Waidgerechte Jagd und Wildlife-Management - Deutsches Jagd ...
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<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
Mutter-Kind-Beziehungen sind für die<br />
Evolution <strong>und</strong> das Wachstum insbesondere<br />
von Vogel- <strong>und</strong> Säugerpopulationen<br />
von zentraler Bedeutung. Hier entscheidet<br />
sich ihre Entwicklungsdynamik <strong>und</strong> ihr Überleben.<br />
Prädation wirkt sich deshalb gerade in der Aufzuchtzeit<br />
besonders drastisch aus.<br />
Verständlich, dass Muttertiere <strong>und</strong> insbesondere<br />
führende Muttertiere schon seit dem 15. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
immer im Zentrum von Schutz- <strong>und</strong> Hegemaßnahmen<br />
standen. Primär aus Nutzungsinteressen,<br />
nicht etwa wegen des Tierschutzes, wurde dabei<br />
sorgfältig zwischen „Nutzwild“, „Schadwild“ <strong>und</strong><br />
konkurrierenden Beutegreifern unterschieden.<br />
Goethe zur „Gewissenlosigkeit“ <strong>und</strong> danach zum<br />
Verdrängen. Hinzu kommt, dass wir Jäger natürlich<br />
auch unsere Vorlieben besitzen. Für den einen<br />
ist das Rotwild alles, für den anderen Fasan oder<br />
Rebhuhn.<br />
Foto: J. Kleinhenz<br />
Als der Fuchsbalg noch einen Wert besaß, wie<br />
zum Beispiel vor dem Zweiten Weltkrieg oder<br />
1598 in der Kurpfalz, wurde auch dem Fuchs eine<br />
Schonzeit gewährt, nämlich vom 2. Februar bis<br />
29. September. Beim Schalenwild war es in bestimmten<br />
Regionen oder zu bestimmten Zeiten<br />
sogar verboten, weibliches Wild zu erlegen. Der<br />
Abschuss von Alttieren war auf der Drückjagd<br />
tabu <strong>und</strong> ausschließlich erfahrenen Jägern bei der<br />
Einzeljagd vorbehalten. Nur dort, wo ansteigende<br />
Populationsdichten Probleme bereiteten, sensible<br />
Flächennutzungen Schäden heraufbeschworen<br />
oder Seuchenzüge zu Problemen führten, veränderten<br />
sich die Betroffenheitslage <strong>und</strong> damit auch<br />
die zuvor propagierten Schutzziele häufig schlagartig.<br />
Natürlich fand ein begeisterter Taubenzüchter<br />
ein Habicht-Brutpaar keineswegs schützenswert,<br />
ein Teichwirt sah im Kormoran nur noch einen<br />
widerlichen Mitfresser, ein Landwirt bekam beim<br />
Anblick einer führenden Bache auf seinem gepflegten<br />
Grünland Mordgelüste, einen Forstmann<br />
überkam bei der in sein Gatter eingesprungenen<br />
Rehgeiß meist auch kein besonderes Mitgefühl,<br />
<strong>und</strong> der Niederwildjäger <strong>und</strong> der Wiesenbrüterschützer<br />
wünschten der Fuchsfähe mit dem noch<br />
schreienden Brachvogel im Fang keineswegs Waidmannsheil.<br />
Die Betroffenheitsskala ließe sich beliebig<br />
erweitern. Sie spiegelt sich in jeder Hege- <strong>und</strong><br />
Bejagungsrichtlinie wider.<br />
Der nicht persönlich betroffene Ökologe mahnt<br />
meist zur Gelassenheit, aber der in seinen Rechten<br />
Betroffene, der Handelnde, neigt frei nach<br />
Auf das Kindchenschema der Jungtiere reagieren<br />
fast alle Primaten, insbesondere aber auch wir<br />
Jäger, mit spontaner Hilfe. Plötzlich ziehen wir die<br />
verwaisten Fuchswelpen, Steinmarder oder Jungkrähen<br />
selbst auf, deren Eltern zuvor noch Gegenstand<br />
von jagdlichen Eingriffszielen waren. Dabei<br />
können wir durchaus Nietzsche zustimmen, dass<br />
der nur „aus Mitleid Handelnde für den meisten<br />
Unsinn auf der Erde verantwortlich ist“.<br />
Eine historische Analyse deutscher <strong>Jagd</strong> belegt,<br />
dass dem Schutz der Muttertiere immer eine herausragende<br />
Bedeutung zukam. Schonzeitenregelungen<br />
<strong>und</strong> Hegemaßnahmen setzten primär beim<br />
Muttertierschutz an. Wer nachhaltig ernten <strong>und</strong><br />
jagen will, benötigt eine gesicherte Reproduktion.<br />
Aber frühzeitig wurde auch deutlich, dass beim<br />
Abschuss weiblicher Tiere das Risiko möglicher<br />
Kollateralschäden unser jagdliches Gewissen forderte.<br />
Fehler wirkten sich hier nicht nur auf den<br />
Bestand, sondern auch auf unser Gemüt gravierender<br />
aus als der spätestens <strong>und</strong> meist nur auf<br />
Auch Jäger reagieren<br />
auf hilfloses Jungwild<br />
<strong>und</strong> ziehen Tiere<br />
auf, die ansonsten<br />
Gegenstand jagdlicher<br />
Eingriffsziele sind.<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 17
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
den Trophäenschauen geahndete Abschuss eines<br />
„falschen“ Trophäenträgers. Der das waidgerechte<br />
Handeln zutiefst bestimmende Tierschutzgedanke<br />
zwang uns nicht nur durch verordnete<br />
Gesetze, sondern durch unser eigenes Gewissen,<br />
Muttertiere, selbst wenn sie erhebliche Schäden<br />
in bestimmten Kulturen anrichteten oder extrem<br />
gefährdete Arten an den Rand der Ausrottung<br />
drängten, dennoch zu schützen.<br />
Aber wir sind für das Ganze verantwortlich in<br />
unseren Revieren, nicht nur für das führende Muttertier,<br />
nicht nur für Rot- oder Gamswild, sondern<br />
für die gesamte Biodiversität, von Regenwurm<br />
<strong>und</strong> Rotkehlchen bis zum Rotwild, für die Vitalität<br />
des Jungwuchses, die Regeneration regionaltypischer<br />
Ökosysteme <strong>und</strong> für unsere immer enger<br />
werdende Kulturlandschaft. Das erfordert Wissen<br />
<strong>und</strong> Gewissen, Professionalität, Nachdenklichkeit<br />
<strong>und</strong> Augenmaß, aber auch im Einzelfall das Treffen<br />
von Entscheidungen, die nicht durch unsere<br />
Gesetze <strong>und</strong> Verordnungen voll gedeckt sein können,<br />
die gegen unser persönliches Empfinden <strong>und</strong><br />
unsere jagdliche Erziehung stehen, aber dennoch<br />
dem Ganzen dienen.<br />
Viele unserer heimischen Wildtiere wurden in<br />
anderen Kontinenten eingebürgert, in Australien<br />
oder Neuseeland, wo sie heute die dortigen<br />
Lebensgemeinschaften bedrohen <strong>und</strong> den offiziellen,<br />
wenig schmeichelnden Namen eines „pest<br />
animal“ erhielten. Ausrottung wurde zum Staatsziel<br />
für sie erklärt, der Schutz der Muttertiere<br />
spielte dabei keine Rolle, es war sogar erwünscht,<br />
führende Muttertiere zu eliminieren, ob es sich<br />
dabei um Ziegen auf Galapagos, Wasserbüffel im<br />
Norden von Australien, Hermeline in Neuseeland<br />
oder Füchse in Tasmanien handelte. „Das Ziel heiligt<br />
die Mittel“, wie bei der Rattenbekämpfung.<br />
Mir erscheint es wichtig, dass wir all dies bedenken<br />
sollten, um uns vor einseitigen Vorurteilen zu<br />
schützen, auch um uns nicht einzureihen in die<br />
Phalanx der „terribles simplificateurs“, die alles<br />
nur durch ihre Scheuklappen betrachten, bedacht<br />
auf ihr eigenes Wohlergehen <strong>und</strong> ihren Profit.<br />
Persönliches, Emotionales <strong>und</strong> die<br />
Normen der Jäger<br />
<strong>Jagd</strong> ist für mich nicht nur „Aufsuchen <strong>und</strong> Verfolgen<br />
von Wild, um es zu erlegen“, wie es das<br />
<strong>Jagd</strong>gesetz beschreibt. <strong>Jagd</strong> ist glückhaftes Erleben,<br />
fesselndes Einssein mit Landschaft, Wild<br />
<strong>und</strong> Zeit, ist kostbarer Augenblick in <strong>und</strong> mit der<br />
Natur, ist das Aufblühen eines taufrischen Morgens,<br />
Vogelruf, verträumtes Gefangensein im<br />
glitzernden Gewebe des Altweibersommers, ist<br />
Pirsch im Schattenspiel mondheller Nächte, ist<br />
Wissen, Nachdenklichkeit <strong>und</strong> Schönheit, Herbstnebelschwaden<br />
oder Zeichen im Schnee. <strong>Jagd</strong> ist<br />
aber auch wildes, blutvolles Vorwärtsstürmen,<br />
Testen unserer abgestumpften Sinne an sinnes-<br />
<strong>Jagd</strong> ist auch glückhaftes<br />
Erleben, das Aufblühen<br />
eines taufrischen<br />
Morgens, Herbstnebelschwaden<br />
oder Zeichen<br />
im Schnee.<br />
Foto: V. Klimke; P. müller<br />
Seite 18 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
scharfem Wild, ist ständiger Kampf zwischen Leidenschaft<br />
<strong>und</strong> Vernunft, altes Primatenerbe, ist<br />
Suche, manchmal auch Sucht nach Abenteuer in<br />
den letzten Wildnissen dieser Erde. <strong>Jagd</strong> ist auch<br />
Zuwendung <strong>und</strong> Hilfe für gesch<strong>und</strong>ene Natur, für<br />
bedrängte Umwelt, für gepeinigte Kreaturen, für<br />
Pflanzen <strong>und</strong> Tiere. Es ist die tiefe Liebe zur Natur,<br />
die richtige Jäger bewegt. <strong>Jagd</strong> erfordert deshalb<br />
auch Wissen, Erfahrung, Bescheidenheit, Nachdenklichkeit<br />
<strong>und</strong> Charakter.<br />
Aber – <strong>Jagd</strong> ist eben auch Passion, Leidenschaft<br />
<strong>und</strong> damit auch ein Stück triebhaftes Primatenerbe.<br />
Auch deshalb suchen wir nach einer moralisch-ethischen<br />
Bewertung unseres Jägerlebens,<br />
deshalb versuchen wir uns als waidgerechte, tierschutzgerechte<br />
oder ökosystemgerechte Jäger zu<br />
definieren, als „gerechte“ oder „richtige“; <strong>und</strong><br />
manchmal sind wir doch nur selbstgerecht.<br />
Jedem Schuss sollte eine Gewissensentscheidung<br />
unter durchdringender Anstrengung der<br />
eigenen Vernunft vorausgehen. Vernunft <strong>und</strong><br />
Gewissen sind die Gr<strong>und</strong>lagen sachgerechter<br />
Entscheidung im Zweifelsfall. Leidenschaft, Augenmaß<br />
<strong>und</strong> Verantwortungsbewusstsein prägen<br />
unsere Einstellung, denn wir tragen die Folgen unseres<br />
Handelns <strong>und</strong> Nichthandelns.<br />
Ich habe diese Bemerkungen vorweg gestellt,<br />
auch weil ich mir sicher bin, dass das Thema Muttertierschutz<br />
zwar ehrenwert ist, aber nicht immer<br />
mit höchster Priorität befolgt wird, häufig genug<br />
auch nicht ohne Rücksicht auf mögliche negative<br />
Folgen für Ökosysteme <strong>und</strong> andere Arten umgesetzt<br />
werden kann. Unsere Einstellungen zu Muttertieren<br />
werden durch Erziehung <strong>und</strong> <strong>Jagd</strong>ethik,<br />
aber auch von den Zielen <strong>und</strong> häufig genug widerstreitenden<br />
Interessen <strong>und</strong> Erfordernissen geprägt.<br />
In unterschiedlichen Ökosystemen ergeben<br />
sich auch bei sorgfältiger Abwägung der Folgewirkungen<br />
von Eingriffen oder Nichteingriffen auf<br />
andere Populationen keine einfachen Antworten.<br />
Es war im nördlichen Rio Negro Gebiet von Brasilien,<br />
wo ich als junger Student den Jahreswechsel<br />
1963/64 sammelnd <strong>und</strong> jagend mit Indianern<br />
verbrachte. Wir hatten Flachlandtapire angeschlichen;<br />
ein Muttertier mit Kalb. Eine Lanze tötete<br />
das führende Muttertier, das Jungtier entkam.<br />
Keiner der Indianer folgte seiner Fluchtfährte; nur<br />
das größere Stück Fleisch fesselte sie. Naturvölker<br />
sind nicht die „humaneren Wilden“, als die sie<br />
uns oft verkauft werden.<br />
Ende der 80er Jahre jagte ich im australischen<br />
Arnhem-Land bei Aborigines. Ein Feuer am Strand<br />
lockte. Die Verursacher, zwei Aborigines, rösteten<br />
gerade eine große Lederschildkröte, ihre Eier hatten<br />
sie bereits in einem Beutel verstaut. Für sie war<br />
es keine Straftat, nur altes Recht. Ich wäre dafür<br />
sofort eingesperrt worden. Meine Frau wendete<br />
sich ab, <strong>und</strong> ich ärgerte mich über die Sonderrechte,<br />
die den Ureinwohnern Australien zugebilligt<br />
wurden, natürlich aus schlechtem Gewissen.<br />
Anfang der 90er Jahre war ich mit einem <strong>Wildlife</strong>-Officer<br />
an der Grenze zwischen Zimbabwe<br />
<strong>und</strong> Mosambik unterwegs. Wir pirschten einen<br />
ausgetrockneten Bachlauf entlang. Bereits beim<br />
Aufstieg waren wir auf eine Elefantenherde mit<br />
einer extrem nervös-aggressiven Kuh, die nur einen<br />
Zahn besaß, aufmerksam geworden. Das<br />
sandige Bachbett begrenzten steile Ufer, Verengungen<br />
<strong>und</strong> Erweiterungen wechselten. Plötzlich<br />
stand die Einzahnige mit angelegten Ohren <strong>und</strong><br />
eingerolltem Rüssel am Rande des Abbruchs; wie<br />
eine Furie dampfte sie auf uns zu. Wir versuchten<br />
durch Arme-Hochreißen zu imponieren; das G 3<br />
meines „Beschützers“ klemmte; wir rannten um<br />
unser Leben; ein stechender Schmerz in meiner<br />
rechten Wade wurde später als Muskelfaserriss<br />
diagnostiziert. Als ich die Abbruchkante erreichte,<br />
war die Kuh fünf Meter vor mir; reflexartig erschoss<br />
ich sie; die 416 Rigby wirkte. Mein „Beschützer“<br />
war verschw<strong>und</strong>en, die übrige Herde<br />
stand mit hochgereckten, die Lage erk<strong>und</strong>enden<br />
Rüsseln am gegenüberliegenden Ufer, <strong>und</strong> ich<br />
hatte eine neue Patrone geladen; <strong>und</strong> merkwürdigerweise<br />
dachte ich in dieser Situation nicht an<br />
die Gefahr; mein Hauptproblem war, wo ist das zu<br />
diesem Drama vielleicht gehörende „Jungtier“?<br />
Als die Herde sich langsam zurückzog, kam mein<br />
„Beschützer“, überglücklich, dass ich noch lebte,<br />
vielleicht nicht wegen mir, sondern wegen seiner<br />
„Betreuungslizenz“. Ich untersuchte die alte Kuh;<br />
sie war nichtführend. Das war es, was mich in diesen<br />
Minuten wirklich bewegte.<br />
Das Kindchenschema<br />
junger Steinmarder<br />
wirkt nicht nur bei<br />
Studentinnen, sondern<br />
auch bei Professoren.<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 19
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
Definitiv zu schonen,<br />
doch allzu oft erlegt:<br />
Bache mit Zitzen,<br />
die sie als führendes<br />
Muttertier erkennen<br />
lassen.<br />
Von einem meiner Fre<strong>und</strong>e, einem Forstdirektor<br />
a. D., wurde ich zum Abendansitz auf Sauen<br />
in einem Staats-Waldrevier eingewiesen, mit der<br />
