institutionellen Ebene ausbilden können <strong>und</strong> Modelle der Bewußtseinsorganisation<br />

produzieren. Die innere Stimmigkeit dieser Modelle erscheint<br />

zunächst, wie bei allen Synkretismen, gering. Gewiß werden sich<br />

Experten der Kongruenzerhöhung finden, wenn sie nicht schon zur Hand<br />

sind. Die soziale Verbindlichkeit der Modelle ist, gesamtgesellschaftlich<br />

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gesehen, zwar minimal, aber innerhalb der Gemeinschaften, trotz ihrer eingebauten<br />

Labilität, um einiges höher als in der Privatsphäre rein subjektiver<br />

Beliebigkeit.<br />

ANMERKUNG<br />

Dieser Aufsatz ist eine überarbeitete Fassung von „Social Structure and Religion in<br />

Modern Industrial Society", in: Zdenko Roter u. Franc Rodé (Hsg), Science and Faith.<br />

Ljubljana<strong>und</strong> Rom 1984, S. 94-107.<br />

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DER KAPITALISMUS - EIN UNVOLLENDBARES PROJEKT?<br />

Johannes Berger<br />

I.<br />

Die Frage nach den Grenzen der kapitalistischen Entwicklung ist fast so<br />

alt wie diese selbst. Sie heute wieder aufzugreifen, ist mehr denn je ein<br />

waghalsiges, ungeschütztes Unternehmen. Wer immer solche Fragen behandelt,<br />

scheint suggerieren zu müssen, er besitze einen Standpunkt, von dem<br />

er unverstellt das Ganze <strong>und</strong> seine Entwicklung in den Blick bekommen<br />

könnte. Der historische Materialismus nahm an (<strong>und</strong> konnte von seinen<br />

eigenen Voraussetzungen her gesehen annehmen), im Klassenstandpunkt<br />

des Proletariats solch einen ausgezeichneten Standpunkt zu besitzen. Diese<br />

Auffassung heute noch zu teilen, dagegen sprechen schon Erfahrungen mit<br />

der steigenden Komplexität moderner Gesellschaften, auf welche die Theorie<br />

dadurch reagiert, daß sie ihrerseits selbst komplexer angelegt wird.<br />

Die mit der Frage nach den Grenzen der kapitalistischen Entwicklung<br />

aufgeworfene Problematik wird dadurch gesteigert, daß großformatigen<br />

Fragen wie der nach der Zukunft des Kapitalismus eine unausrottbare Vielschichtigkeit<br />

eignet. Um mit dieser Vielschichtigkeit zurechtzukommen,<br />

empfiehlt es sich daher, z.B. die Frage nach der Stabilität von der nach der<br />

Vernünftigkeit eines Gesellschaftssystems abzuspalten. Um mich nicht mit<br />

zu vielen Problemen zu belasten, möchte ich mich im folgenden auf die Stabilitätsproblematik<br />

konzentrieren <strong>und</strong> auf die heute durch die Zweifel am<br />

Fortschritt erneut aufgeworfene Frage nach der „Vernunft in der Geschichte"<br />

nur am Rande zu sprechen kommen. Und um mit der Frage nach der<br />

Stabilität eines kapitalistischen Systems nicht ins Uferlose zu geraten,<br />

möchte ich die Antwort auf diese Frage in Anlehnung an ein literarisches<br />

Vorbild suchen.<br />

II.<br />

„Kann der Kapitalismus weiterleben?" Mit dieser an schicksalhafter Bedeutung<br />

schwerlich zu überbietenden Frage eröffnet Schumpeter den zweiten<br />

Teil seines Klassikers: „Kapitalismus, Sozialismus <strong>und</strong> Demokratie". Und er<br />

antwortet auf diese selbst gestellte Frage ohne Umschweife: „Nein, m.E.<br />

nicht" (Schumpeter 1950, S. 105). Wenn das Zeitalter des Kapitalismus<br />

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unausweichlich zu Ende geht, dann ist es folgerichtig, die Anschlußfrage<br />

zu stellen, was denn nach ihm komme, wodurch es denn abgelöst werde.<br />

Für Schumpeter war die Antwort hierauf wie fraglos vorgegeben: durch den<br />

Sozialismus. Mag sein, daß die Richtung dieser Anwort durch das Gewicht<br />

einer evolutionstheoretischen Tradition in der Gesellschaftstheorie, die in<br />

der Arbeiterbewegung auch praktische Gestalt angenommen hatte, vorgezeichnet<br />

war. Weil für Schumpeter die Ablösung des Kapitalismus durch<br />

den Sozialismus eine evolutionäre Regelmäßigkeit war, die zu bezweifeln<br />

keinen Sinn machte, konzentrierte er seine Ausführungen zum Sozialismus<br />

auf die Frage, ob dieser ein funktionsfähiges Wirtschaftssystem sei. So umstandslos<br />

Schumpeter die Frage nach der Überlebensfähigkeit des Kapitalismus<br />

verneinte, so ohne Zögern beantwortete er die Frage: „Kann der<br />

Sozialismus funktionieren?" mit einem „klaren Ja" (S. 367). Damit stellte<br />

er sich gegen Annahmen einer Funktionsunfähigkeit des Sozialismus als<br />

Wirtschaftsordnung, die auf Max Weber zurückgehen <strong>und</strong> deren locus<br />

classicus Mises' „Die Gemeinwirtschaft" (1932) bildet.<br />

Heute, mehr als vierzig Jahre später <strong>und</strong> vor dem Hintergr<strong>und</strong> der Erfahrung<br />

eines beispiellosen Aufschwungs der kapitalistischen Weltwirtschaft<br />

<strong>und</strong> der bekannten wirtschaftlichen Funktionsprobleme sozialistischer<br />

Länder werden viele, die Schumpeters Buch noch einmal zur Hand<br />

nehmen, Schwierigkeiten haben, seine Gedanken nachzuvollziehen. Ausgerechnet<br />

der Sozialismus soll funktionieren? Und ausgerechnet dem Kapitalismus,<br />

einem doch allem Anschein nach extrem lebensfähigen Gebilde, soll<br />

bescheinigt werden, daß seine Zeit abgelaufen sei? Verständlich wird letztere<br />

Behauptung nur, wenn man die Wendung der krisentheoretischen Gr<strong>und</strong>figur<br />

bei Schumpeter nicht verkennt, auf die er seine Überzeugung von der<br />

Begrenztheit des Kapitalismus als Gesellschaftsordnung stützt. Es ist auffällig,<br />

daß Schumpeter die Überlebensunfähigkeit des Kapitalismus nicht mit<br />

der immanenten Krisenanfälligkeit der kapitalistischen Wirtschaft begründet.<br />

In einem eigens Fragen der ökonomischen Funktionsfähigkeit gewidmeten<br />

Abschnitt weist Schumpeter vielmehr alle Annahmen, die stagnationstheoretisch<br />

mit Varianten des Gedankens der schwindenden Investitionschancen<br />

spielen, ausdrücklich zurück. Was kapitalistische Wirtschaften<br />

kennzeichnet, ist, daß sie auf Wachstum abgestellt sind. Kein anderes<br />

System zeichnet sich durch eine vergleichbare „Wachstumsrate der Erzeugung"<br />

aus.<br />

Woran der Kapitalismus zugr<strong>und</strong>e gehen wird, ist Schumpeter zufolge<br />

also ganz <strong>und</strong> gar nicht sein wirtschaftlicher Mißerfolg. Eine definitive<br />

Grenze für das Fortbestehen eines derartigen Wirtschaftssystems sieht er<br />

vielmehr ganz allgemein darin, daß „gerade sein Erfolg die sozialen Einrichtungen,<br />

die es schützen, untergräbt <strong>und</strong> unvermeidlich Bedingungen<br />

schafft, unter denen es nicht zu leben vermag <strong>und</strong> die nachdrücklich auf<br />

den Sozialismus als seinen gesetzlichen Erben deuten." (S. 106)<br />

Damit hat Schumpeter die Theorie der Selbstdestruktion kapitalistischer<br />

Systeme auf eine neue Gr<strong>und</strong>lage gestellt. Mich interessieren hier<br />

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nicht die Besonderheiten von Schumpeters Theorie der Endlichkeit kapitalistischer<br />

Systeme, sondern der allgemeine Gedanke, der sich aus seinen<br />

Ausführungen entnehmen läßt: Schumpeter tauscht eine Verschlechterungs<strong>und</strong><br />

Verdüsterungsperspektive aus gegen eine Annahme der Verbesserungs<strong>und</strong><br />

Steigerungsfähigkeit als Gr<strong>und</strong>lage der Krisentheorie. Demnach scheitert<br />

der Kapitalismus nicht an seinen Mißerfolgen, sondern an den Folgeproblemen<br />

seines Erfolgs; die'se Folgeprobleme müssen nicht im Wirtschaftssystem<br />

selbst, sondern im Verhältnis des Wirtschaftssystems zu seiner „Umwelt"<br />

im weitesten Sinne aufgesucht werden.<br />

Wenn ich mich heute noch einmal an Schumpeters Frage heranwage,<br />

so geschieht dies zunächst, weil nach Abschluß der größten Expansionsphase,<br />

welche die kapitalistischen Wirtschaften je erlebt haben, diese Frage<br />

einfach neu gestellt werden muß. Es ist ja nicht ohne Ironie, daß Schumpeter<br />

seine Prognose ausgerechnet am Vorabend eines noch nie dagewesenen<br />

Booms abgab. Das sollte uns zögernd machen, weitere Prognosen über<br />

die innere Überlebensunfähigkeit kapitalistischer Systeme aufzustellen.<br />

Neben dem äußeren Anlaß: der Erfahrung von Aufstieg <strong>und</strong> Niedergang des<br />

Nachkriegskapitalismus gibt es aber noch zwei weitere Gründe, Schumpeters<br />

Frage wieder aufzugreifen. Einmal, denke ich, muß diese Antwort<br />

aus dem Schema: Kapitalismus/Sozialismus herausspringen; ich will die Begründung<br />

hierfür im wesentlichen mit einer gesellschaftstheoretischen Argumentation<br />

liefern. Sodann möchte ich eine direkt entgegengesetzte Antwort<br />

auf die Frage nach den Überlebensmöglichkeiten kapitalistischer Systeme<br />

geben: trotz offen zutage tretender selbstdestruktiver Tendenzen an den<br />

Fronten der Motivzufuhr <strong>und</strong> der Erhaltung der natürlichen Umwelt können<br />

solche Systeme überleben. Der Unterschied zu Schumpeter liegt nicht<br />

darin, daß die Gewißheit des Untergangs jetzt mit der Gewißheit des Überlebens<br />

ausgetauscht wird, sondern daß die Fortexistenz kapitalistischer Gesellschaften<br />

als eine reale Möglichkeit betrachtet wird, die gerade durch<br />

„Selbsttransformation" garantiert wird. Eine solche Antwort impliziert<br />

nicht die Leugnung krisenhafter Tendenzen, ganz im Gegenteil. Ihr liegt<br />

aber ein Verständnis von Krisen zugr<strong>und</strong>e, das diese weder mit der Auflösung<br />

der bestehenden Ordnung in ein soziales Nichts („Zusammenbruch")<br />

noch mit der Vorstellung verbindet, an die Stelle der bestehenden trete eine<br />

völlig andere Ordnung, dem Bruch vergleichbar, den die „great transformation"<br />

im Übergang von vormodernen zu modernen Gesellschaften darstellt.<br />

Eine Antwort auf die Frage: kann der Kapitalismus weiterleben? möchte<br />

ich auf dem Wege einer Zerlegung dieser Frage in drei Teilfragen näherkommen:<br />

(a) was soll unter Kapitalismus verstanden werden?<br />

(b) worin besteht das Zentralproblem des Kapitalismus?<br />

(c) gibt es eine Lösung für dieses Zentralproblem oder muß der Kapitalismus<br />

an der Fortsetzung eines einmal eingeschlagenen Entwicklungspfades<br />

scheitern?<br />

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Die abschließenden Überlegungen zur Selbsttransformation kapitalistischer<br />

Gesellschaften laufen darauf hinaus, zu plausibilisieren, daß ein solches Gesellschaftssystem<br />

Überlebensmöglichkeiten gerade dadurch steigert, daß es<br />

sich nicht „rein" verwirklicht, sondern mit systemfremden Elementen<br />

mischt.<br />

III.<br />

In der Tradition von Marx bis Weber wird das Zentrum des Kapitalismus im<br />

„Gegensatz von Kapital <strong>und</strong> Arbeit", der „Organisation von formell freier<br />

Arbeit" etc. erblickt. Ich möchte im folgenden nicht die Berechtigung solcher,<br />

das Kapital-Arbeitsverhältnis ins Zentrum stellender Analysen bestreiten,<br />

sondern dieses als die Schlüsselgröße eines umfassenderen Modernisierungsprozesses<br />

interpretieren, dessen abstrakte Gr<strong>und</strong>züge es jetzt zu vergegenwärtigen<br />

gilt.<br />

Bereits Marx hat diesen Modernisierungsprozeß als einen Freisetzungs-,<br />

Autonomisierungs- <strong>und</strong> Verselbständigungsprozeß beschrieben. Die auf ihn<br />

folgende Literatur hat wenig mehr getan, als die einzelnen Facetten dieses<br />

Freisetzungsprozesses hervorzuheben <strong>und</strong> auszuarbeiten. Was in der „great<br />

transformation" (Polanyi 1944) abläuft, ist im Gr<strong>und</strong>e genommen die Verselbständigung<br />

der Wirtschaft. In dieser Verselbständigung der Wirtschaft<br />

liegt das Zentrum der Modernisierung. Was dies heißt, möchte ich mit wenigen<br />

Stichworten umreißen.<br />

Es sind vor allem drei Eigenschaften, die die Entstehung des Kapitalismus<br />

als Freisetzungsprozeß der Wirtschaft auszeichnen:<br />

(a) funktionale Differenzierung (die Trennung des Ökonomischen vom<br />

Politischen),<br />

(b) erweiterte Reproduktion (ununterbrochene Akkumulation),<br />

(c) die Auflösung von vorgef<strong>und</strong>enen Weltbildern <strong>und</strong> Gemeinschaftsstrukturen.<br />

(a) Der Kapitalismus unterscheidet sich dadurch von allen vorangegangenen<br />

Formen der Produktion, daß in ihm ökonomische Funktionen ausdifferenziert<br />

werden. Die Abspaltung wirtschaftlicher Tätigkeiten von politischen<br />

bildet das Muster für die von der soziologischen Systemtheorie thematisierten<br />

Prozesse funktionaler Differenzierung. In der Tradition des Marxismus<br />

wird die Ausdifferenzierung der Wirtschaft unter dem Titel: Trennung der<br />

Bereiche von Politik <strong>und</strong> Ökonomie behandelt. Erst mit dieser Trennung<br />

gibt es so etwas wie die Wirtschaft; die Wirtschaft nicht verstanden als<br />

materielle Produktion, sondern als Sphäre des „Handels" (trade) oder des<br />

Gelderwerbs. Die sich herausbildende Gesellschaft des freien Erwerbs ist<br />

auch in dem Sinne frei, daß wirtschaftliche Tätigkeiten nicht mehr mit der<br />

Erledigung politischer Aufgaben vermengt werden, wie dies in traditionalen<br />

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Gesellschaften der Fall war. Die Wirtschaft kann sich jetzt ganz auf ihre<br />

wirtschaftlichen Aufgaben konzentrieren; d.h. z.B. für die Unternehmungen,<br />

daß „betriebsfremde Interessen" nicht mehr in die an „nachhaltiger<br />

Dauer-Rentabilität" orientierten Unternehmensentscheidungen hineinspielen<br />

sollen (Weber 1972, S. 79).<br />

(b) Was den rationalen Kapitalismus auszeichnet, ist nicht die Gewinnsucht<br />

an sich; diese hat es schon immer gegeben <strong>und</strong> sie trat in vorkapitalistischen<br />

Zeiten vermutlich in viel krasseren Formen auf (vgl. Weber). Nicht die Aneignung<br />

des Überschusses unterscheidet den Kapitalismus von traditionalen<br />

Wirtschaftsordnungen, sondern dessen Wiederanlage. Der „Beruf" des Kapitalisten<br />

ist es, den Surplus zu investieren. Der „Reichtum der Gesellschaften,<br />

in denen kapitalistische Warenproduktion herrscht" (Marx), basiert<br />

ganz <strong>und</strong> gar darauf, daß Kapitalbildung zustandekommt. Soll dieser Prozeß<br />

der Wiederanlage eines Surplus kontinuierlich <strong>und</strong> rational ablaufen,<br />

dann bedarf es der Lohnarbeit als seiner Voraussetzung. Marx hat den eingebauten<br />

Wachstumszwang kapitalistischer Systeme als einen sich selbst<br />

determinierenden Prozeß beschrieben. In den Kapiteln über die erweiterte<br />

Reproduktion im zweiten Band des 'Kapital' hat er alle die Gr<strong>und</strong>züge des<br />

Systems zusammengetragen, die es erlauben, die Wirtschaft der modernen<br />

Gesellschaft als „selbstreferentiell-geschlossenes System", das „die Elemente,<br />

aus denen es besteht, mit Hilfe der Elemente, aus denen es besteht, reproduziert"<br />

(Luhmann, 1984, S. 315 in Anlehnung an Maturana 1981) zu<br />

beschreiben. Ein solches System bezieht sich auf sich selbst: die Akkumulation<br />

geschieht um der Akkumulation willen, <strong>und</strong> es ist in sich geschlossen<br />

in dem Sinne, daß es die Elemente, aus denen es besteht, ständig selbst neu<br />

aufbaut. Der „Zwang zur Akkumulation" beschreibt also, um ein Wort der<br />

neuesten Theoriesprache zu verwenden, den Operationsmodus eines „autopoietischen<br />

Systems".<br />

(c) Was ich mit der „Auflösung von Vorgef<strong>und</strong>enem" meine, ist ein in sich<br />

vielfältiger <strong>und</strong> facettenreicher Prozeß. Er betrifft erstens jenen Sachverhalt,<br />

den Habermas die „Rationalisierung von Weltbildern" genannt hat.<br />

Dahinter verbirgt sich nichts anderes als die „Auflösung der Metaphysik"<br />

im Übergang von der alten zur neuen Welt. In diesem Prozeß differenzieren<br />

sich die kulturellen Wertsphären der Wissenschaft, der Kunst <strong>und</strong> der Moral<br />

(Habermas 1981). Seitdem gibt es nicht mehr ein einheitliches Glaubenssystem<br />

(belief-system), sondern viele solcher „belief-systems". Die alteuropäische<br />

Philosophie war an einen Weltzustand angepaßt, der sich durch<br />

„Geschlossenheit" auszeichnete. Lukács hat in seiner Theorie des Romans<br />

(1914) die vielleicht schönste Beschreibung für die geschlossene Welt der<br />

Antike <strong>und</strong> dann noch einmal des christlichen Mittelalters gef<strong>und</strong>en. Diese<br />

Geschlossenheit verschwindet mit dem Einbruch des Kapitalismus in die<br />

alte Welt. Der entstehende Kapitalismus bewirkt eine Öffnung dieser geschlossenen<br />

Welt in räumlicher <strong>und</strong> vor allem zeitlicher Hinsicht. Seitdem<br />

gibt es erst eine offene Zukunft <strong>und</strong> die Aufgabe der Wirtschaft besteht<br />

darin, diese Zukunft zu schließen.<br />

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Sodann bricht der Kapitalismus in die vorgef<strong>und</strong>enen Formen gemeinschaftlichen<br />

Lebens ein. Die klassische Beschreibung hierfür findet sich in<br />

dem „Formenkapitel" der Gr<strong>und</strong>risse (1953). In diesem Kapitel entwirft<br />

Marx eine diskontinuierliche Perspektive der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung,<br />

die radikal abweicht von dem evolutionstheoretischen Schema des<br />

Vorworts zur Kritik der politischen Ökonomie, das den Kapitalismus in<br />

einer kontinuierlichen Abfolge von Gesellschaftsformationen von der antiken<br />

Sklavenhaltergesellschaft bis zum Sozialismus sieht. In Wahrheit hat<br />

aber der Kapitalismus mit allen vorangegangenen Gesellschaftsformen viel<br />

weniger gemein als diese untereinander gemein haben (Giddens 1982,<br />

S. 77). Mit seiner Heraufkunft ist ein f<strong>und</strong>amentaler Bruch eingetreten. In<br />

seiner groß angelegten Untersuchung zur ,,Sozialgeschichte des Naturrechts"<br />

bezeichnet Breuer (1983) diesen Bruch im Anschluß an Lukács als<br />

Übergang von der „naturwüchsigen" zur „reinen" Vergesellschaftung. Mit<br />

dieser entscheidenden Umstellung der Vergesellschaftungsform werden alle<br />

Strukturen <strong>und</strong> Ereignisse kontingent. Da alles gesellschaftlich „gesetzt" ist,<br />

könnte es im Prinzip auch anders „gesetzt" sein.<br />

Mit dieser reinen Vergesellschaftung geht schließlich ein Differenzierungsprozeß<br />

einher, den ich nicht unter funktionale Differenzierung subsumieren<br />

möchte, sondern der auf das Auseinandertreten von „System <strong>und</strong><br />

Lebenswelt" (Habermas) hinausläuft. Der Kern dieses Vorgangs besteht in<br />

der Ablösung der Gesellschaft von ihren Handlungsgr<strong>und</strong>lagen 1 . Ich denke,<br />

daß die Auseinanderziehung systemischer <strong>und</strong> lebensweltlicher Aspekte als<br />

genau jener Vorgang zu verstehen ist, der in der ökonomischen Anthropologie<br />

(Polanyi) als Herauslösung des Kapitalismus aus normativen Kontexten<br />

beschrieben worden ist. Marktwirtschaften sind in ihrem Funktionieren<br />

nicht oder signifikant weniger als traditionale Gesellschaften von moralischen<br />

Handlungsgr<strong>und</strong>lagen abhängig. Dieser Sachverhalt ist von Marx bis<br />

v.Hayek als die „unpersönliche Ordnung" des Kapitalismus begriffen worden.<br />

Unter Gesichtspunkten der Moral zeichnet den Kapitalismus aus, daß<br />

er mit Minimalanforderungen auskommt. Streissler (1980) hat diesen Sachverhalt<br />

auf den Begriff gebracht: der Kapitalismus ist eine Wirtschaftsordnung,<br />

die selbst unter Teufeln funktionieren könnte.<br />

IV.<br />

Damit sind wir genügend vorbereitet, auch die Antwort auf die Frage nach<br />

dem Zentralproblem kapitalistischer Gesellschaften in einer neuen Richtung<br />

zu suchen, die von den krisentheoretischen Annahmen der politischen Ökonomie<br />

abweicht. Krisentheoretische Ansätze in der Tradition der politischen<br />

Ökonomie rechnen mit Problemen für den Kapitalismus, die im Prinzip<br />

seiner inneren Schwäche <strong>und</strong> Instabilität entspringen. Im Unterschied<br />

hierzu betont eine Theorie selbstdestruktiver Tendenzen der Form, wie sie<br />

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ei Schumpeter vorgebildet ist, daß die entscheidenden Problemlagen des<br />

Kapitalismus nicht seiner inneren Schwäche, sondern seiner ungebrochenen,<br />

alles durchdringenden Stärke entspringen. In dieser Perspektive leiden die<br />

fortgeschrittenen kapitalistischen Länder an „Widersprüchen", die eben<br />

nicht aus ihrer Schwäche, sondern aus ihrer Stärke entstehen (vgl. Hirschmann<br />

1982, S. 678). In der gewandelten Sichtweise generiert ein kapitalistisches<br />

System Probleme primär durch seine Funktionstüchtigkeit <strong>und</strong> Zielerreichung,<br />

nicht durch Funktionsdefizite; kurz: durch Wachstum <strong>und</strong><br />

nicht durch Wachstumsstörungen.<br />

Eine solche Änderung der Blickrichtung der Krisenanalyse fußt auf Annahmen<br />

darüber, was in der „great transformation" prinzipiell passiert ist.<br />

Ich hatte argumentiert, daß der Kern der Entwicklung in einem Freisetzungs-<br />

<strong>und</strong> Verselbständigungsprozeß besteht. Das Resultat dieser Entwicklung<br />

ist in der ökonomischen Anthropologie mit dem Begriff der „dise<strong>mb</strong>eddedness"<br />

zusammengefaßt worden. Nur ein solcher Art freigesetztes,<br />

aus der Einbettung in vorgef<strong>und</strong>ene Strukturen herausgelöstes System vermag<br />

die Energien zu mobilisieren, alles Vorgef<strong>und</strong>ene, seien dies ältere<br />

Gemeinschaftsformen, Lebenswelten, Weltbilder, die natürliche Umwelt<br />

etc. zu durchdringen <strong>und</strong> aufzulösen.<br />

Mit dieser Änderung der Blickrichtung auf die Folgewirkungen der Umstellung<br />

der Wirtschaft auf „Eigengesetzlichkeit" sind aber die Problemlagen<br />

eines Vergesellschaftungsmodus, der, wie Marx sagt, „nicht irgendetwas<br />

Gewordenes zu bleiben sucht, sondern in der absoluten Bewegung des Werdens<br />

ist" (Marx 1953, S. 387) selbst nocht nicht benannt. Wie läßt sich begründen,<br />

daß ein Vergesellschaftungsmodus, der auf Freisetzung beruht,<br />

selbst-destruktive Tendenzen enthält?<br />

Wie Breuer (1983) gemeint hat, mündet ein System der reinen Vergesellschaftung,<br />

das keinen „vorhergegebenen Maßstab" (Marx, a.a.O.) mehr<br />

anerkennt, in letzter Konsequenz in der von Nietzsche prognostizierten<br />

„Entwertung aller Werte", dem Nihilismus. Unter Nihilismus soll dabei<br />

nicht die Negation der Moral verstanden werden, sondern der Sachverhalt,<br />

daß in modernen Gesellschaften der Tendenz nach alles kontingent gesetzt<br />

wird; feste Gr<strong>und</strong>lagen existieren nicht mehr als unverrückbare Vorgegebenheiten,<br />

sondern nur noch als „Setzungen" . „Alles Ständische <strong>und</strong> Stehende<br />

verdampft, alles Heilige wird entweiht, <strong>und</strong> die Menschen sind endlich<br />

2<br />

gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen<br />

Augen anzusehen" — so heißt es schon im „Kommunistischen Manifest".<br />

Theoretisch reflektiert ist diese Tendenz der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung<br />

in Luhmannns Systemtheorie. Das Bewegliche gründet in ihr nicht<br />

auf dem Festen, sondern alles Feste auf dem Beweglichen, weil alles Gesellschaftliche<br />

eine „jederzeit änderbare Selektionsleistung aus stets präsent<br />

bleibenden Möglichkeiten" darstellt (vgl. Breuer 1983, S. 601 mit Bezug<br />

auf Luhmann 1972, S. 190). Die Sehnsucht nach der „Rückkehr zum<br />

menschlichen Maß" (so Schumacher) mutet von daher an wie eine hilflose<br />

Gebärde. „In einer Welt", so schließt Breuers Buch folgerichtig, „ in der<br />

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sich die Bewegung der Gesellschaft nur noch an sich selber bricht, kann es<br />

... keinen Punkt (mehr geben), von dem aus sich über Rationalität oder Irrationalität<br />

des Ganzen urteilen ließe" (S. 601).<br />

Das hieße dann, solche Gesells aften könnten keine „vernünftige Identität"<br />

(Habermas 1970) mehr ausbilden . Aber sind sie deswegen selbstdestruktiv?<br />

Um solche selbstdestruktiven Tendenzen aufzuspüren, müßte<br />

3<br />

man zeigen können, daß „freigesetzte" kapitalistische Wirtschaften in der<br />

Verfolgung ihres Expansionspfads ihre eigenen Gr<strong>und</strong>lagen, auf denen sie<br />

aufbauen, aufzehren. Diese Gr<strong>und</strong>lagen müssen unserer Voraussetzung zufolge<br />

nicht im System selbst, sondern im Verhältnis des Systems zu seiner<br />

natürlichen <strong>und</strong> sozialen Umwelt aufgesucht werden. Insofern das kapitalistische<br />

Wirtschaftssystem seine Grenze immer weiter in seine Umwelten<br />

hineinverschiebt — so lautet der ganz abstrakte Gr<strong>und</strong>gedanke — bedroht<br />

es wesentliche Bestandsvoraussetzungen dadurch, daß es seine eigenen<br />

Umwelten in einer Weise verändert, die seinem Funktionieren abträglich<br />

sind.<br />

Eine konkretisierende Auslegung hat dieser Gr<strong>und</strong>gedanke in einer<br />

Überlegung erhalten, die Parsons am Ende seines „Systems der modernen<br />

Gesellschaften" (1972) entwickelt. Die Krise der Moderne, so Parsons, wird<br />

ihr Zentrum nicht in der Wirtschaft, der Politik oder dem Wertesystem<br />

haben, sondern in der <strong>gesellschaftliche</strong>n Gemeinschaft. Gravierende Probleme<br />

entstehen aus der Fortsetzung des Rationalisierungsprozesses an der<br />

Grenze von „System <strong>und</strong> äußerer Umwelt" einerseits, an der Front der<br />

Motivationsgr<strong>und</strong>lagen andererseits. Der „instrumentale Aktivismus", so<br />

möchte ich Parsons Gedanken verdeutlichen, bildet den ethischen Kern des<br />

Kapitalismus. Er äußert sich in einem Rationalismus der Weltbeherrschung,<br />

der zu ständigen Eingriffen in die natürliche Umwelt führt. Gleichzeitig<br />

stellt dieser instrumentelle Aktivismus seine eigene Motivationszufuhr in<br />

Frage. Probleme entstehen dann einmal durch die ständige Grenzverschiebung<br />

von „Ökonomie <strong>und</strong> Ökologie" (Probleme zwischen System <strong>und</strong><br />

äußerer Umwelt) <strong>und</strong> zum anderen aus der Abschwächung jener Motive,<br />

die den „instrumentellen Aktivismus" getragen haben (Probleme zwischen<br />

System <strong>und</strong> innerer Umwelt).<br />

Beide Gefahrenzonen sind aus der wissenschaftlichen Literatur <strong>und</strong> der<br />

öffentlichen Diskussion hinreichend bekannt. Die Idee der Motivationskrise<br />

(Habermas) hat verschiedene Begründungen gef<strong>und</strong>en: Auflösung des bürgerlichen<br />

Sparideals durch die Konsumgesellschaft, Ausbreitung hedonistischer<br />

Orientierungen (Bell), autonomer Wertwandel (Inglehart), Schwächung<br />

der Wertverpflichtung durch das Dominantwerden marktkonformer<br />

Motive des Eigeninteresses etc. Insbesondere F. Hirsch ist in den „the depleting<br />

moral legacy" überschriebenen Abschnitten seines Buchs „Social<br />

Limits to Growth" (1976) dieser Idee nachgegangen, daß der Kapitalismus<br />

seine moralischen Gr<strong>und</strong>lagen auflöst. Ich möchte diese Analyse nicht wiederholen<br />

<strong>und</strong> stattdessen stellvertretend am Konflikt zwischen Ökonomie<br />

<strong>und</strong> Ökologie das Zentralproblem der „Bindungslosigkeit" <strong>und</strong> die mögli-<br />

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chen Bearbeitungsformen dieses Zentralproblems verdeutlichen. Wenn das<br />

Gr<strong>und</strong>problem des Kapitalismus die Schrankenlosigkeit seines Verwertungstriebs<br />

ist, dann hängt die Fortsetzbarkeit des Kapitalismus als <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Projekts von der Beantwortung der Frage ab, ob ein solches System<br />

„gebändigt" oder „gezügelt" werden kann.<br />

V.<br />

Auch zu der Konfliktfront zwischen Ökonomie <strong>und</strong> Ökologie gibt es eine<br />

unübersehbare Literatur. Allerknappste Anmerkungen sollen daher genügen.<br />

In einem glänzenden Artikel über das Walsterben hat Gonigle (1980) den<br />

Konflikt zwischen Ökologie <strong>und</strong> Ökonomie auf den Begriff gebracht. Die<br />

großen Meeressäuger müssen immer noch sterben wegen der Ökonomisierung<br />

der Ökologie. Ökologie bedeutet weit mehr als „Umweltschutz". Sie<br />

ist eine von der Ökonomie radikal differierende Perspektive. Mit Ökonomie<br />

<strong>und</strong> Ökologie ist ein jeweils anderer Satz von Entscheidungsregeln gemeint.<br />

Ihr Unterschied läßt sich gut beschreiben durch die abweichenden<br />

Zeithorizonte, die sie jeweils implizieren. Obwohl ökonomische Entscheidungen<br />

als „Vorsorge für einen zukünftigen Bedarf" (Weber) auf die Zukunft<br />

orientiert sind, ist ihr Zeithorizont doch kurzfristig. Langzeitprobleme<br />

dieses an der unmittelbaren Zukunft orientierten Entscheidungstypus<br />

bleiben aus dem rationalen Kalkül des Investors ausgeklammert. Der Investor,<br />

blind gegenüber der Zukunft, verfolgt eine Strategie der Maximierung<br />

seiner Erträge. In einem derartig verselbständigten ökonomischen Kalkül<br />

kann es rational sein, den Ertrag aus der Ausbeutung natürlicher Ressourcen<br />

zu maximieren, auch wenn dies zu ihrer Zerstörung führt. Im Gegensatz<br />

hierzu wird in der ökologischen Perspektive anerkannt, daß die Erde für zukünftige<br />

Generationen bewahrt werden muß. Gegenwärtige Bedürfnisse<br />

müssen mit denen zukünftiger Generationen abgewogen werden. Fachökonomisch<br />

gesprochen: in intertemporaler <strong>und</strong> intergenerationaler Perspektive<br />

ist die Marktallokation pareto — suboptimal.<br />

Vorausgesetzt, das zentrale Problem der ökonomischen Entscheidungsweise<br />

ist die Zerstörung der Balance zwischen Ökologie <strong>und</strong> Ökonomie<br />

durch „Überexpansion", dann liegt es nahe, Lösungen dieses Problems in<br />

der „Reintegration" der Ökonomie zu suchen, also in der Einbindung der<br />

Ökonomie in Vorgegebenheiten, von denen sich befreit zu haben doch gerade<br />

das Wesen des rationalen Kapitalismus ausmacht. Gonigle sucht die<br />

Lösung von Problemen, die in der Ökonomisierung der Ökologie liegen, in<br />

einer Politik des ökologischen Übergangs, deren Ergebnis die Institutionalisierung<br />

einer anderen, eben der „ökologischen Entscheidungsweise" ist. Interessanterweise<br />

beschreibt er sie nicht als Auflösung der Ökonomie, sondern<br />

als Repräsentation von Ressourceninteressen in den Entscheidungen<br />

ökonomischer Akteure. Eine solche Öffnung eines Systems für die Sorgen<br />

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seiner sozialen <strong>und</strong> natürlichen Umwelt darf nicht mit Entdifferenzierung<br />

vermengt werden. Entdifferenzierung läge vor, wenn z.B. die Wirtschaft<br />

andere als wirtschaftliche Funktionen z.B. Bildung, Rechtsprechung etc.<br />

ausübte. Hingegen wäre bei der Einbeziehung der Auswirkungen des Wirtschaftens<br />

in die wirtschaftlichen Entscheidungen nicht die funktionale Spezifizierung,<br />

sondern die Autonomisierung des Wirtschaftssystems betroffen.<br />

Das Vorbild für derartige Prozesse der „relativen Heteronomisierung" (Buß<br />

1983) bildet die Sozialpolitik. Heimann (1980) hat ihr Prinzip als Verwirklichung<br />

der sozialen Idee im Kapitalismus gegen den Kapitalismus<br />

beschrieben. Analog hierzu ließe sich von dem Programm der Verwirklichung<br />

der ökologischen Idee im Kapitalismus gegen den Kapitalismus<br />

sprechen. Seine Realisierung käme einer Transformation kapitalistischer Gesellschaftssysteme<br />

gleich, insofern der fortgesetzten Kommodifizierung, der<br />

Auflösung aller übrigen Lebenssphären <strong>und</strong> der Bedrohung der natürlichen<br />

Umwelt durch die ungebrochene Expansion des Wirtschaftssystems ein<br />

Ende gesetzt würde. Eine Relativierung der Wirtschaft hingegen hätte zum<br />

Ergebnis, daß Raum geschaffen würde dafür, die Sphäre der Geldwirtschaft<br />

mit den übrigen Lebensbereichen in ein neues Verhältnis zu setzen.<br />

Was bedeutet nun eine solche Relativierung für unsere Ausgangsfrage:<br />

kann der Kapitalismus weiterleben, <strong>und</strong>: auf welchem Weg ist eine als Relativierung<br />

beschreibbare Transformation kapitalistischer Systeme erreichbar?<br />

Das Gr<strong>und</strong>problem einer selbstbezüglichen, schrankenlosen Produktionsweise<br />

ist, wie sie „gezügelt" werden kann. Diese Zügelung kann entweder<br />

von außen oder von innen geschehen. Ein möglicher Ansatz zu einer solchen<br />

Selbstbeschränkung wird in der jüngeren, steuerungstheoretischen Literatur<br />

unter dem Titel der „Selbststeuerung" diskutiert. Die ältere Literatur<br />

hatte von Selbstbindung gesprochen. Selbstbindung unterscheidet sich<br />

von Fremdbindung sei es durch staatliche Politik, sei es durch soziale Bewegungen.<br />

Beide intervenieren in den Selbstlauf der Wirtschaft, entweder<br />

durch Implementation politischer Programme, oder durch Entzug der Folgebereitschaft<br />

<strong>und</strong> „Delegitimierung". Zur Selbstbindung hingegen kommt<br />

es durch „Rücksichtnahme". Luhmann hat diesen Steuerungsmodus 'Reflexion'<br />

genannt. Dessen Prinzip besteht darin, daß ein System gerade dadurch,<br />

daß es seine Differenz zur Umwelt thematisiert, Distanz zu sich<br />

selbst gewinnt. Die Durchsetzung solcher reflexiver Steuerungsformen<br />

würde keine neue R<strong>und</strong>e im Streit zwischen Privatisierung <strong>und</strong> Etatisierung<br />

bedeuten. Sie antwortet vielmehr auf das Gr<strong>und</strong>problem funktional differenzierter<br />

Systeme, die Reintegration der interdependenten Teile. Willke/<br />

Teubner (1984) haben den Gr<strong>und</strong>zug reflexiver Selbststeuerung im Anschluß<br />

an Luhmann so zusammengefaßt: „Die Leistungssteigerung der Teilsysteme<br />

durch Spezialisierung darf nicht voll ausgefahren, nicht maximiert<br />

werden, weil diese Rücksichtslosigkeit jedes einzelnen Teils dieses zur bedrohlichen<br />

Umwelt jedes anderen Teils machte" (S. 14). Damit antwortet<br />

Selbststeuerung auf einen Gesellschaftszustand, der durch die Freisetzung<br />

des Wirtschaftssystems geprägt ist. In dieser Selbstbezüglichkeit liegt der<br />

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Gr<strong>und</strong> für die Funktionsfähigkeit <strong>und</strong> Umweltblindheit des Wirtschaftssystems<br />

zugleich beschlossen. In dem Maße, in dem es lernte, Abstand zu<br />

sich zu gewinnen <strong>und</strong> auch anderen als wirtschaftlichen Gesichtspunkten<br />

Geltung zu verschaffen, würden aber Funktionsunterbrecher in es eingebaut.<br />

An solchen „rationalen" Funktionsunterbrechungen <strong>und</strong> Rücksichtnahmen<br />

besteht jedoch, wie gerade die jüngsten Erfahrungen gelehrt haben,<br />

ein empfindlicher Mangel. Aber bedeutet „Eigengesetzlichkeit der Wirtschaft",<br />

daß sie nicht mehr lernen kann? Wie dem auch sei: kapitalistische<br />

Wirtschaften müssen mit der paradoxen Lage fertigwerden, daß gerade die<br />

Verfolgung von Wachstumszielen destabilisierende Effekte zeitigt, während<br />

Selbstbegrenzung die Überlebensfähigkeit solcher Systeme steigert.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Mit der Unterscheidung von Gesellschaft <strong>und</strong> Interaktion thematisiert Luhmann<br />

(1984, S. 551 ff.) eine mit dem Auseinandertreten von System <strong>und</strong> Lebenswelt<br />

vergleichbare Differenzierung.<br />

2 Vgl. auch Luhmann 1984, S. 638: „Alle festen Gr<strong>und</strong>lagen müssen mithin aufgegeben,<br />

sie müssen als zureichender Konsens jeweils erarbeitet werden."<br />

3 Führt man den Rationalitätsbegriff „in das System als Bezugspunkt der Selbstbeobachtung<br />

ein", so Luhmann 1984, S. 647 „wird er auf eigentümliche Weise a<strong>mb</strong>ivalent:<br />

er dient dann als Gesichtspunkt der Kritik aller Selektionen <strong>und</strong> als Maß<br />

der eigenen Unwahrscheinlichkeit".<br />

LITERATUR<br />

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Hegelpreises 1973 der Stadt Stuttgart an Jürgen Habermas. Frankfurt.<br />

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einem Vorwort von Bernhard Badura. Frankfurt.<br />

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über die Formen der großen Epik. Neuwied.<br />

Luhmann, N., 1972: „Positives Recht <strong>und</strong> Ideologie." In: ders.: Soziologische Aufklärung.<br />

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Luhmann, N., 1984: „Die Wirtschaft der Gesellschaft als autopoietisches System."<br />

In: Zeitschrift für Soziologie, Jg. 13, S. 308 ff.<br />

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Luhmann, N., 1984: Soziale Systeme. Gr<strong>und</strong>riß einer allgemeinen Theorie. Frankfurt.<br />

Marx, K., 1953: Gr<strong>und</strong>risse der Kritik der politischen Ökonomie. Berlin.<br />

Marx, K., 1970: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band: Der Zirkulationsprozeß<br />

des Kapitals. Berlin (MEW Bd. 24).<br />

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Polanyi, K., 1967: The Great Transformation. The Political and Economic Origins of<br />

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Schumpeter, J., 1950: Kapitalismus, Sozialismus <strong>und</strong> Demokratie. Bern.<br />

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marktwirtschaftlicher Ordnungen." In: Streissler, E. Watkin, C., (Hrsg): Theorie<br />

marktwirtschaftlicher Ordnungen. Tübingen, S. 38 ff.<br />

Teubner, G., Willke, H., 1984: „Kontext <strong>und</strong> Autonomie: Gesellschaftliche Selbststeuerung<br />

durch reflexives Recht." In: Zeitschrift für Rechts<strong>soziologie</strong>. 6. Jg., S. 4 ff.<br />

Weber, M., 1972: Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Gr<strong>und</strong>riß der verstehenden Soziologie.<br />

Studienausgabe Tübingen.<br />

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MOBILISIERUNG DER LAIEN - DEPROFESSIONALISIERUNG<br />

DER HILFEN. EIN VERLUST AN GESELLSCHAFTLICHER<br />

RATIONALITÄT?<br />

Christian von Ferber<br />

Deprofessionalisierung <strong>und</strong> Laisierung ein sozialer Prozeß<br />

Wer heute als Soziologe für eine Entprofessionalisierung im Ges<strong>und</strong>heits<strong>und</strong><br />

Sozialsektor eintritt, muß sich nicht nur mit den <strong>gesellschaftliche</strong>n Folgen<br />

eines solchen Prozesses auseinandersetzen, sondern auch festgefügte<br />

soziologische Lehrmeinungen argumentativ überwinden. Im Unterschied<br />

zur Situation vor einem Jahrzehnt sind Mobilisierung der Laien <strong>und</strong> Deprofessionalisierung<br />

der Hilfen heute eine Tatsache. Allerdings hatte der Ausbau<br />

öffentlicher persönlicher Dienstleistungen im Bildungs-, Ges<strong>und</strong>heits<strong>und</strong><br />

Sozialbereich, von Soziologen, Bildungs-, Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialpolitikern!<br />

nachdrücklich gefordert , nicht nur — wie jeder politisch induzierte<br />

1<br />

soziale Wandel — Widerstand erzeugt, sondern sehr bald auch zu selbstkritischen<br />

Überlegungen geführt, ob denn Bildung, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> soziale<br />

Hilfen in der Tat durch professionelle Dienstleistungen im erwarteten Umfang<br />

produziert werden.<br />

Gemessen an ihrem Einfluß auf die öffentliche Diskussion kam die wirkungsvollste<br />

Erschütterung des Glaubens an den <strong>gesellschaftliche</strong>n Wert<br />

professioneller Dienstleistungen von einem Außenseiter, von Ivan Illich, der<br />

sich selbst als „Sozialphilosophen" etikettiert. Seine radikalen antiprofessionellen<br />

Ideen: „Entschulung der Gesellschaft", „Nemesis der Medizin<br />

— von den Grenzen des Ges<strong>und</strong>heitswesens" haben in der B<strong>und</strong>esrepublik<br />

in der ersten Hälfte der siebziger Jahre eine breite Resonanz gef<strong>und</strong>en. Obwohl<br />

Illich seine Arbeiten zunächst auf englisch publiziert hat , haben sie<br />

2<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik eine unvergleichlich größere Durchschlagskraft gehabt<br />

als in den Vereinigten Staaten. Illich's Ideen wurden hier zu einer Zeit<br />

aufgenommen, als in der Soziologie die Theorie der Profession in den Arbeiten<br />

von Daheim, Hesse <strong>und</strong> Hartmann einen Reifezustand erreicht hatte,<br />

der sie zum gesicherten Bestand soziologischer Lehrveranstaltungen werden<br />

ließ . Wir können also für die erste Hälfte der siebziger Jahre ein Nebeneinander<br />

von soziologischer Theorie der Profession <strong>und</strong> radikaler Infrage­<br />

3<br />

stellung von Professionalisierung konstatieren.<br />

Die zunächst rein intellektuelle Diskussion über die Deprofessionalisierung<br />

<strong>und</strong> Mobilisierung der Laien erweiterte sich im Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />

Sozialbereich zu einem sozialen Prozeß. In den Selbsthilfegruppen, die in<br />

der Ges<strong>und</strong>heitsbewegung auch die Kontinuität einer ges<strong>und</strong>heitspolitischen<br />

Öffentlichkeit gewonnen haben — besonders bekannt geworden sind<br />

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die „Ges<strong>und</strong>heitstage", die sich offen als Konkurrenz zur professionellen<br />

Öffentlichkeitsarbeit der Ärztetage konstituierten —, ward die Mobilisierung<br />

der Laien Alltagspraxis, gewinnt die Deprofessionalisierung der Hilfen konkrete<br />

Gestalt 4 .<br />

Warum im Bildungsbereich, in dem die öffentliche Diskussion über Deprofessionalisierung<br />

begonnen hat — erinnert sei an die Unterstützung <strong>und</strong><br />

Weiterführung von Illich's „Entschulung der Gesellschaft" durch Hartmut<br />

von Hentig s — eine Laienbewegung letztlich ausgeblieben ist, kann hier<br />

dahingestellt bleiben. Die skizzierte Entwicklung im Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong><br />

Sozialbereich rechtfertigt es, von Deprofessionalisierung der Hilfen <strong>und</strong> Mobilisierung<br />

der Laien als einem <strong>gesellschaftliche</strong>n Prozeß zu sprechen. Dieser<br />

Prozeß zeichnet sich durch die folgenden Merkmale aus.<br />

1. Die gr<strong>und</strong>legenden Wertorientierungen professionellen Handelns büßen<br />

ihre legitimierende Funktion ein. Professionelles Handeln orientiert sich<br />

an wissenschaftlichen Gr<strong>und</strong>lagen <strong>und</strong> beruht auf der Anwendung des technischen<br />

Fortschritts. Wissenschaftlich-methodischer Fortschritt <strong>und</strong> technische<br />

