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SWR Der Fehler ist das Salz des Lernens - Reinhard Kahl

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<strong>SWR</strong> Aula 22. Juli 2007<br />

<strong>Reinhard</strong> <strong>Kahl</strong><br />

<strong>Der</strong> <strong>Fehler</strong> <strong>ist</strong> <strong>das</strong> <strong>Salz</strong> <strong>des</strong> <strong>Lernens</strong><br />

Die grau einfärbten Passagen mussten aus Gründen der Sendelänge<br />

gekürzt werden<br />

„Haben Sie heute schon einen <strong>Fehler</strong> gemacht?“ Für Antworten auf<br />

diese Frage, liebe Hörerinnen und Hörer, <strong>ist</strong> es wohl noch etwas früh am<br />

Tag. Es geht auch weniger um die Bilanz, als darum wie diese Frage<br />

klingt.<br />

Vielleicht erinnert sich manch einer an seine Kindheit, an gereizte<br />

Eltern beim Mittag- oder Aben<strong>des</strong>sen, wenn Hausaufgaben und<br />

Klassenarbeiten vorgezeigt wurden: „Was hast Du denn da wieder für<br />

einen <strong>Fehler</strong> gemacht?“<br />

Den Vormittag schon hatte sich die pädagogische Inquisition an Mathe,<br />

Latein und Erdkunde erprobt. Nur nichts falsch machen! Das war hinter<br />

all dem Stoff die Botschaft der roten Tinte. Die Gegenreaktion der<br />

Schüler: Perfektion vortäuschen. Intelligent gucken, statt angeblich<br />

dumme Fragen zu stellen.<br />

„Hast Du heute schon einen <strong>Fehler</strong> gemacht?" Die gleiche Frage, nur<br />

ganz anders betont, empfehlen Unternehmensberater neuerdings als eine<br />

Art Mittagsmeditation. Angefangen hatte es mit diesem Spruch bei<br />

Rank Xerox in Kalifornien. Die Frage dient nun einer ganz anders<br />

temperierten Selbsterforschung. Habe ich schon etwas gewagt? Die<br />

neue Vermutung heißt: Wer noch keinen <strong>Fehler</strong> gemacht hat, der hat<br />

vielleicht noch gar nichts gemacht, hat sich zumin<strong>des</strong>t nicht bewegt.<br />

<strong>Fehler</strong> werden im mentalen Pass von Grenzgängern nicht mehr als<br />

Makel verzeichnet. Im Gegenteil. Wer dort ohne Eintragungen <strong>ist</strong>, hat<br />

1


schlechte Karten. <strong>Der</strong> <strong>Fehler</strong> gilt nicht mehr quasi als Sünde, die die<br />

Angst nach sich zieht, selbst irgendwie falsch, vielleicht sogar durch<br />

und durch falsch zu sein – und nun beim <strong>Fehler</strong> kommt es herraus. <strong>Der</strong><br />

<strong>Fehler</strong> gilt plötzlich als etwas ganz anderes. Er <strong>ist</strong> ein Hinweis auf einen<br />

Vorsprung im Lernprozess. Denn am Fehlversuch geben sich die heute<br />

gefragten Grenzgänger zu erkennen. Wer Neuland betritt, macht <strong>Fehler</strong>,<br />

unweigerlich. Das <strong>ist</strong> die Quintessenz lernender Organisationen: <strong>Der</strong><br />

<strong>Fehler</strong> <strong>ist</strong> <strong>das</strong> <strong>Salz</strong> <strong>des</strong> <strong>Lernens</strong>.<br />

Eigentlich <strong>ist</strong> <strong>das</strong> nur <strong>das</strong> alte Lied der Evolution. Man stelle sich vor,<br />

die Einzeller hätten einen perfekten Schutz gegen Kopierfehler bei ihrer<br />

Vermehrung entwickeln können? Sie, liebe Hörer, würden jetzt nicht<br />

zuhören und ich würde nicht sprechen. Es würde uns schlicht nicht<br />

geben. Den Mutationen verdanken wir die Evolution. <strong>Fehler</strong> treiben <strong>das</strong><br />

Lernen voran. Sie sind nicht nur <strong>das</strong> <strong>Salz</strong> <strong>des</strong> <strong>Lernens</strong>, sondern <strong>des</strong><br />

Lebens.<br />

Beim Laufenlernen der Kinder kann man es beobachten: Laufen <strong>ist</strong><br />

aufgefangenes Fallen. Diesem Wechsel von Stabilität und Instabilität<br />

verdanken wir sogar den aufrechten Gang.<br />

Auch <strong>das</strong> Erlernen der Sprache <strong>ist</strong> eine Expedition durch einen<br />

Dschungel voller Unfertigkeiten und <strong>Fehler</strong>. Man stelle sich vor, Kinder<br />

sollten ihre Muttersprache so lernen wie man in der Schule lernt? Im<br />

Sitzen. Erst mal die Theorie. Dann die Regeln. Schließlich die<br />

Ausnahmen von der Regel. Grammatik und Wörter fein säuberlich<br />

getrennt. Niemand könnte sprechen. Dass viele Schulabsolventen mit<br />

der Mathematik auf Kriegsfuss stehen, geht zu einem guten Teil auf <strong>das</strong><br />

Konto eines Unterrichts, der wie eine Initiation in eine fertige, keimfreie<br />

Ordnung aus „richtig oder falsch“ betrieben wird. <strong>Der</strong> Mathematiker<br />

Heinz Otto Peitgen, der an der Universität Bremen und an<br />

amerikanischen Universitäten lehrt, <strong>ist</strong> sich ganz sicher, <strong>das</strong>s <strong>das</strong>, was<br />

zume<strong>ist</strong> an Schulen getrieben wird, mit Buchhaltung viel, mit<br />

