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Textbuch als PDF (2,6 MB) - Cusanuswerk

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Erinnerung und Identität<br />

<strong>Textbuch</strong><br />

zum Europäischen Doktorandenkolloquium<br />

Lublin, 15. bis 19. November 2006


<strong>Cusanuswerk</strong><br />

Bischöfliche Studienförderung<br />

Erinnerung und Identität<br />

<strong>Textbuch</strong><br />

zum Europäischen Doktorandenkolloquium<br />

Lublin, 15. bis 19. November 2006


Impressum<br />

Herausgeber<br />

<strong>Cusanuswerk</strong><br />

Bischöfliche Studienförderung e.V.<br />

Baumschulallee 5<br />

D - 53115 Bonn<br />

www.cusanuswerk.de<br />

Redaktion<br />

Dr. Stefan Raueiser, Bonn, und Benedikt Hegner, Hamburg<br />

unter Mitarbeit von Sven Keller, Augsburg, und Judith E. Luig, Berlin<br />

Druck<br />

ColognePrintCompany, Köln<br />

Dank<br />

Im Jahr 2006 begeht die Bischöfliche Studienförderung <strong>Cusanuswerk</strong> ihr 50jähriges Bestehen.<br />

Dies ist nicht nur Anlass zur Rückschau, sondern auch Herausforderung: Der Blick auf<br />

Erfahrungen aus fünf Jahrzehnten cusanischer Förderung verknüpft sich mit Perspektiven<br />

für die zukünftige Bildungsarbeit.<br />

Während sich Stipendiaten bei ihren individuell organisierten Auslandsstudien, Sprachkursen,<br />

Praktika oder Famulaturen vorwiegend für Aufenthalte in westeuropäischen Ländern<br />

entschieden haben und weiterhin entscheiden, führen die Europa gewidmeten Bildungsveranstaltungen<br />

des <strong>Cusanuswerk</strong>s vorrangig in Länder des ehemaligen Ostblocks,<br />

um die Transformationsprozesse vor Ort kennen zu lernen, und um Begegnungen mit akademischen,<br />

politischen wie kirchlichen Eliten auch an historisch sensiblen Orten zu ermöglichen.<br />

Nach Europäischen Kolloquien in Warschau (1993), Krakau (1995: „Nation und<br />

Gedächtnis“) und Lviv/Lemberg (1999: „Am Rande? Die Ukraine zwischen Rückbesinnung<br />

und Neubeginn“), unternimmt das im Deutsch-Polnischen Jahr/Rok Polsko-Niemiecki<br />

2005/06 stattfindende Doktorandenkolloquium in Lublin den Versuch, national ausgesprochen<br />

unterschiedlich ausgeprägte Memorialkulturen mit Konzeptionen gemeinsamer<br />

anamnetischer Vergegenwärtigung in Europa ins Gespräch zu bringen.<br />

Besonderer Dank gilt Katharina Wildermuth, DAAD-Lektorin am Instytut Germanistyki<br />

der Uniwersytet Marii Curie-Sklodowskiej (UMCS), ohne die unsere Programmgestaltung<br />

in Lublin nicht möglich wäre. Danken möchten wir aber auch allen Autorinnen<br />

und Autoren der zu diesem <strong>Textbuch</strong> vereinigten Beiträge. Die Essays dokumentieren<br />

das Engagement von Cusanerinnen und Cusanern, sich mit historisch brisanten wie aktuell<br />

wirkmächtigen Fragen des europäischen Einigungsprozesses auseinanderzusetzen.<br />

(Kolloquiums)Teilnehmer wie (Text)Beiträge freuen sich auf begegnungsreiche wie diskussionsintensive<br />

Tage in Lublin.<br />

Titelbild<br />

Ehrenmal des Kampfes und Martyriums (Wiktor Tołkin, 1969).


Inhalt<br />

Kapitel I<br />

Erinnerung und Identität<br />

Dr. Stefan Raueiser<br />

Kennst du Polen? oder: Ich weiß ungefähr, wo Warschau liegt 10<br />

Katharina Wildermuth<br />

„Wir leben nicht zwischen den Welten, sondern in ihrer Mitte.“ (Karl Dedecius)<br />

Als DAAD-Lektorin in Lublin 19<br />

Dr. Simone Bell-D’Avis<br />

Am Anfang war das Wort, das erinnerte Wort 23<br />

Kondrad Schuller<br />

Ich glaube, weil ich lebe 26<br />

Kapitel II<br />

Lubliner Geschichte – Cusanische Schlaglichter<br />

Daniel Legutke<br />

Die Union von Lublin 1569 – Sonderweg polnischer Geschichte? 32<br />

Ruth Jung<br />

Zwischen Szeroka- und Krawiecka-Straße:<br />

Erinnerung an 500 Jahre jüdisches Leben in Lublin 35<br />

Sven Keller<br />

Der Distrikt Lublin während des Zweiten Weltkrieges und die Vernichtung der<br />

polnischen Juden 39<br />

Johannes R. Becher<br />

Kinderschuhe aus Lublin 45<br />

Bernward Winter<br />

Das „Lubliner Komitee“: Polnische Keimzelle des kommunistischen Staates oder<br />

„Marionettentheater“ Stalins? 50<br />

Gregor Scheffler<br />

Wettstreit der Universitäten. Die katholische Universität Jana Pawla II (KUL) und die<br />

Maria Curie-Sklodowska Universität (UMCS) in Lublin 55<br />

Sara Stroux<br />

„Lublin heute“ – Vermutungen über eine Stadt 59


Kapitel III<br />

Identität und Erinnerung – Cusanische Standpunke<br />

Elisabeth Suntrup<br />

Deutsch-Polnische Begegnungen:<br />

Lauter Klippen, Hürden, Stolpersteine? 64<br />

María Teresa Quirós-Fernández<br />

Wer nicht erinnern will, muss wiederholen? 69<br />

Agnieszka Gryz-Männig<br />

Wypędzeni ze Wschodu. Niemcy i Polacy pamiętają inaczej.<br />

Vertrieben aus dem Osten. Deutsche und Polen erinnern (sich) anders. 73<br />

Julia Bürger<br />

Liegt die Mitte ostwärts? – Deutsche und Polen in Europa 79<br />

Judith Wellen<br />

Polnische Großstadt in Deutschland untergetaucht!<br />

Eine Spurensuche auf den Fährten einer „unsichtbaren“ Migrantengruppe 84<br />

Kapitel IV<br />

Polnische Persönlichkeiten – Cusanische Perspektiven<br />

Heiner Tschochohei<br />

Leszek Balcerowicz – Pole durch und durch oder ökonomischer Metropolit? 90<br />

Olaf Schweisthal<br />

Nikolaus Kopernikus 94<br />

Jorma Daniel Lünenbürger<br />

Juliusz Zarębski – ein Kosmopolit im Schatten Chopins 97<br />

Koralia Sekler<br />

Janusz Korczak – der polnische Pestalozzi 101<br />

Melitta Naumann-Godó<br />

Marie Sklodowska-Curie<br />

Ein Leben für die Wissenschaft 106<br />

Magdalena Hoffmann<br />

Lech Wałęsa – Vom Helden der Demokratisierung zum<br />

Exzentriker der Demokratie 110


Judith E. Luig<br />

„Diese Menschen – das ist Polen“ 115<br />

Anne Kraume<br />

Joseph Conrad (d .i. Józef Teodor Konrad Korzeniowski)<br />

und das „Herz der Finsternis“ 120<br />

Clemens Bohrer<br />

Schwierigkeiten bei der Missionierung des Weltraums<br />

Anstöße für die Theologie in der Science-Fiction-Literatur<br />

von Stanislaw Lem 124<br />

Mechthild Barth<br />

Wer ist Maciek? 127<br />

Maria Karger<br />

Witold Gombrowicz und der Antiroman 130<br />

Monika Mann<br />

„Wie leben?“ – Zur Bedeutung und Ethik des Erinnerns bei<br />

Cesław Miłosz und Wisława Symborska 134<br />

Stefanie Manthey<br />

Cinématographie engagée – Polnisches Kino 140<br />

Julian Hanich<br />

Teuflische Einbildungen. Der polnische Regisseur<br />

Roman Polanski und die Imagination des Bösen 147<br />

Michael Lentze<br />

Klaus Kinski 151<br />

Sebastian Maly<br />

Dramatische Theologie in Innsbruck – der europäische Theologe Jozéf Niewiadomski 153<br />

Gabriela Biesiadecka<br />

Happy Birthday – Karl Dedecius zum 85. Geburtstag<br />

Karl Dedecius – Wszystkiego najlepszego z okazji 85-tych urodzin 158<br />

Programm 162


Kapitel I<br />

Erinnerung und Identität


Kennst du Polen?<br />

oder: Ich weiß ungefähr, wo Warschau liegt<br />

von Dr. Stefan Raueiser<br />

„Kennst du Polen?“ fragte sie. „Warst du schon mal hier?“<br />

Sie drehte sich eine Zigarette, und er goß ihnen Wasser<br />

nach, schüttelte den Kopf.<br />

„Ich weiß ungefähr, wo Warschau liegt.“<br />

„Es ist komisch“, sagte Lucilla. „Jeder unserer Leute lernt<br />

in der Schule alles über Deutschland: Geographie, Geschichte,<br />

Kultur. Aber für die meisten Deutschen sind wir<br />

ein weißer Fleck im Kopf. Sie fahren über die Grenze,<br />

kaufen unser billiges Benzin, den Wodka und die Zigaretten<br />

auf, vögeln unsere billigen Nutten und reißen sich die<br />

besten Grundstücke für ihre Flutlichtfarmen unter den<br />

Nagel - aber sie kennen unser Land nicht. Wie kommt<br />

das?“<br />

DeLoo zog die Mundwinkel herab. Mit den Fingern<br />

fischte er die Reste des Salats aus der Schüssel. „Vermutlich<br />

liegt es zu nah.“<br />

Ralf Rothmann, Hitze (Roman, Suhrkamp 2003)<br />

Vielleicht besteht eine der überraschendsten<br />

Erfahrungen deutscher Studierender<br />

in ihren ersten Begegnungen mit<br />

polnischen Kommilitonen darin, dass das so<br />

nahe liegende Nachbarland das fremdeste,<br />

das für viele unbekannte, wirkliche „terra<br />

incognita“ ist. Die Bischöfliche Studienförderung<br />

schickt sich mit dem Europäischen<br />

Doktorandenkolloquium in Lublin daher<br />

an, Stipendiatinnen und Stipendiaten Begegnungen<br />

in der Mitte Europas zu ermöglichen,<br />

um den in Deutschland und Polen<br />

höchst unterschiedlichen Stellenwert von<br />

„Erinnerung und Identität“ im Umgang mit<br />

der eigentlich gemeinsamen, in Wirklichkeit<br />

jedoch <strong>als</strong> trennend erlebten europäischen<br />

Nachbarschaftsgeschichte zu thematisieren.<br />

Auch wenn „Europa“ kein originär<br />

christliches Projekt ist, so haben junge Katholiken<br />

allen Grund, sich um diesen Aspekt<br />

europäischer Memorialkultur zu kümmern,<br />

gehören sie doch einer Kirche an, die<br />

sich auf der einen Seite <strong>als</strong> Einheit über alle<br />

nationale Grenzen hinweg versteht, die aber<br />

gleichzeitig ausgesprochen eng mit den diversen<br />

nation<strong>als</strong>taatlichen Geschichten wie<br />

Kulturen in Europa verwoben ist.<br />

10


„Wir halten es für unsere Pflicht“, formulierten<br />

europäischer Laienvertreter aus<br />

Ost und West, die Anfang Oktober vergangenen<br />

Jahres unter der Ägide des Zentralkomitees<br />

der deutschen Katholiken<br />

(ZdK) und der Semaines Sociales de France<br />

zu einem Gedankenaustausch über die Perspektiven<br />

Europas nach dem Scheitern des<br />

Verfassungsvertrags in der Nähe der slowakischen<br />

Hauptstadt Bratislava zusammengekommen<br />

waren, „konstruktive Ideen zu<br />

entwickeln, die dazu beitragen, dass Europa<br />

die Aufgaben wahrnimmt, die seiner Berufung<br />

entsprechen: wirtschaftlichen Fortschritt,<br />

sozialen Zusammenhalt und Schutz<br />

der Umwelt auf dem gesamten Kontinent<br />

voranzubringen, Gerechtigkeit und Solidarität<br />

zu fördern, und - auf europäischer<br />

wie internationaler Ebene - sich um die Festigung<br />

des Friedens und der Gerechtigkeit<br />

im aktuellen Kontext der Globalisierung<br />

zu bemühen“ (vgl. www.zdk.de/pressemeldungen/meldung.php?id=310&page=4).<br />

Welche Perspektiven verbinden cusanische<br />

Stipendiaten<br />

in ihrer Examensphase<br />

oder<br />

Promotion mit der<br />

Idee Europas? Wie<br />

lassen sich die fundamentalen<br />

Sorgen<br />

um „die Würde<br />

der Person, die<br />

Zukunft der Familie,<br />

Gerechtigkeit<br />

und Solidarität,<br />

die Sicherung des<br />

Friedens und die<br />

menschenwürdige Gestaltung der Globalisierung“<br />

(ebd.) mit den derzeitigen euroskeptischen<br />

Besorgnissen der nation<strong>als</strong>taatlichen<br />

Öffentlichkeiten versöhnen und ein<br />

Klima des gegenseitigen Vertrauens (wieder)<br />

herstellen?<br />

Historische Versöhnung<br />

Die Begegnung cusanischer Stipendiaten<br />

mit polnischen Kommilitonen in Lublin<br />

findet Mitte November 2006 statt - und<br />

damit nicht nur zum Ende des Deutsch-<br />

Polnischen Jahres/Rok Polsko-Niemiecki<br />

2005/06, sondern auch 41 Jahre nach dem<br />

historischen Briefwechsel zwischen dem<br />

polnischen und dem deutschen Episkopat.<br />

Luden die polnischen Bischöfe doch<br />

am 18. November 1965, kurz vor Ende des<br />

Zweiten Vatikanischen Konzils, ihre deutschen<br />

Amtskollegen zur Tausend-Jahr-Feier<br />

der Christianisierung Polens mit wahrhaft<br />

historisch zu nennenden Worten ein:<br />

„In diesem allerchristlichsten und zugleich<br />

sehr menschlichen Geist strecken wir unsere<br />

Hände zu Ihnen hin in den Bänken<br />

des zu Ende gehenden Konzils, gewähren<br />

Vergebung und bitten um Vergebung“. Die<br />

polnischen Bischöfe - unter ihnen der lange<br />

Zeit in Lublin residierende polnische Kardinal-Primas<br />

Stefan Wyszyński und der damalige<br />

Krakauer Erzbischof Karol Wojtyła<br />

- gedachten mit dieser Formulierung nicht<br />

nur des Leidens der Polen durch die deutsche<br />

Okkupation während des Zweiten<br />

Weltkriegs, sondern thematisierten damit<br />

auch erstm<strong>als</strong> öffentlich die Schuld von Polen<br />

an deutschen Flüchtlingen und Vertriebenen<br />

nach dem Krieg. Für viele Polen war<br />

dies ein psychischer<br />

Schock: Warum<br />

sollten die Opfer<br />

die Täter um Vergebung<br />

bitten?<br />

Die deutschen<br />

Bischöfe (der alten<br />

Bundesrepublik wie<br />

damaligen DDR)<br />

griffen in ihrem<br />

Antwortschreiben<br />

Wiktor Tołkin, Ehrenmal des Kampfes und Martyriums,<br />

zwei Wochen später<br />

- weil der Kölner<br />

1969<br />

Erzbischof, Joseph Kardinal Frings, zu diesem<br />

Zeitpunkt bereits vom Konzil abgereist<br />

war, lag der Brief eine Woche lang unbeachtet<br />

in Rom, so dass die Antwort nach Auskunft<br />

des Hildesheimer Altbischofs Josef<br />

Homeyer später innerhalb weniger Stunden<br />

formuliert werden musste - die dargebotenen<br />

Hände „mit brüderlicher Ehrfurcht“<br />

auf („Furchtbares ist von Deutschen und<br />

im Namen des deutschen Volkes dem polnischen<br />

Volk angetan worden. [...] So bitten<br />

auch wir zu vergessen, ja wir bitten zu<br />

verzeihen“), doch blieb der Notenwechsel<br />

zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

politisch hoch brisant: Die kommu-<br />

11


nistische Regierung in Polen warf der kath.<br />

Kirche „Vaterlandsverrat“ vor, die Bischöfe<br />

der DDR mussten sich vor dem SED-Regime<br />

rechtfertigen und aus der Bevölkerung<br />

in der Bundesrepublik erschollen zahlreiche<br />

kritische Stimmen. Im vergangenen Jahr<br />

äußerten beide Bischofskonferenzen in ihrer<br />

gemeinsamen Erklärung zum 40. Jahrestag<br />

dieses denkwürdigen Briefwechsels<br />

ihre Besorgnis, dass im Zuge der „Erinnerung<br />

an die finstersten Stunden unserer gemeinsamen<br />

Geschichte“ erneut der „Ungeist<br />

des Aufrechnens“ Einzug halten könnte.<br />

ihre Meinung äußern“ (Dorota Simonides,<br />

Wie es den Polen mit den Deutschen geht?<br />

in: zur debatte 1/2006, 33f). Die volle Achtung<br />

des polnischen Kirche errang dagegen<br />

die bereits am 1. Oktober 1965 von evangelischer<br />

Seite veröffentlichte Erklärung „Die<br />

Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des<br />

deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn“,<br />

die sog. Ostdenkschrift der EKD, sowie<br />

das ein paar Monate später in der Akademie<br />

in Bensberg verfasste (und von Joseph<br />

Ratzinger mit unterzeichnete) „Memorandum<br />

der deutschen Katholiken in der Frage<br />

der deutsch-polnischen Verhältnisse“: „Diese<br />

zwei Dokumente wurden in Polen <strong>als</strong> die<br />

wahre Meinung der deutschen Christen betrachtet<br />

und bewirkten eine wesentliche Intensivierung<br />

der deutsch-polnischen Kontakte“<br />

(Dorota Simonides, aaO.).<br />

Aktuelle Konfliktfelder<br />

Andrzej Pagowski, Wir wollen<br />

in der Union leben, 2003<br />

Quelle: http://www.posterpage.<br />

ch/exhib/ex152pag/ex152pag.<br />

htm<br />

Deutsche und Polen dürften ihre geistigen<br />

und materiellen Kräfte jedoch niem<strong>als</strong> wieder<br />

gegeneinander richten, sondern seien<br />

aufgerufen, „sie zum Wohle aller in das zusammenwachsende<br />

Europa einzubringen<br />

und dessen christliche Identität zu stärken“.<br />

Es gehe darum, „unseren Kontinent im<br />

christlichen Sinne auch für die künftigen<br />

Generationen <strong>als</strong> Lebensort zu gestalten, der<br />

die unveräußerliche Würde und die wahre<br />

Freiheit der Menschen achtet und gewährleistet“<br />

(vgl. „40 Jahre deutsch-polnische<br />

Versöhnungsschreiben“, in: Herder Korrespondenz<br />

59 (11/2005), 549-551).<br />

Von polnischer Seite hören wir, dass die<br />

späte Antwort des deutschen Episkopats<br />

nicht wenige katholische Kreise enttäuschte,<br />

weil die Kommunikationsstruktur <strong>als</strong> asymmetrisch<br />

empfunden wurde: „Die polnischen<br />

Bischöfe riskierten mit ihrem Brief<br />

die Freiheit oder sogar ihr Leben, .. die deutschen<br />

Bischöfe dagegen walteten in demokratischen<br />

Verhältnissen und konnten frei<br />

Gerade die im polnischen Wahlkampf<br />

2005 geäußerten abwartenden Aussagen gegenüber<br />

Deutschland wie auch zur Europäischen<br />

Union haben gezeigt, dass die in<br />

den letzten Jahren nicht immer einfachen<br />

deutsch-polnischen Beziehungen mit den<br />

Regierungswechseln in Warschau wie Berlin<br />

wiederum vor neuen Herausforderungen<br />

stehen. Neben dem jüngst veröffentlichten<br />

Geständnis des Danziger Ehrenbürgers<br />

Günter Grass, Mitglied der Waffen-SS gewesen<br />

zu sein, und der aktuellen Ausstellung<br />

„Erzwungene Wege“ im Berliner Kronprinzenpalais,<br />

heißen die Reizthemen vor<br />

allem „Zentrum gegen Vertreibungen“ und<br />

Einforderung von Reparationsleistungen<br />

durch die sog. „Preußische Treuhand“. Ins<br />

Stocken geraten ist darüber auch die von der<br />

ehemaligen Kulturstaatsministerin Christina<br />

Weiss favorisierte und von den Kultusministern<br />

Deutschlands, Polens, der Slowakei<br />

und Ungarns beschlossene Idee des<br />

grenzüberschreitenden Zusammenschlusses<br />

wissenschaftlicher Einrichtungen, Institutionen<br />

und Museen zu einem „Europäischen<br />

Netzwerk Erinnerung und Solidarität“,<br />

um sich dem Thema Vertreibung im<br />

(mittel)europäischen Maßstab zu stellen.<br />

Der Vorschlag von Kulturstaatsminister<br />

Bernd Neumann, die im Bonner Haus der<br />

Geschichte der Bundesrepublik Deutsch-<br />

12


land (HdG) konzipierte, aktuell im Deutschen<br />

Historischen Museum (DHM)<br />

gezeigte und anschließend in das Zeitgenössische<br />

Forum Leipzig auf Wanderschaft<br />

geschickte Ausstellung „Flucht, Vertreibung,<br />

Integration“ in Kooperation mit den<br />

im „Europäischen Netzwerk“ engagierten<br />

Ländern zu ergänzen und zum „Herzstück<br />

einer künftigen Dauerausstellung“ in Berlin<br />

zu machen, zeigt einen neuen - vielleicht<br />

verbindenden - Weg auf, liegt doch das<br />

Schwergewicht der Bonner Schau auf der in<br />

Deutschland weithin geglückten Geschichte<br />

der Integration von Flüchtlingen - während<br />

die von der „Stiftung Zentrum gegen<br />

Vertreibungen“ initiierte Schau „Erzwungene<br />

Wege“ die Vertreibung Deutscher aus<br />

dem heutigen Polen, dem Baltikum und der<br />

Tschechoslowakei neben dreizehn anderen<br />

Beispielen von ethnischen Vertreibungen<br />

aus der europäischen Geschichte darstellt.<br />

Ob sich beide Unternehmungen zu einem<br />

Ganzen zusammenfügen lassen, um die bereits<br />

heute ausdifferenzierte Berliner Gedenkstättenlandschaft<br />

(neben dem zentralen<br />

Holocaust-Mahnmal, der „Topographie<br />

des Terrors“, der Wannsee-Villa, der Gedenkstätte<br />

Deutscher Widerstand und der<br />

Neuen Wache) um einen Raum für die Erinnerung<br />

an das Schicksal der Vertriebenen<br />

zu erweitern, bleibt allerdingsabzuwarten.<br />

Grundsätzlich fällt auf, dass sich deutsche<br />

wie polnische Regierungspolitiker bei<br />

offiziellen Anlässen geradezu rituell versichern,<br />

dass das Verhältnis beider Staaten<br />

ausgezeichnet sei - doch klingt dies oftm<strong>als</strong><br />

eher nach Beschwörung, denn nach einer<br />

realitätsnahen Beschreibung der deutschpolnischen<br />

Beziehungen, und dies, obwohl<br />

es aktuell keine Verstimmung zwischen den<br />

Regierungen gibt, auch wenn Berlin und<br />

Warschau in der Vergangenheit in manchen<br />

Angelegenheiten unterschiedlicher Auffassungen<br />

waren (wie z.B. in Bezug auf den<br />

Irak-Krieg, die europäische Verfassung oder<br />

das EU-Budget). Gegeneinander stehen<br />

heute vor allem private, öffentliche wie veröffentlichte<br />

Meinungen - und immer geht<br />

es dabei um die Erinnerung an die jüngste<br />

Vergangenheit, dreht sich die Debatte um<br />

die Frage, wer (nicht zuletzt finanzielle) Ansprüche<br />

aus der Geschichte herleiten kann,<br />

und ob die Deutschen die Geschichte des<br />

Zweiten Weltkriegs neu schreiben wollten,<br />

damit unkenntlich werde, wer Täter und<br />

wer Opfer gewesen sei. Wie anders ist es<br />

zu erklären, dass auf das (in Deutschland<br />

ohne politische Unterstützung agierende)<br />

Unternehmen eines privaten Vereins mit<br />

dem hochtrabenden Namen „Preußische<br />

Treuhand“, Wiedergutmachungs-Ansprüche<br />

deutscher Vertriebener geltend machen<br />

zu wollen, eine hochoffizielle polnische Parlamentsresolution<br />

antwortet, die sich dafür<br />

einsetzt, Deutschland gegenüber angeblich<br />

noch ausstehende Reparationsleistungen<br />

einzufordern?<br />

Gerade die polnischen Zwillingsbrüder<br />

Kaczynski - Lech <strong>als</strong> Präsident Polens und<br />

Jarosław <strong>als</strong> Vorsitzender der national-konservativen<br />

Partei „Recht und Gerechtigkeit“<br />

(PiS) und derzeitiger Ministerpräsident -<br />

haben in der Vergangenheit mit ebenso populistischen<br />

wie deutlich nationalen Tönen<br />

à la „Polen zuerst“ die diplomatische Bühne<br />

irritiert und verfolgen offenbar das Projekt<br />

einer „moralischen Erneuerung“ ihres<br />

Landes, was vor allem vom umstrittenen<br />

(und mittlerweile auch vom Vatikan getadelten)<br />

Sender Radio Maryja unterstützt<br />

wird. Der polnische Publizist Jarosław Makowski<br />

spricht in diesem Zusammenhang<br />

von einem „soften Fundamentalismus,<br />

der verbunden mit dem ‚Traum von einer<br />

moralischen Revolution‘, einem ‚Kreuzzug‘<br />

gleich, eine neue, vierte Republik, katholisch<br />

und geläutert, auferstehen lassen<br />

möchte“ (Ulrike Kind, Der Kurs der Zwillinge.<br />

Polen nach den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen,<br />

in: Herder Korrespondenz<br />

60 (2/2006), 102 - 106).<br />

Ein christliches Europa?<br />

Ein weiteres europapolitisches Konfliktfeld<br />

in den deutsch-polnischen Beziehungen<br />

eröffnet die Diskussion um eine<br />

Europäische Verfassung: Während sich<br />

Berlin für eine Neubelebung des in zwei<br />

Gründungsstaaten der EU durch das Volk<br />

abgelehnten Vertragswerks einsetzt, haben<br />

führende polnische Politiker bereits den<br />

endgültigen Tod dieses Dokuments erklärt<br />

- unterschiedliche Positionierungen,<br />

die sich auch in divergierenden Einschät-<br />

13


zungen in Bezug auf die Präambel ausfalten<br />

lassen: Während der Verfassungsvertrag<br />

bewusst auf einen Gottesbezug verzichtet<br />

und lediglich das „kulturelle, religiöse und<br />

humanistische Erbe“ Europas in seiner Präambel<br />

anspricht, ohne das Christentum <strong>als</strong><br />

entscheidenden Bestandteil dieses Erbes<br />

ausdrücklich zu nennen, hat „der polnische<br />

Papst“ Johannes Paul II. Europa unermüdlich<br />

an seine christlichen Wurzeln erinnert<br />

und dazu aufgerufen, den Geist des Evangeliums<br />

auf dem „alten“ Kontinent lebendig<br />

zu halten. Auch sein deutscher Nachfolger<br />

hat nicht nur mit seiner Namenswahl - die<br />

mit Benedikt von Nursia, den Vater des<br />

westlichen Mönchtums und „Patron Europas“,<br />

an eine der prägendsten Gestalten für<br />

die Herausbildung des christlichen Abendlandes<br />

erinnert - vor den Gefährdungen<br />

eines von seinen christlichen Wurzeln abgeschnittenen,<br />

in seiner kulturell-religiösen<br />

Identität beschädigten Europas gewarnt.<br />

Nach der jüngsten Audienz der (protestantischen)<br />

Bundeskanzlerin in Castel Gandolfo<br />

scheint eine Annäherung zwischen<br />

deutschen, polnischen wie vatikanischen<br />

Positionen jedochnicht mehr gänzlich ausgeschlossen<br />

zu sein.<br />

Auch wenn die katholische Christenheit<br />

in Europa keinen geschlossenen Block<br />

darstellt (in Deutschland hat das Christentum<br />

traditionell eine konfessionelle Doppelstruktur,<br />

während der Katholizismus in Polen<br />

stark durch die Verbindung zur Nation<br />

charakterisiert ist) und es eine konfessionsübergreifend<br />

christliche Position zu Europa<br />

nicht gibt, so dass die europäische Dimension<br />

des gemeinsamen Christ- wie Kirche-<br />

Seins beim „Durchschnittsgläubigen“ (viel<br />

zu) wenig im Blick ist, so lassen sich doch<br />

einige Charakteristika christlichen Engagements<br />

für Europa herausstreichen: Weil<br />

christliche Kreise im Westen während des<br />

Kalten Krieges stets Kontakte mit den Kirchen<br />

im östlichen Teil Europas gepflegt haben,<br />

scheinen sie jetzt geradezu prädestiniert<br />

zu sein, Ressentiments gegen die 2004 erfolgte<br />

Erweiterung der Europäischen Union<br />

entgegenzutreten, und dafür zu werben,<br />

die neuen Mitgliedsstaaten nicht <strong>als</strong> lästige<br />

Konkurrenten, sondern <strong>als</strong> kulturelle Bereicherung<br />

wahrzunehmen (vgl. dazu auch<br />

die „Einladung zur Reflexion“ über „Das<br />

Werden der Europäischen Union und die<br />

Verantwortung der Katholiken“ der Kommission<br />

der Bischofskonferenzen der Europäischen<br />

Gemeinschaft, COMECE, vom 9.<br />

Mai 2005). Der Ausbau der ökumenischen<br />

Zusammenarbeit ist eine gerade wegen der<br />

nationalen Prägung vieler Kirchen schwierige,<br />

aber auf europäischer Ebene überaus<br />

wichtige Aufgabe der Zukunft. Und<br />

schließlich: Christen sind aus ihrem Glauben<br />

heraus in besonderer Weise dazu aufgefordert,<br />

für Freiheit, Gleichheit, Solidarität<br />

- und somit für die (gerade auch europaweite)<br />

Achtung der Grundrechte - einzutreten,<br />

so wie auch der Entwurf für den Verfassungsvertrag<br />

die Charta der Grundrechte<br />

enthält, die mit dem Bekenntnis zur Unantastbarkeit<br />

der Würde des Menschen beginnt<br />

und das Recht auf Gedankens-, Gewissens-<br />

und Religionsfreiheit garantiert.<br />

Wie Christen konkret politisch agieren,<br />

hängt jedoch vor allem von der jeweiligen<br />

politischen Konstellation ihres Landes ab,<br />

denn aus dem Evangelium lässt sich „keine<br />

Blaupause für ein christlich inspiriertes<br />

Europa ableiten, und auch der Rückgriff auf<br />

die Geschichte des Christentums in Europa<br />

liefert kein Modell, an dem man sich heute<br />

orientieren könnte“ (Ulrich Ruh, Europa<br />

und die Christen, in: Herder Korrespondenz<br />

59 (7/2005), 325-327).<br />

Zur kirchlichen Situation<br />

Für die katholische Kirche in Polen bedeutete<br />

der Tod von Papst Johannes Paul II.<br />

im April 2005 einen epochalen Einschnitt,<br />

versetzte das ganze Land zunächst in einen<br />

Ausnahmezustand. War man bislang daran<br />

gewöhnt, in Rom über eine Führungsfigur<br />

von unbestrittener Autorität zu verfügen,<br />

die sich - wie beispielsweise 2003 beim Referendum<br />

über den Beitritt zur Europäischen<br />

Union - immer wieder auch in innerpolnische<br />

Auseinandersetzungen einmischte,<br />

fühlt sich die katholische Kirche nach dem<br />

Tod des „größten Polen aller Zeiten“ geradezu<br />

verwaist. Vor allem junge und jetzt studierende<br />

Gläubige empfanden dies auch <strong>als</strong><br />

eine persönliche Zäsur in ihrem Leben.<br />

Auch in der jetzigen politischen wie<br />

kirchlichen Situation, da keiner der pol-<br />

14


nischen Bischöfe über die Autorität einer<br />

geistlichen Führungsfigur auf nationaler<br />

Ebene zu verfügen scheint, sehnen sich viele<br />

nach einem klaren Wort „von außen“. Doch<br />

während die einen davon ausgehen, dass<br />

man im heutigen Polen „kaum mehr von<br />

einem einheitlichen Katholizismus sprechen“<br />

kann (Ulrike Kind, aaO.), sehen andere<br />

Beobachter eine Quelle der Hoffnung<br />

für die Annahme, dass Polen „allzeit gläubig“<br />

bleibt und nicht der Säkularisierung<br />

anheimfällt („Polonia semper fidelis“), in<br />

der „Generation JPII“. Diese sei zwar Teil<br />

der „vaterlosen Gesellschaft“, habe ihren<br />

In jedem Fall bleibt die religiös-nationale<br />

Mischung Polens ein ebenso bemerkenswertes<br />

wie spannungsreiches Phänomen,<br />

zumal sich derzeit sowohl der<br />

Präsident <strong>als</strong> auch die Regierung <strong>als</strong> „unbedingt<br />

katholisch“ verstehen und auch ihre<br />

Politik <strong>als</strong> solche verstanden wissen wollen<br />

- was sich nicht nur darin äußert, dass der<br />

mittlerweile zurückgetretene Ministerpräsident<br />

Kazimierz Marcinkiewicz seine Silvesteransprache<br />

über Radio Maryja verkündete,<br />

den ausgesprochen populären Sender<br />

des Redemptoristenpaters Tadeusz Rydzyk,<br />

dessen - mitunter sogar antisemitischen<br />

- Ausfälle den Episkopat zu sprengen drohen.<br />

Jarosław Makowski: „Wie soll man einen<br />

Ordensbruder bändigen, der der ungekrönte<br />

Vorsitzende der polnischen Kirche<br />

ist?“ (Ulrike Kind, aaO.).<br />

Erinnerung und Identität<br />

Glaubt man den Meinungsumfragen,<br />

bleibt das eigentliche Schlüsselereignis des<br />

20. Jahrhunderts für Polen eine radikale<br />

Opfer-Erfahrung: der Ausbruch des Zweiten<br />

Weltkriegs - „gefolgt von dem Eintritt<br />

in die Europäische Union, der Wahl von<br />

Karol Wojtyła zum Papst, dem 8. Mai 1945,<br />

der Wiedererlangung der Unabhängigkeit<br />

1918 und dem Fall des Kommunismus“<br />

(Włodzimierz Borodziej, Geschichte, Geschichtsbewusstsein<br />

und die Folgen für das<br />

Verhältnis zwischen Polen und Deutschen,<br />

in: zur debatte 1/2006, 34f).<br />

Andrzej Pagowski, Anatevka (Fiddler on the Roof),<br />

2002 . Quelle: http://www.posterpage.ch/exhib/ex152pag/<br />

ex152pag.htm<br />

geistigen Halt jedoch in der Figur des „Heiligen<br />

Vaters“ gefunden, so dass sie sich nicht<br />

kritiklos „der weit verbreiteten Selbstzufriedenheit<br />

der polnischen Kirche“ ergebe - was<br />

dafür spreche, dass die kath. Kirche Polens<br />

„in vorbildlicher Weise“ dem Evangelium<br />

treu bleiben werde (Zbigniew Nosowski,<br />

Quellen der Zuversicht. Die katholische<br />

Kirche in Polen nach Johannes Paul II., in<br />

Herder Korrespondenz 58 (9/2005), 460 -<br />

464).<br />

Zwar zeigten bereits Veröffentlichungen<br />

des antikommunistischen Untergrunds in<br />

den achtziger Jahren, dass Polen keineswegs<br />

nur unschuldiges Opfer totalitärer Gewalt<br />

gewesen ist, die blutige Unterdrückung der<br />

Ukrainer im Vor- wie im Nachkriegspolen,<br />

die Vertreibung der Deutschen und der<br />

selbst nach dem Krieg noch aufflammende<br />

Antisemitismus wurden jedoch erst nach<br />

1989 breit diskutiert. Einen erinnerungspolitischen<br />

Wendepunkt mit dem Hinterfragen<br />

nationaler Selbstbilder (wie jenes vom<br />

ewig unschuldigen Opfer) markiert die im<br />

Jahre 2000 begonnene und <strong>als</strong> ausgesprochen<br />

schmerzlich empfundene Debatte um<br />

das Pogrom von Jedwabne im Juli 1941. Wegen<br />

des großen Echos - auch im Ausland<br />

- fürchteten selbst Persönlichkeiten, die für<br />

eine schonungslose Aufarbeitung der eigenen<br />

Geschichte eintraten, dass in Vergessenheit<br />

geraten könnte, dass Polen zu dieser<br />

15


Zeit ein - von Deutschen - besetztes Land<br />

war.<br />

Die zeitliche Koinzidenz der Debatten<br />

um Jedwabne mit der um das „Zentrum<br />

gegen Vertreibungen“ sowie der mit beiden<br />

verbundene rasante Perspektivwechsel zwischen<br />

Opfer und Täter rief bei vielen Polen<br />

jedoch auch Schutz- und Abwehrreflexe<br />

hervor. Vor diesem Hintergrund steht denn<br />

auch der Verdacht der Geschichtsrevision im<br />

Raum, wenn in Deutschland die privaten<br />

Erzählungen über Bombenopfer, Vertriebene<br />

und einzelne Soldatenschicksale in den<br />

öffentlichen Diskurs treten - so wie es Ralf<br />

Rothmann in seinem Nach-Wende-Roman<br />

„Hitze“ in einem Dialog der (polnischen)<br />

Protagonistin Lucilla mit ihrem (deutschen)<br />

Liebhaber DeLoo verdichtet:<br />

„‘Apropos. Mein Vater ist mal hiergewesen.<br />

Als Soldat. Er konnte sogar ein bißchen<br />

die Sprache, liebte polnische Gedichte.‘ ‚Ach<br />

Gott‘, sagte sie durch den Rauch. ‚Ein schöngeistiger<br />

Nazi?‘ DeLoo beugte sich vor, wischte<br />

ihr etwas Tabak vom Schoß. ‚Er war Soldat,<br />

kein Nazi. Er ist hier verwundet worden.‘<br />

Sie grunzte leise. ‚Unschuldig, klar. Wie alle.‘<br />

‚Nein. Schuldig führte er sich schon. Aber das<br />

hatte andere Gründe, eher persönliche“.<br />

Ist es angesichts dieser Gemengelage überhaupt<br />

denkbar, dass Deutsche und Polen zu<br />

einem verbindenden historischen Gedenken<br />

finden? Werden sich die durch unterschiedliche<br />

Erfahrungen und Erinnerungen so verschieden<br />

geprägten historischen Identitäten<br />

nicht immer wieder trennend zwischen Polen<br />

und Deutsche stellen, ganz gleich wie die<br />

Konstellationen zwischen Gastgebern und<br />

Gästen auch beschaffen sein mögen? Mit Johannes<br />

Paul II. gefragt: „Wo liegt die Wasserscheide<br />

zwischen Generationen, die nicht<br />

genug bezahlt haben, und Generationen, die<br />

zu viel bezahlt haben? Wir, auf welcher Seite<br />

stehen wir?“ (Erinnerung und Identität. Gespräche<br />

an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden,<br />

Augsburg 2005, 100).<br />

Der Osteuropa-Korrespondent der Süddeutschen<br />

Zeitung macht darauf aufmerksam,<br />

dass wir es bei dem Streit zwischen<br />

Deutschen und Polen mit zwei Anliegen zu<br />

tun bekommen, von denen jede Seite sagt,<br />

wie moralisch berechtigt das ihre ist. „Die<br />

Vertriebenen und ihre Unterstützer sagen,<br />

wir wollen gewürdigt sehen, dass wir, diejenigen,<br />

die aus den Gebieten östlich von<br />

Oder und Neiße vertrieben worden sind, einen<br />

höheren Preis für den Krieg gezahlt haben,<br />

den natürlich alle Deutschen in ihrer<br />

Gesamtheit zu verantworten haben, <strong>als</strong> diejenigen,<br />

die nach dem Krieg das Glück hatten,<br />

in der britischen oder amerikanischen,<br />

<strong>als</strong>o in den Westzonen zu sein. Von polnischer<br />

Seite sagt man nun, und das ist genauso<br />

ein berechtigtes Anliegen: Wir waren<br />

im Krieg die Opfer. Es ist richtig, dass es<br />

die Vertreibung gab. Es ist auch richtig, dass<br />

es nach dem Krieg die Verdrängungspolitik<br />

Warschaus gab, die sicherlich auch den Tod<br />

vieler Betroffener in Kauf genommen hat.<br />

Aber es war keine Vernichtungspolitik wie<br />

die deutsche Politik während des Krieges in<br />

Polen. .. Wir haben das Problem, dass die<br />

polnische Argumentation bzw. die Hauptargumente<br />

auf deutscher Seite entweder nicht<br />

verstanden oder nicht akzeptiert werden“<br />

(Thomas Urban, Neue politische Aufbrüche<br />

in Polen, in: zur debatte 1/2006, 36f).<br />

Polen kennen lernen<br />

Mehr <strong>als</strong> sechs Jahrzehnte nach<br />

Kriegsende, 15 Jahre nach Inkrafttreten des<br />

deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrags<br />

und im dritten Jahr engster Nachbarschaft<br />

innerhalb der Europäischen Union unternimmt<br />

das Europäische Doktorandenkolloquium<br />

„Erinnerung und Identität“ den<br />

Versuch, national ausgesprochen unterschiedlich<br />

geprägte Memorialkulturen mit<br />

Konzeptionen gemeinsamer anamnetischer<br />

Vergegenwärtigung in das Gespräch zwischen<br />

deutschen und polnischen Studierenden<br />

wie Promovierenden zu bringen.<br />

Für die deutschen Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmer bedeutet eine solche Bildungsveranstaltung,<br />

sich dem polnischen<br />

Geschichts- wie Selbstverständnis zu stellen.<br />

Die (deutsche) Koordinatorin für die<br />

deutsch-polnische Zusammenarbeit empfiehlt<br />

dazu, „den polnischen Sinn für Freiheit<br />

und Würde - traditionsreiche europäische<br />

Werte! - aus der polnischen Geschichte<br />

16


heraus zu verstehen und entsprechend zu<br />

achten“ (Gesine Schwan, Wie es den Deutschen<br />

mit den Polen geht: Polen oder Die<br />

Freiheit im Herzen Europas, in: zur debatte<br />

1/2006, 30 - 32). Die (polnische) Senatorin<br />

und ehemalige Professorin für Ethnologie<br />

an der Universität Breslau, Dorota Simonides,<br />

nennt historische Gründe, die dabei<br />

wiederholt zu Missverständnissen führen:<br />

Die Frage privaten Vermögens im Zuge der<br />

in Jalta und Potsdam beschlossenen Westverschiebung<br />

Polens <strong>als</strong> Ausgleich für die<br />

polnischen Gebiete, welche an die ehemalige<br />

UdSSR abgetreten werden mussten<br />

(„Hubert Hupka und Herbert Czaja wurden<br />

zum personifizierten Mythos der Bedrohung<br />

des Lebensraumes des polnischen<br />

Volkes, vor allen Dingen bei den in den<br />

neuen Westgebieten angesiedelten Polen,<br />

welche aus den von der Sowjetunion annektierten<br />

polnischen Ostgebieten vertreiben<br />

wurden. Seit dieser Zeit wurde der BdV<br />

zum Vorbild des Volksfeindes“), sowie die<br />

geschichtlich bedingte Angst vor einer Sonderbehandlung<br />

Russlands durch Deutschland<br />

und Frankreich über die Kopfe der<br />

übrigen EU-Mitglieder hinweg: „Diese historischen<br />

Fakten sind so stark in unserem<br />

Bewusstsein verankert, dass sie bei jedem<br />

Geschehen, welches an das imperiale Gehabe<br />

Russlands erinnert, erneut hervorgerufen<br />

werden“ (Dorota Simonides, aaO.).<br />

Stattfinden wird unser gemeinsamer<br />

Lernversuch in Lublin, der größten polnischen<br />

Stadt östlich der Weichsel, rund 150<br />

km südöstlich von Warschau gelegen. Seit<br />

dem 12. Jh. kreuzen sich hier die Handelswege<br />

zwischen Zentralpolen und Lemberg<br />

(heute: Lviv), so dass die Stadt bereits früh<br />

zum Treffpunkt verschiedener Kulturen,<br />

Religionen und Nationen wurde, bevor hier<br />

1569 die „Lubliner Union“ <strong>als</strong> Zusammenschluss<br />

Polens und Litauens zum mächtigsten<br />

Staat Ostmitteleuropas beschlossen<br />

wurde. Nachdem sich 1316 die ersten Juden<br />

niedergelassen hatten, entwickelte sich<br />

Lublin zu einem der bedeutendsten Zentren<br />

jüdischer Kultur in Europa und wurde - bis<br />

zur Shoah - wegen seiner berühmten Talmudschulen<br />

„jüdisches Oxford“, <strong>als</strong> Zentrum<br />

des Chassidismus auch „polnisches<br />

Jerusalem“ genannt. Im südlichen Stadtteil<br />

Majdanek befand sich während des Zweiten<br />

Weltkriegs das nach Auschwitz größte<br />

nation<strong>als</strong>ozialistische Konzentrations- und<br />

Vernichtungslager in Europa.<br />

Seit 1795 zu Österreich, ab 1809 zum Napoleonischen<br />

Fürstentum Warschau gehörig<br />

und ab 1815 <strong>als</strong> Königreich Polen unter<br />

russischer Kuratel stehend, entwickelte sich<br />

Lublin nach dem Zweiten Weltkrieg zur<br />

Keimzelle des kommunistischen Staates:<br />

Hier entfaltete das „Komitee der nationalen<br />

Befreiung“ die Grundlinien der neuen Gesellschaftsordnung.<br />

Heute beherbergt die<br />

Stadt fünf Hochschulen. Deren älteste ist<br />

die 1918 gegründete Katholische Universität<br />

Lublin (KUL), die zwischen 1944 und 1989<br />

einzige unabhängige Universität in Mittelund<br />

Osteuropa. Hier lehrte Karol Wojtyła<br />

Ethik und Philosophie, wurde Josef Kardinal<br />

Ratzinger ehrenhalber promoviert.<br />

Die zweite der Lubliner Hochschulen ist<br />

die Maria Curie-Skłodowska Universität<br />

(UMCS), die seit 1944 besteht. An ihr sind<br />

die meisten Lubliner Studenten immatrikuliert.<br />

Die am dortigen Instytut Germanistyki<br />

unterrichtende DAAD-Lektorin<br />

Katharina Wildermuth hat die Programmplanung<br />

mit verantwortet, und konnte<br />

dank Unterstützung des Deutschen Akademischen<br />

Austauschdienstes die polnischen<br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmer unseres<br />