Potenzierung werden mit einer Steigerung professioneller Handlungschancen<br />

gleichgesetzt. Dieses Gleichsetzen der Qualität professionellen<br />

Handelns mit der Anwendung des wissenschaftlich-technischen Fortschritts<br />

löst sich auf. Es kommt zur Abwendung von der kulturellen Tradition der<br />

Profession <strong>und</strong> zur Suche nach alternativen Identifikationen für die Qualität<br />

professionellen Handelns.<br />

2. Die Bedürfnisse, denen die professionelle Arbeit dienen soll, beanspruchen<br />

Geltung als eine Instanz der sozialen Kontrolle <strong>und</strong> der Bewertung<br />

professioneller Dienstleistungen. Sie wollen Prioritäten setzen. Die Gleichsetzung<br />

einer Ausweitung des professionellen Dienstleistungsangebots mit<br />

einem steigenden Niveau der Befriedigung ges<strong>und</strong>heitlicher <strong>und</strong> sozialer<br />

Bedürfnisse verliert ihre Glaubwürdigkeit. Anbieter- <strong>und</strong> Nachfrageorientierung<br />

kommen in der Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialpolitik nicht länger zur Dekkung<br />

6 .<br />

3. Die Profession spaltet sich, es kommt zur Bildung rivalisierender Eliten<br />

mit divergierenden professionspolitischen Zielsetzungen.<br />

4. Die miteinander rivalisierenden Eliten der Profession suchen die Laien<br />

zu mobilisieren, um die Legitimation ihres Führungsanspruches zu erhalten<br />

<strong>und</strong> zu verbessern.<br />

5. Die Laien organisieren Leistungen in Tätigkeitsfeldern, die von den Professionen<br />

beansprucht werden. Sie legitimieren ihre Aktivitäten in einer die<br />

Profession zweifach diskreditierenden Weise. Sie begründen ihre Initiativen<br />

mit den Defiziten professioneller Versorgung, Selbsthilfegruppen werden<br />

dort tätig, wo die professionelle Versorgung versagt, <strong>und</strong> sie bringen ein<br />

alternatives Prinzip der Leistungserbringung zum Tragen: Selbst- bzw. gegenseitig<br />

erbrachte Leistungen als Alternative zu beruflich-entgeltlichen<br />

Dienstleistungen .<br />

7<br />

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6. Die Machtbalance zwischen Staat <strong>und</strong> professioneller Autonomie wandelt<br />

sich. Das Tätigkeitsfeld der Profession ist durch staatliche Mittel, also<br />

durch Beteiligung an der politischen Herrschaft gesichert bei voller Autonomie<br />

der Professionen in der Bestimmung der Inhalte ihrer Tätigkeit. Die<br />

Ausleihe von Mitteln staatlicher Herrschaft an autonom handelnde Professionen<br />

ist zweifach legitimiert: durch die Bindung professionellen Handelns<br />

an die wissenschaftliche Rationalität <strong>und</strong> durch die Klientenorientierung<br />

professionellen Handelns. Beide Legitimationen werden brüchig, weil die<br />

Identifikation der Qualität professionellen Handelns mit dem wissenschaftlich-technischen<br />

Fortschritt nicht länger gelingt <strong>und</strong> weil die Laien selbst<br />

die Klientenorientierung professionellen Handelns überzeugend in Frage<br />

stellen.<br />

Soziologie der Profession <strong>und</strong> Theorien postindustrieller Gesellschaften<br />

Die genannten Merkmale der Deprofessionalisierung der Hilfen <strong>und</strong> der<br />

Mobilisierung der Laien im Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialbereich zwingen zu<br />

einer Revision soziologisch begründeter <strong>gesellschaftliche</strong>r Reformerwartungen.<br />

Gehörte es doch zum gesicherten Bestand der Modernisierungstheorien<br />

für die nachindustrielle Phase <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklung, den<br />

Professionen eine Schlüsselrolle zuzuweisen . Um hier nur kurz an einiges<br />

8<br />

zu erinnern: Professionen in der Gestalt der wissenschaftlich-technischen<br />

Intelligenz, als Avantgarde des <strong>gesellschaftliche</strong>n Fortschritts, als Basis für<br />

die Ausbreitung fortschrittlicher politischer Ideen, als Werkzeug für die Befriedigung<br />

wesentlicher postindustrieller Bedürfnisse nach Bildung, nach<br />

Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> nach sozialer Unterstützung.<br />

Die strategische Einbeziehung der Professionen in makro-soziologische<br />

Überlegungen zur Weiter<strong>entwicklung</strong> der Gesellschaft verleiht den Theorien<br />

der Profession ein größeres Gewicht, als ihnen im Rahmen bereichsspezifischer<br />

Theorienbildung, der Berufs<strong>soziologie</strong> zukommt. Dabei hat — wenn<br />

ich recht sehe — nie eine intensive gegenseitige Bezugnahme zwischen den<br />

makro-soziologischen Theorien zur postindustriellen Gesellschaft <strong>und</strong> den<br />

bereichsspezifischen Theorien zur Profession stattgef<strong>und</strong>en, aus naheliegenden<br />

Gründen. Denn es gibt keine Reibungsflächen, in denen einander widersprechende<br />

Aussagen aufeinanderstoßen. Im Gegenteil, beide Theoriefelder<br />

ergänzen einander im gesellschaftspolitisch Erwünschten.<br />

Eine wichtige makro-soziologische Aussage betrifft die Ausweitung des<br />

öffentlichen, im engeren Sinne des sozialstaatlichen Dienstleistungssektors:<br />

mehr Wissenschaft, mehr wissenschaftlich ausgebildete Berufe, mehr Bildung,<br />

mehr Ges<strong>und</strong>heit, mehr soziale Unterstützung. In diesem Bild einer<br />

nachindustriellen Phase <strong>gesellschaftliche</strong>r Entwicklung, in dem sich beschreibende<br />

mit wertenden Charakterzügen mischen, erfüllen die Professionen,<br />

also Berufe, deren Identität durch formale wissenschaftliche Schulung<br />

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<strong>und</strong> durch die Vermittlung <strong>und</strong> Anwendung wissenschaftlichen Wissens<br />

hergestellt wird, eine unersetzliche Funktion. Bereits durch ihre Existenz<br />

kennzeichnen sie die <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklungsphase (postindustriell =<br />

Dienstleistungsgesellschaft). Ihre eigene Dynamik konvergiert mit der gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Dynamik, die Professionen sind das Werkzeug für<br />

das Erreichen eines neuen <strong>gesellschaftliche</strong>n Aggregatzustandes. In die Konturen<br />

eines solchen Schemas fügen sich die wesentlichen Bestandteile der<br />

Theorie der Profession unschwer ein.<br />

1. Professionelle Arbeit ist die qualifizierteste Form <strong>gesellschaftliche</strong>r<br />

Arbeit. Wenn der Anteil der Professionellen unter den Beschäftigten zunimmt,<br />

wird das Qualifikationsniveau der Arbeit in der Gesellschaft erhöht.<br />

2. Professionelle Arbeit erreicht das höchste Niveau der Autonomie in<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Arbeit. Die Zunahme professioneller Arbeit erhöht<br />

daher die Chance der Selbstbestimmung <strong>und</strong> der Selbstverwirklichung in<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Arbeit.<br />

3. Professionelle Arbeit orientiert sich an wissenschaftlicher Erkenntnis,<br />

sie verkörpert daher ein Höchstmaß an <strong>gesellschaftliche</strong>r Rationalität.<br />

Professionelle Arbeit ist mit fortschreitender wissenschaftlicher Erkenntnis<br />

offen für den sozialen Wandel. Die Ausbreitung professioneller Arbeit erhöht<br />

das Niveau <strong>gesellschaftliche</strong>r Rationalität <strong>und</strong> gibt dem sozialen Wandel<br />

eine größere Durchsetzungschance.<br />

4. Professionelle Arbeit verkörpert in mehrfacher Hinsicht selbstreflexives<br />

soziales Handeln: es bewertet sich selbst, denn es trägt seine eigenen Maßstäbe<br />

in sich, es verantwortet sich selbst, das ist der wesentliche Inhalt der<br />

professionellen Autonomie, es steuert seine eigene Dynamik. Ihr selbstreflexiver<br />

Charakter gibt der professionellen Arbeit Anteil an der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Evolution.<br />

5. Professionelle Arbeit dient Bedürfnissen, deren Befriedigung im Fokus<br />

gesamt<strong>gesellschaftliche</strong>r Ziele liegen: Bildung, Ges<strong>und</strong>heit, soziale Unterstützung.<br />

6. Professionelle Arbeit potenziert sich in <strong>gesellschaftliche</strong>n Teilsystemen:<br />

im Wissenschafts- <strong>und</strong> Hochschulsystem, im Bildungssystem, im Medizinsystem,<br />

im Sozialleistungssystem. Die genannten Systeme zeichnen sich dadurch<br />

aus, daß sie öffentlich finanziert, wichtige gesellschaftspolitische<br />

Bedürfnisse befriedigen <strong>und</strong> für eine gesellschaftspolitische Planung zur Disposition<br />

stehen. Wissenschafts-, Hochschul-, Bildungs-, Ges<strong>und</strong>heits-, sozialpolitische<br />

Planung bilden den bevorzugten Gegenstand einer „aktiven Professionalisierung"<br />

der Soziologie 9 .<br />

Deprofessionalisierung der Hilfen <strong>und</strong> Mobilisierung der Laien lösen das<br />

harmonische Bild auf, zu dem sich makro-soziologische Aussagen zur<br />

diagnostizierten <strong>und</strong> gesellschaftspolitisch emünschten Weiter<strong>entwicklung</strong><br />

der Gesellschaft mit den bereichsspezifischen Aussagen zur Stellung der<br />

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Professionen in der <strong>gesellschaftliche</strong>n Arbeit zusammenfügen. In dem Maße,<br />

wie theoretisch die <strong>gesellschaftliche</strong> Forschrittlichkeit der Professionen bestritten<br />

wird, praktisch sich Gegenbewegungen bilden, die Deprofessionalisierung<br />

fordern <strong>und</strong> auf die Selbsthilfe an Stelle von professioneller Hilfe<br />

bauen, geraten soziologische Theoriebestände ins Wanken, die Glaubenssätze<br />

der Gesellschaftspolitik ausmachen. Gerade gegenüber den diagnostischen<br />

Aussagen zur <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung, in denen die Soziologie<br />

Gesellschaftspolitik begründet, zumindest legitimiert, stellen sich ernsthafte<br />

Zweifel ein. Ich werde mich hier auf drei gesellschaftspolitisch besonders<br />

wirksame Theorien beschränken:<br />

— die soziologischen Theorien zur Sozialpolitik,<br />

— Theorien zur Organisation des Wissens, zu seinem Erwerb <strong>und</strong> zu seiner<br />

Verteilung <strong>und</strong><br />

— Theorien pluralistischer Machtgleichgewichte.<br />

Dabei wird es vor allem um die Erörterung implizierter theoretischer Annahmen<br />

gehen. Für die Sozialpolitik geraten zwei Annahmen ins Wanken,<br />

die sog. Dienstleistungsstrategie <strong>und</strong> die sozialpolitische Planung, letztere<br />

insbesondere in ihrem Anspruch Bedarf zu planen.<br />

Die sozialpolitische Dienstleistungsstrategie im Sog der<br />

Deprofessionalisierung<br />

Als Dienstleistungsstrategie können wir Badura <strong>und</strong> Groß folgend die Aktionsrichtung<br />

der Sozial- <strong>und</strong> Gesellschaftspolitik bezeichnen, die über per­<br />

10<br />

sönliche Dienstleistungen, die als öffentliche oder soziale Güter angeboten<br />

werden, Bedürfnisse nach Bildung, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> sozialer Hilfe befriedigt.<br />

Die Dienstleistungen ergänzen wirksam die historisch vorangegangenen<br />

sozialpolitischen Aktionsrichtungen, die sich als Rechtsgestaltung <strong>und</strong> als<br />

Einkommensumverteilung kennzeichnen lassen. Die sozialpolitische Dienstleistungsstrategie<br />

beruht auf zwei soziologischen Annahmen:<br />

a) Die Ausweitung der persönlichen Dienstleistungen, die Erleichterung<br />

der Zugänglichkeit für die Bevölkerung sowie die Erhöhung der Akzeptanz<br />

des Dienstleistungsangebots in der Bevölkerung decken alle wesentlichen<br />

Bedürfnisse nach Bildung, Ges<strong>und</strong>heit <strong>und</strong> sozialer Hilfe ab. Die Dienstleistungsstrategie<br />

vollendet den Wohlfahrtsstaat, sie schließt das System<br />

sozialer Sicherheit ab. Defizite in der Befriedigung der Bedürfnisse sind<br />

Mängel in der Quantität oder Qualität der Dienstleistungen, nicht dagegen<br />

strukturelle Mängel der Dienstleistungsstrategie selbst 11 .<br />

b) Das Eigeninteresse der Dienstleistungsberufe deckt sich mit dem Interesse<br />

der Leistungsempfänger. Diese Annahme deutet eine gr<strong>und</strong>legende<br />

soziologisch-theoretische Aussage zum Beruf in bemerkenswerter Weise um.<br />

Berufe sind eine Form der Spezifikation von Arbeitsleistungen, die zur<br />

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Gr<strong>und</strong>lage einer dauerhaften Erwerbschance gemacht werden — so wirtschaftsoziologisch<br />

Max Weber . Für die professionellen Dienstleistungen<br />

12<br />

dagegen wird ihre „Gesellschaftsorientierung" führend — so soziologischtheoretisch<br />

Talcott Parsons <strong>und</strong> die ihm hierin folgende Theorie der Profession.<br />

Die Ausdifferenzierung von Arbeitsleistungen zu Berufen, zu Pro­<br />

13<br />

fessionen zumal, die eine hohe <strong>gesellschaftliche</strong> Autonomie verkörpern<br />

<strong>und</strong> deren Leistungen anderen Menschen unmittelbar dienen, also persönliche<br />

Dienstleistungen sind, vermag im wesentlichen die Bedürfnisse der<br />

Leistungsempfänger abzudecken, weil die Professionen aufgr<strong>und</strong> ihrer<br />

Expertenfunktionen diese Bedürfnisse besser kennen als Laien <strong>und</strong> klientenorientiert<br />

„selbstlos" handeln. Zu Recht hat Illich diese soziologische Annahme<br />

der Gleichsetzung von professionellen Anbieterinteressen mit Klienteninteressen<br />

als Trugschluß bezeichnet <strong>und</strong> als „radikales Monopol" kritisiert<br />

.<br />

14<br />

Den beiden Annahmen der Dienstleistungsstrategie setzen die Deprofessionalisierung<br />

<strong>und</strong> die Mobilisierung der Laien die Forderung entgegen, die Unabhängigkeit<br />

der Bedürfnisse gegenüber der bedarfsbestimmenden Interpretation<br />

der Professionen zu wahren. Sie decken die Grenzen der Dienstleistungsstrategie<br />

auf. Sie arbeiten die Divergenz von professionellen Anbieterinteressen<br />

<strong>und</strong> Interessen der Klienten heraus. Die Klienten beginnen ihre<br />

Bedürfnisse außerhalb des professionellen Dienstleitungsangebots selber im<br />

Wege der Selbsthilfe abzudecken.<br />

Sozialpolitische Planung <strong>und</strong> Mobilisierung der Laien<br />

Durchaus entsprechend evolutionstheoretischen Annahmen hat die Dienstleistungsstrategie<br />

zu einer Selbstthematisierung geführt. Gesellschaftspolitisch<br />

gesehen ist die Dienstleistungsstrategie ein selbstreflexiver Prozeß .<br />

15<br />

Denn sie bildet Gegenstand der Planung, für die im Dienstleistungsangebot<br />

eigene Institutionen eingerichtet <strong>und</strong> unterhalten werden: Bildungs- <strong>und</strong><br />

Hochschulplanung, Krankenhausbedarfsplanung, Kassenarztbedarfsplanung,<br />

Altenplanung, Planung von Sozialstationen usw. In den Planungen erfüllt<br />

sich zugleich die alte sozialistische <strong>und</strong> soziologische Hoffnung, daß die <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Entwicklung nicht dem Selbstlauf oder dem Wirken anonymer<br />

Mechanismen überantwortet, sondern daß die Steuerung der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Entwicklung zum Gegenstand bewußten, rationalen Handelns<br />

werden soll. Die öffentliche Finanzierung der Dienstleistungen, ihre Angebotsformen<br />

als öffentliche <strong>und</strong> soziale Güter, geben solchen Erwartungen<br />

die materielle Gr<strong>und</strong>lage. Sie können sich in der planvollen Befriedigung<br />

wichtiger <strong>gesellschaftliche</strong>r Bedürfnisse verwirklichen.<br />

Der Anspruch der sozialpolitischen Planungen geht dahin, nicht nur das<br />

Angebot geordnet auf den Weg zu bringen <strong>und</strong> es gleichmäßig zu verteilen,<br />

sondern den Bedarf selbst zu planen. Da für den Bedarf jedoch keine ange-<br />

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otsunabhängigen Kriterien bestehen, gehen in die genannten sozial- <strong>und</strong><br />

gesellschaftspolitischen Planungen die Parameter des Angebots ein. Sozial<strong>und</strong><br />

gesellschaftspolitische Planung ist zweifellos ein selbstreflexiver Prozeß,<br />

der das Dienstleistungsangebot wohl mit sich selbst, aber nicht mit den Bedürfnissen<br />

der Klienten vermittelt 16 .<br />

Die Deprofessionalisierung <strong>und</strong> die Mobilisierung der Laien haben unmittelbar<br />

keine Chance, die sozial- <strong>und</strong> gesellschaftspolitischen Planungsprozesse<br />

zu beeinflussen. Erst die Verknappung öffentlicher Ressourcen<br />

macht ein Bündnis zwischen den finanzierenden Instanzen <strong>und</strong> den Basisbewegungen<br />

der Klienten möglich, um die professionellen Anbieterinteressen<br />

in den Planungsprozessen zu beschneiden 17 .<br />

Die Durchsetzungsfähigkeit von Klienteninteressen gegenüber den Planungsinteressen<br />

setzt allerdings eine Verschiebung der Gleichgewichte pluralistischer<br />

Machtverteilung voraus. Diese wird jedoch vorhersehbar nur<br />

dann zu einer besseren Befriedigung von Klientenbedürfnissen führen, wenn<br />

es den Basisbewegungen gelingt, eine organisatorische Gr<strong>und</strong>lage für ihr<br />

Machtpotential aufzubauen. Andernfalls führt die Deprofessionalisierung<br />

<strong>und</strong> die Mobilisierung der Laien lediglich zu einer Verschlechterung des<br />

professionellen Dienstleistungsangebots <strong>und</strong> zu einer dementsprechenden<br />

Entlastung öffentlicher Haushalte.<br />

Theorien der Organisation des Wissens, des Wissenserwerbs<br />

Die Professionen sind ein beliebtes soziologisches Paradigma für die Steuerung<br />

der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung durch Prozesse formaler Sozialisation.<br />

Folgen wir der klassischen Definition beruflicher, speziell professioneller<br />

Sozialisation von Robert K. Merton , dann können wir die Elemente<br />

19<br />

einer soziologischen Theorie des Wissens <strong>und</strong> des Wissenserwerbs in der hier<br />

bebotenen Kürze prägnant herausheben.<br />

„Professionelle Sozialisation als soziologischer Begriff bezeichnet die sozialen<br />

Prozesse, in denen Personen selektiv die Werte <strong>und</strong> Einstellungen, die<br />

Interessen, Fähigkeiten <strong>und</strong> Fertigkeiten, sowie das Wissen erwerben, das<br />

zur Kultur — oder sagen wir es Merton interpretierend prononcierter — das<br />

zum gesellschaftlich fungierenden Wissen des Personenkreises gehört, zu<br />

dem die sich sozialisierenden Personen gehören oder in den sie als Mitglieder<br />

aufgenommen werden wollen."<br />

Merton bringt in dieser Definition eine für unsere Überlegungen wichtige<br />

soziologische Annahme auf den Begriff. Professionen sind definiert<br />

durch die andere ausschließende Verfügung über gesellschaftlich fungierendes<br />

Wissen — der von Merton verwendete Ausdruck „culture" ist schwierig<br />

seinem gemeinten Sinne nach ins Deutsche zu übertragen. Der privilegierte,<br />

vor allem der die Klienten ausschließende Besitz gesellschaftlich fungierenden<br />

Wissens bildet die Gr<strong>und</strong>lage für die Schlüsselstellung der Professionen.<br />

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Sie wird durch Zuschreibungen von Prestige, also durch Meinungsbildungsprozesse,<br />

in hohem Grade gestützt <strong>und</strong> verstärkt. Wissenschaftliches Wissen,<br />

wie es an den Ausbildungsstätten der Professionen, den Hochschulen, produziert,<br />

vermittelt <strong>und</strong> weiterentwickelt wird, gilt nicht nur in Laienkreisen<br />

als ein „Höchstmaß an erreichbarer <strong>gesellschaftliche</strong>r Rationalität" — das<br />

Höchstmaß <strong>gesellschaftliche</strong>r Rationalität verkörpert für Max Weber das<br />

„wissenschaftliche Denken" 20 . Wissenschaftliche Einrichtungen <strong>und</strong> die Berufe,<br />

die an diesen Einrichtungen durch ihre Sozialisation teilhaben, entwickeln<br />

sich zu <strong>gesellschaftliche</strong>n Referenzzentren. Ihnen kommt ein Prestigemonopol<br />

zugute, über „gesicherte Erkenntnisse", zumindest über den<br />

neuesten Erkenntnisstand, zu verfügen. Dies hat eine selten richtig eingeschätzte<br />

Haltung zur Folge.<br />

In den Situationen des praktischen Alltagslebens spielt sich die Vermutung<br />

ein: Es gibt ein Wissen, das der Alltagserfahrung, dem common sense<br />

der Bürger, in jedem Falle überlegen ist. Über dieses Wissen verfügen die Personen,<br />

die es im Wege formaler Sozialisation erworben haben: die Experten.<br />

Wir können diese Situation als die geistige, die wissensmäßige Dependenz<br />

der Laien von den Professionen bezeichnen 21 . Sie bleibt auch in der<br />

Laienbewegung erhalten 22 . Die wissensmäßige Dependenz führt folgerichtig<br />

zu einer Entwertung anderer Formen des Wissenserwerbs neben der formalen<br />

Sozialisation. Denn der Laie, der nicht-professionelle Bürger lernt in<br />

anderer Weise. Er lernt wie wir sagen autodidaktisch. Autodidaktisches Lernen<br />

ist situationsbezogen, entwickelt sich aus spezifischen Anlässen, ist erfahrungsgeb<strong>und</strong>en<br />

<strong>und</strong> bedürfniskontrolliert. Vor allem aber bleibt es an<br />

einen zufällig zusammengekommenen Personenkreis geb<strong>und</strong>en. Dem autodidaktischen<br />

Lernen fehlt die <strong>gesellschaftliche</strong> Unterstützung, die dem professionellen<br />

Lernen in überwältigender Fülle zuteil wird. Die Bildungsanstrengungen<br />

postindustrieller Gesellschaften konzentrieren sich auf die professionellen<br />

Lernprozesse <strong>und</strong> auf die professionell sozialisierten Personenkreise.<br />

Denn nur diese lassen sich nach Bildungsplan „produzieren". Sie beschränken<br />

sich auf das <strong>gesellschaftliche</strong> Wissen, das in dieser Form aufbereitet,<br />

aufbewahrt, weiterentwickelt <strong>und</strong> vermittelt werden kann.<br />

Die Forderung der Laienbewegung, die geistige, wissensmäßige Dependenz<br />

aufzubrechen, also das professionelle Wissen beratend <strong>und</strong> dienend,<br />

nicht autoritativ einzubringen <strong>und</strong> autodidaktischen Lernprozessen mehr<br />

materielle Unterstützung, mehr <strong>gesellschaftliche</strong> Anerkennung zu geben,<br />

muß ernst genommen werden. Ernsthafte Schritte in eine Gleichberechtigung<br />

alltagsweltlicher Wissensgewinnung würden allerdings zur Folge haben,<br />

daß professionelle Dominanz ihre eigene Konkurrenz, ja, ihre Alternative<br />

fördert <strong>und</strong> unterstützt. Eine, in der Tat, unsoziologische Annahme, wenn<br />

wir nicht Veränderungen im Machtgleichgewicht ins Auge fassen.<br />

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Pluralistisches Machtgleichgewicht <strong>und</strong> professionelle Autonomie<br />

Makrosoziologisch gesehen, ist die Theorie der Profession Bestandteil einer<br />

pluralistischen Machttheorie. Sie beruht auf einem Gleichgewicht zwischen<br />

staatlicher Einflußnahme <strong>und</strong> professioneller Autonomie. Es gibt zu denken,<br />

daß dieser Zusammenhang bisher nur aus einer soziologischen Denkrichtung<br />

in die Diskussion eingebracht worden ist, ohne daß dieser Vorstoß<br />

eine i.e. S. wissenschaftliche Erörterung ausgelöst hat. Helmut Schelsky<br />

<strong>und</strong> Horst Baier haben prononciert die These herausgearbeitet, daß<br />

23<br />

ein Bündnis zwischen staatlichem Herrschaftsapparat <strong>und</strong> einer Laien- <strong>und</strong><br />

Basisbewegung, das die professionelle Autonomie gleichsam in die Zange<br />

nehmen würde, ein Abgleiten in eine wohlfahrtsstaatliche Diktatur zur Folge<br />

haben werde. Beide sehen in der Autonomie der Professionen eine Garantie<br />

für persönliche Freiheit in <strong>und</strong> gegenüber dem Staat. Professionelle<br />

Autonomie setzt dem Staat Grenzen <strong>und</strong> bewahrt die Massendemokratie<br />

vor dem Abgleiten in eine sozialstaatliche Diktatur bürokratischer Eliten.<br />

Um die Tragweite dieser These abschätzen zu können, ist es erforderlich,<br />

einige Bemerkungen zur Struktur der Machtbalance voranzuschicken,<br />

die sich zwischen dem Wohlfahrtsstaat <strong>und</strong> den in diesem Sektor operierenden<br />

Professionen eingespielt hat. Die gesellschafts- <strong>und</strong> sozialpolitische<br />

Dienstleistungsstrategie hat eine Aufteilung von Einflußzonen zur materiellen<br />

Voraussetzung. Die Finanzierung über Zwangsabgaben (Steuern <strong>und</strong><br />

Sozialbeiträge) <strong>und</strong> die gesetzliche Normierung eines Handlungsspielraumes<br />

durch staatliche oder staatlich beauftragte Instanzen ist abgetrennt von der<br />

Erbringung der Dienstleistungen, diese selbst bleibt der professionellen<br />

Autonomie weitgehend überlassen. Die Aufteilung der Einflußsphären wird<br />

selbst dann nicht verlassen, wenn die Steuerungsinstrumente nicht mehr in<br />

der Lage sind, die Dynamik ausreichend zu beherrschen.<br />

Das Machtgleichgewi cht zwischen Staat <strong>und</strong> Professionen beruht auf<br />

einer gegenseitigen Inanspruchnahme <strong>und</strong> auf gegenseitigen Vorteilen. Professionelle<br />

Dienstleistungen, in der Angebotsform öffentlicher Güter,<br />

nutzen staatliche Herrschafts- <strong>und</strong> Organisationsmittel, wie Eingriffe in die<br />

Einkommensverteilung <strong>und</strong> gesetzliche Verbürgungen des Dienstleistungssystems.<br />

In die Theorie der Professionen ist jedoch die Inanspruchnahme<br />

staatlicher Herrschaftsmittel allenfalls am Rande eingegangen. Selbst Autoren,<br />

wie Freidson („Dominanz der Experten") haben die politischen<br />

24<br />

Machtgr<strong>und</strong>lagen der Professionen nicht als Element in ihre Theorie einbezogen.<br />

Umgekehrt gewinnt der Staat in der Autonomie der Professionen<br />

ein Selbststeuerungspotential, das er durch eigene Leitungs- <strong>und</strong> Lenkungsinstrumente<br />

kaum in vergleichbarer Qualität produzieren könnte. Er macht<br />

sich in der Durchsetzung der Dienstleistungsstrategie abhängig von dem professionellen<br />

Selbstinteresse, entlastet sich aber weitgehend von der Feinsteuerung<br />

des Dienstleistungsangebots.<br />

Die schon sy<strong>mb</strong>iotisch zu nennende Machtbalance droht aus dem<br />

Gleichgewicht zu geraten, wenn die implizit unterstellte Identität von An-<br />

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ieter- <strong>und</strong> Klienteninteressen sich als brüchig erweist. Die Dienstleistungsstrategie<br />

läßt sich dann nicht länger als gesellschaftspolitische Selbstdarstellung<br />

des Staates gegenüber den Bürgern nutzen. Ausweitung professioneller<br />

Dienstleistungen im Wissenschafts-, Bildungs-, Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialbereich<br />

vermag zur Mobilisierung von Wählerstimmen, zum positiven Bild<br />

vom Regierungsmehrheiten in der öffentlichen Meinung nichts mehr beizutragen,<br />

zumal wenn zu diesem Zweck Sozialabgaben <strong>und</strong> Steuern erhöht,<br />

die Bürger zum Konsumverzicht auf anderen Gebieten aufgefordert werden.<br />

Es ist daher kein Zufall, daß Deprofessionalisierung <strong>und</strong> Mobilisierung der<br />

Laien parallel zur Finanzkrise der Sozial- <strong>und</strong> öffentüchen Haushalte die<br />

Diskussion beeinflussen.<br />

Allerdings wird man bei einer realistischen Betrachtungsweise zugeben<br />

müssen, daß die Laienbewegung bisher jedenfalls eher zu einer Verschärfung<br />

des Krisenbewußtseins als zu einer tatsächlichen Veränderung der Machtbalance<br />

beigetragen hat. Eine Veränderung der Machtbalance ist nach meiner<br />

Einschätzung nur dann zu erwarten, wenn die Laienbewegung zum Bestandteil<br />

einer breiteren Politisierung in der Bevölkerung wird, die das Gefüge<br />

der parteien- <strong>und</strong> verbändestaatlichen Demokratie verändert sowie im<br />

Zuge einer solchen politischen Bewegung den Basisgruppen zu einer Institutionalisierung<br />

im Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Sozialbereich verhilft .<br />

25<br />

Eine größere Wahrscheinlichkeit hat dagegen die Entwicklung für sich,<br />

bei der es zu einer Verschärfung in der Auseinandersetzung zwischen konfligierenden<br />

professionellen Eliten kommt. Die Mobilisierung der Laien<br />

diente dann der Durchsetzung <strong>und</strong> Machtsicherung neuer professioneller<br />

Eliten. Ein solcher Prozeß wird durch die Expansion im tertiären Bildungsbereich,<br />

also durch die Zunahme von professionellen Berufsanfängern bei<br />

gleichzeitiger Rigidität der Organisation professioneller Leistungen stark<br />

gefördert . Die hierdurch eingeleitete Selbstauflösung einer überkommenen<br />

professionellen Struktur begünstigt eine Verstärkung des staatlichen<br />

26<br />

Einflusses <strong>und</strong> bringt den Sozialabbau im öffentlichen Dienstleistungsangebot<br />

voran. Betroffen wären hiervon nicht allein die Professionen, sondern<br />

gleichermaßen die Verbände <strong>und</strong> Körperschaften, bei denen die Finanzierung<br />

des Sozialleistungsbereichs liegt, also die Sozialversicherungs- <strong>und</strong> die<br />

freigemeinnützigen Verbände. Verlierer bei einer solchen Machtverschiebung<br />

wären aber in jedem Falle die Klienten, die Laien .<br />

27<br />

Als Fazit unserer Überlegungen schält sich heraus,<br />

1. Der Laienbewegung fehlt eine ausreichende organisatorische <strong>und</strong> politische<br />

Basis, um die professionelle Dominanz wirksam zurückzudrängen <strong>und</strong><br />

die gesellschaftspolitische Planung zu beeinflussen.<br />

2. Die Laienbewegung ist stark genug, um die <strong>gesellschaftliche</strong> Legitimation<br />

der Professionen zu erschüttern. Sie verstärkt die durch die Bildungs<strong>und</strong><br />

Hochschulreform ausgelösten Wandlungsprozesse.<br />

3. Die umfassende Rolle des Selbsthilfeprinzips wird neue Formen des<br />

Wissenserwerbs (neben formaler Sozialisation autodidaktisches Lernen) <strong>und</strong><br />

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der Wissensverteilung (Austausch situationsbezogenen <strong>und</strong> erfahrungsgeb<strong>und</strong>enen<br />

Wissens) institutionalisieren. Daher bedeutet Laisierung <strong>und</strong> Entprofessionalisierung<br />

letztlich einen Zugewinn an <strong>gesellschaftliche</strong>r Rationalität!<br />

ANMERK<br />

UN GEN<br />

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Forschungsverb<strong>und</strong> Laienpotential, Patientenaktivierung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsselbsthilfe<br />

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Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


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10 Bernhard Badura <strong>und</strong> Peter Gross, „Sozialpolitik <strong>und</strong> soziale Dienste. Entwurf einer<br />

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(Hg.), „Soziologie <strong>und</strong> Sozialpolitik". Sonderheft 19/1977. Kölner Zeitschrift<br />

für Soziologie <strong>und</strong> Sozialpolitik, S. 361 ff.<br />

11 Erwin Jahn u.a., „Die Ges<strong>und</strong>heitssicherung in der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland.<br />

Analyse <strong>und</strong> Vorschläge zur Reform." WST-Studie Nr. 20. Köln 1971.<br />

12 Max Weber, Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft. Studienausgabe. Tübingen 1976, S. 80.<br />

13 Talcott Parsons, „Die akademischen Berufe <strong>und</strong> die Sozialstruktur (1983)". In:<br />

D. Rüschemeyer (Hg.), T. Parsons, Beiträge zur soziologischen Theorie. Neuwied<br />

3. Aufl. 1977, S. 160-179.<br />

14 Ivan Illich, Selbstbegrenzung. Eine politische Kritik der Technik. Reinbek 1975,<br />

S. 100.<br />

15 Niklas Luhmann, „Politische Planung". In: Ders., Politische Planung. Aufsätze zur<br />

Soziologie von Politik <strong>und</strong> Verwaltung. Opladen 1971.<br />

16 WIdO-Schriftenreihe Bd. 1. Kassenärztliche Bedarfsplanung. Wissenschaftliches Institut<br />

der Ortskrankenkassen, Bonn-Bad Godesberg 1978.<br />

Christiane Brühne, „Die Krankenhausbedarfsplanung in den Ländern der B<strong>und</strong>esrepublik.<br />

Sozialwissenschaftliche Begleitforschung zu „DOMINIG". BPT-Bericht<br />

6/78 <strong>München</strong> GSF Bereich Projektträgerschaft 1978.<br />

17 vgl. Ulf Fink (Anm. 4).<br />

18 vgl. Daniel Bell (Anm. 8).<br />

Ralf Dahrendorf (Anm. 1).<br />

19 Robert K. Merton, The student-physician. Harvard University Press 1957, Appendix<br />

A: Socialization a terminological note.<br />

20 Max Weber. Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, Tübingen 1976, S. 32.<br />

21 Eliot Freidson. Dominanz der Experten. <strong>München</strong>, Berlin, Wien 1975.<br />

22 Forschungsverband Laienpotential, Patientenaktivierung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsselbsthilfe<br />

(Anm. 7) S. 134 ff.<br />

23 Horst Baier, Medizin im Sozialstaat. Stuttgart (Enke) 1978. Ders., „Im Dienst des<br />

Leviathan — Ivan Illich herrschafts-soziologisch weitergedacht". In: Rainer Flöhl<br />

(Hg.),Maßlose Medizin? Heidelberg 1979, S. 7-31.<br />

24 Vgl. Anm. 21. Kritisch zu Freidson: Deborah A. Stone, Controlling the medical<br />

profession: Doctors and patients in West Germany. Ph. D. thesis Duke University,<br />

Durham, North Carolina 1976.<br />

25 Die Ges<strong>und</strong>heitsbewegung hat im Oktober 1984 ein gemeinsames ges<strong>und</strong>heitspolitisches<br />

Programm mit den Grünen vorgestellt. Vgl. Monika Dobler u.a. Anm. 4.<br />

26 WIdO-Schriftenreihe 2, „Das Ärzteangebot bis zum Jahr 2000". Wissenschaftliches<br />

Institut der Ortskrankenkassen, Bonn 1978.<br />

WIdO-Materialien 2, Personal<strong>entwicklung</strong> im Ges<strong>und</strong>heitswesen in Vergangenheit<br />

<strong>und</strong> Zukunft. Hgg. vom Wissenschaftlichen Institut der Ortskrankenkassen. Bonn<br />

1978.<br />

Ulrich Geißler, „Die zukünftige Entwicklung des Angebots an Ges<strong>und</strong>heitsberufen."<br />

In: Kosten <strong>und</strong> Effizienz im Ges<strong>und</strong>heitswesen. <strong>München</strong> 1985.<br />

27 Aus gewerkschaftlicher Sicht vgl. Gerhard Bäcker, „Entprofessionalisierung <strong>und</strong><br />

Laisierung sozialer Dienste — richtungsweisende Perspektive oder konservativer<br />

Rückzug?" WSI-Mitteilungen 32. Jg., 1979, S. 526-537.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


MÄRKTE, KÄUFLICHKEIT UND MORALÖKONOMIE<br />

Georg Elwert<br />

Die Ausdehnung der Märkte schien von Montesquieu bis zu den Strategen<br />

der Weltbank das bestimmende Merkmal von Entwicklung zu sein. Modernisierungstheorien<br />

<strong>und</strong> neomarxistische Theorien akzentuierten die Entwicklung<br />

der modernen Marktwirtschaften als eine Ausdehnung der Warenform<br />

(eine Kommodifizierung ), d.h. als eine fortschreitende Umwandlung<br />

1<br />

von Austauschbeziehungen in Warenbeziehungen.<br />

Sind demgegenüber all jene von Luther bis zu den Kritikern der Medizin-Wirtschaft<br />

, die bestimmte Expansionen des Warenprinzips zurückdrehen<br />

wollen, rückschrittlich? Sind es nur Begleitphänomene der historischen<br />

2<br />

Entwicklung?<br />

Die Darstellungen der Entwicklung der Marktgesellschaften, die nur die<br />

Expansion der Waren hervorheben, bringen uns nur die halbe Wahrheit.<br />

Die Ausdehnung des Warenverkehrs ist unbestreitbar. Sie ist jedoch, nach<br />

meiner These, nur dann dauerhaft, wenn ihr eine Einschränkung des Warenprinzips<br />

entspricht, wenn nicht alles käuflich werden kann. Nur dort, wo<br />

der Markt eingebettet ist, ist die Unverbrüchlichkeit des Versprochenen<br />

(Max Weber) gewährleistet.<br />

Diese Einbettung heißt zweierlei: Einmal impliziert sie eine systemische<br />

Differenzierung von Markt gegen Gesellschaft, <strong>und</strong> zum anderen muß eine<br />

andere Austauschform — ich nenne sie hier Moralökonomie — den Raum<br />

füllen (bei diesem Begriff lehne ich mich an James Scott <strong>und</strong> Edward P.<br />

Thompson an). Die Moralökonomie muß jenen Raum füllen, der zwar ausgegrenzt<br />

ist, in welchem aber immer noch potentiell der Tausch von Geld<br />

3<br />

gegen Leistung oder Gut, also der Warentausch, eindringen könnte. Meines<br />

Erachtens ist der Kapitalismus dort, wo er langfristig erfolgreich war, durch<br />

,,e<strong>mb</strong>eddedness" <strong>und</strong> nicht durch „dis-e<strong>mb</strong>eddedness", wie Polanyi meint,<br />

gekennzeichnet. Die weitgehende ,,dis-e<strong>mb</strong>eddedness", die uneingeschränkte<br />

Warenexpansion, führt nicht zu entfalteten Industriegesellschaf­<br />

4<br />

ten, sie führt zur generalisierten Käuflichkeit, zur Venalität. In der Käuflichkeit,<br />

wie ich sie — sehr weit — definiere, werden nicht nur Güter des<br />

täglichen Bedarfs zu Waren; Liebe wird zur Prostitution, Recht zu Korruption,<br />

Gottes Gnade wird als „magic charm" oder als Ablaß käuflich.<br />

In dem Maße, in dem jedoch vertrauenstiftende Institutionen — Recht,<br />

Fre<strong>und</strong>schaft, religiös-moralische Kontrolle — auf einem Markt dem je<br />

Meistbietenden zu Diensten sind, unbeständig werden, in dem Maße kann<br />

das Marktversprechen nicht mehr garantiert werden. Statt den Vertrag zu<br />

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erfüllen, kann man Erzwingungsinstanzen bestechen. Und des schlechten<br />

Gewissens entledigt man sich durch Geldzahlungen an Gottes Vertreter.<br />

Das Wirtschaftssystem unterminiert sich selbst; die Modernisierung hat eine<br />

Sackgasse erreicht. Fernhandel ist nur noch innerhalb kleiner ethnischer<br />

oder religiöser Gemeinschaften, wie der Haussa, Juden, Auslands-Chinesen<br />

oder ähnlicher, möglich, die über ihre Mitglieder eine wirksame soziale Kontrolle<br />

ausüben können.<br />

In diesen Situationen treten charakteristischerweise soziale Bewegungen<br />

mit politisch-moralischer oder religiös-moralischer Programmatik auf, die<br />

die Käuflichkeit zurückdrängen wollen — bisweilen auch abschaffen möchten.<br />

Sie können unter bestimmten Bedingungen jene zweite Modernisierung<br />

bewirken, die — oft gegen ihre Intentionen — den Markt in der Gesellschaft<br />

stabilisiert: durch Eindämmung der Warenökonomie <strong>und</strong> Einbettung in eine<br />

Moralökonomie.<br />

Diese Moralökonomie hat eine eigentümliche Struktur. Nur zu Anfang<br />

etwa als „civisme" oder „virtues civiques" (Bürgertugenden) thematisiert,<br />

wird sie später in die Selbstverständlichkeit des Alltäglichen versenkt. Diese<br />

bestimmende Austauschform der generalisierten Reziprozität erinnert an<br />

Stammesgesellschaften. Und doch unterscheidet sie sich davon, wie ich<br />

später später ausführen werde.<br />

Soweit die Gr<strong>und</strong>struktur meiner Argumentation.<br />

Kerne dieser Argumentation finden sich bei mehreren älteren Autoren,<br />

bisweilen unverhofft, weil eingebaut/verbaut in Entwicklungstheorien, die<br />

linear-expansive Modelle zu entwerfen suchen. Darauf will ich jedoch erst<br />

zum Schluß zurückkommen.<br />

Eine Argumentation dieser Art zu belegen, erfordert mehrstufige historische<br />

<strong>und</strong> begriffliche Analysen in Kulturen sehr unterschiedlicher Tradition.<br />

Der Beleg kann nicht Sache eines Vortrags sein. Wohl aber kann man<br />

versuchen, ein Argument vorzustellen, an Beispielen plausibel zu machen.<br />

Ich beginne mit dem am wenigsten Vertrauten, der Venalität, der generalisierten<br />

Käuflichkeit, um an Ausschnitten historischer Entwicklungen<br />

einzelne der vorgenannten Elemente in einer Sequenz vorstellen zu können.<br />

Damit soll aber nicht suggeriert werden, daß entfaltete Marktwirtschaften<br />

immer auf einer Sequenz von erster Modernisierung/Expansion des Warenprinzips<br />

<strong>und</strong> zweiter Modernisierung/Eindämmung <strong>und</strong> Einbettung des<br />

Warenprinzips aufbauen müssen; beides kann auch konkomitant sein.<br />

Im heutigen Westafrika scheint der Warentausch nicht sehr entwickelt<br />

zu sein. Ein Großteil der Landwirtschaft dient noch der Subsistenzproduktion.<br />

Und doch hat die Geldwirtschaft — meist dort, wo wir sie nicht vermuten<br />

— die Gesellschaft tiefgreifend transformiert.<br />

Der Staat, die Religion <strong>und</strong> zum Teil die Familie sind weitgehend warenökonomisch<br />

transformiert. Die Korruption ist Normalität. Wir dürfen<br />

hier Korruption nicht als ein Verbrechen (mit kriminologischer Brille) betrachten.<br />

Posten <strong>und</strong> Dienstleistungen — auch das Recht — sind käuflich. 5<br />

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Es sind nicht Gaben, um deretwillen man sie erhält, sondern richtige ausgehandelte<br />

Preise. Aus der oralen Tradition wissen wir, daß dies keine traditionellen<br />

Bräuche sind. Für Indien <strong>und</strong> Burma hat Myrdal gezeigt, wie das<br />

6<br />

Anwachsen der Korruption auf die Expansion der Warenökonomie folgte.<br />

Auch die Hilfe <strong>und</strong> Gnade der Götter sind käuflich — sogar in einem<br />

sehr extremen Maße. Es gibt keine Handlung eines „vodun-no" (Vodun-<br />

Priesters), die nicht käuflich ist. Sogar die Wissensweitergabe hat ihren<br />

Preis. Zum Teil ist die transzendentale Wirksamkeit der Rituale gerade an<br />

einen Geldpreis geb<strong>und</strong>en.<br />

Ähnliches gilt für die Familie. Der Brautpreis löste den Frauentausch<br />

ab. Nur auf erhebliche Geldtransfers gegründete Ehen sind legitim. Käufliche<br />

Liebe findet sich sogar schon in Dörfern.<br />

Venalität hat kein festes Bild. Extremformen, wie im heutigen Nigeria,<br />

wo Straßenräuber in Gegenwart der Opfer mit den Polizisten Korruptionssummen<br />

aushandeln, sind selten. Und doch sind solche Extreme zu nennen,<br />

weil sie eine erschreckende Version der Utopie mancher „public choice"-<br />

Theoretiker darstellen, die Gesellschaft in freie Käuflichkeit auflösen<br />

wollen.<br />

Ich könnte hierzu nun Parallelen aus dem Iran unter dem Schah <strong>und</strong> aus<br />

Khomeinis Agitation heranziehen, will mich aber doch auf ein uns näherstehendes<br />

Gebiet beschränken: Deutschland beim Ausbruch der großen<br />

Reformationsbewegung im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert.<br />

Der Geldumlauf war gering verglichen mit dem des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Große Teile der Landwirtschaft waren noch durch die Subsistenzproduktion<br />

dominiert (sog. Naturalwirtschaft). Auch diese partielle Beibehaltung<br />

von Subsistenzproduktion bei gleichzeitiger warenökonomischer Transformation<br />

finden wir in heutigen Entwicklungsländern. Andererseits hatte<br />

jedoch auch die Wirtschaft insgesamt einen Aufschwung erlebt. Und in<br />

diesem Aufschwung kam es zu analogen warenökonomischen Transformationen<br />

wie in heutigen Entwicklungsländern.<br />

Nicht nur agrarische <strong>und</strong> handwerkliche Güter wurden zu Waren, sondern<br />

auch Produktionsmittel, mit der für die zeitgenössischen Beobachter<br />

erschröcklichen Konsequenz, daß jemand Haus, Hof <strong>und</strong> Werkstatt verlieren<br />

konnte. Die allmähliche Durchsetzung des römischen gegen das germanische<br />

Recht — nach Luther eine keine h<strong>und</strong>ert Jahre alte Tendenz <strong>und</strong> von<br />

den aufrührerischen Bauern in den „12 Artikeln" als aktuelles Geschehen<br />

angeklagt — ist Ausdruck dieser Transformation.<br />

Ich will nun nicht behaupten, daß der Ablaß, die Einführung des römischen<br />

Rechts, der Verlust von Haus <strong>und</strong> Hof durch Kreditschulden, die Umorientierung<br />

von Bauern von der Gebrauchswertproduktion hin zur Marktproduktion<br />

u.a. erst Phänomene des ausgehenden 15. Jahrh<strong>und</strong>erts seien.<br />