Mathematik aber wenig zu tun hat. Er bekennt: „meine Arbeit besteht<br />

2


erst mal aus <strong>Fehler</strong>n und im zweiten Schritt aus der Diagnose der<br />

<strong>Fehler</strong>.“ Das sei eine überaus fröhliche Wissenschaft. Das Mathegenie<br />

Gert Faltings, der mit 28 Jahren jüngster deutscher Mathematikprofessor<br />

war, sagt: „90% meiner Einfälle funktionieren nicht. Aber nur so lernt<br />

man die Probleme besser kennen und findet neue Techniken“.<br />

Über <strong>Fehler</strong> werden unbekannte Räume erkundet. So werden auch<br />

eigene Fähigkeiten herausgefunden und weiterentwickelt. <strong>Fehler</strong>verbote<br />

sind demgegenüber Entwicklungsverbote.<br />

Ist doch klar, könnte man sagen – alles selbstverständlich. Nein, ein<br />

gelassener, gar ein neugieriger Blick auf <strong>das</strong> Potential dieser durch und<br />

durch ambivalenten Angelegenheit, <strong>Fehler</strong> zu machen, gehört zu den<br />

Selbstverständlichkeiten, die immer noch alles andere als<br />

selbstverständlich sind.<br />

Wie jemand mit <strong>Fehler</strong>n umgeht, gibt Auskunft darüber, wo er heute im<br />

Übergang von der Industriegesellschaft zu einer Wissens- oder wie<br />

Bun<strong>des</strong>präsident Horst Köhler sagt, zu einer Ideengesellschaft, steht.<br />

Immer noch in der Nähe der <strong>Fehler</strong>inquisition oder im Bereich der<br />

<strong>Fehler</strong>toleranz?<br />

<strong>Fehler</strong>toleranz! Da gibt es ganz erstaunliche Töne. Zum Beispiel<br />

„Macht mehr <strong>Fehler</strong> und macht sie früher!“ Solche Parolen füllen<br />

Management-Guru Tom Peters in den USA die allergrößten Hallen.<br />

Vorstände der mächtigsten Konzerne zahlen Mordshonorare, um sich<br />

von ihm irritieren zu lassen. Irritation <strong>ist</strong> kostbar. <strong>Der</strong> verstorbene<br />

Me<strong>ist</strong>er der Paradoxien und der Systemtheorie, Niklas Luhmann, meinte<br />

sogar, Irritationsfähigkeit sei die wesentliche Voraussetzung dafür,<br />

Neues lernen zu können.<br />

Dass diese Aufforderung von Tom Peters heute aus den Unternehmen<br />

kommt, gewiss nicht aus jedem Betrieb, <strong>das</strong> hätten sich die me<strong>ist</strong>en von<br />

uns damals in der Schule nicht träumen lassen – und wir haben viel<br />

3


geträumt im Unterricht. Aber es liegt ja auf der Hand. Wenn es darum<br />

geht, eine Atmosphäre für Kreativität zu schaffen, wenn die Hürden vor<br />

dem Wagnis, selber zu denken, genommen werden sollen, dann muss<br />

die Angst vor dem <strong>Fehler</strong> abgebaut werden. Oder genauer gesagt, die<br />

Angst vor der Angst. Die Angststarre. Die Selbstverleugnung.<br />

<strong>Der</strong> Ausschluss von Abweichungen <strong>ist</strong> ein Kern jeder Maschinenmoral.<br />

<strong>Der</strong> für Maschinen und automatisierte Verhaltensweisen angemessene<br />

Modus <strong>ist</strong> die Wiederholung <strong>des</strong> einmal gefunden Lösungsalgorithmus.<br />

<strong>Der</strong> Philosoph Heinz von Foerster sprach in diesem Zusammenhang von<br />

trivialen Maschinen. Sie überraschen nicht. Sie sind vorhersehbar und<br />

sie laufen perfekt. Aber aus maschinenhafter Routine kommt nichts<br />

Neues. Wie aber arbeiten demgegenüber nicht triviale Maschinen? Wie<br />

also entsteht Neues?<br />

Für Kreativität – oder ganz generell für die Möglichkeit, <strong>das</strong>s etwas<br />

noch nie Dagewesenes entsteht - gilt die Paradoxie, <strong>das</strong>s nur <strong>das</strong><br />

gelingen kann, was auch schief gehen darf. Natürlich geht es nicht<br />

darum, alte dumme <strong>Fehler</strong> zu wiederholen, sondern neue, intelligente<br />

<strong>Fehler</strong> zu wagen. „Ich ernähre mich von meinen <strong>Fehler</strong>n“, sagte Joseph<br />

Beuys.<br />

Dazu muss man sich von der Alltagsreligion der Perfektion<br />

verabschieden. Und <strong>das</strong> fällt den Deutschen so schwer. Tatsächlich<br />

waren und sind sie Me<strong>ist</strong>er der Perfektion. Damit wurden sie sogar<br />

Weltme<strong>ist</strong>er in der Konkurrenz der Industriegesellschaften. Aber die<br />