Bemerkung, „nichtführende Einzelstücke, Frischlinge,<br />
Überläufer <strong>und</strong> jagdbare Keiler dürfen erlegt<br />
werden“. Es kam eine einzelne sogenannte<br />
„Überläuferbache“, r<strong>und</strong> <strong>und</strong> gut genährt, keine<br />
Zitzen. Ich schoss; beim Aufbrechen fand ich<br />
sechs weit entwickelte Föten; mir drehte sich der<br />
Magen um, <strong>und</strong> ich habe den Vorgang auch öffentlich<br />
beschrieben. 25 Jahre später, durch hohe<br />
Wildschäden geschädigt, hatte ich die Aufgabe<br />
übernommen, die während einer Schweinepest-<br />
Phase explodierenden Bestände zu bremsen <strong>und</strong><br />
die in Wildsammelstellen angelieferten Wildschweine<br />
auf Alter <strong>und</strong> Geschlecht zu überprüfen.<br />
Was ich sah, verschlug mir die Sprache; kaum<br />
Frischlinge, schon gar keine gestreiften; Bachen in<br />
jeder Stärke, deren Milchleisten zum Teil fast mikrochirurgisch<br />
entfernt worden waren. Ich selbst<br />
hatte zuvor gefordert, die Bachen zu schonen, die<br />
Bestände älter werden zu lassen, <strong>und</strong> die Frischlinge<br />
so zu bejagen „als wolle man sie ausrotten,<br />
zur Not auch mit Frischlingsfängen“.<br />
Als ich dann noch forderte, dass die Bejagung mit<br />
Nachtsichtgeräten in Schweinepestgebieten erlaubt<br />
werden solle, weil ich wusste, dass man bei schlechtem<br />
Licht noch den „dunklen Klumpen“ aber nicht<br />
mehr die braunen Frischlinge ins Glas bekommen<br />
konnte, liefen die „waidgerechten Bedenkenträger“<br />
zur Hochform auf, <strong>und</strong> „verdammten den widerlichen<br />
Umgang mit Gottes Schöpfung“. Auch<br />
noch heute stehe ich dazu, Nachtsichtgeräte auf<br />
<strong>Jagd</strong>gewehren zur Reduktion von Schwarzwild<strong>und</strong><br />
Fuchspopulationen in Krisenzeiten <strong>und</strong> -gebieten<br />
zu erlauben. Ich kenne die Gefahren des<br />
Missbrauchs; aber die existieren überall dort, wo<br />
Nachtjagd auf Schwarzwild oder Beutegreifer erlaubt<br />
ist, auch ohne Nachtzielgeräte.<br />
Sicherlich ist es Mitleid, was unsere modernen<br />
<strong>Jagd</strong>kulturen stärker prägt als „Beutemachen“<br />
<strong>und</strong> „<strong>Jagd</strong>lust“. Es ist das zutiefst „Menschliche“,<br />
wie es KANT formulierte oder sagen wir vielleicht<br />
doch besser das „Modern-Menschliche“. Das verbindet<br />
uns mit allen Tierschützern. Dort wo Tiere<br />
jedoch Probleme insbesondere für die Landwirtschaft<br />
bewirken, werden die offiziell festgelegten<br />
Schonzeiten schon seit langem durch regionale<br />
Ausnahmegenehmigungen „durchbrochen“. Verordnungen<br />
scheinen dabei offensichtlich einen<br />
höheren „Tierschutzwert“ zu garantieren als jägerische<br />
Eigenverantwortung. Sollte Sankt Bürokratius<br />
von seinem Schreibtisch aus die komplexe<br />
Situation in unseren Ökosystemen, selbst im kritischen<br />
Einzelfall, besser beurteilen können, als<br />
ein erfahrener, die Natur kennender <strong>und</strong> liebender<br />
Jäger? Ich glaube nicht daran; <strong>und</strong> dennoch handeln<br />
wir so.<br />
Foto: M. Migos<br />
Seite 20 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
Die „Gerechten“ <strong>und</strong> die<br />
„Selbstgerechten“ zwischen<br />
Waid-, Tierschutz- <strong>und</strong><br />
Ökosystemgerechtigkeit<br />
Es ist viel über Waidgerechtigkeit geschrieben<br />
worden, lange bevor der Begriff im Preußischen<br />
<strong>Jagd</strong>gesetz von 1934 als Handlungsverpflichtung<br />
der Jäger festgeschrieben wurde. Natürlich<br />
ist Waidgerechtigkeit ein unbestimmter Rechtsbegriff,<br />
der sich durch ein ethisches Pflichtgebot<br />
gegenüber Wild, Mitmenschen <strong>und</strong> Umwelt definieren<br />
lässt. Paragraph 4 („Waidgerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> Hege“) des Preußischen <strong>Jagd</strong>gesetzes vom<br />
18. Januar 1934 bestimmte, „dass die <strong>Jagd</strong> nur<br />
nach den allgemein anerkannten Gr<strong>und</strong>sätzen<br />
deutscher Waidgerechtigkeit ausgeübt werden<br />
darf. Jeder Jäger ist verpflichtet … das Wild zu<br />
hegen“. Diese Formulierung wurde unverändert<br />
übernommen ins Reichsjagdgesetz vom 3. Juli<br />
1934 <strong>und</strong> ins B<strong>und</strong>esjagdgesetz vom 29. November<br />
1952. Natürlich ist der Begriff „wildlastig“, d.<br />
h. in Grenzbereichen zu anderen Zielen, wie Naturschutz,<br />
Biotopschutz, Waldschutz oder Kulturlandschaftsschutz,<br />
können Konflikte entstehen,<br />
die festgelegte Gebote <strong>und</strong> Verbote nach § 19<br />
B<strong>Jagd</strong>G zumindest relativieren können.<br />
Unbestimmte Rechtsbegriffe existieren jedoch<br />
keineswegs nur im <strong>Jagd</strong>gesetz. Die umweltrechtliche<br />
Normsetzung ist sowohl auf nationaler als<br />
auch auf europäischer Ebene durch die häufige<br />
Verwendung von unbestimmten Rechtsbegriffen<br />
gekennzeichnet. An Beispielen seien erwähnt:<br />
„Vermeidung von wesentlichen Umweltbelastungen“<br />
(Art. 2 Buchst. D EMAS II-VO), „schädliche<br />
Bodenveränderungen im Sinne von Beeinträchtigungen<br />
der Bodenfunktionen, die geeignet sind,<br />
Gefahren, erhebliche Nachteile oder erhebliche<br />
Belästigungen für den Einzelnen oder die Allgemeinheit<br />
herbeizuführen“ (§ 2 Abs. 3 BBodSchG),<br />
„erhebliche Beeinträchtigungen der Leistungs<strong>und</strong><br />
Funktionsfähigkeit des Naturhaushaltes“ (§<br />
18 Abs. 1 BNatSchG), „nach dem Stand der Wissenschaft<br />
im Verhältnis zum Zweck der Freisetzung<br />
unvertretbare schädliche Einwirkungen auf Leben<br />
<strong>und</strong> Ges<strong>und</strong>heit von Menschen, Tiere, Pflanzen<br />
sowie die sonstige Umwelt in ihrem Wechselgefüge“<br />
(§ 16 Abs. 1 Nr. 3 GenTG), „möglicherweise<br />
erhebliche Auswirkungen auf die Umwelt“ (Art. 1<br />
Abs. 1 UVP-RL).<br />
„Wenngleich eine derartige Normsetzungstechnik<br />
letztlich unvermeidbar sein dürfte <strong>und</strong> bei<br />
einem erweiterten Umweltverständnis eher noch<br />
zunehmen wird, so weist sie doch den gewichtigen<br />
Nachteil auf, dass sie zu Schwierigkeiten<br />
<strong>und</strong> Unklarheiten bei der Normanwendung führt“<br />
(Graduiertenkolleg „Verbesserung von Normsetzung<br />
<strong>und</strong> Normanwendung im integrierten Umweltschutz<br />
durch rechts- <strong>und</strong> naturwissenschaftliche<br />
Kooperation“; Univ. Trier, 2006, p. 8).<br />
Natürlich darf nicht übersehen werden, dass für<br />
viele unbestimmte Rechtsbegriffe vielfach bereits<br />
konkretisierende Regelwerke bestehen, deren<br />
Rechtsqualität <strong>und</strong> Rechtsverbindlichkeit erheblich<br />
variieren. Deshalb kommt es auch darauf<br />
an, diese Regelwerke kritisch auf inhaltliche Ausgestaltung<br />
<strong>und</strong> prozedurales Zustandekommen<br />
zu überprüfen. Hieraus können sich Vorschläge<br />
zur Neugestaltung oder auch zur Deregulierung<br />
ergeben. Hinter vielen Begriffen stehen jedoch<br />
formelle <strong>und</strong>/oder informelle Normen. An dieser<br />
Stelle muss jedoch auch darauf hingewiesen werden,<br />
dass letztlich kein Gesetz Gewissensentscheidungen<br />
in Grenzsituationen übernehmen kann,<br />
kein Gr<strong>und</strong>gesetz <strong>und</strong> auch kein <strong>Jagd</strong>gesetz.<br />
Am Beispiel von sechs kritischen politischen Entscheidungen<br />
hat das unter anderem Altb<strong>und</strong>eskanzler<br />
Schmidt am 27.2.2007 bei der Verleihung<br />
der Ehrendoktorwürde durch die Universität Marburg<br />
offengelegt. Rationale Vernunft ist gefordert.<br />
Allerdings sagte er auch – <strong>und</strong> hier beginnt unser<br />
Problem: „Moralische Argumentation, gepaart<br />
mit Demagogie, ist durchaus in der Lage die Kräfte<br />
rationaler Vernunft zur Seite zu schieben.“<br />
Es ist nicht alles unsere <strong>Jagd</strong>, was manche Jäger<br />
produzieren. Die Gr<strong>und</strong>sätze der deutschen Waidgerechtigkeit<br />
stellen unbestimmte Rechtsbegriffe<br />
dar, die – wie so Vieles – durch die rechtsanwendenden<br />
Behörden <strong>und</strong> Stellen ausgefüllt werden<br />
müssen, jedoch der verwaltungsgerichtlichen<br />
Kontrolle unterliegen.<br />
Tab. 1: <strong>Jagd</strong>strecken<br />
ausgewählter Wildarten<br />
in Deutschland<br />
seit dem <strong>Jagd</strong>jahr<br />
2003/04<br />
03/04 04/05 05/06<br />
Rotwild 62.363 62.057 62.902<br />
Rehwild 1.064.782 1.081.416 1.077.441<br />
Schwarzwild 470.283 476.042 476.645<br />
Füchse 552.958 566.406 604.452<br />
Kaninchen 156.361 162.096 189.699<br />
Ringeltauben 880.796 915.245 960.306<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 21
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
Die Rehwilddichte<br />
sollte den Äsungs- <strong>und</strong><br />
Biotopverhältnissen<br />
sowie jenen der Land<strong>und</strong><br />
Forstwirtschaft<br />
angepasst sein.<br />
Beim Hege-Gedanken <strong>und</strong> den Schonzeiten-<br />
Verordnungen kommt dem Schutz reproduktiver<br />
weiblicher Tiere eine besondere Bedeutung<br />
zu. Allerdings ist leicht nachvollziehbar, dass die<br />
Einstellungen zu den einzelnen Wildtieren auch<br />
geprägt sind von deren Rolle <strong>und</strong> Funktionen in<br />
Ökosystemen <strong>und</strong> Kulturlandschaften. Wir stellen<br />
heute fest, dass die jeweilige Betroffenheit der<br />
Flächennutzer meist den Verlauf der Kampflinien<br />
bestimmt. Der öffentlich meist vehement vertretene<br />
Muttertierschutz besitzt offensichtlich eine<br />
art- <strong>und</strong> standortspezifische Relativität, über die<br />
man naturgemäß aber nicht gerne spricht.<br />
Ökosystemgerechte <strong>Jagd</strong> geht von den Wildtierpopulationen,<br />
ihren Lebensgemeinschaften<br />
<strong>und</strong> den von ihnen bewohnten Ökosystemen<br />
aus, wobei streng unterschieden wird zwischen<br />
„naturnahen“ <strong>und</strong> „vom Menschen bestimmten<br />
Ökosystemen“. Die von uns zu diskutierenden<br />
Schauplätze sind in Mitteleuropa ausnahmslos<br />
Kulturlandschaften, deren Entwicklungsziele vom<br />
Menschen definiert <strong>und</strong> bestimmt werden. Unterschiedliche<br />
Wildarten können in Kulturlandschaften<br />
zu Problemarten werden, ebenso wie<br />
viele Arten, die früher einmal oder nie dem <strong>Jagd</strong>recht<br />
unterlagen. Die schon fast wieder vergessenen<br />
Diskussionen um Tollwut-Viren, BSE oder<br />
H5N1 lassen grüßen.<br />
Beachtet man nun, dass ausgerechnet die Wildarten<br />
mit einem unterschiedlichen Konfliktpotential<br />
auch in hoher Stückzahl jährlich erlegt werden,<br />
darf nicht nur theoretisch unterstellt werden, dass<br />
trotz genereller Schutzbestimmungen für Muttertiere<br />
während der Aufzuchtzeit ihrer Jungtiere<br />
manches Muttertier geschossen wird, einige auch<br />
mit dem Segen entsprechender Verordnungen,<br />
mit denen auch EG-Richtlinien durchaus gesetzeskonform<br />
unterlaufen werden.<br />
<strong>Jagd</strong> zwischen Betroffenheit,<br />
Zielen <strong>und</strong> Vernunft<br />
Rot-, Reh-, Gams- <strong>und</strong> Schwarzwild<br />
Beim herbivoren Rot-, Dam-, Gams- <strong>und</strong> Rehwild<br />
auf der einen Seite <strong>und</strong> dem omnivoren Schwarzwild<br />
auf der anderen Seite scheiden sich die Geister.<br />
Ein Forstmann steht einer Rehgeiß im Kulturgatter<br />
oder einer Gams im montanen Schutzwald<br />
völlig anders gegenüber als einem wilden Keiler<br />
im Laubwald. Ein Landwirt wird dagegen beim<br />
Anblick einer gemischten Rotte auf seinem Wintergetreidefeld<br />
oder auf seinen Grünlandflächen<br />
Mordgedanken entwickeln. Die Betroffenheit ist<br />
unterschiedlich, <strong>und</strong> damit auch die Einstellungen<br />
zu den Wildtieren, auch bei Wald- <strong>und</strong> Feldjägern,<br />
<strong>und</strong> das schlägt sich in vielen „Schlachtparolen“,<br />
Hegerichtlinien <strong>und</strong> Gesetzen nieder.<br />
So soll das Waldgesetz für Bayern insbesondere<br />
dazu dienen „einen standortgemäßen <strong>und</strong> möglichst<br />
naturnahen Zustand des Waldes unter Berücksichtigung<br />
des Gr<strong>und</strong>satzes Wald vor Wild zu<br />
bewahren oder herzustellen“. In Art. 1 Abs. 2 des<br />
Bayerischen <strong>Jagd</strong>gesetzes wird gefordert, dass „Beeinträchtigungen<br />
einer ordnungsgemäßen land-,<br />
forst- <strong>und</strong> fischereiwirtschaftlichen Nutzung durch<br />
das Wild möglichst zu vermeiden sind, insbesondere<br />
soll die Bejagung die natürliche Verjüngung<br />
der standortgemäßen Baumarten im Wesentlichen<br />
ohne Schutzmaßnahmen ermöglichen“.<br />
Aber auch die Gr<strong>und</strong>besitzer, die <strong>Jagd</strong>genossen,<br />
sollten beachten, dass § 1 des Tierschutzgesetzes<br />
über ihrem Anliegen steht: „Niemand darf einem<br />
Tier ohne vernünftigen Gr<strong>und</strong> Schmerzen, Leiden<br />
oder Schäden zufügen.“<br />
Bereits ein Blick auf das Verbreitungsgebiet der<br />
europäischen <strong>und</strong> sibirischen Rehe verdeutlicht,<br />
dass sie in sehr unterschiedliche Ökosysteme integriert<br />
sind, dass sie Anpassungskünstler sind,<br />
auch begünstigt durch einen hohen genetischen<br />
Polymorphismus. Bereits vor 500.000 Jahren,<br />
als es den modernen Menschen noch nicht gab<br />
<strong>und</strong> weder deutsche Förster noch Jäger über die<br />
Ziele des Waldbaus <strong>und</strong> der Schalenwildbewirtschaftung<br />
stritten, lebten Rehe in Deutschland,<br />
gemeinsam mit Homo erectus oder dem Neandertaler.<br />
Begünstigt werden sie heute auch durch<br />
Foto: m. breuer; P. Müller<br />
Seite 22 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