Im Gegenteil: Diese warenökonomischen Transformationen sind zum Teil<br />

schon weitaus früher zu finden <strong>und</strong> haben schon mehrere Auf- <strong>und</strong> Abschwünge<br />

durchlebt. Entscheidend für meine Betrachtung ist jedoch, daß sie<br />

den Zeitgenossen der damaligen Jahrh<strong>und</strong>ertwende als ein rezentes Phäno-<br />

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men erschienen. Erst in der historischen Verdichtung dieser verschiedenen<br />

Phänomene mit verwandter Wurzel <strong>und</strong> erst nach den ersten Thematisierungen<br />

dieser Phänomene als <strong>gesellschaftliche</strong> Probleme wurden sie den Menschen<br />

bewußt <strong>und</strong> wurden nun in einer Verkürzung der historischen Realität<br />

als aktuelle Phänomene überpointiert. Ihnen wurde ein relativ idyllisches<br />

Gestern gegenübergestellt.<br />

Im politischen <strong>und</strong> rechtlichen Leben herrschte ebenfalls Käuflichkeit.<br />

Nicht nur die kirchlich-weltlichen Positionen, wie z.B. Kurfürstentümer,<br />

waren käuflich (als Simoney beklagt), sondern auch die Wahlen bis hinauf<br />

zum Kaiser waren von Schacher (Bestechung würden wir heute sagen) begleitet.<br />

Das Recht muß man immer häufiger „kaufen oder mit Geld niederdrücken"<br />

(so Luther in der Schrift an den christlichen Adel deutscher<br />

Nation), wie es z.B. auch die Bauern des armen Konradt schon 1514 beklagten.<br />

7<br />

Nicht zuletzt war auch die Gnade Gottes mit dem Ablaßwesen käuflich<br />

geworden. Die reformatorische Bewegung richtete sich gegen all diese Phänomene<br />

(nicht nur gegen das Ablaßwesen). Ohne Zweifel bestand bei Luther<br />

<strong>und</strong> manchen anderen ein anti-warenökonomischer Impetus schlechthin,<br />

wie auch in Luthers Schrift von Kaufhandlung <strong>und</strong> Wucher (1524)<br />

deutlich wurde. Vor diesem Hintergr<strong>und</strong> werden auch seine anti-jüdischen<br />

Schriften verständlich, die eigentlich Anti-Wucher-Schriften sind. In seiner<br />

Wirtschaftsutopie hatten nur bäuerliche Märkte Platz. Diese Tendenz konnte<br />

ich nicht nur bei Luther finden, sondern auch bei Humanisten, Schwärmern,<br />

Täufern, kurz im ganzen reformatorischen Spektrum.<br />

Der Kampf gegen den Ablaß war theologisch gesehen gewiß nicht der<br />

zentrale Punkt bei Luther. Wohl aber war er soziologisch/wirkungsgeschichtlich<br />

gesehen der stärkste Punkt. Dies können wir am ehesten anhand<br />

der Flugschriften <strong>und</strong> der mit Versen unterlegten Holzschnittbücher — der<br />

„comic Strips" der damaligen Zeit — belegen (s. etwa Osianders „Eyn w<strong>und</strong>erliche<br />

Weyssagung von dem Babstu<strong>mb</strong>" (1527) mit Holzschnitten von<br />

Schön <strong>und</strong> Versen des damals populärsten Dichters Hans Sachs oder Hans<br />

Sachs' „Wittenbergisch Nachtigal").<br />

Die Kritik am Ablaßwesen, am neuen Recht, an der Politik des Stimmenkaufs,<br />

an der Käuflichkeit des Rechts, an der Prostitution <strong>und</strong> am<br />

Luxuskonsum formten ein Amalgam, das die Agitation des gesamten reformatorischen<br />

Spektrums bestimmte. Interessanterweise erhoben hier die<br />

katholischen Kritiker der Reformation auch keine Einwände. Die „erste<br />

Modernisierung", die expandierende Warenökonomie, drohte, alles zur Ware<br />

zu machen. Projektionsfläche dieser Ängste (<strong>und</strong> des umgelenkten Selbsthasses)<br />

waren die Türken <strong>und</strong> die Juden. Ihnen unterstellte man, sogar den<br />

Papst bestochen zu haben oder gar Menschenfleisch zu kaufen.<br />

Hinter der Expansion des Warentausches stand jedoch keine Verschwörung<br />

<strong>und</strong> nicht einmal ausschließlich die Interessen der Mächtigen <strong>und</strong> Reichen.<br />

Der Warentausch hat einen entscheidenden strukturellen Vorteil: Die<br />

Gebrauchswerte der einzelnen Güter <strong>und</strong> Leistungen sind nicht nur unter-<br />

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schiedlich, sondern haben auch unterschiedliche Relevanz für den einzelnen.<br />

In einer Gebrauchswertökonomie unterhegen sie Bewertungs- <strong>und</strong><br />

Vergleichsmechanismen, die flexibel <strong>und</strong> begrenzt sind. Rasche Anpassungen<br />

an Produktsysteme sind schwierig. Lange Austauschketten sind nur mit<br />

erheblichem Aufwand möglich. In einer Marktökonomie hingegen werden<br />

alle Qualitäten auf eine einzige quantitative Struktur reduziert: auf den<br />

Preis. Die Freiheit des Zugangs zu jedem Gut unter der einzigen Bedingung<br />

der Zahlungskräftigkeit einerseits <strong>und</strong> die Simplizität der Bewertung des<br />

Gutes beim Tauschakt (nämlich nur durch den Preis) bedeuten eine erhebliche<br />

strukturelle Vereinfachung, eine Reduktion von Komplexität. Die<br />

Struktur des Warentausches macht die Verpflichtungen <strong>und</strong> Bande, die an<br />

die früheren Formen des Austausches geknüpft waren, obsolet. Das freie<br />

Zugangsrecht anonymer Personen tritt an die Stelle. Die Ablösung dieser<br />

Bande ist nicht widerspruchsfrei. Manche, die von den Verpflichtungen<br />

profitierten, sperren sich dagegen. Andere aber begrüßen die Warenökonomie<br />

als Befreiung: „Geld statt Verpflichtungen" war eine Parole von<br />

rebellischen Jugendlichen in einem westafrikanischen Dorf, die ich 1968<br />

kennenlernte. Meine Vorstellungen eines revolutionären antikapitalistischen<br />

Zurück zu Gemeinschaft <strong>und</strong> Solidarität wurden schwer erschüttert.<br />

Die höhere strukturelle Einfachheit des Warentausches <strong>und</strong> die Ablösung<br />

von auf Austausch bezogenen Verpflichtungen unterminiert jene <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Institutionen, die den Markt eindämmen könnten. Sie ermöglicht<br />

der Warenökonomie eine gleitende sozialstrukturelle Expansion,<br />

bei welcher der Kommodifikation der Arbeit zur Lohnarbeit eine besondere<br />

Bedeutung zukommt.<br />

Nicht nur Güter des täglichen Bedarfs <strong>und</strong> Produktionsmittel werden<br />

zu Waren; Liebe, Recht <strong>und</strong> Gottes Gnade werden zu Korruption, Prostitution<br />

<strong>und</strong> Ablaß (ohne damit unbedingt negativ gewertet zu werden). In<br />

den von Käuflichkeit dominierten Gesellschaftsformen liegen hier Zentren<br />

des Wirtschaftens. Die Macht „liegt nicht beim Kapital", vielmehr fließt<br />

das Geld zur Macht. Die vorgängige Machtverteilung bestimmt die Zentren<br />

der venalen Akkumulation — eine Akkumulation im Brautpreissystem, im<br />

Simonie- <strong>und</strong> Ablaßwesen, im politischen Bestechungswesen usw. Nicht<br />

Akkumulation in Produktionsmitteln, sondern venale Akkumulation strukturiert<br />

das Wirtschaftsleben. Mobutus Zaire ist nicht die Ausnahme, sondern<br />

charakteristisch für viele Situationen in der Dritten Welt.<br />

In dem Maße, in dem jedoch vertrauenstiftende Institutionen — Recht<br />

ebenso wie Fre<strong>und</strong>schaft oder religiös-moralische Kontrolle — selbst unbeständig<br />

werden, auf dem Markt dem je Meistbietenden zu Diensten sind,<br />

in dem Maße kann das Marktversprechen nicht mehr garantiert werden.<br />

Statt den Vertrag zu erfüllen, kann man Erzwingungsinstanzen bestechen;<br />

<strong>und</strong> schlechten Gewissens entledigt man sich durch Geldgaben an Gottes<br />

Institution. Nicht nur die reichen Händler <strong>und</strong> Produzenten, sondern auch<br />

die Armen empfinden Instabilität unter der Dominanz der Käuflichkeit<br />

als Leiden. Wenn alle persönlichen Beziehungen je nach Geldgebot fluk-<br />

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tuieren, wenn der Ehepartner zum Besserbietenden wechseln mag, dann ist<br />

es kein Trost, daß man auf demselben Markt mitbieten kann.<br />

Wenn auch die Venalität für den Kaufkräftigen manche <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Institution berechenbar macht — ein nicht zu unterschätzender Gewinn<br />

in Krisengesellschaften —, so nimmt sie ihnen doch zugleich den Charakter<br />

fester Größen, entkleidet sie der Legitimität, entheiligt sie. Dies bereitet<br />

mit den Boden für mannigfache soziale Bewegungen.<br />

Es wäre nun verlockend, diese Bewegungen detailliert zu schildern,<br />

denn in den soziologischen Destillationen historischer Studien kommt ihre<br />

Botschaft nur sehr verkürzt zum Ausdruck. Durch die historischen Traditionen<br />

oder durch journalistische Praxis gefiltert, erreichen uns nur einzelne<br />

Schlagwörter aus den Amalgamen der zugr<strong>und</strong>eliegenden Motivationen. Die<br />

Bewegung, die einen Martin Luther zur Prominenz erhob, hatte mehr als<br />

nur das Ablaßwesen zu kritisieren. Khomeini im Iran ritt auf einer Bewegung,<br />

die mehr ein Zurück zur „umma" (Gemeinde) des „ursprünglichen"<br />

Islam wollte. Die westafrikanischen Putschführer <strong>und</strong> „revolutionären" Präsidenten<br />

von Dahomey/Bénin über Ghana <strong>und</strong> Nigeria zu Obervolta/Burkina<br />

Faso wurden durch mehr als nur durch die Kritik von Korruption <strong>und</strong><br />

eine Beschwörung der Nation populär.<br />

Immer wieder finden wir eine Verbindung von Kritik der Käuflichkeit<br />

in verschiedenen Formen mit einer Beschwörung einer zu bildenden Gemeinschaft.<br />

Ich will diese Darstellung jedoch abkürzen, um die spezifische<br />

8<br />

Leistung mancher Bewegungen dieses Typs, nämlich die Einbettung der<br />

Warenökonomie schildern zu können.<br />

Deklariertes Ziel der Bewegungen ist es, die Warentausch-Beziehungen<br />

hinter eine bestimmte oder unbestimmte Grenze zurückzudrängen <strong>und</strong><br />

gleichzeitig eine Gemeinschaft zu schaffen, die auf anderem als dem Markttausch<br />

beruht. Diese Gemeinschaft kann als Stamm, als Nation oder als Gemeinschaft<br />

der Gläubigen vorgestellt werden. Ein Beispiel aus der frühen<br />

Neuzeit Deutschlands: Die Schaffung einer Sprachgemeinschaft aus untereinander<br />

unverständlichen Dialekten war ein politisches Projekt, das den<br />

„gemein mann" in die <strong>gesellschaftliche</strong> Arena ziehen sollte. Klar, deutlich,<br />

9<br />

öffentlich sollte die Kommunikation über Macht <strong>und</strong> Moral werden. In<br />

10<br />

nur 40 Jahren gelang es, eine Gemeinsprache zu schaffen. Diese Sprachgemeinschaft<br />

war Modell für ein postuliertes „Teutschland" quer zu den etablierten<br />

Fürstentümern. Eine Gemeinschaft wurde erträumt, innerhalb derer<br />

man von anonymen anderen Leistungen unter Ausschluß der Geldbeziehung<br />

erwarten konnte.<br />

Soziale Bewegungen religiöser oder nationalistischer Form müssen mehr<br />

als nur diese Motive aufweisen, wenn sie Erfolg haben sollen. Antikäuflichkeitsmotive<br />

sind jedoch ein außerordentlich nachhaltiger Faktor von Mobilisierung<br />

<strong>und</strong> Zusammenhalt für solche Bewegungen. Die Verbindung der<br />

Kritik der Käuflichkeit mit der Beschwörung der Gemeinschaft spricht soziale<br />

Gruppen quer zu den Klassengrenzen an. Wenn das Vertrauen bricht,<br />

hoffen die Händler auf eine Moralität, welche die Marktversprechen wieder<br />

stabilisieren könnte. Die entwurzelten Armen, die in den Markt gezogen<br />

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wurden, keine Stabilität durch Subsistenzproduktion mehr haben, erhoffen<br />

von der Gemeinschaft Stabilität <strong>und</strong> geregelten Zugang zu Liebe, Recht<br />

11<br />

<strong>und</strong> Gottes Gnade. Die Interessen dieser <strong>und</strong> anderer Gruppen überlappen;<br />

<strong>und</strong> das macht die Stärke der Bewegungen aus, die sich darauf stützen.<br />

Aus einer venalen Gesellschaft muß nicht zwangsläufig eine entfaltete<br />

Marktgesellschaft werden, sie kann auch in einer Zyklizität verharren, in<br />

welcher die Zunahme von Reichtum die Venalität vergrößert, bis es durch<br />

Selbst-Unterminierung zum Zusammenbruch kommt, <strong>und</strong> dann das gleiche<br />

Muster wieder beginnt. So erleben wir es etwa in Nigeria.<br />

Die Gesellschaften, die — wie Venedig — Markt- <strong>und</strong> Moralökonomie<br />

zugleich entwickeln, oder diejenigen, die — wie Frankreich <strong>und</strong> Deutschland<br />

— Seqenzen von Kommodifikation <strong>und</strong> Zurückdrängen des Warenprinzips<br />

erlebten, erreichten auf beiden Wegen eine systemische Differenzierung,<br />

die den Gebrauch des Geldes in bestimmten <strong>gesellschaftliche</strong>n Bereichen<br />

ausschloß, ihn illegitim machte.In diesen Bereichen gibt es aber weiterhin<br />

Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen. Sie werden nunmehr nach einem Prinzip<br />

vermittelt, welches die Wirtschaftsanthropologie generalisierte Reziprozität<br />

nennt (wir folgen darin Polanyi <strong>und</strong> Sahlins ).<br />

12<br />

Generalisierte Reziprozität ist eine Gabe oder Leistung, welche ohne<br />

konkrete Erwartung einer Gegengabe gegeben wird, in Erfüllung eines<br />

moralischen Anspruchs. Auf lange Sicht kann man selbst wieder Empfänger<br />

einer solchen Leistung werden — daher der Ausdruck Reziprozität. Es gibt<br />

jedoch keinerlei Aufrechnung.<br />

Daß man Verletzten hilft, daß man Abfall in Papierkörbe wirft, daß<br />

man Zugtüren selbst schließt, all das gehört für uns zu den Selbstverständlichkeiten<br />

des Alltags, wird nicht eigens als ökonomische Leistung erfaßt.<br />

Auch, daß ein Richter beim Entscheiden abwägt <strong>und</strong> nicht nach Bestechungsangeboten<br />

entscheidet, nehmen wir als normal an. Jedoch läßt sich<br />

nur das Entscheiden entlohnen <strong>und</strong> erzwingen. Die Mühe des Abwägens ist<br />

eine Leistung, die zu den „virtues civiques" zählt.<br />

Oft wird dies als traditioneller Stammesbrauch eingeführt. In den von<br />

mir untersuchten Fällen handelt es sich jedoch um eine strukturelle Innovation.<br />

(Auch dort, wo die Agitation nativistisch ist, ein Zurück zur „Gemeinschaft"<br />

der tribalen Epoche beschworen wird, wird eine strukturelle<br />

13<br />

Innovation geschaffen). Denn nicht nur bekannte <strong>und</strong> als Mit-Stammesglieder<br />

kontrollierbare Personen sollen diese Leistungen erbringen, sondern<br />

fremde, anonyme Personen, denen gegenüber keinerlei Aufrechnung möglich<br />

wäre. Dies muß Ängste vor einem Verströmen der Leistungen wecken.<br />

Die Definition von Grenzen der Gesellschaft ist dadurch erfordert . Diese<br />

14<br />

Grenzen — etwa der Begriff der teutschen Nation im 16. Jahrh<strong>und</strong>ert —<br />

müssen weder nah sein noch klar definiert sein; wesentlich ist der Eindruck<br />

der geschlossenen Gestalt, den sie erzeugen. Der Struktur des anonymen<br />

Marktes für die Warenökonomie entspricht die Anonymität der Nation als<br />

Raum der Moralökonomie.<br />

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Traktate über die Nächstenliebe im frühen 16. Jahrh<strong>und</strong>ert — etwa der<br />

von Carlstadt — zeigen die immensen Probleme, die bestanden, wollte<br />

16<br />

man Leistungen im Rahmen der Moralökonomie, <strong>und</strong> seien es nur alltägliche<br />

Fre<strong>und</strong>lichkeiten, schildern. „Nicht für Gold, nicht für Prestige, nicht<br />

für spätere Gaben sollst du es tun", wird mit verschiedenen Formulierungen<br />

insistiert, um ex negativo das Geforderte klarzumachen.<br />

Dieser abgegrenzte Bereich von Leistungen unter Ausschluß des Marktes,<br />

den die französische Aufklärung als „virtues civiques" thematisierte,<br />

fand seine erste Thematisierung in den Städten der spätmittelalterlichen<br />

Toskana, in denen die Ideologie des „(il) commune" entstand. Im schon zu<br />

seiner Zeit berühmten Fresko der Stadthalle von Siena vom ,,buon" <strong>und</strong><br />

„mal guverno" wie in den Stadt-Verfassungen wurde das Erwünschte anschaulich<br />

dargestellt. Die Straßen sauber zu halten — auch wenn nach dem<br />

marktökonomischen Eigeninteresse irrational — gehörte dazu. Der Handelskapitalismus<br />

dieser Stadtstaaten blieb in diesen Dokumenten fast unerwähnt.<br />

Die Betonung der Bürgertugenden muß hier keine Verschleierung<br />

sein, denn die „commune" ist die Referenzstruktur für die generalisierte<br />

Reziprozität, die das Marktgeschehen einbettete.<br />

Jener Bereich von Austausch von Leistungen <strong>und</strong> Gütern, der weder<br />

durch staatliche noch durch Markt-Distribution bestimmt ist, verändert<br />

sich in seinem gerichteten Prozeß. In Schüben nimmt die Bedeutung der<br />

beschränkten Reziprozität, z.B. innerhalb von Verwandtschaftsbanden, ab,<br />

wird zugleich der monetäre Austausch illegitim, während die — anonyme —<br />

generalisierte Reziprozität zunimmt. Gegenüber dem Markt, in welchem<br />

der Zugang zu Gebrauchswerten an die eiserne Bedingung des Geldes geknüpft<br />

ist, erscheint so die Moralökonomie als möglicher Rückzugsraum.<br />

Wie jedem System ökonomischer Leistungen, so muß auch der Moralökonomie<br />

ein System sozialer Kontrolle entsprechen. Die staatliche Kontrolle<br />

spielt hier eine unbezweifelbare Rolle — doch dies ist vor allem eine<br />

sy<strong>mb</strong>olische: Standards zu definieren <strong>und</strong> Abweichungen als sanktionierbar<br />

zu erklären. Das gestreute Auftreten der meisten Handlungen erlaubt kaum<br />

effektive Sanktionen. Wichtiger ist die Zuweisung von Ansehen <strong>und</strong> Schande<br />

— ein Sanktionskomplex, der uns nur für vorindustrielle Gesellschaften<br />

wesentlich zu sein scheint. Die Angst, sich zu blamieren, „daß über einen<br />

geredet wird", ist wesentlich für die Einhaltung der ungeschriebenen Regeln.<br />

Der effektive Einsatz der Lehrenden in einer Fakultät zum Beispiel<br />

läßt sich nicht aus Furcht vor den Sanktionen des Beamtengesetzes erklären.<br />

Das, was als Engagement unbezahlt <strong>und</strong> unbezahlbar zur formalen<br />

Erledigung von Arbeit hinzukommt (eben nicht nur 'Dienst nach Vorschrift'<br />

ist), ist diesem formalen Sanktionssystem geschuldet.<br />

Weiter noch: Die moralischen Forderungen sind als internalisierte<br />

Zwänge (N. Elias ) in unser Denken hineingenommen. Dies gibt der Familie<br />

als Sozialisationsinstanz eine zusätzliche Aufgabe, wie nicht zuletzt an<br />

16<br />

Martin Luthers Familienschriften deutlich wird.<br />

Ehre <strong>und</strong> Schande setzen eine — virtuelle — Kommunikationsgemeinschaft<br />

als Projektionsfläche für ihre Wertungen voraus. Wenn diese in Par-<br />

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zellen abgeschottet ist oder stark hierarchisiert ist, kann sie diese Leistungen<br />

nicht erfüllen.<br />

Jedoch auch dort, wo das Geld angeschlossen ist, kann die Moralökonomie<br />

zerstört werden: Willkür kann Verpflichtungen ablösen. Ungezügelte<br />

Gewalt erschlägt jede moralische Norm. Das, was im Iran mit dem Abdanken<br />

des Schahs an Abschaffung von Korruption, an Aufbau von Verläßlichkeit,<br />

an Schaffung einer neuen „umma" (Gemeinschaft der Gläubigen)<br />

zu wachsen schien, wurde unter Khomeini durch Einsatz von Willkür rasch<br />

liquidiert.<br />

Der zivilisatorische Prozeß im Sinne von Elias, der der Gewalt Zügel anlegt,<br />

ist nicht zu trennen vom Aufbau jenes unseren Alltag konstituierenden<br />

Systems des Austauschs von Gütern <strong>und</strong> Leistungen, das die Marktwirtschaft<br />

einbettet.<br />

Für sich genommen finden sich Kerne dieser Argumentation bereits in<br />

zwei alten Diskussionssträngen . Montesquieu diagnostizierte eine Konkomitanz<br />

von Marktexpansion <strong>und</strong> zivilisatorischem Schub. Er sprach von der<br />

17<br />

,,douceur" des Marktes. Durkheim nahm dies auf, akzentuierte aber nur<br />

einen der möglichen Zusammenhänge. Das Geschehen der formalen Wirtschaft<br />

erzwingt die Moralisierung. Bei Max Weber ist eher die andere Seite<br />

angesprochen. Daß der Roland (Sy<strong>mb</strong>ol des Rechts im Mittelalter) über<br />

den Markt wacht, ist Vorbedingung des Marktgeschehens. Der andere<br />

Strang führt von Sir Walpole über das Kommunistische Manifest bis zu<br />

Fred Hirsch. Das Marktgeschehen erodiert die Gesellschaft, zersetzt alle<br />

moralischen Bindungen. Jeder dieser Diskussionsstränge kann sich auf Evidenzen,<br />

kann sich auf Empirisches berufen. Dies muß so sein, denn beides,<br />

die Zersetzung durch Expansion des Warenprinzips wie die Einbettung<br />

in Moralökonomie <strong>und</strong> die Stützung durch zivilisatorisch gezügelte Staatsmacht<br />

(konkomitant zum Wachstum des Marktes), beides ist Ausdruck<br />

eines fluktuierenden Systems.<br />

Die funktionale Differenzierung von Wirtschaft gegen Gesellschaft<br />

(genauer: Sphäre der Warenökonomie gegen Sphäre der generalisierten<br />

Reziprozität) ist zwar produktiv, insofern sie einen neuen Systemtyp<br />

schafft, sie ist aber nicht absolut stabil. Das, was käuflich ist, könnte zu<br />

Teilen auch Gegenstand von Eigenproduktion <strong>und</strong> generalisierter Reziprozität<br />

sein. Das, was wir aus Gefälligkeit leisten, könnte auch käuflich sein.<br />

Da die beiden Verteilungssysteme in Teilbereichen konkurrieren könnten,<br />

ist die Grenzziehung zwischen ihnen nie vollständig plausibel (<strong>und</strong> hier liegt<br />

ein Problem, das sich praktisch nie dauerhaft lösen läßt; ein Problem auch<br />

für jede Prognose). Es gibt infolgedessen regelhaft Bewegungen zur Ausdehnung<br />

des Warentausch-Prinzips wie Bewegungen zur Zurückweisung<br />

dieser Expansion, zur Eindämmung des Warenprinzips oder gar zur Abschaffung<br />

der Warenökonomie. Die Oszillation zwischen diesen beiden<br />

Systemtypen erscheint so als eine Oszillation innerhalb eines bestimmten<br />

Gesellschaftstyps. Die Korruption von Ministern ebenso wie f<strong>und</strong>amentalistische<br />

Bewegungen (wie etwa bei den Grünen) erscheinen als Ausdruck<br />

der Fluktuation eines Systems — des Systems Marktgesellschaft.<br />

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Daß solche Fluktuationen das System nicht unterminieren können,<br />

ist damit nicht gesagt. Und damit wären wir bei der skeptischen Frage<br />

nach dem Ende der Moderne, nach der Vollendbarkeit des Kapitalismus,<br />

die unsere heutige Diskussion einleitete.<br />

Zusammenfassung<br />

Der Anschein von Kontinuität ist oft trügerisch. Nach der Meßlatte der<br />

Ökonomen — dem Bruttosozialprodukt — entwickeln sich manche Länder<br />

der Dritten Welt kontinuierlich. Der Soziologe sieht hier eher eine Sackgasse<br />

der Entwicklung, nämlich die Entwicklung der Venalität, <strong>und</strong> damit<br />

die Unterminierung des Marktvertrauens. Der Soziologe erwartet eher die<br />

Krise, den Konjunkturabbruch, als normales zyklisches Phänomen.<br />

In der europäischen Geschichte entstanden nicht überall entfaltete<br />

Marktgesellschaften in einer gradlinigen Entwicklung. Anti-Markt-Bewegungen<br />

zeitigten bisweilen das paradoxe Ergebnis, daß erst sie die für die Expansion<br />

der Märkte notwendige Einbettung schufen.<br />

Heute — <strong>und</strong> das brauche ich im Vortrag wohl nicht breitzutreten —<br />

empfinden viele die Monetarisierung von Hilfe <strong>und</strong> Rat in Lebenskrisen,<br />

von Liebe, Kaufehen durch Importe, politische Korruption <strong>und</strong> neue Religionen<br />

auf Geschäftsbasis als einen zusammenhängenden Schub von Kornmodifizierung,<br />

als Verlust von Rückzugsräumen. Daß dies eine reale Bedrohung<br />

des Lebenszusammenhangs der modernen europäischen Gesellschaft<br />

sein kann, kann die Soziologie bestätigen. Angesichts der Größenordnung<br />

der Phänomene, angesichts der bewegten Geldmengen, der internationalen<br />

Interdependenzen, kann ein Ausgang dieses Schubs oder ein Erfolg seiner<br />

Gegenbewegungen nur schwer prognostiziert werden. Die Frage nach der<br />

Unvollendbarkeit unserer Gesellschaftsform bleibt bestehen.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Zur Ausdehnung der Warenform <strong>und</strong> zum Begriff der Kommodifizierung siehe zusammenfassend:<br />

Wallerstein, l.; Historical Capitalism, London 1983.<br />

2 Siehe hierzu die Ausführungen von Chr. von Ferber im heutigen Vortrag.<br />

3 Den Begriff „moral economy" schuf E.P. Thompson 1963 in dem Aufsatz ,,The<br />

Moral Economy of the English Crowd in the 18th Century", in: Past and Present,<br />

No. 50, 1971: 76-136. James Scott veränderte 1976 den Begriff in „The Moral<br />

Economy of the Peasant", New Haven.<br />

4 In dem vorigen Vortrag nahm Johannes Berger diesen Polanyischen Begriff aus<br />

„The Great Trasformation" (Boston 1968) positiv auf. Wenn ich ihm auch in diesem<br />

Punkt nicht folgen kann, so versuche ich doch, seine Fragestellung <strong>und</strong> die<br />

darauf folgenden Ausdifferenzierungen positiv aufzunehmen.<br />

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5 Besser als in einem alten Arbeitspapier, in welchem ich meine Afghanistan-Erfahrungen<br />

auswertete, führte — zu diesem kritisch — Diana Wong diese Gedanken<br />

in einer Bielefelder Diplomarbeit („The Relation between the Peasantry and the<br />

State in Bénin", 1977) <strong>und</strong> in einem Aufsatz über „Bauern, Bürokratie <strong>und</strong> Korruption"<br />

(in: Elwert, G./Fett, R. (Hrsg.), Afrika zwischen Subsistenzökonomie <strong>und</strong><br />

Imperialismus, Frankfurt 1982) aus.<br />

6 Siehe hierzu Myrdal, G., Asian Drama, New York 1968 <strong>und</strong> die dort verwendete<br />

Literatur.<br />

7 Siehe Franz, G., Der deutsche Bauernkrieg, Aktenband, Darmstadt 1968.<br />

8 Anderson, B., Imagined Communities, London 1983.<br />

9 Giesecke, M., Schriftspracherwerb <strong>und</strong> Erstlesedidaktik in der Zeit des „gemeinteutsch",<br />

Ms., Kassel 1977.<br />

10 Hoelscher, L., Artikel „Öffentlichkeit" in: Ritter/Gründer (Hrsg.), Historisches<br />

Wörterbuch der Philosophie, 1984.<br />

11 Elwert, G./Evers, H.-D./Wilkens, W., „Die Suche nach Sicherheit — Ko<strong>mb</strong>inierte<br />

Produktionsformen im sogenannten informellen Sektor", in: Zeitschrift für Soziologie<br />

12/84, 1983: 281-296.<br />

12 Polanyi, K., Dahomey and the Slave Trade, Seattle 1966.<br />

Sahlins, M., Stone Age Economics, Chicago 1972.<br />

13 Mühlmann, E., Chiliasmus <strong>und</strong> Nativismus, Berlin 1961.<br />

14 Siehe Luhmann, N., Soziologische Aufklärung 2. Formen des Helfens im Wandel<br />

<strong>gesellschaftliche</strong>r Bedingungen, Opladen 1975: 134-149. Zu dem Argument, daß<br />

Vertrauen nur außerhalb des Marktes konstituiert werden kann, vgl. ders., Vertrauen,<br />

Stuttgart 1968: 41; zur Informalität der sozialen Kontrolle vgl. ebd.: 34.<br />

15 Botenstein von Carolstadt, A., „Von den zweyen höchsten gebotten der lieb Gottes<br />

<strong>und</strong> des nechsten", in: Hertzsch, E. (Hrsg.), Carlstadts Schriften aus den Jahren<br />

1523-25, Teil 1 Halle (Saale) 1956.<br />

16 Elias, N., Über den Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., Bern 1969.<br />

2<br />

17 Hirschmann, A., „Rival Interpretations of Market Society", in: Journal of Economic<br />

Literature, Vol XX, 1982: 1463-1484.<br />

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Theorien der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Entwicklung zur Moderne<br />

EINLEITUNG<br />

Klaus Eder<br />

Die Rede von Theorien der <strong>gesellschaftliche</strong>n Entwicklung zur Moderne ist<br />

interpretationsbedürftig. Denn sie suggeriert den Unterschied zwischen<br />

einer Verlaufslogik der Modernisierung <strong>und</strong> einer Ursachenanalyse dieser<br />

Modernisierung. Diese Trennung dürften nicht alle akzeptieren. Wer die<br />

Moderne als „unvollendetes Projekt" definiert, dem ist jede Theorie der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Entwicklung der Moderne auch eine Theorie der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Entwicklung zur Moderne. Nur der, der weiß, was man unter<br />

Moderne verstehen soll, kann sich ohne weitere Skrupel auf das Feld evolutionstheoretischer<br />

Verallgemeinerungen <strong>und</strong> auf die Ursachensuche begeben<br />

.<br />

1<br />

Solche Skrupel haben inzwischen viele befallen. Die klassische Theorie<br />

der Modernisierung ist vor allem von zwei Seiten unter Beschuß geraten:<br />

von Seiten derer, die ihr einen eurozentrischen, nationalstaatlich<br />

verengten Blick auf die Realität vorwerfen; <strong>und</strong> von Seiten derer, die dem<br />

empiristischen Begriff der Modernität den Begriff der Moderne als einer<br />

regulativen Idee entgegensetzen. Beide Angriffe haben die Modernisierungstheorie<br />

nicht unbeschädigt gelassen. Sie haben erstens zu einer stärkeren<br />

Historisierung <strong>und</strong> zweitens zu einer Problematisierung des Begriffs der<br />

Moderne selbst geführt.<br />

Die Historisierung der Modernisierungstheorie sensibilisiert für den partikularen<br />

Fall. Das hat zunächst zu Typologisierungen (<strong>und</strong> Topologisierungen)<br />

geführt: zur Analyse von territorialen Strukturen in den Prozessen der<br />

Staaten- <strong>und</strong> Nationenbildung <strong>und</strong> zur Analyse von Formen interner Konsolidierung<br />

dieser Einheiten durch die Regelung von Teilnahme- <strong>und</strong> Teilhaberechten.<br />

Diese Historisierung hat zwei inhaltliche Effekte auf die Modernisierungstheorie<br />

gehabt: (a) sie hat das Moment zwischenstaatlicher<br />

Ungleichheit in das Erklärungsprogramm eingeführt <strong>und</strong> (b) sie hat den<br />

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Klassencharakter des entstehenden Nationalstaates, die differentielle Betroffenheit<br />

sozialer Gruppen durch Staats- <strong>und</strong> Nationenbildung wieder ins<br />

Blickfeld gerückt. Das hat darüber hinaus innerhalb der Theorie der Modernisierung<br />

zu einer weniger „geradlinigen" Konzeptualisierung des Modernisierungsprozesses<br />

geführt. Die Folgen zeigen sich vor allem an der Diskussion<br />

eines Schlüsselkonzepts einer Theorie der Modernisierung, nämlich<br />

dem Konzept der Rationalisierung 2 .<br />

Mit der Problematisierung des Begriffs Moderne bzw. Modernisierung<br />

werden die Gr<strong>und</strong>annahmen der Modernisierungstheorie als solcher infragegestellt.<br />

Diese Kritik artikuliert sich — mehr oder weniger verschlüsselt —<br />

in der ästhetischen Kritik der Moderne. Sie sensibilisiert für die kulturellen<br />

Voraussetzungen von Modernität. Der Rekurs auf die kulturkritische<br />

Reflexion (<strong>und</strong> Zweifel an) der Moderne bietet sich deshalb als Schlüssel<br />

zu einer Rekonstruktion dessen, was kulturelle Modernität bedeutet, an.<br />

Diese Kritik macht einen affirmativen Begriff von Modernität schwierig.<br />

Denn man kann dann nicht mehr davon ausgehen, daß eine spezielle institutionelle<br />

Verkörperung dieser kulturellen Modernität (etwa das angloamerikanische<br />

politische System) ein Modellfall von Modernisierung sein<br />

könnte. Die so argumentierende alte Modernisierungstheorie ist der Versuch<br />

gewesen, einen bestimmten Entwicklungspfad festzuschreiben, eine hochselektive<br />

Form von Modernität als Inbegriff kultureller Modernität auszugeben.<br />

Erst der Blick auf die vor aller institutioneller Verkörperung gegebene<br />

kulturelle Form vermag die Gr<strong>und</strong>lagen von Modernität <strong>und</strong> die den<br />

Modernisierungsprozeß in seiner Richtung bestimmende kulturelle Dynamik<br />

zu erfassen 3 .<br />

Doch darf die Kritik des affirmativen Modernitätsbegriffs nicht den sozialen<br />

Ort vergessen machen, von dem aus diese Kritik gedacht <strong>und</strong> an den<br />

"diese Kritik gerichtet wird. Sie muß sich vielmehr in ein Verfahren soziologischer<br />

Objektivierung einlassen. Denn in der Art <strong>und</strong> Weise, wie die kulturelle<br />

Dynamik der Moderne von sozialen Klassen oder nationalen Gesellschaften<br />

„übersetzt" wird, reproduziert sich zugleich die objektive Struktur<br />

sozialer Ungleichheit, die mit der Modernisierung nicht verschwindet. Vielleicht<br />

besteht „Modernität" in der objektiven Differenz der Erfahrung von<br />

Modernität. Diese Differenz <strong>und</strong> ihre soziale Konstitution zu klären, das<br />

wäre dann der Gegenstand einer Modernisierungstheorie, die über die Klärung<br />

ihrer eigenen kulturellen Voraussetzungen hinausgehen will.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Zwei Referate konnten aus Raumgründen nicht zum Abdruck gelangen. Das Referat<br />

von van Liere (Groningen) beschäftigte sich mit dem Prozeß der Durchsetzung des<br />

modernen Staates, der unter Rückgriff auf ein Set nutzentheoretischer Annahmen<br />

<strong>und</strong> mit Hilfe eines historisch-komparativen Ansatzes erklärt werden sollte. Das Referat<br />

von Gleichmann (Hannover) beschäftigte sich mit einer Rekonstruktion der<br />

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theoretischen <strong>und</strong> methodologischen Gr<strong>und</strong>lagen der Entwicklungstheorie von Norbert<br />

Elias mit dem Ziel, die Modernisierungstheorie in einer allgemeinen sozialen<br />

Evolutionstheorie zu begründen.<br />

2 ,Vgl. hierzu die Beiträge von Döbert <strong>und</strong> Haferkamp.<br />

3 Vgl. hierzu die Beiträge von Brose <strong>und</strong> Lohmann.<br />

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FORMALE RATIONALITÄT ALS KERN DER WEBERSCHEN MODER­<br />

NISIERUNGSTHEORIE<br />

Rainer Döbert<br />

Ziel der folgenden Ausführungen ist es, die Bedeutung des in der Weber-<br />

Forschung weitgehend vernachlässigten Konzepts der formalen Rationalität<br />

für die Architektonik der Weberschen Soziologie herauszuarbeiten. Der Argumentationsgang<br />

gliedert sich in drei Schritte. Im ersten Teil wird der Begriff<br />

der formalen Rationalität bestimmt. Im zweiten Teil wird am Weberschen<br />

Frühwerk demonstriert, daß für sein Denken zunächst der Begriff<br />

der materialen Zweckrationalität ausschlaggebend war. Im dritten Teil<br />

schließlich sollen einige der theoretischen Motive aufgeführt werden, die<br />

dazu führen mußten, daß sich Phänomene formaler Rationalisierung in der<br />

Weberschen Soziologie zunehmend in den Vordergr<strong>und</strong> schoben.<br />

Teil I: Zum Begriff der formalen Rationalität<br />

Will man Weber nicht Red<strong>und</strong>anz der Begriffsbildung unterstellen, so ist der<br />

Begriff der formalen Rationalität so zu bestimmen, daß er nicht mit Zweckrationalität<br />

zusammenfällt. Außerdem ist sicherzustellen, daß die von Weber<br />

mit dem Terminus 'formal rational' belegten Phänomene nicht rein enumerativ<br />

bloß aufgelistet, sondern erzeugt werden können. Diese Desiderate<br />

sind m.E. in der Literatur nicht erfüllt. Es ist hier nicht der Ort, darauf<br />

näher einzugehen. Insgesamt hat die Weber-Literatur zum Konzept der formalen<br />

Rationalität eher wenig zu sagen.<br />

Um das Konzept der formalen Rationalität zu erhellen, wird es sinnvoll<br />

sein, sich zunächst dem Begriffspaar 'formal-material zuzuwenden. Dieses<br />

liegt der Unterscheidung von formaler <strong>und</strong> materialer Rationalität voraus.<br />

Es durchzieht die gesamte Webersche Soziologie <strong>und</strong> ist wohl von Weber<br />

der juristischen Literatur entnommen worden. Es gibt formale <strong>und</strong> materiale<br />

Preistheorie, charismatische Herrschaft ist formal Offenbarung, material<br />

aber immer: „Es steht geschrieben, ich aber sage Euch ..." etc.<br />

Was ist gemeint? Schluchter geht sehr zu Recht von der Wortbedeutung<br />

aus, um die formale <strong>und</strong> materiale Rationalität des Rechtssystems begrifflich<br />

zu fassen. 'Formal' leitet sich von Form ab <strong>und</strong> auf die Form des Denkens<br />

oder Handelns beziehen wir uns mit einer Wie-Frage. 'Material' hat<br />

dann mit dem Inhalt von Denken oder Handeln zu tun <strong>und</strong> auf den Inhalt<br />

beziehen wir uns typischerweise mit einer Was-Frage. 1<br />

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Es dürfte offensichtlich sein, daß wir dieses Fragenpaar auf jedes beliebige<br />

Denk- oder Handlungsmuster anwenden können — also auch auf<br />

zweckrationales Handeln. Demnach könnte Handeln in formaler <strong>und</strong> in<br />

materialer Hinsicht zweckrational sein.<br />

Für den Begriff der materialen Zweckrationalität gibt es bei Weber<br />

einen unzweideutigen Beleg. In der Wirtschafts<strong>soziologie</strong> spricht Weber<br />

2<br />

davon, daß man an ein 'formal noch so rationales Wirtschaften' „ethische,<br />

politische, utilitarische, hedonische, ständische, egalitäre oder irgendwelche<br />

anderen Forderungen stellt <strong>und</strong> daran die Ergebnisse des ... Wirtschaftens<br />

wertrational oder material zweckrational bemißt." Hier geht es um die<br />

Bewertung der Handlungsergebnisse, also um die Frage, was mit dem Vollzug<br />

einer Handlung denn nun tatsächlich erreicht wurde. Wenn die Handlungsziele<br />

geltungsfreie Interessen, frei von jedem Wertbezug sind, dann ist<br />

Handeln, sofern es diese Zwecke erreicht, material zweckrational. Auch die<br />

formale Seite von zweckrationalem Handeln im Bereich der Ökonomie<br />

scheint in der zitierten Passage ganz unzweideutig bestimmt zu sein, nämlich<br />

als Rechenhaftigkeit <strong>und</strong> Rechenhaftigkeit läßt sich ja auch problemlos<br />

auf die Wie-Frage beziehen. Es ist jedoch von entscheidender Bedeutung<br />

sich zu vergegenwärtigen, daß die Wie-Frage hier — ohne daß Weber<br />

dies deutlich machen würde — rekursiv angewendet wird. Wirtschaftliches<br />

Handeln hat es ja schon vor Erfindung der Wirtschaftsrechnung gegeben<br />

<strong>und</strong> auch dabei muß das zweckrationale Wirtschaftshandeln einen formalen<br />

Aspekt aufgewiesen haben. Er besteht in der mit Zweckrationalität als solcher<br />

gegebenen Wahl der zur Erreichung des Zwecks subjektiv oder objektiv<br />

erforderlichen Mittel (wie erreiche ich den Zweck). Man müßte hier, um terminologisch<br />

genau zu sein, von 'formaler Zweckrationalität' sprechen, die<br />

in Verbindung mit materialer Zweckrationalität das rein zweckrationale<br />

Handeln oder „absolute Zweckrationalität" konstituiert. Daß Weber zumindest<br />

implizit die entsprechende Unterscheidung im Auge hatte, geht aus<br />

einer Bemerkung über Handeln, bei dem die Zwecke wertrational beeinflußt<br />

sind, hervor. „Dann ist das Handeln nur in seinen Mitteln zweckrational " 3<br />

impliziert, daß reine Zweckrationalität in der angedeuteten Weise „zusammengesetzt"<br />

ist. Formale Rationalität (im Unterschied zu formaler Zweckrationalität)<br />

im Sinne von Rechenhaftigkeit kommt jedoch erst ins Spiel,<br />

wenn ich die Form-Materie-Unterscheidung rekursiv auf die durch das<br />

Kausalitätskriterium seligierten Mittel anwende. Ich frage nun, was fällt<br />

überhaupt in den Bereich kausalwirksamer Handlungen <strong>und</strong> wie erreichen<br />

diese alternativen Mittel ihr Ziel. Sie sollen möglichst effizient <strong>und</strong> 'sicher'<br />

wirken <strong>und</strong> erst die Anwendung dieser Zusatzkriterien grenzt die Mittelauswahl<br />

endgültig ein. Effizienzkalkulationen lassen sich aber ohne 'Rechenhaftigkeit'<br />

nicht präzise durchführen <strong>und</strong> daher ist die Wirtschaftsrechnung<br />

von Weber zu Recht als Inbegriff der formalen Rationalität der Ökonomie<br />

ausgezeichnet worden. Daß es sich um eine rekursive Anwendung der Form-<br />

Materie-Unterscheidung handelt, ergibt sich auch unmittelbar aus den formaler<br />

Rationalität zugeordneten Handlungsmotiven. Interessen an Progno-<br />

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stizierbarkeit, maschinenmäßigem Funktionieren, Berechenbarkeit, Stabilität<br />

etc. sind notwendige Metainteressen der Handelnden; sie setzen Primärinteressen<br />

voraus, die sicher, berechenbar, effizient verfolgt werden.<br />

Diese hier am Beispiel des ökonomischen Handelns analysierte Struktur<br />

von formaler Rationalität läßt sich auf andere Handlungsbereiche <strong>und</strong> auf<br />

die Organisation von Orientierungssystemen (z.B. formale Rationalität des<br />

Rechtssystems) übertragen. Sie impliziert keine Reduktion auf Zweckrationalität,<br />

da ja Zweckrationalität gerade umgekehrt durch Anwendung der<br />

Unterscheidung von formal-material generiert wurde. Die analytische Unabhängigkeit<br />

des Begriffs der formalen Rationalität von dem der Zweckrationalität<br />

ist essentiell, da anders notwendige begriffliche Unterscheidungen<br />

einplaniert werden. Beispielsweise verkörpert das Naturrecht als Inbegriff<br />

von Wertrationalität auch formale Rationalität, da es logifiziert, systematisiert<br />

ist <strong>und</strong> Sätze 'kontrolliert' ableitbar macht. Weber mußte daraus keinesfalls<br />

schließen, daß sich alles Handeln auf instrumentelles Handeln reduziert,<br />

da er mit formaler Rationalität eine Metaebene der Organisation<br />

von Denken <strong>und</strong> Handeln anvisiert hat, die eben bereichsübergreifend wirksam<br />

ist.<br />

Teil II: Die früheste Form der Weberschen Entwicklungstheorie<br />

Es soll im folgenden gezeigt werden, daß das Konzept der formalen Rationalität<br />

im Weberschen Denken zunächst von untergeordneter Bedeutung<br />

war, dann aber, mit der Entwicklung seines Denkens, zunehmend an Bedeutung<br />

gewinnen mußte. Die Veränderungen hängen damit zusammen, daß<br />

Weber sich von einem eher ungebrochenen zu einem eher skeptischen,<br />

vorsichtigen Evolutionstheoretiker entwickelt hat.<br />

Entgegen gängigen Stilisierungen haben evolutionstheoretische Momente<br />

sich im Weberschen Denken nicht allmählich durchgesetzt, sondern<br />

Weber hat, wie seine früheste Veröffentlichung „Zur Geschichte der Handlungsgesellschaften<br />

im Mittelalter" zeigt, als Evolutionstheoretiker begonnen<br />

<strong>und</strong> dabei ganz einfach Ansätze seines Lehrers Goldschmid fortgeführt.<br />

In der erwähnten Untersuchung geht es Weber darum zu klären, wie<br />

sich aus dem gemeinsamen Haushalt <strong>und</strong> der Gemeinschaft des Erwerbslebens<br />

die moderne Offene Handelsgesellschaft mit dem Status eines<br />

Rechtssubjekts, mit beschränkter Solidarhaftung der Gesellschafter <strong>und</strong> mit<br />

einem Sondervermögen entwickeln konnte. Das zentrale Argument läßt<br />

sich in etwa folgender Passage entnehmen: „Dagegen mußten ... Schwierigkeiten<br />

entstehen, als mit wachsender Bedeutung des Kredits die Schuldverbindlichkeiten<br />

des einzelnen einen Charakter gewannen, welcher die Haftbarmachung<br />

der Genossen für dieselben lediglich auf der Gr<strong>und</strong>lage des gemeinsamen<br />