Perfektion hat einen großen Nachteil. Ihr fehlen die Lücken. In diese<br />

Lücken n<strong>ist</strong>et sich <strong>das</strong> Neue ein. In japanischer Tradition <strong>ist</strong> genau <strong>das</strong><br />

eine Definition von Zukunft: aus der Lücke, die man in der Gegenwart<br />

lässt, entspringt Zukunft. Das wussten natürlich die Künstler und<br />

Dichter schon immer. T.S. Elliot schrieb „Perfektion <strong>ist</strong> giftig, sie<br />

bekommt keine Kinder.“ Dass Perfektion keine Zukunft hat, <strong>das</strong> <strong>ist</strong> ja<br />

geradezu ihre Definition.<br />

4


Wodurch wird ein fehlerfreundliches Klima ermöglicht, und unter<br />

welchen Bedingungen wird eher auf Perfektion gepocht? Ein Beispiel:<br />

Mittsommernacht in Berlin. Am Kleinen Wannsee feiern Jugendliche<br />

aus vielen Ländern. Amerikaner, Neuseeländer und andere, die in<br />

Deutschland ein Jahr zur Schule gegangen sind. Sie verabschieden sich.<br />

Die me<strong>ist</strong>en der Deutschen, die an den See gekommen sind, waren<br />

bereits anderswo Gastschüler. Einige von ihnen sind gerade wieder nach<br />

Berlin zurückgekehrt.<br />

Eine deutsche Schülerin ging ein Jahr in Stockholm zur Schule. Nun<br />

schwärmte sie davon, <strong>das</strong>s dort die Lehrer gleich nach den Ferien ihre<br />

Handynummern an die Schüler verteilt hätten. Was daran denn so<br />

aufregend sei, fragte eine Stimme mit englischem Akzent. „Na, die<br />

Lehrer waren jederzeit für uns da“, antwortet die Rückkehrerin, „sie<br />

waren irgendwie Freunde.“ Schweigen der Ausländer. Dann fragte ein<br />

junger Amerikaner zurück: „Warum sind die Lehrer eigentlich eure<br />

Feinde?“ Schweigen bei den Deutschen. Diese Frage hatten sie sich<br />

noch nie gestellt. Den Kleinkrieg in der Schule finden sie eigentlich<br />

ganz normal. Und jetzt bricht es aus ihnen heraus: „Ihr seid wie der<br />

Rotz an meinem Ärmel, hat unser Deutschlehrer gesagt“, erzürnt sich<br />

ein Abiturient von einem der vornehmsten Gymnasien der Stadt.<br />

Ähnliche Zitate sprudeln. „Ihr seid eben die blö<strong>des</strong>ten Schüler auf der<br />

ganzen Welt, habe ich ja schon immer gesagt“, wird eine Mathelehrerin<br />

zitiert, die derart mit dem Verweis auf die Pisastudien auftrumpfe.<br />

Was <strong>ist</strong> eigentlich an Schulen los, aus denen so etwas berichtet wird?<br />

Was macht diese Misanthropie aus? <strong>Der</strong> Misanthrop war ja in der<br />

Antike jemand, der andere nicht für würdig fand mit ihm zusammen zu<br />

leben. Seinem hohen Anspruch konnte niemand genügen. Wählen<br />

Misanthropen den Lehrerberuf, dann unterrichten sie Fächer und nicht<br />

Schüler. Ihr Fachwissen empfinden sie als die sprichwörtlichen Perlen,<br />

die sie gezwungen sind vor die Säue zu werfen.<br />

5


In diese Welt passt der Streber. Keine deutsche Besonderheit, aber<br />

hierzulande <strong>ist</strong> er eine häufige und sehr ausgeprägte Figur. Das deutsche<br />

Wort wird in anderen Sprachen als Lehnwort benutzt. Mit Streber<br />

werden bei uns allerdings nicht nur die Schleimer und Opportun<strong>ist</strong>en<br />

bedacht, sondern auch Schülerinnen und Schüler, die viel wissen, die<br />

sich für die Sachen interessieren und die ohne Hintersinn in der Schule<br />

ganz einfach gut sein wollen. In dem Vorwurf Streber steckt ein<br />

Generalverdacht. Schüler unterstellen anderen Schülern die<br />

Kollaboration mit dem Feind. Da <strong>ist</strong> offenbar ziemlich deutsch.<br />

Daran zeigt sich, wie wenig <strong>das</strong> Lernen hierzulande von den Schülern<br />

als ihre eigene Sache angesehen wird, sondern viel mehr als eine im<br />

Grunde fremde, von außen kommende Anforderung. Mit den<br />

gegenseitige Ressentiments blöde Schüler gegen doofe Lehrer wird<br />

diese Feindlichkeit vertieft. In diesem Clinch stellt sich schließlich jede<br />

Seite so dar, <strong>das</strong>s sie die Ablehnung der anderen Seite steigert.<br />

In letzter Instanz, sagt der Nestor der deutschen Pädagogik, Hartmut<br />

von Hentig, <strong>ist</strong> doch alle Pädagogik Ausdruck <strong>des</strong><br />

Generationenverhältnisses. In einer misanthropischen Pädagogik<br />

interessieren sich Lehrer so besonders für die <strong>Fehler</strong> der Schüler. Aber<br />

nicht, damit diese daraus lernen, sondern um sie ihnen anzukreiden.<br />

Damit sind wir am Kern <strong>des</strong> Problems.<br />

Dominiert <strong>das</strong> Vertrauen oder <strong>das</strong> M<strong>ist</strong>rauen? Wird die nachwachsende<br />

Generation freundlich empfangen oder stört sie? Wie bei der Frage,<br />

„hast Du heute schon einen <strong>Fehler</strong> gemacht“, wird an der Betonung <strong>des</strong><br />

Satzes „Auf Euch haben wir gewartet“, der Unterschied deutlich. Klingt<br />

der Satz wie eine Einladung? „Hey, kommt her! Ihr seid schon ganz gut,<br />

aber in Euch steckt noch viel mehr als Ihr denkt. Lasst uns was draus<br />

machen.“ Oder senden die auf den Buchstaben gleichen Worte, nur<br />

anders betont, eine Botschaft mit dem Gegenteil: „Auf Euch haben wir<br />

gerade noch gewartet... Ihr fehlt mir noch... Ich wundere mich schon gar<br />

nicht mehr... Ihr werdet noch Euer blaues Wunder erleben...“ Man kennt<br />

6


diesen Sound. Manch einem <strong>ist</strong> er vertrauter als die freudige<br />