unterschiedliche soziale biotopangepasste Organisationsmodelle,<br />
die an Komplexität deutlich<br />
über das hinausgehen, was sogenannte Rehwildbewirtschaftungsrichtlinien<br />
widerspiegeln. Rehfamilien<br />
kennen ihre Sippenmitglieder sehr gut,<br />
auch wenn die meisten von ihnen während der<br />
territorialen Fortpflanzungszeit ihre jeweiligen Reviere<br />
mit Vehemenz verteidigen.<br />
Mindestens vier soziale Organisationsmodelle<br />
wurden beim Reh beschrieben. Diesem Anpassungskünstler<br />
kommt weiterhin zugute, dass es<br />
große individuelle Unterschiede innerhalb lokaler<br />
Populationen gibt. Durch sorgfältige langjährige<br />
Beobachtungen, durch Markierungen <strong>und</strong><br />
vor allem telemetrische Untersuchungen wurden<br />
viele neue Erkenntnisse über den Anpassungskünstler<br />
Rehwild gewonnen. Sie erklären, warum<br />
das Rehwild kontinuierlich Gr<strong>und</strong>lagen schafft für<br />
immer neue jägerische Anekdoten <strong>und</strong> Legenden.<br />
Natürlich gibt es den während der Vegetationszeit<br />
„territorialen Bock“ <strong>und</strong> die „territoriale Ricke“<br />
mit ihrem Nachwuchs, die, wenn es ihre Fitness<br />
erlaubt, die optimalen Territorien von 30 bis 50<br />
Hektar erfolgreich für sich beanspruchen. Manche<br />
von ihnen bleiben ganzjährig auf diesen Flächen,<br />
andere führen weite Wanderungen auf bis zu 320<br />
Hektar Fläche durch.<br />
Natürlich werden jüngere Böcke <strong>und</strong> Schmalrehe<br />
aus den optimalen Habitaten verdrängt <strong>und</strong><br />
finden sich häufig, bevor sie völlig ins Nachbarrevier<br />
abgedrängt werden, in suboptimalen Randhabitaten.<br />
Wenn die optimalen Habitate besetzt<br />
sind, fliegen fast immer die sich territorial gebenden<br />
starken Jährlinge aus dem Revier, in dem sie<br />
geboren wurden. Dennoch gilt, dass Rehe im Allgemeinen<br />
standorttreu sind, allerdings gehören<br />
auch Abwanderungen von fünf bis 25 Kilometern<br />
zur Biologie einer Rehwildpopulation.<br />
Die Rehwilddichte sollte den Äsungs- <strong>und</strong> Biotopverhältnissen<br />
sowie den Erfordernissen der<br />
Land- <strong>und</strong> Forstwirtschaft angepasst sein. Zu hohe<br />
Wilddichten führen zu krankem <strong>und</strong> schwachem<br />
Wild, hoher natürlicher Sterblichkeit <strong>und</strong> zu übermäßigen<br />
Schäden in der Land- <strong>und</strong> Forstwirtschaft.<br />
Die Rehwilddichte kann erfahrungsgemäß<br />
am treffendsten über mittelbare Weiser, insbesondere<br />
die Kondition des Wildbestandes <strong>und</strong> den<br />
Vegetationszustand, belegt <strong>und</strong> kontrolliert werden.<br />
Deshalb sollten wir in Zukunft gemeinsam<br />
eintreten für reichhaltig strukturierte, naturnahe<br />
Wälder mit vitalen Rehpopulationen. Dabei muss<br />
beachtet werden:<br />
• Rehwildbejagung erfordert ein tieferes Verständnis<br />
für die Wechselbeziehungen zwischen<br />
Wild <strong>und</strong> Ökosystemen,<br />
• Abschusspläne sind häufig nur sozialpflichtige<br />
Versuche, einen „Anpassungskünstler“ zahlenmäßig<br />
gerecht zwischen Reviernachbarn aufzuteilen;<br />
• Das Wild-Wald-Problem lässt sich nicht allein<br />
mit Blei lösen, sondern nur durch sukkzessive<br />
Anpassung der Altersstruktur, der Geschlechterverhältnisse<br />
<strong>und</strong> der Wilddichte an eine verbesserte<br />
Biotop- <strong>und</strong> damit auch Äsungsqualität<br />
insbesondere in unseren Wäldern.<br />
Das bedeutet aber, dass wir folgende Empfehlungen<br />
für eine wild- <strong>und</strong> ökosystemgerechte<br />
Rehwildbejagung in Feld-Wald-Revieren beherzigen<br />
sollten:<br />
• Bestand älter werden lassen <strong>und</strong> deshalb frühzeitige,<br />
konsequente Bejagung der Jugendklasse<br />
<strong>und</strong> schwacher Einzeltiere.<br />
• <strong>Jagd</strong>liche Störeinflüsse minimieren, besser Totalabschuss<br />
schwacher Familienverbände als<br />
Einzelabschuss von Kitzen.<br />
• Tierschutz <strong>und</strong> Abschussplanerfüllung dürfen<br />
bei der <strong>Jagd</strong> nicht zu Gegensätzen werden.<br />
• <strong>Jagd</strong> muss auch dort, wo Wild Schaden verursacht<br />
<strong>und</strong> wir gezwungen sind, mehr zu schießen,<br />
immer die tierschutzgerechteste Form des<br />
Fleischerwerbs sein.<br />
In den Richtlinien zur Bejagung des Rehwildes<br />
für das Saarland von 1990 wurde genau dieses<br />
standortspezifische, differenzierende Vorgehen<br />
vorgeschlagen. Vegetation <strong>und</strong> Wild wurden als<br />
Eine frühzeitige<br />
konsequente Bejagung<br />
der Jugendklasse <strong>und</strong><br />
schwacher Einzeltiere<br />
ist wild- <strong>und</strong> ökosystemgerecht.<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 23
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
„Zähne am Anschuss,<br />
gekürzte Läufe am<br />
Stück,... sind dunkle<br />
Farbtupfer der Palette,<br />
die sich im Gedächtnis<br />
von Schweißh<strong>und</strong>eführern<br />
mit zahlreichen<br />
Nachsuchen auf<br />
Schwarzwild einprägen“,<br />
schreibt Hopp<br />
1984.<br />
„Weiser“ eingesetzt, <strong>und</strong> wo gravierende Fehler<br />
festgestellt wurden, wurde das jagdliche <strong>und</strong><br />
forstliche Verhalten entsprechend eingestellt<br />
(Schwerpunkt-Abschuss), wo Wild <strong>und</strong> Vegetation<br />
im Einklang standen, waren viele Bejagungsmodelle<br />
möglich. Das bedeutete aber auch, dass<br />
in unterschiedlichen Gebieten eine unterschiedliche<br />
Bejagungsvorgabe gemacht wurde.<br />
An einem Gr<strong>und</strong>satz wurde jedoch nie gerüttelt:<br />
Bei jeder Form der Bejagung darf es keine verwaisten<br />
Jungtiere geben. Das Prinzip „Kitz vor Geiß“<br />
galt, auch wenn uns klar war, dass das Beste der<br />
Abschuss kompletter schwacher Familien-Verbände<br />
war. Das garantierte, dass keine „jagdgeschädigten“<br />
Altgeißen den Bestand neurotisierten.<br />
Verwaiste Kitze überleben meist unsere milden<br />
Winter; sie kümmern jedoch <strong>und</strong> tauchen im darauf<br />
folgenden <strong>Jagd</strong>jahr als schwache Schmalrehe<br />
oder Knopfböcke meist wieder auf. Das Risiko,<br />
das Muttertier vor den Kitzen zu erlegen, ist naturgemäß<br />
bei Drückjagden deutlich höher als bei<br />
der Einzeljagd.<br />
Unbestritten ist der Verlust des führenden<br />
Alttieres für das Überleben von Hirschkälbern<br />
noch gravierender. Führungslose Jungtiere<br />
werden aus den Rudelverbänden meist ausgeschlossen.<br />
Verantwortungsvolle Jäger verbieten<br />
deshalb den Abschuss von Alttieren auf Treibjagden<br />
meist, da häufig nicht zwischen führend<br />
<strong>und</strong> nicht führend unterschieden werden kann.<br />
Der Alttierabschuss gehört in die Hand eines<br />
die Situation vor Ort genau kennenden Jägers,<br />
Gäste sollten bei Drückjagden keine Alttiere<br />
freibekommen. Ein „falscher“ Kronenhirsch ist<br />
weniger gravierend als ein führendes Alttier,<br />
das allein kam <strong>und</strong> dennoch führte. Im Hochgebirge<br />
oder in Extremwintern ist der Verlust des<br />
Muttertieres fast immer ein Todesurteil für dessen<br />
Kälber. Das gilt auch für das Gamswild. Die<br />
Tatsache, dass verwaiste Gamskitze auch schon<br />
einmal den Winter an einer Fütterung überleben,<br />
darf nicht als Argument dienen für ein<br />
absolut tierschutzverachtendes Verhalten. Die<br />
<strong>Jagd</strong> sollte sich von jagdlichen Gemütskrüppeln,<br />
die sicherlich die Ausnahme sind, trennen.<br />
Bei keiner anderen Wildart klafft jedoch zwischen<br />
<strong>Jagd</strong>ethik <strong>und</strong> <strong>Jagd</strong>praxis eine extremere<br />
Lücke als beim Schwarzwild. Kaum eine andere<br />
Wildart übt auf viele Jäger eine solche Faszination<br />
aus. Über Jahrh<strong>und</strong>erte wurden Sauen als Schadwild<br />
behandelt, bei dem <strong>Jagd</strong>passion <strong>und</strong> die Notwendigkeit<br />
intensiver Bejagung nur allzu leicht<br />
die Verantwortung vergessen ließen. Die Grenzen<br />
jagdlichen Anstandes werden leider auch noch<br />
heute bei keiner Wildart so schnell im Keller gelassen<br />
wie beim Schwarzwild. „Vergessen ist das<br />
Liebeslied vom ritterlichen Wild, wenn sich ein<br />
schwarzer Klumpen in das Absehen schiebt. Zähne<br />
am Anschuss, gekürzte Läufe am Stück, Steckschüsse<br />
im Gescheide <strong>und</strong> Kugeln auf den Keulen<br />
sind dunkle Farbtupfer der Palette, die sich im<br />
Gedächtnis von Schweißh<strong>und</strong>eführern mit zahlreichen<br />
Nachsuchen auf Schwarzwild einprägen.<br />
Für die Mehrzahl der Jäger sind Sauen trotz aller<br />
gegenteiligen Beteuerungen vogelfrei, sie werden<br />
so bejagt“, schreibt Hopp 1984. Aber auch das<br />
Schwarzwild hat, ähnlich wie das Rehwild, alles<br />
überlebt. Dabei lässt sich keine Wildart – bei entsprechender<br />
Disziplin aller Beteiligten – wildbiologisch<br />
so korrekt ansprechen <strong>und</strong> bejagen wie gerade<br />
das Schwarzwild. Voraussetzung ist dabei nur,<br />
dass wir auch das Schwarzwild ökosystemgerecht,<br />
also auch differenziert nach unterschiedlichen Naturräumen<br />
<strong>und</strong> Nutzungstypen, bejagen.<br />
Seit Langem ist bekannt, dass enge Zusammenhänge<br />
zwischen Bejagung, dem Raum-Zeit-<br />
Verhalten des Schwarzwildes <strong>und</strong> Wildschäden<br />
bestehen. <strong>Jagd</strong>strategie <strong>und</strong> <strong>Jagd</strong>erfolg sind nicht<br />
nur von der Populationsstruktur, sondern insbesondere<br />
vom Naturraum, der Habitatstruktur <strong>und</strong><br />
der Flächennutzung abhängig.<br />
Struktur <strong>und</strong> Dynamik der Flächennutzung in<br />
Wald-Feld-Revieren <strong>und</strong> der <strong>Jagd</strong>druck verändern<br />
auch die Dynamik der Rottenverbände, was<br />
wiederum die Bejagung erschwert <strong>und</strong> das Wildschadensrisiko<br />
erhöht. <strong>Jagd</strong> hat sich nicht nur in<br />
FotoS: K. Schmadalla; P. Müller<br />
Seite 24 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
„Friedenszeiten“ zu bewähren. Jäger müssen zu<br />
verlässlichen Partnern in Problemgebieten werden<br />
<strong>und</strong> dort beweisen, dass sie auch ein effizientes<br />
<strong>und</strong> tierschutzgerechtes <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
beherrschen. Gerade in Problemgebieten hat sich<br />
ökosystemgerechte <strong>Jagd</strong> zu bewähren. Problemgebiete<br />
sind in den meisten Fällen nicht nur das<br />
Ergebnis jagdlichen Versagens. Auch Feldreviere<br />
mit einem hohen Feld-Wald-Grenzlinien-Anteil<br />
<strong>und</strong> attraktiver, häufig direkt an den Wald anschließender<br />
Flächennutzung, oder Gebiete mit<br />
Schweinepest-Gefährdung zählen dazu.<br />
Dabei ist die Schadensanfälligkeit der Flächen<br />
keine einfache Funktion der Populationsdichte des<br />
Schwarzwildes. Mit traditionellen jagdlichen Mitteln<br />
ist eine Reduktion der – bei Wegfall der Leitbachen<br />
– häufig hoch dynamischen, meist viel zu jungen<br />
Rottenverbände nur noch schwer zu erreichen. Bei<br />
der Nachtjagd können zwar „schwarze“ Bachen<br />
meist noch gut angesprochen werden, die Umrisse<br />
der gestreiften Frischlinge verschwimmen aber<br />
oder tauchen in der Bodenvegetation völlig unter.<br />
Deshalb können in solchen Gebieten Sau- <strong>und</strong><br />
Frischlingsfänge notwendig sein. Erfahrungsgemäß<br />
wehren sich gegen diese meist jene, die durch Abschuss<br />
der Bachen das Elend mitverschuldeten.<br />
Natürlich ist es nach § 19 (7) des B<strong>und</strong>esjagdgesetzes<br />
bekanntlich verboten „Saufänge, Fang- oder<br />
Fallgruben ohne Genehmigung der zuständigen<br />
Behörden anzulegen“. Erfahrungen aus Australien,<br />
den USA oder Argentinien zeigen, dass häufig<br />
Naturschutzziele oder Seuchenbekämpfung den<br />
Einsatz von Frischlingsfängen begründen. Natürlich<br />
sind Frischlingsfänge Indikatoren für das<br />
Versagen „waidgerechter <strong>Jagd</strong>“, aber sie sind in<br />
Problemgebieten meist tierschutzgerechter als<br />
eine Nachtjagd bei schlechter Sicht <strong>und</strong> schlechter<br />
Optik. Erfahrungen aus vielen Gattern, aber auch<br />
an markiertem Schwarzwild aus dem Freiland belegen,<br />
dass die ihrer Frischlinge beraubten Bachen<br />
schnell wieder rauschig werden.<br />
Das Fangen geht weiter. Wird die gesamte Familie<br />
getötet, dann ist das zwar im Hinblick auf die<br />
Populationsreduktion sinnvoll, aber es wird keinen<br />
oder nur einzelne deutsche Jäger geben, die eine<br />
solche Maßnahme unterstützen oder gar durchführen<br />
werden. Leichter fällt es zumindest in der<br />
Nacht, dem dicken „schwarzen Kasten“ im Feld die<br />
Kugel anzutragen. Beim Anblick der erlegten Bache<br />
<strong>und</strong> ihrer Milchleisten wird das Unheil sichtbar, nur<br />
allzu oft aber auch verdrängt. Der moderne Jäger<br />
ist dafür bekannt, dass er aus Entfernung tötet.<br />
Ökosystemgerechte Schwarzwildbejagung hat<br />
sich in Krisenzeiten <strong>und</strong> Krisengebieten zu bewähren.<br />
Nach § 19 B<strong>und</strong>esjagdgesetz ist in Deutschland<br />
die <strong>Jagd</strong> auf Schwarzwild zur Nachtzeit erlaubt.<br />
Es ist allerdings analog zum Waffengesetz<br />
(2003) verboten, „künstliche Lichtquellen, …<br />
Nachtzielgeräte, die einen Bildwandler oder eine<br />
elektronische Verstärkung besitzen … zu verwenden<br />
oder zu nutzen“.<br />
Erlaubte Nachtjagden <strong>und</strong> erlaubte Drückjagden<br />
beschäftigen besonders unsere Schweißh<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />
H<strong>und</strong>eführer. Schlechte Schüsse sind dabei kein<br />