Europäischen Kolloquiums einladen.<br />

Nach dreiwöchigen Auslandsakademien<br />

der Bischöflichen Studienförderung, die in<br />

verschiedenen Orten Polens zu Zeiten des<br />

„Kalten Krieges“ (nämlich 1975, 1984 und<br />

1988) stattgefunden haben, thematisierte<br />

bereits unsere vierzehntägige Auslandsakademie<br />

„Polen und Deutsche in Europa“<br />

im September 2004 (und damit im Jahr des<br />

Beitritts Polens zur EU) die trennenden Erinnerungen<br />

an eine gemeinsame Geschichte<br />

in Wrocław/Breslau und Kreisau, Krakau<br />

und Auschwitz, Tschenstochau und<br />

Warschau. Nach der Durchtrennung des<br />

„Eisernen Vorhangs“ fanden Europäische<br />

Kolloquien des <strong>Cusanuswerk</strong>s in Warschau<br />

(1993), Krakau (1995: „Nation und Gedächtnis“)<br />

und Lviv/Lemberg (1999: „Am Rande?<br />

Die Ukraine zwischen Rückbesinnung<br />

und Neubeginn“) statt. Nun unternimmt<br />

das am Ende des Deutsch-Polnischen Jahres/Rok<br />

Polsko-Niemiecki 2005/06 stehen-<br />

17


de Doktorandenkolloquium in Lublin den<br />

Versuch, national ausgesprochen unterschiedlich<br />

geprägte Memorialkulturen mit<br />

Konzeptionen gemeinsamer anamnetischer<br />

Vergegenwärtigung in Europa ins Gespräch<br />

zu bringen, denn aller Verwestlichung und<br />

Nivellierung im größeren Europa zum Trotz<br />

leben die EU-Bürger/West noch immer in<br />

einer anderen Welt <strong>als</strong> die EU-Bürger/Ost:<br />

„Die unsichtbare Grenze wird nicht nur<br />

durch das wirtschaftliche Gefälle markiert,<br />

sondern mehr noch von tief eingebrannten<br />

historischen Erfahrungen, die das Lebensgefühl<br />

nachhaltig prägen. Die Toleranz, auf<br />

die sich der hedonistische Westen so viel einbildet,<br />

hat sich entfalten können in Gesellschaften,<br />

die keine anderen Sorgen hatten,<br />

<strong>als</strong> den steigenden Wohlstand zu verteilen<br />

und immer noch mehr Demokratie zu wagen.<br />

Im anderen Teil Europas haben Jahrzehnte<br />

blutiger Unterdrückung und Fremdherrschaft<br />

etwas anderes hervorgebracht: die<br />

Sehnsucht nach Selbstbestimmung, nach<br />

nationaler Identität, nach Herrschaft im eigenen<br />

Haus“ (so der Kommentar von Stefan<br />

Dietrich zur Rede des polnischen Staatspräsidenten<br />

Lech Kaczýnski in der Humboldt-<br />

Universität zu Berlin, in: F.A.Z., 10.03.06,<br />

1).<br />

Cusanische Literatur<br />

Burkhard Olschowsky, Anforderungen<br />

an europäische Eliten - Das Beispiel der<br />

deutsch-polnischen Beziehungen, in: Josef<br />

Wohlmuth/Claudia Lücking-Michel (Hg.),<br />

Inspirationen. Beiträge zu Wissenschaft,<br />

Kunst, Gesellschaft und Spiritualität (=<br />

Festschrift 50 Jahre <strong>Cusanuswerk</strong>), Paderborn:<br />

Schöningh 2006, 231 - 243.<br />

Polen und Deutsche in Europa. Polacy i<br />

Niemcy w Europie. <strong>Textbuch</strong> zur Auslandsakademie<br />

des <strong>Cusanuswerk</strong>s, 19. September<br />

bis 2. Oktober 2004: Kreisau - Wrocław/<br />

Breslau - Kraków/Krakau - Auschwitz -<br />

Warszawa/Warschau, Bonn 2004.<br />

Im 50. Jubiläumsjahr des <strong>Cusanuswerk</strong>s<br />

führt das Europäische Doktorandenkolloquium<br />

im November<br />

2006 in Deutschlands großes wie<br />

unbekanntes, in jedem Fall sehr nahe liegendes<br />

Nachbarland, um in Auseinander<br />

setzung mit der schmerzlichen Vergangenheit<br />

und angesichts einer von manchen<br />

Misstönen gestimmten Gegenwart nach<br />

Trennendem wie Gemeinsamen in „Erinnerung<br />

und Identität“ von Polen und Deutschen<br />

zu suchen, denn „wir werden die Auseinandersetzungen<br />

mit der Vergangenheit<br />

nie vollständig hinter uns gelassen haben;<br />

Deutsche und Polen müssen sich ihnen immer<br />

wieder stellen - damit sie einander bei<br />

anderen Themen nicht sprachlos gegenüberstehen“<br />

(Włodzimierz Borodziej, aaO.). Es<br />

reicht nicht aus, nur ungefähr zu wissen, wo<br />

Warschau liegt.<br />

18


„Wir leben nicht zwischen den Welten, sondern<br />

in ihrer Mitte“ (Karl Dedecius).<br />

Als DAAD-Lektorin in Lublin<br />

von Katharina Wildermuth<br />

Verstehen und Verständigung im deutsch-polnischen Dialog setzen voraus, dass<br />

wir uns unserer Identität(en) bewusst werden. Einige persönliche Eindrücke und<br />

Gedanken in Vorbereitung auf das Europäische Doktorandenkolloquium.<br />

Seit Oktober 2005 arbeite ich <strong>als</strong> Lektorin<br />

des Deutschen Akademischen Austauschdienstes<br />

(DAAD) am Institut für Germanistik<br />

der Maria Curie-Skłodowska-Universität<br />

in Lublin. Zu meinen Hauptaufgaben<br />

gehören die Vermittlung deutscher Sprache<br />

und Landeskunde im Rahmen von sprachpraktischen<br />

Übungen, Information über<br />

die deutsche Hochschullandschaft, die Beratung<br />

Studierender, Forschender und Lehrender<br />

zu Fördermöglichkeiten für einen<br />

akademischen Aufenthalt in Deutschland<br />

und die Abnahme von Sprachprüfungen.<br />

Weiterhin betreue ich eine kleine, durch<br />

Spenden des Goethe-Instituts finanzierte<br />

Bibliothek, den DAAD-Lektorenhandapparat,<br />

und engagiere mich in Projektarbeit.<br />

Bei der Vorbereitung dieses Beitrags habe<br />

ich mir die Frage gestellt, was unser Kolloquiums-Thema<br />

„Erinnerung und Identität“<br />

eigentlich für mich <strong>als</strong> deutsche Lektorin<br />

im polnischen Lublin bedeutet. In einem<br />

Artikel stieß ich auf das im Titel genannte<br />

Zitat von Karl Dedecius, den Marion Gräfin<br />

Dönhoff einmal einen „Mittler zwischen<br />

schwierigen Nachbarn“ genannt und der in<br />

diesem Jahr seinen 85. Geburtstag gefeiert<br />

hat. Seine Idee der „Mitte“ zwischen den<br />

Welten möchte ich im Folgenden an einigen<br />

Aspekten meines Lebens und meiner Arbeit<br />

hier spiegeln, um daraus schließlich ganz<br />

persönliche Schlussfolgerungen für unsere<br />

Begegnung im November zu ziehen.<br />

„Ab durch die Mitte“ – Unterricht<br />

Ich unterrichte die so genannten „Kompositionsübungen“<br />

(sprachpraktische Übungen<br />

zur Textproduktion) im 2. und die<br />

„Diskursiv-rezeptiven Übungen“ (Vertiefung<br />

hauptsächlich mündlicher Diskursfähigkeit)<br />

im 4. Studienjahr des insgesamt<br />

fünfjährigen Magisterstudiengangs Germanistik.<br />

Die Konzeption und Gestaltung<br />

dieser Seminare liegt vollständig in meiner<br />

Verantwortung, ebenso die Formulierung<br />

der Leistungsanforderungen.<br />

Jede/r, die/der schon einmal <strong>als</strong> Referent/<br />

in oder Lehrer/in vor einer Gruppe gestanden<br />

und dabei bestimmte (Lern-)Ziele verfolgt<br />

hat, kennt die Situationen, in denen<br />

die eigene Planung plötzlich nicht mit dem<br />

Verhalten der Lernenden zusammenpasst.<br />

Offenbar treffen unterschiedliche Vorstellungen<br />

von der Umsetzung des Themas zusammen,<br />

Anforderungen sind zu hoch oder<br />

19


zu niedrig gesetzt, die Methodik spricht die<br />

Teilnehmer/innen nicht an, verwirrt, langweilt<br />

oder verärgert sie unter Umständen<br />

gar oder das Thema bzw. die Fragestellung<br />

der Stunde ist f<strong>als</strong>ch gewählt. – Wie auch<br />

immer: Die Kommunikation funktioniert<br />

nicht.<br />

Wenn ich diese Momente im Kontext<br />

meines Unterrichtens vor Teilnehmerinnen<br />

und Teilnehmern aus anderen Ländern und<br />

Kulturkreisen reflektiere, erscheinen sie mir<br />

inzwischen häufig <strong>als</strong> Konfrontation meiner<br />

eigenen (Lern-)Biografie mit der meiner<br />

Studierenden. Mein Anspruch, z.B. an<br />

die Art und Weise der Auseinandersetzung<br />

mit einem Thema, erwächst nicht nur aus<br />

dem, was mir in meinem Studium <strong>als</strong> moderne<br />

Didaktik nahe gebracht wurde, sondern<br />

auch aus der durch die Kultur und Geschichte<br />

meines Heimatlandes geprägten<br />

Art und Weise, wie ich selbst gelernt habe.<br />

Und dies umschließt nicht nur Schule und<br />

Studium, sondern meine Wahrnehmung<br />

des gesamtgesellschaftlichen Diskurses in<br />

Deutschland und meine Beteiligung daran.<br />

Dasselbe gilt entsprechend für die Lernenden.<br />

In der Zusammenarbeit mit den polnischen<br />

Studierenden zeigt sich dies z.B.<br />

konkret an unseren unterschiedlichen Rollenbildern<br />

von Lehrer/in und Studenten:<br />

Während ich mich im universitären Kontext<br />

eher <strong>als</strong> Moderatorin von Lernprozessen<br />

und Beraterin der Lernenden verstehe,<br />

sehen die Kursteilnehmer/innen in mir<br />

eher die deutlich übergeordnete Autorität,<br />

von der sie die 100prozentige Vorgabe aller<br />

Lerninhalte sowie deren „Abprüfen“ erwarten<br />

– so, wie sie es aus ihrem bisherigen<br />

Lernalltag hauptsächlich kennen. Die Aktivität<br />

liegt dabei, das lässt sich erahnen,<br />

hauptsächlich auf meiner Seite. Umgekehrt<br />

erwarte ich von den Studierenden Selbstständigkeit<br />

und Eigenverantwortung, die<br />

sich in einer entsprechenden Mitgestaltung<br />

des Unterrichts, im Einbringen eigener<br />

Ideen und auch in Fragen und Kritik äußern<br />

sollten, während sie sich selbst häufig<br />

in der passiven Rolle der Schüler sehen, die<br />

klare und genau umrissene Arbeitsaufträge<br />

erfüllen, jedoch keine individuellen und<br />

kreativen Eigenleistungen erbringen oder<br />

größere inhaltliche oder methodische Zusammenhänge<br />

mitdenken müssen.<br />

Dass diese gegensätzlichen Rollenbilder<br />

den Boden für die oben beschriebenen<br />

„kommunikativen Brüche“ bereiten, ist<br />

schnell zu sehen. – Wie <strong>als</strong>o damit umgehen?<br />

Um allein die sprachlichen Lernziele<br />

meines Unterrichts zu erreichen, muss ich<br />

mich ein Stück weit auf die Erwartungshaltung<br />

der Studierenden zubewegen. Regelmäßige<br />

Prüfungen, gezieltes Einfordern<br />

von Beiträgen und Ähnliches gehören inzwischen<br />

zur „Grundausstattung“. Gleichzeitig<br />

jedoch formuliere ich sehr klar, wie<br />

ich mir unsere Zusammenarbeit vorstelle<br />

und setze dies nach Möglichkeit in einer<br />

entsprechenden Unterrichtsmethodik (z.B.<br />

durch kleine Projekte) und Umgangsweise<br />

mit den Teilnehmerinnen und Teilnehmern<br />

um.<br />

Wo dies möglich und nötig ist, thematisiere<br />

ich auch meine Beobachtung und<br />

Interpretation dieser kommunikativen Abläufe<br />

und diskutiere sie mit den Studierenden,<br />

was für die meisten eine völlig neue<br />

Erfahrung und für mich jedes Mal ein Dazulernen<br />

bedeutet. Oft können scheinbar<br />

festgefahrene Konflikte dabei gelöst und<br />

neue Wege der Zusammenarbeit – gemeinsam<br />

– gefunden werden.<br />

Das Thema „Mitte finden“ wird dabei<br />

für alle Beteiligten greifbar.<br />

„Wegweiser sein“ – Beratung<br />

In meine Sprechstunden zur Stipendienberatung<br />

kommen sowohl Studierende<br />

und Graduierte der Germanistik <strong>als</strong> auch<br />

anderer Fachbereiche der UMCS. Leider<br />

sind meine Polnischkenntnisse noch lange<br />

nicht ausreichend, um diese Gespräche<br />

auf Polnisch führen zu können. Daher bin<br />

ich darauf angewiesen, dass die Interessenten<br />

ausreichende Deutsch- oder Englischkenntnisse<br />

mitbringen – was allerdings<br />

auch Voraussetzung für ein DAAD-Stipendium<br />

an einer deutschen Hochschule oder<br />

Forschungseinrichtung ist.<br />

Ich informiere und berate jedoch nicht<br />

nur mit Bezug auf DAAD-Programme,<br />

20


sondern versuche immer ein aktuelles und<br />

breites Spektrum an Ausschreibungen unterschiedlichster<br />

Anbieter parat zu haben,<br />

um möglichst individuelle Lösungen zu<br />

finden. Dies erfordert eine permanente Recherche<br />

und vor allem ein offenes Ohr für<br />

die Wünsche und Vorstellungen der Kandidaten,<br />

die mit ihren jeweiligen Voraussetzungen<br />

in Einklang gebracht werden müssen.<br />

Ist die Entscheidung für ein bestimmtes<br />

Programm gefallen, ist häufig auch meine<br />

Unterstützung bei der Zusammenstellung<br />

der Bewerbungsunterlagen gefragt. Oft<br />

muss ich noch Sprachprüfungen durchführen<br />

und entsprechende Zeugnisse bzw. Gutachten<br />

ausstellen.<br />

Anders <strong>als</strong> im Unterricht sehe ich mich<br />

hier in erster Linie <strong>als</strong> „Dienstleister“ – allerdings<br />

für eine Sache, die mir gleichzeitig ein<br />

persönliches Anliegen ist: Indem ich einen<br />

jungen Menschen dabei unterstütze, seinen<br />

bzw. ihren Wunsch nach Deutschland zu<br />

gehen oder an einer internationalen Begegnung<br />

teilzunehmen in die Tat umzusetzen,<br />

erschließe ich ihm oder ihr neue Kommunikations-<br />

und Erfahrungsräume. Ich kann im<br />

besten Fall dazu beitragen, dass er/sie durch<br />

diesen Schritt seinen/ihren Blick schärft für<br />

das Eigene wie für das Andere und dadurch<br />

bereichert wird.<br />

„Mitten im Leben“ – privater Alltag<br />

Die Entscheidung für das Lektorat in<br />

Lublin bedeutete natürlich nicht nur eine<br />

berufliche Herausforderung, sondern eine<br />

ebenso große Veränderung meines privaten<br />

Alltags. Dabei habe ich das große Glück,<br />

diese Erfahrung gemeinsam mit meiner Familie<br />

machen zu können. Folgende Eindrücke<br />

empfinde ich <strong>als</strong> besonders wichtig:<br />

Das Eintauchen in die Lebenswirklichkeit<br />

einer anderen – wenn natürlich auch<br />

immer noch europäischen – Gesellschaft<br />

lässt uns unser eigenes Land aus einer Außenperspektive<br />

wahrnehmen. Probleme und<br />

Konflikte, Ziele und Wünsche werden neu<br />

beleuchtet, das Anspruchsdenken kritisch<br />

reflektiert. Hier in Lublin leben wir natürlich<br />

in einer zivilisierten Großstadt mit allen<br />

Bequemlichkeiten und dem vollen Spektrum<br />

an Konsumangeboten (die allerdings,<br />

nebenbei bemerkt, nur von den wenigsten<br />

voll ausgeschöpft werden können). Doch<br />

schon wenige Kilometer außerhalb der Stadt<br />

begegnen uns Pferdefuhrwerke auf den<br />

Straßen, manches kleine Dorf ist nur über<br />

Schotterpisten zu erreichen, mancher Hof<br />

wird lediglich über einen Ziehbrunnen mit<br />

frischem Wasser versorgt.<br />

Stammtischparolen gegen polnische<br />

(„Billig-“) Arbeitskräfte waren mir natürlich<br />

schon vor unserem Leben hier zuwider,<br />

ein wirklich tiefes Verständnis für die Hintergründe<br />

und Motivationen der Menschen,<br />

die auf diese Art und Weise nicht selten ihren<br />

Lebensunterhalt bestreiten, ja Bewunderung<br />

für ihre Flexibilität und Einsatzbereitschaft<br />

habe ich erst hier entwickelt.<br />

Auf Grund unserer sprachlichen Schwierigkeiten<br />

machen wir täglich die Erfahrung<br />

von Fremdheit und Hilflosigkeit. Im Kontakt<br />

mit Leuten auf der Straße, beim Bäcker,<br />

Arzt oder im Bus fallen wir sofort <strong>als</strong><br />

Ausländer auf – und damit <strong>als</strong> Exoten in einer<br />

Region, die kaum Kontakt und Erfahrung<br />

mit Ausländern hat (schon gar nicht<br />

aus Westeuropa).<br />

Gleichzeitig begegnen wir hier jedoch<br />

einer Offenheit und Hilfsbereitschaft, die<br />

uns von Anfang an hat spüren lassen, dass<br />

wir von den Menschen vorbehaltlos an- und<br />

aufgenommen werden. Kollegen und Nachbarn<br />

unterstützen uns bei dem Aufbau unserer<br />

privaten „Infrastruktur“ – seien es die<br />

zahlreichen Ämtergänge, Einrichtung von<br />

Bankkonto, Internet- und Telefonanschluss,<br />

die Suche nach einer geeigneten Kinderbetreuung<br />

oder einfach nur der Tipp, wo man<br />

das beste Obst oder den Sand für den Sandkasten<br />

kaufen kann.<br />

Manches befremdet uns auch: militärische<br />

Paraden zu den diversen Nationalfeiertagen<br />

oder die in allen polnischen Städten<br />

an denselben Plätzen anzutreffenden Denkmäler<br />

zentraler Figuren der polnischen Geschichte.<br />

Aber auch die Diskrepanz zwischen<br />

einem sich rasant entwickelnden Kapitalismus<br />

mit seinen Auswüchsen von Konsumdenken<br />

und Karrierebewusstsein und einem<br />

oftm<strong>als</strong> strengen und konservativen Katholizismus,<br />

der sowohl generationenübergrei-<br />

21


fend die Moralvorstellungen <strong>als</strong> auch das<br />

allgemeine Nationalgefühl tief prägt.<br />

Wir sind <strong>als</strong> Deutsche in einer Gesellschaft<br />

sozialisiert worden, in der man sich<br />

aus historischer Schuld heraus schwer tat<br />

und tut eine „nationale Identität“ zu formulieren<br />

oder einem Nationalbewusstsein<br />

öffentlich Ausdruck zu verleihen. In Polen<br />

dagegen ist man stolz auf die eigene Geschichte<br />

und sieht sich <strong>als</strong> Einzelne/r viel<br />

stärker dieser nationalen Gemeinschaft verbunden<br />

und zugehörig.<br />

Durch unser Leben und Arbeiten mitten<br />

unter den Menschen hier sind wir zugleich<br />

Über-Mittler unserer Erfahrungen<br />

und Eindrücke an unsere Familien und<br />

Freunde in Deutschland. Manchmal, wenn<br />

diese den Weg zu uns hierher finden und<br />

manches lang gehegte Vorurteil durch eigene<br />

Anschauung und Begegnung aufgebrochen<br />

werden kann, dürfen wir auch Ver-<br />

Mittler sein.<br />

„Mittendrin?“ – Deutsch-polnische<br />

Beziehungen<br />

Deutsch-polnische Beziehungen lassen<br />

sich nicht allein theoretisch reflektieren.<br />

Von der Wirklichkeit bilden die Statements<br />

der Politiker, gesellschaftliche (Groß-)Ereignisse,<br />

Teilnehmer-Statistiken von Veranstaltern<br />

oder die regelmäßig veröffentlichten<br />

Vergleichsstudien nur einen Teil<br />

ab. Um sie in ihrem ganzen Umfang zu erfahren,<br />

müssen wir sozusagen Wege in die<br />

„deutsch-polnische Mitte“ suchen.<br />

Die „Mitte“, von der Dedecius spricht,<br />

verstehe ich <strong>als</strong> ein Erkennen des „Eigenen“<br />

durch das „Andere“, <strong>als</strong> eine Bereicherung<br />

durch Gemeinsames und Trennendes.<br />

Sich der eigenen Identität bewusst<br />

zu werden heißt auch Aspekte nationaler<br />

Identität, die in Deutschland lange verdrängt<br />

wurden, zu erkennen und zuzulassen.<br />

Dies geschieht jedoch zumeist erst<br />

in der Begegnung und Auseinandersetzung<br />

mit Menschen anderer Nationen.<br />

uns einmal mehr die Brisanz und Aktualität<br />

von Ereignissen, die manchmal längst<br />

vergangen scheinen und nicht selten <strong>als</strong> abgeschlossen<br />

betrachtet werden wollen. Sie<br />

durchdringen unsere Welten, reißen Gräben<br />

auf, trennen.<br />

Unsere nationalen Identitäten, die deutsche<br />

wie die polnische, sind von der Zeit<br />

des Nation<strong>als</strong>ozialismus und den damit zusammenhängenden<br />

Vertreibungen geprägt.<br />

Wenn wir Wege in die Mitte suchen wollen,<br />

müssen wir uns unseren Erinnerungen<br />

stellen, diese zur Sprache und damit in unsere<br />

Mitte bringen.<br />

„Mittendrin!“ – Das Europäische Doktorandenkolloquium<br />

Das Kolloquium „Erinnerung und Identität“<br />

möchte hierzu einen Beitrag leisten.<br />

Dabei sehe ich eine zweifache Herausforderung<br />

an uns alle:<br />

Zum einen setzen wir uns mit einem sensiblen<br />

gesellschaftspolitischen Thema auseinander,<br />

das in möglichst unterschiedlichen<br />

Facetten an ebenso verschiedenen Orten<br />

beleuchtet werden soll. Dabei werden wir<br />

selbst <strong>als</strong> Teil einer Gesellschaft mit ihrem<br />

jeweiligen kollektiven Gedächtnis angesprochen,<br />

Aspekte unserer (unter anderem<br />

nationalen) Identität werden sichtbar und<br />

wir müssen uns ihnen stellen.<br />

Zum anderen liegen aus meiner Sicht in<br />

der persönlichen Begegnung mit den anderen<br />

Teilnehmerinnen und Teilnehmern die<br />

Aufgabe und zugleich die Chance, durch<br />

Zuhören, Fragen und eigenes Erzählen,<br />

durch gemeinsames Erleben und Diskutieren<br />

die „Mitte“ auszuloten, von der Dedecius<br />

spricht. Wie erlebe ich die anderen, wie<br />

werde ich selbst wahrgenommen vor dem<br />

Hintergrund meines Deutsch- bzw. Polnisch-Seins?<br />

Wie viel von dem, was meine<br />

Identität ausmacht, gehört auch zur Identität<br />

meines Gegenübers?<br />

Ich wünsche uns allen bereichernde Begegnungen<br />

in der Mitte Europas!<br />

Die aktuellen Konflikte auf der offiziellen<br />

deutsch-polnischen Bühne zeigen<br />

22


Am Anfang war das Wort, das erinnerte Wort<br />

von Dr. Simone Bell-D’Avis<br />

Eine geistliche Einstimmung zum europäischen Doktorandenkolloquium Lublin<br />

„Erinnerung und Identität“ anhand von Lk 23,50 – 24,12<br />

Die zugrunde gelegte Erzählung beginnt<br />

am Todestag Jesu, am Vorabend des<br />

Sabbats und erstreckt sich bis zu den ersten<br />

Gesprächen über seine Auferstehung am ersten<br />

Tag nach dem Sabbat. Selten wird die<br />

Erzählung in der exegetischen Literatur <strong>als</strong><br />

ein Text aufgefasst, stattdessen ist oftm<strong>als</strong><br />

von zwei Teilen die Rede, von der „Grablegung“<br />

und von „Ostern“. Ganz im Sinne<br />

unserer Reise, die einen Konnex zwischen<br />

Erinnerung und Identität gegeben sieht,<br />

soll im Folgenden die gewählte biblische<br />

Erzählung <strong>als</strong> eine zusammenhängende<br />

Geschichte betrachtet werden, in der Erinnerung<br />

nach den Vorgaben frühjüdischer<br />

Mnemotechnik den Zugang zum Verständnis<br />

des Auferstehensglaubens bildet.<br />

Rekapituliert man die Erzählung entlang<br />

ihrer Gliederungsmerkmale, tritt ihre<br />

chronologische Struktur hervor. Die Handlung<br />

spielt „vor“, „während“ und „nach“<br />

dem Sabbat. In einer ersten Episode wird<br />

von der Grablegung Jesu erzählt. Einen besonderen<br />

Charakter haben innerhalb dieser<br />

ersten Episode die Sätze, die davon berichten,<br />

dass jegliche Aktivität zur Ruhe<br />

kommt, auch die Totenpflege; niemand<br />

läuft von hier nach dort, Orte und Tätigkeiten<br />

spielen keine Rolle. Eine zweite Episode<br />

umfaßt die Verse Lk 24,1-8. Mit der sich<br />

der Sabbatruhe anschließenden Zeitenwende<br />

(24,1) geht eine qualitative Veränderung<br />

einher: Der Leib des „Herrn“ Jesus ist nicht<br />

mehr zu finden. Dabei sind die Frauen doch<br />

zum Grab gekommen, um die Tätigkeit, die<br />

sie mit dem Aufleuchten des Sabbat unterbrochen<br />

hatten, fortzusetzen: die Totenpflege.<br />

Das Zeichen der Zeit, den weggewälzten<br />

Stein, können sie zu diesem Zeitpunkt noch<br />

nicht „lesen“, dazu fehlen ihnen „die Worte“.<br />

Sie fallen in Ratlosigkeit. Sie brauchen Hilfe<br />

von außen, um den Weg zu dem Raum, der<br />

Erkenntnis bringt, zu finden. Zwei Männer<br />

treten auf in strahlendem Gewand - die<br />

Frauen befällt heilige Scheu, sie blicken zur<br />

Erde. Es scheint <strong>als</strong> sei im Morgengrauen<br />

eine Senkrechte vom Himmel - dem Ort<br />

der aufleuchtenden Sterne - zum Dunkel des<br />

Erdbodens gefällt. Diese Senkrechte erfährt<br />

eine horizontale Verschränkung mit der Tradition<br />

Israels, wenn die Männer in Lk 24,5<br />

zu den Frauen zu sprechen beginnen und ihnen<br />

die zur Erkenntnis der Auferweckung<br />

nötigen „Worte“ in Erinnerung rufen.<br />

Diese Worte, die Worte Jesu und die<br />

Worte der Schriften Israels, werden im Text<br />

ausdrücklich rekapituliert (24,7). Im Zentrum<br />

des Todes, im Grab, wird innerhalb der<br />

Redesequenz der Ort bedeutsam, in dem die<br />

Erinnerung an Jesus und seine Worte lebendig<br />

ist: das Herz der Frauen, „die mitgekommen<br />

waren aus Galiläa mit ihm“ (23,55).<br />

Mit der Rückkehr der Frauen vom Grab<br />

scheint das augenscheinlich im Grab gefundene<br />

Wissen - die Erinnerung an die Worte<br />

Jesu - nichts mehr zu taugen, wovon die dritte<br />

Episode erzählt. Die Frauen „verkünden“<br />

23


(24,9) und „sagen“ (24,10b) den Jüngern<br />

„dies alles“ (24,9) bzw. „dieses“ - auf aktualisierende<br />

Wiederholung, auf Erzählung,<br />

wird aber verzichtet. Den Jüngern bleibt<br />

nichts anderes übrig, <strong>als</strong> das so Verkündete,<br />

„diese Worte“ (24,11) für leere Worte,<br />

für Geschwätz zu halten. Auch Petrus, der<br />

die Depression mit Aktivität - er rennt zum<br />

Grab - durchbricht, bleibt nur das Staunen<br />

(24,12) und das Fortgehen; auf der Suche<br />

nach den wahren Worten?<br />

Innerhalb der Erzählung begegnen uns<br />

bedeutungsreiche Anspielungen sowohl<br />

bezüglich des Motivs der Worte, wie auch<br />

bezüglich der mit den Komponenten Vergegenwärtigung<br />

und Wiederholung gebildeten<br />

Erinnerungsstruktur. Dort, wo in<br />

Lk 23,50-24,12 die Worte Jesu ausdrücklich<br />

wiederholt und vergegenwärtigt werden,<br />

ermöglicht dieses kommunikative<br />

Gedächtnis einen Erkenntnisakt (24,8);<br />

„to ‚remember‘ can hardly mean to recall<br />

something which had been forgotten, but<br />

rather to repeat sayings to oneself, and to<br />

allow them once more to have their effect<br />

on the soul.“ <br />

Innerhalb der dritten Episode der Erzählung<br />

findet eine solche Verdichtung<br />

nicht statt. Zwar heißt es, die Frauen berichteten<br />

und verkündeten „dies alles“<br />

bzw. „dieses“ (24,9f), womit eine im Denken<br />

Israels bekannte Identifikationsformel<br />

verwendet wird, doch wird auf eine ausführliche<br />

Schilderung, eine vergegenwärtigende<br />

Erzählung all dessen verzichtet. Das<br />

hat zur Folge, dass im Text selbst auch die<br />

Worte Jesu nicht noch einmal ausdrücklich<br />

wiederholt werden, mit deren Explikation<br />

die Frauen selbst sich erinnern konnten.<br />

Die Vermutung drängt sich auf, dass<br />

innerhalb des Berichtes der Frauen be-<br />

Vgl. dazu: Assmann, Jan (1992), Das kulturelle<br />

Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische<br />

Identität in frühen Hochkulturen, München, S.<br />

48-66.<br />

Dahl, N. A., (1947) : Anamnesis. Mémoire et<br />

Commémoration dans le christianisme primitif,<br />

in: Studia Theol. 1, S. 69-75, hier: 70; zitiert<br />

nach: Gerhardsson, Birger, Memory and<br />

Manuscript: Oral Tradition and Written Transmission<br />

in Rabbinic Judaism and Early Christianity,<br />

(ASNU 22), Lund 1964 2 , S. 228.<br />

stimmte Komponenten fehlen, so dass das<br />

Erinnerungsvermögen der Jünger nicht<br />

ausreichend aktiviert werden kann. Dass<br />

„diese Worte“ dann <strong>als</strong> „Geschwätz“, <strong>als</strong> leeres<br />