Haushalts häufig unbillig erscheinen ließ. Andererseits war<br />

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gerade die unmittelbare Haftung geeignet, die Gemeinschaft im Geschäftsleben,<br />

als Kreditbasis, aktionsfähig zu machen ... Für alle Fälle, in welchen<br />

das Interesse des Kredits der Gemeinschaft überwog, mußte also die Haftung<br />

festgehalten werden." Wie löste die Rechts<strong>entwicklung</strong> dies legislatorische<br />

Problem? Das zur Erklärung herangezogene Modell ist — ohne daß<br />

4<br />

dieser Terminus schon verwendet würde — ganz einfach das Modell zweckrationalen<br />

Handelns. Veränderte Handlungsbedingungen haben dazu geführt,<br />

daß die überkommenen Formen des sozialen Verkehrs „unangemessen"<br />

werden. Damit steht das Rechtssystem vor dem Problem, schrittweise<br />

die Rechtstechniken zu entwickeln, die die neuen Handelsgewohnheiten<br />

in sichere Bahnen lenken können. Das Modell stellt ganz auf „materiale<br />

Zweckrationalität" ab. Denn der Rechtszweck bestimmt den gesamten Entwicklungsgang.<br />

Er besteht in der Lösung des gegebenen Handlungsproblems<br />

<strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> des Handlungsdruckes wird die Rechts<strong>entwicklung</strong> sich notwendigerweise<br />

so vollziehen, daß entsprechende rechtstechnische Mittel<br />

hervorgebracht werden. Für formale Rationalität war in diesem Modell<br />

eigentlich kaum Raum <strong>und</strong> es überrascht daher nicht, daß Weber über<br />

die römischen Juristen der damaligen Zeit einigermaßen abfällig urteilt. 5<br />

Nun wurde Weber aber immer deutlicher, daß die Identifizierung einer<br />

gegebenen Problemlage noch längst nicht garantiert, daß auch die entsprechenden<br />

„problemlösenden" sozialen Arrangements institutionalisiert werden<br />

können. Das <strong>entwicklung</strong>stheoretische Modell mußte also als übervereinfachend<br />

verworfen <strong>und</strong> entsprechend korrigiert werden. Dabei gewann<br />

formale Rationalität an Bedeutung.<br />

Teil III: Systematische Gründe für den Bedeutungszuwachs von 'formaler<br />

Rationalität' im Weberschen Werk<br />

Webers <strong>entwicklung</strong>stheoretisches Modell stellte zunächst ganz auf das Moment<br />

der Notwendigkeit ab, enthielt also — übersetzt in eine neuere Terminologie<br />

— lediglich ein Stadienmodell der Entwicklung. Die Stadienmodelle<br />

erlauben es uns, die jeweils früheren Entwicklungsformen als notwendige<br />

Voraussetzungen für die späteren <strong>und</strong> die späteren als „angemessenere",<br />

„zweckrationalere" Reaktionen auf gegebene funktionale Imperative zu<br />

begreifen. Es muß sich aber überhaupt nichts enwickeln, da das entsprechende<br />

System aufgr<strong>und</strong> seiner internen Struktur oder der ihm zur Verfügung<br />

stehenden Ressourcen daran gehindert sein kann, überhaupt neue <strong>und</strong><br />

angemessene Problemlösungen zu erzeugen, durchzusetzen <strong>und</strong> zu speichern.<br />

Ob sich Entwicklung vollzieht hängt auch von Zufälligkeiten ab. Diese<br />

Zufallskomponente, die heute in allen evolutionstheoretischen Ansätzen<br />

enthalten ist, läßt sich thematisieren als Gegensatz von Evolution <strong>und</strong> Geschichte.<br />

Weber führt die Unterscheidung im Objektivitätsaufsatz streng<br />

durch. Er hat keinerlei Einwände gegen die Verwendung von Stadienmo-<br />

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dellen, solange man sich stets gegenwärtig hält, daß idealtypische Entwicklungskonstruktionen<br />

<strong>und</strong> Geschichte zwei streng zu scheidende Dinge<br />

sind ..." 6<br />

Die komplexere evolutionstheoretische Variante, die Weber nun unter<br />

Einbeziehung der Zufälligkeiten von Geschichte entwickelt, ist so spezifiziert,<br />

daß auf planvolle Vorausschau zweckrational handelnder Subjekte<br />

verzichtet werden kann. Soziale Institutionen können sich in weit abliegenden<br />

Feldern sozialen Handelns entwickeln <strong>und</strong> erst später zu neuen institutionellen<br />

Arrangements ko<strong>mb</strong>iniert werden; sie können von neuen Trägergruppen<br />

mit gänzlich anderer Zielsetzung „übernommen" werden, <strong>und</strong><br />

dabei ihre Bedeutung ins Gegenteil verkehren. Diese 'Zufälligkeiten' lassen<br />

sich nicht im Modell zweckrationalen Handelns auffangen, sondern erfordern<br />

ein Modell der unbewußten Auslese von sozialen Institutionen. Ein<br />

solches Modell bleibt aber unspezifiziert, wenn es nicht durch Annahmen<br />

über das Speichern von Innovationen ergänzt wird. Genau hierin liegt der<br />

theoretische Stellenwert des zweiten „Standbeins" moderner Entwicklungstheorien,<br />

der Entwicklungsmechanismen nämlich. Diese müssen so angelegt<br />

sein, daß verständlich wird, wie die zufälligen historischen Schwankungen<br />

zu akkumulativen Lernprozessen verdichtet werden können. Meine These<br />

ist nun, daß der Begriff der formalen Rationalität in der Weberschen Soziologie<br />

nicht zuletzt deshalb von zentraler Bedeutung ist, weil ohne ihn der<br />

in Rationalisierungsschüben zum Ausdruck kommende <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Lernprozeß unverstanden bliebe, da das Speichern von Innovationen ohne<br />

ihn nicht gefaßt werden kann. 7<br />

Dafür gibt es mehrere Gründe. Einerseits betrifft die formale Rationalität<br />

das „Wie" der Organisation von Denken <strong>und</strong> Handeln. Stil <strong>und</strong> Form<br />

sind jedoch, da sie in der Regel nicht thematisch sind, gegen Wandel viel resistenter<br />

als Inhalte <strong>und</strong> werden beibehalten, wenn Inhalte sich ändern. Andererseits<br />

sind die formal rationalisierten Denk- <strong>und</strong> Handlungsmuster prestigereicher<br />

<strong>und</strong> — das ist ja der Sinn von formaler Rationalität — leichter<br />

reproduzierbar als ihre nicht-rationalisierten Konkurrenten. Dadurch genießen<br />

formal rationalisierte Handlungsstrukturen einen Selektionsvorteil<br />

im Auslesekampf der Institutionen.<br />

Auch die Differenzierungsthematik, an der keine Evolutionstheorie<br />

vorbeikommt, läßt sich ohne Rekurs auf formale Rationalität nicht behandeln.<br />

In letzter Instanz ruht die Webersche Differenzierungstheorie auf der<br />

Unversöhnlichkeit der konkurrierenden Sachordnungen. Deren Unversöhnlichkeit<br />

erzwingt Differenzierungsprozesse. Sie kann jedoch nur transparent<br />

werden, wenn jede Sachordnung für sich genommen in ihren Funktionsgesetzmäßigkeiten<br />

systematisch analysiert <strong>und</strong> zu Ende gedacht wird; das<br />

aber heißt ja nichts anderes, als daß erst bei formaler Rationalisierung jeder<br />

Sachordnung die Inkompatibilität, die Differenzierungen auslöst, zutage<br />

treten kann. Auch von daher mußte Weber deshalb immer wieder auf formale<br />

Rationalität stoßen.<br />

Die systematische Bedeutung von formaler Rationalität läßt sich auch<br />

beleuchten, wenn man überlegt, wie sich denn die anderen Komponenten<br />

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des gesamten Rationalitätskomplexes für eine <strong>entwicklung</strong>stheoretische<br />

Konstruktion nutzbar machen ließen. Ich muß mich hier mit Andeutungen<br />

begnügen: objektive Richtigkeitsrationalität würde den gesamten Entwicklungsgang<br />

einfach dichotomisieren. Denn wahr ist die moderne Wissenschaft,<br />

<strong>und</strong> alles was davor lag, ist gleich falsch. Dieser Umstand strahlt unmittelbar<br />

auf das Konzept des objektiv richtigen zweckrationalen Handelns<br />

aus, da dies ja durch Wahrheit der Kausalhypothesen definiert ist. Bei materialer<br />

<strong>und</strong> Wertrationalität kann Entwicklung einfach nur in Systematisierung<br />

<strong>und</strong> Logifizierung der letzten Wertgesichtspunkte bestehen. Das aber<br />

ist eben die Essenz von formaler Rationalität. Bleibt die subjektive Zweckrationalität.<br />

Der magisch Handelnde verhält sich subjektiv nicht weniger<br />

oder anders zweckrational als der moderne Techniker. Entwicklung kann<br />

hier nur auf einer Metaebene liegen, also formale Rationalität tangieren. Genauso<br />

argumentiert Weber in seinem Wertfreiheitsaufsatz beim Vergleich<br />

von Magie <strong>und</strong> Physik. 8<br />

Weber war ein sensibler Beobachter seiner Zeit <strong>und</strong> daher konnte ihm<br />

das Problem der Entfremdung, das so typisch zu sein scheint gerade für moderne<br />

Gesellschaften, nicht entgehen. Entfremdung hat natürlich einerseits<br />

entschieden etwas mit der mangelnden Transparenz des heutigen Institutionsgefüges<br />

zu tun. Aber darin liegt nur eine Komponente der Weberschen<br />

Entfremdungstheorie, die der Ergänzung durch das Konzept der formalen<br />

Rationalität bedarf. Denn für sich allein genommen muß mangelnde Transparenz<br />

ja überhaupt keine entfremdenden Implikationen haben, solange das<br />

Institutionensystem nur so funktioniert, daß wir unsere Zwecke ungestört<br />

verfolgen können. Warum werden die modernen Institutionen als Arrangements<br />

erfahren, in denen der Einzelne sich mit seinen Zielsetzungen nicht<br />

ungebrochen aufgehoben fühlen kann? Dies läßt sich erst begreifen, wenn<br />

man die mangelnde Transparenz durch das Konzept der formalen Rationalität<br />

ergänzt. Denn formale Rationalisierung läuft ja darauf hinaus, daß alles<br />

Handeln einem weiteren Kriterium unterworfen wird: es sollen nicht nur<br />

Primärziele erreicht werden, sondern diese sollen dauerhaft, sicher, effizient<br />

etc. erreicht werden. Wo aber zwei Kriterien wirksam sind, kann es auch zu<br />

Konflikten zwischen der Erfüllung dieser Kriterien kommen; können die<br />

Primärziele also beispielsweise zugunsten der mit formaler Rationalität verb<strong>und</strong>enen<br />

notwendigen Metamotive des Handelns beiseite geschoben werden<br />

(Rentabilität versus optimale Güterversorgung z.B.). Da die Handelnden<br />

aber auch diese Metamotive nicht einfach ignorieren können, ohne pragmatische<br />

Paradoxien zu erzeugen (man kann nicht Z wollen, ohne auch zu<br />

wollen, daß es für die Erlangung von Z eine gewisse Sicherheit gibt), lassen<br />

sich in Konfliktfällen die Institutionen nicht ohne weiteres so u<strong>mb</strong>auen,<br />

daß Primärziele eindeutig die Oberhand gewinnen. Das „stahlharte Gehäuse"<br />

ist, so betrachtet, eher als goldener Käfig zu fassen, aus dem wir nicht<br />

herauswollen können, da sonst unsere notwendigen Metamotive verletzt<br />

würden.<br />

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Abschließend ein letzter Hinweis: es ist ja wiederholt bemerkt worden,<br />

daß die Anwendung von dichotomisierenden Begriffen wie Mikro- <strong>und</strong><br />

Makro<strong>soziologie</strong> oder System- <strong>und</strong> Handlungsebene auf die Webersche<br />

Soziologie wenig hilfreich ist. Ich glaube, daß sich zeigen läßt, daß Weber<br />

zwischen unterschiedlichen Aggregationsniveaus von Handlungen unter<br />

anderem deshalb flexibel zu vermitteln vermochte, weil er das Konzept<br />

des Einverständnishandelns mit Prozessen formaler Rationalisierung verbinden<br />

konnte. Formal rationalisiert werden sämtliche Denk- <strong>und</strong> Handlungsbereiche,<br />

aber auch die Persönlichkeit selbst. Damit hat Weber mit formaler<br />

Rationalität den Fall der Interrelation von Mikro- <strong>und</strong> Makrorationalität<br />

identifiziert, bei dem die Rationalitätskriterien der beiden Ebenen konkordant<br />

sind. Die Organisationen haben ein notwendiges Interesse daran, daß<br />

ihre Mitglieder <strong>und</strong> Abnehmer in ihrem Verhalten berechenbar sind, <strong>und</strong><br />

umgekehrt haben die Individuen ein Interesse daran, daß auch die Organisationen<br />

'maschinenmäßig' funktionieren. Wächst nun die formale Rationalität<br />

von Individuen <strong>und</strong> sozialen Systemen, so kommen „Einverständnisse"<br />

leichter zustande. Denn nun erhöht sich die für Einverständnishandeln<br />

konstitutive objektive Wahrscheinlichkeit: „daß ... (andere die eigenen)<br />

Erwartungen trotz des Fehlens einer Vereinbarung als sinnhaft 'gültig'<br />

für ihr Verhalten praktisch behandeln werden." 9<br />

Zusammenfassend läßt sich vielleicht festhalten: nicht Zweckrationalität,<br />

sondern formale Rationalität ist Dreh- <strong>und</strong> Angelpunkt der Weberschen<br />

Soziologie, die von Anbeginn an Evolutionstheorie war <strong>und</strong> die sich als<br />

solche nicht ohne Rekurs auf formale Rationalisierung konstruieren ließ.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 W. Schluchter, Die Entwicklung des okzidentalen Rationalismus, Tübingen 1979,<br />

S. 130 f.<br />

2 M. Weber, Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, Tbg. 1956, S. 45.<br />

3 Anm. 2, S. 13.<br />

4 M. Weber, Zur Geschichte der Handelsgesellschaften im Mittelalter, Tbg. 1889,<br />

S. 66.<br />

5 Vgl. Anm. 4, S. 151, 155.<br />

6 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Tbg. 1951, S. 204.<br />

7 Für dieses wie die folgenden Argumente ist relativ gleichgültig, ob Weber die Zusammenhänge<br />

im einzelnen präsent waren. Wenn meine Überlegungen triftig sind,<br />

mußte Weber bei der Analyse von Entwicklungsprozessen immer wieder auf ein Anwachsen<br />

von formaler Rationalität stoßen. Dies war der Fall, <strong>und</strong> das genügt für die<br />

Zwecke dieses Aufsatzes.<br />

8 M. Weber, Ges. Aufsätze zur Wissenschaftslehre, Anm. 6, S. 512. Diese Passage<br />

allein sollte eigentlich genügen, den Leser davon zu überzeugen, daß man mit bloßer<br />

Zweckrationalität bei Weber nicht sehr weit kommen kann.<br />

9 Max Weber, Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, [Anm. 6] S. 456.<br />

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RATIONALISIERUNG UND ENTHIERARCHISIERUNG.<br />

ZUR KRITIK DER WEBERSCHEN ÄGYPTISIERUNGSTHESE<br />

Hans<br />

Haferkamp<br />

Max Weber hat bekanntlich die Zukunft moderner Gesellschaften düster<br />

ausgemalt: Die in Gang gekommene formale Rationalisierung endet in der<br />

vollkommenen Durchrationalisierung aller Lebensbereiche. Die formal rationale<br />

Verwendung von Menschen wird in diesem Prozeß durch die Bürokratie<br />

gewährleistet. Disziplin, Befehl <strong>und</strong> Gehorsam, kurz: Leben in einer<br />

Hierarchie ist eines der hervorstechenden Merkmale der Bürokratie. Die<br />

Bürokratisierung führt daher zu einem Endzustand. Ich zitiere: „Im Verein<br />

mit der toten Maschine ist sie an der Arbeit, das Gehäuse jener Hörigkeit<br />

der Zukunft herzustellen, in welche vielleicht dereinst die Menschen sich,<br />

wie die Fellachen im altägyptischen Staat, ohnmächtig zu fügen gezwungen<br />

sein werden, wenn ihnen eine rein technisch gute <strong>und</strong> das heißt: eine rationale<br />

Beamtenverwaltung <strong>und</strong> -Versorgung der letzte <strong>und</strong> einzige Wert ist,<br />

der über die Art <strong>und</strong> Leitung ihrer Angelegenheiten entscheiden soll"<br />

(Weber 1958, S. 320).<br />

Ich überlese nicht: Weber hat in seine Prognose eine Voraussetzung eingebaut:<br />

Verwaltung <strong>und</strong> Versorgung sei der letzte <strong>und</strong> einzige Wert der<br />

Menschen. Aber welche Bedeutung hat diese Bedingung? Welche andere<br />

mögliche Entwicklung sieht Weber <strong>und</strong> welche Auswirkungen hätte sie? Die<br />

alternative Entwicklung setzt mit einem leitenden Geist ein, mit dem um<br />

eigene Macht kämpfenden, Eigenverantwortung für seine Entscheidungen<br />

tragenden Politiker oder Unternehmer. Von ihm erwartet Weber eine Ausrichtung<br />

der Bürokratie auf andere Ziele <strong>und</strong> Werte als den reibungslosen<br />

Selbstlauf des bürokratischen Systems <strong>und</strong> die optimale Versorgung der<br />

Betreuten. Als solche Ziele führt er die nationale Größe <strong>und</strong> das Bestehen<br />

der Nation beim Griff zur Weltmacht an.<br />

Was auf den ersten Blick wie ein Ausweg aus dem Gehäuse der Hörigkeit<br />

aussieht, erweist sich nun bei näherem Hinsehen nur als ein Weg in<br />

einen Käfig mit anderer Zielsetzung. Entweder herrscht der cäsaristische<br />

Führer mit Hilfe der effizienten, auf Erfüllung seiner Zielsetzung ausgerichteten<br />

Bürokratie über die Massen, oder die Bürokratie herrscht mit einem<br />

Versorgungsprogramm in allen Lebensbereichen unter der Titularherrschaft<br />

unfähiger Mitglieder an ihrer Spitze. Die Bilanz für die Masse der Beherrschten<br />

ist die gleiche: Sie werden zukünftig in einem stahlharten Gehäuse mit<br />

immer stärkerer Kontrolle <strong>und</strong> immer weniger Handlungsfreiheiten leben<br />

müssen. Die Hierarchisierung bleibt unentrinnbar, ist unwiderruflich ihr<br />

Schicksal.<br />

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Ich nenne diese zusammenhängenden Prognosen der Rationalisierung,<br />

Bürokratisierung <strong>und</strong> Hierarchisierung die Ägyptisierungsthese. Sie beschreibt<br />

nach Weber den Trend zur <strong>und</strong> die Gr<strong>und</strong>tendenz der Moderne. Sie<br />

ist seit Jahrzehnten ein zentrales Interpretationsmuster der Soziologie.<br />

Ich meine, Webers Ägyptisierungsthese enthält ebensoviel falsche wie<br />

zutreffende Aussagen <strong>und</strong> die Anschlußtheorien in Soziologie <strong>und</strong> Politikwissenschaften<br />

sind in wesentlichen Teilen falsch. Richtig ist der Teil, der<br />

sich auf Bürokratisierung bezieht. Ob Weber mit seiner Prognose zunehmender<br />

formaler Rationalisierung uneingeschränkt recht hatte, ist schon sehr<br />

fraglich. Vor allem ist aber falsch — jedenfalls in ihrer Allgemeinheit — die<br />

Hierarchisierungsprognose, der düstere Schlußpunkt der Ägyptisierungsthese,<br />

der im Mittelpunkt meines Vortrages steht. Dazu möchte ich zunächst<br />

Gegenthesen formulieren <strong>und</strong> dann ihre Triftigkeit im Vergleich zu<br />

Webers Hierarchisierungsvorhersage abklären.<br />

In vielen Lebensbereichen erleben die Akteure heute eine Ersetzung von<br />

Herrschaft durch Verhandlung, einfach weil alte Regeln <strong>und</strong> Positionen zusammenbrechen<br />

<strong>und</strong> neue nicht mehr von oben gesetzt werden können, da<br />

sich unten Beteiligungsverlangen unüberhörbar zu Wort meldet, <strong>und</strong> diese<br />

Tendenz des Auftretens von Verhandlungen beschleunigt sich. Der Zustand,<br />

auf den sich diese Entwicklung hinbewegt, ist nicht das Gehäuse jener Hörigkeit,<br />

es ist vielmehr eine Situation, in der mit Akteuren, mit Beherrschten<br />

verhandelt werden muß <strong>und</strong> in der Akteure ganz allgemein soziales<br />

Handeln aushandeln. Natürlich ist Hierarchie noch nicht abgestorben, sie<br />

existiert, <strong>und</strong> so beobachten wir ein Nebeneinander von Herrschaft <strong>und</strong><br />

Verhandlung. Man findet auf der einen Seite häufig Leitung <strong>und</strong> Stab mit<br />

einem Potential negativer Sanktionen, die jedoch selten in Gang gesetzt<br />

werden, <strong>und</strong> auf der anderen Seite Abteilungen von Mitarbeitern, von denen<br />

selbständiges Vorgehen erwartet wird, <strong>und</strong> Beherrschte, die Protest<br />

<strong>und</strong> ab <strong>und</strong> zu auch Zustimmung artikulieren. Im Verhältnis von Spitze<br />

zu Apparat wie Beherrschten arbeiten Mächtige dann mit Bitten <strong>und</strong> Wünschen,<br />

mit Überzeugung <strong>und</strong> Verhandlung.<br />

Daß dies die zentrale Tendenz in Industriebetrieben, öffentlicher Verwaltung<br />

<strong>und</strong> Politik, im Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungssystem ist, habe ich 1983<br />

an anderer Stelle beschrieben. Wegen der Kürze der Zeit verzichte ich hier<br />

auf weitere Deskription <strong>und</strong> verweise nur noch auf Daten <strong>und</strong> Analysen von<br />

Dahrendorf (1979) über die Veränderung von Lebenschancen, von Mayntz<br />

zum Zusammenhang von Folgebereitschaft <strong>und</strong> Mitbestimmung, von Fine<br />

über ,,Negotiated Orders and Organizational Cultures". Ich meine auch, daß<br />

Ergebnisse von Kern <strong>und</strong> Schumann über neue Konturen des Sozialcharakters<br />

von Arbeitern so interpretiert werden können, <strong>und</strong> erinnere schließlich<br />

an Untersuchungen von Alber über die Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat<br />

<strong>und</strong> von Korpi über die Rolle der ,,working class in welfare capitalism". Ich<br />

bin der Auffassung, daß die folgende erste Bilanz nicht willkürlich ist:<br />

— der Herrschaftsanspruch der Bürokratie wird im Wirtschaftsbereich, in<br />

der öffentlichen Verwaltung <strong>und</strong> anderen Handlungszusammenhängen<br />

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stark eingeschränkt oder aufgegeben,<br />

— Bürokratien werden auch von innen, von den Angehörigen des Apparates,<br />

ausgehöhlt; statt Folgebereitschaft entsteht Eigenmächtigkeit,<br />

— auf Partizipation zielende soziale Bewegungen fordern mit Unterstützung<br />

der Mehrheit der Beherrschten Hierarchien erfolgreich heraus.<br />

Jedenfalls in der Industrie, der öffentlichen Verwaltung <strong>und</strong> dem Erziehungssystem<br />

findet nicht Ägyptisierung, sondern Enthierarchisierung statt.<br />

Aber es gibt andere Lebensbereiche: das Militär, die multinationalen<br />

Wirtschaftskonzerne, die Strafjustiz <strong>und</strong> die Einrichtungen der Psychiatrie,<br />

Altersheime <strong>und</strong> Intensivstationen. Auch hier kann der deskriptive Teil nur<br />

in Kürze dargeboten werden. Dies ist für das Militär besonders mißlich, da<br />

Verweise schwerer fallen, weil das Militär zu den soziologisch stark unterbelichteten<br />

Organisationen gehört. Lesen wir die eingangs zitierten Sätze<br />

Webers mit Blick auf das Militär noch einmal, so bekommen die Worte<br />

einen neuen Sinn: Das Gehäuse jener Hörigkeit, auf das die Menschen zugehen,<br />

wäre der atomare Käfig <strong>und</strong> die unentrinnbare Bürokratie, die zum<br />

Schicksal des Jahrh<strong>und</strong>erts wird, die Militärbürokratie.<br />

Vergegenwärtigen wir uns Größe, Waffenarsenale, Einsatzpläne <strong>und</strong><br />

durchgeführte Einsätze des Militärs moderner Gesellschaften, so ist es nicht<br />

zu viel zu sagen: Von einer Handvoll Militärführer <strong>und</strong> Militärpolitiker hängen<br />

im Konfliktfall ganze Gesellschaften von nicht kämpfenden Schutzbefohlenen<br />

oder Gegnern, aber auch eigene Offiziere <strong>und</strong> Soldaten ab. Das ist<br />

nicht zu überbietende Hierarchisierung.<br />

Dieser Bef<strong>und</strong> ist erneut festzuhalten, wenn man einzelne Gruppen von<br />

Abhängigen betrachtet. Der Einfluß der Militärs auf Politiker wird allgemein<br />

als hoch eingeschätzt. Militärführer geben ihre Feindbilder an Politiker weiter,<br />

so daß zum Teil absurde Vorstellungen vom Kontrahenten, von seiner<br />

Stärke, seinen Absichten <strong>und</strong> Möglichkeiten existieren. Für den ehemaligen<br />

Staatssekretär von Bülow ist es kein W<strong>und</strong>er, daß Politiker zu verheerenden<br />

Schlußfolgerungen kommen, „wenn in Ost <strong>und</strong> West die Politiker mit den<br />

Militärs in einem Käfig sitzen".<br />

Militärführer bestehen auch erfolgreich auf Hierarchie gegenüber Offizieren<br />

<strong>und</strong> Soldaten. Es hat zwar spätestens seit 1918 auch im Militär einen<br />

Abbau von Herrschaft gegeben, so daß von „kooperativen Führungsstilen"<br />

gesprochen wird, aber anders als in der Industrie <strong>und</strong> Verwaltung ist daraus<br />

eine „Krise der Hierarchie" nicht entstanden. Die Befugnis zu allgemeinen<br />

Befehlen von oben <strong>und</strong> die Kompetenz zu detaillierten Befehlen innerhalb<br />

von Einheiten ist aber unbestritten. Ein Äquivalent zu überbetrieblicher<br />

Mitbestimmung oder zum Einfluß auf die Gestaltung des Arbeitsplatzes<br />

fehlt. Ein Ausbleiben ernsthafter Versuche der Soldaten, gr<strong>und</strong>legende<br />

Änderungen in dieser Organisation zu erreichen, belegt eine andauernde<br />

Akzeptanz von Hierarchie im Militär.<br />

Im Verhältnis zu den Schutzbefohlenen findet man, beispielsweise in<br />

der B<strong>und</strong>esrepublik Deutschland, generelle Zustimmung zur Militärpolitik<br />

<strong>und</strong> zu den Streitkräften. Sie äußert sich in den Zustimmungsquoten von<br />

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70 bis 90 % bei Meinungsumfragen. Nur sehr begrenzt kann von einer Delegitimierung<br />

des Militärs in der B<strong>und</strong>esrepublik gesprochen werden. Sie<br />

zeigt sich in Protesten <strong>und</strong> Aktivitäten von Minderheiten von Schutzbefohlenen.<br />

Zu anderen genannten Organisationen muß ein kurzer Verweis genügen:<br />

Rene König hat 1979 die Rolle multinationaler Konzerne untersucht. Danach<br />

kann von einer Enthierarchisierung hier keinesfalls die Rede sein.<br />

Es gibt also auch eine Reihe von Organisationen, die sich (noch?) auf<br />

der von Weber vorhergesagten Linie entwickeln. Hier laufen in der Tat Prozesse<br />

der Ägyptisierung von Handlungszusammenhängen ab. Ihre wesentlichen<br />

Merkmale gegenüber den durch Enthierarchisierung gekennzeichneten<br />

Organisationen sind:<br />

— Der Apparat akzeptiert Führung <strong>und</strong> führt aus. Verhandlungen finden<br />

nicht statt.<br />

— Die Mehrheit der Beherrschten zeigt keine Unterstützung oder Sympathien<br />

für Aktionen von opponierenden Minderheiten.<br />

In der Bilanz scheint sich allerdings in der Mehrzahl der <strong>gesellschaftliche</strong>n<br />

Handlungszusammenhänge die Tendenz zur Enthierarchisierung<br />

durchzusetzen.<br />

Wie sind die unterschiedlichen Entwicklungen in den verschiedenen<br />

Handlungszusammenhängen zu erklären? Zwei hervorstechende Trends in<br />

der Entwicklung zur Moderne sind ursächlich:<br />

1. ein Trend zur Leistungsangleichung,<br />

2. ein Trend zum Individualismus.<br />

Selbstverständlich treten Abweichungen, auch als Muster von den Trends<br />

auf, <strong>und</strong> es gibt Unebenheiten in den Trends, aber die generellen Trendlinien<br />

sind unübersehbar. Ich möchte hier nur einen Trend, die Leistungsangleichung,<br />

besprechen.<br />

Zunehmende formale Rationalisierung nicht nur von Herrschaft, sondern<br />

auch von allen anderen Handlungszusammenhängen, führte zu einer<br />

Leistungssteigerung, zu besseren Ergebnissen. Denn formale Rationalität<br />

führt zu immer effizienterer Planung, Anlage <strong>und</strong> Durchführung von Prozessen<br />

der Arbeit, Verwaltung, Sozialisation, Sinnstiftung, Verteidigung oder<br />

Verwahrung. Voraussetzung ist allerdings oben <strong>und</strong> unten die Bereitschaft<br />

<strong>und</strong> Fähigkeit zu <strong>und</strong> die Erbringung von Leistungen.<br />

Für die Akteure oben wie unten hatte das eine in ihren Folgen nicht bedachte<br />

Konsequenz: Wer mehr leistet, der wird auch wichtiger; wer wichtig<br />

ist, den hört man auch an, dessen Vorschläge, Wünsche, Verlangen werden<br />

beachtet, <strong>und</strong> damit haben diese Akteure auch Einfluß. Kurz: „Wer die<br />

Arbeit tut, hat den Einfluß", wie Weber einmal bemerkte.<br />

Das gilt in mehrfacher Hinsicht. Einmal von oben: Wer überhaupt Situationen<br />

anbietet, in denen Leistungen von anderen erbracht werden können,<br />

hat schon Einfluß. So hat Dahrendorf (1982, S. 26) recht, wenn er für moderne<br />

Gesellschaften meint, daß „Arbeit (<strong>und</strong> das heißt: Arbeitsplatzangebot,<br />

H.H.) zumindest auch ein Herrschaftsinstrument ist. Wenn sie ausgeht,<br />

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verlieren die Herren der Arbeitsgesellschaft das F<strong>und</strong>ament ihrer Macht".<br />

Unten, am Fuße der Herrschaftspyramide, wurden die Beherrschten in<br />

Westeuropa, nachdem einmal Großorganisationen entstanden waren, die<br />

in Konkurrenz produzierten, immer unentbehrlicher. Die hier verfolgte<br />

These lautet nun, daß der durch Rationalisierungsprozesse ausgelöste technische<br />

Wandel zwar zu einer beispiellosen Leistungssteigerung führte, die<br />

aber ihre Träger in unterschiedlichen Herrschaftslagen fand. In Industrie,<br />

Politik, öffentlicher Verwaltung, Erziehung <strong>und</strong> Bildung nahm die Bedeutung<br />

der Leistungen oben in einem langen Prozeß, dessen Geschwindigkeit<br />

sich beschleunigt hat, permanent ab. Dagegen nahm die Relevanz der Leistungen<br />

unten, also von jenen Akteuren, die anfangs einfach in dieses System<br />

hineingeschoben wurden, deren Leistung früher nur in der Verausgabung<br />

von Körperkraft ohne viel Sinn für den Akteur bestand, immer mehr<br />

zu. Das ist die Gr<strong>und</strong>lage dafür, daß sich Herrschaft in diesen Lebensbereichen<br />

immer mehr wegbewegt vom manipulierten Konsens oder von der<br />

durchgesetzten, aber bestrittenen Definition der Situation hin zur Machtangleichung.<br />

Wie ist es aber zu erklären, daß wir bei der Analyse des Militärs zu<br />

einem anderen Ergebnis kommen? Auch das Militär hat eine zentrale <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Leistung zu erbringen: die Sicherheit vor Angriffen von außen.<br />

Die Formel „Produktion von Sicherheit" wird zwar von Intellektuellen oft<br />

belächelt <strong>und</strong> verspottet, da sie zum abrufbaren Selbstverständnis jedes<br />

Fähnrichs geworden ist, aber zutreffend ist sie für die Beherrschten dennoch.<br />

Produktion von Sicherheit wird von den Beherrschten als real erlebt<br />

in einer Gesellschaft, in der immer irgendwo Krieg ist. Die Bedrohung wird<br />

zunächst einmal von der Mehrheit der Akteure als von anderen Armeen<br />

als der eigenen ausgehend erlebt. Solange das so ist, solange gibt es keine<br />

„Unvereinbarkeit von militärischer Gewalt <strong>und</strong> entwickelter Gesellschaft",<br />

solange ist ein nachhaltiger Delegitimierungsprozeß der „Sicherheitspolitik<br />

oder der Streitkräfte" unwahrscheinlich.<br />

Sicherlich, das Unwahrscheinliche könnte eintreten, wenn Nuklearwaffen<br />

nicht als Sicherheit stiftend angesehen werden, sondern in eine doppelte<br />

Beziehung zum Überlebensproblem „Sicherheit vor Angriffen von außen"<br />

gebracht werden. Nuklearwaffen haben paradoxe Effekte. Sie geben als Abschreckungswaffen<br />

Sicherheit vor Angriffen, aber ihr Besitz fordert möglicherweise<br />

im Konfliktfall auch ihre Anwendung durch den Gegner heraus<br />

mit furchtbaren zerstörerischen Konsequenzen. Dadurch schaffen sie neue<br />

Unsicherheit. Darin liegt ein Potential für Delegitimierung <strong>und</strong> Funktionsverlust<br />

des Militärs mit weitreichenden Folgen für Enthierarchisierungsverläufe.<br />

Dieser Prozeß ist aber noch nicht im Gang.<br />

Militärorganisationen erfahren Legitimität um so mehr, als sie erfolgreich<br />

die territorialen Grenzen ihrer Gesellschaft verteidigen, d.h. Kriege<br />

verhindern oder gewinnen. Sieht man die westlichen Gesellschaften im Zusammenhang,<br />

so hat die Militärelite mit der atomaren Abschreckung zwar<br />

nur — auch in den Auswirkungen auf die eigenen „geschützten" Gesellschaf-<br />

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ten — schreckliche Konzepte zu offerieren, diese haben aber immerhin<br />

seit bald vierzig Jahren den Frieden erhalten. An dieser Tatsache kommt<br />

keine Analyse des modernen Militärs <strong>und</strong> seiner Machtgr<strong>und</strong>lagen in westlichen<br />

Gesellschaften vorbei.<br />

Die Herrschaft der Militärführer über die Soldaten ist ebenfalls bedeutend<br />

<strong>und</strong> mit der Herrschaft von Betriebsleitern <strong>und</strong> Behördenvorgesetzten<br />

nicht zu vergleichen, obwohl nicht übersehen werden darf, daß Soldaten<br />

heute nicht mehr so abhängig sind wie vor h<strong>und</strong>ert oder mehr Jahren. Technisierung<br />

der Armee, die Effizienz von Führungsstrukturen, die Beteiligung<br />

der Soldaten an der Erfüllung von Gruppenaufträgen haben ihre Auswirkung<br />

auch im Militär in Enthierarchisierungsprozessen. Sie sind aber nicht<br />

mit den Prozessen des Machtwandels in Industrie <strong>und</strong> öffentlicher Verwaltung<br />

zu vergleichen, <strong>und</strong> sie werden zum Teil durch neue Hierarchisierung<br />

aufgr<strong>und</strong> von Nuklearbewaffnung ausgeglichen. Denn in einer Armee, die<br />

die äußere Sicherheit mit Kernwaffen zu gewährleisten versucht, für deren<br />

Einsatzbereitschaft eine im Verhältnis zu anderen Armeeteilen kleine Gruppe<br />

von Akteuren erforderlich ist, ist die Leistung der Masse der Soldaten<br />

der Infanterie, Marine <strong>und</strong> Luftwaffe für die Lösung des Sicherheitsproblems<br />

geringer einzuschätzen. Ihre Leistung ist auch nicht mit der anderer<br />

moderner Beherrschter, z.B. von Fabrikarbeitern, zu vergleichen, wenn man<br />

berücksichtigt, daß in Armeen von Wehrpflichtigen Soldaten nie Experten<br />

in ihrer Position werden, wie dies Industriearbeiter sind. Daher finden wir<br />

die Machtkonzentration an der Spitze <strong>und</strong> die Machtlosigkeit der Masse der<br />

Soldaten.<br />

Für die Einflußlosigkeit der Minderheit von Schutzbefohlenen, die in<br />

sozialen Bewegungen gegen die modernen Armeen in westlichen Gesellschaften<br />

antreten, sind die nicht überzeugenden Antworten auf die Frage<br />

nach der Sicherheit vor Angriffen von außen maßgebend.<br />

Ich fasse zusammen: Die unterschiedlichen Leistungsdifferenzen zwischen<br />

den Handlungszusammenhängen der Wirtschaft, der öffentlichen Verwaltung<br />

<strong>und</strong> des Militärs, die wir hier insbesondere betrachtet haben, erklären<br />

daher den unterschiedlichen Grad der Enthierarchisierung. Denn, so<br />

lautet unsere These, die formale Rationalisierung der Lösung von Überlebensproblemen<br />

führt stets zu Hierarchisierung der Akteure eines Handlungszusammenhangs<br />

einerseits <strong>und</strong> zur differentiellen Leistungssteigerung<br />

„oben" <strong>und</strong> „unten" andererseits. Da in der Moderne Herrschaft wesentlich<br />

auf Leistungen gründet, verändern die Leistungsrelationen permanent Herrschaftsverhältnisse.<br />

Wo Machtansprüche nicht mehr von Leistungen gedeckt<br />

werden, kann sich alte, anerkannte Macht nicht lange halten, kann sich<br />

neue Macht der Masse der Beherrschten nicht entwickeln. Wo zur Lösung<br />

von Problemen des Überlebens <strong>und</strong> Besserlebens die erforderlichen Leistungen<br />

unten auf breiter Basis erbracht werden, da ist auch die Gefahr der<br />

Ägyptisierung, der Entwicklung zur formierten Gesellschaft, ganz unwahrscheinlich.<br />

Wo aber die Akteure unten keine bedeutenden Leistungen erbringen<br />

können oder gar jede Partizipation verweigern, da ist Ägyptisierung<br />

reale Gefahr.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


LITERATUR<br />

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Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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DIE MODERNISIERUNG DER ZEIT UND DIE ZEIT NACH DER<br />

MODERNE*<br />

Hanns-Georg Brose<br />

Die Entwicklung zur Moderne <strong>und</strong> in der Moderne soll an der Entwicklung<br />

des modernen Zeitbewußtseins <strong>und</strong> der temporalen Struktur von Lebensläufen<br />

<strong>und</strong> Biographien rekonstruiert werden. Mit Bezug auf die ästhetische<br />

Moderne hat Habermas deren Zeitbewußtsein als ein konstitutives Moment<br />

von Modernität überhaupt gekennzeichnet: „Das neue Zeitbewußtsein,<br />

bringt nicht nur die Erfahrung einer mobilisierten Gesellschaft, einer akzelerierten<br />

Geschichte, eines diskontinuierlichen Alltags zum Ausdruck. In<br />

der Aufwertung des Transitorischen, des Flüchtigen, des Ephemeren, in der<br />

Feier des Dynamismus spricht sich ... die Sehnsucht nach einer unbefleckten,<br />

innehaltenden Gegenwart aus." (Habermas 1980; 447) Der hier angedeutete<br />

Widerspruch zwischen Innovation <strong>und</strong> Verfall, Neuartigem <strong>und</strong><br />

Überdauerndem sowie seine Aufhebung <strong>und</strong> Behandlung in der modernen<br />

Zeiterfahrung könnte ein Leitfaden für das Verständnis von Entwicklungen<br />

in der Moderne sein <strong>und</strong> zur Klärung der Frage beitragen, ob die Moderne<br />

sich gegenwärtig zur Post-Moderne wandelt. Habermas' Kennzeichnung des<br />

modernen Zeitbewußtseins knüpft an die entsprechenden Bestimmungen<br />

bei Baudelaire an, der die „Modernität" als das „Vorübergehende, das Entschwindende,<br />

das Zufällige" gekennzeichnet hatte, deren andere Hälfte<br />

das „Ewige <strong>und</strong> Unabänderliche" sei (1863; 286). Jauß (1970) hat diese<br />

Bestimmung von Modernität als das „Ewige im Vorübergehenden", als den<br />

definitiven Bruch mit einer ästhetischen Tradition bezeichnet, in der die<br />

Qualifikation als „modern" sich immer noch auf das bezogen hatte, wogegen<br />

sie sich absetzte, nämlich die Antike bzw. ihre jeweiligen Renaissancen.<br />

Vorbereitet wurde diese Wendung Baudelaires durch Stendhal, der Romantik<br />

<strong>und</strong> Modernität in eins setzt <strong>und</strong> neu bestimmt: „Romantisch ist jetzt<br />

nicht mehr der Reiz dessen, was das Gegenwärtige transzendiert, zum Wirklichen<br />

<strong>und</strong> Alltäglichen den Spannungspol des Fernen <strong>und</strong> Gewesenen bildet,<br />

sondern das Aktuelle, gerade jetzt Schöne, das als Vergangenes seinen<br />

unmittelbaren Reiz einbüßen muß <strong>und</strong> dann nur noch historisch zu interessieren<br />

vermag" (Jauß 1970; 52).<br />

* Der Titel verspricht mehr, als der Beitrag wegen seiner gebotenen Kürze hier einlösen<br />

kann. Ich habe ihn dennoch so beibehalten, weil er die Intention des gesamten<br />

Beitrags, von dem hier nur der erste Teil verkürzt wiedergegeben ist, andeutet.<br />

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Vergleichbar allenfalls mit dem eminenten Selbstbewußtsein der Denker<br />

der Renaissance wird hier der Beginn einer neuen Epoche umrissen, die sich<br />

dadurch definiert, daß der Faden zwischen der Vergangenheit <strong>und</strong> der Gegenwart<br />

durchschnitten wird. Der Untergang des Ancien regime wird ästhetisch,<br />

programmatisch umgemünzt. Zur Verdeutlichung seines Modernitätsbegriffes,<br />

der das Flüchtige <strong>und</strong> dadurch sich Bewahrende meint, greift<br />

Baudelaire auf das Beispiel der Mode zurück. Sie bringt, als jeweils „letzter<br />

Schrei" der Zeitgenossen deren Flucht nach vorne zum Ausdruck, deren<br />

abenteuerliche Ungewißheit allenfalls dadurch abgefangen wird, daß dieser<br />

dann doch nicht der 'dernier cri' gewesen ist, der die Kraft des innovatorischen<br />

Impulses trägt. Explosion sei eine der Invarianten der Moderne,<br />

heißt es dann später bei Adorno. Walter Benjamin hat Baudelaires Bestimmung<br />

der Moderne auf dessen Erfahrungen in der Großstadt Paris bezogen<br />

<strong>und</strong> sie in dem Begriff der schockförmigen Wahrnehmung zusammengezogen.<br />

Über Simmel bis zu Adorno ist dies ein Fluchtpunkt der Bestimmung<br />

von Modernität geblieben. Die Figuren des Spielers, des Abenteurers, des<br />

Dandy, <strong>und</strong> schließlich des Flaneur kennzeichnen unterschiedliche subjektive<br />

Reaktionsformen auf diese Erfahrung von Reizüberflutung, Beschleunigung<br />

<strong>und</strong> Zufälligkeit. Der Dandy verband „die blitzschnelle Reaktion mit<br />

entspanntem, ja schlaffen Gebaren <strong>und</strong> Mienenspiel". (Benjamin 1980;<br />

600) Eine andere Reaktionsform kennzeichnet den Flaneur. Er protestiert<br />

gegen die Betriebsamkeit. „Um 1840 gehörte es vorübergehend zum guten<br />

Ton, Schildkröten in den Passagen spazieren zu führen. Der Flaneur ließe<br />

sich gern sein Tempo von ihnen vorschreiben. Wäre es nach ihm gegangen,<br />

so hätte der Fortschritt diesen pas lernen müssen. Aber nicht er behielt das<br />

letzte Wort, sondern Taylor, der das 'Nieder mit der Flanerie' zur Parole<br />

machte" (ebd. 556 f.) Diese Formen der Stilisierung von Subjektivität als<br />

Reaktionsform auf die Erfahrung von Moderne haben sich, obwohl, wie<br />

Benjamin andeutet, sie durch die industrielle Entwicklung verdrängt wurden,<br />

als Bezugspunkte für Subjektivitätsformationen erhalten. Gerade in<br />

jüngster Zeit werden sie häufig wehmütig zitiert oder auf zynische Weise, so<br />

in der entsprechenden Abhandlung von Oswald Wiener (1982), neu gestylt.<br />

Was als Zeitbewußtsein der Moderne bezeichnet wurde, bedeutet zweierlei:<br />

zum einen, so bei Stendhal <strong>und</strong> Baudelaire, definiert es ein epochales<br />

Selbstbewußtsein, das sich radikal gegen die bisherige Geschichte abgrenzt.<br />

Dazu mußte aber die Zeit selbst, als Dimension von Erfahrung <strong>und</strong> Selbstbewußtsein<br />

gewissermaßen freigelegt <strong>und</strong> gegen die Sach- <strong>und</strong> Sozialdimension<br />

differenzierbar werden. Dies läßt sich — wiederum im Bereich der<br />

Kunst — nachzeichnen an der Herausbildung einer linearen Erzählperspektive,<br />

in der, wie in der eschatologischen Zeitauffassung des Christentums, Anfang<br />

<strong>und</strong> Ende „beschlossen" sind; dem Aufbrechen dieser geschlossenen<br />

Form <strong>und</strong> der Einführung verschiedener Erzählebenen, an der Lugowski<br />

(1976) erste Formen des Auftretens von Individualität im Übergang vom<br />

höfischen <strong>und</strong> Ritterroman zum frühbürgerlichen Roman festmacht. Seine<br />

entsprechenden Analysen aus dem Bereich der Autobiographik stützen<br />

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diesen Bef<strong>und</strong>, der für das frühe 16. Jh. gilt, ab. Die lineare Erzählperspektive<br />

mit geschlossener Zukunft (Rammstedt 1975) wird zu einer — immer<br />

noch linearen — Entwicklung mit offener Zukunft. An der Entwicklung der<br />

narrativen Figur läßt sich, das ist die zugr<strong>und</strong>eliegende methodische Annahme,<br />

die Entwicklung des Zeitbewußtseins rekonstruieren. Diese Entwicklung<br />

führt über die Ausdifferenzierung von Gleichzeitigkeit (so bei Kleist)<br />

<strong>und</strong> die Infragestellung von Zukunft <strong>und</strong> Finalität, schließlich auch (so bei<br />