Argument gegen eine bestimmte <strong>Jagd</strong>art, sondern<br />
richten sich allein gegen den Schützen. Bekanntlich<br />
ist bei Mondhelligkeitswerten ab 3,5 die Nachtjagd<br />
mit einem lichtstarken Zielfernrohr mit Leuchtabsehen<br />
möglich. Jeder Nachtjäger weiß jedoch, dass<br />
stärkere Stücke leichter ins Glas zu bekommen sind<br />
als Frischlinge. Obwohl bei uns Infrarot-Nachtsichtgeräte<br />
als Zieleinrichtung verboten sind, werden<br />
sie – wie Anzeigen in allen <strong>Jagd</strong>zeitschriften zeigen<br />
– nicht nur „für die Auslandsjagd vom Feinsten“<br />
angeboten. Wenn man keinen Schuss ins Dunkel<br />
will, kann man seine <strong>Jagd</strong>optik zum Nachtsichtgerät<br />
umwandeln, oder man blickt über eine erlaubte<br />
Nachtsichtbrille durch ein erlaubtes Leuchtsichtabkommen.<br />
Lassen wir diese Feinheiten beiseite.<br />
Für die in Problemgebieten zwingend erforderliche<br />
Nachtjagd sind aus meiner Sicht drei rechtlich erlaubte<br />
Dinge unverzichtbar:<br />
• ein lichtstarkes Nachtglas,<br />
• ein Nachtsichtgerät zum genauen Ansprechen<br />
des Wildes,<br />
• eine Waffe mit lichtstarkem Zielfernrohr mit<br />
Leuchtabsehen.<br />
Dennoch, beim „Umsetzen“ vom Nachtsichtgerät,<br />
in dem alle Wildkörper sehr genau anzuspre-<br />
Bei keiner anderen<br />
Schalenwildart ist<br />
die Lücke zwischen<br />
<strong>Jagd</strong>ethik <strong>und</strong> <strong>Jagd</strong>praxis<br />
so groß wie beim<br />
Schwarzwild.<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 25
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
<strong>Jagd</strong>zeiten in<br />
Niedersachsen<br />
chen sind, auf das Zielfernrohr der Waffe werden<br />
die Unterschiede deutlich. Die Frischlinge, um die<br />
es geht, sind häufig wieder auf Tauchstation.<br />
Wer „A“ sagt zur Nachtjagd muss deshalb in<br />
Problemgebieten aus Tierschutzgründen auch<br />
„B“ sagen. Für Problemgebiete sollten deshalb<br />
auf <strong>Jagd</strong>gewehre montierbare Nachtsicht-Zielfernrohre<br />
erlaubt werden. Wir schützen damit<br />
insbesondere die Muttertiere.<br />
Die Geschichte der Schwarzwildbejagung ist<br />
die Geschichte wechselnder Einstellungen des<br />
Menschen zu einer Wildart, die Faszination <strong>und</strong><br />
Bew<strong>und</strong>erung erzeugte, die den Keiler zum „ritterlichen<br />
Wild“ machte <strong>und</strong> seinen Erleger zum<br />
Helden vieler <strong>Jagd</strong>geschichten.<br />
Aber wer eine Katastrophe überlebte, muss keineswegs<br />
deren Held gewesen sein. Seit Langem<br />
erhobene Forderungen auch des Deutschen <strong>Jagd</strong>schutzverbandes,<br />
mindestens 75 Prozent des Abschusses<br />
in der Frischlingsklasse zu tätigen, statt<br />
die Bestände durch Entnahme der älteren <strong>und</strong><br />
schwereren Tiere kontinuierlich zu verjüngen, müssen<br />
im Interesse des Schwarzwildes, auch zur Minimierung<br />
des Seuchen-Risikos <strong>und</strong> der Flächennutzungskonflikte,<br />
endlich umgesetzt werden.<br />
Wildkaninchen <strong>und</strong> Neozoen<br />
Wildkaninchen <strong>und</strong> Neozoen wie Marderh<strong>und</strong>,<br />
Waschbär, Mink <strong>und</strong> Nutria werden dort, wo sie<br />
Problemarten geworden sind, de facto ganzjährig<br />
bejagt, natürlich immer unter dem Schutzschild<br />
von § 22 B<strong>Jagd</strong>G. Die in Niedersachsen festgelegten<br />
Schon- <strong>und</strong> <strong>Jagd</strong>zeiten für Wildkaninchen,<br />
Waschbären, Marderh<strong>und</strong>e, Minks <strong>und</strong> Nutrias<br />
hingegen differenzieren zwischen Alt- <strong>und</strong> Jungtieren.<br />
Sie beachten das Muttertierschutzgebot:<br />
Tierart<br />
<strong>Jagd</strong>zeiten<br />
Wildkaninchen 1.10. - 15.2.<br />
Jungkaninchen ganzjährig<br />
Waschbären 16.7. - 31.3.<br />
Jungwaschbären ganzjährig<br />
Marderh<strong>und</strong>e 1.9. - 28.2.<br />
Jungmarderh<strong>und</strong>e ganzjährig<br />
Minks 1.8. - 28.2.<br />
Jungminks<br />
ganzjährig<br />
Nutrias 1.9. - 28.2.<br />
Jungnutrias<br />
ganzjährig<br />
Diese Regelungen wurden von einigen B<strong>und</strong>esländern<br />
dezidiert aufgenommen. Sie sind sowohl<br />
unter Tierschutzaspekten als auch zur Minimierung<br />
möglicher Probleme durch diese Arten in<br />
bestimmten Gebieten oder zum Schutz anderer<br />
Arten sicherlich zielführend <strong>und</strong> sollte, differenziert<br />
nach Ökosystemtyp <strong>und</strong> Art, auch auf andere<br />
Populationen übertragbar sein, wie Schwarzwild<br />
<strong>und</strong> Rabenkrähen.<br />
Von den Arten Waschbär <strong>und</strong> Marderh<strong>und</strong> wurden<br />
im <strong>Jagd</strong>jahr 2005/2006 über 30.000 Tiere in<br />
Deutschland erlegt. Und die Zahlen werden sicherlich<br />
steigen.<br />
Das ist keineswegs nur durch die Expansivität<br />
dieser Arten begründet. Marderh<strong>und</strong>e <strong>und</strong><br />
Waschbären erfreuen sich zwischenzeitlich auch<br />
als „Haustiere“ einer gewissen Beliebtheit, was<br />
entsprechende Verkaufsanzeigen in Tier-Börsen<br />
belegen. Die „niedlichen Jungtiere“ werden verkauft<br />
<strong>und</strong>, wenn sie in die Pubertät kommen, der<br />
freien Wildbahn lautlos überlassen. So erklären<br />
sich viele inselartige Vorkommen am Westrand<br />
des Kernareals.<br />
Fuchs <strong>und</strong> Aaskrähen<br />
Fuchs <strong>und</strong> Aaskrähen werden in den einzelnen<br />
B<strong>und</strong>esländern bekanntlich unterschiedlich bejagt<br />
<strong>und</strong>/oder geschützt. Als der Fuchspelz noch<br />
einen Wert besaß, galten in einzelnen deutschen<br />
Ländern bereits lange vor dem Deutschen <strong>Jagd</strong>gesetz<br />
strenge Schon- <strong>und</strong> Erntezeiten. Heute<br />
dürfen in unserer B<strong>und</strong>eshauptstadt Altfüchse nur<br />
vom 1. November bis 31. Januar bejagt werden,<br />
in Bayern hingegen muss bloß § 22 Abs 4 Satz 1<br />
des B<strong>Jagd</strong>G beachtet werden: „In den Setz- <strong>und</strong><br />
Brutzeiten dürfen bis zum Selbständigwerden der<br />
Jungtiere die für die Aufzucht notwendigen Elterntiere,<br />
auch die von Wild ohne Schonzeit, nicht<br />
bejagt werden“.<br />
Unterschiedliche landesgesetzliche Regelungen<br />
folgen ausschließlich politischen Gr<strong>und</strong>einstellungen<br />
<strong>und</strong> Mehrheitsbeschlüssen der jeweiligen<br />
Landesparlamente. Aber die Einstellungen zumindest<br />
von Ornithologen haben sich in den letzten<br />
Jahren gr<strong>und</strong>legend geändert. Ökosystemgerechte<br />
Jäger, die seit Jahrzehnten eine Intensivierung<br />
der Fuchs-Bejagung auch während der durch<br />
§ 22 Abs. 4 festgelegten Einschränkungen für bestimmte<br />
Ökosysteme <strong>und</strong> zum Schutz einzelner,<br />
hoch gefährdeter Bodenbrüter fordern, erhalten<br />
zunehmend Unterstützung insbesondere von Or-<br />
Seite 26 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
Foto: M. Migos<br />
nithologen, mit denen wir uns zwar über die Rolle<br />
der Aaskrähen immer noch streiten, die aber<br />
schon längst erkannt haben, dass die meisten<br />
Bodenbrüter auch in Idealhabitaten ein „Fuchsproblem“<br />
haben. Erst kürzlich stellten verschiedene<br />
Autoren zum wiederholten Male fest, „dass<br />
bei vielen Bodenbrütern zwischen Nisthabitat <strong>und</strong><br />
Schlupferfolg signifikante Zusammenhänge bestehen“,<br />
dass „heute die meisten ausgestorbenen<br />
<strong>und</strong> stark gefährdeten Vögel in Deutschland Bodenbrüter<br />
sind“, dass „hohe Bruterfolge bei Bodenbrütern<br />
geb<strong>und</strong>en sind an raubsäugerfreie<br />
Inseln“, dass allein das Vorhandensein eines effizienten<br />
Prädators die Physiologie eines Beutetieres<br />
verändern kann, <strong>und</strong> dass „unsere Wiesenvögel<br />
in Binnenlandschutzgebieten unzweifelhaft ein<br />
Fuchsproblem haben“.<br />
Es sind Ornithologen, die heute anerkennen, dass<br />
viele die Wirkung der Prädation, zumindest durch<br />
nächtlich jagende Raubsäuger, völlig unterschätzt<br />
haben. Sie – <strong>und</strong> nicht nur wie früher die Jäger allein<br />
auf weiter Flur – fordern eine Reduktion der<br />
Fuchspopulationen, zweifeln jedoch daran, dass<br />
<strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> Jäger das überhaupt bewerkstelligen können.<br />
„Die bisherigen Ergebnisse zeigen, dass <strong>Jagd</strong>recht<br />
<strong>und</strong> <strong>Jagd</strong>praxis in Deutschland anscheinend<br />
nicht gut an die Anforderungen eines zielgerichteten<br />
<strong>Management</strong>s von Populationen angepasst<br />
sind…“, <strong>und</strong> „dass eine deutliche Steigerung der<br />
<strong>Jagd</strong>strecke wohl nur durch den Einsatz von Fallen<br />
durch erfahrene Fallensteller erreicht wird.“ Deutlich<br />
weisen sie daraufhin, dass wir durch unsere<br />
„Selbstbeschränkung“ während der Aufzuchtzeit<br />
des Fuchses gerade in der für Bodenbrüter kritischen<br />
Phase überhaupt nicht „eingreifen könnten“.<br />
Natürlich gibt es hoch motivierte Fuchsjäger in unseren<br />
Reihen, aber es gibt auch genügend, die beim<br />
Aufgang der Bockjagd keinen Jungfuchs erlegen<br />
<strong>und</strong> lieber einen auch mich durchaus anrührenden<br />
Artikel über das fröhliche Treiben am Fuchsbau<br />
schreiben. Aber Populationsbiologie <strong>und</strong> ökosystemare<br />
Dynamik richten sich nicht nach unserer<br />
Gefühlswelt. Sind wir wirklich noch die Bewahrer<br />
der regionaltypischen Biodiversität, die Helfer der<br />
Verlierer des kulturlandschaftlichen Wandels? Von<br />
246 befragten Jägern üben 16 die Fangjagd aus,<br />
<strong>und</strong> nur weitere 28 bejagen den Fuchs gezielt <strong>und</strong><br />
intensiv. Aber während wir seit über 20 Jahren jährlich<br />
fast 100 Füchse auf 700 Hektar in einem Revier<br />
von Game Conservancy aus der freien Landschaft<br />
entnehmen, feiert Reineke in den angrenzenden<br />
Revieren, keineswegs nur im Staatsforst, wie so oft<br />
behauptet, fröhliche Urständ.<br />
Kartierungen überfahrener Füchse auf einem<br />
116 Kilometer langen Autobahnteilstück von<br />
Saarbrücken nach Trier belegen, dass die Schnellstraßen<br />
Fuchspopulationen zum Teil effektiver reduzieren<br />
als die daran angrenzenden Reviere. Die<br />
„erfolgreichsten Monate“ eines untersuchten Autobahnteilstücks<br />
waren der Mai (Aufzuchtphase)<br />
<strong>und</strong> der Oktober (Abwanderung der Jungfüchse).<br />
Autobahnen <strong>und</strong> Schnellstraßen kennen keine<br />
Schonzeiten, auch nicht für Muttertiere.<br />
Prädation, Konkurrenz <strong>und</strong> Anpassungsfähigkeit<br />
sind bedeutende Triebfedern der Evolution.<br />
Sie bestimmten, lange bevor Homo sapiens auf<br />
diesem Planeten erschien, das Überleben von Räuber-<br />
<strong>und</strong> Beutetierpopulationen. Räuber <strong>und</strong> Beute<br />
kennen sich, <strong>und</strong> Eingriffe des Räubers liegen<br />
im Allgemeinen innerhalb der kompensatorischen<br />
Mortalität, mit der auch wir Jäger unsere Eingriffe<br />
in Wildtierpopulationen ökologisch begründen.<br />
Aber – <strong>und</strong> das wird vergessen – Veränderungen<br />
im Habitat verändern die „Erreichbarkeit“. Räuber<br />
<strong>und</strong> Beute besitzen häufig unterschiedliche<br />
Arealsysteme, die sich zwar in Kerngebieten,<br />
wie Mitteleuropa, überschneiden, die aber keineswegs<br />
in allen Räumen zusammenfallen. Die<br />
wichtigsten Raubsäuger Mitteleuropas, wie Fuchs<br />
<strong>und</strong> Hermelin, besitzen meist deutlich größere<br />
Verbreitungsgebiete als ihre Beutetiere <strong>und</strong> besiedelten<br />
erfolgreich die gesamte Nordhalbkugel.<br />
Viele von ihnen sind Nahrungsopportunisten <strong>und</strong><br />
damit keineswegs an ein bestimmtes Beutetier<br />
geb<strong>und</strong>en. Wie der Fuchs verspeisen sie häufig<br />
Regenwürmer, Mäuse, Obst, Butterbrote, Hasen<br />
<strong>und</strong> Bodenbrüter. Viele ihrer Beutetiere sind dagegen<br />
Nahrungs- <strong>und</strong> Habitatspezialisten. Nicht<br />
nur in suboptimalen Habitaten unserer heutigen<br />
Kulturlandschaften sind sie dem Prädationsdruck<br />
durch die Opportunisten nicht mehr gewachsen.<br />
Natürlich haben wir in unseren Landschaften<br />
auch die ursprünglichen Räuber-Beute-Netze <strong>und</strong><br />
natürlichen Alarmsysteme zerstört, zumindest ver-<br />
Neben hoch motivierten<br />
Fuchsjägern<br />
gibt es genügend, die<br />
lieber einen anrührenden<br />
Artikel über das<br />
fröhliche Treiben am<br />
Bau schreiben.<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 27
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
einfacht. Wir überfrachteten unsere Landschaften<br />
mit Nährstoffen <strong>und</strong> überließen sie auch damit<br />
den Allerweltsarten <strong>und</strong> Nahrungsopportunisten.<br />
Die Prädationswirkung des Fuchses fiel den<br />
Ornithologen besonders durch den Einsatz von<br />
Thermologgern auf, mit denen Gelege von Wiesenbrütern<br />
r<strong>und</strong> um die Uhr bewacht werden<br />
konnten. Die Ergebnisse waren erschreckend.<br />
Über 70 Prozent der Gelege- <strong>und</strong> Nestlings-Vernichtung<br />
erfolgte während der Nacht. Beteiligt<br />
waren daran nicht nur Fuchs, Marder, Hermelin<br />
<strong>und</strong> Wildschwein sondern auch Igel, Wanderratte<br />
<strong>und</strong> verschiedene Kleinsäuger. Aber der Fuchs<br />
stellte sich in allen Untersuchungen als Hauptverantwortlicher<br />
der nächtlichen Prädation heraus.<br />
Die Gründe dafür sind heute bekannt. Füchse<br />
sind im Gegensatz zu häufig publizierten Meinungen<br />
nicht territorial. Verschiedene Füchse mit<br />