Aufforderung zum Zusammenleben.<br />

Natürlich <strong>ist</strong> diese Gegenüberstellung etwas schwarz-weiß. Die<br />

Wirklichkeit spielt sich in Zwischentönen ab. Aber die Grundfrage <strong>ist</strong><br />

doch, ob Kinder freudig begrüßt oder missbilligend gemustert werden.<br />

Wird den Kindern mit dem sogenannten späteren Leben gedroht oder<br />

werden sie hier und jetzt zum Leben eingeladen.<br />

Wollen Erwachsene die Kinder und Jugendlichen in ihre Welt<br />

hineinziehen? Verstehen sie <strong>das</strong> unter Erziehung? Oder suchen sie erst<br />

mal nach Gründen für ihre relexhafte Missbilligung? Steht hinter den<br />

Handlungen der Erwachsenen diese Geste: „Seht her, <strong>das</strong> <strong>ist</strong> unsere<br />

Welt“? Ein Ton der allerdings einen gewissen Stolz der Erwachsenen<br />

verlangt. Oder leben sie selbst wie verschämte Untermieter in der Welt,<br />

die argwöhnisch darauf achten, <strong>das</strong>s sich ihre Nachbarn nicht etwa <strong>das</strong><br />

herausnehmen, was sie sich selbst verboten haben?<br />

Das amerikanische Meinungsforschungsinstitut Gallup untersuchte in<br />

47 Ländern, ob dort Vertrauen oder Misstrauen dominiert. Aus einer<br />

L<strong>ist</strong>e von 17 Institutionen sollte die Befragten diejenige auswählen, die<br />

ihr größtes Vertrauen genießt. Das Ergebnis nach 36 000 weltweit<br />

durchgeführten Interviews: Schulen, Kindergärten und Universitäten<br />

stehen an der Spitze. Den Bildungseinrichtungen wird international <strong>das</strong><br />

me<strong>ist</strong>e Vertrauen gegeben. Das <strong>ist</strong> eine gute Nachricht. Die schlechte<br />

heißt, man ahnt es schon, in der deutschen Gefühlslandschaft liegt die<br />

Bildung im Misstrauenstal deutlich unter Normalnull exakt auf Platz 11<br />

dieser 17 angebotenen Möglichkeiten. Höchstes Vertrauen genießt bei<br />

uns die Polizei. Auf Platz zwei folgt <strong>das</strong> Militär, punktgleich mit der<br />

UNO. In einer ähnlichen auf Deutschland beschränkten Befragung steht<br />

der ADAC an der Spitze.<br />

Misstrauen gehört zur Physiognomie der auslaufenden<br />

Industriegesellschaft, in der man sich aufs gute Funktionieren in zume<strong>ist</strong><br />

7


entfremdeter Arbeit vorzubereiten hatte. Da hatte es seine Logik, wenn<br />

Kinder und Jugendliche klein gemacht wurden, wenn man ihnen<br />

bedeutete, „Du <strong>ist</strong> ein Niemand“, aber später im Bergbau oder in Fabrik,<br />

da kannst Du Dich rehabilitieren. So wurde die Schule für viele als eine<br />

gewissermaßen zur Bewährung ausgesetzte Vorstrafe aufs spätere<br />

Leben erlebt. Menschen, die so ihres Eigenen beraubt und auf<br />

Außensteuerung konditioniert wurden, verloren dabei ihre<br />

Selbständigkeit, ihr Selbstvertrauen und <strong>das</strong> Vertrauen in die Welt. Aber<br />

genau auf Selbstständigkeit und Vertrauen kommt es im Übergang zu<br />

einer Wissens- und Ideengesellschaft an.<br />

Von einem Beispiel für diese Grammatik einer Wissensgesellschaft<br />

berichtete vor einem Bildungskongress der McKinsey-Berater Chr<strong>ist</strong>ian<br />

Malorny. Er rechnet vor, <strong>das</strong>s bis Mitte der achtziger Jahre in<br />

Deutschland bei Daimler Benz, VW und BMW um die 25 000<br />

Qualitätsprüfer beschäftigt waren. Das schien auch unbedingt nötig,<br />

denn 40 Prozent der Autos kamen mit Mängeln aus der Fabrik und<br />

warteten zur Nachbesserung auf den Parkplätzen. Die Arbeiter am Band<br />

kümmerte <strong>das</strong> wenig, denn für Qualität gab es ja die Spezial<strong>ist</strong>en. 1985<br />

wurde diese Sicht erschüttert. Eine amerikanische Studie über die<br />

Revolution im japanischen Automobilbau * zeigte, <strong>das</strong>s Toyota Autos<br />

mit weitaus besserer Qualität herstellte, ohne <strong>das</strong>s auch nur ein<br />

Qualitätsprüfer nachkontrollieren musste. Kaum zu glauben. „In<br />

Japan“, so Malorny, „kann jeder Arbeiter an der Maschine, wenn es<br />

ihm nötig scheint, die Fabrik anhalten. Er hat sogar die Pflicht dazu.<br />

Eine Produktionsstraße mit Hunderten von Arbeitern bleibt dann<br />

stehen, bis <strong>das</strong> jeweilige Problem beseitigt <strong>ist</strong>. So etwas konnten wir uns<br />

gar nicht vorstellen.“<br />

Es <strong>ist</strong> erheblich preiswerter, eine Fabrik mit Hilfe aller Mitarbeiter<br />

solange zu optimieren bis sie gut läuft. Hingegen kommt es teuer zu<br />

* Studie <strong>des</strong> MIT (Massachusetts Institute of Technology): J. P.Womack, D. J. Jones, D.<br />