L. Sterne) zur Öffnung der Vergangenheit als Dispositionsraum für erzählerische<br />

Linienführung. Herkunft, als individuelle, wird problematisiert,<br />

rätselhaft (so bereits bei Grimmelshausen). Damit werden aber, wenn Anfang<br />

<strong>und</strong> Ende der Geschichte — hier als Erzählung verstanden — ungewiß<br />

sind, die Relevanzen ganz auf die Gegenwart konzentriert, deren modale<br />

Aktualität zwar unbestreitbar ist, die aber den Charakter des Flüchtigen<br />

nicht leugnen kann. Hier greift dann die Entwicklungssemantik, die den<br />

Protagonisten (das bürgerliche Individuum) zumindest mit der Gewißheit<br />

ausstattet, daß er sich entwickeln könne. Auch diese Gewißheit ist in dieser<br />

Form veraltet, wie wir wissen, was sich in der Entwicklung des Romans<br />

nachzeichnen läßt. Die Gewißheit schrumpft nun auf einen Augenblick, in<br />

dem wie in einem riesigen blow-up die Relevanzlinien zusammengezogen<br />

werden <strong>und</strong> sich reproduzieren. Dies läßt sich an den Klassikern des modernen<br />

Romans, Joyce, Musil <strong>und</strong> V. Woolf sehr gut zeigen (vgl. Auerbach<br />

1946, 508/9). Ich habe diese Entwicklungslinie am Beispiel des Romans<br />

über den Zeitpunkt, der durch den Beginn der ästhetischen Moderne bei<br />

Baudelaire gekennzeichnet war, verlängert, um die anfangs benannte Widersprüchlichkeit<br />

moderner Zeiterfahrung: Selbstgewißheit durch Permanenz<br />

der Veränderung, als ein durchgängiges Thema der Entwicklung zur Moderne<br />

<strong>und</strong> in der Moderne zu fixieren. In der Geschichte des Romans deutet<br />

sich an, daß dieser Impuls, wenn er nicht bereits verbraucht oder erlahmt<br />

ist, sich doch zu verheddern scheint. Was an der Entwicklung des Romans<br />

angedeutet wurde, läßt sich an der Entwicklung der Zeitsemantik in der<br />

Philosophie <strong>und</strong> in der Sozialgeschichte ebenfalls aufweisen. Im Mittelalter<br />

scheint — grob vereinfachend ausgedrückt — eine Kompromißbildung stattgef<strong>und</strong>en<br />

zu haben zwischen dem eschatologischen linearen Zeitbegriff der<br />

christlich-religiösen Eliten <strong>und</strong> der zyklischen Zeit, in der vorchristliche<br />

Zeitvorstellungen <strong>und</strong> die Rhythmik der bäuerlichen Produktionsweise verschmolzen<br />

(Hohn 1981). Eine Ausdifferenzierung von Gegenwart <strong>und</strong> Zukunft<br />

gab es nicht; „Zeit" indizierte kein Werden oder Vergehen, sie war<br />

von Gott gegeben (Poulet 1952). Noch vor der Reformation läßt sich bei<br />

den Denkern der Renaissance (Blumenberg 1975) ein deutlicher Umschlag<br />

feststellen. Die Zeit Gottes, die von der Kirche verwaltet wurde <strong>und</strong> in<br />

Ordensregeln <strong>und</strong> dem christlichen Kalender ihre soziale Beispielwirkung<br />

entfaltete, wurde von den neuen Mächten, den Städten <strong>und</strong> Kaufleuten in<br />

Griff genommen. Le Goff (1960) hat diesen Übergang sehr eindringlich beschrieben.<br />

Die protestantische Ethik ist ein weiterer, nach Weber entscheidender,<br />

aber keineswegs der einzige Wegbereiter dieser Entwicklung. Neben<br />

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der religiösen Motivation, durch Askese, Fleiß <strong>und</strong> Sparsamkeit — eben<br />

auch mit der Zeit — sich des gr<strong>und</strong>sätzlich ungewissen Gnadenstandes zu<br />

vergewissern (Habermas 1981; 308) belegen Lehrlings- <strong>und</strong> Kaufmannsalmanache,<br />

aus einer Zeit lange vor Benjamin Franklin den minuziösen Umgang<br />

mit der Zeit, der möglicherweise eher als säkulare Variante einer optimalen<br />

Verwaltung der — nun nicht mehr von Gott gegebenen — Zeit nach<br />

dem Vorbild der Kirche zu verstehen ist. Dagegen begründet die in der protestantischen<br />

Ethik wurzelnde Bemühung um Vergewisserung aber auch<br />

eine spezifische <strong>und</strong> folgenreiche neue Triebökonomie. Die innerweltliche<br />

Askese entwickelte sich in der „Einführung des Zwecks in den Wunsch, wodurch<br />

sinnliches Begehren normativ finalisiert <strong>und</strong> Zeit in die Antithetik<br />

von Automatismus <strong>und</strong> Autonomie hineingespannt wird. ... die wahre Wirklichkeit<br />

der Begierde, so verkündet die Apologie ihrer Negation, besteht in<br />

der Unterwerfung ihrer Gegenwart unter das Gesetz ihrer zukünftigen Vergangenheit."<br />

(Kimmerle 1983; 43) Das ist ein wesentlicher Punkt: Gegenwart<br />

wird finalisiert <strong>und</strong> der in der Gegenwart erlangte Erfolg wird entwertet.<br />

Die Finalisierung auf eine ungewisse Zukunft kann ihr Ziel — im Leben<br />

— nie erreichen. Ad infinitum wird die Notwendigkeit der Vergewisserung<br />

<strong>und</strong> Versagung reproduziert. Gegenwart muß immer wieder neu hergestellt<br />

werden, als Ausdruck der Selbsterhaltung <strong>und</strong> Selbstbehauptung.<br />

„Internalisierung der creatio contunia" nennt das Blumenberg (1976; 185).<br />

Die Übertragung dieser Logik auf das Muster der industriellen Produktion<br />

<strong>und</strong> die damit einhergehenden Formen der Zurichtung von Subjektivität<br />

sind, insbesondere von Thompson (1967), vielfach beschrieben worden.<br />

Allerdings bleibt die Frage, wie ein solches Programm überhaupt auf die<br />

Dauer durchgehalten werden konnte. Meine These ist, daß dies nur geht,<br />

wenn die Unruhestiftung, die aus dieser Verhaltensorientierung resultiert,<br />

gleichsam eingeb<strong>und</strong>en wird durch eine Kontinuitätssemantik, die die permanente<br />

Notwendigkeit der Bewältigung von Kontingenz abfedert. Dies<br />

will ich kurz erläutern an der Entwicklung temporaler Gliederungen von Lebenslauf<br />

<strong>und</strong> Biographie. Kohli hat kürzlich die These vertreten, daß der<br />

Modernisierungsprozeß „ein Übergang von einem Muster der Zufälligkeit<br />

der Lebensereignisse zu einem des vorhersagbaren Lebenslauf" sei (Kohli<br />

1983; 1<strong>35</strong>). Seine These stützt er auf Bef<strong>und</strong>e (u.a. von Imhof 1981), die<br />

die Verlängerung des durchschnittlichen Lebensalters belegen, was insbesondere<br />

auf einen drastischen Rückgang der vorzeitigen Sterblichkeit seit<br />

dem 17. Jh. zurückzuführen sei. Zwar ist die Lebenserwartung auch infolge<br />

der Verbesserung der medizinischen Kenntnisse insgesamt gestiegen, aber<br />

das macht nur einen geringen Teil dieses Effekts aus. Entscheidend ist, daß<br />

die Sterblichkeit sich in den höheren Altersjahren konzentriert, was mit dazu<br />

beiträgt, daß der Tod aus dem Alltag verdrängt wird. Darüber ist bereits<br />

viel geschrieben worden. Als eine Folge dieser Entwicklung wird u.a. gesehen,<br />

daß „wir uns benehmen, als ob wir unsterblich wären" (Imhof). Dies<br />

ist übrigens eines der Phänomene, die den sog. „narzißtischen" Sozialcharakter<br />

zu kennzeichnen scheinen. Das bedeutet nicht nur: Jugendlichkeits-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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kult, sondern auch: Vermeidung von lebensgeschichtlichen Entwicklungen,<br />

die Älter-Werden unwiderlegbar dokumentieren <strong>und</strong> zur Folge haben (z.B.<br />

Verantwortung für Kinder). Aber die Veränderung der Mortalität <strong>und</strong> der<br />

Lebenserwartung — hier nicht als epidemiologischer Begriff verwandt —<br />

ist nur ein von Kohli in Anspruch genommener Beleg. Ein weiterer ist die<br />

Ausdifferenzierung von Altersphasen als Folge der Institutionalisierung<br />

von Lohnarbeit; die Bedeutungszunahme des chronologischen Alters als<br />

Mittel der Askription; Verringerung der Altersdifferenz bei der Erstheirat;<br />

schließlich sozial-versicherungsrechtliche Regelungen, die an das chronologische<br />

Alter geb<strong>und</strong>en sind <strong>und</strong> außerdem die Zukunftsungewißheit für<br />

das Alter mildern. All das habe zu einer Standardisierung der Sequenzialisierung<br />

von Lebensereignissen geführt bzw. zur „Institutionalisierung des<br />

Lebenslaufs als Ablaufprogramm <strong>und</strong> mehr noch als langfristige perspektivische<br />

Orientierung für die Lebensführung". (Kohli 1983; 143) Man wird<br />

diese These mit Blick auf die enormen DeStabilisierungen, Wanderungsprozesse<br />

<strong>und</strong> sozialen Umschichtungen infolge des Industrialisierungsprozesses<br />

<strong>und</strong> insbesondere für unterschiedliche Milieus <strong>und</strong> Klassen diskutieren, in<br />

jedem Fall differenzieren müssen. Ganz von der Hand zu weisen ist sie<br />

nicht, wenn man sie auf die letzten dreißig Jahre in der BRD bezieht. Aber<br />

gerade wenn man diesen Zeitraum als Bezugspunkt wählt, dann lassen sich<br />

seit Mitte der 70er Jahre Entwicklungen erkennen, die sich dem hier<br />

skizzierten Modernitätsschema (Ko<strong>mb</strong>ination von permanenter <strong>und</strong> beschleunigter<br />

Innovation mit begleitender Kontinuitätssemantik (z.B. 'Fortschritt'<br />

<strong>und</strong> 'Anschlußregelungen') nicht mehr fügen. Hierfür lassen sich Belege<br />

aus dem Bereich der Ästhetik <strong>und</strong> der Kulturindustrie beibringen, in<br />

denen eine neue Zeitsemantik erkennbar wird, die weniger durch Akzeleration<br />

<strong>und</strong> Veränderung als durch Reflexivität <strong>und</strong> Dehnung gekennzeichnet<br />

ist. Ähnliches gilt für den Bereich Ökonomie <strong>und</strong> Planung. Gerade hat<br />

Lutz (1984) auf den Zerfall einer täuschenden Kontinuitätssemantik aufmerksam<br />

gemacht. In anderem Zusammenhang habe ich die Entwicklung<br />

neuer sozialer Zeitstrukturen untersucht, die durch die Simultanrepräsentation<br />

von Dauer <strong>und</strong> Diskontinuität charakterisiert sind. Sie weichen von<br />

der bisher dominierenden Linearität der Zeitstrukturen ab. (Brose 1982)<br />

Komplementär dazu lassen sich Tendenzen zur DeStandardisierung <strong>und</strong><br />

Entregelung von Lebensläufen <strong>und</strong> Biographien feststellen, die in der Zeitdimension<br />

als Desynchronisation <strong>und</strong> Suspension beschrieben werden können.<br />

(Brose 1984) Die letztgenannten Aspekte können in diesem Kurzbeitrag<br />

nur genannt werden.<br />

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DIE ZÖGERNDE BEGRÜSSUNG DER MODERNE.<br />

ZU GEORG SIMMELS DIAGNOSE MODERNER LEBENSSTILE.<br />

Georg<br />

Lohmann<br />

Georg Simmeis Verhältnis zur Moderne ist zwiespältig. Auf der einen Seite<br />

analysiert er die Auflösung des Traditionalen als den Entstehungsprozeß<br />

der Moderne <strong>und</strong> zeigt die positiven Chancen der <strong>gesellschaftliche</strong>n Rationalisierung,<br />

der Kultivierung <strong>und</strong> des individuellen Freiheitsgewinnes auf.<br />

Auf der anderen Seite beschreibt er eben diesen Entstehungsprozeß der<br />

Moderne so, daß der durch ihn geformte moderne Lebensstil bis zum Zerreißen<br />

der individuellen Seele expansiv ist, bis zur Tragik sich selbst entfremdend<br />

<strong>und</strong> bis zur tödlichen Indifferenz vom Verlust des Lebenssinnes<br />

bedroht ist. Besondere Aktualität erhält Simmel dadurch, daß er ein sehr<br />

reflektiertes Bewußtsein davon hat, daß sich die A<strong>mb</strong>ivalenz der Moderne<br />

weder unter Rückgriff auf vormoderne Annahmen noch durch die Betonung<br />

von einem Aspekt der Moderne begreifen oder gar auflösen läßt. Bevor<br />

Simmel alle Zeitphänomene unmittelbar auf das spontane, schöpferische<br />

<strong>und</strong> fließende Leben bezog, hatte er in der Analyse der modernen<br />

Lebensstile einen Diagnoseansatz gef<strong>und</strong>en, der auch heute noch Beachtung<br />

verdient.<br />

Der Begriff des „Lebensstiles" markiert den Brennpunkt, auf den, in<br />

1<br />

der Sprache Simmeis, die individuelle Seele, die <strong>gesellschaftliche</strong>n Wechselwirkungen<br />

<strong>und</strong> die subjektive wie objektive Kultur ausstrahlen. Zu diesen<br />

differenzierten Bereichen der Moderne: Gesellschaft, Kultur, Persönlichkeit<br />

steht ein „Lebensstil" in dem für Simmel charakteristischen Zugleich von<br />

Distanz <strong>und</strong> Beziehung. Damit bestimmt Simmel die Stilisierungen des<br />

Lebens — anders als nach ihm Weber (vgl. M. Weber 1976, S. 537) — als<br />

spezifisch modern, als Reaktion auf die Entwicklungen <strong>und</strong> Veränderungen<br />

der Moderne. Dabei zentriert er in einem gewissen Sinne freilich seine Analyse<br />

in der Perspektive der beteiligten <strong>und</strong> betroffenen Menschen; er fragt<br />

nach dem erlebten Sinn <strong>und</strong> Wert dieser Veränderungen. Er behält, trotz<br />

aller betonten Deskriptivität, eine normative Einstellung gegenüber der Moderne<br />

bei, allerdings, ohne dabei mit einem normativen Maßstab zu operieren.<br />

Ist es nur eine Reminiszenz, die ihn zögern läßt?<br />

Ich möchte an dieser Stelle keine Bewertung von Simmeis Diagnoseansatz<br />

versuchen, sondern zunächst nur dessen Struktur verdeutlichen.<br />

Voraussetzung für Simmeis Analyse moderner Lebensstile ist sein allgemeines<br />

<strong>und</strong> formales Schema der Moderne, das wie ein Gr<strong>und</strong>ton alle seine<br />

Einzeluntersuchungen einfärbt . Die Moderne ist danach charakterisiert<br />

2<br />

a) durch Prozesse der Entsubstanzialisierung,<br />

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) durch die Folgen des Verlustes von Endzwecken <strong>und</strong> kulminiert<br />

c) in einen dadurch entstehenden prinzipiellen Relationismus.<br />

Simmel wendet sich gegen die „skeptische Lockerung aller Festigkeiten"<br />

(Simmel in: Landmann 1958, S. 9); mit der programmatischen Forderung<br />

nach einer „neuen Festigkeit" (ebd.; vgl. Simmel 1900, S. 65) innerhalb<br />

eines prinzipiellen Relativismus kündigt sich die Reserve an, die Simmel<br />

dem sich durchsetzenden Prozeß der Moderne entgegenbringt. Dabei orientiert<br />

er sich an zwei Vorstellungen „konkreter Unendlichkeit" (Simmel<br />

1900, S. 85): Für die extensive Unendlichkeit einer unabgeschlossenen Entwicklungsreihe<br />

stehen der Darwinismus <strong>und</strong> Nietzsches Deutung des Entwicklungsgedankens<br />

ein (vgl. Simmel 1907, S. 3); für die intensive Unendlichkeit,<br />

die „immanente Grenzenlosigkeit", ist paradigmatisch eine Deutung<br />

des Kunstwerkes, das seine „innere Wahrheit" in der Wechselwirkung<br />

seiner Elemente untereinander realisiert (s. Simmel 1900, S. 72 f; kritisch<br />

dazu Adorno 1974, S. 559). Simmeis paradoxe Annahme ist, daß sich gerade<br />

wegen der Unbegrenztheit dieser Schemata die Frage nach dem Lebenssinn<br />

beruhigt <strong>und</strong> sich so etwas wie eine relative Stabilität einstellt, die bei<br />

eintretender Problematisierung die Möglichkeit hätte, weiterzumachen <strong>und</strong><br />

eben darin ihre Sicherheit findet.<br />

Simmel dekomponiert die Problemstellung (vgl. Luhmann 1981,<br />

S. 253f); es ist ein wechselseitiges Abgrenzen <strong>und</strong> Aufeinander-Angewiesensein<br />

von heterogenen Komponenten, durch deren Wechselwirkungen sich<br />

eine „beharrende Einheit" soll ergeben können (vgl. Simmel 1900, S. 71<br />

ff.). Überträgt man diese formalen Überlegungen auf das hier anvisierte<br />

Problem, so ist zu fragen, wie ein moderner Lebensstil als die Vernetzung<br />

der Einwirkungen <strong>und</strong> Distanzierungen der Komponenten Gesellschaft,<br />

Kultur <strong>und</strong> Seele noch so etwas wie eine „neue Festigkeit" ausbilden kann,<br />

die sich formal als unabgeschlossene Entwicklung oder als interne Komplexierung<br />

müßte kennzeichnen lassen. Ich kann darauf hier nur exemplarisch<br />

eingehen.<br />

Das Soziale konstituiert sich für Simmel aus den Wechselwirkungen der<br />

Individuen, die zugleich noch etwas anderes als soziale „Rollenträger sind<br />

(Simmel 1908a, in: Simmel 1983, S. 275ff). Dadurch gewinnt ein Individuum<br />

eine relative Freiheit dem Sozialen gegenüber. Das ermöglicht gr<strong>und</strong>sätzliche<br />

Distanz gegenüber allen sozialen Anforderungen, die sich mit der<br />

Modernität der Gesellschaft auf paradoxe Weise steigert. Die Zunahme der<br />

Arbeitsteilung <strong>und</strong> sozialen Differenzierung <strong>und</strong> die Entwicklung der Geldwirtschaft<br />

erhöhen auf der einen Seite die Abhängigkeit des Individuums<br />

vom funktionalen Ganzen der Gesellschaft. Sie reißen es aber auch in den<br />

„Schnittpunkt" mehrerer konfligierender Kreise oder funktionaler Imperative<br />

(vgl. Simmel 1893, S. 385). Dieser Zunahme von Abhängigkeiten <strong>und</strong><br />

Konflikten von <strong>und</strong> mit dem <strong>gesellschaftliche</strong>n Ganzen steht eine immer<br />

größere Unabhängigkeit <strong>und</strong> Indifferenz zu einzelnen, bestimmten Leistungen,<br />

Dingen <strong>und</strong> Personen gegenüber. Simmel deutet sie als Zunahme individueller<br />

Freiheit, die auf ihre Weise für die „Vielheit unserer Abhängigkei-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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ten" entschädigt (Simmel 1900, S. 314). Freiheit nämlich ist für Simmel<br />

„Wechsel der Verpflichtung" (a.a.O., S. 297). Sie ist zunächst Freiheit von<br />

etwas, ohne daß bestimmt ist, wozu die Freiheit führt (a.a.O., S. 444 ff). In<br />

dieser Konstellation ist die sich so forcierende Individualisierung charakterisiert<br />

durch „fortwährende Befreiungsprozesse" (ebd.) <strong>und</strong> gleichzeitig<br />

durch Anstrengungen, der resultierenden Gleichgültigkeit, Langeweile, inneren<br />

Unruhe <strong>und</strong> Entwertung konkreter Inhalte entgegenzuwirken, sich also<br />

neu zu binden.<br />

Aus dieser „tiefe(n) Sehnsucht, den Dingen eine neue Bedeutsamkeit<br />

... zu verleihen", erklärt Simmel „das Suchen nach neuen Stilen, nach Stil<br />

überhaupt" (a.a.O., S. 449). Die Stilisierungen der Lebensweisen sind Ausdruck<br />

einer Selbsterfahrung der Moderne. Zunächst mildern sie den „bis<br />

zum U<strong>mb</strong>rechen zugespitzten" Subjektivismus des modernen Individuums,<br />

weil sie den Lebensäußerungen <strong>und</strong> der Lebensumwelt eine Form von Allgemeinheit<br />

geben (vgl. Simmel 1908b, S. 314). Insbesondere aber sind sie<br />

eine „Verhüllung des Persönlichen" (ebd.), die eine „Schranke <strong>und</strong> Distanzierung"<br />

(Simmel 1900, S. 537) gegen andere <strong>und</strong> anderes errichten.<br />

Der Wert, der einem bestimmten Stil zugeschrieben wird, hängt ab von<br />

der Distanzierung, die er repräsentiert, d.h. nach Simmeis Werttheorie von<br />

den Mühen <strong>und</strong> Opfern, die zur Überwindung des Abstandes nötig wären<br />

(vgl. Simmel 1900, S. 3ff). Simmel löst also das Problem, dem modernen<br />

Leben eine „neue Festigkeit", d.h. Wert <strong>und</strong> Sinn zu ermöglichen, indem er<br />

via seiner Werttheorie an Nietzsches „Pathos der Distanz" anknüpft (s. hierzu<br />

K. Lichtblau 1984, S. 231 ff) <strong>und</strong> in dem Modus der Stilisierung den Lösungsweg<br />

angibt.<br />

Die Distanzierung macht das Nahe fern <strong>und</strong> bringt das Ferne nah (Simmel<br />

1900, S. 534f), ihr Sinn ist die Annäherung (a.a.O., S. 24); die Intention<br />

geht auf Intensität der Beziehung. Obwohl Simmel selber sieht, daß<br />

sich diese Abzweckung des stilhaften Lebens häufiger negativ als positiv in<br />

der Ausgestaltung der Freiheit äußert, hofft er doch, daß der moderne<br />

Mensch durch eine immer weitergehende Stilisierung, durch die rasche Abfolge<br />

von Stilen, paradigmatisch in der Mode (vgl. Simmel 1911, S. 26ff),<br />

<strong>und</strong> durch die Verfeinerung seiner Unterschiedsempfindlichkeit die ätzende<br />

Vergleichgültigung kompensieren kann. Darin liegt sicherlich eine klassenspezifische<br />

Auffassung, die das „Ideal der Vornehmheit" <strong>und</strong> Distanziertheit<br />

für die gebildeten Schichten gegenüber den stillosen Massen der<br />

Arbeiter reklamiert (s. S. Hübner-Funk 1984, S. 195; vgl. auch P. Bourdieu<br />

1982). Es ist dabei aber fraglich, ob Simmel den Optimismus teilt, den er<br />

Nietzsche zuschreibt, daß nämlich die modische <strong>und</strong> beschleunigte Abfolge<br />

moderner Lebensstile als eine Entwicklung zu deuten ist, die „in dem Überw<strong>und</strong>enwerden<br />

jeder Stufe durch eine vollere <strong>und</strong> entfaltetere ... (ihren)<br />

Eigenwert besitzt" (Simmel 1907, S. 5). Die Alternative wäre in Schopenhauers<br />

Diktum zu sehen, daß das moderne Leben nur ein „Pendel zwischen<br />

Schmerz <strong>und</strong> Langeweile" ist <strong>und</strong> die angestrebte Stilisierung des Lebens<br />

nur ein Quietiv gegen seine Gleichgültigkeit <strong>und</strong> Leere.<br />

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Eine weitere Lösungsmöglichkeit ist Kultivierung. Die Kultur aber folgt<br />

nach Simmel einem bestimmten Entwicklungsmuster, das den modernen<br />

Lebensstilen vorgegeben ist. Aus der naturgegebenen Energie der Seele entspringt<br />

ein doppelgleisiger Kulturprozeß: einmal als Produktion kultureller<br />

Objekte, zum anderen als Aneignung dieser objektiven Kultur durch den<br />

subjektiven Geist, als subjektive Kultur (vgl. Simmel 1900, S. 502ff <strong>und</strong><br />

Simmel 1911, S. 183ff). Weil der moderne Kulturprozeß nicht ohne Arbeitsteilung<br />

funktioniert, scheren Tempo, Umfang <strong>und</strong> Eigensinn der objektiven<br />

<strong>und</strong> subjektiven Kultur immer mehr auseinander, es kommt zur<br />

selbstverursachten „Tragödie der Kultur".<br />

Darauf reagiert der moderne Lebensstil u.a. mit Ästhetisierung. Auf<br />

die nicht bedeutungslose, aber „im tiefsten Gr<strong>und</strong>e auch nicht bedeutungsvoll^)"<br />

moderne Kulturwelt reagiert die (inhaltliche) Orientierung am<br />

Künstler. Die Faszination des Künstlerlebens, der Geniekult, die romantische<br />

Suche nach dem authentischen Selbst, alles das sind Facetten einer<br />

Ästhetisierung der Lebensstile, die sich letztlich am expressionistischen Bildungsideal<br />

orientieren. In dieser Linie Hegt auch Simmeis Versuch, durch<br />

ein „individuelles Gesetz" ein authentisches Leben zurückzugewinnen. Eine<br />

andere (mehr formal) angelegte Reaktionsweise ist die mehr oder weniger<br />

vollständige „Ästhetisierung der Lebensgestaltung" (Tenbruck 1958,<br />

S. 590). Die Leistung einer ästhetischen Lebenshaltung liegt nach Simmel<br />

darin, daß sie durch Interesselosigkeit an der inhaltlichen Vielfalt <strong>und</strong> gegenüber<br />

der realen Existenz der Kulturobjekte Distanz wahrt, die aber eben<br />

dadurch selektive Bezugnahmen ermöglicht <strong>und</strong> sich ggf. durch den Genuß<br />

der bloßen Form befriedigt (vgl. Simmel 1900, S. 22ff u. <strong>35</strong>2f; s. a. Hübner-<br />

Funk 1984).<br />

Diese Ästhetisierung kann sich in Blasiertheit <strong>und</strong> Reserviertheit äußern<br />

(vglt Simmel 1900, S. 264ff <strong>und</strong> Simmel 1957, S. 252f). Simmel vergleicht<br />

einen solchen ästhetischen Lebenstypus mit dem des Geizhalses, der Befriedigung<br />

aus der „vollbesessenen Potentialität, die niemals an ihre Aktualisierung<br />

denkt" (ebd.) gewinnt. Es ist die Möglichkeit sich zu kultivieren, die<br />

die ästhetische Freude aufkommen läßt, mithin ist der Lebensstil geprägt<br />

von den Mitteln, die das versprechen. Simmel schätzte die Kultur der Dinge,<br />

insbesondere das stilisierende Kunsthandwerk (vgl. Simmel 1908b), sehr<br />

hoch ein, sie sind ihm „notwendige Vorbedingung für ästhetische Genußfähigkeit"<br />

(Hübner-Funk 1984, S. 190). Aber er sieht auch die Gefahr, daß<br />

die ehrerbietige „Tragödie der Kultur" in die Kommödie von, wie wir heute<br />

sagen können, „Schöner Wohnen" abgleitet. Er läßt offen, ob die Ästhetisierung<br />

des Lebensstiles diese Tragödie kompensieren kann. Er zögert, die<br />

Seele noch „Herr im eigenen (kulturellen) Haus" (Simmel 1900, S. 529) zu<br />

nennen.<br />

Die Seele besitzt für Simmel keine substantielle Einheit (Simmel 1900,<br />

S. 84); sie ist nur durch sy<strong>mb</strong>olische Deutung zugänglich. Sie steht aber<br />

für die hartnäckige Sehnsucht nach Einheit <strong>und</strong> Versprechen auf Lebenssinn<br />

ein (a.a.O., S. 527ff <strong>und</strong> Simmel 1911, S. 184). Die kulturelle Über-<br />

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Produktion <strong>und</strong> die „laute ... Pracht des naturwissenschaftlich-technischen<br />

Zeitalters" betäuben nach Simmel diese Sehnsucht, aber sie machen<br />

sie nicht wirkungsloser.<br />

In den Gestaltungen der Lebensstile schlägt sich dies in der typischen<br />

Nervosität des modernen Menschen nieder. Seine „Hast <strong>und</strong> Aufgeregtheit"<br />

zeigt den „Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele" an <strong>und</strong> treibt „dazu,<br />

in immer neuen Anregungen, Sensationen, äußeren Aktivitäten eine<br />

momentane Befriedigung zu suchen" (Simmel 1900, S. 551). Der Kult des<br />

Gegenwärtigen, des nur flüchtig Präsenten (s. hierzu D.P. Frisby 1984) ist<br />

hiervon ebenso Ausdruck wie die Großstadt der Ort ist, an dem diese „Steigerung<br />

des Nervenlebens" (Simmel 1957, S. 228) sich ausleben kann, wo<br />

Rhythmus <strong>und</strong> Tempo der modernen Lebensstile fluktuieren (Simmel<br />

1900, S. 552ff). Geradezu als eine Definition der Moderne bestimmt Simmel<br />

den „Psychologismus, das Erleben <strong>und</strong> Deuten der Welt gemäß den Reaktionen<br />

unseres Inneren <strong>und</strong> eigentlich als Innenwelt" (Simmel 1911,<br />

S. 152). Die moderne Auflösung der Einheitlichkeit <strong>und</strong> Substanzialität<br />

der äußeren wie der inneren Welt ist aber ohne eine „psychologische Distanzierung<br />

einfach unerträglich"; der moderne, sensible <strong>und</strong> nervöse Großstadtmensch<br />

würde schier verzweifeln, wenn nicht der äußeren Distanzierung<br />

auch eine Distanz nach innen entsprechen würde. Auch hier hat Simmel<br />

eine doppelte Interpretation: Einmal deutet er sie als einen Läuterungsprozeß,<br />

der auf einen Punkt „produktiver Indifferenz" zielt, an dem spontan<br />

Kreativität freigesetzt wird (s. hierzu Böhringer 1984). Zum anderen<br />

empfiehlt Simmel den Nicht-Künstlern in der Moderne, — in einer sehr bemerkenswerten<br />

Tagebuchnotiz — es mit Oberflächlichkeit zu versuchen<br />

(s. Simmel 1923, S. 15). — Nach dieser gerafften Skizze bleibt es für Simmel<br />

offen, ob durch die spezifisch modernen Stilisierungen des Lebens eine<br />

„neue Festigkeit" etabliert werden kann. Daß die Begrüßung der Moderne<br />

nur zögernd ausfiel <strong>und</strong> eine Verdammung nicht zu haben war, sollte die<br />

Aussagekraft der Analyse von Lebensstilen für eine Diagnose der Moderne<br />

nicht schmälern.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Simmel ist wohl der erste, der den kunsttheoretischen Stil-Begriff zum kulturphilosophischen<br />

Lebensstil-Begriff abwandelt. H. Lüdtke 1984 hat den kuriosen Umweg<br />

beschrieben, durch den, via einer Übersetzung von Webers Begriff der „Lebensführung"<br />

als „style of life", der Begriff fälschlich als weberianischer in die dt. Soziologie<br />

(<strong>und</strong> das Hist. Wörterbuch der Philosophie) rückübersetzt wurde.<br />

2 Anders als im Vortrag muß ich dieses formale Schema hier unerläutert lassen.<br />

Es läßt sich auch an der mehr inhaltlich orientierten Studie von D.P. Frisby 1984<br />

verdeutlichen.<br />

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LITERATUR<br />

T.W. Adorno 1974, „Henkel, Krug <strong>und</strong> frühe Erfahrung", in: ders., Ges. Sehr. Bd. 11,<br />

Ffm.<br />

H. Böhringer 1984, „Die 'Philosophie des Geldes' als ästhetische Theorie. Stichworte<br />

zur Aktualität Georg Simmeis für die moderne bildende Kunst", in: Dahme/Rammstedt<br />

1984.<br />

P. Bourdieu 1982, Die feinen Unterschiede, Ffm.<br />

Dahme/Rammstedt 1984, (Hrsg.), Georg Simmel <strong>und</strong> die Moderne. Neue Interpretationen<br />

<strong>und</strong> Materialien, Ffm.<br />

D.P. Frisby 1984, „Georg Simmeis Theorie der Moderne", in Dahme/Rammstedt 1984.<br />

S. Hübner-Funk 1984, „Die ästhetische Konstituierung <strong>gesellschaftliche</strong>r Erkenntnis am<br />

Beispiel der 'Philosophie des Geldes'", in: Dahme/Rammstedt 1984.<br />

K. Lichtblau 1984, „Das 'Pathos der Distanz'. Präliminarien zur Nietzsche-Rezeption bei<br />

Georg Simmel", in: Dahme/Rammstedt 1984.<br />

H. Lüdtke 1984, Methodische <strong>und</strong> theoretische Probleme bei der Untersuchung von Lebensstilen,<br />

paper auf den 22. dt. Soziologentag, Dortm<strong>und</strong> (MS).<br />

N. Luhmann 1981, Gesellschaftsstruktur <strong>und</strong> Semantik, 2. Bd., Ffm.<br />

G. Simmel 1893, Einleitung in die Moralwissenschaft. Eine Kritik der ethischen Gr<strong>und</strong>begriffe,<br />

2 Bde. Berlin.<br />

ders. 1900, Philosophie des Geldes, 7. Aufl., Berlin 1977.<br />

ders. 1907, Schopenhauer <strong>und</strong> Nietzsche. Ein Vortragszyklus, Leipzig.<br />

ders. 1908a, „Exkurs über das Problem: Wie ist die Gesellschaft möglich?" in: ders.<br />

1983, Schriften zur Soziologie. Eine Auswahl. Hrg. v. Dahme/Rammstedt, Ffm.<br />

ders. 1908b, „Das Problem des Stiles", in: Die Kunst, Dekorative Kunst, 11. Jg., 7,<br />

S. 307-316.<br />

ders. 1911, Philosophische Kultur. Neuauflage mit einem Nachwort von J. Habermas,<br />

Berlin 1983.<br />

ders. 1923, Fragmente <strong>und</strong> Aufsätze aus dem Nachlaß <strong>und</strong> Veröffentlichungen der letzten<br />

Jahre. Hrg. v. G. Kantorowicz, <strong>München</strong>.<br />

ders. 195 7, Brücke <strong>und</strong> Tür, Essays des Philosophen zur Geschichte, Religion, Kunst <strong>und</strong><br />

Gesellschaft, hrg. v. M. Landmann, Stuttgart.<br />

ders. 1968, Das individuelle Gesetz. Philosophische Exkurse. Hrg. v. M. Landmann, Ffm.<br />

F. Tenbruck 1958, „Georg Simmel", in: KZfS., 10, S. 587-614.<br />

M. Weber 1976, Wirtschaft <strong>und</strong> Gesellschaft, Studienausgabe, Tübingen.<br />

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Wissen - Orientierung - Handlung*<br />

SUBJEKTIVES ERLEBNIS UND DAS INSTITUT DER KONVERSION<br />

Walter M.<br />

Sprondel<br />

Man kann heute häufig beobachten, daß zur Kennzeichnung von Ereignissen,<br />

Handlungsverläufen oder sozialen Gebilden Ausdrücke an Beliebtheit<br />

gewinnen, die der Sprache der „Religion" entstammen. Dies geschieht sowohl<br />

im vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch als auch in den Sozialwissenschaften.<br />

Die Motive dazu sind natürlich ganz unterschiedlich. Eine solche<br />

Verwendung von Religionsausdrücken kann in der Absicht geschehen,<br />

dem Bezeichneten eine besondere, höhere Bedeutung beizumessen, es aus<br />

dem Bereich des lediglich Profanen herauszuheben, so etwa, wenn eine<br />

bloße Meinung ein Bekenntnis genannt wird. Dahinter kann aber ebenso<br />

die Absicht stehen, das Bezeichnete dadurch verächtlich zu machen, daß es<br />

— mit religiösen Begriffen charakterisiert — aus dem Bereich der modernen<br />

„rationalen Welt" ausgeschieden <strong>und</strong> in die letzten Schlupfwinkel der Irrationalität<br />

verbannt wird.<br />

Ich verweise auf diesen allseits bekannten Sachverhalt, um auf ein Problem<br />

der empirischen religionssoziologischen Forschung aufmerksam zu<br />

machen. Auf der a<strong>mb</strong>ivalenten Haltung zum Vorgang der Säkularisierung<br />

beruhen die Irritationen bei der Verwendung von Begriffen, die ihren Sinngehalt<br />

aus einer Weltdeutung <strong>und</strong> aus einem ihr entsprechenden Bewußtsein<br />

bezogen, das so nicht länger als universell geltend anzunehmen ist. Kurz gesagt:<br />

entweder hat die Religion zusammen mit ihren historischen Gestalten<br />

Von der Veranstaltung, die von der Sektion Sprach<strong>soziologie</strong> im Rahmen dieses<br />

Themenbereichs organisiert wurde, können nur die beiden folgenden Beiträge von<br />

Sprondel <strong>und</strong> Fischer abgedruckt werden. Hans-Georg Soeffner war bedauerlicherweise<br />

daran verhindert, den Text seines Vortrages, der ursprünglich an dieser Stelle<br />

gleichfalls erscheinen sollte, rechtzeitig fertigzustellen. Er wird nun unter dem Titel:<br />

„E<strong>mb</strong>lematische <strong>und</strong> sy<strong>mb</strong>olische Formen der Orientierung" im Sammelband<br />

Sozialstruktur <strong>und</strong> soziale Typik im Campus Verlag 1985 veröffentlicht werden.<br />

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im Prozeß der Modernisierung an Bedeutung eingebüßt <strong>und</strong> überlebt nur<br />

noch als vormoderner Restbestand. Dann wird die Religions<strong>soziologie</strong> zu<br />

einer historischen Disziplin <strong>und</strong> beschäftigt sich — soweit sie Gegenwartswissenschaft<br />

ist — mit peripheren Phänomenen 1 . Oder die Religion hat mit<br />

<strong>und</strong> nach der Säkularisierung neue Gestalt angenommen. Dann ist die theoretische<br />

Frage nach dem Begriff der Religion aufgeworfen — ebenso wie die<br />

empirische, wo sie zu finden ist <strong>und</strong> in welcher Gestalt sie beobachtbar<br />

wird.<br />

Wir haben es hier ganz offenbar mit einer Forschungssituation zu tun,<br />

die sich von der der religionssoziologischen Klassiker deutlich unterscheidet.<br />

Max Weber etwa konnte sich auf die im engeren Sinne soziologisch interessanten<br />

Fragen deshalb relativ umstandslos konzentrieren, weil er von<br />

einem plausiblen Vorverständnis von Religion ausging <strong>und</strong> ausgehen konnte:<br />

den bekannten Weltreligionen. Also galt es, deren „Welterrichtungs- <strong>und</strong><br />

Welterhaltungsleistungen" (Peter L. Berger) zu analysieren, diese in den je<br />

gegebenen Rahmen sozialer Differenzierung einzustellen, um so die Konsequenzen<br />

für das Handeln zu ermitteln. Die historisch bestimmten Gestalten<br />

des Religiösen beherrschen zweifellos nicht mehr in gleichem Maße die<br />

Weltdeutung der Bewohner moderner Gesellschaften. Längst ist klar, daß<br />

wir mit Synkretismus, Privatisierung, Konkurrenz <strong>und</strong> Variabilität der Weltdeutungen<br />

zu rechnen haben. Danach ist die Unbestimmtheit <strong>und</strong> Unsichtbarkeit<br />

der Religion eines ihrer wichtigsten faßbaren Charakteristika.<br />

Die theoretische Religions<strong>soziologie</strong> hat auf diese Lage mit dem Versuch<br />

reagiert, einen Religionsbegriff zu begründen, der sich von den spezifischen<br />

Fassungen der Hochreligionen löst, diese vielmehr als soziale Realisierungsformen<br />

von Religion begreifen läßt. Die dabei unumgängliche Abstraktheit<br />

der Begriffe hat freilich zu zwei gleichermaßen unbefriedigenden<br />

Konsequenzen geführt. Sie hat einerseits zweifellos die empirische Forschung<br />

gelähmt: Wenn man nicht mehr weiß, wo hinzuschauen ist, dann<br />

bewegt man sich bei begrifflichen Verfeinerungen <strong>und</strong> theoretischen Synopsen<br />

auf sicherem Gelände. Sie hat aber auch andererseits zu einer gewissen<br />

Inflationierung des religionssoziologischen Vokabulars geführt, so<br />

daß nicht selten zweifelhaft bleibt, ob auf diese Weise überhaupt ein Gewinn<br />

— <strong>und</strong> gegebenenfalls welcher — damit zu erzielen ist.<br />

Was ist in einer solchen Lage zu tun? Ich möchte auf diese Frage keine<br />

im strengen Sinne theoretische Antwort versuchen. Vielmehr möchte ich<br />

Vorschläge aufgreifen, die bereits mehr oder weniger erfolgreich gemacht<br />

worden sind, <strong>und</strong> diese Überlegungen am Beispiel von „Konversionen"<br />

durchspielen.<br />

Es scheint mir nämlich angesichts der geschilderten Lage unausweichlich,<br />

forschungspragmatisch motivierte Entscheidungen zu treffen über religionssoziologisch<br />

interessante Gegenstände <strong>und</strong> dabei das Risiko des Irrtums<br />

oder Fehlversuchs auf sich zu nehmen. Natürlich ist damit nicht das<br />

Stochern mit langer Stange im Nebel gemeint; immerhin liegt eine erhebliche<br />

Literatur vor, auf die sich das notwendige Vorverständnis ausreichend<br />

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stützen kann. Interessante Untersuchungen sind auch dadurch gelungen,<br />

daß die im vorwissenschaftlichen Sprachgebrauch häufige Bezeichung von<br />

Ereignissen im Religionsvokabular zu Forschungshypothesen umgeformt<br />

wurde. So sind Beichten, Kreuzzüge, Missionen, Priester, Propheten, Klöster<br />

<strong>und</strong> Sekten untersucht worden. Über den Erfolg solcher Unternehmen wird<br />

letztlich entscheiden, ob <strong>und</strong> wie es gelingt, solche Terme begrifflich befriedigend<br />

zu klären <strong>und</strong> durch ihre Verwendung bei der empirischen Analyse<br />

von Sachverhalten einen spezifischen Erkenntnisgewinn zu erzielen.<br />

Einen solchen Versuch möchte ich im Folgenden mit dem Vorgang der<br />

Konversion unternehmen. Die Absicht ist, damit einen spezifischen, von<br />

anderen unterscheidbaren Typus des Zugangs zu bestimmten Vergemeinschaftungen<br />

zu gewinnen, der diesen auch dann als sinnadäquat zugerechnet<br />

werden kann, wenn sie nicht zu den bekannten Typen religiöser Gemeinschaften<br />

i.e.S. (Kirche, Sekte etc.) zugehören, also eher Weltanschauungsgruppen<br />

im landläufigen Sinne darstellen.<br />

Unter den modernen Bedingungen von Glaubensspaltungen, religiöser<br />

Konkurrenz <strong>und</strong> der Ausbildung spezialisierter Rollen <strong>und</strong> Organisationen<br />

sind Vorkehrungen zur Abwehr von Konversionen aus dem eigenen Lager<br />

ebenso verbreitet, wie solche zur Herbeiführung von Konversionen aus den<br />

anderen Lagern. In jüngster Zeit hat das sozialwissenschaftliche Interesse<br />

an solchen Vorgängen bei der Beschäftigung mit den „Neuen religiösen<br />

Bewegungen" erheblich zugenommen <strong>und</strong> eine beträchtliche Literatur hervorgebracht.<br />

Das Folgende beutet diese in vielfältiger Weise aus. 2<br />

Ich werde mich dabei auf den Vorgang selbst konzentrieren, insbesondere<br />

als einen Mechanismus zur Steuerung <strong>und</strong> Regulierung von Interaktionen.<br />

Infolgedessen werde ich die in der empirischen Literatur vorherrschende<br />

<strong>und</strong> wichtige Ejage ganz ausklammern, warum ein Individuum konvertiert.<br />

Es ist nicht die Rede von Personen, Persönlichkeitstypen, auch nicht<br />

von Lebenssituationen, auf die Menschen manchmal, häuf ig.oder typischerweise<br />

mit Konversionen reagieren. Insofern alle diese Momente für das Auslösen<br />

der hier untersuchten Vorgänge bedeutsam sind, setze ich sie schlicht<br />

voraus.<br />

Es ist vielleicht zweckmäßig, mit einer Art definitorischer Bestimmung<br />

zu beginnen, um dann in erläuternden Anmerkungen die Implikationen<br />

herauszuarbeiten.<br />

1. Wissenssoziologisch gesehen, beziehen sich Konversionen (zunächst:<br />

mit Blick auf den Konvertiten) auf radikale Veränderungen der „Struktur"<br />

subjektiver Weltsichten. Sie sind radikal in dem Sinne, daß sie jene Elemente<br />

dieser Weltsicht betreffen, die alle anderen Inhalte in einer (zumeist:<br />

hierarchischen) Struktur der Relevanz ordnen, die also in der Luckmannschen<br />

Theoriesprache das „System of ultimate significance" bilden 3 .<br />

Vollzogene Konversion bedeutet also nicht den theoretisch wie praktisch<br />

kaum vorstellbaren vollständigen Austausch der Inhalte von Realitätsauffassungen,<br />

sondern die Neustrukturierung von alten <strong>und</strong> neuen Inhalten.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Wir wissen, daß auch die schlichte Kenntnisnahme von neuen Inhalten zuweilen<br />

zu U<strong>mb</strong>auten im subjektiven Wissensvorrat führt. Sofern dabei aber<br />

die allgemeinen ordnungsstiftenden Dimensionen unberührt bleiben, wird<br />

man vielleicht von „Lernen", allenfalls von „neuen Erfahrungen", nicht<br />

aber von Konversionen sprechen.<br />

Zur Verdeutlichung: Nahezu alle Berichte von Konvertiten folgen dem<br />

Muster: „Bisher glaubte ich, jetzt endlich weiß ich!" Solche Neustrukturierung<br />

betrifft nicht nur, aber wesentlich die Art der Kausalattribuierung für<br />

Ereignisse im Leben des Konvertiten. Prinzipiell können solche Änderungen<br />

offenbar in zwei entgegengesetzten Richtungen verlaufen: von individualistischen<br />

Zuschreibungen zu kollektivistischen, oder umgekehrt. Im ersten<br />

Fall lautet dann die Formulierung: „Bisher glaubte ich, daß ich selbst immer<br />

alles falsch mache, jetzt weiß ich, daß an meiner Lage die Verhältnisse<br />

schuld sind!" Diese Art der Strukturänderung subjektiver Weltsichten findet<br />

man besonders häufig bei Übertritten zu Gruppen mit weltanschaulich<br />

begründeter politischer Zielsetzung. Die umgekehrte Version, also die Auffassung,<br />

daß die wie immer gefaßten Lebensprobleme eigener falscher Einsicht<br />

<strong>und</strong> eigenem Fehlverhalten zuzuschreiben sind, wurde immer wieder<br />

bei den Neulingen der „Neuen religiösen Bewegungen" beschrieben, ebenso<br />

ist sie für Lebensreformer der Jahrh<strong>und</strong>ertwende <strong>und</strong> danach typisch. 4<br />

2. Mit dieser ersten Festlegung hängt aufs engste zusammen, daß Konversionen<br />

die Existenz einer mehr oder weniger ausgearbeiteten Weltanschauungstheorie<br />

voraussetzen, wie auch eine wahrneh<strong>mb</strong>are Vergemeinschaftung,<br />

die Träger dieser Weltsicht ist. Wenn man so will: Religionsstifter<br />

sind keine Konvertiten, <strong>und</strong> zu den idiosynkratischen Ansichten eines einsamen<br />