unterschiedlichen Streifgebieten nutzen gemeinsam<br />
räumlich konzentrierte Ressourcen. Häufig<br />
sind Füchse in Familiengruppen organisiert, die<br />
neben einem dominanten Fuchspaar aus weiteren<br />
weiblichen, oftmals nichtreproduzierenden<br />
Nachkommen vorangegangener Jahre bestehen.<br />
Andere Familienverbände leben zumindest randlich<br />
überlappend im gleichen Raum, sofern es das<br />
Nahrungsangebot gestattet. Nicht nur der Rüde<br />
beteiligt sich an der Aufzucht der Jungen, sondern<br />
in bestimmten Fällen auch die Fuchs-Töchter<br />
aus vorausgegangenen Würfen. Eine soziale Dichteregulation<br />
ist abhängig vom Nahrungsangebot,<br />
ebenso wie die Zahl der Welpen pro Wurf. Werden<br />
gegen Ende der Haupt-Säugephase, wenn<br />
die Jungtiere bereits mit Mäusen, Bodenbrütern<br />
<strong>und</strong> Junghasen gefüttert werden, die Fähe oder<br />
gar beide Elternteile getötet, muss das noch nicht<br />
den Tod des gesamten Wurfes bedeuten.<br />
Unsere derzeitige <strong>Jagd</strong>praxis ist weit davon<br />
entfernt, Fuchspopulationen nachhaltig zu reduzieren.<br />
Die jagdlichen Eingriffe liegen innerhalb<br />
der kompensatorischen Mortalität, ja es wurde<br />
sogar der Verdacht geäußert, dass die getätigten<br />
Abschüsse mehr „stimulieren als reduzieren“. Die<br />
Gründe dafür liegen nicht nur an den „Gr<strong>und</strong>sätzen<br />
deutscher Waidgerechtigkeit“, sondern auch<br />
an einer deutlichen Interessensverlagerung der<br />
deutschen Jäger. Aber es geht in unseren Ökosystemen<br />
nicht mehr „nur“ um das Niederwild.<br />
Es geht um viele ernsthaft bedrohte Bodenbrüter,<br />
von der Korn- <strong>und</strong> Wiesenweihe bis zur Großtrappe,<br />
vom Brachvogel <strong>und</strong> dem Kiebitz bis zum Rebhuhn.<br />
Und genau hier muss es wieder zu einem<br />
Schulterschluss von Ornithologen <strong>und</strong> Jägern<br />
kommen. Der dümmliche Spruch „es wird nur das<br />
bejagt, was auch konsumiert wird“, geht schon<br />
längst an den wirklichen Naturschutzproblemen<br />
in unserer freien Landschaft vorbei.<br />
Es geht heute um den Aufbau eines zielgerichteten<br />
<strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong>s für bedrohte Bodenbrüter.<br />
Dazu ist zunächst eine Verdopplung der<br />
jährlichen Fuchs-<strong>Jagd</strong>strecke erforderlich, auch<br />
durch Intensivierung der Fangjagd, der Baujagd<br />
<strong>und</strong> der Welpen-Bejagung; es geht lokal auch um<br />
einen Radikalabschuss des Fuchses, ein fürchterlicher<br />
Begriff für den deutschen Waidmann <strong>und</strong><br />
einen engagierten Tierschützer. Aber wir müssen<br />
diese Entscheidung zumindest in den Gebieten<br />
treffen, wo bedrohte Wiesenbrüter ihre letzten<br />
Refugien besitzen.<br />
Nichtstun bedeutet nur scheinbar „nicht schuldig<br />
werden“, aber mit dieser Haltung werden wir<br />
Großtrappen, Brachvögel, Kiebitze, Rebhühner <strong>und</strong><br />
Rotschenkel im Binnenland verlieren. Es kann nicht<br />
richtig sein, dass nach Wiederherstellung naturnaher<br />
Habitate die von „waidgerechten Jägern“ nicht<br />
erlegten Füchse sich genau diese oft mit Millionen<br />
Spenden- <strong>und</strong> Steuergeldern finanzierten Lebensräume<br />
zum „Frühstücksbrettchen“ auswählen.<br />
Das fordert viel vom deutschen Waidmann;<br />
aber er hat die Wahl: Eingreifen oder Wegsehen?<br />
Natürlich kann ich nachvollziehen, dass hier die<br />
Sichtweisen eines Forstmannes oder eines Rotwildjägers<br />
anders sein können. Aber sind sie nur<br />
verantwortlich für das Rotwild oder den deutschen<br />
Wald? Wenn das so sein sollte, dann sollten<br />
die einen in Zukunft auf den publikumswirksamen<br />
Begriff „Ökojäger“, mit dem sie sich doch<br />
so gerne schmücken, verzichten, <strong>und</strong> die anderen<br />
sollten sich als reine „Rotwildheger“ bezeichnen,<br />
dann wissen auch die Außenstehenden, wie die<br />
wirklich „ticken“.<br />
Differenzierter sind die Probleme bei den territorialen<br />
Rabenkrähen <strong>und</strong> Elstern. Die Coevolution<br />
intelligenter Corviden mit Homo sapiens ist eine<br />
Geschichte falscher Schuldzuweisungen, fast religiöser<br />
Verehrung, mythologischer Legendenbildung,<br />
gnadenloser Verfolgung, liebevoller Schutzbemühungen<br />
<strong>und</strong> ökosystemarer Fehlurteile.<br />
Heute geht es nicht darum, die alleinige Schuld<br />
am Rückgang bestimmter Arten unserer Kulturlandschaften<br />
nur Rabenkrähen, Kolkraben oder<br />
Elstern zuzuschreiben. Es geht vielmehr darum zu<br />
erkennen, dass wir in naturnahen Landschaften<br />
Seite 28 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
keine Rabenkrähen-Diskussion hätten, aber auch<br />
viele Offenlandarten mangels geeigneter Lebensräume<br />
fehlen würden.<br />
Es geht wissenschaftlich darum, die ökologische<br />
Rolle der Gewinner des Kulturlandschaftswandels,<br />
<strong>und</strong> dazu gehören zweifelsfrei die Rabenkrähen,<br />
vorurteilsfrei unter wechselnden Randbedingungen<br />
in ihrer Wirkung auf unterschiedliche<br />
Populationen <strong>und</strong> Nahrungsnetze zu bestimmen.<br />
Auch vehemente Gegner der Bejagung von Rabenkrähen<br />
wissen natürlich, dass diese auch für<br />
Gelege- <strong>und</strong> Nestprädation mitverantwortlich<br />
sind. Sie gehen jedoch überwiegend davon aus,<br />
dass der Hauptfaktor am Rückgang der auch von<br />
Corviden-Prädation betroffenen Arten die auf den<br />
Menschen rückführbare Habitatveränderungen<br />
<strong>und</strong> -zerstörungen sind.<br />
„Wenn im Gefolge der massiven Umgestaltung<br />
der Landschaft Rabenvögel dadurch geschwächte<br />
Populationen anderer Arten weiter dezimieren,<br />
dann vollenden sie sozusagen das Werk anderer,<br />
denn gerade als Generalisten würden sie die<br />
Suche nach selten gewordener Beute aufgeben,<br />
wenn diese nicht unnatürlich leicht erreichbar geworden<br />
wäre“, schreiben Mäck et al..<br />
Auch die einfache Einschätzung der Prädationswirkung<br />
über Nahrungsanalysen liefert nur<br />
Mosaiksteinchen zum wirklichen Verständnis der<br />
Corviden in unseren Ökosystemen <strong>und</strong> besagt<br />
meist nur wenig oder nichts über ihre Folgen für<br />
bestimmte Beutetiere. Hier möchte ich nur die<br />
von mir an anderer Stelle auch durch Freilandexperimente<br />
begründete Feststellung wiederholen,<br />
dass die Bejagung von Rabenkrähen <strong>und</strong> Elstern<br />
ein geringeres ökosystemares Risiko darstellt als<br />
ihre Nichtbejagung. Natürlich profitieren Rabenkrähen<br />
von den derzeitigen Flächennutzungen,<br />
<strong>und</strong> auch die Landwirte, die sich am meisten über<br />
sie beschweren, sind oftmals die Mitverursacher<br />
des Problems. Wir wissen auch, dass die zumindest<br />
in den westlichen B<strong>und</strong>esländern weiter ansteigenden<br />
Populationen durch eine nur lasche<br />
Bejagung nicht zu regulieren sind. Die außerhalb<br />
der Brutzeiten erlegten territorialen „Brutpaare“<br />
werden schnell durch die Reserven aus den Junggesellenschwärmen<br />
ersetzt.<br />
In manchen B<strong>und</strong>esländern besitzen Rabenkrähen<br />
eine <strong>Jagd</strong>zeit, in anderen muss ihre Bejagung<br />
von den Unteren oder Oberen Naturschutzbehörden<br />
freigegeben werden, wenn die Bauern<br />
anfangen zu schreien, die Jäger meist erst zur<br />
Maiseinsaat die Anträge stellen <strong>und</strong> ihnen Sankt<br />
Bürokratius zwei oder sogar sieben Rabenkrähen<br />
zur Regulierung oder Schadensbegrenzung freigeben.<br />
Das ist deutscher Kindergarten pur.<br />
Der Sachlage angemessen wäre eine <strong>Jagd</strong>zeit<br />
für die territorialen Rabenkrähen außerhalb der<br />
Brutzeit <strong>und</strong> eine ganzjährige Bejagung der unverpaarten<br />
Junggesellenschwärme. Für mich ist<br />
es nicht nachvollziehbar, dass das, was für Fuchs<br />
oder Marderh<strong>und</strong> in Niedersachsen oder Ringeltauben<br />
in Nordrhein-Westfalen gilt, nicht auch für<br />
Rabenkrähen gültig sein sollte. Ich kann meine<br />
territorialen Brutpaare auf jeden Fall besser von<br />
den unverpaarten Junggesellen unterscheiden, als<br />
die Bürokraten in NRW eine brütende Ringeltaube<br />
von einer im Schwarm fliegenden <strong>und</strong> dann angeblich<br />
nicht brütenden Alttaube.<br />
Kormoran <strong>und</strong> Ringeltaube<br />
Zur ökosystemgerechten Bejagung von Kormoran-Populationen<br />
habe ich mich ausführlich auf<br />
einem vom B<strong>und</strong>esamt für Naturschutz organisierten<br />
Kormoran-Symposium in Strals<strong>und</strong> geäußert.<br />
Heute erfüllt der Kormoran alle BfN-Kriterien<br />
für eine jagdbare Art, obwohl er bekanntlich keine<br />
jagdbare Art ist <strong>und</strong> viele Jäger den Streit zwischen<br />
Kormoranschützern <strong>und</strong> Fischern nur allzu<br />
gerne auf diese konzentriert wissen möchten.<br />
Auch der Deutsche <strong>Jagd</strong>schutzverband hat<br />
sich bisher dezent zurückgehalten, <strong>und</strong> wo Jäger<br />
„Schützenhilfe“ leisteten, kamen sie auch sehr<br />
schnell zwischen die Fronten, zum Beispiel im Anklamer<br />
Bruch.<br />
Seine Populationen steigen seit Anfang der 80er<br />
Jahre weiter an <strong>und</strong> können Eingriffe leicht kompensieren;<br />
richtig zubereitet schmeckt er vorzüglich,<br />
was ich als junger Student in Amazonien bei<br />
einem nahen Verwandten, Phalacrocorax brasilianus,<br />
auch testen konnte, <strong>und</strong> <strong>Management</strong>pläne<br />
unterschiedlicher Qualität existieren zumindest in<br />
einigen Ländern Europas. Ich habe keine Probleme<br />
mit unserem Kormoran <strong>und</strong> komme zudem noch<br />
aus einem B<strong>und</strong>esland, in dem der Kormoran kein<br />
oder noch kein Problem ist.<br />
Aber richtig verstandene <strong>Jagd</strong> ist nicht nur das<br />
Töten von Tieren sondern hat auch umfassendes<br />
<strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong> zu sein, <strong>und</strong> muss deshalb<br />
Verantwortung zeigen vom Rotkehlchen bis zum<br />
Rothirsch, von der Äsche <strong>und</strong> dem Maifisch bis<br />
zum Kormoran. Aus der Sicht einer ökosystem-<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 29
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
Der Kormoran erfüllt<br />
heute alle BfN-Kriterien<br />
für eine jagdbare<br />
Art, doch wo Jäger<br />
„Schützenhilfe“ leisten,<br />
geraten sie schnell<br />
zwischen die Fronten.<br />
gerechten <strong>Jagd</strong> ist deshalb Argumentationsflucht<br />
auch nicht akzeptabel. Ökosystemgerechte <strong>Jagd</strong><br />
erfordert eine funktionale Begründung für Eingriffe<br />
in Populationen <strong>und</strong> Ökosysteme, folglich für ein<br />
verantwortungsvolles Handeln. Ökosysteme sind<br />
regionaltypische Antworten von Lebensgemeinschaften<br />
auf die an einer Erdstelle wirkenden Faktoren.<br />
Sie werden weder von menschlichen Harmoniebedürfnissen<br />
noch von dauerhaften Gleichgewichten<br />
bestimmt. Der sukzessive Wandel ist ihr Normalzustand,<br />
nicht nur weil die darin vorkommenden<br />
verschiedenen Arten unterschiedliche Arealsysteme,<br />
Herkunftsgebiete <strong>und</strong> ökologische Fähigkeiten<br />
besitzen. Ökosystemgerechte <strong>Jagd</strong> muss effektiv<br />
<strong>und</strong> tierschutzgerecht sein <strong>und</strong> „damit humaner als<br />
jene geschwätzige Weichlichkeit, die in westlichen<br />
Kulturkreisen zur lieben Mode geworden ist.“<br />
Die derzeitige Diskussion wird auch beim Kormoran<br />
bestimmt durch die unterschiedliche Betroffenheit<br />
der Akteure. Ein engagierter Vogelschützer<br />
wird sich darüber freuen, dass eine Art,<br />
die in Mitteleuropa fast ausgestorben war, sich<br />
wieder mit ihren Populationen im Steigflug befindet.<br />
Ein Teichwirt, dessen Existenz vom Fischertrag<br />
abhängt, wird völlig anders empfinden. Natürlich<br />
bietet eine intensive Teichwirtschaft ideale „Frühstücksbrettchen“<br />
für unsere Kormorane, natürlich<br />
werden die Teichbesitzer wie im vergangenen<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert ihre Verluste beklagen. Die andere<br />
Seite wird mit Populationsmodellen operieren, mit<br />
der regulatorischen Kraft der „carrying capacity“,<br />
die natürlich ebenso real ist wie die kompensatorische<br />
Mortalität, mit der Kormorane auf Populationseingriffe<br />
reagieren. Dabei wird vergessen, dass<br />
die „carrying capacity“ meist ohne Berücksichtigung<br />
der gesamten Nahrungskette am Standort,<br />
zu der naturgemäß auch der dort wirtschaftende<br />
Mensch gehört, kalkuliert wird. Mit den „verankerten<br />
Randbedingungen“ einer waidgerechten<br />
<strong>Jagd</strong> lassen sich Populationen, die über keine intraspezifischen<br />
Kontrollmechanismen verfügen,<br />
wie Territorialität oder Nahrungspezialisierungen,<br />
nur noch bedingt kontrollieren, wenn sie eine bestimmte<br />
Höhe erreicht haben (zum Beispiel Füchse,<br />
Wildschweine oder Kormorane). Daraus den<br />
Schluss zu ziehen, <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> Jäger könnten nicht<br />
regulieren, ist falsch.<br />
Halten wir fest: Die Kormoran-Diskussion wird<br />
zunächst gespeist durch die unterschiedliche Betroffenheit<br />
der Kontrahenten. Sie wird zum Teil<br />
auch betrieben mit einer Vermischung bioethischer<br />
mit naturwissenschaftlichen Argumenten, „gekrönt“<br />
von europäischen oder länderspezifischen<br />
Verordnungen <strong>und</strong> politischen Exkursen, die weniger<br />
das Problem lösen, sondern vielmehr der Beschwichtigung<br />
der Betroffenen dienen.<br />
Foto: V. Klimke<br />