Roos, The Machine That Changed the World. The Story of Lean Production, New York 1990<br />

8


stehen, um einen unselbständigen Kern von Bandarbeitern lauter Ringe<br />

von Aufsicht und Qualitätskontrolle zu legen und den schwachen<br />

Prozess mit aufwendigen Reparaturmaßnahmen in die Länge zu ziehen.<br />

In japanischen Automobilfabriken laufen neu eingerichtete<br />

Produktionsstraßen im ersten halben Jahr noch schlecht. Später sinkt die<br />

<strong>Fehler</strong>quote unter ein Prozent. Deutsche Imitationen <strong>des</strong> japanischen<br />

Systems führten zunächst allerdings zu noch schlechteren Ergebnissen,<br />

denn man hatte nur die formalen Prozessabläufe, nicht aber die<br />

Mentalität verändert. Es fehlte noch der Sinn fürs Team, die<br />

Bereitschaft aus <strong>Fehler</strong>n zu lernen und die Lust, Verantwortung zu<br />

übernehmen.<br />

Als Sackgasse erwies sich in der deutschen Automobilindustrie auch die<br />

Einführung von Standards, zumin<strong>des</strong>t wenn sie als Normierungen und<br />

nicht als Maßstäbe für selbständiges Handeln verstanden wurden. Sieht<br />

man in ihnen bloß Min<strong>des</strong>tstandards, verführen sie die Mitarbeiter dazu,<br />

sich vorschnell zufrieden zu geben. Exzellente Ergebnisse hingegen gibt<br />

es, wenn jeder Einzelne und die Teams sich ständig verbessern, ihre<br />

eigenen Möglichkeiten herausfinden und ihren Lernprozess selbst in der<br />

Hand nehmen. Es kommt darauf an, die Probleme erst mal als die<br />

eigenen zu begreifen. Diese Aneignung <strong>ist</strong> der Anfang. Gelingt er, dann<br />

lassen sich aus Schwierigkeiten Funken für neue Ideen schlagen.<br />

„Problems are our friends,” sagt Michael Fullan,<br />

Erziehungswissenschaftler und Change-Theoretiker aus Toronto. Damit<br />

wies er den überaus erfolgreichen kanadischen Schulen den Weg. *<br />

Warum gehen in Deutschland viele Kinder zur Schule wie zum<br />

Zahnarzt? Warum frönen viele Lehrer immer noch der sogenannten<br />

„Osterhasenpädagogik“, bei der sie <strong>das</strong> Wissen verstecken, um ihre<br />

Schüler danach suchen zu lassen?<br />

Es geht auch anders. Zum Beispiel in der Bodensee-Schule in<br />

Friedrichshafen. Eine katholische Grund- und Hauptschule, an der die<br />

* Michael Fullan, Die Schule als lernen<strong>des</strong> Unternehmen. Mit einem Nachwort von <strong>Reinhard</strong> <strong>Kahl</strong>. Stuttgart<br />

(Klett) 1999<br />

9


Hälfte der Schüler in einer oben draufgesetzten 10. Klasse, der<br />

„Werkrealschule,“ den Realschulabschluß schafft und viele den Weg in<br />

Hochschulen finden. Aber lassen wir diese Heraldik <strong>des</strong> zerklüfteten<br />

deutschen Bildungssystems. Gehen wir gleich in den Unterricht.<br />

<strong>Der</strong> Lehrer <strong>ist</strong> morgens als erster in der Klasse. Wie ein Gastgeber<br />

bereitet er sich und den Raum vor. Die me<strong>ist</strong>en Schüler kommen<br />

ebenfalls vor Unterrichtsbeginn und legen los. Einfach so, ohne Gong,<br />

als wäre <strong>das</strong> Lernen ihre ureigene Sache. Kaum zu glauben. Eine Idylle?<br />

Nein. Es <strong>ist</strong> der Alltag in der Klasse von Lehrer Franz Gresser. Wir<br />

erleben hier <strong>das</strong> ganz normale Zivilisationsniveau eines Büros. Aber wir<br />

sind in einer Schule, und die Besucher trauen ihren Augen nicht. Es <strong>ist</strong><br />

eine siebte Klasse, die Schüler in der Pubertät. Das sei eigentlich der<br />

Tiefpunkt, hört man überall – 7. Klasse Hauptschule, oh je! Aber vom<br />

pädagogischen Lazarett <strong>ist</strong> hier nichts zu spüren. Woran liegt <strong>das</strong>?<br />

„Wenn du merkst, <strong>das</strong>s du auf einem toten Pferd sitzt, steig ab!“ Mit<br />

dieser Weisheit der Dakotaindianer hat sich Alfred Hinz Mut gemacht.<br />

Hinz war bis zum Sommer 2005 der Schulleiter. Nun verbreitet er als<br />

Pensionär seine Ideen. Die Fächer wurden an der Bodensee-Schule<br />

abgeschafft. An ihre Stelle traten Freiarbeit, vernetzter Unterricht und<br />

Projekte. Freiheit und Struktur sind <strong>das</strong> Yin und Yang dieser Schule.<br />

Die Grundidee heißt vorbereitete Umgebung. Die Wände in den Klassen<br />

sind voller Regale mit Arbeitsmaterial, aus dem sich die Schüler<br />

bedienen. Die ersten drei Stunden sind jeden Tag FSA, Freie Stillarbeit.<br />

Jeder Schüler macht in dieser Zeit etwas anderes. <strong>Der</strong> eine Deutsch, der<br />

andere Geometrie. Und alle arbeiten auf unterschiedlichem Niveau.<br />

Jeder hat seinen eigenen Lehrplan. Den hat keine Zentrale geschrieben.<br />

Das <strong>ist</strong> die Essenz einer fehlerfreundlichen Kultur: Jeder <strong>ist</strong> anders. Und<br />

wenn die Verwirklichung von etwas Besonderem gelingt, erkennt man<br />

sie an ihrer Schönheit.<br />

Das Individuelle entsteht im Dialog, wie hier in der Bodenseeschule im<br />

Dialog <strong>des</strong> Lehrers mit seinen Schülern. Ihre individuellen Lehrpläne<br />