Eremiten konvertiert man nicht. Man muß die Existenz einer solchen<br />

Theorie deshalb voraussetzen, weil es sich bei Konvertiten immer um bereits<br />

mehr oder weniger erfolgreich sozialisierte Subjekte handelt, die — per<br />

Implikation — bereits eine Weltsicht internalisiert haben, die ihrerseits auf<br />

sozialen Interaktionszusammenhängen zu ihrer Plausibilisierung aufruht.<br />

(Auch Kinder konvertieren nicht, sie werden möglicherweise „verführt".)<br />

Infolgedessen ist ein erheblicher Artikulationsaufwand zur Begründung der<br />

Wandlung notwendig, sich selbst, den früheren, nicht zuletzt aber auch den<br />

neuen Glaubensgenossen gegenüber.<br />

3. Es sind also die hier gemeinten Gruppen etwas näher zu kennzeichnen.<br />

Was heißt mit anderen Worten — Weltanschauungsgruppen? Dabei steht an<br />

dieser Stelle nicht so sehr ihre organisatorische Struktur in Rede, die überdies<br />

erheblich variiert, wie eine jüngst erschienene, vergleichende Studie<br />

noch einmal schön demonstriert 5 . Vielmehr geht es mir um den Kern, das<br />

Ziel dieser Gruppen selbst <strong>und</strong> um einige sich daraus ergebende Probleme,<br />

auf die u.a. die spezifische Art des Zugangs zu ihnen in Form von Konversionen<br />

sinnhaft (funktional) bezogen ist.<br />

Hierher gehört natürlich in erster Linie das angestrebte „Heilsziel", also<br />

das, was den Anhängern in Aussicht gestellt wird. Mir scheint in der Tat,<br />

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daß sich dies allgemein formulieren läßt. Gruppen der hier gemeinten Art,<br />

von den neuen religiösen Bewegungen — seien sie nun östlicher oder sonstiger<br />

Provenienz — über die historische Lebensreform der Jahrh<strong>und</strong>ertwende,<br />

bis zu ihren aktuellen Nachfahren: Sie alle verheißen „Einheit", die Erlösung<br />

aus der Zerrissenheit, die Aufhebung der zersplitterten Lebenswelt, die<br />

Ordnung in der Zersplitterung. Dieser durchgängigen Verheißung entspricht<br />

offenbar das am häufigsten genannte, dauerhafteste Motiv bei den Anhängern<br />

auf das genaueste: Es ist die Suche nach dem einen Sinn, der den Teilen<br />

der äußeren <strong>und</strong> inneren Welt ihren angemessenen Platz in einem „Ganzen"<br />

zuweist. Unterschiede zwischen den Gruppen beziehen sich weitgehend<br />

auf die Mittel, auf die diagnostizierten Ursachen der „Sinnferne" <strong>und</strong><br />

infolgedessen auf ihre Überwindung <strong>und</strong> deren Begründung. Soweit dies<br />

zutrifft, haben wir hier offensichtlich das vor uns, was in der theoretischen<br />

Literatur die „Kosmisierung" (Berger), „heiliger Kosmos" (Luckmann)<br />

oder „conceptions of a general order of existence" (Geertz) genannt wird,<br />

mithin den konstituierenden Kernbestand von Religion.<br />

Freilich: diese Ordnung ist zunächst eine theoretische, verheißene. Ihre<br />

objektive, für jedermann erfahrbare Realisierung ist nur vorstellbar, wenn<br />

genügend viele, tendenziell natürlich alle Menschen den empfohlenen Heilsweg<br />

beschreiten. Nun ist dies ein Ziel, dessen Erreichen höchst unwahrscheinlich<br />

ist, als Erfolgskriterium also zu riskant, wenn nicht gänzlich unbrauchbar.<br />

Dieses Ziel wird daher überall ersetzt durch das „individuelle<br />

Erlebnis" der Ordnung der Welt, insbesondere der Einheit der Person, eine<br />

Verschiebung, die jener ähnelt, welche die puritanischen Sekten aufgr<strong>und</strong><br />

der „unbrauchbaren" harten Prädestinationslehre vornahmen. Auf diese<br />

6<br />

Weise wird die Zerrissenheit der Welt zwar nicht als solche beseitigt, aber<br />

für den, der dieses Erlebnis der Einheit in sich zu erzeugen weiß, verliert<br />

die fortbestehende Zerrissenheit der Welt ihre Schrecken, insofern sie auf<br />

die fehlende Einsicht anderer zurückgeführt werden kann.<br />

Daraus ergibt sich eine Problemlage, auf die die fraglichen Gruppen reagieren<br />

müssen. Erfahrungsgemäß sind nämlich Erfolgsbeweise für die dauerhafte<br />

Legitimation einer Lehre unerläßlich. Angesichts des prinzipiell freiwilligen,<br />

d.h.: selbst zu verantwortenden Beitritts der Mitglieder <strong>und</strong> angesichts<br />

der erheblichen Konkurrenz dieser Gruppen untereinander genügt offenbar<br />

der exemplarische Erfolgsbeweis durch religiöse Virtuosen, etwa des<br />

Kernpersonals, nicht. Unter diesen Bedingungen ist eine stabile Loyalitätssicherung<br />

ein Dauerproblem, das dadurch noch verstärkt wird, daß der Erfolgsbeweis<br />

in das individuelle Erleben der Mitglieder verlegt werden muß,<br />

also in eine höchst unzuverlässige Instanz. Die Beschreibungen hier in Frage<br />

stehender Gruppen bieten zahllose Belege für die lähmende Wirkung einer<br />

Konzeption, in der dem individuellen Erleben der Rang einer nicht hintergehbaren<br />

Instanz zugesprochen wird. Eine solche prekäre Lage läßt sich nur<br />

dann einigermaßen unter Kontrolle bringen, wenn es gelingt, das Erleben<br />

selbst zu objektivieren <strong>und</strong> in entsprechenden Verfahrensabläufen („Riten")<br />

zu institutionalisieren.<br />

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Die skizzierte Problematik hat weit darüber hinausreichende Implikationen,<br />

die hier zu entfalten unmöglich ist. Es kommt mir an dieser Stelle<br />

nur darauf an, deutlich zu machen, daß die überall zu beobachtenden Arrangements<br />

zur Kontrolle des individuellen Erlebens nicht unbedingt zynisch<br />

inszenierte Taktik sind, sondern auf schwer hintergehbare Probleme<br />

solcher Gruppen verweisen: an erwartbare, insofern objektivierte Erlebnisse<br />

<strong>und</strong> zugleich an ja nur individuell ratifizierbare Erlebnisse appellieren zu<br />

können.<br />

Erst damit scheint ausreichend argumentativ vorbereitet, worum es hier<br />

geht: die Untersuchung des typischen Arrangements des Zugangs zu Weltanschauungsgruppen<br />

in Form von Konversionen als eines aus strukturellen<br />

Gründen hervorgehenden Kontrollmechanismus individuellen Erlebens.<br />

4. Aus strukturellen Gründen als funktional behauptete Mechanismen müssen<br />

zunächst in ihrem typologisch verdichteten Ablauf analysiert werden.<br />

Dazu finden sich in der einschlägigen Literatur mehrere Konversionsmodelle,<br />

die — da sie an Einzelfällen abgelesen sind — mehr oder weniger voneinander<br />

abweichen. Bei ihrem Vergleich drängt sich der Eindruck auf, daß<br />

es dabei auch nicht so sehr auf ganz bestimmte Ereignisse <strong>und</strong> deren exakte<br />

Reihenfolge ankommt. Daher will ich diese Modelle hier auch gar nicht erst<br />

referieren, so brauchbar sie unter Umständen für bestimmte Zwecke sein<br />

können. Stattdessen will ich sogleich auf das Urmodell der Konversion zu<br />

7<br />

sprechen kommen, mit dessen wesentlichen Aspekten übrigens die modernen<br />

Modelle durchaus übereinstimmen. Dieses Urmodell ist natürlich die<br />

Bekehrung des Saulus zum Paulus; es findet sich im 9. Kapitel der Apostelgeschichte<br />

des NT. Eine wirkliche Analyse der Apostelgeschichte kann hier<br />

natürlich nicht einmal in Umrissen versucht werden, so faszinierend deren<br />

Lektüre bei der Untersuchung typischer Problemlagen eines sich neu etablierenden<br />

Bekenntnisses ist. Ich werde daher nur drei mir wesentlich erscheinende<br />

Aspekte hervorheben, die in diesem Modell auf einzigartige<br />

Weise miteinander verwoben sind.<br />

Ich setze als bekannt voraus, daß Saulus eine Art Kopfjäger auf Christusanhänger<br />

im Dienst des Jerusalemer Tempels war <strong>und</strong> daß in der Geschichte<br />

beschrieben wird, auf welche Weise er zu einem der erfolgreichsten<br />

Prediger für die christliche Gemeinde wurde.<br />

Die drei genannten Aspekte der Geschichte, die hier interessieren, weil<br />

sie in offenbar klassischer Weise die Konversationssituation ausdrücken,<br />

sind diese:<br />

— eine emotionale, ja existentielle Erschütterung, in diesem Fall auf typisch<br />

biblische Weise herbeigeführt durch Lichtblitz, Stimmen, Erblindung;<br />

— die Deutung dieser Erschütterung als direkte Berufung durch Gott selbst<br />

in das Apostelamt durch einen Mittler, der bereits der christlichen Gemeinde<br />

zugehört;<br />

— <strong>und</strong> schließlich die Überwindung des Mißtrauens gegen den Konvertiten<br />

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in der christlichen Gemeinde, d.h. also die Schaffung einer tragfähigen<br />

Basis für Interaktionen in der Gemeinde, wozu nicht zuletzt auch die<br />

Neubestimmung des Verhältnisses zu seinen ehemaligen Auftraggebern<br />

gehört.<br />

Worauf es mir ankommt, ist dies:<br />

Die außeralltäglich erzeugte Erregung <strong>und</strong> Erschütterung ist der Auslöser,<br />

der Anlaß, der zur inneren Wandlung <strong>und</strong> dem Überdenken des Lebens<br />

— heute würden wir wohl sagen: zur biographischen Rekonstruktion —<br />

„zwingt". Aber erst nachdem sie bereits in Termen der neuen Lehre interpretiert<br />

ist, also unter Kontrolle gebracht ist, „fiel es ihm wie Schuppen von<br />

den Augen" <strong>und</strong> Paulus wird im Wortsinn wieder sehend. Das bedeutet, daß<br />

das bisherige Leben in seiner Kontinuität mit dem neuen Ereignis verknüpft<br />

ist. Die Probleme beginnen für ihn, als er der neuen Lehre entsprechend zu<br />

handeln, in diesem Fall zu predigen beginnt: Die Interaktionsmöglichkeiten<br />

mit den Bewohnern der alten Welt, den jüdischen Funktionären, sind<br />

radikal abgeschnitten, sie trachten ihm nach dem Leben. In der neuen Gemeinde<br />

kann er nicht ohne weiteres Zuflucht finden, sie zweifelt an der<br />

Glaubwürdigkeit <strong>und</strong> Ernsthaftigkeit seiner Wandlung. Wieder ist es ein Vermittler,<br />

der die Brüder überzeugt, <strong>und</strong> zwar unter ausdrücklichem Hinweis<br />

auf die erfahrene Erschütterung durch Blitz <strong>und</strong> Donner. Erst dadurch<br />

findet er einen neuen Verkehrskreis, erst jetzt nimmt er den neuen Namen<br />

Paulus an.<br />

Festzuhalten wäre danach: das durch Interpretation in Termen der<br />

neuen Lehre unter Kontrolle gebrachte <strong>und</strong> insofern sozial wirksam gewordene<br />

„innere Erlebnis" einerseits, <strong>und</strong> die Beendung der Handlungsmöglichkeit<br />

in der alten Welt wie die Eröffnung der Handlungsmöglichkeit in der<br />

neuen Gemeinde eben durch dieses so kontrollierte Erlebnis.<br />

Mir scheinen damit die in soziologischer Perspektive entscheidenden<br />

Merkmale von Konversationsvorgängen bezeichnet. Das Folgende will dies<br />

nur durch einige Bemerkungen in anderer Terminologie ergänzen <strong>und</strong> erläutern.<br />

5. Die Veränderung der Struktur subjektiver Weltsichten ist immer auch<br />

begleitet von der Änderung der sozialen Verkehrskreise, der signifikanten<br />

Anderen, die zur Bestätigung, Festigung <strong>und</strong> Plausibilisierung von Weltsichten<br />

unerläßlich sind. Gerade bei Veränderungen der strukturbildenden Relevanzen<br />

im subjektiven Wissen entsteht eine erhöhte Nachfrage an Glaubwürdigkeit<br />

<strong>und</strong> Ernsthaftigkeit, die ihrerseits nicht einfach darstellbar ist. Die<br />

Interaktionsmöglichkeiten zwischen signifikanten <strong>und</strong> sonstigen Anderen<br />

<strong>und</strong> dem Konvertiten hängen wesentlich davon ab, ob die beanspruchte<br />

Wandlung als ernsthaft, glaubwürdig <strong>und</strong> dauerhaft zu unterstellen ist, oder<br />

als vorübergehende Laune, oder gar — unter bestimmten Umständen — als<br />

eine aus strategischen Gründen, etwa der Ausforschung, nur vorgetäuschte.<br />

Dieses Darstellungsproblem besteht für den Konvertiten in mindestens dreifacher<br />

Hinsicht: Es besteht gegenüber dem eigenen Selbst, es besteht gegen-<br />

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über den früheren signifikanten Anderen <strong>und</strong> es besteht gegenüber den<br />

neuen signifikanten Anderen.<br />

An dieser Stelle haben nun auch die immer wieder berichteten emotionalen<br />

Erschütterungen bei Konversionen ihren funktionalen Sinn: Durch sie<br />

verliert nämlich die Wandlung den Charakter kalter Berechnung oder freier<br />

Entscheidung, die prinzipiell auch anders hätte ausfallen können. Sie besiegeln<br />

für den Konvertiten den Bruch mit der Vergangenheit als eine unausweichliche<br />

Notwendigkeit. Ein durch „innere Gewalt" erzwungener Abbruch<br />

der Beziehungen ist für die früheren Interaktionspartner ein zwar<br />

nicht immer zu billigender, zumindest aber verständlicher Gr<strong>und</strong> für die<br />

Veränderung. Und für die Mitglieder der neuen Gemeinschaft kann der<br />

8<br />

emotionale Schock als Beweis dafür gelten, daß dem Konvertiten zu trauen<br />

ist, daß sich die notwendigen noch ausstehenden Maßnahmen der Belehrung<br />

<strong>und</strong> Festigung der neuen Weltsicht lohnen.<br />

Das Durchlaufen des Vorgangs der Konversion hat also für den Konvertiten<br />

<strong>und</strong> seine Interaktionspartner vor allem den Sinn, die prekäre Ernsthaftigkeit<br />

<strong>und</strong> Glaubwürdigkeit seines Sinneswandels verläßlich zum Ausdruck<br />

zu bringen. Der Vorgang als solcher bedeutet daher auch nicht die bereits<br />

vollzogene Übernahme der neuen Weltsicht. Insoweit ist die zu Beginn<br />

referierte Festlegung zu modifizieren. Die Konversion ist aber der als verläßlich<br />

geltende Gr<strong>und</strong>, auf dem die Interaktionen errichtet werden können,<br />

die aus einem Konvertiten ein Vollmitglied der neuen Gemeinschaft<br />

werden lassen können.<br />

6. Und schließlich: was soll heißen, daß ein typisierter Vorgang mit angebbaren<br />

Funktionen als institutionalisiert gelten kann?<br />

Bei näherem Hinsehen zeigt sich, daß man es als allgemein verbreitetes<br />

Wissen auffassen muß, daß man zu Weltanschauungsgemeinschaften der beschriebenen<br />

Art einen angemessenen <strong>und</strong> verständlichen Zugang nur auf die<br />

Art der Konversionen finden kann. Dieses Wissen gehört zum allgemeinen<br />

Wissensvorrat auf ähnliche Weise, wie man weiß, was man im Falle von<br />

Krankheiten zu tun hat. Tiefgreifende Veränderungen der operativen Relevanzsysteme<br />

— das weiß man — „erfordern" Konversionen, <strong>und</strong> jedermann<br />

weiß, daß Konversionen tiefgreifende <strong>und</strong> nur schwer reversible Wandlungen<br />

darstellen, <strong>und</strong> schließlich weiß man auch, daß es völlig unangemessen<br />

wäre, weniger bedeutsame Bewußtseinsänderungen als Konversionen zum<br />

Ausdruck zu bringen.<br />

Dieses allgemeine Wissen umfaßt in der Regel nicht die Kenntnis der<br />

Einzelheiten des Vorganges: diese mögen selbst für den Konvertiten zu Beginn<br />

des Prozesses im Dunkeln liegen. Was dieser Vorgang im einzelnen bedeutet,<br />

wissen aber die Lehrer der neuen Weltsicht oder diejenigen alten<br />

Mitglieder der Gemeinschaft, die den Prozeß selbst durchlaufen haben.<br />

Auch diese erwarten vom Neuling einen glaubwürdigen „Beweis" seiner<br />

wirklichen Überzeugung. Er wird erbracht im Durchlaufen eines Prozesses<br />

der genannten Art. Ein wesentlicher Aspekt der Initiation besteht gerade<br />

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darin, die Zugehörigkeit zur neuen Weltsicht als das Ergebnis einer Konversion<br />

zu interpretieren. In diesem Sinne ist der Zugang zu Weltanschauungsgruppen<br />

als Konversion institutionalisiert. Wie es als selbstverständlich gilt,<br />

einem Sportverein durch schlichtes Ausfüllen eines Formulars <strong>und</strong> Zahlung<br />

einer Gebühr beizutreten, so gilt es als angemessen <strong>und</strong> ist daher auch für<br />

andere verstehbar, zu einer Weltsicht <strong>und</strong> der sie tragenden Gemeinschaft<br />

in Form einer als Konversion erlebten Wandlung Zugang zu finden.<br />

In dieser Perspektive löst sich eine Schwierigkeit jener zahlreichen, in<br />

der Literatur beschriebenen Konversionsmodelle, die diese aus dem Zusammenwirken<br />

verschiedener situativer <strong>und</strong> personaler Faktoren hervorgehen<br />

lassen. Deren empirische Variation erweist sich immer wieder als unüberwindliches<br />

Hindernis bei dem Versuch der Formulierung generalisierter<br />

Faktorenmodelle. Versteht man aber den zuvor geschilderten Ablauf als<br />

typologische Verdichtung, als angemessene Institutionalisierung des Zugangs<br />

zu Weltanschauungsgruppen, wird verständlich, warum die Schilderungen<br />

der Mitglieder dieser Gruppen über ihren Zugang so konstant <strong>und</strong><br />

gleichförmig mit dem Typus der Konversion folgen, gleichviel wie groß die<br />

Variation der sonst ins Spiel kommenden Faktoren sein mag. Man darf sich<br />

hier nicht durch den die Spontaneität betonenden Sprachstil täuschen lassen:<br />

Diese Schilderungen folgen einem institutionalisierten Muster, das sich<br />

typologisch <strong>und</strong> in seiner funktionalen Bedeutung nachzeichnen läßt, auch<br />

dann, wenn die Konvertiten ihre Wandlung als hochindividualisierten, inneren<br />

Vorgang erleben <strong>und</strong> schildern.<br />

Damit breche ich hier diese Skizze ab, um noch einmal auf meinen anfangs<br />

formulierten Vorschlag zurückzukommen, in der empirischen religionssoziologischen<br />

Forschung am Beginn pragmatische Entscheidungen zu treffen.<br />

Die Schlußfolgerung ist nun simpel: Folgt man der theoretischen Religions<strong>soziologie</strong>,<br />

wie ich es hier tue, bezeichnet also die Ordnungsdimension von<br />

Weltsichten (sowohl in ihrer objektivierten Version als auch in ihrer subjektiven<br />

Repräsentanz) als F<strong>und</strong>amentalform der Religion, <strong>und</strong> lassen sich<br />

Konversionen als typische Zugangsformen zu Gemeinschaften nachweisen,<br />

hat man Religionsphänomene vor sich. Zugegeben: damit fängt die Sache<br />

dann erst richtig an. Aber sie fängt mit ausgewiesenen Gründen an, <strong>und</strong> das<br />

ist mehr, als heute in der Forschung gang <strong>und</strong> gäbe ist.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 Peter Berger and Thomas Luckmann: „Sociology of Religion and Sociology of<br />

Knowledge.", Sociology and Social Research 47 (1963), p. 417-427.<br />

2 Vgl. etwa James T. Richardson (Ed.): „Conversion and Commitment in Contemporary<br />

Religion." American Behavioral Scientist 20 (1977), Special Issue No. 6; Max<br />

Heirich: „Change of Heart. A Test of some widely held Theories about Religious<br />

Conversion", Amer. Journ. Sociol. 83 (1977), pp. 653-677; David A. Snow and<br />

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Richard Machalek: „The Convert as a Social Type", in: Randall Collins (Ed.):<br />

Sociological Theory, 1983. San Francisco (Jossey-Bass) 1983, pp. 259-289.<br />

3 Thomas Luckmann: The Invisible Religion. The Problem of Religion in Modern<br />

Society. New York (MacMillan) 1967.<br />

4 Vgl. die ausführlichen Interviewzitate bei Snow <strong>und</strong> Machalek, op. cit. Die Zeitschriften<br />

der verschiedenen Gruppen der deutschen Lebensreform, sind voll von derartigen<br />

Schilderungen.<br />

5 Kenneth Jones: Ideological Groups. Similarities of Structure and Organization.<br />

Aldershot (Gower) 1984.<br />

6 Max Weber: „Die protestantische Ethik <strong>und</strong> der Geist des Kapitalismus", in: Gesammelte<br />

Aufsätze zur Religions<strong>soziologie</strong>, Bd. 1. Tübingen (J.C.B. Mohr) 1920.<br />

7 Vgl. die in Anm. 2 angeführte Literatur.<br />

8 Dem entspricht, daß die in den sog. Anti-Cult-Movements aktiv werdenden Eltern<br />

von jugendlichen Konvertiten gerade diese innere Gewalt bestreiten <strong>und</strong> die Anwendung<br />

von „äußerer Gewalt" durch die neuen Sekten bei ihrer Mitgliederrekrutierung<br />

behaupten. Vgl. dazu Bert Hardin <strong>und</strong> Günther Kehrer: „Some Social Factors<br />

Affecting the Rejection of New Belief Systems", in: Eileen Barker (Ed.): New Religious<br />

Movements. A Perspective for Understanding Society. New York (Mellen)<br />

1982.<br />

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SOZIALE UND BIOGRAPHISCHE KONSTITUTION CHRONISCHER<br />

KRANKHEIT<br />

Wolfram<br />

Fischer<br />

I. Sozio-biographische Erweiterung des „relationalen Krankheitsmodells" 1<br />

Die Rekonstruktion einiger sozialer <strong>und</strong> biographischer Konstitutionselemente<br />

chronischer Krankheiten, die ich hier in diesem Beitrag anziele, geht<br />

von Voraussetzungen aus, die mittlerweile Allgemeingut medizin-soziologischer<br />

<strong>und</strong> sozial-epidemiologischer Forschung sind, die sich andererseits<br />

weder ges<strong>und</strong>heitspolitisch noch (schul-)medizinisch auch nur annähernd<br />

durchgesetzt haben. Es geht allgemein darum, daß eine rein somatische Auffassung<br />

von Krankheit mit der ihr entsprechenden naturwissenschaftlichen<br />

biomedizinischen Pathologie <strong>und</strong> Heilkunst zu kurz faßt. Auf den drei<br />

Ebenen der Ges<strong>und</strong>erhaltung, der Krankheits<strong>entwicklung</strong> <strong>und</strong> der Krankheitsbewältigung<br />

spielen soziale <strong>und</strong> psychische Faktoren eine erhebliche<br />

Rolle. Nicht nur für die Prävention oder die Rehabilitation — letztere<br />

nimmt per definitionem innerhalb chronischer Krankheiten einen großen<br />

Raum ein — haben soziale Bedingungen eine große Bedeutung, sondern<br />

auch als Elemente der Krankheitsentstehung. Soziogenetische Erklärungen<br />

erweitern oder bestreiten medizinisch-pathogenetische Modelle, zu mikrobiologischen<br />

„Stressoren" treten quasi gleichberechtigt soziale Stressoren. 2<br />

Die ziemlich umfangreichen empirischen Untersuchungen der sozial-epidemiologischen<br />

Forschung haben unabweisbare Belege geliefert, die hier nicht<br />

zu präsentieren sind oder wiederholt zu werden brauchen.<br />

In einem „relationalen Krankheitsmodell" versuchte der Medizinhistoriker<br />

Karl Rothschuh eine Krankheitsdefinition zu entwickeln, die diesen<br />

Gegebenheiten Rechnung trägt. Das Modell erscheint mir als Orientierungshintergr<strong>und</strong><br />

für die eigenen spezielleren Überlegungen nützlich, weswegen<br />

ich es kurz skizziere. Rothschuh konstruiert ein Interaktions-Dreieck aus<br />

den Größen „Patient" — „Arzt" — „Gesellschaß", in dessen Mitte „Krankheit"<br />

steht.<br />

Patient<br />

Versorgungsorganisationen<br />

Gesellschaft<br />

Uni-Medizin<br />

Arzt<br />

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Wichtig ist dabei, daß Krankheit ein perspektivischer Begriff bleibt, sie ist<br />

also etwas anderes für den Patienten als für den Arzt <strong>und</strong> wiederum verschieden<br />

aus <strong>gesellschaftliche</strong>m Blickwinkel. Der Patient erleidet Einschränkungen<br />

seines Wohlbefindens <strong>und</strong> seiner üblichen Handlungskapazität. Was<br />

dabei letzlich in seiner „Laiendefinition" als Krankheit angesehen wird, unterliegt<br />

einem gewissen Interpretationsspielraum, der noch im Vor-Patienten-Stadium<br />

in gemeinsamen alltagsweltlichen prä-diagnostischen Bemühungen<br />

unter Familienmitgliedern, Bekannten oder Arbeitskollegen durchschritten<br />

wird. Wird in einem solchen Feststellungsprozeß „Krankheit" als<br />

Ursache der erfahrenen Einschränkungen angenommen, geht in modernen<br />

Gesellschaften die weitere diagnostische <strong>und</strong> therapeutische Legitimität an<br />

den Arzt. Aus dessen Perspektive ist Krankheit Resultat somatischer Fehlfunktionen,<br />

nach bio-physischen Merkmalen diagnostizierbar <strong>und</strong> je nachdem<br />

durch therapeutische Interventionen kontrollier- oder heilbar. Es ist<br />

wichtig, sich klarzumachen, daß in den zivilisierten Gesellschaften, die ein<br />

medizinisches Handlungs- <strong>und</strong> Wissenssystem professionell ausgebildet haben,<br />

die primäre Definitionslegitimität über Krankheit beim Arzt, bzw. in<br />

den zwischen Arzt <strong>und</strong> Patient stehenden Institutionen der Krankenpflege<br />

(z.B. Krankenhaus, medizinische Praxis) liegt. Die Gesellschaft — besser <strong>gesellschaftliche</strong><br />

Organisationen — haben hier dem Arzt ein weitreichendes<br />

Mandat zugebilligt, um das der „subjektiv-vermeintliche" Kranke nicht<br />

herumkommt, wenn er öffentlich als Kranker anerkannt werden will <strong>und</strong><br />

bestimmte Privilegien (wie etwa Arbeitsbefreiung, Berentung oder Leistungen<br />

aus Organisationen der Krankenversorgung) in Anspruch nehmen will.<br />

Schließlich hat jede Gesellschaft spezifische Vorstellungen davon entwikkelt,<br />

welche sozialen Fehlleistungen mit dem Begriff Krankheit belegt werden<br />

können, die durchaus nicht mit der Krankheitsdefinition des Patienten<br />

oder des Arztes übereinstimmen müssen. Daß z.B. Alkoholismus oder bestimmte<br />

psychische Probleme als Krankheiten eingestuft <strong>und</strong> angegangen<br />

werden können, hat sich in verschiedenen <strong>gesellschaftliche</strong>n Bereichen<br />

unterschiedlich schnell bzw. langsam durchgesetzt.<br />

Diese wenigen Bemerkungen sollen genügen, um das relationale Krankheitsmodell<br />

vorzustellen. Es ist komplexer als ein rein somatisches Modell<br />

<strong>und</strong> wird somit der Sache gerechter. Andererseits läßt es viele Wünsche bei<br />

der Suche nach differenzierten Beschreibungskategorien offen. Der Eck-<br />

Begriff „Gesellschaft" ist zu diffus <strong>und</strong> muß jeweils gefüllt werden. Das<br />

Definiendum „Krankheit" wirkt so zu statisch, eine Auffächerung in ein<br />

Schichtenmodell mit „Ges<strong>und</strong>erhaltung", „Krankheits<strong>entwicklung</strong>" <strong>und</strong><br />

„Krankheitsbewältigung" als zu definierenden Zentralbegriffen würde dem<br />

Prozeßcharakter des Krankengeschehens gerechter <strong>und</strong> zu Variationen in<br />

den Eck-Begriffen führen. Dies soll hier nicht durchexerziert werden.<br />

Die Erweiterungen des Modells in den folgenden Ausführungen beinhalten<br />

soziale <strong>und</strong> biographische Faktoren chronischer Krankheiten, stellen<br />

also Ausdifferenzierungen der Patienten- <strong>und</strong> Gesellschaftsperspektive dar.<br />

Wie sich sogleich zeigen wird, kennzeichnen „sozial" <strong>und</strong> „biographisch"<br />

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keine scharf getrennten Merkmalsklassen, so als gäbe es Biographisches unabhängig<br />

von Sozialem. Etwas treffender wäre von „sozio-biographischen"<br />

Faktoren zu sprechen, wenn damit nicht ein neues Sozio-Kompositum geschaffen<br />

würde, deren wir allemal zuviel haben (die Biologie mit dem Soziostempel<br />

ist der gräßlichste Sproß dieser imperialistischen Heiratspolitik).<br />

Unter „chronischen Krankheiten" verstehe ich Krankheiten, „die entweder<br />

Ergebnis eines länger andauernden Prozesses degenerativer Veränderung<br />

somatischer oder psychischer Zustände sind oder die dauernde somatische<br />

oder psychische Schäden oder Behinderungen zur Folge haben"<br />

(Badura). 3<br />

II. Chronische Krankheit: Verletzung der sozialen Leiblichkeit <strong>und</strong> Re-<br />

Normalisierungsverfahren<br />

Jede Krankheit — ganz gleich, ob akut oder chronisch — beeinträchtigt in<br />

jeweils spezifischer Weise die Handlungskapazität des Kranken <strong>und</strong> reduziert<br />

somit auch seine Interaktionskapazität, m.a.W. der Kranke <strong>und</strong> seine<br />

soziale Umwelt sind von der Krankheit betroffen. Ich bezeichne diesen<br />

Verlust an Normalität, den beide Seiten in unterschiedlicher Weise zunächst<br />

erfahren, als Verletzung der sozialen Leiblichkeit. Dieser Begriff zielt also<br />

auf den Kranken, faßt aber nicht dessen individuelle Körperlichkeit, sondern<br />

seine Leiblichkeit als eine irreduzible soziale Größe. Die Verletzung<br />

der sozialen Leiblichkeit impliziert mehr als nur den vordergründigen Verlust<br />

einzelner Handlungspotentiale, sondern sie erstreckt sich auf die ganze<br />

„ Welt der natürlichen Einstellung"*, die „Alltagswelt" mit ihren stillschweigenden<br />

Normalitätsannahmen, bzw. „Idealisierungen". Die Unterbrechung<br />

alltäglicher Routinen führt zu deren Thematisierung in der Form von Problemartikulationen,<br />

das gesamte bislang implizite Lebenskonzept wird als<br />

Biographie thematisch. Daß die Verletzung der sozialen Leiblichkeit eine<br />

Bedrohung der Alltagswelt impliziert, wird u.a. deutlich, wenn relativ<br />

harmlose Akuterkrankungen bereits bei den Kranken Krisenphänomene<br />

hervorrufen.<br />

Es sind vor allem die Verletzungen von drei alltagsweltlichen Idealisierungstypen,<br />

die mir wichtig erscheinen. s<br />

1. Die Verletzung der Kooperationsidealisierung. Als eigentliche soziale<br />

Idealisierung umfaßt sie die Erwartung von verläßlicher Partizipation in<br />

Interaktionssituationen. Aufgr<strong>und</strong> der eingeschränkten Interaktionskapazität<br />

zerbricht diese Idealisierung. Dies äußert sich auch in Interaktions- <strong>und</strong><br />

Kommunikationsstörungen, die nicht einfach durch spezifische körperliche<br />

Funktionsverluste der jeweiligen Krankheit zu erklären sind.<br />

2. Die Verletzung der Idealisierung körperlicher Autonomie. Hier ist die<br />

Vorstellung durchbrochen, daß mein eigener Körper alleine aus sich selbst<br />

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lebt. Die als Intimitätsverletzungen registrierten Eingriffe in die Körpersphäre<br />

durch medizinisches Personal, Einnahme von Medikamenten, Durchführung<br />

von therapeutischen Aktivitäten am Körper oder die Integration<br />

von medizinischen Artefakten in den Körper, kurz das „Hineinregieren" in<br />

sozial-leibliche Lebensgewohnheiten durch diagnostische <strong>und</strong> therapeutische<br />

Maßnahmen beinhalten die Aufhebung dieser alltagsweltlichen Idealisierung.<br />

3. Die Verletzung der Kontinuitätsidealisierung. Die stillschweigende Erwartung,<br />

daß das Leben so weitergeht wie bisher („<strong>und</strong>-so-weiter-Idealisierung")<br />

hat sich nicht bewährt. Damit ist „Terminalität" thematisiert, Begrenzung<br />

<strong>und</strong> Diskontinuität real, wo bislang ein offener Horizont unterstellt<br />

wurde. Da es sich bei dieser Idealisierung um eine temporale Größe<br />

handelt, sind mit ihr auch biographische, lebenszeitlich bislang gültige Fahrpläne<br />

infragegestellt. Mit der Aufhebung der Kontinuitätsidealisierung ist<br />

die offene lebensgeschichtliche Zukunft bedroht, der lebenszeitliche<br />

„Infinitätsindex" außer Kraft gesetzt. Dies wird für chronische Erkrankungen<br />

zu einem besonderen Problem wegen der Irreversibilität der Krankheit<br />

(also auch dann, wenn die chronische Erkrankung als nichtterminal gilt).<br />

In Anlehnung an die Terminologie der Sozial-Epidemiologie lassen sich die<br />

drei genannten Verletzungen von Idealisierungen der Alltagswelt als „soziale<br />

Basis-Stressoren" bezeichnen, die nicht nur einfach krankheitsbegleitend,<br />

sondern auch krankheitsgenerierend angesehen werden müssen. (Was sich<br />

auch durch die Beobachtung erhärten läßt, daß z.B. ein sozialer Verlust zu<br />

ähnlichen Verletzungen der Alltagsweltstruktur <strong>und</strong> schließlich somatischen<br />

Beschwerden, sprich „Krankheit" führen kann.) Es sollte zumindest im<br />

Ansatz bei der Skizze der drei sozialen Basis-Stressoren deutlich geworden<br />

sein, daß sie sich jeweils ausdifferenzieren lassen in soziale <strong>und</strong> biographisch<br />

restringierende Merkmalsbündel. Welche konkreten Ausprägungen sie annehmen,<br />

hängt einmal von der Art der Krankheit ab, zum anderen von biographischen<br />

<strong>und</strong> sozialen Stressoren <strong>und</strong> Anti-Stressoren, also Ressourcen,<br />

bzw. Support-Faktoren.<br />

Wenn die Krankheitsentstehung auf diese Weise adäquat als Verletzung<br />

der sozialen Leiblichkeit gefaßt werden kann, dann besteht die Krankheitsbewältigung<br />

darin, soziale Leiblichkeit wieder herzustellen. Bei Akutkrankheiten<br />

können die Kooperationserwartungen temporär stark minimalisiert<br />

werden. Soweit die Eigenaktivitäten des Patienten mit therapeutischen Interventionen<br />

konfligieren, ist eine gewisse Passivität sogar erwünscht (gelingt<br />

eine Rückstellung im Krankenhaus zu verstärkter Kooperation <strong>und</strong><br />

Eigenverantwortung nicht, spricht man von „Hospitalisierungsschäden").<br />

Andererseits erfordern eine große Zahl von therapeutischen Maßnahmen<br />

Kooperation (Pillen muß man z.B. auch wirklich einnehmen), <strong>und</strong> Kooperationswilligkeit<br />

muß durch entsprechende Anreize wieder aufgebaut werden.<br />

Weiter wird die Durchbrechung der Idealisierung der Körperautonomie<br />

dadurch wiederhergestellt, daß der Patient erfährt (<strong>und</strong> ihm dies vom Arzt<br />

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estätigt wird), daß die ,,Selbstheilungskräfte" unterstützend wirken,<br />

Schmerzen verschwinden, Energie zurückkehrt, der Körper eine gute Resistenz<br />

zeigt, etc. Die Kontinuitätsunterbrechungen können bei Akuterkrankungen<br />

wegen der Kurzfristigkeit der Krankheit überbrückt werden.<br />

Für die hier besonders interessierenden chronischen Krankheiten ergibt<br />

sich eine verschärfte Situation. Bei Akuterkrankungen kann der Re-Normalisierungsbedarf<br />

zum Teil dadurch minimiert werden, daß angenommen<br />

werden kann, daß „die Sache bald vorbei ist", <strong>und</strong> „bald wieder alles im<br />

Lot" ist. Dieses Überbrückungsverfahen durch „Warten" <strong>und</strong> temporäre<br />

Substitution sozialer Aufgaben des Kranken funktioniert wegen ihrer<br />

Dauerhaftigkeit bei der chronischen Krankheit gerade nicht. Ähnliches gilt<br />

für die Kooperationsidealisierung. Der Kooperationsbedarf ist bei der chronischen<br />

Krankheit sowohl im Bereich der Therapie als auch im nicht-therapeutischen<br />

Lebensfeld besonders hoch, die Kooperationsfähigkeit erscheint<br />

demgegenüber permanent begrenzt. Schließlich ist die Idealisierung der<br />

Körperautonomie kaum wiederherzustellen, wenn eine stetige Therapie <strong>und</strong><br />

angepaßte Lebensweise dem Kranken klarmachen, wie hinfällig seine körperliche<br />

Balance ist. Die Re-Normalisierung der sozialen Leiblichkeit bei der<br />

chronischen Krankheit steckt in der paradoxen Situation, Idealisierungen<br />

wiederherstellen zu müssen, ohne den Gr<strong>und</strong> ihres Verlustes aufheben zu<br />

können. Die bei der Krankeitsentstehung als restriktiv erlebten Faktoren<br />

können nicht nur nicht aufgehoben werden, sondern es ist bei allen chronischen<br />

Krankheiten damit zu rechnen, daß sie sich verschärfen <strong>und</strong> weitere<br />

Einschränkungen hinzutreten.<br />

Die Krankheitsbewältigung bei chronischen Krankheiten steht im Bereich<br />

der alltagsweltlichen Idealisierungen somit offenbar vor der Alternative,<br />

eine Alltagswelt zu konstituieren, die eben ohne die vorgängig verletzten<br />

Idealisierungen auskommt oder Reparaturstrategien einzusetzen, die<br />

funktionierenden Ersatz schaffen <strong>und</strong> somit wieder ein „normales Leben"<br />

ermöglichen. Darüber gleich noch etwas mehr.<br />

Angesichts dieser Überlegungen zur Krankheitsentstehung <strong>und</strong> Krankheitsbewältigung<br />

sind unter sozio-biographischen Konstitutiva chronischer<br />

Krankheit sowohl restriktive als auch unterstützende Faktoren, also sowohl<br />

soziale <strong>und</strong> biographische Stressoren als auch Anti-Stressoren (Schutzfaktoren)<br />

zu verstehen. Ich versuche jetzt allgemein einige dieser Konstitutiva<br />

darzustellen, ohne auf empirische Einzeluntersuchungen oder spezifische<br />

chronische Krankheiten eingehen zu können.<br />

III. Biographische Konstitutiva<br />

Biographien sind Orientierungssysteme, in denen gesellschaftlich konstruierte<br />

Handlungsketten <strong>und</strong> individuelle Erfahrungstypen verknüpft werden.<br />

Sie bieten dem „Biographieträger" die Möglichkeit, über sozial präformierte<br />

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Handlungsfahrpläne <strong>und</strong> eigene bereits gemachte Erfahrungen in einem relativ<br />

konsistenten Gesamtsystem zu verfügen <strong>und</strong> gleichzeitig Kontingenzen<br />

im Blick auf weitere Orientierung zu verarbeiten. Ich unterscheide drei analytische<br />

Ebenen der Biographie-Erzeugung : a) Die Ebene heteronomer<br />

6<br />

biographischer Produktion; b) die Ebene der autonomen Konstitution;<br />

c) die Ebene der biographischen Gesamtkonstruktion.<br />

Bei der heteronomen biographischen Produktion geht es um sozial<br />

präformierte biographiebezogene Handlungsabläufe, in denen bestimmte<br />

Sequenzen (mit entsprechenden Markierungen) vorgegeben werden, in die<br />

der einzelne einzuspuren hat. Berufskarrieren, familienzyklische Abläufe<br />

<strong>und</strong> auch Krankheitsverläufe aus medizinischer Perspektive gehören hierher.<br />

Bei der autonomen Konstitution sind kontingente Erfahrungen <strong>und</strong> Ereignisse<br />

im Leben des einzelnen angesprochen. Dies ist der Bereich der variierenden<br />

Verarbeitung heteronom vorgegebener Muster, sei es durch Veränderungen<br />

der Vorgaben, sei es durch unique Ko<strong>mb</strong>ination einzelner<br />

Karriere stränge <strong>und</strong> -demente. In der biographischen Gesamtkonstruktion<br />

werden die vorigen beiden Ebenen zusammengesehen. Erzählte Lebensgeschichten<br />

können als Manifestierungen der biographischen Gesamtkonstruktion<br />

angesehen werden <strong>und</strong> haben von daher ein besonderes forschungspraktisches<br />

Interesse.<br />

Das Schema liegt quer zu einer dichotomen Trennung von „biographisch"<br />

<strong>und</strong> „sozial", dies bitte ich zu berücksichtigen bei den folgenden<br />

Ausführungen; die Gliederung des Vortrages vereinfacht hier die Sache <strong>und</strong><br />

auch ständige Querverweise innerhalb der folgenden beiden Abschnitte<br />

wären zu lästig geworden. Ich versuche in diesem Abschnitt biographische<br />

Konstitutiva aus der Ebene der Gesamtkonstruktion zu skizzieren, befasse<br />

mich im Abschnitt IV. mit der heteronomen biographischen Produktion<br />

<strong>und</strong> anderen sozialen Faktoren.<br />

Das erste <strong>und</strong> möglicherweise biographisch einschneidendste Merkmal<br />

chronischer Krankheiten ist Chronizität selber. Für den Kranken ist die restringierende<br />

Gr<strong>und</strong>bedingung permanent, lebenslänglich. Mit der ersten<br />

Diagnose seiner Krankheit ist der Patient also vor die Aufgabe gestellt, den<br />

alten Lebensentwurf so zu modifizieren, daß für ihn ein Leben mit der<br />

Krankheit antizipierbar wird. Ganz gleich, welche chronische Krankheit er<br />

sich zugezogen hat, die Kontinuitätsidealisierung ist zerbrochen, d.h. die<br />

vergangene, offene Zukunft ist zunächst bedroht. Die Frage, ob ein Leben<br />

als Kranker permanent überhaupt möglich ist, ist zunächst noch nicht entschieden.<br />

Welche Antwort dann möglich ist, hängt m.E. in erster Linie davon<br />

ab, ob es sich um eine terminale oder eine nicht-terminale Krankheit<br />

handelt. Obgleich in beiden Fällen eine offene Zukunft durch eine „ausgedehnte<br />

Gegenwart" ersetzt erscheint (Ich weiß, daß ich diese Krankheit<br />

immer haben werde.), bleibt bei der terminalen Krankheit der Infinitätsindex<br />

dauerhaft durchgestrichen. Die offene Zukunft ist prinzipiell verloren,<br />

auch wenn der Patient noch mehrere Lebensjahre vor sich sieht. Ich<br />

habe in dieser Situation empirisch zwei Reparaturstrategien zur Wiederherstellung<br />

der Kontinuitätsidealisierung festgestellt. 7<br />

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Zum einen versuchen solche Patienten durch temporale Modifikationen<br />

die Verletzung der Lebenszeitstruktur zu kompensieren. Kurz gesagt bedeutet<br />

dies, daß die Patienten in der Vergangenheit leben oder sich in einer<br />

punktuellen Gegenwart situieren („Ich genieße das Heute") oder sich ganz<br />

auf eine bessere Zukunft konzentrieren. Zum anderen versuchen sie durch<br />

„Einklammern" so zu leben, „als ob" weiter nichts wäre, d.h. bestimmte<br />

Themen werden dethematisiert (Kapazitätsverluste, Umstände der Therapie<br />

oder der Tod).<br />

Bei nicht-terminalen chronischen Krankheiten macht sich der Patient<br />

nach einer Weile klar, daß er möglicherweise nun doch die gleiche Lebenserwartung<br />

hat, als wenn er ges<strong>und</strong> geblieben wäre. Damit verliert die Lebenszeitperspektive<br />

ihre Problematik, statt dessen steht die Alltagsbewältigung<br />

im Mittelpunkt. „Gelebte Gegenwart" mit der Krankheit impliziert<br />

immer einen Unsicherheitsfaktor. Medizinische <strong>und</strong> psycho-soziale Krisen<br />

lösen Zeiten relativ balancierten Lebens ab, oft ohne sich anzukündigen.<br />

Die Durchbrechung von Alltagsroutinen erfordert ein biographisches Krisenmanagement,<br />

„Routinisierung" von Krisen wird bei häufigerem Auftreten<br />

zur Aufgabe.<br />

Um die Symptom<strong>entwicklung</strong> möglichst zu kontrollieren, muß der<br />

Kranke zunächst einmal ein genaues Sympto<strong>mb</strong>eobachtungsvermögen entwickeln,<br />

das es ihm erlaubt, seine gesamte Lebensführung in einer Weise zu<br />

gestalten, daß er durch eigenes Verhalten die Krankheits<strong>entwicklung</strong> möglichst<br />

günstig beeinflußt. Wichtiger als die Befolgung von einzelnen Verhaltensmaßnahmen<br />

erscheint generell die Akzeptanz der eingeschränkten<br />

Lebensbedingungen <strong>und</strong> die Wiedergewinnung einer neuen Genußfähigkeit.<br />

Das heißt, die gelingende biographische Integration der Krankheit ist gleichzeitig<br />

einer der besten Schutzfaktoren der Krankheitsbewältigung. Diese<br />

Integrationsleistung ist nicht etwas, das nur einmal geleistet zu werden<br />

brauchte, um dann immer wieder verläßliche Orientierung zu bieten, bei<br />

den einschneidenden Restriktionen ist sie ständig, vor allem in Krisen, zu<br />

erbringen. Anselm Strauss versucht diesen Leistungsaspekt dadurch zu verdeutlichen,<br />

daß er von „Trauer- <strong>und</strong> Identitätsarbeit" spricht, die ein permanentes<br />