Seite 30 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
Die Chronologie der Ausrottung <strong>und</strong> Populationsexplosion<br />
des Kormorans im Binnenland lässt<br />
vier Phasen erkennen:<br />
Phase 1: Anfang des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts im Binnenland<br />
fast ausgerottet.<br />
Phase 2: Seit 1930 verstärkte Schutzbemühungen<br />
u. a. durch das Reichsjagd-Gesetz von<br />
1934 <strong>und</strong> das Reichsnaturschutzgesetz<br />
von 1935; durch Festlegung einer Schonzeit<br />
1931 in Dänemark; durch Kauf der<br />
Haupt-Brutinsel in Holland durch Vogelschutzvereine<br />
1934; durch den Bau<br />
des Ijsselmeer-Dammes 1932, wodurch<br />
neue Ideal-Habitate geschaffen wurden;<br />
durch den Vollschutz 1965 in den Niederlanden<br />
<strong>und</strong> 1977 in Dänemark.<br />
Phase 3: Durch die Vogelschutzrichtlinie (Richtlinie<br />
79/409 EWG) wird der Kormoran am<br />
2.4.1979 im Anhang I zur „bestandsgefährdeten<br />
Art“.<br />
Phase 4: Seit 1970 Expansion der Populationen<br />
<strong>und</strong> Wiederbesiedlung des ursprünglichen<br />
Verbreitungsgebietes <strong>und</strong> dessen<br />
Erweiterung. 1990 wird der Bestand in<br />
der westlichen Paläarktis auf 230.000<br />
Brutpaare, 2006 auf ca. 800.000 geschätzt.<br />
Die höchsten Brutpopulationen in der Westpaläarktis<br />
befinden sich in der Ukraine (70.000),<br />
Russland (60.000), Dänemark (40.000), Schweden<br />
(30.000), Norwegen (24.000), Niederlande<br />
(23.000), Polen (22.000), Rumänien (18.000)<br />
<strong>und</strong> Großbritannien (8.200). Die deutschen<br />
Brutbestände lagen 2005 bei 24.000 Brutpaaren<br />
(Mecklenburg-Vorpommern = 12.500).<br />
Im Saarland fehlen derzeit Brutkolonien. Hier<br />
ist der Kormoran erst seit 1969 regelmäßiger<br />
Durchzügler (im Winter 1996/97 erster großer<br />
Masseneinflug). Seit 1997 existieren „traditionelle“<br />
Schlafplätze, <strong>und</strong> seit 1990 kommen<br />
Übersommerungen vor.<br />
Die Brutbestands- <strong>und</strong> Durchzugszahlen bedürfen<br />
jedoch einer kritischen Hinterfragung, das<br />
heißt das gesamte Kormoran-Monitoring muss<br />
auf eine breitere Basis gestellt werden. Die Populationsdynamik<br />
der Art wird auch durch die<br />
bisherigen Synchronzählungen nicht ausreichend<br />
erfasst. Nicht die Hauptwanderwege, sondern<br />
das Zugverhalten des Kormorans hat sich seit<br />
1984 zumindest im Binnenland verändert. Heute<br />
werden regelmäßig die Alpen überquert, <strong>und</strong> neben<br />
den Hauptwanderwegen entlang der großen<br />
Stromsysteme ziehen kleinere Trupps weit im Binnenland<br />
umher. Hinzu kommt, dass gleiche Individuen<br />
unterschiedliche Schlafplätze benutzen können,<br />
<strong>und</strong> dass neben expansiven auch regressive<br />
Brutkolonien existieren.<br />
Phalacrocorax carbo hat die Verfolgungen durch<br />
den Menschen in küstennahen Refugien <strong>und</strong> auf<br />
raubsäugerfreien Inseln überlebt <strong>und</strong> „began a<br />
marked population increase and expansion of its<br />
range in central Europe in the 1980s, particularly<br />
along the south baltic coast. The reasons for this<br />
population explosion are not yet clear, but may be<br />
partly related to a relaxation in human persecution<br />
and perhaps partly to an improvement in the food<br />
supply since the 1920s“, schreibt Burton 1995.<br />
Ein Bermuda-Dreieck aus Klimawandel, Flächennutzungsdynamik<br />
<strong>und</strong> Prädation ist bekanntlich<br />
für die exogen gesteuerte Populationsdynamik<br />
vieler Populationen, für ihr Aussterben ebenso wie<br />
für ihre Populationsexplosionen, meist ursächlich<br />
verantwortlich.<br />
Ein Blick auf das gesamte Arealsystem von Phalacrocorax<br />
carbo zeigt jedoch, dass zum Verständnis<br />
der deutschen Brutpopulationen, die nur etwa<br />
zwei bis drei Prozent des Weltbestandes ausmachen,<br />
ein Blick über den lokalen Tellerrand von<br />
„heimischen Brut- <strong>und</strong> traditionellen Schlafplätzen“<br />
zwingend notwendig ist.<br />
Phalacrocorax carbo kommt von der westlichen<br />
Paläarktis (südl. Grönland, Island) bis nach<br />
Japan, den Philippinen, Sumatra, Australien <strong>und</strong><br />
Neuseeland vor. Erfolgreich lebt er auch an den<br />
atlantischen Küsten von Kanada bis Maine. Nahe<br />
Verwandte unseres Erfolgsmodells sind Ph. lucidus<br />
in Afrika <strong>und</strong> Ph. capillatus (Ussuri, Korea,<br />
Japan). Nach der Analyse mitochondrialer Haplotypen<br />
lassen sich zum Teil überschneidend mit der<br />
klassischen subspezifischen Charakterisierung von<br />
litoralen <strong>und</strong> festländischen Populationen (Ph. carbo<br />
carbo <strong>und</strong> Ph. carbo sinensis) mindestens drei<br />
Großpopulationen unterscheiden, die sich zum<br />
Teil auch im Zugverhalten bestätigt finden.<br />
Die genetische Populationsstruktur kann naturgemäß<br />
Bedeutung besitzen für die Festlegung<br />
von „management units“. Darüber hinaus ist<br />
sie sicherlich auch verantwortlich für die Populationsexplosion<br />
der Art, die keineswegs nur mit den<br />
exogenen Faktoren, wie Schutzbestimmungen,<br />
Veränderungen der Habitate <strong>und</strong> Nahrungsketten<br />
<strong>und</strong> milderen Wintern, sondern möglicherweise<br />
auch mit einer als Ergebnis jahrh<strong>und</strong>ertelanger<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 31
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
Verfolgung manifestierter genetischer Anpassung<br />
verstanden werden könnte. Unzweifelhaft<br />
hat die extreme Verfolgung zur Zersplitterung der<br />
ursprünglichen Areale geführt, was naturgemäß<br />
auch für die Elimination von Allelen verantwortlich<br />
sein kann. Zwar wird von manchen Autoren<br />
der Einfluss der <strong>Jagd</strong> auf die Populationsentwicklungen,<br />
insbesondere unter dem Eindruck<br />
der heutigen Expansivität der Populationen des<br />
Kormorans, fast gebetsmühlenartig abgestritten,<br />
doch sehen andere den Kormoran als „Parade-<br />
Beispiel für Arten an, die allein aufgr<strong>und</strong> erheblichen<br />
<strong>Jagd</strong>druckes in ihrem Bestand zusammengebrochen<br />
sind“.<br />
Während wir bisher keine tragfähigen Informationen<br />
über mögliche funktionale Zusammenhänge<br />
zwischen genetischer Struktur <strong>und</strong> Populationsvitalität<br />
besitzen, liegen umfassende Nahrungsanalysen<br />
des Kormorans, ermittelt über Magenanalysen,<br />
Speiballen, Isotopenanalysen oder<br />
Schl<strong>und</strong>sonden aus allen Teilen seines Arealsystems<br />
vor. Viele dieser Nahrungsanalysen erbrachten<br />
nur die Bestätigung der bekannten Tatsache,<br />
dass der Kormoran ein Nahrungsopportunist ist,<br />
dass er zwischen 300 bis 500 Gramm Fisch täglich<br />
verspeist, oder dass während der Aufzuchtzeit die<br />
Fischentnahme in Abhängigkeit von der Zahl seiner<br />
Nestlinge ansteigt. Welche Folge die Entnahme<br />
der Fische auf die Alterszusammensetzung der<br />
Fischpopulationen hat, ob seltene Fischarten zum<br />
Beispiel des Anhangs II der FFH-Richtlinie beeinflusst<br />
werden, wird dabei meist nicht vertieft bearbeitet.<br />
Die Beantwortung dieser Fragen, die auch<br />
in völlig anderem Zusammenhang, zum Beispiel<br />
von der Wasserrahmenrichtlinie, gefordert wird,<br />
<strong>und</strong> die Bedeutung für den Schutz der regionaltypischen<br />
Biodiversität besitzt, bleibt dagegen völlig<br />
offen. Natürlich wurden auch von Ornithologen<br />
die Konflikte zwischen lokalen Äschenbeständen<br />
oder Salmoniden analysiert. Aber seltene Arten,<br />
bei denen die Entnahme einzelner Individuen eine<br />
viel größere populationsspezifische Bedeutung<br />
besitzen kann, wurden bisher nicht ausreichend<br />
berücksichtigt. Dagegen nimmt die Zahl der Arbeiten,<br />
die sich mit Kormoran-Schäden in der<br />
Teichwirtschaft beschäftigen, noch weiter zu.<br />
Sicherlich können bei ausgesetzten Karpfen<br />
oder Aalen nicht die gesamten Mortalitätsraten<br />
den Kormoranen in Rechnung gestellt werden,<br />
wie das manchmal bei einfachen quantitativen<br />
Analysen geschieht. Unbestritten ist jedoch, dass<br />
Kormorane einen Fischbestand eliminieren können.<br />
Deshalb stimmen auch engagierte Vogelschützer<br />
zumindest Schutz- <strong>und</strong> Vergrämungsmaßnahmen<br />
in der Teichwirtschaft zu. Die bisher<br />
eingesetzten Methoden wie Überspannung von<br />
Teichen, Verdrahtung, Vergrämungsschüsse <strong>und</strong><br />
–böller, Laser-Gewehre oder Ablenkteiche werden<br />
jedoch in ihrer Wirkung unterschiedlich bewertet.<br />
Sie entlasten auch häufig nur eine bestimmte Lokalität<br />
<strong>und</strong> verlagern den Prädationsdruck. Dieses<br />
Phänomen ist von anderen Tierpopulationen <strong>und</strong><br />
insbesondere auch von Vogelarten bekannt <strong>und</strong><br />
hinlänglich beschrieben.<br />
Den Autoren Van Eerden et. al. ist zuzustimmen,<br />
wenn sie Kormoran-Populationen als Indikatoren<br />
für die ökosystemaren Faktoren aquatischer Ökosysteme<br />
zu deuten versuchen. Danach wird die<br />
Größe einer lokalen Kormoran-Population durch<br />
die carrying capacity des aquatischen Systems bestimmt.<br />
Verständlich, dass nicht nur unter naturnahen<br />
Bedingungen jede Kormoran-Population limitiert<br />
sein muss. Allerdings wird bei diesem Modell, das<br />
absolut gebräuchlich in der Ökosystemforschung<br />
ist, vergessen, dass in den Systemen noch ein<br />
weiterer Faktor zumindest gerne mitwirtschaften<br />
möchte: der Mensch. Sofern er von der Produktivität<br />
des Sees, also den Fisch-Erträgen, leben will,<br />
ist er natürlich Konkurrent des Kormorans <strong>und</strong><br />
vice versa. Natürlich schmälert eine große Kormoran-Population<br />
seine Erträge, <strong>und</strong> seine Profitmaximierung<br />
richtet sich aus an der carrying capacity<br />
eines aquatischen Ökosystems mit seinem Mitesser<br />
Kormoran. Hier setzen die bekannten Rechenspiele<br />
an: Wie viele <strong>und</strong> welche Fische werden vom<br />
Kormoran, wie viele vom Menschen gefangen. In<br />
Abhängigkeit von den eingesetzten Fangmethoden<br />
<strong>und</strong> der Größe des Wasserkörpers wird diese<br />
Analyse unterschiedliche Ergebnisse erbringen.<br />
Für küstennahe Flachwassergebiete können die<br />
Anlandungen der Fischer <strong>und</strong> die meist errechneten<br />
Fressleistungen der Kormorane in einem Verhältnis<br />
von zehn zu eins liegen, was bei den Kormoran-Fre<strong>und</strong>en<br />
meist zu der Feststellung führt,<br />
dass das „duldbar“ sei. In kleineren Teichen kann<br />
die Situation völlig anders liegen. Natürlich können<br />
Kormorane lokal auch den Fischertrag einmal dadurch<br />
steigern, dass sie mehr Raubfische dem See<br />
entnehmen, <strong>und</strong> die Fischer können durch selbst<br />
verschuldete Fremdbesätze mit bestimmten Raubfischen<br />
wie Wels oder Zander auch einmal „Kormoran<br />
spielen“. Aber das sind Randfaktoren, die<br />
zwar für multiple Modell-Rechnungen interessant<br />
sind, vom Kernproblem aber nur ablenken.<br />
Seite 32 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
Das Kernproblem lautet, ob die Politik die kleine<br />
<strong>und</strong> mittelständische Fischerei-Wirtschaft überhaupt<br />
(noch) erhalten möchte. Bejaht sie das,<br />
dann muss sie deren Wettbewerbsfähigkeit erhalten<br />
<strong>und</strong> die Fischer in den carrying capacity-Modellen<br />
als überlebensfähigen Faktor einbauen.<br />
Ob eine Art bejagt werden kann oder nicht, wird<br />
durch kein Naturgesetz bestimmt, sondern durch<br />
unsere politischen Willensbek<strong>und</strong>ungen, die wir in<br />
Gesetzen fixierten. Natürlich können <strong>und</strong> müssen<br />
wir unsere Richtlinien <strong>und</strong> Verordnungen begründen;<br />
aber viele unserer Begründungen besitzen<br />
den Charme des politisch Gewollten <strong>und</strong> entsprechen<br />
deshalb auch mehr unserem kulturellen<br />
Selbstverständnis, manchmal auch dem Zeitgeist,<br />
im schlimmsten Falle politischem Opportunismus.<br />
Die derzeitige Gesetzeslage ist zunächst einmal<br />
eindeutig.<br />
Der Kormoran ist keine jagdbare Art nach § 2<br />
Abs. 1 des B<strong>und</strong>esjagdgesetzes. Er beeinflusst<br />
auch keine jagdbare Art, <strong>und</strong> deshalb scheidet<br />
der <strong>Jagd</strong>schutz im Sinne von § 23 des B<strong>und</strong>esjagdgesetzes<br />
als Eingriffsinstrument aus. Die Vogelschutz-Richtlinie<br />
der EG lässt in Artikel II die<br />
Bejagung von in Anhang II aufgeführten Arten zu.<br />
Der Kormoran ist jedoch in diesem Anhang bisher<br />
nicht enthalten.<br />
Solange der Kormoran aber nicht als jagdbare<br />
Art in Anhang II der EG-Vogelschutz-Richtlinie<br />
ausgewiesen ist, scheidet eine weiträumige Bestandsreduktion<br />
durch <strong>Jagd</strong>berechtigte aus, es sei<br />
denn, „Sankt Bürokratius“ erlässt flächendeckende<br />
Kormoran-Verordnungen nach deutschem<br />
Vorbild; eine echte Herausforderung für den viel<br />
beschworenen Bürokratie-Abbau.<br />
Unabhängig von seinem derzeitig günstigen<br />
Populationszustand gehört der Kormoran zu den<br />
besonders geschützten Arten im Sinne von § 10<br />
Abs. 2 Nr. 10 BNatSchG. Mit der sogenannten<br />
Kormoran-Richtlinie 97/49 wurde die Art jedoch<br />
wegen des erreichten günstigen Erhaltungszustandes<br />
aus Anhang I der EG-Vogelschutzrichtlinie<br />
(79/409 EWG) gestrichen. Danach ist keine<br />
Ausweisung besonderer Schutzgebiete mehr<br />
geboten. Sein derzeitiger Schutzstatus leitet sich<br />
daraus ab, dass er zu den „wildlebenden Vogelarten“<br />