10


der Schüler sind wie eine aus lauter Dominosteinen zusammengelegte<br />

Figur. Die Steine sind bei allen Schülern die gleichen, aber es entstehen<br />

andere Figuren. Wer sich mit bestimmten Aufgaben schwer tut, erledigt<br />

vielleicht ein Jahr später mit links. Oder er bleibt langsam. Lernprozesse<br />

sind alles andere als linear. Also lernt jeder Schüler auf seine Weise.<br />

Das leuchtet ein. Aber wie wird <strong>das</strong> pädagogische Babylon verhindert,<br />

wenn jeder macht, was er will?<br />

Lehrer Gresser schmunzelt nachsichtig. Solche Fragen hört er dauernd:<br />

Wie schaffen sie nur diese Ruhe in der Klasse, wenn jeder etwas<br />

anderes macht? „Eben“, sagt er, „weil jeder seine Sache macht. Jeder<br />

weiß, er macht <strong>das</strong> Richtige für sich und <strong>ist</strong> dann auch zufrieden und<br />

weiß, <strong>das</strong>s ich mich um ihn kümmere.“ Auf jedem Tisch liegt ein<br />

Strecker, ein linealgroßes Holz mit dem Namen <strong>des</strong> Schülers. Wer<br />

Gressers Hilfe braucht stellt den Strecker aufrecht.<br />

Wenn es für die alte Schule typisch war, <strong>das</strong>s die Schüler den Lehrer<br />

verstehen sollten, so <strong>ist</strong> es für diese Art Schule typisch, <strong>das</strong>s der Lehrer<br />

versucht, seine Schüler zu verstehen. Das <strong>ist</strong> mehr als eine pädagogische<br />

Methode. Es geht um <strong>das</strong> Eigene der Schüler, es geht darum, ihre<br />

Eigenzeit zu finden, ihre besonderen Fähigkeiten auszuloten und an<br />

ihren Schwächen zu arbeiten. Respekt vor dem Eigensinn scheitert im<br />

normalen Unterricht oft schon dran, <strong>das</strong>s er als Quelle möglicher<br />

Störungen vorsorglich bekämpft wird. Das <strong>ist</strong> für Alfred Hinz <strong>das</strong><br />

Grundübel der alten Schule. „Ich kann doch nicht,“ sagt er, „morgens<br />

einen Einheitsbrei über die Kinder gießen und sagen: jetzt lernt euch! –<br />

würde man im Ruhrgebiet sagen.“ Dort <strong>ist</strong> Hinz im katholischen Milieu<br />

aufgewachsen. Die Quelle seiner pädagogischen Inspiration <strong>ist</strong> durchaus<br />

religiös. Kinder sind Funken Gottes. Individualität <strong>ist</strong> etwas Göttliches.<br />

Es <strong>ist</strong> ein Vorteil, verschieden zu sein. Die Unterschiede sind keine<br />

Abweichungen von der Norm oder vom großen Ideal. Sie sind keine<br />

Metastasen der Erbsünde, wie eine andere Interpretation <strong>des</strong><br />

Chr<strong>ist</strong>entums nahe legt. „Das Entscheidende“ sagt Hinz, „<strong>ist</strong>, <strong>das</strong>s wir<br />

11


kapiert haben, <strong>das</strong>s je<strong>des</strong> Kind für sich einmalig <strong>ist</strong> und nicht noch<br />

einmal auf der Welt ex<strong>ist</strong>iert.“<br />

Bernhard Bueb, der langjährige, jetzt ebenfalls pensionierte Leiter <strong>des</strong><br />

Edelinternats Salem, <strong>das</strong> keine 30 Kilometer entfernt hinter den Hügeln<br />

liegt, kam für zwei Tage zum Hospitieren an die Bodensee-Schule. „Die<br />

machen viel besseren Unterricht als wir“, attestierte er und fährt fort:<br />

„Was ich an der Bodensee-Schule erlebt habe, <strong>ist</strong> Bege<strong>ist</strong>erung von<br />

Kindern, Arbeitshaltung, Konzentration – alles Eigenschaften, die selten<br />

sind in der Schule.“ Die Lehrer arbeiten dort mehr, aber „mit mehr<br />

Freude“, hat Bueb beobachtet, „sie empfinden die Schule nicht als<br />

Belastung.“<br />

Das Unterrichtsmaterial in den Regalen hat Lehrer Gresser mit seinen<br />

Kollegen selbst erstellt. Ohne Austausch mit den Kollegen in der Schule<br />

ließe sich diese „vorbereitete Umgebung“ gar nicht bauen. Es gibt<br />

Arbeitsplätze für Lehrer und einen Raum voller Ordner mit<br />

Unterrichtsvorbereitungen. Darin, so Alfred Hinz, lsei <strong>das</strong> Gedächtnis<br />

der Schule.<br />

Man erlebt in dieser Schule einen sozialen Organismus, der auf seine<br />

Weise ein Individuum <strong>ist</strong>. Die Schule, schon Anfang der siebziger Jahre<br />

von Eltern gegründet, hat ihre Biographie. Sie lässt sich nicht in<br />

Blaupausen für soziales Engineering übersetzen, ohne <strong>das</strong>s dabei <strong>das</strong><br />