Erfordernis biographischer Konstitution ist. Daß die Patienten<br />

dies nicht alleine bewerkstelligen können, sondern es dazu auch eines abgestuften<br />

sozialen Netzwerks bedarf, versteht sich — ich werde darauf im<br />

nächsten Abschnitt zurückkommen.<br />

Ein letztes biographisches Konstitutivum sei noch erwähnt. Eine Leistung<br />

der biographischen Gesamtkonstruktion ist die Verknüpfung verschiedener<br />

präformierter biographischer Stränge. Diese „ Verknüpfungsarbeit"<br />

(in Anlehnung an Strauss' „articulation work" innerhalb der trajectory )<br />

8<br />

stellt an den chronisch Kranken besondere Anforderungen, weil sie Entscheidungen<br />

über wechselseitige Einflüsse von biographischen Strängen, vor<br />

allem hinsichtlich der Krankheit, erfordert. Wo es gelingt, etwa die positive<br />

Wirkung des familiären oder beruflichen biographischen Stranges auf die<br />

Krankheits-„trajectory" richtig abzuschätzen, konstituiert der Kranke einen<br />

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Schutzfaktor. Das gleiche gilt auch umgekehrt: die adäquate Einschätzung<br />

restriktiver Wirkungen der trajectory auf andere biographische Stränge bewahrt<br />

vor Überanstrengungen <strong>und</strong> Enttäuschungen. Es versteht sich von<br />

selbst, daß hier nicht beliebige Wahlmöglichkeiten unterstellt werden. Es<br />

gehört ja gerade zum Charakter präformierter biographischer Elemente,<br />

daß sie nicht beliebig durchlebt werden können. (Wer in der Phase der<br />

Familiengründung von der Krankheit betroffen wird, hat andere Wahlmöglichkeiten<br />

als jemand, der in der postfamilialen Phase seines Lebenszyklus<br />

chronisch krank wird.) Dennoch gibt es für alle Situierungen innerhalb von<br />

biographischen Strängen „Freiheitsgrade", die festgestellt <strong>und</strong> gelebt werden<br />

können. Gelingt die Verknüpfungsarbeit schlecht, ergeben sich zusätzliche<br />

biographische Stressoren für den Krankheitsverlauf (e.g. familiäre oder<br />

berufliche Probleme bis hin zur Auflösung der entsprechenden biographischen<br />

Stränge).<br />

IV. Soziale Konstitutiva<br />

Hier ist zunächst noch einmal die heteronome biographische Produktion<br />

aufzugreifen. Präformierte familiale <strong>und</strong> berufliche biographische Muster<br />

spielen eine erhebliche Rolle als soziale Stressoren <strong>und</strong> auch Schutzfaktoren<br />

der chronischen Krankheit. Es kann zu den gesicherten Ergebnissen der<br />

sozial-epidemiologischen Forschung gerechnet werden, daß Vertraute<br />

(„confidants") aus dem familiären Interaktionsfeld zu den Anti-Stressoren<br />

in der Krankheitsentstehung <strong>und</strong> Krankheitsbewältigung gerechnet werden<br />

können. Analog ist der Verlust zentraler familiärer Bezugspersonen — sei es<br />

durch Trennung, sei es durch Tod — ein eindeutiger Begünstigungsfaktor für<br />

chronische Erkrankungen.<br />

Daß berufliche Belastungen, vor allem permanenter Art, zu den prominenten<br />

Ursachen etwa von Herz-Kreislaufstörungen zu rechnen sind, ist bekannt.<br />

Umgekehrt stellt die befriedigende soziale Einbindung in einen beruflichen<br />

Kontext einen Schutzfaktor dar, was ersichtlich ist an einer<br />

Krankheitszunahme nach dem Ausscheiden aus dem Berufsleben. Dies sind<br />

jedoch nur ganz grobe Hinweise. Im einzelnen spielen die jeweiligen Situierungen<br />

des Kranken innerhalb bestimmter heteronom produzierter biographischer<br />

Abschnitte eine große Rolle für die Krankheitsentstehung <strong>und</strong><br />

Krankheitsbewältigung. Sie erscheinen mir in jedem Fall wichtiger als die<br />

bloße Altersangabe, die für sich genommen wenig Aussagekraft für die Bestimmung<br />

von Stressoren oder Anti-Stressoren hat. Dem kann hier im einzelnen<br />

nicht nachgegangen werden.<br />

Die meisten sozialen Konstitutiva chronischer Krankheit sind sicherlich<br />

dem Feld der medizinischen Versorgung zuzurechnen. M.a.W., was es heißt,<br />

chronisch krank zu sein, wird zu einem erheblichen Maße durch die jeweils<br />

aktualisierbare medizinische Leistung bestimmt. Die „soziale Welt des chro-<br />

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iisch Kranken" ist stark, wenn auch nicht ausschließlich bestimmt durch<br />

die „soziale Welt der Medizin". Dies erscheint möglicherweise so selbstverständlich,<br />

daß die Problematik des Perspektivenwechsels, die hier impliziert<br />

ist, nicht wahrgenommen wird. Die Transformation des „Kranken"<br />

in den „Patienten" läßt andere handlungsleitende Motive dominant werden,<br />

die von den Interessen <strong>und</strong> Bedürfnissen des Kranken sehr stark abweichen<br />

können. Überspitzt gesagt: Was für den Arzt oder die wissenschaftliche<br />

Medizin gut <strong>und</strong> wichtig ist, ist nicht unbedingt gut <strong>und</strong> wichtig für den<br />

Kranken. Die soziale Welt der Medizin (oder des Arztes) ist von anderen Relevanzen<br />

geleitet, anderen Rollenträgern bevölkert, anderen Handlungsproblemen<br />

<strong>und</strong> Konflikten bestimmt als die soziale Welt des Kranken. Die<br />

mittlerweile recht breite populäre <strong>und</strong> publizierte Kritik an den „Halbgöttern<br />

in Weiß" ist ein Reflex auf diese Perspektivenverschiebung; die Forderung<br />

nach einer alternativen Medizin <strong>und</strong> das Entstehen von Selbsthilfegruppen<br />

im Ges<strong>und</strong>heitsbereich stehen für den Versuch, die Interessen des<br />

Kranken wieder in den Handlungsfokus zu bringen.<br />

Was heißt dies nun im einzelnen für den chronisch Kranken? Ich muß<br />

mich auf ein paar Punkte beschränken.<br />

a) Der chronisch Kranke wird in einem medizinischen System prozessiert,<br />

das nicht auf Lanzeiterkrankungen eingestellt ist. Medizinerausbildung <strong>und</strong><br />

die Organisation von Krankenpflegeanstalten sind auf ein Normalmodell<br />

von Akutkrankheit ausgerichtet. Die besonderen medizinischen, vor allem<br />

9<br />

aber psycho-sozialen Bedürfnisse chronisch Kranker werden nur äußerst<br />

zögernd in Rechnung gestellt.<br />

b) Chronische Krankheiten implizieren eine große Anzahl sehr verschiedener<br />

medizinischer <strong>und</strong> sozialpflegerischer Hilfsleistungen. Daraus ergeben<br />

sich Koordinationsaufgaben <strong>und</strong> -probleme 10 diagnostischer <strong>und</strong> therapeutischer<br />

Maßnahmen in ganz verschiedenen Ausprägungen (z.B. auf welcher<br />

Station im Krankenhaus wird der Kranke untergebracht; koordiniert der<br />

Arzt oder die Stationsschwester die Arbeit am Patienten; welcher Facharzt<br />

hat die Entscheidungsautorität: der Kardiologe, der Chirurg, der Psychiater/<br />

Psychologe, der Internist, etc.; welche medizin-technischen Möglichkeiten<br />

stehen zur Verfügung; welche diagnostischen Prozeduren sind möglich bzw.<br />

zumutbar; welche Rehabilitationsangebote können gemacht werden?).<br />

c) Die Beispiele implizieren bereits die Frage nach den personellen, technischen<br />

<strong>und</strong> finanziellen Ressourcen auf der Seite der dem Patienten zur Verfügung<br />

stehenden medizinischen Versorgungseinrichtungen. Diese variieren<br />

erheblich <strong>und</strong> bestimmen so den sozialen Rahmen chronischen Krankseins.<br />

d) Chronische Krankheiten implizieren eine große Anzahl verschiedener<br />

Arten medizinischer Arbeit, die jedoch im konkreten Fall in sehr unterschiedlicher<br />

Weise tatsächlich erbracht, bzw. befriedigend koordiniert werden<br />

können. Ich liste hier lediglich auf" :<br />

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Maschinenarbeit<br />

Informations- <strong>und</strong> Dokumentationsarbeit<br />

Koordinations- <strong>und</strong> Verbindungsarbeit<br />

Sicherheitsarbeit<br />

Mut- <strong>und</strong> Trostarbeit<br />

Gefühlsarbeit<br />

Fehlerarbeit, etc.<br />

Damit genug zu den sozialen Konstitutiva chronischer Krankheit aus dem<br />

Bereich der medizinischen Versorgung. Ein letztes Feld sozialer Konstitutiva<br />

ist das soziale Netzwerk oder das Feld sozialer Unterstützungen. (Es<br />

überschneidet sich z.T. mit dem Bereich heteronomer biographischer Produktion.)<br />

Die sozialepidemiologische Forschung hat die große Unterstützungsleistung<br />

eines abgestuften sozialen Netzwerkes von „confidants",<br />

engen Beziehungen, lockeren Bekanntschaften oder formellen Beziehungen<br />

am Ende der Skala gut belegt. Die emotionale Unterstützung, das Ansehen<br />

<strong>und</strong> die Wertschätzung, die dem Kranken hier zuteil werden, sowie die gegenseitigen<br />

Verpflichtungen im Netzwerk sind wesentliche Schutzfaktoren.<br />

Wo sie entfallen — etwa gerade bei langfristigen Hospitalisierungen von<br />

chronisch Kranken — entstehen soziale Stressoren. Die soziale Bewegung<br />

der medizinischen Selbsthilfegruppen manifestiert die Bedeutung der<br />

11<br />

Eigenaktivität <strong>und</strong> Selbstverantwortung für die Krankheitsbewältigung.<br />

Die gegenwärtige Ges<strong>und</strong>heitspolitik <strong>und</strong> die medizinische Profession sind<br />

immer noch in einer Überschätzung der rein bio-medizinischen Forschung<br />

<strong>und</strong> ihrer Anwendung in der a<strong>mb</strong>ulanten <strong>und</strong> stationären Behandlung chronisch<br />

Kranker befangen. Die Bedeutung der Eigenleistung der Kranken<br />

13<br />

<strong>und</strong> ihrer sozialen Netzwerke für die Krankheitsbewältigung (sowie für die<br />

Ges<strong>und</strong>erhaltung <strong>und</strong> Krankheitsentstehung) wird ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> medizinpolitisch<br />

immer noch unterschätzt.<br />

ANMERKUNGEN<br />

1 vgl. K.E. Rothschuh (Hg), Was ist Krankheit? Erscheinung, Erklärung, Sinngebung,<br />

Darmstadt 1975, S. 414-416.<br />

2 vgl. E.M. Waltz, „Soziale Faktoren bei der Entstehung <strong>und</strong> Bewältigung von Krankheit<br />

— ein Uberblick über die empirische Literatur", in: B. Badura (Hg), Soziale Unterstützung<br />

<strong>und</strong> chronische Krankheit. Zum Stand sozialepidemiologischer Forschung,<br />

Frankfurt 1981, S. 40-119.<br />

3 Anm. 2, S. 7.<br />

4 vgl. E. Husserl, Ideen I, GW III, 1, Den Haag 1976, S. 60f.<br />

5 vgl. W. Fischer, Time and Chronic Illness, Berkeley 1982, S. 244ff.<br />

6 vgl. W. Fischer, „Biographische Methode", in: H. Haft/H. Kordes (Hg), Methoden<br />

der Erziehungs- <strong>und</strong> Bildungsforschung. Enzyklopädie Erziehungswissenschaft,<br />

Bd. 2, Stuttgart 1984, S. 478.<br />

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7 vgl. W. Fischer, „Alltagszeit <strong>und</strong> Lebenszeit von chronisch Kranken", in: ZSE 2<br />

(1982), S. 14ff.<br />

8 vgl. A. Strauss, Social Organization of Medical Work, Chicago 1985, S. 15lff.<br />

9 vgl. A. Strauss, Chronic Illness and the Quality of Life, St. Louis 1975, S. 3ff.<br />

10 vgl. A. Strauss, Anm. 8, Chicago 1985.<br />

11 Anm. 8, passim <strong>und</strong> bes. 238ff.<br />

12 vgl. B. Badura/Chr. v.Ferber (Hg), Selbsthilfe <strong>und</strong> Selbstorganisation im Ges<strong>und</strong>heitswesen.<br />

Die Bedeutung nichtprofessioneller Sozialsysteme für Krankheitsbewältigung.<br />

Soziologie <strong>und</strong> Sozialpolitik Bd. 1, <strong>München</strong> 1981; <strong>und</strong> Chr. v.Ferber/<br />

B. Badura (Hg), Laienpotential, Patientenaktivierung <strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heitsselbsthilfe.<br />

Soziologie <strong>und</strong> Sozialpolitik Bd. 3, <strong>München</strong> 1983.<br />

13 vgl. Anm. 12, Badura 1981, S. 8.<br />

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Entwicklung <strong>und</strong> Diskontinuität<br />

EINLEITUNG<br />

Georg Elwert<br />

Die Modernisierungstheorie ging von einem kontinuierlichen Wachstumsprozeß<br />

aus. Die groben Indikatoren, wie zum Beispiel Bevölkerungswachstum,<br />

sprachen dafür. Die Ethnographie vorindustrieller Gesellschaften<br />

schien klar die Differenzen zu den entwickelten Gesellschaften zu zeigen:<br />

geringe Komplexität, vor-rationales Denken <strong>und</strong> Wirtschaften <strong>und</strong> geringe<br />

Leistungsmotivation. Damit schienen die Bedingungen der Entwicklung klar<br />

zu sein. Es galt, die Mentalitäten zu ändern, die Selbstversorgungswirtschaft<br />

zu verdrängen <strong>und</strong> durch neue Institutionen die Komplexität zu steigern.<br />

Die hierauf gründenden Entwicklungstheorien des West- wie des Ostblocks<br />

scheiterten jedoch in der Entwicklungspraxis der armen Länder.<br />

Ausgehend von empirischer Forschung in der Dritten Welt <strong>und</strong> ebenso<br />

von historischen Forschungen <strong>und</strong> wirtschaftssoziologischen Forschungen<br />

zur industriellen Entwicklung wurde nun gefragt, ob die Formen des Wirtschaftens<br />

in der Dritten Welt <strong>und</strong> in bestimmten Bereichen der europäischen<br />

Geschichte nicht einer eigenen Rationalität — der Sicherheitsrationalität<br />

— unterliegen, ob geringe Leistungsmotivation <strong>und</strong> vor-rationales<br />

Denken nicht Forschungsartefakte seien, die Formen des passiven Widerstands<br />

falsch interpretierten. Eine Neuinterpretation der europäischen Industrialisierungsgeschichte<br />

ergibt, daß der sog. Dualismus traditionaler <strong>und</strong><br />

moderner Sektoren keineswegs nur die unter-entwickelten Länder auszeichnet,<br />

sondern auch ein Strukturmuster europäischer Entwicklung ist.<br />

So wurden die Umrisse eines Bündels neuer Entwicklungstheorien deutlich.<br />

Sie heben hervor, daß Komplexität nicht kontinuierlich zunimmt,<br />

sondern daß umfassende Reduktionsprozesse zu strukturellen Vereinfachungen,<br />

wie dem Ware-Geld-Prinzip, der modernen Verwaltung <strong>und</strong> der<br />

schriftlichen Kommunikation führen <strong>und</strong> damit erst den Aufbau neuer<br />

Komplexität ermöglichen. Nicht nur „kapitalistische Entwicklung" als<br />

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ökonomischer Motor, sondern ebenso Widerstände dagegen führen zu<br />

strukturellen Innovationen. Die Erkenntnis strukturell gegründeter Diskontinuitäten<br />

löst den teleologischen Forschrittsoptimismus ab. Die Evolution<br />

von Gesellschaften kann stoppen, sie ist nicht notwendigerweise ein<br />

auto-poietischer Prozeß. Nichts beleuchtet das deutlicher als das Problem,<br />

ob die zwischennationale Machtbalance heute noch eine Friedensfähigkeit<br />

gewährleisten kann.<br />

In der Diskussion wurde der Beitrag von Burkart Lutz über „Wirtschaftsdualismus<br />

<strong>und</strong> diskontinuierliche Entwicklung als generelle Strukturmuster"<br />

besonders ausführlich diskutiert. Lutz zog Begriffe wie Dualismus,<br />

die gerade auf die Unter<strong>entwicklung</strong> der Dritten Welt gemünzt waren, zur<br />

Erklärung der wirtschaftlichen Entwicklung Deutschlands heran. Es schien<br />

uns nicht sinnvoll, diesen Beitrag, der aus der Arbeit an dem gerade fertiggestellten<br />

Buch „Der kurze Traum immerwährender Prosperität — Eine<br />

Neuinterpretation der industriell-kapitalistischen Entwicklung im Europa<br />

des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts" berichtete, auf 5 Seiten zusammenzufassen. Dieser<br />

Verzicht fiel uns dadurch besonders leicht, daß sich aus den gemeinsamen<br />

Fluchtpunkten dieses <strong>und</strong> anderer Beiträge eine weitere Publikation ergibt.<br />

In den Beiträgen von Gerd Spittler, Hans-Dieter Evers, Tilman Schiel ebenso<br />

wie in der lebhaften Diskussion zwischen Burkart Lutz <strong>und</strong> Dieter<br />

Senghaas, <strong>und</strong> vorher schon in dem Beitrag von Georg Elwert im Vormittagsplenum,<br />

wurde ein Thema angesprochen, das später in der Sektion<br />

Entwicklungs<strong>soziologie</strong> anhand der Beiträge von Ulrich Menzel, Peter Waldmann<br />

<strong>und</strong> Helmut Asche ausführlicher diskutiert werden sollte: Welches<br />

sind die Bedingungen des Übergangs zur Industrienation, wie lassen sich<br />

Konstellationen des Verharrens in — scheinbaren? — Übergangspositionen<br />

analysieren, inwieweit können wir überhaupt noch einen unilineare Entwicklung<br />

suggerierenden Begriff des Schwellenlandes beibehalten? In dem<br />

Band mit dem Titel „Auf der Schwelle der Entwicklung" werden die genannten<br />

Beiträge in ausführlicher Form nachzulesen sein. Von daher ist es<br />

wohl zu vertreten, daß hier nur um drei Viertel gekürzte Fassungen (ohne<br />

die empirischen Belege) der Vorträge dieser Diskussionsveranstaltung abgedruckt<br />

werden.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


VOLKSZÄHLUNG UND BÜROKRATISCHE HERRSCHAFT<br />

IN BAUERNSTAATEN<br />

Gerd Spittler<br />

Die Diskussion über die Volkszählung hat seit langer Zeit wieder den Blick<br />

darauf gelenkt, daß Volkszählungen keine neutralen technischen Erhebungen<br />

sind, sondern daß sie auch eine große Bedeutung als Kontrollinstrument<br />

haben können. Diese Diskussion hat freilich eher sy<strong>mb</strong>olischen Charakter.<br />

Im Kontext der vielfältigen Sammlung <strong>und</strong> Speicherung von Informationen<br />

kommt der Volkszählung in Industriegesellschaften keine besondere Bedeutung<br />

zu. In Bauernstaaten dagegen kann sich eine bürokratische Herrschaft<br />

zunächst nur mit Hilfe solcher Volkszählungen etablieren. Diese sind ein<br />

unerläßliches Instrument der Durchsetzung ihres Herrschaftsanspruches,<br />

sowohl gegenüber der Bevölkerung wie gegenüber konkurrierenden Machthabern.<br />

Wenn ich im folgenden europäische Bauernstaaten des 18. mit afrikanischen<br />

Bauernstaaten des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts vergleiche, dann soll das nicht<br />

heißen, daß zwischen ihnen keine Unterschiede bestehen. Ich übersehe<br />

nicht, daß die zeitliche Differenz <strong>und</strong> die koloniale <strong>und</strong> neokoloniale Abhängigkeit<br />

ihr eigenes Gewicht besitzen. Dennoch erscheint es mir gerechtfertigt<br />

<strong>und</strong> sinnvoll, für bestimmte Teilbereiche Vergleiche vorzunehmen.<br />

Hier geht es vor allem darum, zu zeigen, wie eine staatliche Bürokratie mit<br />

den Problemen fertig wird, die sich aus einer Bauerngesellschaft ergeben.<br />

Merkwürdigerweise bestand die Hauptaktivität der Kolonialbeamten in<br />

Französisch Westafrika in einer sehr simplen Tätigkeit: Sie verbrachten ihre<br />

Arbeitszeit vor allem damit, die Leute in ihrem Distrikt zu zählen <strong>und</strong> ihre<br />

Namen aufzuschreiben. In der Regel delegierten sie diese Aufgabe nicht an<br />

Untergebene, sondern führten sie selbst durch. Sie ritten wochen- <strong>und</strong><br />

monatelang auf einem Pferd durch die Dörfer, versammelten die Einwohner<br />

<strong>und</strong> zählten sie. Nur in seltenen Fällen kamen sie soweit, daß sie den Namen<br />

jedes einzelnen aufschreiben konnten.<br />

Es handelte sich hier keineswegs um einen einmaligen Zensus, sondern<br />

um einen Prozeß, der die ganze Kolonialzeit über andauerte. Es war eine<br />

wahre Sisyphusarbeit. Denn trotz aller Anstrengungen gelang es der Kolonialverwaltung<br />

nicht, eine zuverlässige Volkszählung zustandezubringen.<br />

Der Zensus wurde zunächst als sogenannter numerischer Zensus (recensement<br />

numerique) durchgeführt. Im einfachsten Fall zählt man die Zahl der<br />

Hütten <strong>und</strong> multiplizierte dies mit der vermuteten Anzahl von Hüttenbewohnern.<br />

Oder man versammelte die Familienvorstände <strong>und</strong> addierte aufgr<strong>und</strong><br />

ihrer Angaben alle Familienmitglieder. Bestenfalls trieb man die ge-<br />

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samten Einwohner <strong>und</strong> das Vieh eines Dorfes auf einem Platz zusammen<br />

<strong>und</strong> zählte dann ab. Das Ziel war aber nicht ein numerischer, sondern ein<br />

nominativer Zensus (recensement nominatif). Man wollte jeden Einwohner<br />

namentlich erfassen <strong>und</strong> in eine Liste eintragen. Obwohl dieses Ziel seit<br />

Anfang des Jahrh<strong>und</strong>erts bestand, scheiterte seine Realisierung jahrzehntelang<br />

<strong>und</strong> wurde erst gegen Ende der Kolonialzeit in den 50er Jahren ansatzweise<br />

verwirklicht.<br />

Warum ist ein Zensus so wichtig? Französisch Westafrika war ein überwiegend<br />

von Bauern bevölkertes Land. Die Kolonialverwaltung wollte vor<br />

allem drei Dinge von den Bauern: Steuern für die Finanzierung des kolonialen<br />

Budgets, Rekruten für die koloniale Armee <strong>und</strong> Arbeiter für einen<br />

Zwangsarbeitsdienst (prestations). Für alle drei war ein nominativer Zensus<br />

von zentraler Bedeutung. Die korrekte Eintreibung der für alle Erwachsenen<br />

festgesetzten Kopfsteuer setzte voraus, daß jeder Erwachsene in einer Liste<br />

namentlich eingetragen war.<br />

Die Zahl der Individuen war freilich zu groß, als daß die Kolonialregierung<br />

sich hätte mit jedem einzelnen beschäftigen können. Die zahlenmäßige<br />

Zusammenfassung der Einwohner FWA's in Tabellen war eine<br />

Voraussetzung dafür, daß diese Listen auf höherer Ebene als Entscheidungsgr<strong>und</strong>lage<br />

dienen konnten. In einer Situation, in der die Kolonialverwaltung<br />

fast nichts über die bäuerliche Bevölkerung wußte, waren die Bevölkerungstabellen<br />

von unschätzbarem Wert. Auf ihrer Basis wurden Quoten für Steuerzahlungen,<br />

Armeerekrutierungen <strong>und</strong> Arbeitsdienst festgelegt. Darüber<br />

hinaus waren die Bevölkerungszahlen der wichtigste Indikator für ökonomische<br />

<strong>und</strong> politische Veränderungen.<br />

Wie funktioniert nun eine Verwaltung, wenn ein solcher nominativer<br />

Zensus nicht zur Verfügung steht? An die Stelle einer bürokratischen treten<br />

dann eine intermediäre <strong>und</strong> eine despotische Verwaltung. Der Unterschied<br />

läßt sich zunächst an der Art des Abgabensystems deutlich machen. Für eine<br />

Bürokratie ist als Abgabe die Steuer typisch, bei der genau geregelt wird,<br />

welche Kategorie von Personen Steuern in welcher Höhe bezahlen muß.<br />

Dagegen tritt in einem intermediären System als Abgabe der Tribut. Für ein<br />

Bevölkerungskollektiv, z.B. ein Dorf, wird eine globale Summe festgelegt,<br />

für deren Ablieferung ein Mittelsmann verantwortlich ist. Wie dieser Tribut<br />

auf die einzelnen Mitglieder des Kollektivs verteilt wird, liegt außerhalb<br />

der Einflußmöglichkeit der Zentralinstanz. Bei einer despotischen Herrschaft<br />

ist die Abgabe weder eine Steuer noch ein Tribut, sondern eine<br />

Beute: Man greift sich das, was man gerade bekommen kann.<br />

Warum ist intermediäre Verwaltung in Bauernstaaten so verbreitet? Sie<br />

entspricht der Struktur von Bauerngesellschaften eher als eine Bürokratie.<br />

Sie basiert nicht auf der Zentralisierung von Ressourcen <strong>und</strong> deren Verteilung<br />

von oben, sondern auf deren lokaler Verfügung. Sie löst das Informationsproblem,<br />

da sie auf weniger Informationen angewiesen ist. Die mündliche<br />

Kommunikation <strong>und</strong> die Speicherung von Informationen im Gedächtnis<br />

sind einer oralen Kultur adäquater als die auf Schriftlichkeit fixierte<br />

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Bürokratie. Aus der Sicht der Zentralinstanz sind allerdings viele dieser Vorteile<br />

eher Nachteile, da sie die Kontrolle durch die Zentralinstanz abschwächen.<br />

Ein Mittelsmann, der durch keine kontrollierte Ausbildung geprägt<br />

wird, der ein Informationsmonopol über den von ihm verwalteten Bezirk<br />

besitzt, der nicht versetzt werden kann, <strong>und</strong> der keine Laufbahn vor sich<br />

hat, kann kaum von oben kontrolliert werden. In FWA waren die Dorf<strong>und</strong><br />

Kantonshäuptlinge solche Mittelsmänner.<br />

Liest man die Berichte der Kolonialbeamten, dann gewinnt man zunächst<br />

den Eindruck einer bürokratisch voll erfaßten Welt. In den Berichten<br />

finden sich genaue Zahlen über die Einwohner, über den Bestand an Rindern,<br />

Schafen, Ziegen, über die Erntemengen an Gr<strong>und</strong>nahrungsmitteln<br />

wie Hirse, Reis, Maniok usw. In Wirklichkeit waren diese Zahlen Erfindungen,<br />

bestenfalls Schätzungen. Sie waren oft überhöht, weil die Kolonialbeamten<br />

die Tendenz hatten, jährliche Steigerungsraten zu melden, um ihre<br />

Vorgesetzten zu beeindrucken.<br />

Die Kolonialbürokratie bewegte sich weitgehend in einer fiktiven Welt.<br />

Das führte manchmal zu Katastrophen, weil z.B. Dürren <strong>und</strong> Hungersnöte<br />

nicht richtig eingeschätzt wurden. Aber andererseits verlieh es der Bürokratie<br />

nach innen <strong>und</strong> außen eine Stabilität, die ihr langfristig den Sieg<br />

sicherte.<br />

Welchen praktischen Nutzen hatten Listen <strong>und</strong> Tabellen? Ich will dies<br />

am Beispiel der militärischen Rekrutierung zeigen, die im Militärstaat<br />

Preußen von zentraler Bedeutung war. Zu Beginn des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts gab<br />

es zwei Methoden der inländischen Rekrutierung. Das erste war ein Quotenverfahren.<br />

Jeder Kreis mußte ein bestimmtes Mindestkontingent liefern.<br />

Wie er das zustandebrachte, blieb ihm überlassen. Die Zahl der Soldaten,<br />

die auf diese Weise aufgebracht werden konnten, erwies sich aber als zu<br />

gering. Man mußte daher auch auf die Werbung zurückgreifen. Werbung war<br />

freilich ein euphemistischer Begriff, denn es handelte sich hier oft genug<br />

um Raub, bei dem auch Blutvergießen nicht ausblieb. Vor allem bei der<br />

Jagd nach „langen Kerls" war den Werbern jedes Mittel recht. Die Bauernsöhne<br />

ergriffen bisweilen die Flucht ins Ausland; manchmal wanderten die<br />

Bewohner ganzer Dörfer aus. Wer reich genug war, versuchte, sich durch<br />

eine Lösesumme freizukaufen; die Armen griffen zum Mittel der Selbstverstümmelung.<br />

Gelegentlich leisteten sie auch zusammen mit ihrem Herrn<br />

bewaffneten Widerstand gegen die Rekrutierung.<br />

Diese Methoden der Soldatenrekrutierung sind typisch beim Fehlen<br />

einer bürokratischen Regelung. Zuerst versucht man es im Rahmen intermediärer<br />

Herrschaft mit einem Quotenverfahren. Da die gelieferten Kontingente<br />

nicht ausreichen, wird die intermediäre Herrschaft durch eine<br />

despotische ergänzt.<br />

Als Folge dieses despotischen Rekrutierungssystems war ein Niedergang<br />

der bäuerlichen Landwirtschaft nahezu unvermeidlich. 1733 stellte daher<br />

Friedrich Wilhelm I. die Rekrutierung durch das Kantonsystem auf eine<br />

völlig neue Gr<strong>und</strong>lage. Von nun an war die Rekrutierung im Prinzip büro-<br />

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kratisch geregelt. Wie funktionierte dieses System? Ganz Preußen wurde<br />

in Kantone aufgeteilt, die je einer Kompanie (später einem Regiment)<br />

exklusiv zur Aushebung von Soldaten zugeteilt wurden. Alle Jungen wurden<br />

noch vor ihrer Rekrutierung „enrolliert". Jeder pflichtige Knabe wurde<br />

in die vom Pfarrer geführte <strong>und</strong> dem Regiment mitgeteilte Liste eingetragen.<br />

Im Zusammenhang mit unserer Fragestellung ist es wichtig, daß das<br />

Kantonsystem für sein Funktionieren bürokratische Basisinformationen<br />

voraussetzte. Die militärische Bürokratie mußte Kenntnisse über die Bevölkerungszahl<br />

aller Ortschaften haben, damit sie Kantone mit gleicher Bevölkerungszahl<br />

einteilen konnte. Sie mußte überdies, <strong>und</strong> das war ungleich<br />

schwieriger, über ein Geburtenregister verfügen, damit sie die 10-jährigen<br />

Knaben, die für die Enrollierung vorgesehen waren, identifizieren konnte.<br />

Bei der Durchsetzung staatlicher Herrschaft gegenüber den intermediären<br />

Lokalgewalten war das Kantonsystem eine wichtige Etappe. Alle Enrollierten,<br />

d.h. alle Männer, auch wenn sie nicht in der Armee waren, unterstanden<br />

jetzt in mehreren Bereichen nicht den Anweisungen ihres Guts- <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>herrn, sondern dem Kompaniechef. Dieser erteilte die Heiratserlaubnis,<br />

dieser entschied darüber, wo sich der Enrollierte ansässig machen<br />

konnte. Die Enrollierten unterstanden dem Militärgericht. Die Bauern<br />

wurden hier direkte Untertanen des Staates.<br />

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STRATEGISCHE GRUPPEN, KLASSENBILDUNG UND<br />

GESELLSCHAFTLICHE ENTWICKLUNGEN<br />

Hans-Dieter Evers, Tilman Schiel<br />

Was unterscheidet das Konzept strategischer Gruppen vom originären Marxschen<br />

Klassenkonzept?<br />

Geschichte ist nicht nur als Abfolge von Kämpfen existierender Klassen zu<br />

begreifen: Gerade in Phasen rascher einschneidender Veränderung ist dies<br />

auch ein Prozeß des Zerfalls bestehender Klassen <strong>und</strong> der gleichzeitigen<br />

Selbstschöpfung neuer Klassen. Dies geschieht durch das strategische Handeln<br />

von Gruppen, die weniger von einem Ist-Zustand ausgehen als einen<br />

noch nicht bestehenden Zustand anstreben.<br />

Bürokratie als Handlungsfeld strategischer Gruppen<br />

Das Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts sah neben der territorialen Ausdehnung<br />

europäischer Kolonialreiche auch ein ungeheures Wachstum des kolonialen<br />

Sozialprodukts bei gleichzeitig zunehmender regionaler <strong>und</strong> sozialer<br />

Differenzierung. Im Kampf um die Verteilung des steigenden Sozialprodukts<br />

war die koloniale Bürokratie in nicht geringem Maße beteiligt.<br />

Die „Bürokratie" in Ländern der Dritten Welt ist eine sehr komplexe<br />

<strong>und</strong> von der unsrigen Verwaltung sehr verschiedene <strong>gesellschaftliche</strong> Erscheinung.<br />

Wir sind der Ansicht, daß es sich im strikten Sinne dabei nicht<br />

um eine Bürokratie handelt, da die Unterschiede zur Bürokratie als einer<br />

ganz spezifischen Form institutionalisierter Verwaltung im entwickelten<br />

Kapitalismus f<strong>und</strong>amental sind. Dies zeigt sich auch in der Debatte um den<br />

„bürokratischen Kapitalismus".<br />

•<br />

Man geht sicherlich von falschen Voraussetzungen aus, wenn man die<br />

heutigen Staaten der „Dritten Welt" als eine Hegelianische „Vernunftinstanz<br />

der bürgerlichen Gesellschaft" betrachtet oder in ihnen den Ausfluß<br />

Max Weberschen rationalen Handelns zum Wohle der Allgemeinheit vermutet.<br />

Die Bürokratie ist aber auch keineswegs einfach das Instrument einer<br />

herrschenden Klasse, wie von marxistischen Analytikern leichtfertig behauptet<br />

wird.<br />

Das strategische Handeln von Gruppen innerhalb der Bürokratie bzw.<br />

der vom Staat „bereitgestellten" Apparate zur Machtausübung kann anhand<br />

von Umstürzen, Staatsstreichen <strong>und</strong> Revolten besonders eindringlich vor<br />

Augen geführt werden:<br />

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Allgemein betrachtet, gab es zumindest zwei größere Bürokratisierungsschübe;<br />

der erste fand gegen Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts mit der Konsolidierung<br />

der Kolonialverwaltung bzw. der Einführung eines „modernen"<br />

Staatswesens statt. Der zweite Schub läßt sich nach wesentlichen politischen<br />

Ereignissen feststellen: z.B. der thailändischen Revolution von 1932,<br />

die zur Einführung der konstitutionellen Monarchie führte, der Unabhängigkeit<br />

Indonesiens mit dem Ende der 300-jährigen holländischen Kolonialherrschaft<br />

1945-47 <strong>und</strong> der malaysischen Unabhängigkeit zehn Jahre später.<br />

Daraus wird deutlich, daß ein erfolgreicher Unabhängigkeitskampf<br />

oder eine Revolution für bestimmte Gruppen im Verwaltungsapparat selbst<br />

ganz erhebliche positive Folgen hatte. Stellen in der Bürokratie wurden<br />

durchweg als Belohnung für die Unterstützung der neuen revolutionären<br />

Regierung vergeben, d.h. eine Umverteilung des Staatshaushalts von Infrastruktur<br />

<strong>und</strong> Entwicklungsmaßnahmen auf Beamtengehälter fand statt.<br />

Beispiel<br />

Thailand:<br />

Die sog. Revolution von 1932 in Thailand, die anstelle der absoluten Monarchie<br />

eine konstitutionelle setzte, war ganz klar das Resultat strategischen<br />

Handelns innerhalb der Bürokratie. Trotz der Modernisierung der Verwaltung<br />

unter dem Innenminister Prinz Damrong Ende des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

waren die führenden Positionen (die natürlich auch die einträchtigsten<br />

waren) immer noch dem Sakdina-Adel vorbehalten. Andererseits war der<br />

nichtadelige Teil der Bürokratie, der durch die Modernisierung geschaffen<br />

<strong>und</strong> stark ausgeweitet worden war, in den 20er Jahren von einem<br />

Schrumpfungsprozeß bedroht <strong>und</strong> zu Beginn der 30er Jahre zusätzlich<br />

durch starke Schwankungen verunsichert. Dieser Teil der Bürokratie revoltierte<br />

daher gegen seinen Schöpfer, die absolute Monarchie: die Träger<br />

dieser „Revolution" ohne Unterstützung des Volkes waren höhere Beamte<br />

<strong>und</strong> Offiziere.<br />

Diese Gruppen konnten dadurch nicht nur die Bedrohung durch Stellenabbau<br />

verhindern, sondern zugleich zusätzliche wichtige Positionen einnehmen.<br />

Die Politik danach zeigt dies eindeutig. Nicht nur steigt die Zahl<br />

der vom Staat Beschäftigten deutlich an, auch die Wirtschaftspolitik ändert<br />

sich. Sie verfolgt nun den Aufbau einer staatlichen bzw. staatlich kontrollierten<br />

Industrie. Dadurch sollten die Staatsrevenuen verbessert werden<br />

<strong>und</strong> das private (nicht selten in chinesischen Händen befindliche) Unternehmertum,<br />

das vorher eng mit dem Sakdina-Adel kooperierte, sollte<br />

unter Druck gesetzt werden. Es folgt eine Periode staatlich gelenkter Industrialisierung,<br />

die Periode des sog. „bürokratischen Kapitalismus". Diese<br />

Periode erlebt eine Neustrukturierung der Bürokratie in einer Weise, die es<br />

einer Gruppe von „Parvenues" erlaubt, einträgliche Positionen in der Wirtschaft<br />

einzunehmen bzw. Kontrolle über die Wirtschaft auszuüben.<br />

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Ein Vergleich strategischen Handelns einer bestimmten Gruppe im Zentrum<br />

der Bürokratie, nämlich der Ministerialbürokratie <strong>und</strong> der Armeeführung<br />

in Thailand, Malaysia <strong>und</strong> Indonesien zeigen deutlich, wie nach einer<br />

„gleichen" strukturellen Ausgangslage doch gr<strong>und</strong>verschiedene Strategien<br />

verfolgt wurden. Die Thai-Bürokraten (ursprünglich organisiert in der sog.<br />

Volkspartei) verschafften sich Zugang zu privaten Einkünften, indem sie<br />

sich in Abstimmung mit chinesischen Unternehmern zu stillen Teilhabern<br />

thailändischer Firmen machen ließen.<br />

In Malaysia griffen höhere Beamte selbst zur Tat:<br />

Als sich herausstellte, daß ein Eindringen in die chinesische Geschäftswelt<br />

aufgr<strong>und</strong> deren numerischer Stärke nicht möglich war, wurden Staatsunternehmen<br />

gegründet (z.B. die staatliche Bank Bumiputra, die Handelsgesellschaft<br />

Mara, die Ölgesellschaft Petronas <strong>und</strong> viele andere). In diesen Unternehmen,<br />

die parallel <strong>und</strong> in Konkurrenz zum privaten Sektor arbeiteten,<br />

wurden Direktorenposten <strong>und</strong> Aufsichtsräte vornehmlich mit malaysischen<br />

Beamten <strong>und</strong> Politikern besetzt.<br />

In Indonesien wurden nach 1956 zunächst ähnliche Strategien verfolgt.<br />

Nach 1965 sind jedoch Beamte <strong>und</strong> vor allem Offiziere neben ihrer<br />

Tätigkeit in der Bürokratie auch ins Privatgeschäft eingestiegen <strong>und</strong> haben<br />

sich als Unternehmer oder Großgr<strong>und</strong>besitzer betätigt. Dabei allerdings<br />

setzten sie chinesische Großkaufleute als „Berater" (indonesisch: cukong)<br />

ein. Diese Nutzung recht heterogener Einkommensquellen, beispielsweise<br />

die private Nutzung „öffentlicher" Institutionen, als Basis <strong>und</strong> Bedingung<br />

für den privilegierten Einstieg in die Privatwirtschaft <strong>und</strong> zur vorteilhaften<br />

Erlangung von Gr<strong>und</strong>besitz in kominierter Form nennen wir den Prozeß<br />

der „Hybridisierung" strategischer Gruppen.<br />

Nicht der Besitz an Produktionsmitteln oder ein irgendwie gearteter<br />

ökonomischer Zustand ist für die Konstitution strategischer Gruppen ausschlaggebend.<br />

Vielmehr zeigt unsere Analyse, daß strategische Gruppen<br />

nicht durch eine eindeutig bestim<strong>mb</strong>are soziale Lage gekennzeichnet sind.<br />

Sie werden vielmehr durch ein gemeinsames Interesse konstituiert, durch<br />

entsprechendes strategisches Handeln eine solche Lage erst zu schaffen<br />

<strong>und</strong> abzusichern.<br />

Hybridisierung strategischer Gruppen:<br />

Die Mitglieder strategischer Gruppen befinden sich nicht in einer eindeutigen<br />

sozialen Lage. Um eine einmal errungene Position abzusichern<br />

bzw. die eigene Lage zu verbessern <strong>und</strong> weiter auszubauen, haben strategische<br />

Gruppen die Tendenz, auf andere Bereiche überzugreifen. Diese fast<br />

zwangsläufige <strong>und</strong> oft gegen ursprüngliche Intentionen verlaufende Entwicklung<br />

berührt die Interessen anderer strategischer Gruppen. Dies kann<br />

sowohl zu Konflikten als auch zur Interessenkonvergenz <strong>und</strong> zur Koalition<br />

führen. Das Beispiel der Ministerialbürokraten in Thailand, Malaysia <strong>und</strong><br />

Indonesien zeigt sowohl Fälle von Parallelität (schwache Hybridisierung)<br />

wie solche von Sy<strong>mb</strong>iose. Letzteres heißt aber, daß die Hybridisierung in<br />

die Entstehung einer neuen Klasse umschlagen kann. Hybridisierung läutet<br />

also möglicherweise den Bildungsprozeß einer neuen Klasse ein.<br />

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Klassenbildung:<br />

Die vielen Autoren bekannte, aber selten erklärte „Heterogenität" strategischer<br />

Gruppen führt dazu, daß eine Klassenanalyse im herkömmlichen<br />

Sinne, <strong>und</strong> zwar im marxistischen wie auch im traditional-soziologischen<br />

Sinne, schlicht unmöglich ist. Der von uns vorgeschlagene Ansatz hebt auf<br />

den Klassenbildungsprozeß ab, statt auf bereits bestehende <strong>und</strong> a priori<br />

postulierte Klassenstrukturen fixiert zu sein. Ob <strong>und</strong> wann sich der Klassenbildungsprozeß<br />

in einer eindeutig erkennbaren Klassenstruktur niederschlägt,<br />

wird sich erst im Laufe einer langfristigen Entwicklung zeigen. Die<br />

Vielfalt strategischer Gruppenprozesse läßt jedoch allein schon wegen der<br />

tendenziellen Hybridisierung vielfältige Möglichkeiten der Klassenbildung<br />

plausibel erschienen. Jedenfalls ist es unseres Erachtens nach unzulässig,<br />

generell die Bildung einer sog. „Staatsklasse" zu postulieren.<br />

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ENTWICKLUNG, HEGEMONIEKRISE UND FRIEDENSFÄHIGKEIT IN<br />

DER GEGENWART<br />

Dieter Senghaas<br />

Bis zur Industriellen Revolution gab es in der Neuzeit mehrere, wenngleich<br />

brüchige Vormachtstellungen führender Mächte als Ergebnis erfolgreich erkämpfter<br />

Positionen an den Nahtstellen des weltweiten Fernhandels. Seit<br />

der Industrieilen Revolution ist Hegemoniebildung nur noch auf der Gr<strong>und</strong>lage<br />

einer jeweils überlegenen Nationalökonomie vorstellbar. Drei Faktoren<br />

begründen seitdem eine weltwirtschaftliche Spitzenstellung <strong>und</strong> den sich<br />

aus ihr ergebenden Verdrängungswettbewerb:<br />

— Die hohe Produktivität im landwirtschaftlichen, industriellen <strong>und</strong><br />

Dienstleistungssektor;<br />

— technologische Innovationen, die Leitsektoren begründen <strong>und</strong> von denen<br />

weitreichende Ausstrahlungskräfte auf die übrige Weltwirtschaft<br />

ausgehen;<br />

— schließlich organisatorische <strong>und</strong> institutionelle Innovationen, die eine<br />

Anpassung überkommener Institutionen an neue sozio-ökonomische<br />

Gegebenheiten erleichtern.<br />

Werden solche Faktoren durch eine zivilisatorische Ausstrahlungskraft der<br />

betreffenden Gesellschaft ergänzt, gewinnt eine ökonomische Vormachtstellung<br />

zusätzlichen kulturellen Flankenschutz. Noch bis vor 10-15 Jahren<br />

hatte das Bild des „American way of life" eben diese Funktion.<br />

Eine wachsende Diskrepanz zwischen dem überkommenen institutionellen<br />

Rahmen des internationalen Systems <strong>und</strong> neuen Machtlagen führt zur<br />

Krise des internationalen Systems: zur „Krise des Weltwirtschaftssystems",<br />

zur „Krise der internationalen Kommunikationsordnung", zur „Krise der<br />

Allianzen", usf. — Das Ergebnis ist eine um sich greifende Verunsicherung.<br />

Daß der Begriff der Sicherheitspolitik eine weit über die militärische Dimension<br />

hinausgehende Bedeutung gewinnt, überrascht nicht. An die Stelle<br />

einer tendenziellen ökonomischen Selbstregulierung tritt bewußte politische,<br />

im Grenzfall militärische Intervention als Mittel der Konfliktregulierung.<br />

Diese wird unausweichlich, wenn der relative Verfall einer Hegemonialposition<br />

<strong>und</strong> die Herausforderung durch nachrückende junge Hegemonialaspiranten<br />

mit einer weltwirtschaftlichen Schrumpfphase zusammenfällt<br />

<strong>und</strong> an die Stelle von Internationalismus <strong>und</strong> Kosmopolitismus Protektionismus<br />

<strong>und</strong> Nationalismus treten. Dann ist nicht mehr Interdependenz<br />

gefragt, sondern Geopolitik <strong>und</strong> Merkantilismus. Beide sind unübersehbare<br />

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Indizien für eine verfallende Hegemonialordnung in einer weltwirtschaftlichen<br />

Abschwungphase.<br />

Wie verarbeiten die USA die Hegemoniekrise?<br />

Während der ganzen siebziger Jahre hat es nicht nur in der Publizistik, sondern<br />

auch in der Politik verschiedener Administrationen (Nixon, Ford,<br />

Carter) in den USA Ansätze zu neuen weltpolitischen Strategien gegeben.<br />

Im einzelnen waren ihre Akzente durchaus unterschiedlich, allen jedoch lag<br />

die Absicht zugr<strong>und</strong>e, den „emerging complexities" der internationalen Gesellschaft<br />

mit einer „Politik der Interdependenz" konstruktiv zu begegnen.<br />

Zerbröckelt "nach <strong>und</strong> nach die politische Kontrolle über weite Bereiche<br />

der internationalen Gesellschaft <strong>und</strong> dokumentieren dramatische Ereignisse<br />

die eigene relative Schwäche, werden überdies solche Ereignisse als Ergebnis<br />

einer durchaus vermeidbaren eigenen Willensschwäche interpretiert, dann<br />

droht die Versuchung, mit Kraftakten Ordnung schaffen zu wollen. In den<br />

USA ist mit dem ,Reaganism" die „Philosophie" der emerging complexities<br />

<strong>und</strong> der Interdependenz zu Grabe getragen worden <strong>und</strong> die geopolitische<br />