Gerede erscheinen müssen (24,11), liegt<br />

in der Dynamik der für die Apostel noch<br />

unvollständigen Identifikation. Gelingt allerdings<br />

innerhalb einer Kommunikation<br />

diese Identifikation (24,5b-7), dann haben<br />

die Worte Jesu eine eminente Bedeutung:<br />

Sie bestätigen sein Wissen um sich selbst<br />

und teilen dieses Wissen mit. Leer ist dann<br />

nur das Grab. Jesu Abwesenheit besteht<br />

dann „only ‚among the dead‘ [...The] words<br />

of Jesus himself provide the interpretive key<br />

to his absence among the dead.” Den Weg<br />

zu dieser Erkenntnis finden die Frauen einzig<br />

“through the maze of memory.” <br />

Die Mnemotechnik, der die zitierten<br />

Worte Jesu in Lk 24,5b-7 folgen, gleicht<br />

zum einen strukturell (Vergegenwärtigung<br />

und Wiederholung), zum anderen bezüglich<br />

ihres Mediums (Worte) und letztlich<br />

in ihrer inhaltlichen Option (Leben versus<br />

Tod) der Weise der im Deuteronomium zugrunde<br />

gelegten Exodusmemoria. Denn im<br />

Deuteronomium, der identity card Israels,<br />

wird denjenigen, die die Exodusmemoria<br />

wahren und auf die Worte JHWHs hören,<br />

Zukunft in Aussicht gestellt: „Hört, und<br />

ihr werdet leben“ (Dtn 4,1) verheißt der<br />

Gott Israels dort.<br />

Pointiert man die Oppositionen im vorliegenden<br />

Text ausdrücklich, dann lassen<br />

sich zwei Weisen des Vergangenheitsbezugs<br />

herausarbeiten: F<strong>als</strong>ch verstandener Totenkult<br />

auf der einen Seite und Erinnerung<br />

in der biblisch vermittelten Aneignungsweise<br />

von Vergegenwärtigung und Wiederholung<br />

auf der anderen Seite. In der Erinnerung<br />

an die in Galiläa von Jesus gesagten<br />

Worte hängt die Fähigkeit, ihn <strong>als</strong> Lebenden<br />

wahrzunehmen, den der Gott Israels,<br />

gemäß den Worten der Schrift, auferweckt<br />

hat - Riten des Todes erübrigen sich gegenüber<br />

einem Lebenden. Diese Feststellung<br />

soll die Treue Joseph von Arimathäas ebenso<br />

wenig wie die der Frauen abwerten: Es<br />

Johnson, Luke Timothy (1992): The not so<br />

empty tomb, Lk 24,1-11, in: Interpretation 46,<br />

1992, S. 57-61, hier: 60.<br />

Ebd.<br />

24


galt, den toten Jesus zu bestatten. Erst in der<br />

Fixierung auf den Zustand des Todes liegt<br />

der nur noch durch angeleitete Erinnerung<br />

zu behebende Fehlschluss.<br />

Die vorliegende Erzählung vermittelt das<br />

Wissen um die Auferweckung Jesu in den<br />

Kategorien frühjüdischer Mnemotechnik.<br />

Trotzdem hat sich das christliche Bekenntnis<br />

zur Auferweckung Jesu in der zweitausendjährigen<br />

Kirchen-, Theologie-, Frömmigkeits-<br />

und Kulturgeschichte weniger <strong>als</strong><br />

ein Weg zum Gott Israels <strong>als</strong> vielmehr weg<br />

von ihm erwiesen. Dass dadurch dem Christentum<br />

die Exodusdimensionen des eigenen<br />

Bekenntnisses verschlossen bleiben,<br />

mag ein innerchristliches Defizit sein, das<br />

sich in den Befreiungskämpfen von Minderheiten<br />

immer wieder artikuliert. Die um<br />

die Profilierung einer eigenen christlichen<br />

Identität bemühte Abgrenzung gegenüber<br />

dem Judentum aber ist alles andere <strong>als</strong> ein<br />

innerchristliches Problem - nicht erst wegen,<br />

aber erst recht nach der Shoah.<br />

Es gibt für ihn nicht nur eine Revolution,<br />

die die Dinge von morgen ändert, für künftige<br />

Generationen, sondern auch eine Revolution,<br />

die über den Sinn der Toten und<br />

ihrer Hoffnungen neu entscheidet [...]. Auferweckung,<br />

die über das Gedächtnis des<br />

Leidens vermittelt ist, heißt: Es gibt einen<br />

unabgegoltenen Sinn der Toten, der bereits<br />

Besiegten und Vergessenen. Das Sinnpotential<br />

der Geschichte hängt nicht nur an den<br />

Überlebenden, an den Erfolgreichen und<br />

Durchgekommenen! ‚Sinn‘ ist eben keine<br />

den Siegern reservierte Kategorie! <br />

Wenn das europäische Doktorandenkolloquium<br />

in Lublin dem Grauen der Shoah<br />

in Majdanek eingedenk wird und die Spuren<br />

der Geschichte in der Gegenwart zu verstehen<br />

sucht, dann dürfen die Begegnungen<br />

in Lublin von Vergegenwärtigung und Wiederholung<br />

geprägt sein – so schmerzhaft<br />

Vergegenwärtigung und Wiederholung<br />

auch sein können.<br />

Ermutigt sein dürfen wir zu einer solchermaßen<br />

erinnerungsgeleiteten Aneignung<br />

des Vergangenen durch die selbst erinnerungsgeleitete<br />

Vermittlung unseres eigenen<br />

Glaubens. Jeglichen triumphalistischen<br />

christlichen Glauben mahnt die Erinnerungsstruktur<br />

seines „Grunddatums“, dass es gar<br />

kein wirkliches Verständnis der Auferweckung<br />

gibt, „das nicht über das Gedächtnis<br />

des Leidens entfaltet werden müßte [...] Ein<br />

solcher Auferweckungsglaube drückt sich<br />

[...] darin aus, dass er - ‚kontrafaktisch‘ -<br />

dazu befreit, auf die Leiden und Hoffnungen<br />

der Vergangenheit zu achten und sich der<br />

Herausforderung der Toten zu stellen.<br />

Vgl.: Concilium. Internationale Zeitschrift<br />

für Theologie, Heft 1 (23. Jg.), 1987: Exodus,<br />

ein Paradigma mit bleibender Wirkung.<br />

Metz, Johann Baptist<br />

(19844): Glaube in Geschichte<br />

und Gesellschaft,<br />

Mainz, S. 99.<br />

25


Ich glaube, weil ich lebe<br />

von Konrad Schuller<br />

Kein Land Europas ist katholischer <strong>als</strong> Polen. Doch nun ist an die Stelle des<br />

patriotischen Gottvertrauens ein nationaler Klerikalismus getreten.<br />

Toruñ und Wadowice: Zwischen einer<br />

schroffen gotischen Festung im Norden Polens<br />

und einem freundlichen Marktflecken<br />

mit Zwiebeltürmen und hellen Bürgerhäusern<br />

im Süden oszilliert die Religiosität dieser<br />

Nation. In Wadowice wurde vor 86 Jahren<br />

Karol Wojtyla geboren, der Mann, der<br />

<strong>als</strong> Johannes Paul II. für die Überwindung<br />

des Kommunismus ebenso stand wie für<br />

die europäische Öffnung seines Landes und<br />

den Dialog zwischen Christen und Juden.<br />

In Toruñ, dem früheren Thorn, dagegen<br />

hat Radio Maryja, der einflußreichste katholische<br />

Sender Europas, seinen Sitz. Unter<br />

der Führung des Redemptoristenpaters<br />

Tadeusz Rydzyk warnt er vor den mutmaßlichen<br />

Machenschaften deutscher und jüdischer<br />

Dunkelmänner, die Polen mit Hilfe<br />

der Europäischen Union versklaven wollen,<br />

bejaht das Verbot von Paraden Homosexueller<br />

und führt Beschwerde darüber, daß Juden<br />

unter dem Mantel von Eigentumserstattung<br />

„Lösegeld” von Polen kassierten. Als<br />

im Herbst die Partei der Brüder Kaczynski<br />

an die Macht kam, ist Radio Maryja zum<br />

Haussender der Regierung geworden.<br />

Kein Land Europas ist katholischer <strong>als</strong><br />

Polen. Nicht nur, daß nach einer Umfrage<br />

85 Prozent sich <strong>als</strong> „religiös” beschreiben;<br />

die Geschichte dieses Staates, seine generationenlange<br />

Austilgung ebenso wie die<br />

Wiederkehr, ist untrennbar mit der Kirche<br />

verbunden. In der Zeit der Teilung war die<br />

Schwarze Madonna von Tschenstochau,<br />

„Königin Polens” seit ihrer symbolischen<br />

Vermählung mit König Jan III. Kazimierz,<br />

der Fluchtpunkt der Nation. Später, in der<br />

Schlußphase des Kommunismus, legitimierte<br />

der Pole Johannes Paul II. mit dem<br />

biblischen Aufruf „Fürchtet Euch nicht!”<br />

den Widerstand der Gewerkschaft „Solidarität”.<br />

Lech Walesa heftete sich das Bildnis<br />

der Madonna ans Revers, und die „Solidarität”<br />

wuchs mitten in der Diktatur auf zehn<br />

Millionen Mitglieder. Der alte Mythos vom<br />

„Christus unter den Völkern”, die Erzählung<br />

vom gläubigen Polen, das durch Zerstückelung<br />

und Höllenfahrt zur Auferstehung<br />

strebt, fand in der Wende triumphale<br />

Bestätigung.<br />

Beide Seiten geben und nehmen. Wie<br />

der Papst Polens Widerstand gegen die sowjetische<br />

Fremdherrschaft stärkte und damit<br />

zuletzt die Feinde der Kirche besiegte,<br />

so konnte die Nation durch ihre Bindung an<br />

die Kirche den Kampf um ihre Freiheit gewinnen.<br />

Ihr Sieg bestätigte zuletzt die alte<br />

polnische Gleichung: Wer für den Glauben<br />

kämpft, kämpft für die Nation, und wer die<br />

Nation verteidigt, steht für den Glauben.<br />

Die Politik der Brüder Kaczynski und des<br />

Senders Radio Maryja ist der Versuch, diese<br />

Gleichung aus Zeiten der Diktatur in die<br />

offene Gesellschaft herüberzuretten. An die<br />

Stelle von Wojtylas patriotischem Gottvertrauen<br />

ist dabei jedoch eine rigidere Variante<br />

getreten, der nationale Klerikalismus von<br />

Thorn. Die „Generation Radio Maryja” mit<br />

26


ihren engen Verbindungen zur Regierungspartei<br />

der Kaczynskis ist dabei noch mehr<br />

<strong>als</strong> die Generation der „Solidarität” davon<br />

überzeugt, daß das Wohl der Nation nur im<br />

Licht der Glaubenswahrheit zu finden sei.<br />

Wie einst Walesa auf der Lenin-Werft leitet<br />

Ministerpräsident Marcinkiewicz seinen<br />

Auftrag vom Höchsten ab. „Ich lebe, weil<br />

ich glaube, und ich glaube, weil ich lebe”,<br />

hat er einmal gesagt.<br />

Diese neue Variante der altpolnischen<br />

Symbiose von Nation und Kirche ist parteipolitisch<br />

nutzbar. Der Aufstieg des Präsidenten<br />

Lech Kaczynski hat viel damit zu<br />

tun, daß er im April 2005 <strong>als</strong> Warschauer<br />

Bürgermeister die Trauerfeiern für Johannes<br />

Paul II. so zu organisieren verstand, daß<br />

er selbst <strong>als</strong> Verkörperung des nationalen<br />

Schmerzes erschien. Der jüngste Versuch,<br />

die Synergien des Glaubens zu nutzen, war<br />

sein mittlerweile ad acta gelegtes Projekt, in<br />

diesem Frühjahr in zeitlicher Nähe zum bevorstehenden<br />

Besuch von Wojtylas Nachfolger<br />

Benedikt XVI. vorgezogene Parlamentswahlen<br />

zu halten. Kaczynskis Stab<br />

versprach sich von der erwarteten Hochstimmung<br />

dieser Tage maximale Mobilisierung<br />

an den Urnen.<br />

Dreh- und Angelpunkt dieser Synthese<br />

ist Radio Maryja. Einerseits unterstützt der<br />

Sender die nationalkatholische Regierungspartei,<br />

andererseits greift diese erfolgreich<br />

auf den Ideenfundus von Thorn zurück.<br />

Ihre Skepsis gegen Europa, ihre Aversion<br />

gegen Homosexualität, ihr Antiliberalismus<br />

sowie ihr reizbares Nationalbewußtsein - all<br />

das hat hier seine Wurzeln. Radio Maryja<br />

wiederum hat Wettbewerbsvorteile. Die<br />

Brüder Kaczynski verschaffen Pater Rydzyk<br />

exklusive Termine bei politischen Schlüsselereignissen,<br />

und Marcinkiewicz‘ Minister<br />

sind regelmäßige Gäste in den Studios<br />

von Thorn.<br />

Die andere Seite der polnischen Kirche,<br />

die Europa zugewandte Kirche von Wadowice,<br />

hat zu dieser Entwicklung lange geschwiegen.<br />

Johannes Paul II. ließ Radio<br />

Maryja gewähren, weil er die seelsorgerische<br />

Bedeutung des Senders erkannte und weil<br />

er wußte, daß die Autorität seiner Person<br />

Rydzyks Ausfälle jederzeit in den Schatten<br />

stellen konnte. Seit seinem Tode aber sehen<br />

sich seine Freunde im Lande, sein früherer<br />

Sekretär Kardinal Dziwisz etwa oder Polens<br />

Primas Glemp, gezwungen, gegen<br />

Thorn in Stellung zu gehen. Benedikt XVI.<br />

steht dabei auf ihrer Seite. Im Herbst rief er<br />

„die katholischen Radio- und Fernsehsender”<br />

zunächst in allgemeinem Ton auf, die<br />

„Autonomie der politischen Sphäre” zu respektieren.<br />

Im März, nachdem sein Aufruf<br />

ungehört verhallt war, hat sein Nuntius in<br />

Polen die Ordensoberen von Pater Rydzyk<br />

unverblümt aufgefordert, zur Kontrolle von<br />

Radio Maryja „entschlossene und wirksame<br />

Maßnahmen” zu ergreifen.<br />

Mittlerweile ist der Konflikt offen entbrannt.<br />

Kardinal Dziwisz, der vor einem<br />

möglichen Mißbrauch der bevorstehenden<br />

Papstreise durch die Partei der Brüder Kaczynski<br />

gewarnt hatte, wird von der Präsidialkanzlei<br />

unverhohlen attackiert, und sogar<br />

Benedikt XVI. wird von den Unterstützern<br />

Radio Maryjas wegen seiner deutschen<br />

Herkunft ins Zwielicht gestellt. Der Streit<br />

ist bitter, denn wohl keiner Nation Europas<br />

ist die päpstliche Formel von der „Autonomie”<br />

der politischen Sphäre fremder <strong>als</strong> der<br />

polnischen, die ihr Überleben so oft gerade<br />

dem Gegenteil zu verdanken hatte, der<br />

Symbiose von Patriotismus und Religion.<br />

Der Abschied von der alten Gleichung<br />

fällt Polen um so schwerer, <strong>als</strong> er zugleich<br />

den Abschied von den besten Traditionen<br />

der „Solidarität” bedeutet, den Abschied<br />

von einer Epoche, in der man, inspiriert von<br />

Karol Wojtyla, politisch stark war, weil man<br />

im Glauben nicht schwankte. Immer mehr<br />

polnische Christen aber verstehen heute,<br />

daß die Demokratie andere Forderungen<br />

stellt <strong>als</strong> die Diktatur. Sie wissen, daß ein<br />

Glaube, der im Kommunismus aus Liebe<br />

zum Menschen politisch werden mußte,<br />

in der Demokratie aus genau demselben<br />

Grunde zur Zurückhaltung bestimmt sein<br />

kann. Einer der schärfsten Kritiker der Kirche<br />

von Thorn, der Lubliner Erzbischof Zycinski,<br />

hat es auf den Punkt gebracht: „Die<br />

Kirche verbindet sich mit keinem Führer<br />

und keiner Partei, denn Christus ist für alle<br />

gestorben.”<br />

27


Autor<br />

Konrad Schuller, geb. 1961 in Kornstadt/Siebenbürgen<br />

(heute Brasov/Rumänien), Studium<br />

der Geschichte und Volkswirtschaftslehre<br />

in München, lernte seinen Beruf an<br />

der Münchener Journalistenschule. Nach<br />

Stationen in Rumänien (für die Süddeutsche<br />

Zeitung), Rom (für die dpa) und London<br />

(<strong>als</strong> Redakteur des BBC-Worldservice),<br />

trat er 1992 in die Redaktion der Frankfurter<br />

Allgemeinen Zeitung ein. Derzeit Korrespondent<br />

der F.A.Z. in Warschau.<br />

Quelle<br />

F.A.Z. Journal Europa, 09.05.2006. Wir<br />

danken dem Autor für die freundliche Genehmigung<br />

zum Abdruck!<br />

28


Kapitel II<br />

Lubliner Geschichte –<br />

cusanische Schlaglichter<br />

31


Die Union von Lublin 1569 –<br />

Sonderweg polnischer Geschichte?<br />

von Daniel Legutke<br />

In der Lubliner Union schlossen sich das Königreich Polen und das Großfürstentum<br />

Litauen zu einem förmlichen Staatenbund zusammen. Polen wurde<br />

dadurch zum größten Flächenstaat Mittel- und Osteuropas. Als Adelsrepublik<br />

Der Adel Polens konnte sich im späten<br />

Mittelalter erfolgreich gegen eine zunehmende<br />

Bündelung von Machtbefugnissen<br />

beim Monarchen zur Wehr setzten. Dieser<br />

Kampf zwischen König und Ständen spielte<br />

sich verstärkt seit dem späten Mittelalter<br />

ähnlich in vielen Regionen Europas ab. Fürsten<br />

oder Könige benötigten zunehmend<br />

Geld für die Kriegsführung, reine Ritterheere<br />

erwiesen sich <strong>als</strong> nicht mehr effizient.<br />

Der Adel ließ sich die an den König abgeführten<br />

Steuern in der Regel mit weiträumigen<br />

Mitspracherechten vergelten. Wo es<br />

möglich war, erschloss sich die Krone daher<br />

alternative Finanzquellen. Dabei griffen die<br />

Zentralgewalten oft auf die Ressourcen finanziell<br />

erstarkender Städte zurück, erhöhten<br />

damit die Stadtbürger und umgingen<br />

den Adel.<br />

In Polen gab es keine flächendeckende<br />

städtische Struktur, so dass der Adel im Gegenzug<br />

für seine Beteiligung am Allgemeinen<br />

Aufgebot des Heeres den politischen<br />

Spielraum der Krone immer mehr einzuengen<br />

vermocht. Als im 15. Jahrhundert die<br />

Kriegführung technisiert wurde, musste<br />

das Steueraufkommen wiederum dramatisch<br />

erhöht werden. Damit waren die Anfänge<br />

der polnischen Adelsrepublik gelegt.<br />

Der Rat des Königs und die Versammlung<br />

der Adligen institutionalisierten sich gegen<br />

Ende des 15. Jahrhunderts im Sejm mit seinen<br />

zwei Kammern, der Landbotenkammer<br />

des Kleinadels und dem Senat der Magnaten.<br />

Der Sejm tagte in unregelmäßigen<br />

Abständen, zeitweise jährlich, dann wieder<br />

mit größeren Pausen, je nach der Anzahl<br />

und Dringlichkeit der Vorlagen. Für<br />

die Vorbereitung der Sejm-Voten und die<br />

Wahl der Abordnungen in den Sejm bildeten<br />

sich auf den unteren Ebenen der 21<br />

(im Jahr 1569) Wojewodschaften die Sejmiki,<br />

regionale Versammlungen, bei der hoher<br />

und niederer Adel gemeinsam tagten. Das<br />

Großfürstentum Litauen, in dem sich ähnliche<br />

Prozesse abspielten, kannte aber bis zur<br />

Mitte des 16. Jahrhunderts de facto nur den<br />

Senat, eine Landbotenkammer des Adels<br />

existierte nicht.<br />

Seit 1377 hatte Jogaila die Großfürstenwürde<br />

Litauens inne. Durch seine Heirat<br />

mit der Königstochter Jadwiga, der Erbin<br />

Polens, seine Taufe und anschließende<br />

Krönung <strong>als</strong> König von Polen im Jahr 1386<br />

wurden die Reiche Polen und Litauen erstm<strong>als</strong><br />

unter einem Herrscher vereint. Als<br />

Christ führte er den Namen Władisław II.<br />

Jagiełło. Die Großfürstenwürde der Jagiellonen<br />

war in Litauen erblich. In Polen wurden<br />

in den darauf folgenden zwei Jahrhunderten<br />

ebenfalls immer wieder Jagiellonen auf den<br />

Thron gewählt, ohne dass Polen formal auf-<br />

32


hörte, eine Wahlmonarchie zu sein. Beide<br />

jagiellonischen Staaten wurden im 15. Jahrhundert<br />

gleichermaßen vom expansiven<br />

Charakter des Ordensstaates im Norden<br />

und Westen, dem russischen Fürstentum<br />

im Osten, und den Tataren – später den Osmanen<br />

– im Südosten und Süden bedroht.<br />

Immer wieder lancierten die Krone und der<br />

Sejm Projekte, mit denen die beiden Reiche<br />

zu besserer Verteidigung enger aneinander<br />

gebunden werden sollten. Gemeinsame militärische<br />

Aktionen der personal vereinten<br />

Kronen versprachen und zeitigten größere<br />

Erfolge in dieser Gefahrenabwehr <strong>als</strong> die<br />

einzelnen Ritterheere.<br />

Allerdings widersetzten sich vor allem<br />

die litauischen Magnaten einer weiteren<br />

Annäherung beider Reiche. Sie gaben sich<br />

mit einer militärischen Unterstützung<br />

durch Polen zufrieden und fürchteten einen<br />

wachsenden Einfluss des Kleinadels,<br />

der in Litauen nur sehr rudimentär an Entscheidungen<br />

beteiligt wurde. In der zweiten<br />

Hälfte des 16. Jahrhunderts gewann die<br />

Einigungsbewegung dennoch an Kraft, <strong>als</strong><br />

die militärische Bedrohung der litauischen<br />

Reichsteile extrem zunahm und die Litauer<br />

stärker <strong>als</strong> je zuvor auf die polnische Unterstützung<br />

angewiesen waren. Die Reichstage<br />

seit der Mitte des 16. Jahrhunderts befassten<br />

sich alle mit dem Verhältnis beider<br />

Staaten zueinander. 1569 wurde die Union<br />

dann gegen den Widerstand der litauischen<br />

Magnaten auf dem Sejm zu Lublin durchgesetzt<br />

und dem Doppelstaat eine einheitliche<br />

Verfassung gegeben. Fortan sollte ein<br />

gemeinsamer Sejm eine gemeinsame Außen-<br />

und Verteidigungspolitik festlegen<br />

und eine gemeinsame Wahl des Königs und<br />

Großfürsten stattfinden.<br />

Nach dem Tod des letzten Jagiellonen<br />

nur drei Jahre nach dem Lubliner Unionssejm<br />

setzte die Phase polnisch-litauischer<br />

Wahlmonarchien ein. Der Adel nutzte die<br />

Phase des ersten Interims zu einer weiteren<br />

Beschränkung königlicher Prärogative in<br />

den Articuli Henriciani, so genannt nach<br />

dem ersten Wahlkönig Heinrich von Anjou.<br />

Fortan ging jede Neuwahl mit einer<br />

Beschwörung bzw. Neufassung der pacta<br />

conventa, der königlichen Wahlkapitulation,<br />

einher. Oft einigte man sich gerade deshalb<br />

auf einen ausländischen Kandidaten,<br />

weil man sich von ihm erhoffte, dass er über<br />

dem Streit verschiedener Interessengruppen<br />

zu stehen vermochte. Bei jeder Wahl waren<br />

alle Adligen zugelassen, zum ersten Wahltag<br />

fanden sich ca. 50.000 stimmberechtigte<br />

Adlige auf dem Wahlfeld bei Warschau<br />

ein.<br />

Vielfach wurde nach denen der polnischlitauischen<br />

Entwicklung vergleichbaren<br />

Prozessen in anderen europäischen Staaten<br />

Ausschau gehalten. Besonders erhellend ist<br />

der Blick auf die Niederlande, wo im 16.<br />

Jahrhundert erstaunlich ähnliche Prozesse<br />

abliefen, die das Verständnis der Entstehung<br />

und Funktionsweise der polnischen<br />

Republik erleichtern. 1579 hatten sich einzelne<br />

niederländische Provinzen in der<br />

Union von Utrecht zusammengeschlossen,<br />

in der sie sich ihrer hergebrachten Freiheitsrechte<br />

versicherten und gemeinsam zu ihrer<br />

Verteidigung gegen den Landesherrn Philipp<br />

II. von Spanien einstehen wollten. Im<br />

Plakaet van Verlatinge sagten sich diese Provinzen<br />

zwei Jahre später von ihrem Herren<br />

los und erklärten sich für unabhängig und<br />

frei. Zum Statthalter wurde Wilhelm von<br />

Oranien gewählt. Die Republik der Vereinigten<br />

Niederlande war entstanden. Dabei<br />

war anders <strong>als</strong> in Polen das Bürgertum aus<br />

dem Ringen um Steuerbewilligung und<br />

Zentralisierung <strong>als</strong> Sieger hervorgegangen.<br />

Jede der sieben beteiligten Provinzen entsandte<br />

Vertreter in die Gener<strong>als</strong>taaten, die<br />

gemeinsame Ständeversammlung. Sie sahen<br />

sich selbst <strong>als</strong> Zusammenschluss souveräner<br />

Territorien. Außen- und Sicherheitspolitik<br />

wurde der Union übertragen, alle anderen<br />

Themen verblieben den Provinzen zur Entscheidung.<br />

Die Parallelen sind augenfällig,<br />

die zeitliche Verschränkung mit den polnischen<br />

Ereignissen ist bemerkenswert.<br />

Zwar waren auf der einen Seite der Adel,<br />

auf der anderen das Bürgertum fortan mit<br />

der Führung der Geschicke des Landes<br />

betraut, die Anzahl der partizipierenden<br />

Personen im Verhältnis zur Gesamtbevölkerung<br />

wich aber nur geringfügig voneinander<br />

ab. Ca. 10 % der Bevölkerung gehörten<br />

in Polen dem Adel an und besaßen<br />

so Mitwirkungsrechte an der Politik. Höher<br />

ist der Partizipationsgrad in der Republik<br />

33


keinesfalls anzusetzen. In beiden Ländern<br />

lassen sich dagegen im 17. und vermehrt<br />

im 18. Jahrhundert Abschottungstendenzen<br />

ausmachen, durch die sich der Kreis der<br />

wirklich einflussreichen Personen verengte.<br />

Eine abnehmende soziale Mobilität, eine<br />

zunehmende Oligarchisierung, die Aufspaltung<br />

der Stimmberechtigten in Patrone und<br />

Klientel, die Bildung von Interessengruppen<br />

etc. sollten aber nicht allzu schnell <strong>als</strong> Ausdruck<br />

zunehmender Funktionsunfähigkeit<br />

beider Staaten interpretiert werden. In Polen<br />

stieg schon im Laufe des 16. Jahrhundert der<br />

Wert umfassender Bildung innerhalb des<br />

Adels erheblich an, <strong>als</strong> das Rede- und Überzeugungsvermögen<br />

im Sejm an Bedeutung<br />

gewannen. Diese strengen Regeln folgende<br />

Redekunst erwarben sich Adlige an bedeutenden<br />

Universitäten im Ausland wie auch<br />

an der eigenen blühenden Krakauer Universität.<br />

In den Niederlanden wurde 1575 die<br />

Universität Leiden ebenfalls mit dem Ziel<br />

gegründet, fähige Staatsbeamte und Politiker<br />

hervorzubringen, die den komplexen<br />

Anforderungen einer partizipativen Regierungsform<br />

gewachsen waren. Eine weitere<br />

strukturelle Übereinkunft beider Ständestaaten<br />

lag in der von Zeitgenossen bewunderten<br />

oder verdammten religiösen Toleranz.<br />

Polen-Litauen war europaweit bekannt<br />

<strong>als</strong> Sammelbecken aller devianter Glaubensrichtungen<br />

des 16. Jahrhunderts. Dennoch<br />

kam der katholischen Kirche eine bevorrechtigte<br />

Stellung zu, nur deren Bischöfe<br />

hatten Sitz und Stimme im Senat. In den<br />

Niederlanden fungierte die calvinistische<br />

Kirche <strong>als</strong> einzige offiziell anerkannte Kirche,<br />

die aber keine Staatskirche war. Beide<br />

gingen in ihrer Toleranz jedoch weit über<br />

das Übliche hinaus.<br />

Beide Republiken traf schon der zeitgenössische<br />

Vorwurf ineffizienter Organisation<br />

und langsamer, von eigensüchtigen Interessen<br />

der jeweiligen Vertreter geprägter<br />

und gebremster Entscheidungsfindung. Die<br />

Berichte der Botschafter fremder Mächte<br />

sind voller Verweise und geprägt von grundsätzlichem<br />

Misstrauen gegenüber allen republikanischen<br />

Herrschaftsmodellen. Negativ<br />

war das sicher aus der Position des absolutistischen<br />

Machtstaates, anders stellte sich das<br />

allerdings aus der Sicht der Beteiligten dar.<br />

Bis weit in das 20. Jahrhundert hinein<br />

wurden Erfolg und Misserfolg der Union<br />

aus der Perspektive der polnischen Teilungen<br />

und der Katastrophen des 20. Jahrhunderts<br />

bilanziert. Je nach Standort – polnisch oder<br />

litauisch, russisch oder deutsch – fielen die<br />

Wertungen unterschiedlich aus. Wichtig<br />

scheint mir jedoch: der polnische Ständestaat<br />

funktionierte, und zwar von ca. 1500<br />

bis 1795 fast 300 Jahre lang! Die Vorwürfe<br />

von Ineffizienz und Verteidigungsunfähigkeit<br />

treffen nur begrenzt zu. Sehr lange war<br />

Polen durchaus in der Lage, sich bei Konflikten<br />

abseitig zu halten oder sich seiner<br />

Gegner wirkungsvoll zu erwehren. Polen<br />

konnte allerdings keine expansive Außenpolitik<br />

führen. Und erst <strong>als</strong> alle umliegenden<br />

Staaten die Teilungen beschlossen hatten,<br />

war ihnen Polen ausgeliefert. Übrigens:<br />

Preußen stand noch im Siebenjährigen<br />

Krieg kurz vor dem gleichen Schicksal. Die<br />

russische Armee marschierte bereits Richtung<br />

Berlin und wurde nur vom in jenen<br />

Tagen zufällig auf den Thron gelangten und<br />

von Friedrich II. besessenen Zaren Peter III.<br />

gestoppt und gegen Österreich, den ehemaligen<br />

Verbündeten, gewendet.<br />

Bei näherer Betrachtung erweist sich,<br />

dass die polnische Republik sehr lange in<br />

der Lage war, den Erfordernissen eines<br />

(früh)neuzeitlichen Staates zu genügen. Nur<br />

wählte sie dazu eben nicht den Weg einer<br />

nationalen zentralen Monarchie, die sich<br />

im 19. Jahrhundert zum Leitmodell entwickelte<br />

und unser Bild vom erfolgreichen<br />

Staat bis weit in das 20. Jahrhundert bestimmen<br />

sollte. Mit seinem Weg stand Polen allerdings<br />

– theoretisch gesprochen – keineswegs<br />

am Rande europäischer Entwicklung,<br />

sondern ging einen Weg, den andere Staaten<br />

wie die Niederlande oder die Schweizer Eidgenossenschaft<br />

ebenfalls beschritten.<br />

34


Zwischen Szeroka- und Krawiecka-Straße:<br />

Erinnerung an 500 Jahre jüdisches Leben in<br />

Lublin<br />

von Ruth Jung<br />

Eine Straße, Grodska, führt mich abwärts. Kinder spielen herum. Es wird<br />

bunt, sehr lebhaft; ich bin in die Judenstadt geraten. Häuser sind gelb und rosa<br />

bemalt. Ein Tor biegt sich über die Straße grellrot; oben wohnen Menschen ...<br />

Ich sehe auch die Wohnung auf dem Torbogen, die Menschen, die zum Fenster<br />

hinaussehen, die Menschen in den Nachbarhäusern. Jammer über Jammer! Und<br />

da wagt man von der architektonischen Schönheit des Tores zu sprechen. (Alfred<br />

Döblin, Reise in Polen, 1925)<br />

Döblin, der Berliner, der seine Stadt nur<br />

selten und ungern verließ, wollte wissen, wer<br />

„die Juden“ seien – die, zu denen er doch gehörte,<br />

er, der Assimilierte, der Ungläubige,<br />

der Westjude. 1925 besuchte und beschrieb<br />

er ein fremdes Land, eine ihm fremde Welt.<br />

Die Essays seiner „Reise in Polen“ wurden<br />

wider Willen zum literarischen Denkmal<br />

des polnischen Judentums. Seine Skizzen<br />

Lubliner jüdischen Lebens zeigen allerdings<br />

eine fragmentierte,<br />

großenteils<br />

verarmte, somit sehr<br />

typische Gemeinde<br />

der 1920er Jahre, deren<br />

Lebensumstände<br />

und Ignoranz ihn,<br />

den säkularen Intellektuellen,<br />

geradezu<br />

deprimierten. Tatsächlich<br />

stimmen<br />

populäre und wissenschaftliche<br />

Darstellungen<br />

polnisch-jüdischer Geschichte darin<br />

überein, das Ende des 18. Jahrhunderts zum<br />

Ende einer Blütezeit zu erklären. Die bewegten<br />

Jahrzehnte zwischen 1795 und 1939<br />

finden demgegenüber weit weniger Beachtung.<br />

Zumal die Geschichte von Shoa und<br />

Weltkrieg alles in ihren Schatten zu stellen<br />

scheint.<br />

Was Zahlen sagen<br />

Titelseite des Lubliner Tugblat, Lublins jiddischer Tageszeitung<br />

(1918)<br />

Für Lublin bedeutete die systematische<br />

Ermordung der europäischen Juden das<br />

Ende einer etwa 500 Jahre alten Gemeinde,<br />

die mit zuletzt 45.000 Mitgliedern circa ein<br />

Drittel der Einwohner<br />

umfaßte. Die<br />

die Shoa überlebten<br />

und nach Lublin<br />

zurückkehrten oder<br />

zuwanderten, verließen<br />

Polen während<br />

der Nachkriegsjahre<br />

oder aber 1968<br />

wegen des anhaltenden,<br />

immer wieder<br />

gewalttätigen,<br />

mit Billigung oder<br />

sogar auf Initiative der Regierung propagierten<br />

Antisemitismus. So bleibt nur die<br />

Erinnerung, z. B. das 1997 gestartete Projekt<br />

des Lubliner Zentrums „Brama Grodzka“,<br />

das Architektur und Charakter von Alt-<br />

35


stadt und Judenviertel dokumentieren und<br />

präsentieren will.<br />

Dieses Judenviertel, die jüdische Bevölkerung<br />

der Stadt und des Bezirks Lublin,<br />

zählte schon im 15. Jahrhundert zu den<br />

größten in Polen und hatte eine kunsthistorisch<br />

bedeutende Synagoge vorzuweisen,<br />

die „Maharshal Shul“ von 1567. Obwohl die<br />

Juden mit einem Bevölkerungsanteil von<br />

ungefähr 10 Prozent die größte Minderheit<br />

Polens bildeten, gab es Landstriche, in denen<br />

sie keine Rolle spielten, während die Juden<br />

in Wilna, Posen, Lublin, Krakau und<br />

Lemberg mit 30 bis 50 Prozent der Einwohnerschaft<br />

das Leben der Stadt prägten. Die<br />

Shtetl, Kleinstädte mit überwiegend oder<br />

ausschließlich jüdischer Bevölkerung, entstanden<br />

erst im 18. und 19. Jahrhundert.<br />

Charakteristika jüdischen Lebens in Polen<br />

Die für Europa ungewöhnliche Größe<br />

der jüdischen Gemeinschaft in Polen erklärt<br />

sich aus der lange Zeit vergleichsweise<br />

judenfreundlichen Politik der polnischen<br />

Könige. Juden, die 1492 aus Südeuropa,<br />

blieb auch die jüdische Gemeinschaft Polens<br />

nicht von Ritualmordprozessen, Verfolgungen<br />

und Anfeindungen verschont<br />

– darunter das große Trauma des Ostjudentums<br />

schlechthin: 1648, der Aufstand und<br />

Raubzug des ukrainischen Kosaken-Hetman<br />

Chmielnicki, dessen Gewaltexzesse<br />

ein Viertel der jüdischen Bevölkerung das<br />

Leben kosteten.<br />

Lublin – Zentrale jüdischer Selbstverwaltung<br />

Trotzdem ermöglichte der vom Königshaus<br />

verbürgte Schutz der jüdischen<br />

Gemeinden und ihrer Autonomie einen<br />

wirtschaftlichen Aufstieg, der sich in vielen<br />

Lebensbereichen widerspiegelte. So<br />

entwickelte sich Lublin zu einer zentralen<br />

Markt- und Messestadt, in der sich, zunächst<br />

zufällig, die Vertreter der jüdischen<br />

Gemeinden der ganzen Region einfanden.<br />

Um die Steuererhebung zu vereinfachen,<br />

errichtete König Sigismund I (1506-1548)<br />

daraufhin vier jüdische Autonomie-Bezirke,<br />

<strong>als</strong> deren oberstes Verwaltungsorgan<br />

das Lubliner Treffen, der sogenannte „Vierländersejm“<br />

oder „Waad arba arazot“, institutionalisiert<br />

wurde. Diese Art Landtag mit<br />

Gericht regelte jedoch nicht nur die Steuerverwaltung,<br />

sondern praktisch alle Belange<br />

jüdischen Lebens und hatte seinen Sitz von<br />

1530 bis 1764 in Lublin. Heute schwer nachvollziehbar<br />

wurde gleichzeitig das städtische<br />

Privilegium de non tolerandis Judaeis<br />

aufrechterhalten, weshalb es Juden bis 1862<br />

verboten blieb, innerhalb der Stadtmauern<br />

eine Wohnung zu beziehen.<br />

Jeshiva Chachmej Lublin heute: zusammen mit dem<br />

Alten Friedhof letztes Zeugnis jüdischen Lebens im<br />

Stadtbild von Lublin<br />

Böhmen und Teilen des Deutschen Reiches<br />

vertrieben wurden, fanden hier Zuflucht,<br />

Auskommen und Rechtssicherheit. Sie ersetzten<br />

das in Polen unterentwickelte Stadtbürgertum,<br />

etablierten sich in Handwerk<br />

und Handel und reüssierten <strong>als</strong> Verwalter<br />

und Berater von Adel und Regierung. Juden<br />

übernahmen somit eine wirtschaftliche<br />

Schlüsselfunktion, die sie in Verbindung<br />

mit ihrer religiösen Andersartigkeit leicht<br />

angreifbar machte. Dementsprechend<br />

Lublin – Zentrum jüdischen Geisteslebens<br />

Im 16. Jahrhundert kam es außerdem zur<br />

Gründung mehrerer theologischer Hochschulen,<br />

die in der gesamten jüdischen Welt<br />

großes Ansehen genossen. An der Lubliner<br />

Jeshiva lehrte dam<strong>als</strong> Shalom Shashna<br />

(1500-1558), der „Doctor Judaeorum Lublinensium“,<br />

aus dessen Schule zwei der berühmtesten<br />

Rabbiner Polens hervorgingen:<br />

Moses Isserles, Mitverfasser einer der bedeutendsten<br />

Gesetzesauslegungen des Judentums<br />

(Shulchan Aruch), und Salomon<br />

Luria, der in der Auseinandersetzung mit<br />

36


anderen hermeneutischen Schulen für eine<br />

streng rationale und problemorientierte Auslegung<br />

rabbinischer Literatur stritt (Gegner<br />

des Pilpul). Trotzdem wird der Ehrentitel<br />

„Polnisches Jerusalem“ meist Wilna vorbehalten.<br />

Nach der Reformation, <strong>als</strong> die Konföderation<br />

von Warschau 1573 durch die Anerkennung<br />

der Glaubensfreiheit und der damit<br />

einhergehenden Pluralisierung religiösen Lebens<br />

die Lage der jüdischen Gemeinden zunächst<br />

erleichterte, provozierte die Gegenreformation<br />

einen polnischen Antijudaismus,<br />

wie es ihn bis dahin kaum gegeben hatte.<br />

In dieser Zeit sammelten sich in Lublin die<br />

sogenannten „Judaisierer“, protestantische<br />

und orthodoxe Priester und Gläubige, die<br />

die Trinität ablehnten, die Göttlichkeit Jesu<br />

bestritten, das Primat des Alten Testaments<br />

predigten und den Austausch mit jüdischen<br />

Autoritäten suchten. Die jüdischen Gemeinden<br />

standen dieser Bewegung zunächst<br />

wohlwollend gegenüber, begaben sich somit<br />

aber zwischen die Fronten von katholischer<br />

Obrigkeit und sektiererischen Gruppen,<br />

weshalb sie sich schon bald wieder von diesen<br />

distanzierten.<br />

200 Jahre später wurde die Lubliner Gemeinde<br />

von einer ganz anderen Kontroverse<br />

erschüttert. Diese hatte sich zwischen<br />

den Hamburger Rabbinern Emden und Eybeschütz<br />

entsponnen, wobei man letzteren<br />

verdächtigte, Sabbatianer, <strong>als</strong>o Anhänger<br />

des vermeintlichen Messias Sabbatai Zwi zu<br />

sein, messianische Erwartungen zu schüren<br />

und sich mit magischen Praktiken abzugeben.<br />

Der lange, ja erbitterte, mit gegenseitigen<br />

Bannungen einhergehende Konflikt<br />

– Krisensymptom jüdischer Gemeinde- und<br />

Glaubensautorität – spaltete viele Gemeinden<br />

in ganz Europa, wobei Lublin mehrfach<br />

die Seiten wechselte. Als Mitte des 19. Jahrhunderts<br />

die sogenannten Frankisten, eine<br />

der letzten sabbatianischen Bewegungen,<br />

nach Lublin kommen wollten, hatten sich<br />

die Lubliner sogar auf handgreifliche Auseinandersetzungen<br />

eingestellt und bewaffnet.<br />

Die Bedeutung Lublins <strong>als</strong> Zentrum jüdischer<br />

Gelehrsamkeit und Frömmigkeit<br />

läßt sich auch an den dort ansässigen Druckereien<br />

und ihren Erzeugnissen ablesen,<br />

darunter eine der ersten Ausgaben des jüdischen<br />

Gebetbuches (Machsor, 1550), des<br />

Pentateuch (1557) und Talmud (1559-1577).<br />

Verfolgt man das Verlagsspektrum über die<br />

Jahrhunderte, zeigt sich, daß Lublin ein Ort<br />

traditionell rabbinischer Studien blieb. Die<br />

großen Kontroversen um Chassidismus und<br />

Aufklärung spielten sich andernorts ab –<br />

auch wenn der Lubliner Rabbi Isaak Jakob,<br />

der „Seher von Lublin“, entscheidend dazu<br />

beitrug, den Chassidismus weit über Südpolen<br />

hinaus zu verbreiten.<br />

Nach dem Goldenen Zeitalter<br />

Zur Zeit der polnischen Teilungen, zu<br />

Beginn des 19. Jahrhunderts, hatte das jetzt<br />

zu Österreich gehörende Lublin seinen<br />

Rang im jüdischen Geistesleben eingebüßt.<br />

Stattdessen gewann die Stadt an Bedeutung<br />

für den polnisch-russischen Handel.<br />

Im jüdischen Viertel (1930er Jahre)<br />

Mit ihm etablierten sich einige jüdische Industrielle,<br />

vor allem in der Zigaretten- und<br />

Lederwarenproduktion, sowie eine jüdische<br />

Arbeiterbewegung. Die Juden Lublins organisierten<br />

sich wie andernorts auch in jüdischen<br />

Parteien und Verbänden, so in der<br />

orthodox-konservativen Agudat Jisroel, in<br />

der Folkspartei, im sozialistischen Bund,<br />

und in den zionistischen Arbeiterparteien<br />

säkularen oder religiösen Zuschnitts (Poalei<br />

und Mizrachi). Diesen Gruppierungen kamen<br />

gerade in der Zwischenkriegszeit, der<br />

37


Ein Wasserträger und<br />

„typischer“ Bewohner des<br />

verarmten jüdischen Viertels<br />

(1930er Jahre)<br />

Zeit der polnischen Unabhängigkeit, wichtige<br />

Funktionen zu. Während die Integrationskraft<br />

der Synagogengemeinde nachließ,<br />

übernahmen sie die Gestaltung des sozialen<br />

und kulturellen Lebens, vor allem in den<br />

Städten.<br />

Mitte des 19. Jahrhunderts hatte man begonnen,<br />

an jüdischen Schulen auch säkulare<br />

Fächer zu unterrichten, zum Teil auf<br />

Polnisch oder Russisch. Ende des 19. Jahrhunderts<br />

wurde die erste zionistisch inspirierte,<br />

hebräisch-sprachige Schule Lublins<br />

gegründet und ein Schulsystem für<br />

Mädchen eingeführt. Alle jüdischen Einrichtungen<br />

litten dabei immer wieder unter<br />

dem zunehmenden Antisemitismus des<br />

19. und beginnenden 20. Jahrhunderts, in<br />

Lublin speziell unter den Übergriffen der<br />

Studenten der Katholischen Universität.<br />

Die 1930 eingeweihte orthodoxe Rabbinerhochschule<br />

„Jeshiva Chachmej Lublin“,<br />

für deren Gründung, Errichtung und Ausstattung<br />

Rabbi Meir Shapiro (1887-1933)<br />

Wohltäter in aller Welt gewinnen konnte,<br />

zählte zu den letzten großen Projekten der<br />

Lubliner Gemeinde und zu den modernsten<br />

Einrichtungen ihrer Art – dazu Döblin:<br />

Es schneit stärker. Trübe warten Verkäufer<br />

in den dunklen Läden, warten vor der Tür.<br />

Fast am Ende der Straße baut man die große<br />

jüdische Hochschule, die der Orthodoxen, eine<br />

Welt-Jeschiwe. Auf der einen Seite der Stadt<br />

steht die katholische Universität, hier diese.<br />

Tausend Menschen, Schüler und Lehrer, sollen<br />

darin unterkommen. Es ist die Provinz.<br />

Die Großstadt betreibt Politik, in der Provinz<br />

folgt die langsame Religion.<br />

Doch die Politik überrollte die „langsame<br />

Religion“ – 1939, kurz nach dem Einmarsch<br />

der Deutschen, mußte die Jeshiva geschlossen<br />

werden, Name und Tradition übertrug<br />

man nach dem Zweiten Weltkrieg auf die<br />

Rabbinerhochschule Detroit, das Gebäude<br />

zählt zu den wenigen Zeugnissen jüdischen<br />

Lebens im heutigen Stadtbild von Lublin.<br />

Belzec – Majdanek – Sobibor<br />

Mit dem Angriff Deutschlands auf Polen<br />

begann der Zweite Weltkrieg und die Auslöschung<br />

einer der größten, ältesten und<br />

vielfältigsten jüdischen Gemeinschaften<br />

Europas. In Lublin wie in anderen Orten<br />

bedeutete dies zuerst die Auflösung der<br />

Gemeinde (1/1940), dann die Errichtung<br />

eines Ghettos (3/1941). Da Stadt und Bezirk<br />

Lublin einen sehr hohen jüdischen Bevölkerungsanteil<br />

hatten, begann man sofort mit<br />

Deportationen. Bis April 1940 wurde noch<br />

darüber verhandelt, alle polnischen Juden<br />

in eine Art „Jüdisches Reservat Lublin“ zu<br />

sperren (vgl. Madagaskar-Plan für reichsdeutsche<br />

Juden!), doch ab 1941/1942 hatten<br />

Transporte in das Gebiet Lublin nur noch<br />

ein Ziel.<br />

Der Zauber(er) von Lublin<br />

Allen, die sich jenseits der Archive und<br />

historischen Abhandlungen auf die Suche<br />

nach den Menschen und Geschichten des<br />

jüdischen Lublin machen wollen, seien die<br />

Romane und Erzählungen von Isaac Bashevis<br />

Singer empfohlen. Da er selbst einige<br />

Jahre in der Kleinstadt Bilgoraj verbracht<br />

hatte, tauchen Lublin und die Shtetl der<br />

Umgebung immer wieder in seinen Werken<br />

auf, so im „Satan in Goraj“ und im „Zauberer<br />

von Lublin“. Singer, der zeitlebens auf<br />

Jiddisch schrieb, wurde 1978 der Literatur-<br />

Nobelpreis verliehen. Wie Alfred Döblin<br />

und Joseph Roth zeugt er mit seinen Werken<br />

von einer gewaltsam abgebrochenen<br />

Tradition, von einer unwiederbringlich zerstörten<br />

Welt.<br />

Literatur<br />

Döblin, Alfred: Reise in Polen, 1925<br />

Singer, Isaac Bashevis: Der Zauberer von<br />

Lublin, 1960<br />

Encyclopaedia Judaica, s. v. Lublin<br />

Haumann, Heiko: Geschichte der Ostjuden,<br />

München 1990<br />

Polonsky, Antony u. a. (Hg.): The Jews in<br />

Old Poland 1000-1795, London/New York<br />

1993<br />

Weinryb, Bernard D.: The Jews of Poland,<br />

A social and economic History of the Jewish<br />

Community in Poland 1100-1800,<br />

Philadelphia 1972<br />

38


Der Distrikt Lublin während des Zweiten<br />

Weltkrieges und die Vernichtung der<br />

polnischen Juden<br />

von Sven Keller<br />

Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges lebten in Polen rund 2 Millionen Juden.<br />