Entscheidende verloren ginge. Gelungene Organisationen zu kopieren,<br />

wäre so etwas wie <strong>das</strong> Klonen von Individuen. Wer es versucht scheitert<br />

zume<strong>ist</strong> schon bald an den unvermeidlichen Kopierfehlern. <strong>Der</strong> <strong>Fehler</strong><br />

erwe<strong>ist</strong> sich als Garant der Erneuerung. Er sorgt für die Einmaligkeit der<br />

Individuen. Individuen können allerdings voneinander lernen. Das gilt<br />

auch für solch institutionelle Individuen wie die Bodensee Schule. Sie<br />

stecken sich mit Ideen an. Jede gelungene Schule <strong>ist</strong> anders und alle<br />

sind verwandt. Man erkennt sie an der „Schönheit der individuellen<br />

Gestalt“, die Hartmut von Hentig „dem Ideal der Einheitlichkeit“<br />

entgegen setzt.<br />

12


Ein so aufschlussreiches wie amüsantes Beispiel für <strong>das</strong> deutsche<br />

Würgen mit dem <strong>Fehler</strong> war der jahrelange Rechtschreibkrieg. Die<br />

größte Sorge heißt für viele immer noch, ohne einheitliche Orthographie<br />

weiß ich gar nicht wonach ich mich richten soll. Dabei <strong>ist</strong> es gerade mal<br />

100 Jahre her, <strong>das</strong>s Lehrer und Drucker nach eindeutiger Schreibweise<br />

verlangte und sie bekamen. Vor dem Zeitalter der deutschen<br />

Industrienorm war vieles möglich. Goethe zum Beispiel schrieb seinen<br />

Namen auch mal mit „ö“ oder sogar ohne <strong>das</strong> vornehme h. Er hat mit<br />

der Schreibweise seines Namens gespielt. Auch andere Wörter schrieb<br />

der Me<strong>ist</strong>er aus Weimar mal so und mal anders. Dieser Goethe, was für<br />

ein Vorbild für unsere Schüler! Er sagte„Ihr seht schon ganz manierlich<br />

aus, kommt mir bloß nicht absolut nach Haus.“<br />

Die nun hoffentlich ausgestandenen Schlachten im Rechtschreibkrieg<br />

sind ein Lehrstück für <strong>das</strong>, was an der Zeit <strong>ist</strong>: Die allmähliche Abkehr<br />

vom simplen Richtig-falsch- und vom einfältigen Entweder-Oder-<br />

Denken. An deren Stelle tritt die elastischere Ordnung von<br />

möglich/unmöglich.<br />

Natürlich gibt es <strong>Fehler</strong>, die nicht passieren dürfen. Das gilt für<br />

Lufthansa Piloten und für Betreiber von Atomkraftwerken. für<br />

Chirurgen im OP und für jeden, der sich ans Steuer seines Autos setzt.<br />

Um aber in Routinesituationen fehlerfrei zu operieren, müssen<br />

Lufthansa Piloten und Chirurgen in ihrer Ausbildung möglichst viele<br />

<strong>Fehler</strong> simuliert haben. Wenn sie etwas Neues herausfinden wollen,<br />

brauchen sie immer wieder Übungen, in denen sie <strong>Fehler</strong> machen<br />

dürfen. So tasten sie <strong>das</strong> Feld <strong>des</strong> Unbekannten ab und entdecken ihre<br />

Möglichkeiten.<br />

Nach Pisa haben wir gute Gründe über die deutsche <strong>Fehler</strong>phobie<br />

nachzudenken. Das deutsche Schulsystem fördert die Chancen aller zu<br />

wenig und lässt die Talente von viel zu vielen verkommen. Das<br />

selektive System entlässt die Schulen aus der Verantwortung, sich um<br />

13


schwierige, abweichende und eigensinnige Schüler zu kümmern. Sie<br />

werden wie blinde Passagiere von Bord geschickt. So produziert <strong>das</strong><br />

System seine schleichende Verwahrlosung. Aus Schülern, die <strong>Fehler</strong><br />

machen, werden schlechte Schüler. Sie werden vom Gymnasium in die<br />

Realschule und von dort in die Hauptschule exportiert, wo manche<br />

Lehrer davon überzeugt sind, eigentlich Sonderschüler vor sich zu<br />

haben. Pisa Forscher Eckard Klieme, Direktor am „Deutschen Institut<br />

für Internationale Pädagogische Forschung“ in Frankfurt erinnert sich,<br />

wie er nach seinem Studium als Psychologe in der Sonderschule für<br />

Lernbehinderteich dauernd Schüler testen musste, „ob sie nicht<br />

eigentlich in die Schule für ge<strong>ist</strong>ig Behinderte gehören.“<br />

Deutsche Lehrer haben geradezu eine Obsession für die Unterstellung<br />

die falschen Schüler vor sich zu haben. An den Hochschulen wird diese<br />

Zwangsvorstellung fortgesetzt. „Die Hälfte von ihnen gehört ohnehin<br />

nicht hierher“, so begrüßen Hochschullehrer, zumal in<br />

Naturwissenschaften, gerne ihre Erstsemester. Welch ein<br />

Initiationsritual im Land mit einer so geringen Studierendenquote. Das<br />

führt zu einer fatalen Stimmung, die Schüler und Studenten so<br />

interpretieren müssen: Willkommen b<strong>ist</strong> du nicht. Zu selten hören sie<br />

von ihren Lehrern: Dieses <strong>ist</strong> schwierig, jenes spannend; <strong>das</strong> <strong>ist</strong> schön,<br />

und manche Anstrengung <strong>ist</strong> so unvermeidlich wie der Abwasch nach<br />

dem Essen, aber <strong>das</strong> <strong>ist</strong> unsere Welt. Zu häufig infizieren die Lehrer ihre<br />