im Sinne von Artikel I der Vogelschutzrichtlinie<br />
gehört <strong>und</strong> als „europäische Vogelart“<br />
eine „besonders geschützte Art“ im Sinne des §<br />
10 Abs. 2 Nr. 9 <strong>und</strong> 10 BNatSchG ist. In Feuchtgebieten<br />
wird er zudem durch das RAMSAR-Abkommen<br />
geschützt.<br />
Dieser Schutz gilt allerdings bekanntlich nicht<br />
uneingeschränkt. Wird er aufgehoben, gilt die<br />
„Verhältnismäßigkeit der Mittel“, <strong>und</strong> alternative<br />
Populationskontroll-Systeme haben, soweit sie<br />
zielführend sind, Vorrang vor Tötung. Nach Auffassung<br />
des Gesetzgebers darf es auch keine Verschlechterung<br />
des derzeitigen Populationsstatus<br />
geben. Ausnahmen vom Artenschutz zum Schutz<br />
unserer einheimischen Tier- <strong>und</strong> Pflanzenwelt sind<br />
möglich <strong>und</strong> zulässig (§ 42; § 43 Abs. 8 S. 1 Nr.<br />
2 BNatSchG), wenn der Kormoran Konkurrent<br />
oder Feind einheimischer FFH-Arten (Anhang II)<br />
wäre oder die „fischereiwirtschaftliche Bodennutzung“<br />
(§ 43 Abs. 4 <strong>und</strong> 8 BNatSchG) empfindlich<br />
schädigen würde. Dabei muss jedoch die Frage<br />
beantwortet werden, ob Populationseingriffe zur<br />
Abwendung erheblicher fischereiwirtschaftlicher<br />
Schäden erforderlich <strong>und</strong> zielführend sind.<br />
Die Problemlage in einzelnen aquatischen Ökosystemen<br />
ist zum Teil gr<strong>und</strong>verschieden. Offene<br />
marine Ökosysteme in der Umgebung von Vogelinseln<br />
wie R<strong>und</strong>e vor Norwegen sind völlig anders<br />
zu bewerten als Lagunen, große Flachseen oder<br />
Fjorde, tiefe Seen mit Sprungschicht, Talsperren,<br />
Ströme <strong>und</strong> kleinere Fließgewässer, Staustufen,<br />
Baggerseen oder Weiher, Teichwirtschaften <strong>und</strong><br />
Aquakulturen. Die Akzeptanz von Eingriffen<br />
dürfte von naturnahen marinen Ökosystemen zu<br />
„man made Ökosystemen“, wie Teichwirtschaften<br />
<strong>und</strong> Aquakulturen, auch zunehmen.<br />
Sofern ein Ausgleich für Kormoranschäden vorgesehen<br />
ist (vgl. § 38 Abs. 6 Sächsisches Naturschutzgesetz),<br />
werden Überspannen, Einhausen<br />
oder Ablenkfütterungen unter Beachtung „guter<br />
fachlicher Praxis“ Mittel der Wahl in manchen<br />
Teichwirtschaften sein. Ablenkfütterungen erhöhen<br />
aber nur die carrying capacity <strong>und</strong> das Stören<br />
<strong>und</strong> Vertreiben außerhalb der Brutzeit führt<br />
fast immer nur zur Verlagerung des Problems.<br />
Die Reduktion der Populationen durch Reduktion<br />
der Habitatkapazität <strong>und</strong> Verbesserung der trophischen<br />
Situation laut WRRL der EG ist sicherlich<br />
für die großen Oberflächengewässer <strong>und</strong> marinen<br />
Ökosysteme allgemein akzeptiert, rettet aber die<br />
Teichwirtschaften nicht, da sie ihren Fischertrag<br />
auch über Düngungsmaßnahmen steuern.<br />
Was bleibt, ist die Vergrämung <strong>und</strong> Reduktion<br />
der Populationen durch eine ökosystemgerechte<br />
Bejagung. Diese muss tierschutzgerecht, ökosystemdifferenzierend<br />
<strong>und</strong> effektiv, das heißt zielführend<br />
sein. In Deutschland kann der Kormoran in<br />
neun B<strong>und</strong>esländern durch Ausnahmegenehmi-<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 33
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
gungen nach § 43 Abs. 8 S. 4 BNatSchG im Rahmen<br />
von sogenannten Kormoran-Verordnungen<br />
bejagt werden. Diese Verordnungen gehen auf<br />
eine 1996 vom B<strong>und</strong>esumweltministerium formulierte<br />
<strong>und</strong> mit der Europäischen Union abgestimmte<br />
Musterverordnung zurück, also auf den Willen<br />
des Gesetzgebers. Sie beachten insbesondere Art.<br />
9 Abs. 1 <strong>und</strong> 2 der Vogelschutz-Richtlinie <strong>und</strong> §<br />
43 Abs. 8 S. 3 i. V. mit S. 1 <strong>und</strong> 4 BNatSchG.<br />
Kormoran-Verordnungen existieren 2007 in<br />
neun B<strong>und</strong>esländern. Die bisher vorliegenden Ergebnisse<br />
belegen, dass durch die getätigten Abschüsse<br />
lokale Probleme entschärft werden konnten,<br />
doch liegen sie insgesamt deutlich unter der<br />
kompensatorischen Mortalität der Gesamtpopulation.<br />
Das jährliche Zuggeschehen gleicht lokale<br />
Verluste häufig aus. Der Brutbestand des Kormorans<br />
stieg in Bayern von 268 (1994) auf 522 Brutpaare<br />
(2003; Drucksache Bayer. Landtag 15/2827)<br />
an. Schlafplatzzählungen in den Monaten Oktober<br />
bis Dezember von 1995/96 bis 2003/04 erbrachten<br />
Zählergebnisse zwischen 6.065 (1996/97) <strong>und</strong><br />
8.223 Exemplaren (2003/04). Erlegt wurden in<br />
Bayern auch vor der derzeit gültigen Kormoran-<br />
Verordnung:<br />
1996/97 = 6.258 Kormorane<br />
1997/98 = 3.380 „<br />
1998/99 = 3.640 „<br />
1999/00 = 2.547 „<br />
2000/01 = 2.857 „<br />
2001/02 = 4.500 „<br />
2002/03 = 5.862 „<br />
2003/04 = 4.082 „<br />
Es ist unstrittig, dass die bayerische Praxis an einigen<br />
Standorten bestehende Probleme zwischen<br />
Fischern <strong>und</strong> Kormoran-Fre<strong>und</strong>en minimieren<br />
konnte. Unstrittig ist aber auch, dass die derzeitige<br />
<strong>Jagd</strong>praxis die europäischen <strong>und</strong> deutschen Populationen<br />
nicht wesentlich reduzierte. Die Bejagung<br />
hat lokale Probleme minimiert <strong>und</strong> den allgemeinen<br />
Populationsstatus des Kormorans nicht verschlechtert,<br />
übrigens eine gesetzliche Forderung.<br />
Die vorliegenden Erfahrungen im gesamten<br />
Arealsystem des Kormorans zeigen, dass jagdliche<br />
Eingriffe in seine Populationen bisher nur lokale<br />
Bedeutung besaßen. Dem Kormoran stehen große<br />
Refugien in Europa zur Verfügung, <strong>und</strong> jagdliche<br />
Eingriffe können leicht kompensiert werden. Bei<br />
einer nicht sachgerechten Bejagung waren jedoch<br />
in einigen Fällen auch negative Folgen auf sogenannte<br />
Nontargets festzustellen.<br />
Die Populationsdichte des Kormorans steigt in<br />
Europa keineswegs überall, insgesamt verlangsamt,<br />
dennoch weiter an. Lokale <strong>und</strong> regionale<br />
Schäden in der Teichwirtschaft <strong>und</strong> Fischerei werden<br />
auch in Zukunft Schutzmaßnahmen zwingend<br />
notwendig machen. Die Verbesserung der Wasserqualität<br />
in den großen Strömen <strong>und</strong> litoralen<br />
Ökosystemen wird zwar die Nahrungsgr<strong>und</strong>lagen<br />
des Kormorans reduzieren, zwangsläufig aber den<br />
Druck auf jene Arten erhöhen, die durch verbesserte<br />
Wasserqualität begünstigt werden.<br />
Diese Arten gehören häufig Anhang II der FFH-<br />
Richtlinie an, werden jedoch bei der derzeitigen<br />
Diskussion meist sträflich vernachlässigt, weil unsere<br />
Datenlage unbefriedigend ist. Ebenso wie wir<br />
in unserer Kulturlandschaft für alle Bodenbrüter ein<br />
Prädationsproblem haben, nämlich den Fuchs als<br />
Top-Prädator in ausgeräumten Agrarlandschaften<br />
<strong>und</strong> Bodenbrüter-Schutzgebieten, so besitzen wir<br />
im Kormoran einen effizienten Fisch-Prädator. Die<br />
Hoffnung, dass allein durch die Umsetzung der<br />
EU-Wasser-Rahmenrichtlinie die Problemlage entschärft<br />
werden könnte, scheint zumindest mittelfristig<br />
reine Illusion. Die WRRL führt zunächst zu<br />
einer Neuordnung der Wasserbewirtschaftung in<br />
den EU-Mitgliedsstaaten, doch unterscheidet sie<br />
erstmals zwischen einem ökologischen <strong>und</strong> einem<br />
chemischen Gewässerzustand. Unter den biologischen<br />
Qualitätskomponenten zur Bewertung<br />
des ökologischen Zustandes befindet sich neben<br />
dem Phytoplankton, der sonstigen aquatischen<br />
Flora <strong>und</strong> den Wirbellosen auch die gesamte Fischfauna.<br />
Bei ihr soll neben Artenzusammensetzung<br />
<strong>und</strong> -häufigkeit in Zukunft auch die Altersstruktur<br />
berücksichtigt werden. An vielen Standorten, <strong>und</strong><br />
das hat die Kormoran-Diskussion auch bestätigt,<br />
fehlen bisher die hierfür notwendigen Daten. Ob<br />
sie allein durch Experten-Befragungen bei R<strong>und</strong>en<br />
Tischen gef<strong>und</strong>en werden können <strong>und</strong> insbesondere<br />
für Anhang II-Arten der FFH-Richtlinie ausreichend<br />
sind, darf bezweifelt werden.<br />
Kormoran-<strong>Management</strong>-Systeme können auch<br />
deshalb nicht nur an der carrying capacity der<br />
aquatischen Systeme ausgerichtet werden. Sie<br />
müssen unter Beachtung der gesamten regionaltypischen<br />
aquatischen Biodiversität auch eine<br />
Fischwirtschaft ermöglichen. Um das zu sichern,<br />
muss der Zuwachs der europäischen Kormoranpopulationen<br />
begrenzt werden. Das ist mit einer<br />
ökosystemgerechten Bejagung sicherlich zu<br />
leisten. Sie hat zu berücksichtigen, dass die Reproduktionsraten<br />
des Kormorans in geschützten<br />
Habitaten durchaus an der carrying capacity aus-<br />
Seite 34 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
Auch die Ringeltauben, die „Auerhühner des<br />
kleinen Mannes“, erhielten durch die EG-Vogelbild:<br />
Müller<br />
gerichtet werden können, dass jedoch außerhalb<br />
dieser Gebiete nicht der Prädationsdruck auf die<br />
aquatische Biodiversität, die Teichwirtschaft <strong>und</strong><br />
Kleinfischerei durch den Reproduktionsüberschuss<br />
aus den „Schutzgebieten“ erhöht werden darf.<br />
Ökosystemgerechte <strong>Jagd</strong> ist nicht nur nachhaltige<br />
Nutzung von Naturressourcen <strong>und</strong> naturschutzgerechte<br />
Form des „Fleischerwerbs“, sie<br />
ist - so wie wir sie verstehen - aktiver Arten- <strong>und</strong><br />
Biodiversitätsschutz, steht deshalb auf der Seite<br />
der Verlierer des kulturlandschaftlichen Wandels<br />
<strong>und</strong> unterstützt damit die internationalen Biokonventionen.<br />
Sie versteht sich als verlässlicher<br />
Partner einer differenzierten <strong>und</strong> ökosystemgerechten<br />
Landnutzung <strong>und</strong> tritt deshalb als Advokat<br />
der freilebenden Tier- <strong>und</strong> Pflanzenwelt auch<br />
für räumlich differenzierte, ökosystemangepasste<br />
Bejagungsstrategien ein.<br />
Manche Kormoran-Verordnungen der B<strong>und</strong>esländer<br />
folgen diesem Differenzierungsgebot. Allerdings<br />
erscheint es sowohl aus Gründen rechtlicher<br />
Klarheit als auch wegen des erreichten Populationsstatus<br />
des Kormorans sachlich geboten, seine<br />
Überführung in Anhang II (jagdbare Vogelarten)<br />
der Europäischen Vogelschutzrichtlinie (vgl. Drucksache<br />
15/4505 vom 14.12.05 des Bayerischen<br />
Landtages) <strong>und</strong> konsequent auch seine Aufnahme<br />
in die Liste der jagdbaren Arten nach § 2 Abs. 1 des<br />
B<strong>und</strong>esjagdgesetzes zu fordern. Damit wäre nicht<br />
nur die Möglichkeit für flexiblere Eingriffsmöglichkeiten<br />
bei festgelegten <strong>Jagd</strong>- <strong>und</strong> Schonzeiten<br />
gegeben, es würden auch alle zielführenden Strategien<br />
zum Entschärfen lokaler Problemsituationen<br />
Gegenstand einer professionellen Ausbildung. Die<br />
Zuordnung des Kormorans zu den „jagdbaren Arten“<br />
bedeutet nicht, dass Reduktion <strong>und</strong> Töten prioritäre<br />
Mittel einer sachgerechten Problemlösung<br />
sind. Es geht vielmehr um den Einsatz derjenigen<br />
Methoden, die der Problemlage im Einzelfall angemessen<br />
sind.<br />
Damit ist keineswegs automatisch, wie von manchen<br />
Jägern befürchtet, eine Wildschadenspflicht<br />
verb<strong>und</strong>en (vgl. die unterschiedliche Behandlung<br />
von Wildschwein, Dachs, Waschbär oder Marderh<strong>und</strong>).<br />
In aller Deutlichkeit muss auch festgestellt werden,<br />
dass manche der lokal eingesetzten Vergrämungs-<br />
<strong>und</strong> Tötungspraktiken dem Problem nicht<br />
angemessen waren. Wer Nestlinge oder Ästlinge<br />
töten muss, hat das Problem viel zu spät erkannt.<br />
Aus populationsbiologischen Gründen kann man<br />
dazu durchaus anderer Auffassung sein, <strong>und</strong> für<br />
einen Fuchs besitzt selbst ein laktierender Hase<br />
oder ein Rebhuhn keine Schonzeit während der<br />
Jungenaufzucht.<br />
Verpflichtet man sich jedoch dazu, dann muss<br />
die Bejagung vor der Brutzeit oder in der frühen<br />
Eilegephase flexibler, störungsfreier <strong>und</strong> effizienter<br />
sein als das in manchen Fällen beobachtet werden<br />
konnte. Zu prüfen ist darüber hinaus, ob entgegen<br />
dem <strong>Jagd</strong>- <strong>und</strong> Waffengesetz an manchen<br />
Standorten auch eine kontrollierte Reduktion auf<br />
Schlaf- <strong>und</strong> Ruheplätzen während der Nacht mit<br />
Schalldämpfern <strong>und</strong> unter Einsatz von Nachtzielgeräten<br />
durch Spezialisten in Betracht gezogen<br />
werden kann.<br />
Erfahrungen aus Japan <strong>und</strong> den USA haben<br />
zumindest mich davon überzeugt, dass für Problem-Lösungen<br />
nicht immer nur die traditionellen<br />
Methoden zielführend sind, sondern vorrangig<br />
Methoden, die speziell für die schonende Entnahme<br />
von sozial lebenden Wildtieren entwickelt wurden.<br />
Damit sind wir aber wieder beim moralischen<br />
Kompetenzumfang, der bei manchen jeden Eingriff<br />
in Naturabläufe als Anmaßung definiert <strong>und</strong><br />
Siechtum als natürlich gewollt versteht. Wegsehen<br />
ist naturgemäß einfacher, möglicherweise<br />
aber nicht humaner, als durch aktive Eingriffe in<br />
Kulturlandschaftsprozesse für Problementschärfung<br />
zu sorgen.<br />
Während ich beim Kormoran nicht brütende<br />
Jungvögel von Altvögeln gut unterscheiden kann,<br />
ist dazu bei den Ringeltauben schon ein besseres<br />
Glas notwendig.<br />