Nur zwei bis drei von Hundert dieser Menschen überlebten den Holocaust. Im<br />

Distrikt Lublin des Generalgouvernements befanden sich mit den Vernichtungslagern<br />

Belzec und Sobibor sowie dem Konzentrations- und Vernichtungslager<br />

Majdanek einige der wichtigsten Zentren des Massenmordes.<br />

In den frühen Morgenstunden des 1. September<br />

1945 überfiel das Deutsche Reich Polen.<br />

Die Armee des östlichen Nachbarn hatte<br />

der mit modernsten Waffen ausgestatteten<br />

Wehrmacht kaum etwas entgegenzusetzen,<br />

obwohl der deutsche Angriff die Polen nicht<br />

unvorbereitet traf. Am 28. September fiel<br />

Warschau, eine Woche später war der erste<br />

„Blitzkrieg“ beendet. Bereits am 17. September<br />

hatte auch die Rote Armee die polnische<br />

Ostgrenze überschritten: Schon vor Kriegsbeginn<br />

hatten die Diktatoren Hitler und<br />

Stalin die zukünftige Beute verteilt, und das<br />

deutsch-sowjetische Abkommen von Brest-<br />

Litowsk vom 8. Oktober 1939 besiegelte die<br />

vierte polnische Teilung. Die dort endgültig<br />

festgelegte Demarkationslinie, die fortan<br />

den deutschen vom sowjetischen Machtbereich<br />

trennte, verlief entlang der Flüsse Bug<br />

und San – und entsprach damit ziemlich genau<br />

der Grenze, die auch heute noch Polen<br />

von Weißrussland und der Ukraine trennt.<br />

Schnell hatte die polnische Bevölkerung<br />

zu spüren bekommen, dass das nation<strong>als</strong>ozialistische<br />

Deutschland keinen „normalen“<br />

Krieg führte: In einem rassischen Verdrängungs-<br />

und Vernichtungsfeldzug sollte die<br />

nation<strong>als</strong>taatliche Existenz Polens, ja sogar<br />

die Erinnerung daran ausgelöscht und<br />

die „lebendigen Kräfte“ des Landes beseitigt<br />

werden; diese Aufgabe fiel vor allem<br />

Der Überfall auf Polen 1939. Quelle: Horst Möller u.a. (Hrsg.), Die<br />

tödliche Utopie. Bilder, Texte, Dokumente, Daten zum Dritten Reich,<br />

München 1999, S. 434 f.<br />

den Einsatzgruppen der SS zu, die mit der<br />

Ausrottung „reichs- und deutschfeindlicher<br />

Elemente“ und der „polnischen Intelligenz“<br />

beauftragt waren; allein bis zum Frühjahr<br />

39


Odilo Globocnik<br />

1940 ermordeten sie zwischen 60.000 und<br />

80.000 Menschen. Mittelfristiges Ziel der<br />

Besatzungspolitik war es, unter zunächst<br />

größtmöglicher Ausplünderung der wirtschaftlichen<br />

Ressourcen neuen „Lebensraum“<br />

für das deutsche Volk zu „germanisieren“.<br />

Die zu dezimierende polnische<br />

Bevölkerung sollte ausgebeutet, auf ein<br />

Helotendasein herabgedrückt und im Stil<br />

eines korrupten, primitiv-despotischen Kolonialregimes<br />

beherrscht werden.<br />

Mit der geglückten Eroberung „neuen<br />

Lebensraums“ im Osten boten sich nun<br />

ganz neue Perspektiven und Möglichkeiten<br />

für die Verwirklichung der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Utopie, mithin für die rassische<br />

Neuordnung Deutschlands, bald Europas.<br />

Nach dem Ende der militärischen Operationen<br />

gliederten die deutschen Besatzer weite<br />

Teile West- und Zentralpolens <strong>als</strong> neue<br />

Reichsgaue Wartheland und Danzig-Westpreußen<br />

dem Reich ein. Die „rassisch minderwertigen“<br />

Polen wurden verdrängt und<br />

vertrieben, vor allem ins unter deutscher<br />

Zivilverwaltung stehende, aus dem größten<br />

Teil Zentralpolens gebildete Generalgouvernement.<br />

Binnen kürzester Zeit entwickelte<br />

sich das Generalgouvernement zum Experimentierfeld<br />

der rassistischen NS-Vernichtungspolitik,<br />

der – ohne dabei die Leiden<br />

der übrigen polnischen Bevölkerung gering<br />

zu schätzen – in besonderem Ausmaß die<br />

polnischen Juden zum Opfer fielen.<br />

Rund 2 Millionen polnische Juden gerieten<br />

mit der Eroberung des östlichen Nachbarn<br />

in den deutschen Herrschaftsbereich;<br />

damit hatte sich die Zahl der Juden, die<br />

dem nation<strong>als</strong>ozialistischen Zugriff ausgeliefert<br />

waren, schlagartig versechsfacht. Insbesondere<br />

der Distrikt Lublin, der zuvor im<br />

Herzen Polens gelegen hatte und nun an die<br />

äußerste Peripherie des deutschen Machtbereichs<br />

gerückt war, geriet schon früh in den<br />

Focus der bald einsetzenden Planungen einer<br />

„territorialen“ Endlösung der Judenfrage:<br />

Zwischen Weichsel und Bug sollte<br />

ein „Judenreservat“, wahlweise auch <strong>als</strong><br />

„Reichs-Ghetto“ oder „Naturschutzgebiet“<br />

tituliert, für die Juden aus dem Reich eingerichtet<br />

werden. Offen formuliertes Ziel war<br />

der indirekte Völkermord, denn das unwirtliche,<br />

sumpfige Gebiet – so das Kalkül<br />

– würde quasi von selbst zu einer starken<br />

Dezimierung der Juden führen. Über einige<br />

„Probedeportationen“, die Nisko am San<br />

zum Ziel hatten, kam der Plan jedoch nicht<br />

hinaus; er scheiterte an der Opposition der<br />

Zivilverwaltung des Generalgouvernements<br />

gegen ein Judenreservat auf ihrem Gebiet.<br />

Ersatzweise rückte in Berlin mit dem Westfeldzug<br />

der Plan in den Vordergrund, die<br />

europäischen Juden auf die französische Insel<br />

Madagaskar zu deportieren.<br />

Im Generalgouvernement verlagerte<br />

sich die Steuerung der Judenverfolgung<br />

damit auf die lokale Ebene, wo die Verantwortlichen<br />

vor Ort ein erhebliches Maß<br />

an Initiative bei der Lösung des „Judenproblems“<br />

entwickelten. Als die Deportation<br />

der Juden nach dem Scheitern auch<br />

des Madagaskar-Projekts auf unbestimmte<br />

Das Generalgouvernement<br />

Zeit aufgeschoben wurde, begann die Besatzungsverwaltung<br />

vor Ort, die Juden in<br />

Ghettos zu pferchen: Dies sollte sowohl die<br />

Ausbeutung ihrer Arbeitskraft rationalisieren<br />

<strong>als</strong> auch durch katastrophale Lebensbedingungen<br />

zu möglichst vielen Todesopfern<br />

führen. In der Stadt Lublin bestand ein abgegrenzter<br />

jüdischer Wohnbezirk seit dem<br />

März 1941; er war in direktem Zusammenhang<br />

mit dem beginnenden Aufmarsch der<br />

Wehrmacht für das Unternehmen Barbarossa<br />

errichtet worden.<br />

40


Der entscheidende Wandel hin zum direkten<br />

Massenmord an den Juden vollzog<br />

sich in Polen im Herbst 1941. Zu diesem<br />

Zeitpunkt war bereits absehbar, dass der<br />

zwischenzeitlich gefasste Plan, alle Juden<br />

des deutschen Herrschaftsbereichs in die<br />

Sowjetunion (etwa in die Pripjet-Sümpfe<br />

oder das Eismeer) zu deportieren, angesichts<br />

der Kriegslage Makulatur war. Gleichzeitig<br />

hatten die Einsatzgruppen in den besetzten<br />

Gebieten der Sowjetunion damit begonnen,<br />

systematisch die jüdische Bevölkerung – seit<br />

Juli 1941 nicht nur Männer, sondern ohne<br />

Unterschied auch Alte, Frauen und Kinder<br />

– zu ermorden. Angesichts dieser Lage bat<br />

der SS- und Polizeiführer (SSPF) des Distrikts<br />

Lublin, Odilo Globocnik, Himmler<br />

darum, nun auch selbst „radikale Maßnahmen“<br />

ergreifen zu dürfen, um die Juden<br />

loszuwerden: Auf Globocniks Initiative hin<br />

wurden in den ganz am Rande seines Distrikts<br />

gelegenen Dörfern Belzec und Sobibor<br />

Vernichtungslager eingerichtet.<br />

Bereits im Juli 1941 hatte Himmler den<br />

ehrgeizigen, durch seine Ausrottungsforderungen<br />

hervorgetretenen Globocnik damit<br />

beauftragt, in Lublin ein Konzentrationslager<br />

für 25.000 bis 50.000 Häftlinge einzurichten,<br />

die Zwangsarbeit für die SS verrichten<br />

sollten; im September des gleichen<br />

Jahres wurde mit der Errichtung eines ersten<br />

Lagers für 5.000 Häftlinge begonnen.<br />

Bis Sommer 1942 waren allerdings nur rund<br />

2.000 Häftlinge in dem neuen KL inhaftiert,<br />

in erster Linie russische Kriegsgefangene<br />

der Waffen-SS, und Himmlers „Planvorgabe“<br />

sollte nie erreicht werden.<br />

Das Lubliner Ghetto (Quelle: http://www.jewishvirtuallibrary.org/jsource/Hoålocaust/Lublin1.html<br />

)<br />

Ab Mai/Juni 1942 liefen im gesamten Generalgouvernement<br />

die Vorbereitungen für<br />

eine Räumung der Ghettos an; dazu gehörte<br />

die Einteilung der jüdischen Menschen in<br />

drei Gruppen: „kriegswichtig“ – „arbeitsfähig“<br />

– „arbeitsunfähig“. Die Kompetenz<br />

für die Judenpolitik übertrug Himmler<br />

nun – wiederum auf Initiative Globocniks<br />

– endgültig an die SSPF und befahl bis<br />

zum Jahresende die Beseitigung aller nicht<br />

arbeitsfähigen Juden des Generalgouvernements.<br />

Ab dem 22. Juli wurde das Waraus:<br />

Marszalek 1981; http://www.sciences-po.fr/cartographie/cartes/europe/europe/conflits/camp_conc_majdanek.jpg<br />

41


schauer Ghetto geräumt und die Insassen in<br />

dem eigens dafür errichteten Vernichtungslager<br />

Treblinka ermordet.<br />

Im Vernichtungslager Belzec im Distrikt<br />

Lublin hatten die Deutschen in einer Art<br />

„Testphase“ schon im März 1942 damit begonnen,<br />

erste Vergasungen vorzunehmen.<br />

Im Mai 1942 folgte Sobibor – die planmäßige<br />

Ermordung aller „nicht arbeitsfähigen“ Juden<br />

im Distrikt Lublin begann. Was folgte,<br />

war die Vernichtung der polnischen Juden<br />

überhaupt: In den sieben Wochen von Ende<br />

Juli bis Mitte September ereigneten sich die<br />

schlimmsten Massenmorde des Holocaust:<br />

Allein am 19. August beispielsweise, einem<br />

einzigen Tag, fanden über 25.000 Menschen<br />

den Tod – und fast täglich ereigneten<br />

sich in diesen Wochen derartige Massaker,<br />

bei denen die Opfer nach Tausenden und<br />

Zehntausenden zählten. Zum Jahreswechsel<br />

1942/43 lebten von ursprünglich 2 Millionen<br />

polnischen Juden noch etwa 300.000,<br />

doch auch im folgenden Jahr wurde die Auflösung<br />

der „jüdischen Wohnbezirke“ fortgesetzt.<br />

Im Warschauer Ghetto kam es im<br />

Frühjahr zum Aufstand, der blutig niedergeschlagen<br />

wurde. Bis Mitte Juni 1943 war<br />

Himmlers Vernichtungsbefehl ausgeführt:<br />

Binnen eines Jahres war das polnische Judentum<br />

beinahe ausgelöscht. Bestenfalls<br />

130.000 Juden hatten bisher überlebt, größtenteils<br />

in deutschen Zwangsarbeitslagern,<br />

der kleinere Rest in der Illegalität.<br />

Im Konzentrationslager Lublin/Majdanek<br />

– das seinen Beinamen dem Lubliner<br />

Stadtteil Majdan Tatarski verdankt – war<br />

die Zahl der Häftlinge seit Mitte 1942 auf<br />

über 10.000 angestiegen. Die Häftlinge waren<br />

nunmehr überwiegend Juden und Polen.<br />

Im Sommer 1942 wurden erstm<strong>als</strong> auch<br />

Frauen eingeliefert und ein Frauenlager errichtet.<br />

Im September oder Oktober begann<br />

die SS, auch in Majdanek Häftlinge durch<br />

Gas – Zyklon B – zu ermorden. Von den<br />

eintreffenden Transporten wurde nur ein<br />

vergleichsweise niedriger Anteil von rund<br />

einem Drittel zur Zwangsarbeit ins Lager<br />

eingewiesen – alle anderen wurden sofort<br />

für die Gaskammern selektiert.<br />

Anfang 1943 machte sich die SS daran,<br />

auch die letzten im Distrikt Lublin noch<br />

bestehenden Ghettos und Zwangsarbeitslager<br />

zu liquidieren. Erst die Katastrophe<br />

von Stalingrad brachte im Laufe des Jahres<br />

1943 ein gewisses, ökonomischen Zwängen<br />

geschuldetes Umdenken: Die noch vorhandenen<br />

jüdischen Arbeitslager sollten erhalten<br />

bleiben und in Außenlager des KL<br />

Lublin umgewandelt werden. Die Arbeitskraft<br />

der Häftlinge sollte nun vor der nach<br />

wie vor <strong>als</strong> letztlich unausweichlich angesehenen<br />

Tötung verstärkt ausgebeutet und<br />

in den Dienst der Rüstungswirtschaft und<br />

des Totalen Krieges gestellt werden. Ein<br />

abruptes Ende fand diese Zwischenphase<br />

der Geschichte des Judenmordes im Distrikt<br />

Lublin noch vor dem Jahreswechsel<br />

1943/44: Als es im Herbst 1943 zu verzweifelten<br />

Widerstandsaktionen in den noch<br />

„Aktion Erntefest“: Jüdische Häftlinge warten auf ihre<br />

Erschießung Quelle: Marszalek 1981<br />

bestehenden Ghettos des Generalgouvernements<br />

und schließlich sogar zu Häftlingsrevolten<br />

in den Vernichtungslagern Sobibor<br />

und Belzec kam, befahl Himmler die sofortige<br />

Ermordung aller noch lebenden Juden<br />

im östlichen Generalgouvernement, insbesondere<br />

im Distrikt Lublin.<br />

Himmlers Befehl wurde ausgeführt: In<br />

der „Aktion Erntefest“ ermordete die SS am<br />

3./4. November – abgesehen von wenigen<br />

Ausnahmen – die letzten noch lebenden<br />

Juden im Distrikt Lublin. In den drei Lagern<br />

Poniatowa, Trawniki und Majdanek<br />

wurden an diesen beiden Tagen zwischen<br />

40.000 und 43.000 Menschen – in Majdanek<br />

allein 17.000 bis 18.000, darunter die<br />

8.000 jüdischen Häftlinge des Lagers – Opfer<br />

einer der größten Massenerschießungen<br />

des Holocaust. Frühmorgens am 3. November<br />

wurden die jüdischen Häftlinge des Lagers<br />

separiert, Juden aus Lublin und anderen<br />

Lagern ins KL eingeliefert. In einer langen<br />

42


Schlange mussten sich die Juden zu extra<br />

ausgehobenen Gräben begeben; dort mussten<br />

sie sich ausziehen, um anschließend in<br />

kleinen Gruppen nackt in die Gräben gejagt<br />

zu werden: „Dort“, so das 1981 ergangene<br />

Urteil im Düsseldorfer Majdanek-Prozess,<br />

„mussten sie sich ‚dachziegelförmig’ […] mit<br />

dem Gesicht nach unten so hinlegen, dass<br />

sich jeweils das erste Opfer auf dem Boden<br />

und jedes nachfolgende mit dem Kopf auf<br />

dem Rücken des unter ihm liegenden Opfers<br />

befand.“ Etwa 100 auswärtige SS- und<br />

Polizeiangehörige, nicht wenige völlig betrunken,<br />

schossen den Liegenden ins Genick<br />

oder den Hinterkopf. „Nachdem die<br />

Sohle der Gräben mit Leichen gefüllt war,<br />

mussten die nächsten Opfer auf die Leichen<br />

steigen, eine weitere Schicht von Menschenleibern<br />

bilden und sich dann in der gleichen<br />

Weise erschießen lassen.“ Bis zum Anbruch<br />

der Dunkelheit wurde geschossen, übertönt<br />

von zwei Lautsprecherwagen, die leichte<br />

Unterhaltungsmusik spielten.<br />

Lediglich je dreihundert männliche und<br />

weibliche jüdische Häftlinge überlebten die<br />

„Aktion Erntefest“; sie wurden – vorerst –<br />

am Leben gelassen, um den Massenmord<br />

abzuwickeln; während erstere die Kleidung<br />

der Opfer sortierten, mussten letztere<br />

die Spuren beseitigen. In den folgenden<br />

Wochen wurden die nur notdürftig abgedeckten<br />

Gräben wieder geöffnet und die<br />

Leichen auf großen Rosten verbrannt. Ihre<br />

Asche wurde <strong>als</strong> Dünger auf den lagereigenen<br />

Feldern verwendet.<br />

Von nun an bis zur Räumung des Lagers<br />

im April 1945 diente das Lager (weiterhin)<br />

<strong>als</strong> Exekutionsstätte für polnische Zivilisten,<br />

wurde nun aber auch zu einem „Auffanglager“<br />

für kranke und entkräftete Häftlinge<br />

aus anderen Konzentrationslagern. Ob diese<br />

Häftlinge unmittelbar nach ihrer Ankunft<br />

ermordet wurden oder einfach sich selbst –<br />

und dem Tod – überlassen wurden, ist bisher<br />

nicht geklärt.<br />

Angesichts der näher rückenden Front<br />

räumte die SS in der ersten Aprilhälfte das<br />

Lager. Bis zum 19. des Monats wurden mehr<br />

<strong>als</strong> 12.000 Menschen vor allem nach Auschwitz<br />

und Groß-Rosen transportiert. Als die<br />

Rote Armee nach der Unterbrechung ihrer<br />

Offensive das Lager am 23. Juli endgültig<br />

befreite, fand sie noch 1.500 völlig entkräftete<br />

Häftlinge vor. Wie viele Häftlinge insgesamt<br />

in Majdanek den Tod fanden, ist<br />

noch nicht endgültig geklärt: Während unmittelbar<br />

nach Kriegsende genannte Zahlen<br />

von bis zu 360.000 definitiv zu hoch sind,<br />

ging die neuere Forschung bisher von etwa<br />

170.000 bis 200.000 Opfern aus, von denen<br />

mindestens 90.000 Juden gewesen seien.<br />

Rund 50.000 seien in den Gaskammern, der<br />

Rest infolge von Zwangsarbeit, Seuchen,<br />

Hunger und der alltäglichen Gewalt im Lager<br />

gestorben. Neueste Forschungen deuten<br />

allerdings darauf hin, dass die Zahl der Opfer<br />

deutlich niedriger gewesen sein könnte.<br />

Tomasz Kranz, Direktor des Forschungszentrums<br />

des Staatlichen Museums in<br />

Majdanek, korrigierte die auch von ihm<br />

selbst bisher vertretenen Zahlen in einem<br />

2005 erschienenen Aufsatz in den Zeszyty<br />

Majdanka (Hefte von Majdanek) deutlich<br />

nach unten. Er schätzt die Summe der Getöteten<br />

nun auf insgesamt 78.000 Menschen,<br />

davon 59.000 Juden und 19.000 Nichtjuden.<br />

Noch sind Kranz’ Ergebnisse, die auf<br />

der erstmaligen systematischen Auswertung<br />

aller vorhandenen Quellen beruhen, noch<br />

nicht diskutiert, und auch die Frage, wie<br />

viele Häftlinge insgesamt das Lager durchliefen,<br />

ist noch offen. Der Holocaust- und<br />

Polen-Experte Dieter Pohl vom Münchner<br />

Institut für Zeitgeschichte jedenfalls erklärte<br />

gegenüber dem Verfasser, Kranz‘ Zahlen<br />

seien zweifelsohne ab sofort <strong>als</strong> maßgebend<br />

zu betrachten.<br />

Von den 2 Millionen Juden, die 1939 in<br />

Polen lebten, haben nach seriösen, allerdings<br />

schwierig durchzuführenden Schätzungen<br />

wenige Zehntausend überlebt.<br />

Auswahlbibliographie<br />

Dieter Ambach: Thomas Köhler: Lublin-<br />

Majdanek. Das Konzentrations- und Vernichtungslager<br />

im Spiegel von Zeugenaussagen,<br />

Düsseldorf 2004.<br />

Martin Broszat: Nation<strong>als</strong>ozialistische Polenpolitik<br />

1939-1945, Stuttgart 1961 (noch<br />

immer grundlegend).<br />

Aus dem Totenbuch des KL<br />

Majdanek<br />

(Quelle: Marszalek 1981)<br />

43


Tomasz Kranz: Das KL Lublin – zwischen<br />

Planung und Realisierung, in: Ulrich<br />

Herbst, Karin Orth, Christoph Dieckmann<br />

(Hrsg.), Die nation<strong>als</strong>ozialistischen Konzentrationslager.<br />

Entwicklung und Struktur,<br />

Göttingen 1998, S. 363-389.<br />

Tomasz Kranz: Ewidencja zgonow i smiertelosc<br />

wiezniow KL Lublin, in: Zeszyty<br />

Majdanka [Hefte von Majdanek] 23 (2005),<br />

S. 7-53.<br />

Peter Longerich: Politik der Vernichtung.<br />

Eine Gesamtdarstellung der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Judenverfolgung, München/Zürich<br />

1998.<br />

Jozef Marszalek: Majdanek. Geschichte<br />

und Wirklichkeit des Vernichtungslagers,<br />

Warschau 1981.<br />

Dieter Pohl: Von der „Judenpolitik“ zum<br />

„Judenmord“. Der Distrikt Lublin des Generalgouvernements<br />

1939-1944, Frankfurt<br />

am Main u.a. 1993.<br />

44


Kinderschuhe aus Lublin<br />

von Johannes R. BEcher<br />

Von all den Zeugen, die geladen,<br />

Vergeß ich auch die Zeugen nicht,<br />

Als sie in Reihn den Saal betraten,<br />

Erhob sich schweigend das Gericht.<br />

Wir blickten auf die Kleinen nieder,<br />

Ein Zug zog paarweis durch den Saal.<br />

Es war, <strong>als</strong> tönten Kinderlieder,<br />

Ganz leise, fern, wie ein Choral.<br />

Es war ein langer bunter Reigen,<br />

Der durch den ganzen Saal sich schlang.<br />

Und immer tiefer ward das Schweigen<br />

Bei diesem Gang und Kindersang.<br />

Voran die kleinsten von den Kleinen,<br />

Sie lernten jetzt erst richtig gehen –<br />

Auch Schuhchen können lachen, weinen –.<br />

Ward je ein solcher Zug gesehn!<br />

Es tritt ein winzig Paar zur Seite,<br />

Um sich ein wenig auszuruhn,<br />

Und weiter zieht es in die Weite –<br />

Es war ein Zug von Kinderschuhn.<br />

Man sieht, wie sie den Füßchen passten –<br />

Sie haben niem<strong>als</strong> weh getan,<br />

Und Händchen spielten mit den Quasten.<br />

Das Kind zog gern die Schuhchen an.<br />

Ein Paar aus Samt, ein Paar aus Seiden,<br />

45


Und eines war bestickt sogar<br />

Mit Blumen, wie sie ziehn, die beiden<br />

Sind ein schmuckes Hochzeitspaar.<br />

Mit Bändchen, Schnallen und mit Spangen,<br />

Zwergenhafte Wesen, federleicht –<br />

Und viel’ sind viel zu lang gegangen,<br />

Und sind vom Regen durchgeweicht.<br />

Man sieht die Mutter auf den Armen<br />

Das Kind, vor einem Laden stehn:<br />

„Die Schuhchen, die, die weichen, warmen,<br />

Ach, Mutter, sind die Schuhchen schön!“<br />

„Wie soll ich nur die Schuhchen zahlen.<br />

Wo nehm das Geld ich dafür her...“<br />

Es naht ein Paar von Holzsandalen,<br />

Es ist schon müd und schleppt sich schwer.<br />

Es muß ein Strümpfchen mit sich schleifen,<br />

Das wundgescheuert ist am Knie...<br />

Was soll der Zug? Wer kann’s begreifen?<br />

Und diese ferne Melodie...<br />

Auch Schuhchen können weinen, lachen...<br />

Da fährt in einem leeren Schuh<br />

Ein Püppchen wie in einem Nachen<br />

Und winkt uns wie im Märchen zu.<br />

Hier geht ein Paar von einem Jungen,<br />

Das hat sich schon <strong>als</strong> Schuh gefühlt,<br />

Das ist gelaufen und gesprungen<br />

Und hat auch wohl schon Ball gespielt.<br />

Ein Stiefelchen hat sich verloren<br />

Und findet den Gefährten nicht,<br />

Vielleicht ist er am Weg erfroren –<br />

Ach, dam<strong>als</strong> fiel der Schnee so dicht...<br />

46


Zum Schluß ein Paar, ganz abgetragen,<br />

Das macht noch immer mit, wozu?<br />

Als hätte es noch was zu sagen,<br />

Ein Paar zerrissener Kinderschuh.<br />

Ihr heimatlosen, kinderlosen,<br />

Wer schickt euch? Wer zog euch aus?<br />

Wo sind die Füßchen, all die bloßen?<br />

Ließt ihr sie ohne Schuh’ zu Haus...?<br />

Der Richter kann die Frage deuten.<br />

Er nennt der toten Kinder Zahl...<br />

Ein Kinderchor. Ein Totenläuten.<br />

Die Zeugen gehen durch den Saal.<br />

Die Deutschen waren schon vertrieben,<br />

Da fand man diesen schlimmen Fund.<br />

Wo sind die Kinder nur geblieben?<br />

Die Schuhe tun die Wahrheit kund:<br />

Es war ein harter, dunkler Wagen.<br />

Wir fuhren mit der Eisenbahn.<br />

Und wie wir in dem Dunkel lagen,<br />

So kamen wir im Dunkel an.<br />

Es kamen aus den Läden allen<br />

Viel Schuhchen an in einem fort,<br />

Und manche stolpern schon und fallen,<br />

Bevor sie treffen ein am Ort.<br />

Die Mutter sagte: “Wieviel Wochen<br />

Wir hatten schon nichts Warmes mehr!<br />

Nun werd ich uns ein Süppchen kochen.“<br />

Ein Mann mit Hund ging nebenher:<br />

„Es wird sich schon ein Plätzchen finden“,<br />

So lachte er, „und warm ist’s auch,<br />

Hier braucht sich keiner abzuschinden...“<br />

Bis in den Himmel kroch ein Rauch.<br />

47


„Es wird euch nicht an Wärme fehlen,<br />

Wir heizen immer tüchtig ein.<br />

Ich kann Lublin nur warm empfehlen,<br />

Bei uns herrscht ewiger Sonnenschein.“<br />

Und es war eine deutsche Tante,<br />

Die uns im Lager von Lublin<br />

Empfing und „Engelspüppchen“ nannte,<br />

Um uns die Schuhchen auszuziehn,<br />

Und <strong>als</strong> wir fingen an zu weinen,<br />

Da sprach die Tante: „Sollt mal sehn,<br />

Gleich wird die Sonne prächtig scheinen,<br />

Und darum dürft ihr barfuß gehen...<br />

Stellt euch mal auf und lasst euch zählen,<br />

So, seid ihr auch hübsch unbeschuht?<br />

Es wird euch nicht an Wärme fehlen,<br />

Dafür sorgt unsere Sonnenglut...<br />

Was, weint ihr noch? ‚s ist eine Schande!<br />

Was tut euch denn, ihr Püppchen, weh?<br />

Ich bin die deutsche Märchentante!<br />

Die gute deutsche Puppenfee.<br />

’s ist Zeit, ihr Püppchen, angetreten!<br />

Was fällt euch ein denn, hinzuknien.<br />

Auf, lasst uns singen und nicht beten!<br />

Es scheint die Sonne in Lublin!“<br />

Es sang ein Lied die deutsche Tante.<br />

Strafft sich den Rock und geht voraus,<br />

Und dort, wo heiß die Sonne brannte,<br />

Zählt sie uns nochm<strong>als</strong> vor dem Haus.<br />

Zu hundert, nackt in einer Zelle,<br />

Ein letzter Kinderschrei erstickt...<br />

Dann wurden von der Sammelstelle<br />

Die Schuhchen in das Reich geschickt.<br />

48


Es schien sich das Geschäft zu lohnen,<br />

Das Todeslager von Lublin.<br />

Gefangenenzüge, Prozessionen.<br />

Und – eine deutsche Sonne schien...<br />

Wenn Tote einst <strong>als</strong> Rächer schreiten,<br />

Und über Deutschland hallt ihr Schritt,<br />

Und weithin sich die Schatten breiten-<br />

Dann ziehen auch die Schuhchen mit.<br />

Ein Zug von abertausend Zwergen,<br />

So ziehen sie dahin in Reihn,<br />

Und wo die Schergen sich verbergen,<br />

Dort treten sie unheimlich ein.<br />

Sie schleichen sich herauf die Stiegen,<br />

Sie treten in die Zimmer leis.<br />

Die Henker wie gefesselt liegen<br />

Und zittern vor dem Schuldbeweis.<br />

Es wird die Sonne brennend scheinen.<br />

Die Wahrheit tut sich allen kund.<br />

Es ist ein großes Kinderweinen,<br />

Ein Grabgesang aus Kindermund...<br />

Der Kindermord ist klar erwiesen.<br />

Die Zeugen all bekunden ihn.<br />

Und nie vergeß ich unter diesen<br />

Die Kinderschuhe aus Lublin.<br />

49


Das „Lubliner Komitee“:<br />

Polnische Keimzelle des kommunistischen<br />

Staates oder „Marionettentheater“ Stalins?<br />

von Bernward Winter<br />

Das „Polnische Komitee für die nationale Befreiung“, auch „Lubliner Komitee“<br />

genannt, steht für die Übernahme des politische Einflusses durch die Stalinisten<br />

im befreiten Polen am Ende des Zweiten Weltkriegs. Doch welche Rolle hat<br />

es dabei wirklich gespielt? Um sich einer Antwort dieser Frage am Ende dieses<br />

Essays zu nähern, wird zunächst die Situation Polens zwischen 1939 und 1944<br />

dargestellt und die Entstehung des Lubliner Komitees beschrieben.<br />

Die Situation Polens zwischen 1939 und<br />

1944<br />

Kurze Zeit nach dem deutschen Angriff<br />

am 1. September 1939 hörte Polen auf, <strong>als</strong><br />

eigenständiger territorialer Staat zu existieren:<br />

Der westliche Teil wurde bis zu einer<br />

Linie östlich von Ostrolenka, Lodz, Sosnowitz<br />

und Bielitz unter dem Namen „Eingegliederte<br />

Ostgebiete“ direkt an das deutsche<br />

Reich angeschlossen. Der mittlere Teil,<br />

ebenfalls von der Deutschen Wehrmacht<br />

besetzt, war <strong>als</strong> „Generalgouvernement“<br />

eine vom deutschen Reich abhängige Kolonie.<br />

Der östliche Teil war durch sowjetische<br />

Truppen besetzt, offiziell <strong>als</strong> „Schutz der<br />

ukrainischen und weißruthenischen Bevölkerung“,<br />

tatsächlich aber in Erfüllung des<br />

geheimen Zusatzprotokolls des Hitler-Stalin-Paktes,<br />

das Polen zwischen Deutschland<br />

und der Sowjetunion aufgeteilt hatte.<br />

Sowohl die deutschen <strong>als</strong> auch die sowjetischen<br />

Besatzer begannen sofort mit umfassenden<br />

„Säuberungsaktionen“, denen fast<br />

die gesamte geistige Elite Polens zum Opfer<br />

fiel, durch Deportationen oder Exekutionen.<br />

Außerdem waren im deutschen Einflussbereich<br />

die Juden völlig rechtlos und wurden<br />

in Ghettos zusammengepfercht oder umgebracht.<br />

Der polnische Staatspräsident Ignacy<br />

Mościcki und die Regierung waren bereits<br />

Mitte September 1939 nach Rumänien geflohen<br />

und dort interniert worden. Mościcki<br />

ernannte Władysław Raczkiewicz zu seinem<br />

Nachfolger, der in Frankreich eine neue Regierung<br />

bildete, die von Großbritannien,<br />

Frankreich und den Vereinigten Staaten <strong>als</strong><br />

rechtmäßige Exilregierung Polens anerkannt<br />

wurde. Dieser westlich orientierten Regierung<br />

gehörten alle Parteien bis auf die kommunistische<br />

an; sie wurde von Władysław<br />

Sikorski geleitet. Die Exilregierung stellte<br />

eine Armee aus Auslandspolen zusammen,<br />

die 84.000 Mann stark wurde und in Frankreich<br />

und Norwegen gegen das Deutsche<br />

Reich kämpfte. Wichtig dabei war neben<br />

der militärischen Schlagkraft vor allem die<br />

politische Bedeutung, wurde doch Polen auf<br />

diese Weise ermöglicht, <strong>als</strong> kriegsführende<br />

Macht weiterhin aktiv zu sein. Zugleich<br />

steuerte die Exilregierung einen polnischen<br />

Untergrundstaat, der, vom Generalgouvernement<br />

ausgehend, bis 1941 das gesamte<br />

unter deutscher Besatzung stehende Gebiet<br />

umfasste. Zu ihm gehörten unter anderem<br />

ein geheimes Schul- und Universitätssystem<br />

und eine Untergrundarmee, „Heimatarmee“<br />

(Armja Krajowa, AK) genannt. Nach<br />

50


der Kapitulation Frankreichs flüchteten die<br />

Exilregierung und ein Teil der polnischen<br />

Exilarmee nach Großbritannien.<br />

Nach dem deutschen Angriff auf die Sowjetunion<br />

am 22. Juni 1941 wurden die beiden<br />

Besatzer Polens zu gegenseitigen Feinden.<br />

Die Westalliierten bemühten sich,<br />

zwischen der polnischen Exilregierung<br />

und der sowjetischen Führung zu vermitteln,<br />

um gemeinsam gegen das deutsche<br />

Reich zu kämpfen. Zwar kam es zu einem<br />

Abkommen, in dem die Sowjetunion die<br />

Exilregierung anerkannte und der Bildung<br />

einer Armee aus den in die Sowjetunion verschleppten<br />

Polen zustimmte; Stalin rückte<br />

aber nicht von dem Anspruch auf den Ostteil<br />

Polens bis zur so genannten Curzon-Linie<br />

(entspricht in etwa der heutigen Ostgrenze<br />

Polens) ab. Dadurch und durch die<br />

von deutschen Truppen gefundenen Gräber<br />

von Katyn, in denen von Sowjets ermordete<br />

polnische Offiziere lagen, verschlechterten<br />

sich die Beziehungen wieder. Die Forderung<br />

der Exilregierung nach Auskunft über<br />

Katyn führte im April 1943 zum völligen<br />

Bruch. Zur gleichen Zeit wuchs der von<br />

der Exilregierung organisierte Widerstand<br />

in Polen, die Heimatarmee (AK) hatte bis<br />

Ende 1943 etwa 350.000 Mitglieder.<br />

Das Lubliner Komitee<br />

Direkt nach dem Abbruch der Beziehungen<br />

zur Exilregierung Polens begann<br />

die sowjetische Führung, eine kommunistische<br />

Regierung in Polen vorzubereiten.<br />

Dies war für Stalin auch deshalb wichtig,<br />

da die Exilregierung die Westverschiebung<br />

ablehnte, auf die er sich bereits mit den<br />

Westmächten auf der Teheraner Konferenz<br />

informell geeinigt hatte. Stalin traute der<br />

kleinen Gruppe polnischer Kommunisten<br />

den Umbruch in Polen nicht zu. Deshalb<br />

wurde dieser in der Sowjetunion vorbereitet:<br />

Zunächst entstand in Moskau der kommunistische<br />

„Verband polnischer Patrioten“<br />

und die „Division Kściuszko“, die später bis<br />

400.000 Mann stark wurde. Beide standen<br />

in voller Abhängigkeit von der sowjetischen<br />

Führung.<br />

Die Niederlage in Stalingrad führte zum<br />

allmählichen Rückzug der deutschen Truppen.<br />

Im Juli 1944 überschritt die sowjetische<br />

Armee die Curzon-Linie und drang somit<br />

in den Bereich Polens ein, den Stalin offiziell<br />

nicht für sich beanspruchte. Am 21. Juni<br />

1944 wurde in Moskau das „Polnische Komitee<br />

für die nationale Befreiung“ (Polski<br />

Komitet Wyzwolenia Narodowego, PKWN)<br />

gegründet, dessen Mitglieder wenige Tage<br />

später in Chełm eintrafen, und, wiederum<br />

einige Tage danach, in Lublin ihre eigentliche<br />

Arbeit aufnahmen (daher der Name<br />

„Lubliner Komitee“). Trotz des Protestes<br />

der Exilregierung in London nahm dieses<br />

Komitee für sich in Anspruch, die rechtmäßige<br />

Vertretung Polens zu sein, obwohl<br />

keine der großen polnischen Parteien in<br />

ihm vertreten war. Es bestand überwiegend<br />

aus in der Sowjetunion geschulten Kommunisten<br />

und wurde vom Sozialisten Edward<br />

Osóbka-Morawski geleitet. Bereits am<br />

27. Juli 1944 wurde es von der Sowjetunion<br />

anerkannt und schloss direkt mit ihr einen<br />

Vertrag, in dem u. a. die Curzon-Linie<br />

<strong>als</strong> Ostgrenze anerkannt wurde. Mit dem<br />

Komitee zusammen nahm auch eine vom<br />

sowjetischen Geheimdienst trainierte task<br />

force ihre Arbeit auf, bestehend aus Sowjets<br />

mit typischen polnischen Namen und Uniformen<br />

hochrangiger polnischer Militärs.<br />

Im von der Roten Armee bereits befreiten<br />

Gebiet „säuberten“ sie zunächst die Heimatarmee<br />

(AK), beseitigten pro-westliche Politiker<br />

und Bürger und wurden in wichtige<br />

politische und administrative Ämter eingeschleust.<br />

Bis 1948 wurden dabei zehntausende<br />

Polen getötet, hunderttausende in die<br />

Sowjetunion deportiert oder inhaftiert.<br />

In Lublin veröffentlichte das PKWN<br />

ein Manifest („Lubliner Manifest“; siehe<br />

Abbildung 1), dass bereits in Moskau redigiert<br />

und gedruckt worden war. Darin wurde<br />

die Exilregierung <strong>als</strong> „ursupatorisch“,<br />

„betrügerisch“ und „vollkommen illegal“<br />

bezeichnet und für die Westverschiebung<br />

Polens mit folgenden Worten geworben:<br />

„Auf zum Kampf um die Freiheit Polens,<br />

um die Rückkehr des alten polnischen Pommern<br />

und des Oppelner Schlesien zum<br />

Mutterland, um Ostpreußen und einen<br />

breiten Zugang zum Meer, um polnische<br />

Grenzpfähle an der Oder…“. Darüber hinaus<br />

enthielt das Manifest lediglich einen<br />

Aufruf zu einer einzigen sozialistischen<br />

Abb. 1: Deckblatt des Lubliner<br />

Manifests, Juli 1944<br />

(Quelle: Wikipedia Polski: http://<br />

pl.wikipedia.org/wiki/ Manifest_PKWN)<br />

51


Abb. 2: Die Westverschiebung Polens am Ende des Zweiten Weltkriegs (Quelle: Rainer<br />