Schüler mit der Position: "Ich war es nicht - ich bin es nicht - es steht<br />

doch im Lehrplan." Verdirbt solch schwachen Erwachsenen nicht<br />

bereits <strong>das</strong> Wissen, <strong>das</strong> sie weitergeben wollen, in ihren Händen?<br />

Können sie durch ihre Person beglaubigen, was sie mitteilen wollen?<br />

Sind dieses "Nicht-Ich", dieses Abweisen von Verantwortung und diese<br />

Schuldzuweisungen, nicht eine starke Ursache für die uns von Pisa<br />

bescheinigte Lernbehinderung?<br />

Drei große internationale Studien haben deutschen Schulen in den<br />

letzten Jahren schlechte Noten ausgestellt. Die Mathe und<br />

Naturwissenschaftsstudie TIMSS diagnostizierte schematisches Denken.<br />

Pisa fand Schwächen im Lesen, beim Erfassen von Sinn und im<br />

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selbstregulierten Lernen. Die Ergebnisse der internationalen „Civic<br />

Education Study“ über politische Bildung wurden hier zu Lande kaum<br />

zur Kenntnis genommen. Sie besagen: Unsere Schüler sind Spitzenreiter<br />

in Xenophobie, in der Angst vor Fremden und in der Ablehnung von<br />

Fremdem.<br />

Gibt es zwischen diesen Ergebnissen Zusammenhänge?<br />

"Viele deutsche Neuntklässler haben nicht einmal ein elementares<br />

Verständnis von einem naturwissenschaftlichen Experiment", klagt der<br />

Direktor <strong>des</strong> Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Jürgen<br />

Baumert. "Sie wissen nicht, <strong>das</strong>s man eine Variable ändert."<br />

Insbesondere im Mathe-Unterricht herrscht ängstlicher Dienst nach<br />

Vorschrift. Man glaubt an den einen Weg und an die einzige Lösung.<br />

Ein überraschen<strong>des</strong> Ergebnis der internationalen Studien war, <strong>das</strong>s<br />

Kinder aus ostasiatischen Ländern den deutschen um Schuljahre voraus<br />

sind. In Japan werden Schüler im Matheunterricht ermuntert: "Findet<br />

viele Wege und experimentiert mit mehreren Lösungen." Dafür geben<br />

Lehrer den Kindern Zeit. Auch Wege, die nicht zum Ziel führen, gelten<br />

als interessant.<br />

Dass die Rehabilitierung <strong>des</strong> <strong>Fehler</strong>s heute in mancher Fabrik weiter<br />

oben auf der Agenda steht als in den Lehrplänen der Schulen, <strong>ist</strong> der<br />

Kraft einer folgenreichen Realität geschuldet. An automatischen<br />

Maschinenstraßen bei VW sind Arbeiter inzwischen Spezial<strong>ist</strong>en für<br />

<strong>Fehler</strong>. Die sollen sie verhindern, indem sie Störungen rechtzeitig<br />

erkennen, häufig schon am Sound der Maschine. <strong>Der</strong> Arbeiter wird zum<br />

Beobachter.<br />

In der modernen Fabrik muss er nicht nur Maschinen, sondern auch<br />

seine Wahrnehmung beobachten. Beobachter zweiter Ordnung<br />

beherrschen die Selbstreflexion, die dem traditionellen Arbeiter<br />

ausgetrieben worden war. Erfahrung mit sich selbst wird bei VW oder<br />

BMW <strong>des</strong>halb zu einer der wichtigsten Übung in der Berufsausbildung.<br />

Die Zeiten, <strong>das</strong>s dort solange am Schraubstock gefeilt wurde, bis dem<br />

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Lehrling Hören und Sehen verging, bis er also aufhörte sich selbst<br />

wahrzunehmen, sind vorbei. Man nannte <strong>das</strong>, "Eisen erzieht". Heute<br />

stehen bei VW in Wolfsburg runde Tische in den Lehrwerkstätten,<br />

damit die Azubis lernen zusammen zu arbeiten.<br />

„Was bedeutet es eigentlich“, fragt der Sozialwissenschaftler Heinz<br />

Bude, "<strong>das</strong>s Betriebe Laborcharakter bekommen? Dass man Aufgaben<br />

erfüllen muss, die noch nicht so ganz klar sind?“<br />

<strong>Fehler</strong>toleranz <strong>ist</strong> nicht in erster Linie eine kognitive Aufgabe. Sie <strong>ist</strong><br />

eine Herausforderung ans Zusammenleben, eine Ethik, in der sich<br />

Praxis und Erkenntnis zum reflexiven <strong>Fehler</strong>management durchdringen.<br />

<strong>Der</strong> Selbstorganisationstheoretiker Heinz von Foerster, einer der<br />

Miterfinder der Computer und Eidvater der Philosophie <strong>des</strong> radikalen<br />

Konstruktivismus stellt <strong>des</strong>halb einen neunen kategorischen Imperativ<br />

auf lautet: „Handle stets so, <strong>das</strong>s sich mit deinem Handeln die Menge<br />

der Möglichkeiten in der Welt vergrößern lässt.“ Unter der Obsession<br />

der einen richtigen Lösung, geht es darum, wer <strong>das</strong> letzte Wort hat.<br />

Alternativen, also die Lösungen der anderen, werden als <strong>Fehler</strong><br />

diffamiert. In einer fehler- und lernfreundlichen Kultur geht es hingegen<br />

um möglichst viele Anschlüsse.<br />

Auf der Agenda der Schulen wie der Unternehmen steht die<br />

Erweiterung unseres Möglichkeitssinns. Ein Vorhaben, <strong>das</strong> mit dem<br />

weiteren Schärfen unseres Wirklichkeitssinns nicht kollidiert – im<br />

Gegenteil.<br />

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