Option zum Durchbruch gekommen.<br />

Die Probleme, denen sich die USA in der Welt ausgesetzt sehen, sind<br />

nicht nur, ja nicht einmal zuallererst, das Ergebnis selbstverschuldeter<br />

Schwäche, sondern eine Folge veränderter Kräfteverhältnisse.<br />

Die Probleme einer nur militärischen Weltmacht<br />

Daß die Sowjetunion inzwischen eine Weltmachtposition einnimmt, ist unbezweifelbar.<br />

Doch sie verdankt diese Stellung nicht den klassischen Merkmalen<br />

einer klassischen Hegemonialmacht der Neuzeit. Trotz aller bemerkenswerten<br />

Aufbauleistungen nach 1917 zeichnet sich die sowjetische Ökonomie<br />

immer noch nicht durch eine Entwicklungsdynamik aus, die die weitere<br />

Entwicklungsrichtung der Weltwirtschaft mitbestimmen könnte. Im<br />

Gegenteil, mit Hilfe von Technologietransfer werden technologische Innovationen<br />

importiert; die politisch motivierte Verhinderung institutioneller<br />

Innovationen führt zu einer Art Sklerotisierung der Gesellschaft, die eine<br />

wachsende Kluft zwischen Produktivkraftentfaltung <strong>und</strong> Produktionsverhältnissen<br />

entstehen läßt.<br />

Der weltpolitische Status der Sowjetunion verdankt sich nur dem inzwischen<br />

erreichten Militärpotential. Wie in alten Weltreichen (China, Mogul,<br />

Osmanen usf.) wird die eigene Gesellschaft durch einen bürokratischen<br />

Apparat zusammengehalten, dessen Rückgrat Sicherheitsorgane <strong>und</strong> Militär<br />

sind. Das hat erhebliche Folgen. So sind vielfältige Möglichkeiten ökonomi-<br />

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scher Selbststeuerung, die marktwirtschaftlich organisierte Konkurrenzökonomien<br />

kennzeichnen, nicht vorhanden.<br />

Das geht, wie die geschichtliche Erfahrung zeigt, lediglich solange gut,<br />

wie brachliegende Ressourcen extensiv mobilisierbar sind. Werden Ressourcen<br />

jedoch knapp <strong>und</strong> ist ein Übergang aus der extensiven Wachstumsphase<br />

in eine intensive überfällig, zeichnet sich eine Systemkrise ab.<br />

Ohne das heute verfügbare Militärpotential, das die Gr<strong>und</strong>lage <strong>und</strong> das<br />

Rückgrat des Weltmachtstatus' ausmacht, wäre die Sowjetunion als Herausforderer<br />

der USA zwar immer noch eine große Industriemacht, aber weltwirtschaftlich<br />

gesehen, genaugenommen, weniger als ein Schwellenland.<br />

Denn ein Schwellenland ist definiert durch Teilindustrialisierungsprozesse,<br />

die in einzelnen Sparten der Konsumgüterindustrie <strong>und</strong> des Maschinenbaus<br />

zu einer durchschlagenden Konkurrenzfähigkeit auf den Märkten alternder<br />

Industriegesellschaften führen. Davon kann heute, außerhalb politisch motivierter<br />

Handelsabkommen, kaum die Rede sein. Mit konkurrenzfähigen<br />

Ökonomien spielen sich die Beziehungen daher eher auf der Ebene klassischer<br />

Nord-Süd-Geschäfte ab: Rohstoffe werden gegen hochverarbeitete<br />

Fertiggüter, Maschinen <strong>und</strong> Technologie getauscht.<br />

Solange die Sowjetunion den Status einer Weltmacht anstrebt, <strong>und</strong> die<br />

einmal erreichte Position für erhaltenswert hält, ja sie auszubauen bestrebt<br />

ist, sind ihr deutlich Grenzen hinsichtlich der Verminderung ihres Militär<strong>und</strong><br />

Rüstungspotentials gesetzt. Erst der Aufbau dichter Außenwirtschaftsbeziehungen<br />

könnte hier Kompensationsmöglichkeiten schaffen; aber für<br />

einen solchen Aufbau fehlen fast alle Voraussetzungen.<br />

Gewöhnlich wird Planökonomien eine hohe administrative Flexibilität<br />

hinsichtlich ihrer Fähigkeit zugeschrieben, eine Rüstungswirtschaft auf<br />

Zivilgüterproduktion umzulenken. Auch hier sind Zweifel angebracht. Versuche<br />

der Investitionsumlenkung aus dem Schwerindustrie- <strong>und</strong> Investitionsgüterbereich<br />

in andere Sektoren, obgleich mehrfach an höchster politischer<br />

Stelle beschlossen, sind bisher im großen <strong>und</strong> ganzen gescheitert. Sie<br />

weisen auf das inzwischen erhebliche Eigengewicht der Apparate hin.<br />

Die Herrschaftsform <strong>und</strong> die von ihr geprägte Gesellschaft <strong>und</strong> Ökonomie<br />

lassen ebenso wie die militärische Eindimensionalität des Weltmachtstatus'<br />

eine eher geringe Beeinflußbarkeit der Sowjetunion von außen als<br />

wahrscheinlich erscheinen. Wenn eine Beeinflussung im Sinne einer Stärkung<br />

von Reformkräften erreicht werden soll, dann ist sie nur über eine<br />

nicht-bedrohliche Politik des Westens erreichbar. Aber selbst unter solchen<br />

heute nicht bestehenden Vorzeichen ist ihr Erfolg keineswegs sicher. Erfolg<br />

oder Mißerfolg hängen wesentlich davon ab, ob sich verdichtende Beziehungen<br />

zwischen Ost <strong>und</strong> West vor Ort politisch verkraftet werden können.<br />

Diese Problematik betrifft insbesondere Osteuropa <strong>und</strong> die Beziehungen<br />

zwischen Ost- <strong>und</strong> Westeuropa.<br />

Die Entspannungspolitik der siebziger Jahre bot der Sowjetunion Chancen,<br />

ihr Verhältnis zu Osteuropa zu normalisieren; sie hätte damit erhebliche<br />

politische Impulse auslösen können. Diese Chancen blieben ungenutzt;<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


vielmehr sollte mit untauglichen Mitteln ein brüchig gewordener Status quo<br />

noch einmal gesichert werden. Auch daran ist die Entspannungspolitik gescheitert.<br />

Man muß diesen Zusammenhang im Auge behalten, wenn Entspannungspolitik<br />

wiederbelebt werden soll. Es ist keineswegs sicher, daß<br />

eine solche Politik des Westens, die zu begrüßen wäre, nicht von der Sowjetunion<br />

als eine erhebliche gesellschaftspolitische Provokation empf<strong>und</strong>en<br />

würde, da sie in Osteuropa unter gegebenen Bedingungen absehbare destabilisierende<br />

Wirkungen hätte.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Die Autoren<br />

Günter Albrecht, Professor für Soziologie <strong>und</strong> Soziologie der Sozialarbeit, seit 1971 an<br />

der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld, Arbeitsschwerpunkte Theorie <strong>und</strong><br />

Empirie sozialer Probleme, Soziologie abweichenden Verhaltens <strong>und</strong> sozialer Kontrolle.<br />

Laszlo Alex, Dr. rer. pol., Hauptabteilungsleiter seit 1977 beim B<strong>und</strong>esinstitut für Berufsbildung,<br />

für den Bereich Strukturforschung, Planung <strong>und</strong> Statistik, davor mehrere<br />

Jahre im B<strong>und</strong>esministerium für Bildung <strong>und</strong> Wissenschaft tätig. Die Arbeitsmarkt- <strong>und</strong><br />

Berufsbildungsforschung ist seit 1968 sein hauptsächliches Arbeitsgebiet.<br />

Gotthard Bechmann, Studium der Rechtswissenschaft, Politikwissenschaft <strong>und</strong> der<br />

Soziologie, Arbeitsschwerpunkte: Planungs-, Technik- <strong>und</strong> Wissenschafts<strong>soziologie</strong>;<br />

Risikoforschung; Wertwandelforschung. Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Kernforschungszentrum<br />

Karlsruhe.<br />

Ursula Beer, Dr. phil., Studium der Politikwiss., Soziologie <strong>und</strong> Volkswirtschaft in<br />

Frankfurt, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Bielefeld, Fakultät für<br />

Soziologie, im Bereich Wirtschafts<strong>soziologie</strong>/Sozialökonomie, Schwerpunkt: Frauenarbeit<br />

in Familie <strong>und</strong> Beruf.<br />

Johannes Berger ist Professor an der Soziologischen Fakultät der Universität Bielefeld.<br />

Buchveröffentlichungen: Krise <strong>und</strong> Kapitalismus bei Marx (zusammen mit V. Bader<br />

<strong>und</strong> H. Ganßmann), 2 Bände, 197'5; Einführung in die Gesellschaftstheorie (m. V. Bader<br />

u.a.), 1980, Campus Verlag.<br />

Fritz Böhle, Dr. rer. pol., Institut für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. <strong>München</strong>.<br />

Arbeitsschwerpunkte: Zusammenhänge zwischen Entwicklungen industrieller Arbeit,<br />

sozialen Risiken <strong>und</strong> Sozialpolitik, Arbeitsschutzpolitik, Arbeits- <strong>und</strong> Berufsbildungsrecht<br />

sowie Interessenvertretung. Veröffentlichungen u.a.: Industrielle Arbeit <strong>und</strong><br />

Soziale Sicherheit (mit Norbert Altmann) 1972; Arbeitnehmerpolitik <strong>und</strong> betriebliche<br />

Strategien (mit Manfred Deiß) 1980; Verbesserung von Arbeitsbedingungen <strong>und</strong> Arbeitsmarktpolitik<br />

(mit Manfred Deiß u.a.) 1982.<br />

Hanns-Georg Brose, Dr. phil., Hochschulassistent am Institut für Soziologie der Philipps<br />

Universität Marburg. Arbeitsgebiete: Industrie- <strong>und</strong> Arbeits<strong>soziologie</strong>; Biographieforschung;<br />

Laufendes Forschungsvorhaben: Die Vermittlung sozialer <strong>und</strong> biographischer<br />

Zeitstrukturen. Publikationen: Die Erfahrung der Arbeit, Opladen 1983; (Hrsg.) Berufsbiographien<br />

im Wandel, Opladen 1985 (i. Druck); (zusammen mit L. Hack u.a., Leistung<br />

<strong>und</strong> Herrschaft, Frankfurt/N.Y., 1979).<br />

Rainer Döbert, Privatdozent an der FU Berlin. Arbeiten zur Evolution von Religion <strong>und</strong><br />

über handlungstheoretische Sozialisationstheorie.<br />

Klaus Düll, Dr. rer. pol., geb. 1936, <strong>ISF</strong> <strong>München</strong>. Arbeitsschwerpunkte: Betriebliche<br />

Arbeitskräftepolitik, technischer Wandel, Interessenvertretung der Arbeitnehmer, allgemeine<br />

industriesoziologische Probleme. Buchveröffentlichungen: Industrie<strong>soziologie</strong> in<br />

Frankreich, 1975; öffentliche Dienstleistungen <strong>und</strong> technischer Fortschritt, 1976 (zusammen<br />

mit D. Sauer, I. Schneller, N. Altmann); Grenzen neuer Arbeitsformen, 1982<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


(zusammen mit N. Altmann, P. Binkelmann, H. Stück); Industrie arbeit in Frankreich<br />

— Krisen <strong>und</strong> Entwicklungstendenzen Hrsg.), 1984.<br />

Klaus Eder war von 1971-1983 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut<br />

für Sozialwissenschaften. Seit 1983 ist er Mitglied der Münchner Projektgruppe für<br />

Sozialforschung e.V. <strong>und</strong> seit 1984 zugleich Privatdozent für Soziologie an der Universität<br />

Düsseldorf. Wichtige Veröffentlichungen: Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften.<br />

Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution. Frankfurt 197'6; Geschichte<br />

als Lernprozeß? Zur Pathogenese politischer Modernität in Deutschland. Frankfurt<br />

1985.<br />

Georg Elwert, geboren 1947, studierte Ethnologie <strong>und</strong> Soziologie an den Universitäten<br />

Mainz <strong>und</strong> Heidelberg. Promotion in Heidelberg 1973. Er führte zahlreiche Feldforschungen<br />

vor allem in Westafrika durch. Er lehrte an den Universitäten Zürich, Heidelberg<br />

<strong>und</strong> Bielefeld. Habilitation 1980 in Bielefeld in Soziologie <strong>und</strong> Sozialanthropologie.<br />

Als Heisenberg-Stipendiat arbeitete er in Bielefeld, an der Ecole des Hautes Etudes en<br />

Sciences Sociales in Paris <strong>und</strong> an der Yale University in den USA. Seit 1982 lehrt er als<br />

Professor für Soziologie an der Universität Bielefeld. 1985 erhielt er einen Ruf an die<br />

Freie Universität Berlin für das Fach Ethnologie.<br />

Adalbert Evers, Dr., arbeitet am Institut für Ausbildung <strong>und</strong> Forschung auf dem Gebiet<br />

der sozialen Wohlfahrt in Wien; Forschungstätigkeit auf dem Gebiet der Sozialpolitik<br />

unter besonderer Berücksichtigung internationaler Vergleiche auf der lokalen Ebene;<br />

neuere Veröffentlichungen u.a.: Was heißt hier eigentlich sozial? (zus. mit Opielka, M.)<br />

in: Opielka, M. (Hg.): Die ökosoziale Frage, Frankfurt; zus. mit Wintersberger, H./<br />

Nowotny, H. (Hg.) 1985: Can there be a new welfare State? London; Kommunale Wohnungspolitik<br />

als Sozialpolitik, in: Krüger, J./Pankoke, E. (Hg.) 1985: Kommunale Sozialpolitik,<br />

<strong>München</strong> / zus. mit Blanke, B./Wollmann, H. (Hg.): Die zweite Stadt. Unkonventionelle<br />

Formen des Umgangs mit Arbeit <strong>und</strong> Diensten in der Kommunalpolitik.<br />

Opladen (ersch. Anfang 1986).<br />

Hans-Dieter Evers ist Professor an der Fakultät für Soziologie <strong>und</strong> Vorsitzender des Forschungsschwerpunkts<br />

Entwicklungs<strong>soziologie</strong> der Universität Bielefeld. Von 1968-1971<br />

war er Professor für Soziologie an der Yale University <strong>und</strong> von 1971-1974 Professor<br />

für Soziologie an der Universität Singapore. Seine Forschungsinteressen liegen auf<br />

dem Gebiet der Entwicklungs<strong>soziologie</strong>, in den Problemen der Klassenbildung <strong>und</strong><br />

Marktsystemen. Zu seinen Publikationen gehören u.a.: Kulturwandel in Ceylon. Baden-<br />

Baden: Lutzeyer Verlag, 1969; Monks, Priests and Peasants — A Study of Buddhism and<br />

Social Structure in Central Ceylon. Leiden: E.J. Brill, 1972; Households and the World<br />

Economy. Beverly Hills: Sage Publications, 1985 (hg. mit J. Smith <strong>und</strong> I. Wallerstein).<br />

Christian von Ferber (geb. 1926) o. Prof. für Medizinische Soziologie an der Medizinischen<br />

Fakultät der Universität Düsseldorf, Arbeitsschwerpunkte: Medizinische Soziologie,<br />

Sozialpolitik. Veröffentlichung u.a.: Soziologie für Mediziner 1975; Mitherausgeber<br />

Handbuch für Sozialmedizin, 3 Bde. 1975-1977.<br />

Wolfram Fischer, Priv.-Doz., Dr. phil., geb. 1946, Heisenberg-Stipendiat der DFG an<br />

der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld; Lehrgebiet: allgemeine Soziologie.<br />

Arbeitsschwerpunkte: phänomenologische Soziologie, qualitative Methoden, Biographieforschung,<br />

medizinische Soziologie, Religions<strong>soziologie</strong>. Habilitationsschrift: Time and<br />

Chronic Illness. A Study on the Social Constitution of Time, Berkeley 1982 (Selbstverlag).<br />

Friedhelm Gehrmann, Prof. Dr., Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Fachhochschule<br />

des B<strong>und</strong>es für öffentliche Verwaltung. — Vorsitzender der Sektion „Soziale<br />

Indikatoren" der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. — Veröffentlichungen u.a.: zusammen<br />

mit Hans-Joachim Hoffmann-Nowotny (Hg.), Ansprüche an die Arbeit, Campus<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

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Verlag 1984; F.G. (Hg.), Von der Anspruchs- zur Verzichtgesellschaft? (erscheint im<br />

Herbst 1985 im Campus Verlag).<br />

Bernhard Giesen, geb. 1948, seit 1982 Professor für Soziologie am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften<br />

der Justus-Liebig-Universität Gießen, Nachfolge Helge Pross;<br />

1979-1983 Vorsitzender der Sektion Soziologische Theorien der Deutschen Gesellschaft<br />

für Soziologie. Wichtigste Veröffentlichungen: Die Mikro<strong>soziologie</strong>; Die Wissenschaftstheorie;<br />

Theorie, Handeln <strong>und</strong> Geschichte; eine Reihe von Aufsätzen zur<br />

soziologischen Theorie, Evolutionstheorie <strong>und</strong> zu Anwendungsproblemen der Wissenschaft.<br />

Heinz Griesbach, Dr. rer. pol., geb. 1934, Stellvertreter des wissenschaftlichen Leiters<br />

der Agrarsozialen Gesellschaft Göttingen (ASG). Seit 1969 wissenschaftlicher Mitarbeiter<br />

der Hochschul-Informations-System G<strong>mb</strong>H (HIS), Hannover, seit 1976 als Leiter der<br />

Abteilung „Empirische Untersuchungen, Baunutzungsplanung, Technische Versorgung".<br />

Zahlreiche Veröffentlichungen zu agrarwissenschaftlichen Themen sowie zum Verhalten<br />

von Studienberechtigten beim Ubergang von der Schule in weiterführende Ausbildungen<br />

<strong>und</strong> Erwerbstätigkeit, zum Studienverlauf <strong>und</strong> Studienverhalten von Studenten, zum<br />

Ubergang von Hochschulabsolventen ins Beschäftigungssystem.<br />

Hans Haferkamp, geb. 1939, seit 1974 Professor der Soziologie der Universität Bremen.<br />

Forschungsschwerpunkte: Theoretische Soziologie, Interaktionsforschung, Herrschafts<strong>soziologie</strong>,<br />

Soziologie der Devianz <strong>und</strong> sozialen Kontrolle. Publikationen: Soziologie als<br />

Handlungstheorie (1976 ), Kriminalität ist normal (1972), Die Struktur elementarer<br />

3<br />

sozialer Prozesse (1973), Kriminelle Karrieren. Handlungstheorie, Teilnehmende Beobachtung<br />

<strong>und</strong> Soziologie krimineller Prozesse (1975), Herrschaft <strong>und</strong> Strafrecht (1980),<br />

Soziologie der Herrschaft (1983). Arbeitet an einem Buch über soziologische Handlungstheorie.<br />

Ulf Herlyn, Prof. für Planungsbezogene Soziologie an der Universität Hannover, von<br />

1980 bis 1982 Vorsitzender der Sektion für Stadt- <strong>und</strong> Regional<strong>soziologie</strong> in der DGS;<br />

Arbeitsschwerpunkte: Stadt- <strong>und</strong> Regional<strong>soziologie</strong>, Wohnforschung. Veröffentlichungen<br />

u.a.: Wohnverhältnisse in der B<strong>und</strong>esrepublik, 2. Auflage, Frankfurt 1983 (zusammen<br />

mit Ingrid Herlyn); Großstadtstrukturen <strong>und</strong> ungleiche Lebensbedingungen, Frankfurt<br />

1980; Stadt im Wandel, Frankfurt 1982 (zusammen mit U. Schweitzer, W. Tessin<br />

<strong>und</strong> B. Lettko); außerdem weitere Aufsätze <strong>und</strong> Beiträge.<br />

Eckart Hildebrandt ist im Wissenschaftszentrum<br />

Vergleichende Gesellschaftsforschung tätig.<br />

Berlin im Internationalen Institut für<br />

Rainer Hohlfeld, Dr., geb. 1942 in Berlin, Studium der Biologie <strong>und</strong> Wissenschaftsphilosophie<br />

in Berlin, Freiburg, Tübingen <strong>und</strong> Köln, 1973 Promotion in Bakteriengenetik<br />

am Institut für Genetik der Universität Köln, 1974 bis 1980 wiss. Mitarbeiter des<br />

Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlichtechnischen<br />

Welt in Starnberg. Seit 1980 Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaft <strong>und</strong><br />

Wissenschaft an der Universität Erlangen-Nürnberg.<br />

Christel Hopf, geb. 1942, Dr. phil., Tätigkeit am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung<br />

in Berlin, Privatdozentin am Soziologischen Institut der Freien Universität Berlin.<br />

Schwerpunkte der Tätigkeit: Erziehungs<strong>soziologie</strong>, Organisations<strong>soziologie</strong>, Methoden<br />

der empirischen Sozialforschung. Wichtigste Veröffentlichungen: zusammen mit<br />

Elmar Weingarten, 1979: Qualitative Sozialforschung; zusammen mit Knut Nevermann<br />

<strong>und</strong> Ingo Richter, 1980: Schulaufsicht <strong>und</strong> Schule; zusammen mit Knut Nevermann <strong>und</strong><br />

Ingrid Schmidt, 1985: Wie kamen die Nationalsozialisten an die Macht? Eine empirische<br />

Analyse von Deutungen im Unterricht.<br />

Martin Irle, geb. 1927, Studium der Psychologie <strong>und</strong> Soziologie an der Universität Göttingen.<br />

Dipl.-Psych. 1952, Dr. rer. nat. 1955, Habilitation 1962, seit 1964 o. Professor<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


für Sozialpsychologie an der Universität Mannheim. 1968-1983 Sprecher des SFB 24<br />

„Sozialwissenschaftliche Entscheidungsforschung". Interessenschwerpunkte: Integration<br />

kognitiver Gleichgewichts- in kognitive Lerntheorien, Beziehungen 'nomologischer'<br />

sozialpsychologischer Theorien zu Sozialtechnologien, Programm-Evaluation.<br />

Bernward Joerges ist Wissenschaftler am Internationalen Institut für Umwelt <strong>und</strong> Gesellschaft<br />

des Wisschenschaftszentrums Berlin <strong>und</strong> Professor für Soziologie an der Technischen<br />

Universität Berlin. Hauptarbeitsgebiete: Verbraucherforschung, Umweltforschung,<br />

Wissenschafts- <strong>und</strong> Technik<strong>soziologie</strong>.<br />

Dieter Keim, Prof. an der Universität Ba<strong>mb</strong>erg im Fachgebiet Sozialplanung.<br />

Horst Kern, Prof. Dr. disc. pol., Professor für Soziologie an der Universität Göttingen.<br />

Arbeitsschwerpunkte: Industrie<strong>soziologie</strong>, empirische Sozialforschung, Geschichte der<br />

Soziologie, Kultur<strong>soziologie</strong>. Veröffentlichungen (Auswahl): Industriearbeit <strong>und</strong> Arbeiterbewußtsein<br />

(mit M. Schumann), Frankfurt/M. 1970 (Studienausgabe 1977, 2. Aufl.<br />

1985); Der soziale Prozeß bei technischen Umstellungen (mit M. Schumann), Frankfurt/M.<br />

1972; Produktion <strong>und</strong> Qualifikation (gemeinsam mit M. Baethge u.a.), Frankfurt/M.<br />

1974; Kampf um Arbeitsbedingungen, Frankfurt/M. 1979; Empirische Sozialforschung:<br />

Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien, <strong>München</strong> 1982; Das Ende der Arbeitsteilung?<br />

Rationalisierung in der industriellen Produktion: Bestandsaufnahme,<br />

Trendbestimmung (mit M. Schumann), <strong>München</strong> 1984, 2. Aufl. 1985.<br />

Helmut Klages, Prof. Dr., Inhaber des Lehrstuhls für Soziologie, insbesondere Organisations-<br />

<strong>und</strong> Verwaltungs<strong>soziologie</strong>, zugleich Mitglied des Forschungsinstituts für öffentliche<br />

Verwaltung. Letzte Buchveröffentlichungen: gemeinsam mit W. Herbert: Wertorientierung<br />

<strong>und</strong> Staatsbezug, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1983, 170 S. Wertorientierungen<br />

im Wandel, Frankfurt/New York: Campus Verlag 1984, 183 S. (u.a.).<br />

Reinhard Koselleck, Jahrgang 1923, seit 1973 Professor für Theorie der Geschichte an<br />

der Universität Bielefeld.<br />

Thomas Krämer-Badoni ist Professor am Studiengang Sozialwissenschaft der Universität<br />

Bremen.<br />

Wolfgang Krohn, Jahrgang 1941, studierte Philosophie, Sozialwissenschaft <strong>und</strong> Wissenschaftsgeschichte<br />

in Ha<strong>mb</strong>urg, Göttingen <strong>und</strong> Marburg. 1969 wissenschaftlicher Assistent<br />

am Philosophischen Seminar der Universität Ha<strong>mb</strong>urg; 1971-1980 Mitarbeiter des<br />

Max-Planck-Instituts zur Erforschung der Lebensbedingungen der wissenschaftlich-technischen<br />

Welt in Starnberg <strong>und</strong> Lehrbeauftragter der Universität <strong>München</strong>; seit 1981 Mitarbeiter<br />

des Universitätsschwerpunkts Wissenschaftsforschung der Universität Bielefeld.<br />

Veröffentlichungen auf dem Gebiet der Wissenschaftsgeschichte, Wissenschafts<strong>soziologie</strong><br />

<strong>und</strong> dem Grenzgebiet von Wissenschaft <strong>und</strong> Ethik.<br />

Manfred Küchler, als Professor am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Universität<br />

Frankfurt derzeit beurlaubt, war von 1981-1985 zunächst als einer der wissenschaftlichen<br />

Leiter, dann als geschäftsführender Direktor beim Zentrum für Umfragen, Methoden<br />

<strong>und</strong> Analysen (ZUMA) in Mannheim tätig. Seit Anfang 1985 ist er Professor an den<br />

Departments für Soziologie <strong>und</strong> für Politische Wissenschaft der Florida State University<br />

in Tallahassee, USA.<br />

Paolo Leon, Professor für Gr<strong>und</strong>lagen der Ökonomie am Institut für Architektur der<br />

Universität von Venedig.<br />

Georg Lohmann, Jahrgang 1948, von 1978 bis 1983 wissenschaftlicher Assistent für Philosophie<br />

an der PH <strong>und</strong> FU Berlin. Forschungsschwerpunkt ist die Sozialphilosophie.<br />

Aufsätze zu Marx, Lukács <strong>und</strong> Horkheimer; zusammen mit Emil Angehrn Hrsg. von<br />

„Ethik <strong>und</strong> Marx", Königstein/Taunus 1985.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Thomas Luckmann, geb. 1927 in Jesenice (Jugoslawien). Studium der Soziologie, Philosophie,<br />

Germanistik <strong>und</strong> Psychologie in Innsbruck, Wien <strong>und</strong> New York. 1956 Ph.D.<br />

an der New School for Social Research. Lehrte u.a. an der New School for Social<br />

Research, an den Universitäten Frankfurt, Freiburg <strong>und</strong> Harvard, seit 1970 Professor für<br />

Soziologie an der Universität Konstanz. Hauptsächliche Veröffentlichungen (ohne Zeitschriftenartikel<br />

u.a.): Die <strong>gesellschaftliche</strong> Konstruktion der Wirklichkeit (mit Peter<br />

Berger, 1969), The Invisible Religion (1970), Strukturen der Lebenswelt I (mit Alfred<br />

Schütz, 1973), Sociology of Language (1975), Lebenswelt <strong>und</strong> Gesellschaft (1980),<br />

Strukturen der Lebenswelt II (mit Alfred Schütz, 1984).<br />

Kurt Lüscher, Professor an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität Konstanz.<br />

Burkart Lutz, Prof. Dr. phil., geb. 1925. Nach dem Abitur (1943) durch Wehrdienst,<br />

Kriegsgefangenschaft <strong>und</strong> Berufstätigkeit mehrfach unterbrochenes Studium (Mathematik,<br />

Geschichte, Volkswirtschaft <strong>und</strong> Soziologie); Promotion 1959. Seit 1950 wissenschaftliche<br />

Tätigkeit als Übersetzer (Georges Friedmann <strong>und</strong> Jean Fourastié), verantwortlicher<br />

Mitarbeiter der industriesoziologischen Untersuchungsstelle des WWI der Gewerkschaften<br />

(1951-54) <strong>und</strong> freier Mitarbeiter von Unternehmen, Verbänden, internationalen<br />

Behörden <strong>und</strong> Forschungsinstituten (1954-1965). Seit 1965 geschäftsführender<br />

Direktor des Instituts für Sozialwissenschaftliche Forschung e.V. in <strong>München</strong>; seit 1967<br />

Honorarprofessor der Universität <strong>München</strong>. Seit 1983 Vors. der Deutschen Gesellschaft<br />

für Soziologie.<br />

Renate Mayntz, geb. in Berlin, Studium in den USA (B.A.) <strong>und</strong> an der FU Berlin (Dr.<br />

phil.); dort auch Habilitation. Erste Forschungstätigkeiten im UNESCO-Institut für<br />

Sozialwissenschaften Köln, später als DFG-Stipendiat <strong>und</strong> Rockefeller Fellow in den<br />

USA. 1965 Ordinarius für Soziologie an der Freien Universität Berlin, 1971 an der<br />

Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. Ausländische Lehrtätigkeiten:<br />

Colu<strong>mb</strong>ia University, New York, New School for Social Research, New York, University<br />

of Edinburgh, FLASCO, Santiago de Chile, Stanford University. Seit 1973 o. Professorin<br />

an der Universität zu Köln <strong>und</strong> Direktor des Instituts für angewandte Sozialforschung.<br />

1985 Direktorin des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung in Köln, Veröffentlichungen<br />

in den Bereichen: Organisations- <strong>und</strong> Verwaltungs<strong>soziologie</strong>, Politik<strong>entwicklung</strong><br />

<strong>und</strong> Politikimplementation.<br />

Heiner Meulemann, Dr. phil., Privatdozent für Soziologie, Mitarbeiter am Zentralarchiv<br />

für empirische Sozialforschung. Arbeitsschwerpunkte: Bildungs<strong>soziologie</strong>, sozialer Wandel,<br />

Methoden der empirischen Sozialforschung. Arbeitet gegenwärtig an einer Wiederbefragung<br />

erstmals im 16. Lebensjahr befragter Gymnasiasten nach 14 Jahren 1984, in<br />

der der berufliche <strong>und</strong> private Lebensweg erhoben wurde. Veröffentlichungen: Soziale<br />

Herkunft <strong>und</strong> Schullaufbahn. Arbeitsbuch zur empirischen Sozialforschung. Frankfurt<br />

1979; Soziale Realität im Interview (gemeinsam mit K.H. Reuband als Herausgeber).<br />

Frankfurt 1984; Bildung <strong>und</strong> Lebensplanung. Frankfurt 1985; Säkularisierung <strong>und</strong> Politik.<br />

Politische Vierteljahresschrift 1985.<br />

Richard Münch, geb. 1945, ist Professor für Sozialwissenschaft an der Universität Düsseldorf.<br />

Seine Arbeitsschwerpunkte bilden die soziologische Theorie, die historisch-vergleichende<br />

Soziologie <strong>und</strong> die politische Soziologie. Seine neuesten Veröffentlichungen<br />

sind: Theorie des Handelns, Frankfurt 1982; Soziologie der Politik, Opladen 1982; Die<br />

Struktur der Moderne, Frankfurt 1984; kurz vor der Veröffentlichung steht: Die Entwicklung<br />

der Moderne, Frankfurt 1986.<br />

Rosemarie Nave-Herz, Prof. Dr., geb. 19<strong>35</strong> in Berlin; Studium der Wirtschaftswissenschaften,<br />

Soziologie, Pädagogik <strong>und</strong> Germanistik in Köln; Dipl.-Hdl., schulpraktische<br />

Ausbildung <strong>und</strong> Unterrichtstätigkeiten an kaufmännischen Berufs- <strong>und</strong> Berufsfachschulen;<br />

1963 Promotion im Fach Soziologie an der Universität Köln.<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


Friedhelm Neidhardt, Prof., Forschungsinstitut für Soziologie der Universität zu Köln<br />

— Arbeitsschwerpunkt: Allgemeine Soziologie, Familie, Gruppe, soziale Bewegungen,<br />

Wissenschaft.<br />

Hartmut Neuendorff, geb. 1940, Professor für Soziologie, insbesondere Arbeits<strong>soziologie</strong><br />

an der Universität Dortm<strong>und</strong> — Arbeitsschwerpunkte: Arbeiterbewußtsein, Arbeitsmarkt,<br />

Technik <strong>und</strong> Zukunft der Arbeit, Deutungsmusteranalyse, Theorie der Gegenwartsgesellschaft.<br />

Ulrich Oevermann ist Professor für Soziologie an der Universität Frankfurt.<br />

Eckart Pankoke, Professor für Soziologie, Universität — Gesamthochschule Essen, Arbeitsgruppe<br />

für Verwaltungs- <strong>und</strong> Wirtschafts<strong>soziologie</strong>. 1980-1984 Sprecher der Sektion<br />

„Sozialpolitik" in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Lehr <strong>und</strong> Forschungsschwerpunkte:<br />

Sozialgeschichte <strong>und</strong> Soziologiegeschichte; Sozialpolitik <strong>und</strong> Sozialverwaltung;<br />

Werner Rammert, Dr. rer. soc, Fak. f. Soziologie der Universität Bielefeld, seit 1984 Geschäftsführung<br />

<strong>und</strong> Redaktion der „Zeitschrift für Soziologie", seit 1981 Herausgeber<br />

der Jahrbücher „Technik <strong>und</strong> Gesellschaft ". Forschungstätigkeiten: Wissenschafts- <strong>und</strong><br />

Technik<strong>soziologie</strong> am USP Wissenschaftsforschung in Bielefeld <strong>und</strong> an der Northwestern<br />

University bei Chicago (1973-1975); Industrie<strong>soziologie</strong> am Soziologischen Forschungsinstitut<br />

(SOFI) in Göttingen (1975-1978); seit 1978 Organisations<strong>soziologie</strong> <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />

Technikforschung am FSP „Zukunft der Arbeit" in Bielefeld. Wichtigste<br />

Veröffentlichungen: Technik, Technologie <strong>und</strong> technische Intelligenz in Geschichte<br />

<strong>und</strong> Gesellschaß. Bielefeld 1975 f 1981 ); Einführung in die Arbeits- <strong>und</strong> Industrie<strong>soziologie</strong><br />

(mit Littek <strong>und</strong> Wachtier). Frankfurt 1982 (1983 ); Soziale Dynamik der techni­<br />

2<br />

2<br />

schen Entwicklung. Opladen 1983.<br />

Barbara Riedmüller, geb. 1945, Dr. phil., Studium der Soziologie, Psychologie <strong>und</strong> Pädagogik<br />

in <strong>München</strong>. 1976 Promotion über Evolution <strong>und</strong> Krise, 1983 Habilitation ander<br />

Freien Universität Berlin. Sie ist Mitglied der Münchner Projektgruppe für Sozialforschung<br />

<strong>und</strong> lehrt als Professorin an der Universität der B<strong>und</strong>eswehr in <strong>München</strong>; seit<br />

1982 Mitherausgeberin der Zeitschrift Leviathan. Sie ist Mitglied der Sektion Frauenforschung<br />

sowie der Sektion Sozialpolitik in der Deutschen Gesellschaft für Soziologie.<br />

Veröffentlichungen schwerpunktmäßig in dem Bereich Sozialpolitik.<br />

Rolf Rosenbrock, Dr. rer., Dipl.-Kfm., geb. 1945, arbeitet seit 1977 im Wissenschaftszentrum<br />

Berlin (Schwerpunkt Arbeitspolitik), zahlreiche Buch- <strong>und</strong> Zeitschriftenveröffentlichungen<br />

in den Bereichen Ges<strong>und</strong>heitspolitik <strong>und</strong> Arbeitspolitik.<br />

Fritz Sack, Prof. Dr., Universität Ha<strong>mb</strong>urg. Seit 1984 Professur für Kriminologie am<br />

Aufbau- <strong>und</strong> Kontaktstudium Kriminologie der Universität Ha<strong>mb</strong>urg. Publikationen:<br />

Monographien, Aufsätze <strong>und</strong> Reader auf dem Gebiet des abweichenden Verhaltens, sozialer<br />

Bewegungen <strong>und</strong> der Rechts<strong>soziologie</strong>.<br />

Tilman Schiel ist ein wissenschaftlicher Angestellter im Forschungsschwerpunkt Entwicklungs<strong>soziologie</strong>,<br />

Universität Bielefeld. Er beschäftigt sich mit historisch-soziologischen<br />

Entwicklungen Indonesiens.<br />

Gert Schmidt, Hochschullehrer für Soziologie (Schwerpunkt Arbeit) an der Fakultät für<br />

Soziologie an der Universität Bielefeld. Veröffentlichungen in Industrie<strong>soziologie</strong> <strong>und</strong><br />

allgemeiner Soziologie. Gesellschaftliche Entwicklung <strong>und</strong> Industrie<strong>soziologie</strong> in den<br />

USA, Frankfurt 1974; Materialien zur Industrie<strong>soziologie</strong>, in: KZfSS, 24, hg. mit HJ.<br />

Braczyk <strong>und</strong> J. v.d.Knesebeck, Opladen 1982; „Industrie<strong>soziologie</strong>" in: Handbuch der<br />

Empirischen Sozialforschung, Bd. 8, hg. von R. König, Stuttgart 1977; „Technik <strong>und</strong><br />

kapitalistischer Betrieb. Max Webers Konzept der industriellen Entwicklung <strong>und</strong> das Rationalisierungsproblem<br />

in der neueren Industrie Soziologie" in: Max Weber <strong>und</strong> die Ra-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


tionalisierung sozialen Handelns, hg. von W.M. Sprondel <strong>und</strong> K. Seyfarth, Stuttgart<br />

1984. Vorsitzender der Sektion Industrie<strong>soziologie</strong> in der Deutschen Gesellschaft für<br />

Soziologie.<br />

Rudi Schmidt, Dr. rer. pol., wisschenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Soziologie<br />

der Universität Erlangen. Beteiligt an mehreren Forschungsprojekten aus dem Bereich<br />

der Industrie- <strong>und</strong> Betriebs<strong>soziologie</strong>: zum Arbeiter- <strong>und</strong> Angestelltenbewußtsein, zu<br />

den Auswirkungen industrieller Rationalisierungsmaßnahmen; gegenwärtig mit einem<br />

Projekt befaßt, in dem die Probleme der innerbetrieblichen Umsetzung des Manteltarifvertrags<br />

zur 38-1/2-St<strong>und</strong>en-Woche in der Metallindustrie untersucht werden. Veröffentlichungen<br />

aus diesen Bereichen.<br />

Wolfgang Schulenberg, Dr. phil., gest. 1985, war Professor für Soziologie an der Universität<br />

Oldenburg, Institut für Soziologie. Arbeitsbereiche: Allgemeine Soziologie, Bildungs<strong>soziologie</strong>,<br />

Kulturpolitik.<br />

Michael Schumann, Prof. Dr. disc. pol., Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts<br />

Göttingen (SOFI), Professor für Soziologie an den Universitäten Bremen <strong>und</strong> Göttingen.<br />

Arbeitsschwerpunkt: Industrie<strong>soziologie</strong>. Veröffentlichungen (Auswahl): Industriearbeit<br />

<strong>und</strong> Arbeiterbewußtsein (mit H. Kern), Frankfurt 1970 (Studienausgabe 1977, 2. Aufl.<br />

1985); Am Beispiel der Septe<strong>mb</strong>erstreiks — Anfang der Rekonstruktionsperiode der Arbeiterklasse?,<br />

Frankfurt/M. 1971 (mit F. Gerlach u.a.); Produktion <strong>und</strong> Qualifikation<br />

(mit M. Baethge u.a.), Frankfurt 1974; Sozialpolitik <strong>und</strong> Arbeiterinteresse, Frankfurt/M.<br />

1976 (mit M. Baethge u.a.); Rationalisierung, Krise, Arbeiter, Frankfurt/M. 1982<br />

(mit E. Einemann u.a.); Der soziale Prozeß bei technischen Umstellungen (mit H. Kern),<br />

Frankfurt/M. 1972; Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen<br />

Produktion: Bestandsaufnahme, Trendbestimmung (mit H. Kern), <strong>München</strong> 1984, 2.<br />

Aufl. 1985.<br />

Rüdiger Seltz arbeitet im Wissenschaftszentrum Berlin im Internationalen Institut für<br />

Vergleichende Gesellschaftsforschung.<br />

Dieter Senghaas, Dr. phil., Professor für Sozialwissenschaft mit den Schwerpunkten<br />

Internationale Politik <strong>und</strong> Internationale Gesellschaft im Fachbereich 8 (Soziologie)<br />

der Universität Bremen. Die ausführliche Version des Beitrags erschien in International<br />

(Wien), Nr. 1/1985; die Probleme einer nur militärischen Weltmacht (SU) wurden ausführlich<br />

in einem Beitrag in Friedensanalysen, Bd. 20, Frankfurt 1985 (edition suhrkamp<br />

1196) behandelt.<br />

Gerd Spittler, Professor für Soziologie an der Universität Freiburg. Arbeitsgebiete:<br />

Rechts<strong>soziologie</strong>, Politik <strong>und</strong> Verwaltung in Bauernstaaten, Wirtschaft von Bauern <strong>und</strong><br />

Nomaden. Publikationen: Norm <strong>und</strong> Sanktion (1967); Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis.<br />

Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat<br />

Preußen (1980); Herrschaft über Bauern. Die Ausbreitung staatlicher Herrschaft <strong>und</strong><br />

einer islamisch-urbanen Kultur in Gobir (1978); Verwaltung in einem afrikanischen<br />

Bauernstaat. Das koloniale Französisch-Westafrika 1919-1939 (1981).<br />

Walter Sprondel, o. Prof. für Soziologie in Tübingen, Arbeitsgebiete: Wissens-, Religions<strong>und</strong><br />

Kultur<strong>soziologie</strong>. Veröffentlichungen: Berufs<strong>soziologie</strong>, 1972 (mit Th. Luckmann).<br />

— M. Merleau Ponty <strong>und</strong> das Problem der Struktur in den Sozialwissenschaften, 1976. —<br />

A. Schütz <strong>und</strong> die Idee des Alltags, 1979 (beide mit R. Grathoff). — M. Weber <strong>und</strong> die<br />

Rationalisierung des sozialen Handelns, 1981. — Religion <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung,<br />

1973 (beide mit C. Seyfarth).<br />

Ulrich Teichler, Geschäftsführender Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums für Berufs-<br />

<strong>und</strong> Hochschulforschung <strong>und</strong> Professor an der Gesamthochschule Kassel. Geb.<br />

1942, Studium der Soziologie an der Freien Universität Berlin, Promotion über Bildungsexpansion<br />

<strong>und</strong> Statusdistribution in Japan. Autor bzw. Mitautor u.a. von: Hoch-<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776


schulexpansion <strong>und</strong> Bedarf der Gesellschaft (197'6), Der Arbeitsmarkt für Hochschulabsolventen<br />

(1981), Hochschulzertifikate in der betrieblichen Einstellungspraxis (1984);<br />

Herausgeber bzw. Mitherausgeber u.a. von Hochschule <strong>und</strong> Beruf (1979), Berufstätigkeit<br />

von Hochschulabsolventen (1983), Forschungsgegenstand Hochschule (1984).<br />

Helgard Ulshoefer, geb. 1945; Studium der Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialwiss. in Ha<strong>mb</strong>urg,<br />

Tübingen, <strong>München</strong>, Münster; seit 1966 in Berlin Referentin für Sozialpädagogik am<br />

Pädagogischen Zentrum; Arbeitsschwerpunkte: Situation berufstätiger Mütter <strong>und</strong> ihrer<br />

Kinder; Bildungsbeteiligung von Mädchen (Forschungsprojekte), zur Zeit: Mehr Chancen<br />

für Mädchen in der beruflichen Erstausbildung.<br />

Georg Vobruba, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Wissenschaftszentrum Berlin/IIMV.<br />

Lehrbeauftragter für Soziologie an den Universitäten Frankfurt <strong>und</strong> Klagenfurt. Veröffentlichungen<br />

u.a.: Politik mit dem Wohlfahrtsstaat (1983); „Wir sitzten alle in einem<br />

Boot". Gemeinschaftsrhetorik in der Krise (Hg., 1983).<br />

Immanuel Wallerstein lehrt am University Center at Binghamton, State University of<br />

New York.<br />

Marianne Weg, Diplom-Ökonomin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Landesinstitut<br />

Sozialforschungsstelle, Dortm<strong>und</strong>, Mitglied des Fachausschusses „Status der Frau" der<br />

Deutschen UNESCO-Kommission, Arbeitsschwerpunkte: Institutionen <strong>und</strong> Konzepte<br />

der Frauenpolitik; Arbeitsmarkt- <strong>und</strong> Sozialpolitik; Mitarbeit in der „MEMORANDUM-<br />

Gruppe Alternativen der Wirtschaftspolitik"; Mitarbeit am 6. Jugendbericht „Verbesserung<br />

der Chancengleichheit von Mädchen".<br />

Ansgar Weymann, Prof. für Soziologie an der Universität Bremen.<br />

Wolfgang Zapf, geb. 1937, Studium in Frankfurt, Ha<strong>mb</strong>urg, Köln <strong>und</strong> Tübingen; Habilitation<br />

in Konstanz; Professor für Soziologie in Frankfurt 1968, in Mannheim seit 1972.<br />

Zahlreiche Veröffentlichungen zur Eliteforschung, zu Sozialem Wandel <strong>und</strong> Modernisierung,<br />

zur Sozialindikatorenforschung <strong>und</strong> Gesellschaftspolitik, u.a. Wandlungen der<br />

deutschen Elite, <strong>München</strong> 1965; Theorien des sozialen Wandels, Köln 1969, 1979 ;<br />

4<br />

Sozialberichterstattung, Göttingen 1976; Lebensbedingungen in der B<strong>und</strong>esrepublik,<br />

Frankfurt 1977; Probleme der Modernisierungspolitik, Meisenheim 1977; Lebensqualität<br />

in der B<strong>und</strong>esrepublik, Frankfurt 1984.<br />

Walther Ch. Zimmerli, Prof. Dr. phil. habil., geb. 1945 in Zürich, ist seit 1982 Leiter des<br />

Seminars B für Philosophie an der Technischen Universität Braunschweig. Seit 1984 zusätzlich<br />

Vorsitzender des Bereichs „Mensch <strong>und</strong> Technik" beim VDI (Verein Deutscher<br />

Ingenieure). Hauptforschungsgebiete: Philosophie der Wissenschaften <strong>und</strong> Technologie,<br />

Sozialphilosophie, Ethik, Ästhetik, Geschichte der modernen Philosophie, bes. der Aufklärung,<br />

des Deutschen Idealismus <strong>und</strong> der Gegenwart. Letzte Buchveröffentlichungen:<br />

(Hg.) Kommunikation — Codewort für Zwischen-Menschlichkeit (Basel/Stuttgart 1978);<br />

(Mithg.) Die 'wahren' Bedürfnisse (Basel/Stuttgart 1978); (Hg.) Kernenergie — wozu?<br />

Bedürfnis oder Bedrohung (Basel/Stuttgart 1978); (Ko-Autor) Jugend ohne Orientierung<br />

(<strong>München</strong>/Wien/Baltimore 1981, 2. Aufl. Weinheim/Basel 1983).<br />

Lutz (1984): Soziologie <strong>und</strong> <strong>gesellschaftliche</strong> Entwicklung.<br />

URN: http://nbn-resolving.de/urn:nbn:de:0168-ssoar-100776

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