Fuhrmann, Polen. Geschichte – Politik – Wirtschaft, Hannover 1990, S. 183)<br />

Maßnahme: einer Bodenreform. Letztere<br />

diente nicht zuletzt dazu, bei der polnischen<br />

Bevölkerung um Unterstützung zu<br />

werben. Diese war nämlich nur zu einem<br />

Bruchteil kommunistisch eingestellt, unterstützte<br />

überwiegend die Exilregierung und<br />

ihre Vertretungen in Polen und stand der<br />

Sowjetunion skeptisch bis ablehnend gegenüber,<br />

vor allem aufgrund der Erlebnisse<br />

nach deren Einmarsch im östlichen Polen<br />

1939. Die exilregierungstreue Heimatarmee<br />

(AK) startete am 1. August 1944 einen bewaffneten<br />

Aufstand in Warschau, das noch<br />

von deutschen Truppen besetzt war, und<br />

zwar aus mehreren Gründen: Die deutsche<br />

Besatzungsmacht war durch die Rückzugsgefechte<br />

deutlich geschwächt und erschien<br />

mit den 50.000 Mann der AK besiegbar.<br />

Darüber hinaus lag die Rote Armee vor den<br />

Toren Warschaus, die AK konnte <strong>als</strong>o auf<br />

Unterstützung hoffen. Wichtiger war aber<br />

die politische Motivation: Die AK wollte<br />

Warschau selbst befreien und dann die sowjetischen<br />

Soldaten <strong>als</strong> Gäste, nicht aber <strong>als</strong><br />

Befreier empfangen. Außerdem hoffte man,<br />

auf diese Weise in Warschau die Exilregierung<br />

zu installieren und so dem PKWN<br />

etwas entgegensetzten zu können. Dieser<br />

Aufstand wurde aber weder mit der Exilregierung<br />

noch mit den Westalliierten oder<br />

der Sowjetunion abgestimmt. Der Exil-<br />

Ministerpräsident Stanisław Mikołajczyk,<br />

Nachfolger von Władysław Sikorski, der<br />

im Juli 1943 bei einem nicht restlos geklärten<br />

Flugzeugunglück ums Leben gekommen<br />

war, erfuhr von dem Aufstand, <strong>als</strong> er<br />

gerade in Moskau war. Die Westalliierten<br />

hatten den Druck auf die Exilregierung erhöht,<br />

zu einer Einigung mit der Sowjetunion<br />

zu kommen, da sie diese <strong>als</strong> strategischen<br />

Partner im Kampf gegen das Deutsche<br />

Reich brauchten. Stalin machte zwar keine<br />

Zugeständnisse, was die Ostgrenze Polens<br />

anging, versetzte Mikołajczyk aber in<br />

den Glauben, er sei nicht in erster Linie an<br />

einem kommunistischen Polen interessiert,<br />

sondern lediglich an einem demokratischen<br />

Polen mit freundschaftlichen Beziehungen<br />

zu Moskau. Die damit verbundene Hoffnung<br />

wurde enttäuscht, <strong>als</strong> deutlich wurde,<br />

dass Stalin den Warschauer Aufstand nicht<br />

unterstützte, ja sogar die Unterstützung aus<br />

der Luft durch die Westalliierten unmöglich<br />

machte, indem er ihnen keine Landeerlaubnis<br />

auf sowjetischen Flugplätzen gewährte.<br />

Der Aufstand hielt sich zwar über<br />

viele Wochen, musste dann aber aufgegeben<br />

werden. Offensichtlich hatte Stalin genau<br />

daran ein Interesse; es ersparte ihm z. B.<br />

die Säuberungsaktionen durch seine eigene<br />

Armee. Es gabt zumindest keinen anderen<br />

plausiblen Grund, den Aufstand in Warschau<br />

nicht mit den kampfbereiten Truppen<br />

vor der Stadt zu unterstützen. Der Plan der<br />

AK ging <strong>als</strong>o nicht auf:<br />

Die Rote Armee „befreite“ Warschau<br />

wenig später, das Lubliner Komitee wurde<br />

dorthin verlegt und benannte sich in „Provisorische<br />

Regierung“ um. Ministerpräsident<br />

wurde Osóbka-Morawski, sein Stellvertreter<br />

Władysław Gomułka. Auf der Konferenz<br />

von Jalta erkannten Churchill und Roosevelt<br />

die provisorische Regierung auf Drängen<br />

Stalins hin unter der Voraussetzung an,<br />

dass Mitglieder der Exilregierung integriert<br />

würden. Dies geschah später in sehr geringem<br />

Umfang. Außerdem wurden die Curzon-Linie<br />

<strong>als</strong> Ostgrenze und die Oder <strong>als</strong><br />

Westgrenze Polens und damit dessen Westverschiebung<br />

offiziell beschlossen (siehe Abbildung<br />

2).<br />

Die Bedeutung des Lubliner Komitees<br />

Man kann sicherlich sagen, dass das<br />

Lubliner Komitee zusammen mit der oben<br />

52


erwähnten task force dafür gesorgt hat,<br />

das Polen innerhalb weniger Jahre stalinistisch<br />

wurde. Doch muss man einige Aspekte<br />

bedenken, die den tatsächlichen Einfluss<br />

des PKWN infrage stellen: Offenbar<br />

hatte Stalin schon vor dem Ausbruch des<br />

Zweiten Weltkriegs geplant, Polen unter sowjetischen<br />

Einfluss zu stellen und zu „stalinisieren“.<br />

Dabei kam ihm die Besetzung<br />

Polens durch die Deutschen durchaus entgegen,<br />

da diese das taten, was er aus seiner<br />

Sicht, zumindest zum Teil, auch hätte tun<br />

müssen: die Eliminierung der intellektuellen<br />

und politischen Elite. Ihm war nämlich<br />

klar, dass Propaganda allein nicht ausreichen<br />

würde, Polen unter seinen Einfluss<br />

zu stellen. Dass er an keiner Zusammenarbeit<br />

mit der Exilregierung und deren Untergrundarmee<br />

AK interessiert war, zeigte sich<br />

spätestens bei seiner Weigerung, den Warschauer<br />

Aufstand zu unterstützen. Darüber<br />

hinaus hatte Stalin faktische, nämlich militärische<br />

Macht, nicht nur über Polen. Die<br />

Westalliierten waren bei ihrem Kampf gegen<br />

Hitler auf die Sowjetunion angewiesen,<br />

die Rote Armee war die einzige Macht, die<br />

Polen von der deutschen Herrschaft befreien<br />

konnte und es auch tat, dadurch aber automatisch<br />

Polen besetzte. Das PKWN war<br />

<strong>als</strong>o zu Beginn gar nicht darauf angewiesen,<br />

politisch legitimierte Macht zu besitzen,<br />

denn die zumindest einigermaßen legitimierte<br />

Exilregierung, die offenbar große<br />

Unterstützung in der Bevölkerung genoss,<br />

hatte keinerlei Möglichkeit, irgend etwas<br />

durchzusetzen, solange die Rote Armee das<br />

PKWN unterstützte und die Westalliierten<br />

die Auseinandersetzung mit Stalin scheuten.<br />

So fiel die Entscheidung über Polens<br />

Zukunft vermutlich weniger im Lubliner<br />

Komitee <strong>als</strong> auf der Konferenz in Teheran,<br />

bei der die Westmächte Stalin die Eingliederung<br />

des Ostteils Polens in die Sowjetunion<br />

zubilligten, ohne irgendwelche verbindlichen<br />

Regelungen für die politische<br />

Entwicklung des „restlichen“ Polens zu treffen.<br />

Aber gab es Alternativen? Wie immer<br />

kann man sagen, es hätte auch schlimmer<br />

kommen können: Es gab offenbar polnische<br />

Hardliner-Stalinisten, die sich wünschten,<br />

Polen würde die 17. Republik der Sowjetunion.<br />

Dass Stalin diesen Wunsch teilte, ist<br />

nicht belegt. Aber so könnte man meinen,<br />

dass mit dem PKWN trotz großer Abhängigkeit<br />

von der Sowjetunion ein Minimum<br />

polnischen Einflusses möglich war. Eine<br />

weitere Alternative wäre ein Bürgerkrieg<br />

gewesen, den es zwischen 1944 und 1948 in<br />

Ansätzen auch gegeben hat, der aber durch<br />

die militärische Übermacht der Roten Armee<br />

rasch unterdrückt wurde. So führte die<br />

vermeintlich Befreiung von der deutschen<br />

Besatzung direkt in die Herrschaft Stalins,<br />

wenn auch zunächst vermittelt über das<br />

Polnische Komitee für die nationale Befreiung.<br />

Die Keimzelle dabei lag allerdings<br />

eher in Moskau <strong>als</strong> in Lublin, auch wenn<br />

mancher westlicher Politiker das dam<strong>als</strong> offenbar<br />

anders einschätzte ...:<br />

„These are critical days, and it would be a great<br />

pity if time were wasted in indecision or in<br />

protracted negotiation. If the Polish Government<br />

had taken the advice we tendered them<br />

at the beginning of this year, the additional<br />

complication produced by the formation of the<br />

Polish National Committee of Liberation at<br />

Lublin would not have arisen and anything<br />

like a prolonged delay in the settlement can<br />

only have the effect of increasing the division<br />

between Poles in Poland...“<br />

Winston Churchill in einer Rede vor dem<br />

House of Commons, 27. Oktober 1944<br />

Literatur<br />

Friedrich, K.-P., Die Legitimierung ‚Volkspolens’<br />

durch den polnischen Opferstatus.<br />

Zur kommunistischen Machtübernahme<br />

in Polen am Ende des Zweiten Weltkriegs.<br />

In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung,<br />

52(1), 2003.<br />

Hoensch, J. K., Geschichte Polens. Stuttgart:<br />

Ulmer, 31998.<br />

Jaworski, R., Lübke, C. und Müller, M. G.,<br />

Eine kleine Geschichte Polens. Frankfurt a.<br />

M.: Suhrkamp, 2000.<br />

Kersten, K., The Establishment of Communist<br />

Rule in Poland, 1943-1948. Oxford:<br />

University of California Press, 1991.<br />

53


Krzemiński, A., Polen im 20. Jahrhundert.<br />

Ein historischer Essay. München: Beck,<br />

1993.<br />

Meyer, E., Grundzüge der Geschichte Polens.<br />

Darmstadt: Wiss. Buchges., 31990.<br />

Rhode, G., Polen von der Wiederherstellung<br />

der Unabhängigkeit bis zur Ära der Volksrepublik<br />

1918-1970. In: Schieder, T. (Hrsg.),<br />

Handbuch der europäischen Geschichte.<br />

Band 7.2, Stuttgart: Klett-Cotta, 31996.<br />

Roos, H., Geschichte der Polnischen Nation<br />

1918-1978. Von der Staatsgründung im Ersten<br />

Weltkrieg bis zur Gegenwart. Stuttgart:<br />

Kohlhammer, 31979.<br />

54


Wettstreit der Universitäten.<br />

Die katholische Universität Jana Pawla II<br />

(KUL) und die Maria Curie-Sklodowska Universität<br />

(UMCS) in Lublin<br />

von Gregor Scheffler<br />

Worin besteht ein Wettstreit zweier Universitäten, woran ist er fest zu machen<br />

und wo wird er greifbar? Wie ist er entstanden und wo führt er hin? Die Perspektive<br />

auf diese Fragestellungen hat sich im Lauf der Geschichte mehrfach gewandelt.<br />

Es bietet sich daher zunächst der Blick in die Entstehungszeiten beider<br />

Universitäten an, die zu Beginn und in der Mitte des 20. Jahrhunderts lagen.<br />

Die Katholische Universität Lublin wurde<br />

im Jahre 1918 <strong>als</strong> Universität Lublin vom<br />

ehemaligen Leiter des in Sankt Petersburg<br />

im Zuge der bolschewistischen Revolution<br />

geschlossenen Priesterseminars gegründet.<br />

Unter den beiden Mottos „Deo et Patriae“<br />

– Für Gott und Vaterland und „Veritas in<br />

Caritate“ – Wahrheit in Liebe sollte sie zu<br />

einer modernen Bildungs- und Forschungseinrichtung<br />

werden, die Glaube und Wissenschaft<br />

ausgewogen miteinander vereint.<br />

In den vom Staat überlassenen ehemaligen<br />

Klostergebäuden wurde zunächst an vier<br />

Fakultäten gelehrt und geforscht: Theologie,<br />

Kirchenrecht und Moralwissenschaft,<br />

Rechts- und Gesellschaftswissenschaften<br />

sowie Geisteswissenschaften. 1928 wurde<br />

der Universität der Rechtsstatus verliehen<br />

und sie wurde in Katholische Universität<br />

Lublin umbenannt. Erst 1933 bekam sie das<br />

Recht, den Magistertitel zu verleihen und<br />

erst nach weiteren fünf Jahren wurde sie am<br />

9. April 1938 endgültig <strong>als</strong> Universität mit<br />

allen Rechten, einschließlich dem Promotions-<br />

und Habilitationsrecht in allen Fakultäten,<br />

anerkannt.<br />

Ihre finanzielle Unterstützung erhielt die<br />

KUL hauptsächlich von der Katholischen<br />

Kirche sowie von zahlreichen Stiftungen<br />

und Verbänden. Es wurde die Gesellschaft<br />

der Freunde der Katholischen Universität<br />

Lublin gegründet, deren Aufgabe die finanzielle<br />

Sicherstellung der Arbeit an der KUL<br />

war. Die Entwicklung schritt in den ersten<br />

Jahren schnell voran, was sich nicht nur in<br />

der Anzahl der Studenten, sondern auch in<br />

der zunehmenden Zahl renommierter Professoren<br />

und Dozenten widerspiegelte.<br />

55


Mit dem Einfall der Deutschen Wehrmacht<br />

in Polen 1939 wurde die Universität<br />

von den Nazis geschlossen und in ein Militärkrankenhaus<br />

umgewandelt. Der Rektor<br />

und viele der Professoren wurden verhaftet.<br />

Verschiedene Versuche, die Lehre während<br />

der Kriegsjahre im Untergrund weiter zu<br />

führen, wurden aufgedeckt und unterbunden.<br />

Nach dem Abzug der Deutschen wurde<br />

noch während des Krieges am 21. August<br />

1944 die KUL wieder eröffnet. Trotz<br />

der großen Zerstörung und der einhergehenden<br />

Schwierigkeiten stiegen die Studentenzahlen<br />

rasch an.<br />

In den folgenden Jahren verstärkte die<br />

kommunistische Regierung zunehmend<br />

den politischen und finanziellen Druck auf<br />

die Universität. Es wurden verschiedene<br />

Versuche unternommen, ihre Entwicklung<br />

zu stoppen und den gesellschaftlichen Einfluss<br />

zu reduzieren. So wurde beispielsweise<br />

die Potulicka Stiftung, die auf die Gräfin<br />

Aniela Potulicka zurückgeht und die eine<br />

der Hauptfinanzquellen der Gesellschaft<br />

der Freunde der Katholischen Universität<br />

Lublin bildete, enteignet und vom Staat<br />

übernommen. Die Studentenzahlen wurden<br />

drastisch limitiert, die Entwicklungschancen<br />

der Absolventen beschränkt. Die<br />

philologische Abteilung wurde geschlossen,<br />

der Rektor inhaftiert. Das Promotionsund<br />

Habilitationsrecht der Geisteswissenschaftlichen<br />

Fakultät wurde aberkannt, der<br />

Austausch mit ausländischen Universitäten<br />

unterbunden und Publikationen streng<br />

zensiert. Schließlich führte die Behandlung<br />

der Universität <strong>als</strong> gewinnorientiertes<br />

Unternehmen zu sehr hohen Steuern, aufgrund<br />

deren verspäteter Zahlungen Gebäude<br />

und übriger Universitätsbesitz konfisziert<br />

wurden.<br />

Die Reaktion der KUL war eine verstärkte<br />

und ausgeweitete Forschung. Als einzige<br />

freie Universität innerhalb der Ostblockstaaten<br />

lebte sie von ihrer guten Reputation<br />

und wurde zum Rückzugsort und intellektuellen<br />

Zentrum für junge Menschen,<br />

die aus politischen oder sozialen Gründen<br />

zu anderen Universitäten nicht zugelassen<br />

oder an ihnen exmatrikuliert wurden.<br />

Mit dem Rücktritt des Chefs der kommunistischen<br />

Partei Gomulka 1970 entspannte<br />

sich die politische Situation leicht, wodurch<br />

zumindest der internationale wissenschaftliche<br />

Austausch wieder zugelassen wurde.<br />

In den 80er Jahren wurde nach mehreren<br />

Petitionen die Wiedereröffnung einiger Institute<br />

gestattet. Hinzu kam die Erlaubnis,<br />

Gebäude zu erweitern und neu zu bauen.<br />

Die Geisteswissenschaftliche Fakultät wurde<br />

wieder eröffnet, die Fakultät für Rechtswissenschaften<br />

und die Fakultät für Slawische<br />

Philologie wurden neu gegründet.<br />

Nach der Wahl Karol Wojtylas zum Papst<br />

1978 wurde 1982 das Johannes Paul II Institut<br />

gegründet, das dessen Forschung in die<br />

Lehre integrieren und seine Arbeiten einer<br />

breiteren Hörerschaft zugänglich machen<br />

sollte. 1983 wurde Karol Wojtyla die Ehrendoktorwürde<br />

der KUL verliehen.<br />

Nach der Wende 1989 kam es in der Folge<br />

der starken Inflation erneut zu finanziellen<br />

Schwierigkeiten, die nur mit Unterstützung<br />

des Vatikans und im Ausland lebender Polen<br />

bewältigt werden konnten. Nach umfangreicher<br />

Lobbyarbeit durch Rektor und<br />

Universitätsleitung wurde ein Gesetz verabschiedet,<br />

wonach die KUL ab Januar 1992<br />

rechtlich den übrigen Universitäten Polens<br />

gleichgestellt ist und auch die gleichen Zuwendungen<br />

erhält. Allerdings wurden die<br />

konfiszierten Gebäude nicht rückübertragen,<br />

wodurch die KUL heute keinen kompakt<br />

zusammenhängenden Campus besitzt,<br />

sondern über die Stadt verteilt ist.<br />

Am 4. April 2005 beschloss der Senat der<br />

Universität die Umbenennung in Katholische<br />

Universität Lublin – Johannes Paul<br />

II. Sie ist eine traditionsverbundene, humanistische<br />

Universität mit den Fakultäten<br />

Theologie, Philosophie, Kanonisches Recht<br />

und Verwaltung, Geisteswissenschaften,<br />

Sozialwissenschaften, Mathematik und<br />

Naturwissenschaften sowie Rechts- und<br />

Wirtschaftswissenschaften.<br />

Die Universität Maria Curie Sklodowska<br />

war 1944 die erste staatliche Universitätsneugründung<br />

Polens nach dem 2.<br />

Weltkrieg und bestand zunächst aus vier<br />

Fakultäten: Naturwissenschaft, Medizin,<br />

Tiermedizin und Landwirtschaft.<br />

56


In den ersten Jahren gab es an der UMCS<br />

verschiedene Fakultätsgründungen, wie die<br />

Pharmakologische Fakultät 1945, die Juristische<br />

Fakultät 1949 oder die Geisteswissenschaftliche<br />

Fakultät 1952, sowie Ausgliederungen,<br />

wie die aus Medizinischer und<br />

die Pharmakologischer Fakultät hervorgehende<br />

Medizinische Akademie oder die aus<br />

drei Fakultäten gebildete Landwirtschaftliche<br />

Hochschule. Aufgrund fehlender<br />

Gebäude und Strukturen, aber auch der<br />

Vernachlässigung der Stadt Lublin innerhalb<br />

Polens gestaltete sich der Aufbau sehr<br />

schwierig. Besserung bescherte die Gründung<br />

eines Universitätsviertels auf einem 17<br />

Hektar großen, von der Stadt zu Verfügung<br />

gestellten Gelände. Mit dem Bau von Studentenwohnheimen<br />

und der Anlage eines<br />

großen Parks entstand hier das erste „Universitätsstädtchen“<br />

Polens, das nicht nur<br />

den Aufstieg der UMCS begünstigte, sondern<br />

auch zur Entwicklung des heutigen<br />

Stadtzentrums beitrug. Dennoch konnte<br />

sich die Universität erst langsam etablieren<br />

und die Fluktuation bei Lehrkörper und inhaltlicher<br />

Ausrichtung reduzieren. Wichtige<br />

Forschungsarbeiten entstanden vor allem<br />

auf agrar- und naturwissenschaftlichen Gebieten.<br />

Heute gibt es an der UMCS die 10 Fachbereiche<br />

Rechtswissenschaften; Biologie und<br />

Bodenkunde; Chemie; Mathematik, Physik<br />

und Informatik; Wirtschaftswissenschaften;<br />

Kunst; Geisteswissenschaften; Psychologie<br />

und Pädagogik; Philosophie und Soziologie<br />

sowie Politikwissenschaften. Die<br />

Universität ist vor allem bei Studenten aus<br />

Lublin beliebt, kooperiert mit zahlreichen<br />

ausländischen Universitäten und nimmt an<br />

verschiedenen Austauschprogrammen teil.<br />

Aus der Geschichte beider Institutionen<br />

wird ersichtlich, dass sie jeweils vor verschiedenen<br />

Hintergründen und mit unterschiedlicher<br />

Motivation entstanden sind. Während<br />

die KUL <strong>als</strong> humanistische Lehr- und<br />

Forschungseinrichtung mit theologischem<br />

Schwerpunkt gegründet wurde, entstand<br />

mit der UMCS zunächst eine Universität<br />

mit medizinischem und agrarwissenschaftlichem<br />

Profil. In den Nachkriegsjahren<br />

ergänzen sich beide Einrichtungen, eine<br />

Konkurrenz ist nicht vorhanden. Nach der<br />

häufigen Umstrukturierung und Ausgliederung<br />

der Kernbereiche in eigene Akademien,<br />

veränderte sich diese Situation jedoch<br />

zunehmend. Je weiter einzelne Lehrbereiche<br />

der KUL beschnitten wurden, desto mehr<br />

wurden sie an der UMCS ausgeweitet, zumal<br />

besonders jene Fachbereiche unter<br />

Druck gerieten, die sich an der UMCS im<br />

Aufbau befanden.<br />

Die Universität Maria Curie Sklodowska<br />

wurde relativ schnell nach ihrer Gründung<br />

politisch <strong>als</strong> Gegenstück zur Katholischen<br />

Universität Lublin wahrgenommen<br />

und <strong>als</strong> solches auch bewußt etabliert. Vermutlich<br />

bestand die Hoffnung darin, durch<br />

wirtschaftliche und politische Besserstellung<br />

von Universität und Absolventen, die<br />

Interessenten bei Studenten und Personal<br />

für die einzelnen Fachbereiche an der KUL<br />

stark zu reduzieren und sie damit in die Bedeutungslosigkeit<br />

zu drängen. Geblieben<br />

wäre eine Katholische Universität mit den<br />

Fachbereichen Theologie und Kanonisches<br />

Recht, die <strong>als</strong> Spezialeinrichtung ihren gesellschaftlichen<br />

Einfluss auf intellektueller<br />

Breite verloren hätte.<br />

Ein fairer Wettstreit, bei dem die Eifernden<br />

gleiche Voraussetzungen besitzen,<br />

war vor diesem Hintergrund unter der kommunistischen<br />

Regierung praktisch nicht<br />

möglich und auch nicht gewollt. Dennoch<br />

hielt die Katholische Universität dank internationaler<br />

Unterstützung und nicht zuletzt<br />

auch dank der Wahl Karol Wojtylas<br />

zum Papst diesem Druck stand, ja nahm<br />

sogar genau die Bildungsaufgaben verstärkt<br />

wahr, die der Staat ihr zu entziehen suchte.<br />

Mit der Verleihung der Ehrendorktorwürde<br />

an Karol Wojtyla ebenso wie mit der Gründung<br />

des Johannes Paul II Institutes und<br />

schließlich der veränderten Namensgebung<br />

würdigte die Universität das Engagement<br />

57


und die Unterstützung ihres einstigen Dozenten.<br />

Heute gibt es in der inhaltlichen Ausrichtung<br />

beider Universitäten wenige Unterschiede.<br />

Sie stehen im direkten Wettbewerb<br />

um Studenten und Dozenten, der<br />

hinsichtlich der Qualität von Forschung<br />

und Lehre sicher sehr positiv zu bewerten<br />

ist. Manch bitterer Beigeschmack mag aus<br />

der Geschichte hier und da mitschwingen,<br />

am ehesten wohl, wenn man sich die Gestaltung<br />

der jeweilgen Universitätscampi<br />

betrachtet. Nach außen präsentieren sich<br />

beide Universitäten modern und aufstrebend.<br />

Die Zukunft verheißt eine spannende<br />

Entwicklung zweier Universitäten, vor dem<br />

Hintergrund ihrer verschiedenen, aber verflochtenen<br />

Geschichte und auf der Suche<br />

nach jeweils eigener, sich ergänzender Identität.<br />

Literatur:<br />

Zofia Skubala & Zbigniew Zokarski: „Polnische<br />

Universitäten“ Polonia Verlag Warschau<br />

1959<br />

Sonja Steier-Jordan: „Bildungssystem im<br />

Übergang“ Informationen zur politischen<br />

Bildung, Heft 273<br />

Die Universitätlogos wurden von den Internetsites<br />

der jeweiligen Universitäten heruntergeladen.<br />

58


„Lublin heute“ –<br />

Vermutungen über eine Stadt<br />

von Sara Stroux<br />

Das Interesse der deutschen Öffentlichkeit an Lublin scheint begrenzt. Nachrichten<br />

aus Lublin sind schwer zu finden und hätte die Stadt nicht eine grausame<br />

nation<strong>als</strong>ozialistische Vergangenheit, dann wäre sie wohl noch weniger Deutschen<br />