Jahresstrecken der Ringeltaube<br />
in Deutschland<br />
1994 bis 2006<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 35
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
„Verordnung zur Änderung der Verordnung über<br />
die <strong>Jagd</strong>zeiten“ vom 28. November 2006 neue Bejagungsmöglichkeiten<br />
auch für den Monat März<br />
gebracht. Allerdings muss auch in diesem Fall ein<br />
sauber begründeter Antrag bei der Unteren <strong>Jagd</strong>behörde<br />
eingereicht werden („in der Regel mit<br />
unzumutbaren Schäden in der Landwirtschaft“),<br />
die dann das Verfahren einleitet, denn zuständig<br />
für die Schonzeitenaufhebungen ist die Obere<br />
<strong>Jagd</strong>behörde.<br />
Konsequenzen für eine<br />
ökosystemgerechte <strong>Jagd</strong><br />
Ökosystemgerechte<br />
Jäger sind die Advokaten<br />
von Wildtieren<br />
<strong>und</strong> Ökosystemen. Ob<br />
<strong>und</strong> wie Populationen<br />
zu bejagen sind, richtet<br />
sich nach deren Biologie<br />
<strong>und</strong> den regional<br />
sehr unterschiedlichen<br />
Brut- <strong>und</strong> Aufzuchtzeiten<br />
sowie dem<br />
Zustand der regionaltypischen<br />
Ökosysteme.<br />
schutzrichtlinie <strong>und</strong> ihre Umsetzung in deutsches<br />
Recht, insbesondere die B<strong>und</strong>esjagdzeitenverordnung<br />
vom 25.4.2002, eine fast ganzjährige Schonzeit.<br />
In Nordrhein-Westfalen verursacht die Art<br />
erhebliche Fraßschäden in Raps-, Gemüse-, Obst-,<br />
Zuckerrüben- <strong>und</strong> Getreide-Kulturen, <strong>und</strong> seit dem<br />
<strong>Jagd</strong>jahr 2003/2004 werden jährlich über 600.000<br />
Tauben allein in diesem B<strong>und</strong>esland geschossen.<br />
Auch in diesem Jahr wurden am 15.1.2007 fünf<br />
„Allgemeinverfügungen zur Schonzeitaufhebung“<br />
in den Regierungsbezirken Arnsberg, Detmold,<br />
Köln, Münster <strong>und</strong> Düsseldorf bis zum 31.10. „zur<br />
Vermeidung übermäßiger Wildschäden“ erlassen.<br />
In ihnen wurden die betroffenen Kulturen <strong>und</strong> der<br />
zeitliche Rahmen festgelegt. Letzterer umfasst naturgemäß<br />
die gesamte Brutperiode. Da nach § 22<br />
Abs. 4 B<strong>Jagd</strong>G die zur Aufzucht von Jungtieren<br />
notwendigen Alttiere zu schonen sind, „muss der<br />
Abschuss auf Ringeltauben beschränkt bleiben,<br />
die in Schwärmen auftreten“.<br />
Auch diese Verordnung zeigt, dass Sankt Bürokratius<br />
immer einen Ausweg weiß, <strong>und</strong> dass zumindest<br />
in seinen Verordnungen der Muttertierschutz<br />
höchste Priorität genießt. Statt dem Jäger<br />
zu erlauben, den rufenden Täuber zumindest im<br />
Frühjahr zu bejagen, legt er nun einfach fest, dass<br />
sich in Ringeltauben-Schwärmen keine Muttertiere<br />
aufhalten, <strong>und</strong> auf diese deshalb auch das Waidwerk<br />
ausgeübt werden kann. Allerdings muss der<br />
Jäger immer die Verantwortung tragen.<br />
Viel einfacher wäre es, wenn die Jäger je nach<br />
Region die Verantwortung selbst übernehmen<br />
würden. Aber vor einem schreienden Gemüsebauern<br />
knicken Bürokraten <strong>und</strong> Politiker schneller<br />
ein, als vor einem argumentierenden Jäger. Auch<br />
für die Bejagung von Aaskrähen hat übrigens die<br />
Die aufgezeigten Beispiele zeigen, dass wir offensichtlich<br />
zu unterschiedlichen Arten, in unterschiedlichen<br />
Ökosystemen <strong>und</strong> Kulturlandschaften<br />
sowie in verschiedenen Berufsgruppen <strong>und</strong> bei den<br />
Jägern durchaus verschiedene Einstellungen zum<br />
Muttertierschutz besitzen. Das Thema bietet ideale<br />
Gestaltungsmöglichkeiten für Heuchler, Verdränger<br />
<strong>und</strong> aufgeregtes, pauschales Argumentieren.<br />
Es ist aber viel zu ernst <strong>und</strong> für die Akzeptanz <strong>und</strong><br />
Zukunftsfähigkeit unserer <strong>Jagd</strong> zu wichtig, um das<br />
Thema nur Sonntagsrednern zu überlassen.<br />
Unsere <strong>Jagd</strong> muss die tierschutzgerechteste Form<br />
des Fleischerwerbs sein. Das erfordert auch in Krisenzeiten,<br />
in Krisengebieten <strong>und</strong> dort wo Wildbestand,<br />
Ökosysteme <strong>und</strong> Kulturlandschaft sich<br />
wechselseitig Probleme bereiten ein sachgerechtes<br />
Handeln mit Augenmaß <strong>und</strong> Herz. Wir sollten uns<br />
auch nicht auf dem Verordnungswege zu Handlangern<br />
einseitiger Nutzungsinteressen <strong>und</strong> scheinheiliger<br />
Ökoapostel machen lassen. Wir müssen aber<br />
auch akzeptieren, dass wir uns manchmal im Interesse<br />
für das Ganze vor notwendigen Eingriffen<br />
nicht drücken dürfen. Der „aufrechte Gang“, mit<br />
dem früher einmal eine Jugendorganisation einer<br />
mir ansonsten nicht nahe stehenden Partei geworben<br />
hatte, sollte gerade auch für unsere <strong>Jagd</strong><br />
Wer die Nachtjagd auf Schwarzwild erlaubt, sollte auch optimale<br />
technische Hilfsmittel ermöglichen.<br />
Bild: P. Müller; M. MiIGos<br />
Seite 36 I Schriftenreihe des Landesjagdverbandes Bayern
<strong>Waidgerechte</strong> <strong>Jagd</strong> <strong>und</strong> <strong>Wildlife</strong>-<strong>Management</strong><br />
<strong>und</strong> unseren Umgang mit den Tieren <strong>und</strong> Lebensgemeinschaften<br />
Richtschnur sein. Daraus ergeben<br />
sich Konsequenzen für eine von mir vertretene<br />
ökosystemgerechte <strong>Jagd</strong>, Konsequenzen für den<br />
mündigen <strong>und</strong> sachkompetenten Jäger.<br />
Zunächst erfordern die sehr unterschiedlichen<br />
Probleme mit Wildtieren in sehr verschiedenen<br />
Natur- <strong>und</strong> Kulturräumen, wie Hochgebirgen,<br />
Meeresküsten, Bodenbrüterzentren, Schutzgebieten<br />
unterschiedlicher Kategorien <strong>und</strong> Zielsetzungen<br />
oder land- <strong>und</strong> forstwirtschaftlichen<br />
Produktionsflächen eine viel flexiblere Anwendung<br />
von Schon- <strong>und</strong> <strong>Jagd</strong>zeiten, als in unseren<br />
derzeitigen Verordnungen verankert. Die vorgelegten<br />
Beispiele machen deutlich, dass zur Reduktion<br />
von bestimmten Wildtierpopulationen<br />
in Problemgebieten, auch wenn diese nicht oder<br />
nicht nur durch Überpopulationen von Wildtieren<br />
hervorgerufen wurden, der berechtigte Schutz<br />
von führenden Muttertieren nur dann gesichert<br />
werden kann, wenn insbesondere bei den Jungtieren<br />
zum Teil wesentlich stärker, <strong>und</strong> wenn notwendig<br />
auch ganzjährig eingegriffen wird, als<br />
das bisher in den meisten kritischen Räumen der<br />
Fall ist. Es ist besser <strong>und</strong> tierschutzgerechter, die<br />
Jungtiere von Schwarz- oder Rehwild, Rabenkrähen,<br />
Füchsen, Marderh<strong>und</strong>en oder Kormoranen<br />
in Krisengebieten ganzjährig zu bejagen, als auf<br />
den herbstlichen Drückjagden den häufig noch<br />
nicht selbständigen Jungtieren das schutzbietende<br />
Muttertier wegzuschießen, getreu dem Motto „es<br />
kam allein“, „ein Kitz oder Kalb war nicht dabei“.<br />
Gefüllte Milchleisten <strong>und</strong> Gesäuge sprechen ihre<br />
eigene, deutliche Sprache. Bei manchen Arten<br />
sollten auch die länderspezifischen Bejagungsverordnungen,<br />
die überwiegend durch den Druck<br />
von betroffenen Nutzern zustande kamen, überdacht<br />
werden. Die Populationen des Kormorans<br />
können zwar mit den bisherigen Kormoranverordnungen<br />
in neun B<strong>und</strong>esländern von besonders<br />
gefährdeten Teichanlagen ferngehalten werden,<br />
doch ist eine flächendeckende Absenkung der<br />
Bestände nur zu erreichen, wenn der Kormoran<br />
in allen B<strong>und</strong>esländern <strong>und</strong> der EG wieder bejagt<br />
werden kann.<br />
Das erfordert die Novellierung der EG-Vogelschutzrichtlinie<br />
<strong>und</strong> der Liste der jagdbaren Arten<br />
in Deutschland. Es sollte ermöglicht werden, dass<br />
ganzjährig unverpaarte Jungvögel bejagt werden<br />
können, nicht nur beim Kormoran, sondern<br />
auch bei den Rabenkrähen. Maßnahmen an den<br />
Brutplätzen sollten spätestens zum Brutbeginn<br />
beendet sein. Für die Rabenkrähen-Populationen<br />
sollte eine ganzjährige Bejagung der Junggesellenschwärme<br />
ermöglicht werden. Auch für die<br />
Ringeltauben sollte eine ganzjährige Bejagung der<br />
Jungtauben möglich sein.<br />
Ein besonderes Problem stellt die Fuchsbejagung<br />
dar. Ich plädiere dafür, in Schutzgebieten der<br />
Großtrappe, der Brachvögel <strong>und</strong> anderer gefährdeter<br />
Wiesenbrüter eine ganzjährige Bejagung des<br />
Fuchses zu gewährleisten. Eine intensive Bejagung<br />
der Jungfüchse muss ab Mai erfolgen. Auch hier<br />
gilt: Wer die Fähen im Winter <strong>und</strong> zeitigen Frühjahr<br />
ernsthaft bejagt, hat im Mai keine Probleme.<br />
Für alle Neozoen sollte eine ganzjährige Bejagung<br />
der Jungtiere möglich sein. Für die Alttiere empfiehlt<br />
sich die <strong>Jagd</strong>zeiten-Verordnung von Niedersachsen.<br />
Gleiches sollte für das Kaninchen gelten.<br />
Beim Rehwild muss die intensive Bejagung der<br />
Kitze im Vordergr<strong>und</strong> stehen. Der Idealfall, insbesondere<br />
bei schwachen Sippen Geiß <strong>und</strong> Kitze<br />
gleichzeitig der Wildbahn zu entnehmen, sollte erfahrenen<br />
Revier- <strong>und</strong> Rehwildkennern überlassen<br />
werden. Es ist geradezu lächerlich, auf die Verlängerung<br />
der <strong>Jagd</strong>zeit auf Böcke zu drängen, wenn<br />
diese notwendigsten Abschussvorgaben nicht<br />
oder nur stümperhaft erfüllt wurden. Dort, wo auf<br />
Drückjagden der Abschuss des Wildes vor dem Ansprechen<br />
kommen soll, sollten sich die Jäger nicht<br />
zu willfährigen Helfern degradieren lassen.<br />
Beim Rot- <strong>und</strong> Gamswild ist der Verlust eines<br />
führenden Muttertieres fast immer mit Siechtum,<br />
Dahinvegetieren oder in Extremlebensräumen<br />
dem Tod des Jungtieres verb<strong>und</strong>en. Alle unsere<br />
herbivoren Schalenwildarten benötigen zum Selbständigwerden<br />
die Führung des Muttertieres in<br />
ihrem ersten Lebenswinter.<br />
Beim Schwarzwild liegen die Probleme, soweit<br />
es die <strong>Jagd</strong> betrifft, bei der meist mangelnden intensiven<br />
Bejagung der Frischlinge. Das setzt neben<br />
Professionalität der Schützen <strong>und</strong> deren Bereitschaft,<br />
sie wirklich zu bejagen, auch ein Umdenken<br />
bei der nächtlichen Ansitz- oder Pirschjagd<br />
voraus. Wer die Nachtjagd erlaubt, sollte auch<br />
optimale technische Hilfsmittel zumindest in Krisengebieten<br />
ermöglichen. Deshalb plädiere ich für<br />
die Freigabe von <strong>Jagd</strong>-Nachtsichtzielfernrohren.<br />
Das Risiko des Missbrauchs ist nicht größer als bei<br />
der derzeitigen Nachtjagd-Praxis.<br />
Generell sollte beachtet werden, dass in Problemgebieten<br />
<strong>und</strong> in Gebieten mit unterschiedlichen<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 37
Prof. Dr. rer. nat. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
Schutzbedürfnissen <strong>und</strong> -zielen die <strong>Jagd</strong>strategien<br />
sorgfältig unter allen, häufig unterschiedlich Betroffenen,<br />
abgestimmt sein müssen. Jede Region,<br />
häufig auch jedes Revier, besitzt unterschiedliche<br />
Anforderungsprofile.<br />
Wer ein Karnickel-Revier bewirtschaftet, hat andere<br />
Probleme als der Besitzer von 5.000 Hektar<br />
Waldland, der Staatsforst andere Probleme als<br />
der Landwirt. Dort, wo Schwarzwild erhebliche<br />
landwirtschaftliche Schäden verursacht <strong>und</strong> eine<br />
für alle verbindliche Wildschadensausgleichkasse<br />
nicht existiert, sind alle Schwarzwild Hegerichtlinien<br />
bereits vor dem Druck Makulatur.<br />
Wir Jäger sollten uns zum Muttertierschutz bei<br />
allen Wildtieren bekennen. Das bedeutet aber,<br />
dass unsere Populationseingriffe außerhalb der<br />
Brut- <strong>und</strong> Setzzeiten konsequenter sein müssen,<br />
wenn es Ökosysteme, Landeskultur <strong>und</strong> Wildtierpopulationen<br />
erfordern. Wir sind die Advokaten<br />
von Wildtier- <strong>und</strong> Ökosystemschutz <strong>und</strong> müssen<br />
für beide verantwortungsvoll handeln.<br />
Literatur<br />
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Waidgerechtigkeit. Versuch einer Systematik. In: Der Deutsche<br />
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Vogelschutz 39: 95-117.<br />
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von Prädatoren an Nestern von Wiesenlimikolen. Vogelwelt<br />
124: 83-91.<br />
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(5): 371-394.<br />
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– Ein Vergleich zwischen 2000 bis 2002 <strong>und</strong> früheren<br />
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Vogelwelt 126: 321-332.<br />
BÜTTGER, H., THYEN, ST. & EXO, K.-M. (2006): Nistplatzwahl,<br />
Prädation <strong>und</strong> Schlupferfolg von Rotschenkeln<br />
Tringa totanus auf der Insel Wangerooge. Vogelwarte<br />
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BURKHARDT, J.-P. (2006): Im Zweifel für die Elterntiere.<br />
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BURTON, J. F. (1995): Birds & Climate Change. Helm, London<br />
EIBL-EIBESFELDT, I. (1970): Liebe <strong>und</strong> Hass. Zur Naturgeschichte<br />
elementarer Verhaltensweisen. Büchergilde Gutenberg,<br />
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Anschrift des Verfassers:<br />
Prof. Dr. Dr. h. c. mult. Paul Müller<br />
Universität Trier - Fachbereich VI, Biogeographie<br />
Am Wissenschaftspark 25-27<br />
54295 Trier<br />
Tierschutz in der <strong>Jagd</strong> I Seite 39
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