ein Begriff<br />

Liegt Lublin zu weit im Osten, ist sie mit<br />

rund 360.000 Einwohnern tatsächlich zu<br />

klein, vielleicht zu strukturschwach, um<br />

über die westlichen Landesgrenzen hinaus<br />

wahrgenommen zu werden? Eine der wenigen,<br />

die es genauer wissen wollten, ist Krisztina<br />

Koenen, die sich 1998 für die F.A.Z. auf<br />

den Weg gemacht hat, um ein Porträt über<br />

Lublin zu schreiben. Rund acht Jahre nach<br />

Einführung der Demokratie in Polen und<br />

der Öffnung der Märkte fällt ihr Befund<br />

gemischt aus: erfolgreiche polnische Unternehmer,<br />

eine alternative Kulturszene, aber<br />

Stadtansicht von Lublin 2005. (Urheber unbekannt)<br />

auch wachsende soziale Ungleichheiten,<br />

Armut und eine angespannte Finanzlage<br />

der Stadt. Folgende ihrer Beobachtungen<br />

zeichnet dann auch ein wenig hoffnungsvolles<br />

Bild: „Seine beste Zeit muss Lublin<br />

im vierzehnten, fünfzehnten und sechzehnten<br />

Jahrhundert gehabt haben. 1317 erhielt<br />

es das Stadtrecht, Handel und Handwerk<br />

bekamen eigene Freiräume. In dieser Periode<br />

entstand die kleine, doch berückend<br />

schöne Altstadt. Das alte Rathaus, die reich<br />

verzierten Renaissance-Bürgerhäuser lassen<br />

etwas vom damaligen Reichtum der Stadt<br />

erahnen. Von der gegenwärtigen öffentlichen<br />

Armut allerdings auch. Die Gebäude<br />

in den engen Gassen bewohnen meist Arme,<br />

darunter so mancher Krimineller, hier ist einer<br />

der sozialen Brennpunkte Lublins. Die<br />

feuchten, primitiven, oft baufälligen Wohnungen<br />

sind anderweitig nicht zu vermieten,<br />

und so beschleunigen die Einwohner<br />

den Verfall, den bisher nur geringe öffentliche<br />

Investitionen aufzuhalten versuchten.“<br />

Glaubt man den Fotos aus Reiseführern<br />

und der örtlichen Tourismusbehörde, dann<br />

zeigt sich die Lubliner Altstadt heute, weitere<br />

acht Jahre später, in neuem Glanz. Viele<br />

Gebäude sind in den letzten Jahren instand<br />

gesetzt, die Fassaden aufwendig restauriert<br />

worden. Die EU-Fördermittel, die Polen seit<br />

dem EU-Beitritt 2004 in grossem Umfang<br />

zu Gute kommen, werden einen entscheidenden<br />

Beitrag zur Finanzierung der Erneuerungsmassnahmen<br />

geleistet haben. Denn<br />

nur 1,78% des umgerechnet rund 200 Mio.<br />

Euro starken Haushalts der Stadt Lublin<br />

standen beispielsweise letztes Jahr für Kul-<br />

Stadtrenovierung<br />

(David Kolb)<br />

59


Haus der Familie Konopnica<br />

(Markt Nr. 12) Fassade 1999<br />

(David Kolb)<br />

Fassade nach der Renovierung<br />

2004<br />

(Quelle: Stadt Lublin)<br />

tur und den Schutz nationaler Kulturgüter<br />

zur Verfügung. Investitionen jedenfalls, die<br />

in das architektonische Erbe der Stadt fliessen,<br />

scheinen im Zeitalter der Tourismusindustrie<br />

gut angelegt. Denn man erwartet,<br />

wie auf der Homepage der Stadt zu lesen ist,<br />

nach Abschluss der Instandsetzung der Altstadt<br />

und dem Ausbau der Hotelinfrastruktur<br />

einen Anstieg der Touristenzahlen, auch<br />

aus dem Ausland. Anders <strong>als</strong> Warschau,<br />

Danzig oder Posen, deren weitgehend zerstörte<br />

Altstädte nach dem Zweiten Weltkrieg<br />

mit dem Ziel historische Kontinuität<br />

zu gewährleisten wieder aufgebaut wurden,<br />

oder Städte wie Elbing, die erst in den letzten<br />

beiden Jahrzehnten die in Fachkreisen<br />

stark umstrittenene „Retroversion“ (Rekonstruktion)<br />

ihrer Altstadt durchsetzten konnte,<br />

war die Bausubstanz der Altstadt von<br />

Lublin nach 1945 nur wenig zerstört. An bedeutenderen<br />

Gebäuden haben die Lubliner<br />

zwischen 1947 und 1952 nur das aus dem 19.<br />

Jahrhundert stammende „Neue Rathaus“<br />

(Nowy Ratusz) wieder aufgebaut. Ein wichtiges<br />

Stück Stadtgeschichte allerdings bleibt<br />

im heutigen Alltag unsichtbar, erst in den<br />

letzten Jahren wurde es im Massstab 1:250<br />

rekonstruiert: das jüdische Viertel Podzamcze.<br />

Da wo heute der Busbahnhof, ein Parkplatz<br />

und viel Verkehr (Al. Tysiaclecia) das<br />

Stadtbild bestimmen, wohnten bis zur vollständigen<br />

Zerstörung des Stadtteils durch<br />

die Nation<strong>als</strong>ozialisten die Juden Lublins.<br />

Zahlen und Statistiken lassen erahnen,<br />

dass „Lublin heute“ mehr sein muss <strong>als</strong> eine<br />

pittoreske Altstadt und Zeuge einer bewegten<br />

Vergangenheit, viel mehr. Und gerade<br />

das macht es spannend.<br />

1317 zur Zeit ihrer Gründung umfasste<br />

die Stadt etwa 24 km 2 , heute nimmt sie eine<br />

Fläche von 147 km 2 ein und hat sich damit<br />

in ihrer Ausdehnung mehr <strong>als</strong> versechsfacht.<br />

Die Einwohnerzahlen, die im ausgehenden<br />

19. Jahrhundert noch bei rund<br />

50.000 lagen, haben sich sogar mehr <strong>als</strong><br />

versiebenfacht. Die grössten Zuwachsraten<br />

verzeichnete die Stadt im letzten Jahrhundert,<br />

besonders nach 1945. Dass bedeutet,<br />

dass neben Eingemeindungen auch unzählige<br />

neue Wohngebiete zum Wachstum<br />

Lublins beigetragen haben müssen.<br />

Ein Stück Stadt, von der man <strong>als</strong> flüchtiger<br />

Besucher nichts zu sehen bekommen wird.<br />

Grossplattenbausiedlungen in Typenserien<br />

wie sie in den 1960er, 1970er Jahren in vielen<br />

Ländern entstanden? Ebenso wie in der<br />

ehemaligen DDR produziert in Fabriken<br />

nach sowjetischen Vorbildern mit dem Ziel<br />

die Industrialisierung des Bauens voranzutreiben,<br />

unter dem Motto „Besser, schneller<br />

und billiger bauen“? Mit den gleichen bauphysikalischen,<br />

baukonstruktiven und vor<br />

allem sozialen Problemen wie wir sie heute<br />

in Deutschland haben? Und denselben hilflosen<br />

Lösungsansätzen: in verschiedenen<br />

Farben angemalt, mit unterschiedlichen<br />

Eingangsportalen versehen um Identifikation<br />

zu erleichtern? Vielleicht.<br />

Auch die Zeit nach 1989, die Liberalisierung<br />

und Privatisierung der Märkte, der<br />

Reformprozess Polens muss die Stadt verändert<br />

haben. Polen gilt <strong>als</strong> Niedriglohnland.<br />

Durchschnittlich umgerechnet 570<br />

Euro verdient wer in Polens Wirtschaft beschäftigt<br />

ist, so heisst es auf der Homepage<br />

der Stadt Lublin mit der sie um internationale<br />

Investoren wirbt. Stimmen die Zahlen,<br />

dann ist es für Unternehmen günstig<br />

nach Lublin zu kommen. Mehr <strong>als</strong> umgerechnet<br />

35 Euro/m 2 muss man für Bauland<br />

nicht bezahlen, Büroflächen in guter Lage<br />

kann man für 15 Euro/m 2 (22 Euro/m 2 in<br />

Warschau) mieten, Steuervergünstigungen<br />

sind selbstverständlich. Jeder fünfte Einwohner<br />

Lublins ist Student. Eine renommierte<br />

Katholische, eine Technische, eine<br />

Medizinische, die Marie Curie-Slodowska<br />

Universität, eine Universität für Agrarwissenschaften<br />

und sieben weitere Colleges<br />

(u.a. Wirtschaft, Sozialwissenschaften, Europastudien)<br />

müssten der Stadt einen klaren<br />

Standortvorteil gegenüber vielen anderen<br />

polnischen Städten verschaffen. Nach<br />

eigenen Angaben sind die wichtigsten<br />

Wirtschaftszweige der Stadt die Automobil-,<br />

Chemie- und Lebensmittelindustrie,<br />

Maschinenbau, Möbelfabrikation, Stromerzeugung,<br />

Handel und Dienstleistung.<br />

387 Unternehmen mit ausländischem Kapital<br />

meldet die Stadt 2004, knapp 1 % aller<br />

Lubliner Unternehmen. McDonald’s,<br />

OBI und Media Markt sind schon da. Die<br />

Gelder kommen vor allem aus Westeuropa.<br />

Dänen produzieren Bier, Franzosen<br />

Autozubehör, Deutsche investieren mit der<br />

60


Übernahme des Grand Hotel Lublianka in<br />

die Tourismusindustrie. Die wichtigsten<br />

Handelspartner Lublins sind jedoch nach<br />

wie vor Staaten im Osten wie die Ukraine<br />

oder Weissrussland. Auf deren Märkte spekulierte<br />

wohl auch einer der ersten ausländischen<br />

Grossinvestoren Lublins, der koreanische<br />

Automobilhersteller Daewoo, <strong>als</strong><br />

er Mitte der 1990er Jahre die Mehrheit des<br />

Lubliner Staatsbetriebs FSC übernahm. Das<br />

Unternehmen produzierte bis dahin den<br />

Lieferwagen „Zuk“. Mit dem neuen Besitzer<br />

kam der neue Name, „Daewoo Motor Polska“,<br />

und ein neues Modell: der für den osteuropäischen<br />

Markt gefertigte Kleintransporter<br />

„Lublin“. Scheinbar erfolgreich, denn<br />

obwohl der koreanische Mutterkonzern<br />

2001 Konkurs anmeldete, hat der „Lublin“<br />

überdauert. Der Transporter, finanziert von<br />

über 60 neuen Anteilseignern, geht heute <strong>als</strong><br />

„Lublin III“ vom Band.<br />

Ein gut präpariertes architektonisches<br />

Erbe, anonyme Stadtansichten und ein robuster<br />

Kleintransporter – unterschiedliche<br />

Facetten einer Stadt, über die sich aus der<br />

Ferne nur Vermutungen anstellen lassen.<br />

Höchste Zeit, sie an der Wirklichkeit zu<br />

messen!<br />

Literatur<br />

Krisztina Koenen: Lublin. Auf dem Weg<br />

nach Eldorado, in: Frankfurter Allgemeine<br />

Magazin, 23.01.1998, Nr.934<br />

Lorenz, Frank: Die Wiederherstellung historischer<br />

Altstädte in Polen seit 1985, in:<br />

Langer, Andrea: Der Umgang mit dem kulturellen<br />

Erbe in Deutschland und Polen,<br />

Warschau 2004, S.191-197<br />

Gawarecki, Henryk: Lublin. Krajobraz i architektura,<br />

Warschau 1964<br />

Links<br />

www.um.lublin.pl<br />

www.loit.lublin.pl<br />

www.tnn.lublin.pl<br />

www.daewoo.lublin.pl<br />

Daewoo Lublinj II<br />

(Quelle: Daewoo)<br />

Stadtansicht von Lublin 2005.<br />

(Urheber unbekannt)<br />

61


Kapitel III<br />

Identität und Erinnerung –<br />

Cusanische Standpunkte<br />

63


Deutsch-Polnische Begegnungen:<br />

Lauter Klippen, Hürden, Stolpersteine?<br />

von Elisabeth Suntrup<br />

Deutsch-polnische Begegnungen im Jahr<br />

2006, zwei Ereignisse, zwei widerstreitende<br />

Bilder. Erstes Bild: Der deutsche Papst Benedikt<br />

XVI. reist im Mai nach Polen. Allein<br />

und mit abgenommenem Käppchen<br />

geht er am letzten Tag seiner Pilgerfahrt<br />

durch das Tor des ehemaligen Konzentrationslagers<br />

Auschwitz und betet vor den Augen<br />

der Anwesenden Überlebenden vor der<br />

„Todeswand“, vor der einst Zehntausende<br />

von Häftlingen durch seine Landesleute erschossen<br />

wurden. Für den Auschwitz-Überlebenden<br />

August Kowalcyk ist der Besuch<br />

eines deutschen Papstes in Auschwitz ein<br />

unglaubliches Zeichen der Versöhnung: „Ist<br />

das nicht ein Wunder, dass ich 64 Jahre nach<br />

den Exekutionen auf der anderen Seite des<br />

Zellengitters stehe? Mit einem Menschen,<br />

der die gleiche Nationalität hat wie meine<br />

Peiniger, aber die Soutane des höchsten<br />

Würdenträgers der Kirche trägt?“, zitiert<br />

ihn die Stuttgarter Zeitung. Zweites Bild:<br />

Am Vorabend des für den 3. Juli geplanten<br />

Gipfeltreffens zum „Weimarer Dreieck“ sagt<br />

der polnische Staatspräsident Lech Kacynski<br />

das Treffen mit Bundeskanzlerin Angela<br />

Merkal und dem französischen Staatspräsidenten<br />

Jacques Chirac kurzfristig ab. In der<br />

Presse wurde daraufhin spekuliert, ob eine<br />

Satire in der deutschen Zeitung taz, in der<br />

Kacynski <strong>als</strong> ‚Polens neue Kartoffel‘ karikiert<br />

wird, der Grund für die Absage gewesen<br />

sein könnte. Beide Ereignisse zeigen, wie<br />

groß die Bandbreite der deutsch-polnischen<br />

Wahrnehmungen gegenwärtig ist. Sie reicht<br />

von dem „Wunder der Versöhnung“ bis hin<br />

zu Empfindlichkeiten und Misstrauen, die<br />

auch heute, mehr <strong>als</strong> sechzig Jahre nach dem<br />

Ende des Zweiten Weltkrieges, die deutschpolnischen<br />

Beziehungen belasten.<br />

Die vielfältigen Formen von gelungenen<br />

Begegnungen zwischen beiden Ländern,<br />

aber auch die Stolpersteine, die ihnen bis<br />

heute im Weg liegen, sollen im folgenden an<br />

einigen Beispielen aufgezeigt werden.<br />

Historische Voraussetzungen: Von der<br />

deutsch-polnischen Symbiose zur ‚Erbfeindschaft’<br />

Auch wenn es mit Blick auf die erste<br />

Hälfte des 20. Jahrhunderts größtenteils in<br />

Vergessenheit geraten ist: Das deutsch-polnische<br />

Verhältnis war nicht immer problematisch.<br />

Im Gegenteil, über Jahrhunderte<br />

gab es enge Verflechtungen zwischen Deutschen<br />

und Polen, manche sprechen gar von<br />

einer regelrechten Symbiose. Das polnische<br />

Bürgertum beispielsweise war im Mittelalter<br />

weitgehend deutscher Herkunft, umgekehrt<br />

wurden Gebiete wie Niederschlesien und<br />

Breslau von der polnischen Kultur und Sprache<br />

beeinflusst. Über Jahrhunderte kamen<br />

deutsche Siedler nach Ostpolen, deren Kultur<br />

sie mitprägten. Umgekehrt zogen im 19.<br />

Jahrhundert viele Polen aus dem preußisch<br />

besetzten Westpolen nach Nordrhein Westfalen,<br />

wo sich bis heute Spuren ihrer Sprache<br />

und Bräuche finden lassen. Konfliktfrei<br />

waren diese Migrationsbewegungen freilich<br />

nicht, wie die Ausstellung „Kaczmarek und<br />

64


andere. Polnische und polnischsprachige<br />

Zuwanderer im Ruhrgebiet 1875 bis heute“<br />

deutlich macht, die seit ihrer Erstpräsentation<br />

in Essen 1997 sowohl in Deutschland<br />

<strong>als</strong> auch in Polen auf großes Interesse gestoßen<br />

ist. Den Tiefpunkt erreichte das<br />

deutsch-polnische Verhältnis zweifelsohne<br />

während der Zeit der deutschen Besatzung<br />

zwischen 1939 und 1945: In Erinnerung geblieben<br />

sind aus dieser Zeit im kollektiven<br />

Gedächtnis der Polen nicht nur die Vertreibung<br />

und Ermordung Millionen polnischer<br />

Bürger durch die Deutschen, sondern auch<br />

der Versuch, die polnische Nation zu beseitigen.<br />

Auf deutscher Seite hingegen sind bei<br />

vielen die Vertreibung der Deutschen aus<br />

den ehemaligen reichsdeutschen Gebieten<br />

in Erinnerung geblieben, die die Auseinandersetzung<br />

mit den Verbrechen der eigenen<br />

Landsleute zunächst oftm<strong>als</strong> verdrängte.<br />

Scharfe Klippen und ihre Umschiffungsmanöver<br />

– Deutsch-polnische Begegnungen<br />

ab 1945<br />

Nach 1945 war das Klima zwischen<br />

den beiden Nachbarstaaten somit denkbar<br />

schlecht, zumal Westdeutschland und<br />

Polen den beiden verfeindeten politischen<br />

Systemen angehörten. Eine Auseinandersetzung<br />

mit den historischen Belastungen<br />

wurde deshalb zunächst verschoben. Ähnliches<br />

galt im übrigen auch für das Verhältnis<br />

zwischen Polen und der DDR, die<br />

eine Art „Zwangsfreundschaft“ <strong>als</strong> sozialistische<br />

Bruderstaaten verband, aus der<br />

die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit<br />

ausgeblendet blieb. Dennoch wurden<br />

bereits während der Zeit des „Kalten<br />

Krieges“ wichtige Schritte zu einer Annäherung<br />

und Versöhnung der beiden Völker<br />

eingeleitet, und zwar nicht zuletzt, weil immer<br />

wieder Menschen und einzelne Institutionen<br />

– auch gegen den jeweiligen Zeitgeist<br />

– dafür warben, die Begegnung mit<br />

dem Nachbarn zu suchen. Eine kaum zu<br />

unterschätzende Türöffnerfunktion hatten<br />

dabei die Kirchen, die sich bereits in den<br />

60er Jahren für einen Dialog zwischen beiden<br />

Völkern einsetzten. Man denke in diesem<br />

Zusammenhang vor allem an die Versöhnungsbotschaft<br />

der polnischen Bischöfe<br />

(„Wir gewähren Vergebung und bitten um<br />

Verzeihung“) an ihre deutschen Mitbrüder<br />

im Jahre 1965. Daneben hatten insbesondere<br />

Kulturschaffende, Künstler und Intellektuelle<br />

eine wichtige Vorreiterfunktion für<br />

die Begegnung zwischen den beiden Nachbarn:<br />

Im westdeutschen Kulturbetrieb etwa<br />

kam es in den 60er Jahren zu einer regelrechten<br />

„Polenwelle“. Die Musik von Krzystof<br />

Penderecki, Filme von Andrzej Wajda<br />

oder Andrzej Munk sowie polnische<br />

Lyrik wurden begeistert rezipiert und vermittelten<br />

das Bild eines anderen, modernen<br />

Polens. Die ostdeutschen Intellektuellen<br />

hingegen entdeckten Polen vor allem<br />

während der 70er <strong>als</strong> eine Form des anderen<br />

Sozialismus, in dem Künstler und Medienleute<br />

westlicher orientiert waren und<br />

freier agieren konnten. Umgekehrt spielten<br />

deutsche Autoren, wie etwa Heinrich Böll,<br />

Günter Grass oder Siegfried Lenz, für die<br />

Herstellung eines anderen Deutschlandbildes<br />

in Polen eine wichtige Rolle. Auf politischer<br />

Ebene legte Willy Brandt mit seiner<br />

Neuen Ostpolitik in den 70er Jahren<br />

die Grundlagen für eine Annäherung zwischen<br />

beiden Ländern, die im Kniefall an<br />

der Gedenkstätte des Warschauer Ghettos<br />

ihr Symbol fand. Der erste Annäherungsversuch<br />

eines deutschen Staatsoberhauptes<br />

an den östlichen Nachbarn verlief jedoch<br />

keineswegs ‚stolperfrei’: So kam es in der<br />

Bundesrepublik zu öffentlichen Protesten<br />

gegen das Warschauer Abkommen, in dem<br />

die Bundesrepublik die Oder-Neiße-Grenze<br />

vorläufig anerkannte und in dem viele<br />

eine endgültige Verzichtserklärung für die<br />

ehemaligen deutschen Ostgebiete sahen.<br />

Nach der Pionierarbeit auf kultureller<br />

und politischer Ebene ermöglichte die<br />

Öffnung der Grenzen ab den 70er Jahren<br />

erstm<strong>als</strong> auch persönliche Begegnungen<br />

zwischen Westdeutschen und Polen bzw.<br />

Ostdeutschen und Polen. Hunderttausende<br />

Polen reisten nun <strong>als</strong> Touristen nach<br />

West- oder Ostdeutschland und umgekehrt.<br />

Während die DDR in den 80er Jahren<br />

die Grenze gegenüber dem reformfreudigen<br />

Nachbarn wieder schloss, löste<br />

die Entstehung der polnischen Gewerkschaftsbewegung<br />

Solidárnosc Anfang der<br />

80er Jahre in der Bundesrepublik eine neue<br />

Polenbegeisterung aus: In einer großange-<br />

65


legten Hilfsaktion schickten Westdeutsche<br />

etwa zwei Millionen Pakete mit Lebensmitteln<br />

und Bekleidung nach Polen. Auch das<br />

Bistum Trier, zu dem ich dam<strong>als</strong> gehörte,<br />

rief zu Spenden auf, und ich kann mich<br />

noch gut daran erinnern, wie ich mit meiner<br />

Mutter zusammen <strong>als</strong> Sechsjährige die sogenannten<br />

„Polenpäckchen“ geschnürt und<br />

dabei zum ersten Mal überhaupt von dem<br />

Land gehört habe, das mir dam<strong>als</strong> wie aus<br />

einer anderen Welt erschien.<br />

Anfangseuphorie und jede Menge Stolpersteine<br />

– deutsch-polnische Begegnungen<br />

seit 1990<br />

Mit dem Grenzvertrag am 14. November<br />

1990 und dem Nachbarschafts- und<br />

Freundschaftsvertrag vom 17. Juni 1991, unterzeichnet<br />

durch den polnischen Ministerpräsidenten<br />

Jan Krystof Bielecki und Bundeskanzler<br />

Helmut Kohl, wurde 45 Jahre<br />

nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges<br />

erstm<strong>als</strong> die rechtliche Basis für eine ganz<br />

neue Zusammenarbeit zwischen den beiden<br />

Ländern gelegt. Dabei begegneten sich<br />

Anfang der 90er Jahre zwei Nachbarn, die<br />

nicht nur großes Interesse, ja Begeisterung<br />

füreinander empfanden, sondern die auch<br />

von ähnlichen Interessen innerhalb Europas<br />

geleitet waren: Die Idee einer „Deutschpolnischen<br />

Interessengemeinschaft“ kam zu<br />

dieser Zeit auf: Während das wiedervereinigte<br />

Deutschland unter Helmut Kohl ein<br />

Interesse an einer Vertiefung und Erweiterung<br />

der EU Richtung Osten hatte, nicht<br />

zuletzt, um die Angst vor einem wiedererstarkenden<br />

Deutschland in der Mitte Europas<br />

zu entkräften, setzt sich auf polnischer<br />

Seite die Überzeugung durch, dass der „Weg<br />

nach Europa“ über Deutschland führt“ (vgl.<br />

Freudenstein/Tewes 2002, S.30).<br />

Seitdem haben in vielen Bereichen Begegnungen<br />

zwischen den beiden Nachbarländern<br />

stattgefunden, aus denen zum Teil<br />

dauerhafte Verflechtungen entstanden sind.<br />

Ein Beispiel dafür ist die 1991 eröffnete Europa-Universität<br />

Viadrina, die die beiden<br />

Zwillingsstädte Frankfurt/Oder und Slubice<br />

miteinander verbindet. Wie sehr die<br />

beiden Grenzstädte inzwischen miteinander<br />

verflochten und welche ‚geistigen Brücken’<br />

durch die Universität entstanden sind,<br />

konnte ich bei der Mitorganisation einer<br />

Fachschaftstagung des <strong>Cusanuswerk</strong>es, die<br />

unter dem Titel „Going East – wirtschaftliche<br />

und soziale Implikationen“ vom 31.<br />

Oktober bis 3. November 2002 an der Viadrina<br />

stattgefunden hat, selbst miterleben.<br />

Zu nennen ist in diesem Zusammenhang<br />

auch das 1993 gegründete „Deutsch-Polnische<br />

Jugendwerk“, an dessen Austauschprogrammen<br />

mittlerweile 1,3 Millionen<br />

Jugendliche teilgenommen haben. Darüber<br />

hinaus gibt es weitreichende wirtschaftliche<br />

Verflechtungen: Deutschland ist Polens<br />

wichtigster Handelspartner, ein Drittel von<br />

Polens Exportgütern geht nach Deutschland,<br />

ein Viertel der Importgüter werden<br />

aus Deutschland eingeführt. Umgekehrt ist<br />

Polen für Deutschland der wichtigste Auftragnehmer,<br />

über 10% aller Auslandsaufträge<br />

aus dem östlichen Nachbarland. Doch<br />

trotz dieser vielfältigen politischen, kulturellen<br />

und wirtschaftlichen Kontakte gibt es<br />

bis heute jede Menge ‚Stolpersteine’, die die<br />

bilateralen Beziehungen zwischen Deutschland<br />

und Polen vor allem in den letzten Jahren<br />

deutlich haben abkühlen lassen.<br />

Rechtlich-politische Hürden: Vertreibungspolitik<br />

und Entschädigungszahlungen<br />

Die Verschlechterung der bilateralen Beziehungen,<br />

wie sie derzeit zu beobachten<br />

ist, hat aus Sicht vieler Experten entscheidend<br />

mit der Rückkehr der Vergangenheit<br />

in den deutsch-polnischen Dialog zu tun.<br />

Während die belastete Geschichte zwischen<br />

beiden Ländern aus deutscher Sicht<br />

lange Zeit <strong>als</strong> Ansporn diente, um die Beziehungen<br />

zum Nachbarland zu verbessern,<br />

wurde sie in der polnischen Wahrnehmung<br />

seit Ende der 90er Jahre instrumentalisiert,<br />

um Bedingungen an den polnischen EU-<br />

Beitritt zu knüpfen. Auslöser der bis heute<br />

andauernden Geschichtsdebatte waren<br />

die scharfen Worte der Vorsitzenden des<br />

„Bundes der Vertriebenen“ (BdV) Erika<br />

Steinbach, die bei ihrem Amtsantritt 1998<br />

eine Entschuldigung der „Vertreiberstaaten“<br />

und Entschädigungen gegenüber den Vertriebenen<br />

forderte. Andernfalls solle die<br />

deutsche Außenpolitik Polens EU-Beitritt<br />

blockieren. Einen ganz besonders empfindlichen<br />

Nerv in Polen traf vor allem die<br />

66


Gründung der „Preußischen Treuhand“<br />

im Jahr 2003, einer Klägervereinigung, die<br />

das Ziel verfolgt, vor europäischen Gerichtshöfen<br />

Entschädigungen oder eine Wiederherstellung<br />

des Eigentums von Vertriebenen<br />

in Polen einzuklagen; die ersten Klagen vor<br />

dem Europäischen Menschenrechtsgerichtshof<br />

in Straßburg stehen demnächst an. Zusammen<br />

mit dem von Steinbach parallel zu<br />

ihren Entschädigungsforderungen vorangetriebenen<br />

„Zentrum gegen Vertreibungen“<br />

wurde die „Preußische Treuhand“ in Polen<br />

<strong>als</strong> Beleg für den angenommenen deutschen<br />

Revisionismus wahrgenommen. Welche<br />

Polemik die Debatte dabei entzündete,<br />

zeigt die umstrittene Karikatur auf dem Titelblatt<br />

des polnischen Magazins „Wprost“<br />

von September 2003, die Erika Steinbach in<br />

SS-Uniform auf Gerhard Schröder reitend,<br />

darstellt:<br />

Anspielung auf die Partei der Kaczynskis<br />

tituliert wird – formulierten Ansprüche.<br />

Denn sie bieten der nationalkatholischen<br />

Partei eine hervorragende Plattform, um<br />

Ängste und Misstrauen in der Bevölkerung<br />

zu schüren und antideutsche Ressentiments<br />

zu wecken. Die daraus entstandenen politischen<br />

Konstellation tragen derzeit kaum<br />

dazu bei, die Stolpersteine zwischen beiden<br />

Ländern aus dem Weg zu räumen – siehe<br />

der gescheiterte Weimargipfel. Während<br />

von polnischer Seite vor allem nationalbewusste<br />

Töne zu hören sind, die eher Konflikte<br />

<strong>als</strong> Konsens oder partnerschaftliche<br />

Nachbarschaft suchen, ist in Berlin zwar einerseits<br />

das Bemühen erkennbar, die Krise<br />

in den deutsch-polnischen Beziehungen<br />

möglichst niedrig zu halten und Sympathie<br />

gegenüber dem Nachbarn zu signalisieren.<br />

Andererseits ist eine klare Distanzierung<br />

von den Forderungen Steinbachs ebenso<br />

wenig erkennbar. Die nächsten Konflikte<br />

sind da schon in Sicht.<br />

Stolperstein Nr. 1: Klischees und Vorurteile<br />

Klippenreiches politische Klima – Warschauer<br />

Tacheles versus Charmeoffensive<br />

aus Berlin<br />

Vor dem Hintergrund der andauernden<br />

Erinnerungsdebatte ist der Erfolg der Zwillingsbrüder<br />

Kaczynski nicht zuletzt auch<br />

eine Reaktion auf das wieder erwachte polnische<br />

Misstrauen gegenüber Deutschland<br />

sowie auf die von den Vertriebenenverbänden<br />

– unserer „Recht- und Gerechtigkeitspartei“,<br />

wie sie in der deutschen Wochenzeitung<br />

Die Zeit vom 10. August 2006 in<br />

Den größten Stolperstein im deutschpolnischen<br />

Verhältnis bilden aus meiner<br />

Sicht allerdings die tief verwurzelten Klischees<br />

und Stereotypen, die den Blick auf<br />

den Nachbarn oftm<strong>als</strong> verstellen und die<br />

in Polenwitzen hier oder in antideutschen<br />

Vorurteilen dort ihren Ausdruck finden.<br />

Allerdings ist dabei nicht alles so, wie es auf<br />

den ersten Blick vielleicht scheinen mag:<br />

Einer national orientierten Bevölkerung,<br />

die aufgrund der politischen Situation derzeit<br />

das Bild in den Medien beherrscht,<br />

steht in Polen eine wachsende, überwiegend<br />

urbane Bevölkerungsgruppe gegenüber,<br />

die die Anbindung an den Westen<br />

und die Begegnung mit Deutschland geradezu<br />

sucht. Auch die jüngsten Ergebnisse<br />

einer Umfrage des Instituts für öffentliche<br />

Angelegenheiten, nach der 44 % der Polen<br />

die Deutschen heute sympathisch finden<br />

(vor dreißig Jahren waren es gerade mal<br />

7 %), belegen diesen Trend. In Deutschland<br />

hingegen besteht derzeit die größte Gefahr<br />

darin, nach der Euphorie Anfang der 90er<br />

Jahre wieder einmal in Desinteresse und<br />

Gleichgültigkeit gegenüber dem polnischen<br />

67


Nachbarn zurückzufallen. Verständigung<br />

hat jedoch zuerst einmal mit ‚Verstehen wollen‘<br />

zu tun. Vielleicht sollte man sich das in<br />

Zukunft auf beiden Seiten wieder stärker in<br />

Erinnerung rufen. Das zweisprachige Magazin<br />

„Dialog“, das seit 1987 von der „Deutschpolnischen<br />

Gesellschaft“ herausgeben wird<br />

und seitdem mit großem Engagement daran<br />

arbeitet, mit den gegenseitigen Vorurteilen<br />

aufzuräumen, ist dafür im übrigen ein hervorragendes<br />

Beispiel.<br />

Literatur<br />

Freudenstein, Roland, „Szenen einer Nachbarschaft.<br />

Deutschland und Polen am Beginn<br />

des 21. Jahrhunderts“, in: Die politische<br />

Meinung, Nr. 396, November 2002,<br />

S. 29-37.<br />

Freudenstein, Roland/Tewes, Hennig,<br />

„Stimmungstief zwischen Deutschland und<br />

Polen. Für eine Rückkehr zur Interessengemeinschaft,<br />

in: Internationale Politik, Nr. 2,<br />

2000, S. 51-56.<br />

Goll, Thomas/Leuerer, Thomas (Hgg.), Polen<br />

und Deutschland nach der EU-Osterweiterung.<br />

Eine schwierige Nachbarcshaft,<br />

Baden Baden 2005.<br />

Leuerer, Thomas, „‚...wird der Pole dem<br />

Deutschen nie Bruder sein..’ – Sterotypen<br />

und Vorurteile <strong>als</strong> Konstanten der gegenseitigen<br />

deutsch-polnischen Wahrnehmung?“,<br />

in: Goll, Thomas / Leuerer, Thomas (Hgg.),<br />

Polen und Deutschland nach der EU-<br />

Osterweiterung. Eine schwierige Nachbarschaft,<br />

Baden Baden 2005, S. 31-48.<br />

Roser, Thomas, „Der Papst besucht Auschwitz.<br />

Als Deutscher am Ort, wo die Worte<br />

versagen“, in: Stuttgarter Zeitung, Nr. 122,<br />

29. Mai 2006, S. 3<br />

Roser, Thomas, „Der Heilige Vater wurde<br />

zum Polen. Polens Presse ist von der Pilgerfahrt<br />

begeistert – Juden sind vom Auftritt in<br />

Auschwitz ernüchtert“, in: Stuttgarter Zeitung,<br />

Nr. 123, 30. Mai 2006, S. 4<br />

Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik<br />

Deutschland (Hrg.), Annäherungen<br />

– Zblizenia. Deutsche und Polen 1945-1995,<br />

Düsseldorf 1996.<br />

Internet<br />

www.gelsenkirchen.de<br />

www.wirtschaft-polen.de<br />

www.deutsch-polnisches-jahr.de<br />

Hofmann, Gunter, „War da was? Deutschlands<br />

Politiker wollen sich keine Krise mit<br />

Polen einreden lassen.“, in: Die Zeit, Nr. 30,<br />

20. Juli 2006, S. 6.<br />

Ders., „Trübe Wege. Eine Ausstellung über<br />

Flucht und Vertreibung in Berlin entlastet<br />

die deutsche Geschichte und erschwert<br />

die Beziehungen zu Polen“, in: Die Zeit,<br />

10.08.2006.<br />

Köhler, Peter, „Polens neue Kartoffel. Schurken,<br />

die die Welt beherrschen wollen. Heute:<br />

Lech „Katsche“ Kacynski“, in: taz, Nr.<br />

8005, 26.06.2006, S. 20.<br />

Kossert, Andreas, „Noch ist Polen nicht verstanden.<br />

Die Deutschen sollten sich endlich<br />

von den Klischees über ihr Nachbarland<br />

verabschieden“, in: Die Zeit, 04.09.2003,<br />

Nr. 37.<br />

68


Wer nicht erinnern will,<br />

muss wiederholen?<br />

von María Teresa Quirós-Fernández<br />

Die Zeitzeugen des Faschismus sterben aus - in Deutschland, wie in Polen und<br />

Spanien. Es liegt jetzt an den Kindern und Enkeln, die realen und symbolischen<br />

Gräber ihrer Großeltern zu öffnen und sich dem mit ihnen verloren gehenden<br />

und verloren gegangenem Wissen zu stellen. Ein Vergleich der Erinnewrungskulturen<br />

in drei Ländern<br />

Diese Seiten entstanden in England und<br />

damit ausserhalb eines der hier in Betracht<br />

kommenden Länder. Die geographische<br />

Distanz wirkte sich unmittelbar auf meine<br />

Annäherung an das Thema aus. Bei meinen<br />

Recherchen in den englischen Bibliothekskatalogen<br />

stieß ich zunächst auf Reden und<br />

Kommentare von Exilpolen in England aus<br />

der Zeit, die uns heute auf nationaler und<br />

internationaler Ebene auf vielfältige Weise<br />

beschäftigt. Ich las die Ideen und Diskussionen<br />

die dam<strong>als</strong> das zukünftige Polen betrafen.<br />

Während der Recherchen betrachtete<br />

ich immer wieder den Titel, den der Essay<br />

tragen sollte: Wer nicht erinnern will, muss<br />

wiederholen? Erinnerungskulturen in Polen,<br />

Deutschland und Spanien. Was dieses erinnern<br />

und wiederholen betraf, stellten sich mir<br />

Fragen, die ein Ergebnis dessen waren, was<br />

in dem Roman Pawels Briefe (1999) von Monika<br />

Maron in Hinblick auf das Erinnern<br />

an die verstorbenen Großeltern beschrieben<br />

wird: die Schwierigkeit des Erinnerns, wenn<br />

im Innern kein versunkenes Wissen zu Tage<br />

gefördert werden kann, da es schlicht und<br />

ergreifend nicht existiert. Welche Kultur des<br />

Erinnerns wird bzw. kann hinsichtlich der<br />

mir vorliegenden vergangenen, aber textuell<br />

gegenwärtigen Geschichten, meine Generation<br />

und die uns folgenden auf der Grundlage<br />

fehlenden Wissens hervorbringen? Wir<br />

sind damit nicht nur mit dem Widerstreit<br />

von Erinnern und Vergessen, sondern - zunächst<br />

einmal persönlich - mit den uns fehlenden<br />

Erinnerungen konfrontiert. Bedeutet<br />

dies, dass wir gefährdet sind, bestimmte<br />

vergangene Ereignisse zu wiederholen, da<br />

wir sie aufgrund fehlenden Wissens nicht<br />

erinnern können? Und, wenn wir deshalb<br />

nicht erinnern können, wie lässt sich dann<br />

das verlorene Wissen wieder holen bzw. zurückgewinnen?<br />

Spanien 2006 oder das Brechen des sog.<br />

Pakt des Schweigens<br />

Das Jahr 2006 ist in Spanien von fast allen<br />

Parteien mit Ausnahme der PP (Partido<br />

Popular) zum „Jahr der historischen Erinnerung“<br />

erklärt worden, in dem die Zweite<br />

Republik und die Zeit nach dem Ende der<br />

Francodiktatur gewürdigt werden sollen.<br />

Erst 1986 gab es erstmalig ein öffentliches<br />

Gedenken an den Bürgerkrieg. Als das Parlament<br />

in einer Erklärung vom 20. November<br />

2002 den Franco-Putsch von 1936 verurteilte,<br />

schien innerhalb Spaniens eine lang<br />

verdrängte Debatte aufzuleben.<br />

69


Über Jahrzehnte betrieb der Franquismus<br />

eine Erinnerungspolitik, die auf der<br />

Dualität von Siegern und Verlierern gründete,<br />

wobei das „Verlierergedächtnis“ mit<br />

aller Macht unterdrückt wurde. Nach<br />

Francos Tod 1975 wurde das ehem<strong>als</strong> aufoktroyierte<br />

Schweigen zugunsten der neu<br />

zu errichtenden Demokratie weiter fortgeführt<br />

und das Wieder-holen einer in der nationalen<br />

Geschichtsschreibung marginalisierten<br />

und deformierten republikanischen<br />

Geschichte umgangen, was der sich neu<br />

herauszubildenden kollektiven Identität<br />

im Kontext der gerade errichteten Demokratie<br />

nicht nur zum Vorteil gereichte. Seit<br />

kurzem lässt sich nun in Spanien ein regelrechter<br />

Boom hinsichtlich der Aufarbeitung<br />

der jüngsten Geschichte beobachten,<br />

die auf unterschiedliche Weise in der spanischen<br />

Literatur thematisiert wird und für<br />

den schwierigen Umgang mit eben dieser<br />

einen ästhetischen Ausdruck sucht.<br />

Vor allem die Öffnung der über Jahrzehnte<br />

zwar allgegenwärtigen, aber tabuisierten<br />

Massengräber der Opfer des Faschismus<br />

scheint im Augenblick in aller<br />

Dramatik das Ausgraben des Verdrängten<br />

zu symbolisieren, in dessen Prozess eine<br />

längst überfällig gewordene Trauerarbeit<br />

und Aufarbeitung möglich wird. Diese erneute<br />

Hinwendung zur Vergangenheit führt<br />

das Bedürfnis vor Augen, den sog. Pakt des<br />

Schweigens aus der Zeit der Transición, d.h.<br />

der (friedlichen) Übergangsphase von der<br />

Francodiktatur zur Demokratie, endgültig<br />

zu durchbrechen.<br />

Über viele Jahre wurde die Transición <strong>als</strong><br />

eine Art politische Erfolgsgeschichte dargestellt.<br />

Artikel, wie der von Kenneth Maxwell,<br />

Spains Trasition to Democracy: A Model<br />

for Eastern Europe? (1991), diskutierten<br />

die bis dahin ablesbaren Ergebnisse dieses<br />

politischen „Modells“ auch in Hinblick auf<br />

seine Anwendbarkeit für andere Staaten.<br />

Der Erfolg wurde dabei an der politischen<br />

und ökonomischen Entwicklung Spaniens<br />

in jenen Jahren bemessen. Die gegenwärtigen<br />

Debatten lassen jedoch den Preis erkennen,<br />

der auf jenem Weg zur Demokratie<br />

zu zahlen war: die erschwerte Aufarbeitung<br />

des Spanischen Bürgerkrieges und der ihm<br />

folgenden Diktatur. Veranstaltungen wie<br />

das vom Goethe-Institut und Instituto Cervantes<br />

im Mai 2005 organisierte Symposium<br />

La cultura de la memoria: la memoria<br />

histórica en España y Alemania / Kultur des<br />

Erinnerns: Vergangenheitsbewältigung in<br />

Spanien und Deutschland lassen deutlich<br />

werden, wie wichtig die Beschäftigung mit<br />

und der Austausch zwischen den jeweiligen<br />

Kulturen des Erinnerns ist.<br />

Es liegt bald vor allem in den Händen<br />

der Kinder und Enkel, die realen und symbolischen<br />

Gräber ihrer Großeltern zu öffnen<br />

und das mit ihnen verloren gegangene Wissen<br />

zu betrauern, da es nur zum Teil wiederholbar<br />

ist. Gleichzeit scheint mir der Akt<br />

des Gräberöffnens selbst ein erster Schlüssel<br />

zum Verständnis der sich gegenwärtig<br />

(neu) herausbildenden Erinnerungskultur<br />

in Spanien zu sein und eine erste Antwort<br />

auf meine Frage, wie wir erinnern können,<br />

wofür es in uns kein Wissen gibt. Eine Kultur<br />

des Erinnerns kann (oder sollte) sich<br />

nicht lediglich in Gedenkfeiern oder theoretischen<br />

Abhandlungen erschöpfen: Sie<br />

muss zurück an die Wurzeln des Geschehenen<br />

führen - zu dem Moment, der bereits<br />

vergangen und nun verändert gegenwärtig<br />

zu unseren Füssen liegt - und zunächst einmal<br />

das, was noch existiert (aber verdeckt<br />

ist), fassbar werden lassen.<br />

Polen und Deutschland: Erinnerungskulturen<br />

im Widerstreit?<br />

Im Falle Polens und Deutschlands sind<br />

es nationale (innenpolitische Entwicklungen)<br />

und binationale (die schwierige<br />

Annäherung beider Staaten nach 1945) Aspekte,<br />

die nach 1945 und schließlich nochm<strong>als</strong><br />

nach 1989 die jeweiligen Kulturen des<br />

Erinnerns mitgestalteten.<br />

Eine gemeinsame, deutsch-polnische<br />

Erinnerungsarbeit zu etablieren, stellte und<br />

stellt dabei hinsichtlich des Zweiten Weltkrieges<br />

nicht nur eine Notwendigkeit, sondern<br />

auch eine große Herausforderung dar.<br />

Der Angriff Hitler-Deutschlands auf Polen,<br />

Okkupation und Zwangsarbeit einerseits<br />

und Flucht und Vertreibung der Deutschen<br />

aus Polen andererseits belasteten das Verhältnis<br />

stark. Einzelne Etappen waren nötig,<br />

um Grundlagen für einen heute zunehmend<br />

70


stattfindenden Dialog zu schaffen. Dazu gehörten<br />

etwa die Wiedererlangung von Polens<br />

Souveränität, die Vereinigung beider<br />

deutschen Staaten und die Verträge, die in<br />

den 90er Jahren abgeschlossen wurden, um<br />

Grundsätzliches in der deutsch-polnischen<br />

Beziehung zu regeln. Auf dieser politischen<br />

Grundlage konnten sich die deutschen und<br />

polnischen Kulturen des Erinnerns weiterentwickeln<br />

und Gemeinsamkeiten in der<br />

Erinnerungsarbeit gestärkt werden, um sich<br />

selbst lange Zeit tabuisierten Themen (wie<br />

etwa der Zwangsumsiedelung) zu widmen.<br />

Ein Problem stellen dabei immer wieder<br />

Vorurteile dar, die auf beiden Seiten fest im<br />

kollektiven Gedächtnis verankert zu sein<br />

scheinen und Polarisierungen begünstigten.<br />

Hierin zeigt sich, dass eine Reflektion der<br />

bisherigen Erinnerungspraktiken in den jeweiligen<br />

Staaten wichtig ist, die sich in den<br />

Jahrzehnten des Kalten Krieges herausgebildet<br />

haben. So ließ sich auf polnischer Seite<br />

zum einen - ähnlich wie im Falle Spaniens<br />

zur Zeiten der Transición - ein Verhalten erkennen,<br />

das sich in der postdiktatorischen<br />

Phase mehr durch Tendenzen des Vergessens,<br />

der Amnesie und des Schlussstrichs <strong>als</strong><br />

durch Erinnern auszeichnete, um den politisch-gesellschaftlichen<br />

Neubeginn nicht zu<br />

gefährden. Des weiteren scheint das vermittelte<br />

z.T. sehr einseitige Geschichtsbild der<br />

kommunistischen Regierung noch wenig<br />

hinterfragt worden zu sein, was die notwendige<br />

Zusammenarbeit bezüglich der wohl<br />

schwierigsten Aufgabe, der Konfrontation<br />

mit dem Holocaust, erschwert. Ein Beispiel<br />

hierfür ist die polnischen Debatte um das<br />

Buch Nachbarn. Der Mord an den Juden<br />

von Jedwabne (2001) von Jan Tomasz Gross,<br />

das nicht nur viele Fragen hinsichtlich des<br />

bisherigen polnischen Selbstverständnisses<br />

aufgeworfen hat, sondern auch dazu herausfordert,<br />

die unterschwellige und schwierige<br />

Frage nach einem europäischen Schuldkomplex<br />

im Kontext des Holocaust zu stellen.<br />

Während in Polen die Erinnerung an<br />

Verbrechen am polnischen Volk im Vordergrund<br />

stand und z.T. eine Interpretationsgrundlage<br />

für die gesamt polnische<br />

Geschichte bot, stand in beiden deutschen<br />

Staaten der verübte Genozid an den Juden<br />

im Zentrum der Auseinandersetzung mit<br />

der Vergangenheit. Die deutsch-deutsche<br />

Erinnerungsarbeit ließ dabei unterschiedliche<br />

Umgangsweise mit diesem Thema erkennen.<br />

Die ersten Nachkriegsjahre waren<br />

von Tendenzen des Verdrängens einerseits<br />

und des Verschiebens andererseits gekennzeichnet:<br />

Während der „erste deutsche Arbeiter-<br />

und Bauernstaat“ sich mittels eines<br />

internationalistischen Klassenstandpunktes<br />

von der NS-Vergangenheit abschirmte und<br />

sie <strong>als</strong> Legitimationsstrategie für die SED-<br />

Diktatur nutzte, zeichnete sich der Westen<br />

immer wieder durch Verdrängung aus. Die<br />

ideologische Distanzierung führte im Osten<br />

zu einer früher einsetzenden Kritik und<br />

Abrechnung mit dem Nation<strong>als</strong>ozialismus,<br />

die jedoch im Zeichen der sozialistischen<br />

Gemeinschaft stand. Auf dieser Grundlage<br />

entwickelten sich unterschiedliche Kulturen<br />

des Erinnerns, die um nationale Geschichte<br />

und Identität rangen. Nach 1989 hingegen<br />

galt es, sich der Herausforderung einer<br />

gesamtdeutschen Geschichte zu stellen. Die<br />

Schwierigkeit bestand nun darin,, auch die<br />

Geschichte und Konsequenzen der SED-<br />

Diktatur aufzuarbeiten. „Deutschland ist<br />

das einzige Land Westeuropas, das die Erfahrungen<br />

beider Totalitarismen gehabt hat,<br />

genau wie die mittel- und osteuropäischen<br />

Länder der heutigen Erweiterung. Darum<br />

kann kein Land Europas besser <strong>als</strong> Deutschland<br />

diese komplexe, widersprüchliche, reiche<br />

und tragische Erfahrung sich verständlich<br />

machen, um davon zu lernen, nicht nur<br />

auf der Ebene des akademischen Wissens,<br />

auch auf der Ebene der Praxis und der Zukunftsplanung“,<br />

äußerte sich der Buchenwald-Überlebende<br />

Jorge Semprun in seiner<br />

Rede zum Jahrestag der Befreiung von Auschwitz<br />

am 27. Januar 2003 im Deutschen<br />

Bundestag. Im Zuge dieser „doppelten Vergangenheitsbewältigung“<br />

haben sich in<br />

Deutschland tatsächlich verschiedene Strategien<br />

entwickelt, um sich der Aufarbeitung<br />

der zwei Totalitarismen zu stellen. Ein gemeinsamer,<br />

deutsch-polnischer Austausch<br />

über die Erfahrungen im Prozess der Herausbildung<br />

einer „post-totalitären“ Kultur<br />

des Erinnerns könnte in der Tat auch die<br />

Grundlage für eine gemeinsame deutschpolnische<br />

“Zukunftsplanung” sein.<br />

71


Erinnerungskulturen Europas in Zeiten<br />

der Postmemory<br />

So verschieden die Ausgangsbedingungen<br />

bei der Herausbildung der jeweiligen Erinnerungskulturen<br />

in Spanien, Polen und<br />

Deutschland gewesen sein mögen, sie stehen<br />

sich zumindest in einem Punkt im Moment<br />

sehr nahe, der die Zukunft der Kulturen<br />

des Erinnerns betrifft: Was geschieht,<br />

wenn wir uns nicht mehr erinnern können,<br />

weil uns (selbst erfahrene) Erinnerungen<br />

fehlen? Besteht dann die Gefahr, dass sich<br />

die traumatischen Ereignisse des letzten<br />

Jahrhunderts wiederholen?<br />

Marianne Hirsch hat sich in ihre Studie<br />

mit dem after image der Shoa in Beziehung<br />

zu den Kindern von Holocaust-Überlebenden<br />

beschäftigt. Sie führt darin das Konzept<br />

der Postmemory ein. Diese unterscheidet<br />

sich vom Gedächtnis durch die generationale<br />

Distanz und von der Geschichte durch<br />

das Fehlen tiefer persönlicher Bindung an<br />

die Ereignisse. Die Verbindung zum Gegenstand<br />

ist demnach (im weitesten Sinne<br />

narrativ) vermittelt. Hirsch distanziert sich<br />

jedoch von einem Verständnis der Postmemory<br />

<strong>als</strong> „leer“ oder „abwesend“. Vielmehr<br />

sei sie „besessen“ und „unnachgiebig“ und<br />

„as full or as empty, certainly as constructed,<br />

as memory itself“ (Hirsch, 1997: 22). Diese<br />

Gedanken führen mich zurück zu den mich<br />

eingangs bewegenden Fragen. Lassen sich<br />

die Ausführungen Hirschs ausweiten? Sind<br />

wir nicht allgemein mit einem “Nach-Gedächtnis”<br />

konfrontiert? Oder wie es Young<br />

formuliert, mit einer “recieved history”, einer<br />

durch Foto, Filme, etc. vermittelten Erfahrung<br />

(nicht nur) des Holocaust?<br />

Die entscheidende Frage ist meines Erachtens<br />

nicht, ob wir erinnern wollen, sondern<br />

vielmehr: Wie können wir in Zukunft<br />

erinnern und Vergangenes wieder holen,<br />

damit es sich nicht in ähnlicher Weise wiederholt?<br />

Welche Strategien können wir auf<br />

der Grundlage des fehlenden, nicht wiederholbaren<br />

Wissens entwickeln, um dies zu<br />

leisten? Die europäischen Erinnerungskulturen<br />

sind vielfältig und vielstimmig, auch<br />

wenn dies nicht (mehr) immer sichtbar bzw.<br />

hörbar ist. Gegenwärtige Generationen<br />

sollten diesen Umstand trotz des fehlenden<br />

Wissens berücksichtigen und Wege finden,<br />

auch das Abwesende - z.B. mittels Kunst<br />

oder Literatur – hervorzubringen oder zu<br />

(re-)konstruieren und in einem offenen Dialog<br />

zu diskutieren, in dem die Angst vor<br />

den eigenen Schatten nicht mehr größer ist,<br />

<strong>als</strong> das Bestreben, der europäischen Vergangenheit<br />

unvoreingenommen zu begegnen.<br />

Literatur<br />

Aleida Assmann/Ute Frevert: Geschichtsvergessenheit<br />

- Geschichtsversessenheit.<br />

Vom Umgang mit deutschen Vergangenheiten<br />

nach 1945.Stuttgart 1999.<br />

Bernecker, Walther L./Brinkmann, Sören:<br />

Kampf der Erinnerungen. Der Spanische<br />

Bürgerkrieg in Politik und Gesellschaft<br />

1936-2006.Nettersheim 2006.<br />

Gross, Jan Tomasz: Nachbarn. Der Mord<br />

an den Juden von Jedwabne. München<br />

2001.<br />

Hirsch, Marianne: Family Frames: Photography,<br />

Narrative and Postmemory. Cambridge<br />

1997.<br />

Maron, Monika: Pawels Briefe. Frankfurt<br />

am Main 1999.<br />

Maxwell, Kenneth: Spain’s Transition to<br />

Democracy: A Model for Eastern Europe?,<br />

in: Proceedings of the Academy of Political<br />

Science, Vol. 38, No. 1, The New Europe:<br />

Revolution in East-West Relations. (1991),<br />

S. 35-49.<br />

Resina, Joan Ramon: Disremembering the<br />

Dictatorship: The Politics of Memory in the<br />

Spanish Transition to Democracy. Amsterdam<br />

2000.<br />

Semprún, Jorge: Blick auf Deutschland.<br />

Frankfurt am Main 2003.<br />

Young, James E.: At memory’s Edge: After-<br />

Images of the Holocaust in Contemporary<br />

Art and Architecture. New Haven 2000.<br />

72


Wypędzeni ze Wschodu.<br />

Niemcy i Polacy pamiętają inaczej.<br />

Vertrieben aus dem Osten.<br />

Deutsche und Polen erinnern (sich) anders.<br />

von Agnieszka Gryz-Männig<br />

Problem wypędzenia Niemców z<br />

byłych niemieckich terenów wschodnich<br />

postrzegany jest w Polsce i w<br />

Niemczech z innej perspektywy.<br />

Wyuczone modele pamięci narodowej<br />

próbując zapewnić sobie należytą<br />

pozycję krępują stosunki polsko-niemieckie.<br />

W Polsce ciągle oczekujemy<br />

padania na kolana, a Niemcy już tego<br />

nie chcą. W Niemczech podejmowana<br />

jest dyskusja o wypędzonych jako o ofiarach,<br />

a Polacy rolę ofiary już dawno<br />

przyznali sobie. Czy te różne ujęcia<br />

mają szansę się zbliżyć przy wspólnej<br />

kawie?<br />

Die Wahrnehmung der Vertreibung<br />

der Deutschen aus den ehemaligen<br />

Ostgebieten ist in Deutschland anders<br />

<strong>als</strong> in Polen. Die gewohnten Erinnerungsmuster<br />

belasten die deutschpolnischen<br />

Beziehungen, da jede Seite<br />

versucht, ihre Positionen durchzusetzen.<br />

In Polen erwartet man oft immer<br />

noch Kniefälle und die Deutschen wollen<br />

das nicht mehr. In Deutschland<br />

will man über die Vertriebenen <strong>als</strong><br />

Opfer diskutieren und für die Polen ist<br />

die Opferrolle längst vergeben. Gibt es<br />

einen Ort, an welchem sich die beiden<br />

Wahrnehmungen annähern können?<br />

Na spokojnej bocznej uliczce w centrum<br />

Gdańska-Wrzeszcza stoi domek szeregowy z<br />

małym ogrodem z tyłu. W tym domu na poddaszu<br />

pewna niemiecka rodzina żyła swoją<br />

codziennością. Nagle musieli opuścić swoje<br />

mieszkanie biorąc tylko to, co najpotrzebniejsze.<br />

Pełne wyposażenie kuchni, biały<br />

kredens, stół z czterema krzesłami i porcelanowy<br />

dzbanek do kawy nie zmieściły się<br />

do walizek.<br />

Kiedy polska babcia szukała w Gdańsku<br />

nowego mieszkania po wojnie, natrafiła<br />

na puste piękne mieszkanie na poddaszu<br />

w domku szeregowym na spokojnej bocznej<br />

uliczce w centrum Gdańska-Wrzeszcza.<br />

Z balkonem i ogrodem za domem. W<br />

pełni wyposażone mieszkanie zachęcało,<br />

In einer ruhigen Seitenstrasse im Zentrum<br />

von Danzig-Langfuhr steht ein Reihenhaus<br />

mit kleinem Garten dahinter. Im<br />

Dachgeschoss hatte eine deutsche Familie<br />

ihren Alltag gelebt. Dann musste sie das<br />

Haus verlassen und durfte auf die Schnelle<br />

nur das Notwendigste mitnehmen. Die<br />

ganze Kücheneinrichtung, ein weißer Küchenschrank,<br />

ein Tisch mit vier Stühlen<br />

und eine Porzellankaffeekanne, passten<br />

nicht mehr rein in die Koffer.<br />

Als eine polnische Großmutter in<br />

Gdańsk-Wrzeszcz nach dem Krieg eine<br />

neue Wohnung suchte, fand sie eine wunderschöne<br />

Dachgeschosswohnung in einer<br />

ruhiger Seitenstraße im Zentrum von<br />

Gdańsk-Wrzeszcz in einem Reihenhaus leer<br />

73


y szybko się przeprowadzić. Do tego jasna<br />

kuchnia z białym kredensem, stołem i<br />

czterema krzesłami. W kredensie dzbanek<br />

do kawy i wbudowany młynek. Wokół tego<br />

stołu stworzyła swoim polskim dzieciom<br />

namiastkę raju w całkowicie zniszczonym<br />

Gdańsku. Dla dzieci ten dom z ogrodem,<br />

chleb ze śmietaną i cukrem to synonim<br />

domu rodzinnego i najważniejsze wspomnienie<br />

powojennego Gdańska.<br />

Potem w innym polskim domu daleko<br />

od Gdańska, w innej szafce kuchennej na<br />

najwyższej półce starannie przechowywany<br />

jest ten sam dzbanek do kawy. Używa się<br />

go rzadko, za to popołudniowa kawa urasta<br />

wtedy do rangi wydarzenia szczególnego.<br />

Stara pamiątka z Gdańska ożywa. Z dzbanka<br />

wydobywa się para i zapach niedzielnego<br />

popołudnia. Rodzina siedzi razem przy<br />

innym stole z sześcioma krzesłami i każdy<br />

zatapia się w myślach w swojej filiżance. Dla<br />

babci kawa ma słodki smak młodej rodziny<br />

z trójką dzieci ale i gorzki posmak zmagań z<br />

powojenną codziennością. Dla mamy kawa<br />

to tylko niebiańska słodycz gdańskiego raju<br />

na spokojnej bocznej uliczce. Dziecko fascynuje<br />

całe to wydarzenie, dzbanek do kawy,<br />

który estetyką znacznie przewyższa wszystkie<br />

inne elementy wyposażenia kuchni<br />

dostępne w socjalistycznych sklepach AGD<br />

a i kawa smakuje lepiej niż pita tradycyjnie<br />

kawa po polsku nazywana kawą po turecku.<br />

Po latach dzbanek do kawy stoi w polsko-niemieckim<br />

domu w witrynie w pokoju<br />

dziennym i wypełnia go własną historią,<br />

gdańskim morskim powietrzem, historiami<br />

rodzin, w których uczestniczył przez te<br />

wszystkie lata. Historie znane i nieznane<br />

znowu ożywają. Ożywają też osoby te znane<br />

i te nieznane.<br />

Jakie były te historie nieznane i te osoby<br />

nieznane? Jak wyglądało życie w tej<br />

szeregówce w spokojnej bocznej uliczce w<br />

Gdańsku-Wrzeszczu przed wojną i przed<br />

późniejszymi decyzjami o przesunięciach<br />

granic? Czy ten dzbanek do kawy to część<br />

polskiej czy niemieckiej historii? Czy opowiada<br />

on tę historie po polsku czy po niemiecku?<br />

Jak pamiętają tamci nieznani? Wystarczy<br />

się wsłuchać i przy stole spotykają<br />

się wszystkie znane osoby. Te, których dziś<br />

już nie ma i te, z którymi nadal możemy<br />

vor. Mit Balkon und kleinem Garten hinter<br />

dem Haus. Die voll eingerichtete Wohnung<br />

lud ein, schnell einzuziehen. Und dazu eine<br />

helle Küche mit weißem Küchenschrank,<br />

einem Tisch mit vier Stühlen. In dem Küchenschrank<br />

eine Kaffeekanne und eingebaute<br />

Kaffeemühle. Um den Küchentisch<br />

hat sie ihren polnischen Kindern im völlig<br />

zerstörtem Gdańsk ein Stück Paradies geschaffen.<br />

Für die Kinder ist das Haus mit<br />

dem Garten, Brot mit Sahne und Zucker<br />

der Inbegriff des Elternhauses und die wichtigste<br />

Erinnerung an Nachkriegs-Gdańsk.<br />

Später wird die Kaffeekanne in einem<br />

anderen polnischen Elternhaus weit entfernt<br />

von Gdańsk ebenfalls in einem Küchenschrank<br />

ganz oben sorgfältig aufbewahrt.<br />

Nur selten wird sie benutzt, dann aber wird<br />

das Kaffeetrinken zum besonderen Ereignis<br />

und das alte Erinnerungsstück aus der<br />

Wohnung in Gdańsk wird wieder lebendig.<br />

Aus der Kanne steigen heiße Dampfschwaden<br />

auf, der Duft eines Sonntagnachmittages.<br />

Die Familie sitzt gemeinsam an einem<br />

Tisch mit sechs Stühlen und jeder rührt in<br />

Gedanken versunken in seiner Kaffeetasse.<br />

Für die Großmutter schmeckt der Kaffee<br />

süß nach junger Familie mit drei Kindern<br />

und bitter nach Strapazen des Nachkriegslebens.<br />

Für die Mutter schmeckt der Kaffee<br />

nur himmlisch gut nach dem Gdańsker Paradies<br />

in der ruhigen Seitenstraße. Für das<br />

Kind ist das ganze Ereignis sehr aufregend,<br />

die Kaffeekanne ist viel schöner <strong>als</strong> andere<br />

Küchengegenstände, die die sozialistischen<br />

Wohnungseinrichtungshäuser zu bieten<br />

hatten und der Kaffee schmeckt viel besser<br />

<strong>als</strong> der übliche polnische Kaffee auf die so<br />

genannte türkische Art.<br />

Wiederum Jahre später steht die Kaffeekanne<br />

in einem deutsch-polnischen Haushalt<br />

in der Vitrine im Wohnzimmer und<br />

fühlt den Raum mit eigener Geschichte, mit<br />

der Gdańsker Meeresluft, mit den Gedanken<br />

an die Leute, die aus ihr schon ihren<br />

Kaffee getrunken haben. Sie macht die bekannten<br />

und die unbekannten Geschichten<br />

wieder lebendig. Sie macht die bekannten<br />

und die unbekannten Personen wieder lebendig.<br />

Wie lauteten die unbekannten Geschichten<br />

und wie waren die unbekannten<br />

Personen? Wie war das Familienleben in<br />

74


napić się kawy. I przychodzą też osoby nieznane,<br />

które kiedyś dawno gromadziły się<br />

wokół tego dzbanka. Te nieznane osoby są<br />

tak samo częścią popołudniowej kawy jak<br />

osoby znane. Nie ma historii polskiej rodziny<br />

z Gdańska w szeregówce z ogrodem<br />

bez wcześniejszej niemieckiej historii w tym<br />

samym domu. Nie ma porcelanowego dzbanka<br />

do kawy znajdującego się w posiadaniu<br />

polskiej rodziny bez dzbanka do kawy<br />

będącego wcześniej w posiadaniu rodziny<br />

niemieckiej. Nie ma dzisiejszego Gdańska<br />

bez niemieckiego Danzig.<br />

Tak jak w tym opowiadaniu zacierają się<br />

granice między dzieciństwem a dorosłością,<br />

między życiem w domu rodzinnym a tworzeniem<br />

domu rodzinnego, tak też zacierają się<br />

granice między niemiecką a polską częścią<br />

historii tego dzbanka do kawy. Historie te<br />

wynikają jedna z drugiej i przechodzą jedna<br />

w drugą. I każda ze stron ma prawo do swojej<br />

części historii i swojej części wspomnień,<br />

jeśli historia i wspomnienia drugiej strony<br />

nie ulegną zapomnieniu lecz zostaną<br />

przyjęte z należytą uwagą i pokorą.<br />

Niezależnie od tragicznych politycznych<br />

i społecznych skutków narodowego socjalizmu<br />

Niemcy zachowują prawo do wspomnień<br />

domu rodzinnego i stołu w kuchni kiedyś w<br />

Danzig, a dziś w Gdańsku. My Polacy nie<br />

możemy odmawiać Niemcom tego prawa,<br />

nie możemy żądać od nich aby przez całe<br />

życie przeszli w głębokim poczuciu winy i<br />

winę tę przekazywali następnym pokoleniom.<br />

Czasy rozliczeń i jasnych rozgraniczeń<br />

między przyjacielem a wrogiem w stosunkach<br />

polsko-niemieckich niech<br />

pozostaną przeszłością. Niemcy, którzy zostali<br />

wypędzeni ze Wschodu mają prawo<br />

nazywać się „wypędzonymi”. Fakt, że miało<br />

miejsce wypędzenie Niemców z byłych niemieckich<br />

terenów wschodnich i pokazywanie<br />

tego faktu jeszcze nie oznacza relatywizacji<br />

i stawiania pod znakiem zapytania<br />

innej prawdy i przyczyn wypędzeń. My Polacy<br />

chcemy nauczyć się szanować niemieckie<br />

cierpienie w czasie wojny i po wojnie.<br />

Dobrą do tego okazją mogłyby być dwie pokazywane<br />

właśnie w Berlinie wystawy – z<br />

jednej strony wystawa Niemieckiego Muzeum<br />

Historycznego „Ucieczka, wypędzenie,<br />

dem Reihenhaus in der ruhigen Seitenstraße<br />

in Danzig-Langfuhr vor dem Krieg und<br />

vor den Nachkriegsentscheidungen über<br />

Grenzverschiebungen? Ist die Kaffeekanne<br />

ein Stück der deutschen oder der polnischen<br />

Geschichte? Erzählt sie die Geschichten auf<br />

deutsch oder auf polnisch? Wie erinnern sich<br />

die Unbekannten? Man hört zu und sieht<br />

am Tisch um sich herum alle bekannten<br />

Personen versammelt. Alle, die schon gegangen<br />

sind und die, mit welchen man den<br />

Kaffee heute noch genießen kann. Und man<br />

sieht auch die unbekannten Personen, die<br />

sich dam<strong>als</strong> um die Kaffeekanne versammelt<br />

hatten. Die Unbekannten gehören zu<br />

der heutigen Kaffeestunde genauso dazu wie<br />

die Bekannten. Es gibt nicht die Geschichte<br />

der polnischen Familie aus Gdańsk in dem<br />

Reihenhaus mit Garten ohne die deutsche<br />

Vorgeschichte in dem gleichen Haus. Es<br />

gibt keine Porzellankaffeekanne im Besitz<br />

der polnischen Familie ohne die Porzellankaffeekanne<br />

im Besitz einer deutschen Familie.<br />

Es gibt kein heutiges Gdańsk ohne<br />

die deutsche Vorgeschichte von Danzig.<br />

Wie sich in dieser Geschichte die Grenzen<br />

zwischen Kindheit und Erwachsensein,<br />

zwischen Elternhaus haben und Elternhaus<br />

neu schaffen verwischen, so verwischen sich<br />

auch die Grenzen zwischen dem deutschen<br />

und dem polnischen Teil der Geschichte der<br />

Kaffeekanne. Die Geschichten bauen aufeinander<br />

auf und gehen ineinander über. Und<br />

jeder hat das Recht auf seinen Teil der Geschichte<br />

und seinen Teil der Erinnerung.<br />

Wichtig ist, dass dabei die Geschichte und<br />

die Erinnerung des Anderen nicht vergessen,<br />

sondern mit Achtung und Respekt entgegen<br />

genommen wird.<br />

Den Deutschen steht unabhängig von<br />

den tragischen politischen und gesellschaftlichen<br />

Folgen des Nation<strong>als</strong>ozialismus das<br />

Recht auf Erinnerungen an ein Familienhaus<br />

mit ihrem Küchentisch dam<strong>als</strong> in Danzig,<br />

heute in Gdańsk, zu. Jemandem dieses<br />

Recht abzuerkennen, von jemanden zu fordern,<br />

das ganze Leben lang mit Schuldgefühlen<br />

zu leben und diese Schuldgefühle<br />

auch noch an die folgenden Generationen<br />

weiter zu geben, darf von uns Polen nicht<br />

mehr verlangt werden.<br />

75


integracja” i z drugiej strony wystawa „Wymuszone<br />

drogi – Ucieczka i wypędzenia w<br />

Europie XX wieku”, które mogłyby wyzwolić<br />

poważną polityczną dyskusję o pamięci narodowej.<br />

Jednak zamiast wsparcia dla wymiany<br />

poglądów wśród historyków i dziennikarzy,<br />

polska polityka ma do zaoferowania<br />

przedwczesne nadreakcje, niemalże histeryczne<br />

zachowania i niezrozumiałe wycofanie<br />

polskich eksponatów z wystawy „Wymuszone<br />

drogi”.<br />

Bezsprzeczna jest niemiecka wina. I<br />

wina ta przez nikogo, abstrahując od pojedynczych<br />

i nieistotnych żądań, nie jest dziś<br />

podważana i nie podlega relatywizacji. Ale<br />

besprzeczne jest i niemieckie cierpienie. Nawet<br />

jeśli cierpienie było zawinione, było to<br />

cierpienie, a fakt zawinienia nie unicestwia<br />

prawa Niemców do nazwania cierpienia<br />

cierpieniem. Uznanie tego cierpienia<br />

jest niezbędne dla zbudowania nowej polskiej<br />

tożsamości, która nie definiuje się już<br />

tylko przez własne cierpienie. Uznanie to<br />

może nas uwolnić z wprawdzie wygodnej,<br />

ale równocześnie uniemożliwiającej konstruktywny<br />

dialog, roli ofiary i tym samym<br />

odmitologizować nasze spojrzenie na własną<br />

przeszłość, teraźniejszość i przyszłość. W<br />

dialogu i z poszanowaniem drugiej strony i<br />

bez destrukcyjnych potyczek o dopuszczalne<br />

proporcje niemieckiej winy i niemieckiego<br />

cierpienia. Opieranie się na matematyce<br />

w każdym historycznym przedsięwzięciu<br />

i walki z jednej strony o jedno zdjęcie<br />

wypędzonych więcej, a z drugiej o jedno<br />

zdjęcie ofiar wojny mniej, i odwrotnie, pozwoli<br />

wprawdzie na kultywowanie własnej<br />

pamięci narodowej, ale nie na zbudowanie<br />

wyzwolonej z historycznych zaszłości<br />

tożsamości narodowej. Matematyka doprowadzi<br />

tu do zbudowania tożsamości skoncetrowanej<br />

na sporach i rozliczeniach i<br />

wybierającej, jak ma to miejsce w ostatnich<br />

miesiącach, niestety coraz głośniejszą<br />

agresywną retorykę.<br />

Bez zbytnich emocji, z dala od własnych<br />

modeli pamięci narodowej i głęboko zakorzenionych<br />

obaw z jednej strony i opierając<br />

się na faktach z drugiej, można zbudować<br />

przez zbliżenie i we wzajemnym zaufaniu<br />

nową polską i nową niemiecką tożsamość.<br />

Tożsamość, która wprawdzie zna i uznaje<br />

historię, dokonuje jej analizy i wyciąga wnioski,<br />

ale w pierwszym rzędzie patrzy przed<br />

Die Zeiten der Aufrechnung und der<br />

klaren, über die Nationalität definierten<br />

Abgrenzung zwischen Feind und Freund<br />

in internationalen Beziehungen sollten der<br />

Vergangenheit angehören. Die Deutschen,<br />

die aus dem Osten vertrieben wurden, dürfen<br />

sich „Vertriebene“ nennen. Die Wahrheit,<br />

dass es Vertreibungen von Deutschen<br />

aus dem ehemaligen deutschen Ostgebieten<br />

nach dem Zweiten Weltkrieg gab und das<br />

offene Aussprechen dieser Wahrheit bedeuten<br />

noch keine Relativierung und Infragestellung<br />

der Ursache der Vertreibungen. Wir<br />

Polen wollen es lernen, auch das deutsche<br />

Kriegs- und Nachkriegsleid anzuerkennen.<br />

So könnte man die zur Zeit in Berlin gezeigten<br />

Ausstellungen – einerseits die Ausstellung<br />

des Deutschen Historischen Museums<br />

„Flucht, Vertreibung, Integration“ und<br />

andererseits die Ausstellung „Erzwungene<br />

Wege – Flucht und Vertreibung im Europa<br />

des 20. Jahrhunderts“ – zum Anlass nehmen,<br />

einen ernsthaften politischen Diskurs<br />

über die Erinnerungskultur zu führen. Anstatt<br />

den Meinungsaustausch von Historikern<br />

und Journalisten zu unterstützen und<br />

sich Zeit für eine eigene Meinungsbildung<br />

zu nehmen, wird seitens der polnischen Politik<br />

schon im Vorfeld übereilt mit beinahe<br />

hysterischen Verhaltensweisen und dem<br />

unverständlichen Rückzug polnischer Exponate<br />

aus der Ausstellung „Erzwungene<br />

Wege“ überreagiert.<br />

Es gibt eine deutsche Schuld. Und die<br />

Schuld wird abgesehen von vereinzelten<br />

und unwesentlichen Stimmen einer Minderheit<br />

von der überwiegenden Mehrheit<br />

der Deutschen nicht grundsätzlich in Frage<br />

gestellt. Es gab aber auch deutsches Leid.<br />

Auch wenn das Leid indirekt selbst verschuldet<br />

war, bleibt es Leid. Das Recht der<br />

Deutschen, ihr Leid beim Namen zu nennen,<br />

bleibt trotz der Schuld unberührt. Die<br />

Anerkenntnis dieses Leides ist für uns Polen<br />

wichtig für die Entwicklung einer eigenen<br />

modernen Identität, die nicht mehr nur<br />

durch unser eigenes Leiden definiert wird.<br />

Sie kann uns aus der gleichzeitig bequemen<br />

und lähmenden Opferrolle befreien und somit<br />

einen klaren, entmystifizierten Blick auf<br />

unsere eigene Vergangenheit, Gegenwart<br />

und Zukunft ermöglichen. Im Dialog und<br />

mit Achtung gegenüber dem Anderen - ohne<br />

zerstörerische Auseinandersetzungen über<br />

noch zulässige Quoten deutscher Schuld<br />

76


siebie. Tożsamość, która sprawi, że polska<br />

i niemiecka pamięć narodowa staną się<br />

wspólną pamięcią historyczną.<br />

und deutschen Leides. Mit der Mathematik<br />

bei jeder geschichtsbezogenen Initiative und<br />

den Kämpfen einerseits um ein Vertriebenenfoto<br />

mehr und andererseits ein Kriegsfoto<br />

weniger, und umgekehrt, kann man zwar<br />

die eigene Erinnerungskultur weiter pflegen,<br />

aber keine selbstbewusste nationale Identität<br />

aufbauen. Es entsteht nur eine Schein-Identität,<br />

die auf Kampf und Aufrechnung konzentriert<br />

ist und die sich mittels ihrer in den<br />

letzten Monaten immer lauter werdenden<br />

aggressiven Rhetorik artikuliert.<br />

Losgelöst von störenden Emotionen und<br />

Gefühlen und befreit von eigenen Erinnerungsmustern<br />

und tief verwurzelten Ängsten<br />

einerseits und basierend auf den Tatsachen<br />

andererseits kann eine moderne<br />

polnische und eine moderne deutsche Identität<br />

im gegenseitigen Vertrauen durch Annäherung<br />

aufgebaut werden. Eine Identität,<br />

die zwar die Geschichte kennt, sie verarbeitet<br />

und aus ihr lernt, aber eben auch nach<br />

vorne schaut. Eine Identität, die es möglich<br />

macht, sich nicht mehr anders und nebeneinander<br />

sondern miteinander zu erinnern.<br />

Tylko wtedy polsko-niemiecka kawa może<br />

dobrze smakować.<br />

Nur so kann das deutsch-polnische Kaffeetrinken<br />

gut schmecken.<br />

77


Bibliografia/Literatur:<br />

NawojkaCieślińska-Lobkowicz,<br />

Nawarzyliśmy piwa. Wystawa Eriki Steinbach<br />

o wypędzeniach – ciąg d<strong>als</strong>zy, w: Tygodnik<br />

Powszechny z dn. 14. 08. 2006.<br />

Jürgen Danyel, Deutscher Opferdiskurs<br />

und europäische Erinnerung. Die Debatte<br />

um das „Zentrum gegen Vertreibungen“, w:<br />

Zeitgeschichte-online, Thema: Die Erinnerung<br />

an Flucht und Vertreibung, wyd. Jürgen<br />

Danyel, Januar 2004, URL: http://www.<br />

zeitgeschichte-online.de/md=Debatte-Vertreibung-Danyel.<br />

Hartmut Koschyk, Der neue Stellenwert von<br />

Flucht und Vertreibung in der Erinnerungskultur<br />

w: Die Vertreibung der Deutschen<br />

aus dem Osten in der Erinnerungskultur.<br />

Kolloquium der Konrad-Adenauer-Stiftung<br />

und des Instituts für Zeitgeschichte am 25.<br />

November 2004 in Berlin, Sankt Augustin<br />

2005, s. 139-143.<br />

Claudia Kraft, Die aktuelle Diskussion über<br />

Flucht und Vertreibung in der polnischen<br />

Historiographie und Öffentlichkeit, w:<br />

Zeitgeschichte-online, Thema: Die Erinnerung<br />

an Flucht und Vertreibung, Januar<br />

2004, URL: http://www.zeitgeschichte-online.de/md=Vertreibung-Kraft.<br />

Karl Schlögel, Die Europäisierung des „Vertreibungskomplexes“<br />

w: Die Vertreibung<br />

der Deutschen aus dem Osten in der Erinnerungskultur.<br />

Kolloquium der Konrad-<br />

Adenauer-Stiftung und des Instituts für<br />

Zeitgeschichte am 25. November 2004 in<br />

Berlin, Sankt Augustin 2005, S. 123-138.<br />

Joachim Trenkner, Nerwowy dzień. Dzwon<br />

z „Gustloffa“ obok sztandaru polskich sybiraków,<br />

w: Tygodnik Powszechny z dn. 14.<br />

08. 2006<br />

Severin Weiland, Ausstellung „Erzwungene<br />

Wege“. Auf schmalem Grat, w: Der Spiegel<br />

z dn. 10. 08. 2006.<br />

78


Liegt die Mitte ostwärts? –<br />

Deutsche und Polen in Europa<br />

von Julia Bürger<br />

Dieses Essay beschäftigt sich mit den polnisch-deutschen Beziehungen vor dem<br />

Hintergrund eines Europa, das der gemeinsamen Gestaltung bedarf. Im Zentrum<br />

stehen der Versuch einer Zustandsbeschreibung dieser Beziehungen, wechselseitige<br />

Wahrnehmungsprozesse und die Frage der Identifikation mit Europa.<br />

Europa – das ist zunächst einmal die Bezeichnung<br />

eines nicht einmal echten Kontinents.<br />

All das, was Europa darüber hinaus<br />

ist bzw. sein kann oder soll, wird von den<br />

dort lebenden Menschen immer wieder neu<br />

geschaffen und gestaltet und ist somit davon<br />

abhängig, welche Bedeutung Europa<br />

<strong>als</strong> Kategorie zugedacht wird. Das „neue“<br />

Europa, das bereits seit über 15 Jahren nicht<br />

mehr in zwei politische Blöcke geteilt ist, ist<br />

dabei nach wie vor ein „Europe in the Making“.<br />

In diesem bauen Deutsche und Polen<br />

zusammen an ihrer Zukunft, entwickeln gemeinsame<br />

Ziele und sogar eine gemeinsame<br />

Identität! Oder verstricken sie sich in gegenseitigen<br />

Vorwürfen, versuchen in einer<br />

Art europäischem Nullsummenspiel ihre<br />

eigenen Interessen gegen die der anderen<br />

auszuspielen und vermeiden wechselseitige<br />

Kontakte, so weit dies möglich ist? In der<br />

Realität ist von Allem etwas vorhanden. Jeder<br />

Bericht, jede persönliche Einzelerfahrung<br />

und jedes Forschungsergebnis macht<br />

ein Puzzleteil des Gesamtbildes „Deutsche<br />

und Polen in Europa“ aus, von dem hier nur<br />

einige zu finden sein werden. Als Psychologin<br />

kümmere ich mich dabei nicht so sehr<br />

um politische Überlegungen, <strong>als</strong> vielmehr<br />

um Wahrnehmungsprozesse, deren Subjektivität<br />

und Kontextabhängigkeit ich an dieser<br />

Stelle betonen möchte. Alle Leserinnen<br />

und Leser sind daher dazu aufgefordert, sich<br />

ihr eigenes Bild zu machen, und ggf. selbst<br />

einen Teil zur Gestaltung einer gemeinsamen<br />

Zukunft beizutragen. Und beginnen<br />

kann ja jede(r) zunächst einmal mit der<br />

Überlegung, ob für sie oder ihn die Mitte,<br />

verstanden <strong>als</strong> Ort, an dem sich etwas bewegt,<br />

an dem Interesse oder Begeisterung<br />

für das Ganze wachsen, ostwärts liegt...<br />

Laut dem, was man gemeinhin <strong>als</strong> „öffentliche<br />

Meinung oder Wahrnehmung“ bezeichnet,<br />

nehmen sowohl Deutsche <strong>als</strong> auch<br />

Polen für sich in Anspruch, in der „Mitte“<br />

Europas zu liegen. Für die meisten Deutschen<br />

ist dies allerdings nichts, was der Erwähnung<br />

bedarf. Es wird einfach <strong>als</strong> Tatsache<br />

hingenommen, hat aber keine besonders<br />

identitätsstiftende Wirkung (vielleicht, weil<br />

dies auch weniger positive Assoziationen<br />

hervorrufen würde). Im polnischen Selbstverständnis<br />

ist die Überzeugung, ein wesentlicher<br />

und zentraler Bestandteil Europas<br />

zu sein und für Europa Wesentliches<br />

geleistet zu haben, fest verankert. Es wird<br />

dabei auf die im Laufe der polnischen Geschichte<br />

erbrachten Dienste für Europa,<br />

wie die Verteidigung der christlichen (katholischen)<br />

Wertewelt gegen äußere Feinde<br />

79


oder die Überwindung des real existierenden<br />

Sozialismus, verwiesen. Diese polnische<br />

Eigenwahrnehmung ist in Deutschland<br />

jedoch wenig bekannt. Hier wirkt in<br />

der öffentlichen Wahrnehmung noch immer<br />

die Trennlinie des kalten Krieges bzw.<br />

die Grenze der EU-15 nach und Polen wird<br />

häufig unter den Sammelbegriff „Osteuropa“<br />

gefasst, der alles umfassen kann, was<br />

zum früheren Ostblock gehörte. Und damit<br />

will in Polen eigentlich niemand identifiziert<br />

werden. Nur ganz allmählich setzt sich<br />

in Deutschland zumindest die Unterscheidung<br />

zwischen MOE (mittelosteuropäische)<br />

und osteuropäische Staaten durch.<br />

Das Bewusstsein ein integraler Bestandteil<br />

Europas zu sein, ließ die EU-Mitgliedschaft<br />

aus polnischer Sicht (und der anderer<br />

MOE-Staaten) <strong>als</strong> natürliches Anrecht<br />

erscheinen, wohingegen in westlichen Ländern<br />

sich dieselbe zwar <strong>als</strong> wichtige und<br />

richtige Entwicklung darstellte, man sich<br />

dabei aber doch ganz gern in der Rolle des<br />

„Helfers“ oder „Gönners“ wahrnahm. Diese<br />

Prozessdynamik konnte und kann nach<br />

wie vor auf der einen Seite das Gefühl des<br />

„Abgelehnt werdens“ auf der anderen Seite<br />

Gefühle des „Ausgenutzt werdens“ oder der<br />

„Undankbarkeit“ entstehen lassen.<br />

Verkompliziert wird eine solche Dynamik<br />

durch die vielen unterschiedlichen<br />

Bedeutungen, die „Europa“ haben kann.<br />

Beispielsweise stehen die EU <strong>als</strong> Institution<br />

und „Europa“ <strong>als</strong> Gedanke und Aufgabe<br />

in einem recht verschwommenen Beziehungsverhältnis,<br />

das durch die aktuellen<br />

Debatten um eine europäische Identität zusätzlich<br />

vermischt wird. Laut der Eurobarometer-Umfrage<br />

vom Frühjahr 2006 macht<br />

es bei polnischen Befragten einen großen<br />

Unterschied, ob man nach der Verbundenheit<br />

mit der EU (61 %) oder Europa (84 %)<br />

fragt. In den deutschen Daten werden leider<br />

nur Angaben über die Verbundenheit<br />

mit Europa (in Ostdeutschland 62 %, in<br />

Westdeutschland 69 %) gemacht, obwohl<br />

ebenfalls nach beidem gefragt wurde. Die<br />

Frage, ob in Deutschland EU und Europa<br />

stärker miteinander verbunden sind, was ja<br />

durchaus Sinn machen würde, muss <strong>als</strong>o<br />

offen bleiben. Auf alle Fälle hat die Kategorie<br />

„Europa“ auf beiden Seiten eine gewisse<br />

Bedeutung, in Polen sogar eine besonders<br />

große, und die Zustimmung zur EU liegt in<br />

beiden Ländern inzwischen bei 56 % bzw.<br />

57 %.<br />

Es stellt sich allerdings die Frage, ob<br />

oder besser unter welchen Bedingungen ein<br />

europäisches Bewusstsein auch zu einer Verbesserung<br />

der Beziehungen zwischen (nationalen)<br />

Gruppen und zu gemeinsamem<br />

Handeln in und für Europa führt.<br />

Aber schieben wir diese Frage zunächst<br />

beiseite und versuchen uns ein Bild der polnisch-deutschen<br />

Beziehungen zu machen<br />

– und zwar in dem Bewusstsein, dass jede<br />

auf lange Sicht angelegte Beziehung gegenseitiges<br />

Interesse, Verständnis, Sensibilität,<br />

manchmal auch Durchhaltevermögen erfordert<br />

und dass sie bei alledem auch Freude<br />

bereiten sollte.<br />

Blickt man auf Medienberichte, aber<br />

auch Teile der Forschungsliteratur, werden<br />

die polnisch-deutschen Beziehungen gerne<br />

mit Adjektive wie kompliziert, kritisch,<br />

konfliktreich, schwierig, belastet, besorgniserregend<br />

usw. belegt, wobei sich das sowohl<br />

auf die politischen Beziehungen <strong>als</strong><br />

auch auf die wechselseitige Wahrnehmung<br />

in der Öffentlichkeit bezieht. Als Gründe<br />

werden meist die konfliktreiche Geschichte,<br />

nationale Interessenskonflikte, sehr negative<br />

Einstellungen und Stereotype oder<br />

ein zu großes Desinteresse der Deutschen<br />

an Polen und den Polen genannt.<br />

So ist der Einfluss der Geschichte auf die<br />

aktuellen polnisch-deutschen Begegnungen<br />

nach wie vor enorm. Aus psychologischer<br />

Sicht liegt dies v.a. daran, dass die jeweils<br />

spezifische Repräsentation der Vergangenheit<br />

im kollektiven Gedächtnis beider Nationen,<br />

aber auch auf individueller Ebene,<br />

aufgrund ihrer Allgegenwart in Medien und<br />

Alltagsgesprächen und ihrer hohen emotionalen<br />

Aufladung leicht und schnell aktivierbar<br />

ist und so die Wahrnehmung und<br />

die Handlungen der beteiligten Personen<br />

in hohem Maße beeinflusst. Dies führt einerseits<br />

immer wieder zu sehr heftigen Reaktionen<br />

oder auch dazu, dass alle Beteiligten<br />

sehr vorsichtig werden. Beispielsweise<br />

sollte im Rahmen eines polnisch-deutschen<br />

80


Studienseminars, in dem es um interkulturelle<br />

Fragestellungen deutsch-polnischer<br />

Begegnungen ging, eine gemeinsame Stadtführung<br />

durch Wrocław (Breslau) stattfinden.<br />

Doch weder die polnischen noch die<br />

deutschen Seminarleiterinnen konnten die<br />

beiden Stadtführerinnen, zwei sehr nette<br />

ältere polnische Damen, in einer zweiwöchigen<br />

Vorlaufzeit dazu bewegen, diese<br />

Führung für die polnisch-deutsche Gruppe<br />

gemeinsam durchzuführen, so dass es im<br />

Endeffekt eine deutsche und eine polnische<br />

Tour gab. Bei der anschließenden Auswertung<br />

in der gemischten Gruppe zeigte sich,<br />

dass sich die beiden Stadtführungen gerade<br />

in den Punkten, die sich auf den zweiten<br />

Weltkrieg und die Vertreibung bezogen,<br />

doch wesentlich unterschieden. Bemerkenswert<br />

war dabei nicht, dass bei einer Stadtführung<br />

versucht wird, die Informationen<br />

auf die jeweilige Zielgruppe abzustimmen,<br />

sondern vielmehr, dass sich die Stadtführerinnen<br />

auch nach genauer Information<br />

über den Hintergrund des Seminars und<br />

der ausdrücklichen Bitte um eine gemeinsame<br />

Stadtführung, dazu einfach nicht in<br />

der Lage sahen.<br />

Doch auch zu den anderen oben aufgeführten<br />

Gründen für schwierige Beziehungen<br />

lassen sich Beispiele finden. So wissen<br />

in Deutschland die wenigsten, wie man<br />

Łodz eigentlich ausspricht, Akademischen<br />

Auslandsämter müssen oft nach Bewerbern<br />

für ein Auslandssemester in Polen suchen,<br />

wohingegen die Bewerber für „westliche“<br />

Länder Schlange stehen, Witze und Karikaturen<br />

gibt es auf beiden Seiten zur Genüge<br />

und in der Politik sorgt man sich auf der einen<br />

Seite wegen der Ostsee-Pipeline, auf der<br />

anderen wegen der Arbeitsmigranten usw.<br />

Bestehen die deutsch-polnischen Beziehungen<br />

<strong>als</strong>o hauptsächlich aus Durchhaltevermögen,<br />

und evtl. ein wenig Sensibilität,<br />

aber wenig aus echtem Interesse und<br />

Freude? Oder ist es nicht gerade die Beständigkeit<br />

und teilweise Einseitigkeit, mit<br />

der die deutsch-polnischen Beziehungen<br />

<strong>als</strong> schwierig dargestellt werden, die diesen<br />

Teil der Realität immer wieder aufs Neue<br />

produzieren und so einen Geschmack des<br />

Unumstößlichen und Unabänderbaren hinterlassen?<br />

Durch die Arbeit nichtstaatlicher<br />

Organisationen wie dem Deutsch-Polnischen<br />

Jugendwerk und anderen deutschpolnischen<br />

Instituten, Verbänden und<br />

Kulturvereinen, aber auch durch Städtepartnerschaften,<br />

Wirtschaftszusammenarbeit<br />

oder den Tourismus entstanden und<br />

entstehen doch neue Räume für polnischdeutsche<br />

Begegnungen, die die Basis für<br />

ein besseres Kennenlernen bilden. Daraus<br />

entwickelt sich natürlich nicht automatisch<br />

eine bessere Verständigung und eine fruchtbare<br />

Beziehung, doch hier finden die kleinen<br />

Schritte statt, die eine Beziehung lebendig<br />

machen. Die Reichhaltigkeit polnisch-deutscher<br />

Erfahrungen stärker in das öffentliche<br />

Bewusstsein zu bringen, wäre schon ein großer<br />

Schritt in Richtung „gemeinsames Bauen<br />

an Europa“. Und dass deutsch-polnische<br />

Verständigung Spaß machen kann, zeigt<br />

nicht zuletzt der deutsche Schauspieler Steffen<br />

Möller. Er wurde durch eine polnische<br />

TV-Vorabendserie bekannt und stieg innerhalb<br />

kürzester Zeit zum polnischen Medienstar<br />

auf. In seinen Bühnenprogrammen<br />

nimmt er humorvoll polnische und deutsche<br />

Klischees ins Visier und entkräftet so<br />

auf intelligente Weise festgefahrene Stereotype.<br />

Seine Wirkung auf alle Bevölkerungsschichten<br />

in Polen ist immens, so dass er<br />

2005 für seine Tätigkeit mit dem Bundesverdienstkreuz<br />

ausgezeichnet wurde.<br />

Neben den Analysen durch Experten,<br />

den Alltagserfahrungen und den Medienberichten<br />

stellen Meinungsumfragen ein<br />

weiteres Puzzleteil im Gesamtbild dar. Laut<br />

den Studien des Instytut Spraw Publicznych<br />

(Institut für öffentliche Angelegenheiten,<br />

ISP), deren Daten im Herbst letzten Jahres<br />

in Polen und im Frühjahr diesen Jahres in<br />

Deutschland erhoben wurden, halten 61 %<br />

der Deutschen die wechselseitigen Beziehungen<br />

für gut, 28 % für schlecht. In Polen<br />

glauben 78 %, dass sich die Beziehungen gut<br />

entwickeln und 14 % glauben, dass sie sich<br />

schlecht entwickeln (abweichende Frageformulierungen<br />

auf deutscher und polnischer<br />

Seite). Ist das nun positiv oder negativ? Man<br />

könnte dieselben Zahlen sowohl <strong>als</strong> einen<br />

Beleg für die Schwierigkeit der Beziehungen<br />

– z.B. weil die Beziehungen zu einigen anderen<br />

Ländern besser bewertet werden –<br />

oder <strong>als</strong> Gegenbeleg – da die überwiegende<br />

Mehrheit die Beziehungen für gut hält – he-<br />

81


anziehen. Bei aller Vorsicht bei der Interpretation<br />

von Umfrageergebnissen zeigen<br />

sie aber doch, dass es nicht nur „Kritisches“<br />

geben kann bzw. dass sich in den letzten<br />

Jahren bereits etwas bewegt hat. Auf die<br />

Frage, mit welchen Ländern Polen zusammenarbeiten<br />

sollte, wird Deutschland bei<br />

wirtschaftlichen Kooperationen an erster,<br />

bei politischen Kooperationen an zweiter<br />

Stelle (nach den USA) genannt. Die Zahl<br />

der Polen, die sagen, dass von Deutschland<br />

eine Bedrohung für Polen ausgeht ist von<br />

58 % (1992; 1990 lagen die Zahlen bei 88 %)<br />

auf 21 % (2005) gesunken (Cwiek-Karpowicz,<br />

2005).<br />

Bezogen auf die heutigen Kontakte sagen<br />

23 % der Deutschen, dass sie mit dem<br />

Land Polen überhaupt nicht in Berührung<br />

kommen, <strong>als</strong>o nicht einmal durch das Lesen<br />

von Presseartikeln o.ä. Für den Großteil<br />

der Deutschen stellen Zeitungen und Fernsehen<br />

die Hauptinformationsquelle zu Polen<br />

dar. Selbst in Polen gewesen sind bereits<br />

35 % der Deutschen (die Zahl der Polen, die<br />

in Deutschland waren, liegt genauso hoch),<br />

im Jahr 2000 waren es noch 31 %. Ein kleiner<br />

Anstieg zwar, der allerdings eine wichtige<br />

Wirkung haben könnte, denn diejenigen,<br />

die bereits einmal in Polen gewesen sind,<br />

äußern eine bessere Meinung über Polen <strong>als</strong><br />

diejenigen, die ihre Informationen aus den<br />

Medien beziehen (wobei hier die Interaktion<br />

mit dem Bildungsniveau nicht klar zu<br />

erkennen ist). Während fast jeder polnische<br />

Befragte Assoziationen zu Deutschland<br />

aufweist, sagten 18 % der Deutschen, dass<br />

sie zu Polen gar keine Assoziationen hätten.<br />

Auch sind die Bilder, die Deutsche mit Polen<br />

verbinden, weiter gestreut und nicht so<br />

fest umrissen, wie dies umgekehrt der Fall<br />

ist. Allerdings sind die Assoziationen der<br />

Deutschen häufiger negativ konnotiert <strong>als</strong><br />

die der Polen zu Deutschland. Gleichzeitig<br />

fanden bei einzelnen Stereotypen der Deutschen<br />

über Polen zwischen 2000 und 2006<br />

Veränderungen statt, so bei der Einschätzung<br />

„rückständig“ (von 44 % auf 32 % gefallen)<br />

und fleißig (von 30 % auf 38 % gestiegen)<br />

(Fałkowski & Popko, 2006).<br />

Alles in allem kann man sagen, dass sich<br />

in den letzten Jahren in den polnisch-deutschen<br />

Beziehungen schon Vieles verbessert<br />

hat, diese Beziehungen aber weiterhin auf<br />

allen Ebenen mit Bedacht gepflegt und weiter<br />

aufgebaut werden sollten, wenn die Ost-<br />

West-Teilung Europas im alltäglichen Handeln<br />

und in den Köpfen verschwinden soll.<br />

Kann hierbei nun die Idee Europa oder<br />

eine europäische Identität weiter helfen? Ja<br />

und nein, denn der Umgang mit sozialen<br />

Identitäten (im Sinne der Theorie der sozialen<br />

Identität) ist eine komplizierte Angelegenheit.<br />

Dazu nur ein Beispiel. Die<br />

Herausbildung einer übergeordneten Kategorie,<br />

hier die europäische, kann in konkreten<br />

Begegnungssituationen durchaus<br />

zur Verbesserung der Gruppenbeziehungen<br />

führen, da die nationalen Gruppengrenzen<br />

unter bestimmten Umständen aufgeweicht<br />

werden. Aber in Fällen, in denen die Sub-<br />

Kategorie sichtbar bestehen bleibt - was<br />

bei den nationalen Kategorien mit Sicherheit<br />

noch einige Zeit so sein wird - und<br />

die übergeordnete Kategorie uneindeutig<br />

ist, wie bei Europa, kommt es leicht dazu,<br />

dass die Inhalte der Sub-Gruppen-Identität<br />

von den Gruppenmitgliedern, die sich<br />

stark mit dieser Sub-Gruppe identifizieren,<br />

auf die höhere Kategorie projiziert werden.<br />

Kurz gesagt, prototypisch deutsche Werte<br />

und Verhaltensweisen werden dann auch<br />

<strong>als</strong> prototypisch für europäische Werte und<br />

Verhaltensweisen angesehen. Ist dann die<br />

Identifikation mit dieser Form von „Europa“<br />

hoch, werden diejenigen, die <strong>als</strong> Europäer<br />

von diesem positiv belegten Bild<br />

des Europäers abweichen, negativ wahrgenommen,<br />

weil sie den Gruppennormen<br />

nicht entsprechen (Mummendey & Waldzus,<br />

2004). In diesem Licht betrachtet würde<br />

die Verstärkung einer europäischen Identität<br />

nicht unbedingt zu einer Verbesserung<br />

der Beziehungen zwischen Polen und Deutschen<br />

führen.<br />

Bestimmte Werte <strong>als</strong> europäische Werte<br />

festlegen zu wollen, halte ich persönlich<br />

für problematisch, es sei denn, man sieht <strong>als</strong><br />

gemeinsamen Wert die Wertschätzung der<br />

Heterogenität an. Identitätsstiftend können<br />

auch eine stärkere Betonung der gegenseitigen<br />

Interdependenz und die Ausrichtung<br />

auf gemeinsame Ziele wirken. Letztlich<br />

müssen aber doch die Menschen, deutsche<br />

und polnische Bürger, sich selbst über Kom-<br />

82


munikation, soziales Handeln und über das<br />

Gerüst von Gemeinsamkeiten und Unterschieden<br />

zu einer gemeinsamen Zukunft bekennen.<br />

Dabei geht es um die Ausdifferenzierung<br />

des Wissens über den anderen, die<br />

Entdeckung der vielen Identitäten, die wir<br />

in wechselnder Zusammensetzung gemeinsam<br />

haben (z.B. Frauen oder Männer, Stadtoder<br />

Landbewohner, Bier-, Wein- oder Vodka-liebhaber<br />

usw.) und die Wertschätzung<br />

von Unterschiedlichkeiten.<br />

Überall da, wo solche Prozesse vor sich<br />

gehen, wo Menschen Erfahrungen sammeln<br />

und sich darüber freuen können, liegt die<br />

Mitte. Ob dies aus deutscher Sicht ostwärts<br />

und aus polnischer Sicht westwärts ist, liegt<br />

an jedem einzelnen von uns.<br />

Literatur zum Weiterlesen<br />

Aus Politik und Zeitgeschichte: Deutschland<br />

und Polen, 2005, Nr. 5-6<br />

- Bender, Peter (2005). Normalisierung wäre<br />

schon viel. Essay, a.a.O. S. 3-9.<br />

- Bingen, Dieter (2005). Die deutsch-polnischen<br />

Beziehungen nach 1945. a.a.O. S.<br />

9-17.<br />

- Dylla, D. & Jäger, T. (2005). Deutsch-polnische<br />

Europavisionen. a.a.O. S.40-46.<br />

Cwiek-Karpowicz, J. (2005). Public opinion<br />

on fears and hopes related to Russia<br />

and Germany. Instytut Spraw Publicznych.<br />

http://www.isp.org.pl/?ln=eng<br />

Eurobarometer:<br />

http://ec.europa.eu/public_opinion/archives/eb/eb65/eb65_en.htm<br />

Fałkowski, M. & Popko, A. (2006). Die<br />

Deutschen über Polen und die Polen 2000-<br />

2006: Die Schlussfolgerungen der Forschungsstudie.<br />

Instytut Spraw Publicznych.<br />

http://www.isp.org.pl/?ln=eng<br />

Galasińska, A. & Galasiński, D. (2005).<br />

Shopping for a New Identity: Constructions<br />

of the Polish–German border in a Polish<br />

border community Ethnicities. 5: 510-529<br />

Mummendey, A. & Waldzus, S. (2004). National<br />

Differences and European Plurality:<br />

Discrimination or Tolerance between European<br />

Countries. In R. K. Herrmann, T.<br />

Risse & M. B. Brewer (Eds.). Transnational<br />

Identities: Becoming European in the EU<br />

(p. 59-72). Lanham: Rowman & Littlefield.<br />

Schlögel, K. (2002). Die Mitte liegt ostwärts.<br />

Europa im Übergang. Bundeszentrale<br />

für politische Bildung. Schriftenreihe<br />

Band 379.<br />

83


Polnische Großstadt in Deutschland untergetaucht!<br />

Eine Spurensuche auf den Fährten<br />

einer „unsichtbaren“ Migrantengruppe.<br />

von Judith Wellen<br />

Von Berlin zur polnischen Grenze sind<br />

es kaum 80 Kilometer. Polnischsprachige<br />

Menschen gibt es zuhauf in der Stadt – und<br />

das nicht erst seit gestern. Ohne polnische<br />

Bauarbeiter keine Hauptstadt – das galt zu<br />

Kaisers Zeiten wie vor wenigen Jahren noch<br />

am Potsdamer Platz. Heute sind in Berlin<br />

ungefähr 30.000 Polen gemeldet. Die Zahl<br />

derer, die tatsächlich hier leben, liegt wesentlich<br />

höher. Doch betrachtet man etwa<br />

die Signale, durch die Minderheiten in Berlin<br />

generell auf sich aufmerksam machen<br />

– Wagen beim Karneval der Kulturen, Restaurants<br />

oder Messerstechereien in Schulen<br />

berüchtigter Kiezlagen –, sind sie nahezu<br />

unsichtbar. Den Polen wirft (heute) keiner<br />

(mehr) vor, dass sie Ghettos bilden oder unsere<br />

Gesellschaft durch gefährliche Fundamentalismen<br />

überfremden wollen . Beinahe<br />

das Gegenteil ist der Fall. „Polen sind im<br />

deutschen Bewußtsein eher marginal“, sagt<br />

auch Heinrich Olschowsky, Professor für<br />

westslawische Literatur an der Humboldt-<br />

Universität Berlin. Abgesehen von einigen<br />

sich hartnäckig haltenden Clichées hätten<br />

bei einer Umfrage unter Deutschen von 1999<br />

Wie es nach Ansicht einiger Historiker Anfang<br />

des vorigen Jahrhunderts bei den sog. „Ruhrpolen“<br />

aufgrund ihrer Neigung zu Vereins-<br />

Gründungen und ihrer katholischen Konfession<br />

durchaus noch der Fall war. Siehe dazu etwa<br />

beispielsweise Wehler, Hans-Ulrich: Die Polen<br />

im Ruhrgebiet vor 1918, in: Ders: (Hrsg.): Krisenherde<br />

des Kaiserreichs 1871-1918. Studien zur<br />

deutschen Sozial- und Verfassungsgeschichte, 2.<br />

Aufl. Göttingen 1979, S. 220-237<br />

auf die Frage, was ihnen zu „Polen“ einfalle,<br />

erstaunlich viele gesagt: nichts. Und auch<br />

nach dem Vordringen der während der Fußball-WM<br />

so bedeutungsvoll aufgeladenen<br />

polnischen Wurzeln von Klose und Podolski<br />

in das Bewußtsein der deutschen Gesellschaft<br />

ist kaum jemandem präsent, dass Polen<br />

nicht nur das zweitgrößte Nachbarland<br />

der Bundesrepublik ist, sondern Polen in ihr<br />

auch die zweitgrößte Minderheit stellen.<br />

Auswanderungsland Polen –<br />

Kaleidoskop 1<br />

Auf der inneren Karte vor allem der<br />

Westdeutschen spielte Polen lange kaum<br />

eine Rolle. Der Freund war der Westen, der<br />

Feind war der Russe, Polen lag irgendwo<br />

dazwischen. Zum ersten Mal erschien das<br />

Land im westdeutschen Fernsehen zur Solidarnosc-Zeit<br />

und verblüffte die Zuschauer:<br />

Da streikten Leute – mit dem Papst und gegen<br />

den Sozialismus. Bald danach sah man<br />

die ersten Fiat Polski auf deutschen Autobahnen,<br />

und die Zeitungen begannen, über<br />

Polenmärkte zu schreiben. Bedienten die<br />

Bilder, die von Polen in Berlin zu Beginn der<br />

1980er Jahre - in Zeiten des Kalten Krieges<br />

und der Solidarnosc - in der Presse erschienen,<br />

noch die Stereotypen des Freiheitskämpfers<br />

gegen den Sozialismus oder des<br />

liebenswerten Opfers der Unterdrückung,<br />

so dämpfte die mit der Öffnung des Landes<br />

ab 1988 einsetzende Reiselust der Polen recht<br />

bald die Begeisterung für die „Ostblockzuwanderer“.<br />

Blumige Schilderungen in der<br />

84


Berliner Morgenpost etwa von „Flügen in<br />

die Freiheit“ (Flugzeugentführungen polnischer<br />

Maschinen nach Tempelhof 1981)<br />

weichen bereits Mitte der achtziger Jahre<br />

Kommentaren wie „Unter die echten politischen<br />

Verfolgten, die vor den Pressionen<br />

des Warschauer Militärregimes ausgewichen<br />

sind, haben sich längst zahlreiche Landsleute<br />

gemischt, die den Namen Emigranten<br />

nicht verdienen“, die schwarz arbeiten, über<br />

Devisen verfügen und gar Geschäfte machen.<br />

Außerdem hatte der gerettete Pole aus<br />

dem Sozialismus arm zu sein und demütig:<br />

„Die Polen sehen gar nicht so notleidend<br />

aus, wie im Fernsehen immer gezeigt wird“,<br />

beschwert sich so ein Berliner Händler in<br />

einer taz-Reportage (taz, 20. Februar 1989).<br />

Würde man die Welt nur aus der Zeitung<br />

kennen, hätte man – wenn überhaupt - heute<br />

die „polnische Gemeinde“ vorwiegend<br />

<strong>als</strong> eine Schar von Putzfrauen, Schwarzmarkthändlern<br />

und (im Rahmen der dunkel<br />

am Horizont drohenden Arbeitnehmerfreizügigkeit<br />

der EU-Osterweiterung) den<br />

deutschen Arbeitsmarkt durch Masseneinwanderung<br />

kostengünstiger Arbeitskräfte<br />

unterwandernder, polnischer Klempner vor<br />

Augen – natürlich alle katholisch. Letztendlich<br />

bleiben diffus bedrohliche Bilder<br />

von Schattenwirtschaft, Menschenhandel<br />

und Kriminalität im Gedächtnis hängen.<br />

Den Polen dagegen war und ist Deutschland<br />

viel präsenter. Sie besitzen vom Nachbarland<br />

sehr viel mehr und vor allem viel<br />

präziseres, aktuelleres Alltagswissen, was<br />

teils auch schlicht mit der Lagerung praktischer<br />

Interessen zusammenhängen mag:<br />

Für Polen ist es (noch) wesentlich interessanter,<br />

in Deutschland zu arbeiten, <strong>als</strong><br />

umgekehrt. Polen haben eher ins Nachbarland<br />

ausgewanderte Verwandte sowie<br />

entsprechende Reiseerfahrung und sprechen<br />

deutsch. Entsprechend verlief auch die<br />

Migration zwischen beiden Ländern bisher<br />

weitgehendst <strong>als</strong> Einbahnstraße vom Osten<br />

der Oder in den Westen, und dies kontinuierlich<br />

schon seit knapp hundertfünfzig<br />

Jahren.<br />

Anders <strong>als</strong> viele westeuropäische<br />

Länder und auch die Bundesrepublik<br />

Deutschland, die sich in den vergangenen<br />

Jahrzehnten faktisch – wenn auch nicht unbedingt<br />

ihrem Selbstverständnis nach – zu<br />

„Einwanderungsländern neuen Typs“ entwickelt<br />

haben, gehört Polen bis dato zu den<br />

wichtigsten europäischen Auswanderungsländern.<br />

In den Jahren nach dem Umbruch<br />

in Osteuropa bis in die Mitte der neunziger<br />

Jahre kam der Republik östlich von Oder<br />

und Neiße die Rolle des “zweifellos führenden<br />

Quellandes von Migranten in Europa” <br />

zu. Schätzungsweise 1 Million Menschen<br />

polnischer Herkunft leben je in Brasilien<br />

und Frankreich (Marie Curie-Skladowska!),<br />

10,6 Millionen Polish Americans in<br />

den USA (v.a. Chicago, scherzhaft auch die<br />

zweitgrößte polnische Stadt nach Warschau<br />

genannt, mit dem größten polnisch-sprachigen<br />

Fernsehsender außerhalb Polens, Polvision.),<br />

in Großbritannien etwa 170.000<br />

und seit dem EU-Beitritt Polens 120.000 in<br />

Irland (selbst noch bis in seine jüngere Vergangenheit<br />

eher Quellen- <strong>als</strong> Zielland von<br />

Migration), womit Polen hier die mittlerweile<br />

größte nationale Minderheit stellen.<br />

Der weitaus größte Teil der nach Westeuropa<br />

gerichteten Migration aus Polen in den<br />

1980er und 1990er Jahren ging dabei in die<br />

Bundesrepublik Deutschland . Seit 1980<br />

sind so etwa zweieinhalb Millionen Menschen<br />

– endgültig oder nur vorübergehend<br />

– aus Polen in die Bundesrepublik migriert.<br />

Bei einer Bevölkerungszahl Polens von ca.<br />

38 Mio. Einwohnern entspricht dies einem<br />

ausgesprochen hohen Anteil von etwa 7%.<br />

Einwanderungsland Deutschland –<br />

Kaleidoskop 2<br />

Schon im Kaiserreich und verstärkt wieder<br />

in den vergangenen zwanzig Jahren<br />

Heinz Fassmann, Josef Kohlbacher, Ursula<br />

Reeger: Die “neue Zuwanderung” aus Ostmitteleuropa<br />

– Eine empirische Analyse am Beispiel<br />

der Polen in Österreich. Wien 1995, S. 55<br />

Siehe hierzu Heinz Fassmann, Rainer Münz<br />

(Hg.): Migration in Europa. Historische Entwicklung,<br />

aktuelle Trends und politische Reaktionen.<br />

Frankfurt/M., New York 1996, S. 39. In<br />

den letzten Jahren, vor allem nach der EU-Osterweiterung<br />

richtete sich die Migration dagegen<br />

eher auf Länder wie Irland und England, die<br />

nicht – wie Deutschland – die Freizügigkeit<br />

polnischer Arbeitnehmer in einer Art Schonfrist<br />

des Arbeitsmarktes für die kommenden Jahre<br />

eingeschränkt haben.<br />

85


ildeten bzw. bilden polnische Migranten<br />

somit eine der wichtigsten Zuwanderergruppen<br />

in Deutschland. Am eingehendsten erforscht<br />

ist die Situation polnischer Einwanderer<br />

aus dem preußischen Osten ins<br />

Ruhrgebiet im Laufe des durch die Industrialisierung<br />

bedingten zunehmenden Bedarfs<br />

an Arbeitskräften seit den 1870er Jahren bis<br />

zum Zweiten Weltkrieg (die sog. „Ruhrpolen“).<br />

Ungefähr 150.000 Deutsche (und einige<br />

interessante Wortneuschöpfungen wie<br />

etwa „Mottek“ für Hammer, nach dem polnischen<br />

młotek) stammen heute von diesen<br />

„Ruhrpolen“ ab, die <strong>als</strong> ungelernte Saisonarbeiter<br />

in Bergbau, Hüttenwesen sowie<br />

Landwirtschaft zunehmend an Attraktivität<br />

gewannen, da sie flexibel einsetzbar waren,<br />

die unpopuläre Arbeit in den Zechen nicht<br />

scheuten, längere Arbeitszeiten leisteten und<br />

dafür geringere Löhne erhielten. Aufgrund<br />

ihrer Sprache und ihrer katholischen Konfession<br />

vielerorts <strong>als</strong> „fremd“ wahrgenommen,<br />

bildeten die „Ruhrpolen“ bald ein eigenständiges<br />

Arbeitermilieu in den Städten<br />

des Ruhrgebiets. Um einerseits die Nachfrage<br />

nach Arbeitskräften zu befriedigen, andererseits<br />

aber die vermehrte Zuwanderung<br />

dieser Vorväter späterer „Gastarbeiter“ (und<br />

die befürchtete Entstehung einer Art früher<br />

Form von „Parallelgesellschaft“) abzubremsen,<br />

führte die preußische Verwaltung 1890<br />

eine sog. Karenzzeit ein, welche die polnischen<br />

Arbeiter zwingen sollte, nach Ende<br />

der Saison das Land wieder zu verlassen.<br />

Einige wissenschaftliche Untersuchungen<br />

beschäftigen sich darüber hinaus<br />

zunehmend auch mit jüngeren Migrationsbewegungen,<br />

etwa mit den im Rahmen der<br />

Öffnung Polens in den 1980er Jahren eintreffenden<br />

Migranten (sowohl Aussiedler – <strong>als</strong>o<br />

solche Einwanderer, die auf Grundlage des<br />

Bundesvertriebenengesetzes die deutsche<br />

Staatsangehörigkeit beantragt und erhalten<br />

haben - <strong>als</strong> auch polnische Staatsbürger).<br />

Während diese Einwanderer in der ersten<br />

Hälfte der achtziger Jahre vor dem Hintergrund<br />

des Ost-West-Konflikts <strong>als</strong> „Freiheitskämpfer“<br />

(Solidarnosc!) noch wohlwollend<br />

aufgenommen wurden, so wandelte sich<br />

dieses positive Polenbild Ende der achtziger<br />

Jahre mit dem enormen Anstieg der Zuwandererzahlen,<br />

der eng mit dem ökonomischen<br />

Wandel Polens seit 1989 und einer zuvor unbekannte<br />

Arbeitslosigkeit verbunden war,<br />

die einerseits für die Migranten einen wichtigen,<br />

wenn nicht den wichtigsten Push-<br />

Faktor darstellte, andererseits mit einem<br />

starken Bedarf Deutschlands an Niedriglohn-<br />

und Saisonarbeitskräften korrespondierte.<br />

Andere Migrationszüge – wie etwa<br />

diejenigen polnischer Displaced Persons, die<br />

nach ihrer Befreiung 1945 in den westlichen<br />

Besatzungszonen, (und später in der Bundesrepublik)<br />

blieben, Rückwanderungswellen<br />

in umgekehrter Richtung wie die in den<br />

wiedergegründeten polnischen Staat nach<br />

Ende des ersten Weltkrieges oder aktuell die<br />

Folgen des EU-Beitritts Polens und der EU-<br />

Dienstleistungsrichtlinie mit der vorläufigen<br />

7-jährigen Einschränkung der Freizügigkeit<br />

(„Übergangsfrist“) für polnische Arbeitsmigranten<br />

– fanden und finden dagegen bisher<br />

weit weniger Beachtung in der Forschung .<br />

Auch die scheinbar simplere Frage nach<br />

der Quantität der polnischen Migration läßt<br />

sich von der Literatur erwartungsgemäß<br />

nicht eindeutig beantworten, was zu einem<br />

großen Teil einfach daran liegt, dass sich in<br />

den harten Zahlen zugleich die vielfältigen<br />

weicheren Aspekte einer facettenreichen Migrantenidentität<br />

wiederspiegeln. Generell<br />

wird die Zahl der Menschen mit polnischer<br />

Muttersprache – nicht notwendigerweise<br />

Staatsangehörigkeit! - in der Bundesrepublik<br />

heute von verschiedenen Quellen auf<br />

über zwei Millionen geschätzt. Allerdings<br />

taucht diese Zahl, nach der die Polen hinter<br />

den Türken die zweitgrößte Einwanderergruppe<br />

in Deutschland stellen würden,<br />

in keiner offiziellen Einwanderungsstatistik<br />

auf. Zum einen lassen sich die polnischen<br />

Migranten dritter, vierter oder gar fünfter<br />

Generation formal nur noch schwer ausmachen:<br />

Die letzte große historische polnische<br />

Einwanderungswelle etwa, die der „Ruhrpolen“,<br />

war streng genommen keine Immigration,<br />

sondern eine Binnenwanderung.<br />

Die 300.000 ethnischen Polen, die dam<strong>als</strong><br />

nach Westen wanderten, waren im staats-<br />

Angenommen hat sich diesem Desiderat in<br />

jüngerer Zeit etwa die Tagung „Polnische Migranten<br />

in Deutschland“ (März 2000) am Institut<br />

für Europäische Regionalforschungen der<br />

Universität Siegen sowie in versch. Arbeiten zur<br />

Frage der Arbeitsmigration und Freizügigkeit<br />

etwa Wolfgang Cyrus.<br />

86


ürgerlichen Sinne Deutsche aus den östlichen<br />

Provinzen Preußens. Sie sprachen<br />

jedoch Polnisch, verfügten über einen polnischen<br />

Kulturbegriff und gründeten eine<br />

Unzahl polnischer Vereine und Organisationen.<br />

Diese bereits erwähnten „Ruhrpolen“<br />

haben zahlreiche polnische Familiennamen<br />

hinterlassen (14% der Deutschen tragen slawische<br />

Namen, viele davon polnische) und<br />

sind abgesehen davon - und entgegen aller<br />

ursprünglicher Befürchtungen - durch<br />

Assimilation beinahe rückstandslos in der<br />

deutschen Gesellschaft aufgegangen. Zum<br />

anderen sprengen allein die verbreitete<br />

Pendelmigration zwischen Lebensmittelpunkt<br />

im Heimatland und Arbeitsplatz in<br />

Deutschland oder die sog. „doppelten Identitäten“<br />

etwa von Aussiedlern den üblichen<br />

Begriff von Migration und erschweren die<br />

Lesbarkeit von Statistiken. Die Einwanderungswelle<br />

der „Vertriebenen“ nach dem 2.<br />

Weltkrieg aus den ehem<strong>als</strong> deutschen Ostgebieten<br />

betraf so größtenteils ethnisch<br />

Deutsche. Viele unter ihnen waren jedoch<br />

mit doppelter Identität und zweisprachig<br />

aufgewachsen. Auch ist beispielsweise der<br />

Großteil der seit 1980 in die Bundesrepublik<br />

zugewanderten polnischen Staatsbürger<br />

nach Polen zurückgekehrt bzw. mußte aufgrund<br />

des befristeten Aufenthaltsrechts zurückkehren<br />

(oder <strong>als</strong> Illegale im Land bleiben).<br />

Dadurch hat sich die Zahl gemeldeter<br />

Ausländer polnischer Staatsangehörigkeit<br />

in den 1990er Jahren bei knapp 300.000<br />

eingependelt; mit einem Anteil von etwa<br />

4% aller Ausländer stellen die Polen nach<br />

Staatszugehörigkeit gerechnet demnach die<br />

fünftgrößte Gruppe unter den in Deutschland<br />

lebenden Ausländern. Hinzu kommen<br />

Illegale, deren Zahl schwer zu schätzen ist.<br />

Darüber hinaus ergeben sich grundlegende<br />

Fragen der Kategorisierung: Je nachdem,<br />

ob Muttersprache, Staatsangehörigkeit<br />

oder Abstammung den Statistiken zugrunde<br />

gelegt wird, fallen auch die Zahlen aus.<br />

Es gibt polnische Angaben, die von über 70<br />

Millionen Polen weltweit sprechen. Neutralere<br />

Schätzungen gehen ehr von 44 bis<br />

60 Millionen aus. Die „Polonia“, die polnische<br />

Diaspora, rechnet mit etwa 20 Millionen<br />

Auslandspolen, <strong>als</strong> deren wichtigstes<br />

Definitionsmerkmal weder Staatsbürgerschaft<br />

noch Abstammung oder Geburtsort,<br />

sondern interessanterweise vor allem die<br />

Beherrschung der polnischen Sprache zu<br />

Grunde gelegt wird (möglicherweise auch,<br />

weil aufgrund der vielfachen Teilungen des<br />

Landes in weiten Strecken der Geschichte<br />

Polens nur die Sprache das Land vereint<br />

hat). Und an die Frage der polnischen Diaspora<br />

knüpft sich in der Bundesrepublik<br />

dabei neben generellen Fragen der Migrationsproblematik<br />

wiederum die gelegentlich<br />

wieder aufflammende Diskussion um die<br />

Wiederanerkennung einer 1939 per Nazidekret<br />

delegalisierten polnischen Minderheit<br />

in Deutschland .<br />

Ein Fazit dieser Spurensuche fällt daher<br />

schwer. Vielleicht: Die Gesamtheit der<br />

polnischen Migration nach Deutschland<br />

läßt sich möglicherweise genauso schwer in<br />

Zahlen fassen wie die Lebensgeschichten<br />

der einzelnen Menschen, die sich dahinter<br />

verbergen.<br />

PS: Abseits von Staatsbibliothek, Statistiken<br />

und Bücher-Stapeln finden sich bei<br />

einer Spurensuche polnischen Alltags in<br />

Berlin heute neben dem Fußballclub „POC<br />

Olympia Berlin“, zahlreichen Eckläden,<br />

polnischen Lesungen auf Radio Multikulti,<br />

dem stadtbekannten „Club der polnischen<br />

Versager“ (nicht nur ein schönes Beispiel<br />

dafür, wie die gängigen Polen-Bilder sehr<br />

bewußt ironisiert werden, sondern einfach<br />

auch ein netter Ort, einen Samstagabend<br />

zu verbringen), auch sehr populäre Restaurants<br />

mit polnischer Küche ! Liebe geht ja<br />

bekanntlich durch den Magen, und gesellschaftliche<br />

Akzeptanz scheinbar manchmal<br />

auch.<br />

Von Befürwortern wird dabei die Anzahl<br />

dauerhaft in Deutschland lebender, gemeldeter<br />

polnischer Staatsbürger von immerhin 300.000<br />

und die Tatsache, dass die deutsche Minderheit<br />

in Polen bei einem vergleichbaren Bevölkerungsanteil<br />

von 0,36 – 0,38% den Status <strong>als</strong><br />

nationale Minderheit genießt, ins Feld geführt.<br />

www.polnischeversager.de<br />

Etwa „Waschmaschinewsky“ in Berlin-Freidrichshain.<br />

Sehr empfehlenswert ist das große<br />

Frühstück „Warschauer Pakt“ (Sa/ So). www.<br />

waschmaschinewsky.de<br />

87


Kapitel IV<br />

Polnische Persönlichkeiten –<br />

Cusanische Perspektiven<br />

89


Leszek Balcerowicz – Pole durch und durch<br />

oder ökonomischer Metropolit?<br />

von Heiner Tschochohei<br />

Leszek Balcerowicz hat Ehrendoktorwürden von den verschiedensten Universitäten<br />

der Welt erhalten. Der amtierende Präsident der polnischen Nationalbank<br />

wurde bekannt durch den sogenannten Balcerowicz-Plan, mit dem auf einen<br />

Schlag die Systemtransformation in Polen vollzogen wurde. Fraglich ist, worin<br />

der ungestüme Charakter des Plans begründet liegt: polnisches Naturell, historische<br />

Konsequenz polnischer Wirtschaftspolitik oder in der Person Balcerowicz’<br />

selbst? Die Antwort liegt in der Mitte.<br />

Was in der wirtschaftspolitischen Literatur<br />

<strong>als</strong> „Big Bang“ oder „Schocktherapie“<br />

bekannt geworden ist, erinnerte am 1.<br />

Januar 1990 in Polen an die Öffnung eines<br />

Kaufhauses zum Winterschlussverkauf: Neonlicht<br />

flackerte auf, Angebotsschilder wurden<br />

in Stellung gebracht, die Kassen gut<br />

mit Wechselgeld bestückt und die ersten<br />

Kunden, die das Geschäft betraten, wirkten<br />

kaufwillig, aber orientierungslos. Die<br />

Analogie mag nicht perfekt sein, steht aber<br />

sinnbildlich für die Maßnahmen, die Leszek<br />

Balcerowicz nach dem Fall des eisernen<br />

Vorhangs zu Beginn der 1990er Jahre durchführte,<br />

um Polen schnellstmöglich in eine<br />

Marktwirtschaft zu überführen.<br />

Um im Bild zu bleiben: Der sozialistische<br />

Winter war hart – das Warenangebot war<br />

knapp und die Inflation betrug zum Ende<br />

der Herrschaft der Vereinigten Polnischen<br />

Arbeiterpartei mitunter 50 % – auf monatlicher<br />

Basis. Dabei trieb die inkonsequente<br />

Wirtschaftspolitik Nachkriegspolens ganz<br />

besondere Blüten. Die kommunistische Elite<br />

war gegenüber der Arbeiterbewegung zu Zugeständnissen<br />

beim Lohn bereit, die in keinem<br />

Verhältnis zur Produktivitätsentwicklung<br />

standen. Unter marktwirtschaftlichen<br />

Bedingungen hätte dies relativ schnell zu<br />

einer Inflation bzw. Hyperinflation geführt.<br />

Innerhalb von klassischen Planwirtschaften<br />

mit einem rigiden Preissystem war jedoch<br />

die Logik von Angebot und Nachfrage außer<br />

Kraft gesetzt; dies führte in der Folge<br />

in solchen Fällen zu Versorgungsengpässen.<br />

Ende der 1980er Jahre war in Polen allerdings<br />

eine Kombination beider Phänomene<br />

zu beobachten, da sich die Inflation nach<br />

der ersten zaghaften Freigabe der Preise gewissermaßen<br />

entlud und andererseits nach<br />

wie vor Nachfrageengpässe vorherrschten.<br />

Weiterhin musste die neue Regierung unter<br />

Tadeusz Mazowiecki im Herbst 1989 mit einer<br />

sehr hohen Auslandsverschuldung fertig<br />

werden.<br />

In dieser Situation galt es, dem Wirtschaftssystem<br />

eine neue Gestalt zu geben.<br />

Wie in allen Staaten Mittel- und Osteuropas<br />

war die wirtschaftspolitische Stabilisierungsagenda<br />

im Wesentlichen von fünf<br />

Punkten bestimmt: Erstens: Preisliberalisierung,<br />

die die Senkung bzw. Abschaffung<br />

von Subventionen, die Freigabe von Preisen<br />

und den freien Binnenhandel beinhal-<br />

90


tete. Zweitens: Ausgleich des Staatshaushaltes,<br />

was in der Regel mit einem Anstieg<br />

von (Einkommens-)Steuern und der Senkung<br />

der Staatsausgaben einher ging. Drittens:<br />

Restriktive Steuerung der Geldmenge<br />

durch Anhebung der Leitzinsen. Viertens:<br />

Einschnitte bei den Löhnen. An fünfter<br />

Stelle ist die Öffnung des internationalen<br />

Handels zu nennen. Dies war normalerweise<br />

nur durch eine Abwertung der eigenen<br />

Währung möglich.<br />

Je nach wirtschaftlichem Status quo der<br />

einzelnen, ehem<strong>als</strong> kommunistischen Ökonomien<br />

hatten die Maßnahmenpakete noch<br />

weitere Neuerungen und Änderungen, beispielsweise<br />

die Schaffung eines mehrgliedrigen<br />

Bankensystems, zu umfassen. Der<br />

entscheidende Unterschied war allerdings<br />

nicht das Spektrum der wirtschaftspolitischen<br />

Eingriffe, sondern die Geschwindigkeit<br />

und Reihenfolge der Umsetzung.<br />

Während Ungarn etwa bekannt wurde <strong>als</strong><br />

Stellvertreter für eine sequenzielle Strategie,<br />

ist Polen nach wie vor Sinnbild für den<br />

oben genannten „Big Bang“ – die Schocktherapie.<br />

Diese wird in der Fachliteratur <strong>als</strong><br />

eine Strategie bezeichnet, die irreversible<br />

Maßnahmen herbeiführt, indem schnellstmöglich<br />

und sehr akzentuiert die einzelnen<br />

Schritte durchgeführt werden. Die polnischen<br />

Akteure der Systemtransformation<br />

stellen im Übrigen die besondere Strategiewahl<br />

nahezu unisono <strong>als</strong> conditio sine qua<br />

non in der Literatur dar. Verordnet wurde<br />

die Therapie zum 1. Januar 1990 federführend<br />

von Leszek Balcerowicz, einem bis zu<br />

diesem Zeitpunkt in der öffentlichen Wahrnehmung<br />

unbekannten, eher akademisch<br />

orientierten Wirtschaftswissenschaftler. Infolgedessen<br />

sind die wirtschaftspolitischen<br />

Reformen unter dem Titel „Balcerowicz-<br />

Plan“ weltweit bekannt geworden.<br />

Mithin stellt sich die Frage, warum sich<br />

die Regierung Mazowiecki bzw. Balcerowicz<br />

selbst seinerzeit so entschied. Diese<br />

Diskussion kann vor dem Hintergrund geführt<br />

werden, dass die Schocktherapie sehr<br />

große Einbußen für die breite Bevölkerung<br />

bedeutete. In den Jahren 1990 und 1991 lag<br />

Polen mit Blick auf Wirtschaftswachstum,<br />

Inflation, Arbeitslosigkeit und Budgetdefizit<br />

deutlich hinter der Tschechischen Republik,<br />

Ungarn und Slowenien. Bemerkenswert<br />

ist dabei, dass Balcerowicz zwar im<br />

Vorfeld von einer anfänglich schwierigeren<br />

wirtschaftlichen Situation ausging, seine<br />

Projektionen jedoch in allen Bereichen in<br />

negativer Hinsicht noch übertroffen wurden.<br />

In der Retrospektive steht dies für<br />

Balcerowicz eher in Zusammenhang mit<br />

der desolaten Ausgangssituation <strong>als</strong> mit<br />

der Natur „seines“ Programms: „If a country<br />

has been operating under difficult initial<br />

and external conditions, it is a mistake<br />

to blame social discontent on a particular<br />

type of economic programme“ (Balcerowicz<br />

1995, 163). Andererseits ließe sich der Balcerowicz-Plan<br />

auch vor dem Hintergrund<br />

des heutigen EU-Mitgliedsstaates Polen<br />

diskutieren, der in mancherlei Hinsicht Erfolgsgeschichten<br />

zu bieten hat. Jedoch ist<br />

die hier verfolgte Frage, woher dam<strong>als</strong> die<br />

Motivation für die Schocktherapie rührte.<br />

Es gilt weniger zu ergründen, inwiefern die<br />

eine der anderen Transformationsstrategie<br />

vorzuziehen ist, sondern welche Beweggründe<br />

im Herbst 1989 zur Ausarbeitung<br />

des Plans in der beschriebenen radikalen<br />

Weise führten.<br />

Vor dem Hintergrund einer sehr bewegten<br />

polnischen Nationalgeschichte liegt<br />

es nahe, nach Anhaltspunkten in der Historie<br />

zu suchen. Ein weiterer, hier zu diskutierender<br />

Aspekt sind in der logischen<br />

Konsequenz die damaligen politischen<br />

Rahmenbedingungen. Und schließlich<br />

muss die Person Balcerowicz selbst thematisiert<br />

werden, was allerdings ohne Rückbezug<br />

auf die Geschichte Polens nach 1945 unvollständig<br />

wäre.<br />

Begibt man sich auf die historische<br />

Fährtensuche, so stellt sich schnell die Frage<br />

nach dem Anfang. Was wählt man <strong>als</strong><br />

Bezugspunkt? Das Königreich Polen des<br />

15. Jahrhunderts, das Kongresspolen der<br />

Restaurationszeit oder doch erst das Polen<br />

nach Ziehung der Curzon-Linie? Obwohl<br />

gerade dem deutschen Autor bezüglich der<br />

eigenen Geschichte diese Frage bekannt<br />

vorkommt, so ist sie nicht leicht zu beantworten.<br />

Denn mit der ersten geschriebenen<br />

Verfassung Europas 1791 liegen sehr fassbare<br />

Anhaltspunkte vor, aber schon mit<br />

der dritten Teilung Polens 1795 haben mit<br />

91


Preußen, Russland und Österreich drei sehr<br />

unterschiedlich strukturierte Staaten ihren<br />

Einfluss in der polnischen Geschichte hinterlassen.<br />

Einzig das selbstbewusste Auftreten<br />

der Magnaten zur Zeit der Adelsrepublik<br />

ließe ein wenig Raum für Spekulation<br />

über die vehement agierende polnische Natur.<br />

Nachvollziehbarer scheint daher ein<br />

Blick in die jüngere Vergangenheit zu liegen.<br />

Dieser offenbart jedoch einen dem Schock-<br />

Nimbus des Balcerowicz-Plan diametral<br />

entgegenstehenden Blick auf die polnische<br />

Wirtschaftspolitik: Die polnische Volksdemokratie<br />

hat in den Nachkriegsjahrzehnten<br />

– eher atypisch für die COMECON-Staaten<br />

– bereits verschiedene Marktelemente<br />

eingeführt, etwa eine teilweise dezentrale<br />

Preisbildung. Auch die Zentralplanung<br />

wurde stellenweise ausgesetzt, jedoch nur<br />

zugunsten sogenannter Regierungsaufträge.<br />

In der Folge muss man einen Hybrid<br />

zwischen Markt- und Planwirtschaft konstatieren,<br />

was summa summarum zu einem<br />

Konglomerat ineffizienter Strukturen führte<br />

und in keiner Weise <strong>als</strong> Sinnbild für klar akzentuiertes<br />

und zielorientiertes wirtschaftspolitisches<br />

Agieren stehen konnte. Man mag<br />

diesen ökonomischen Zwitter <strong>als</strong> das Optimum<br />

im Zusammenspiel von historisch<br />

bedingter ausgeprägter Freiheitsliebe und<br />

kommunistischer Doktrin auffassen. Insofern<br />

ließe sich auch argumentieren, dass der<br />

Balcerowicz-Plan in der Folge des früh einsetzenden<br />

gesellschaftlichen Strebens nach<br />

Freiheit und ökonomischer Selbstbestimmung<br />

stand. Schließlich ließe sich im selben<br />

Sinne auch die Entstehungsgeschichte<br />

des Komitees zur Verteidigung der Arbeiter<br />

und vor allen Dingen der Gewerkschaft Solidarnosc<br />

Ende der 1970er Jahre beifügen.<br />

Auf der anderen Seite muss aber festgehalten<br />

werden, dass es auch innerhalb der genannten<br />

Bewegungen nie eine einhellige<br />

Meinung über das adäquate Vorgehen gab.<br />

Entsprechend kann man zwar diverse Anhaltspunkte<br />

für eine Entsprechung von Balcerowicz-Plan<br />

und polnischer Identität konstatieren,<br />

muss deren Fragilität jedoch auch<br />

anerkennen.<br />

Es scheint opportun, sich in der Suche<br />

nach der Motivation für den dam<strong>als</strong> sehr<br />

drastisch daherkommenden Balcerowicz-<br />

Plan auf die Begleitumstände der Systemtransformation<br />

zu beschränken. Wie bereits<br />

angesprochen ist die Wirtschaftspolitik<br />

Nachkriegspolens von marktwirtschaftlichen<br />

Ansätzen durchsetzt gewesen. Mitunter<br />

wird dem Plan daher sogar der Schock-<br />

Therapiecharakter abgesprochen, was jedoch<br />

die Lage der Bevölkerung verkennt. Denn<br />

tatsächlich handelte es sich um den „Big<br />

Bang“. Um dies zu verstehen, muss man der<br />

ökonomischen Schule des Balcerowicz-Plans<br />

näherkommen. Das Maßnahmenpaket basiert<br />

auf der neoklassischen Denkweise, die<br />

in ihrer simplen Lehrbuchform von streng<br />

rational agierenden Akteuren ausgeht. Ganz<br />

besonders zu betonen ist die ahistorische<br />

Natur von Handlungen. Frühere Ereignisse<br />

spielen keine Rolle, im Interesse der Überlegung<br />

steht vielmehr, wie eigennützig handelnde<br />

Individuen miteinander interagieren<br />

und unter welchen Bedingungen schließlich<br />

ein Marktgleichgewicht erreicht wird.<br />

In diesem Sinne war es nicht Teil des Plans,<br />

der Bevölkerung die Systemtransformation<br />

zu vermitteln; die Inflation schien Legitimation<br />

genug, um die notwendigen Maßnahmen<br />

simultan und schnell aufeinander<br />

folgend durchzuführen. Der Ruf aus der<br />

Bevölkerung kann dementsprechend nicht<br />

der Beweggrund für Balcerowiczs Auftreten<br />

gewesen sein. Zweifelsohne galt es, auf<br />

die Versorgungsprobleme und die Inflation<br />

zu reagieren. Soweit herrschte Konsens; die<br />

weitere Strategieentscheidung fand jedoch<br />

ohne direkte Ableitung eines Volkswillens<br />

statt. Es stellt sich die Frage, ob daher nicht<br />

der Blick auf die außerpolnischen Rahmenbedingungen<br />

gerichtet werden muss. Und<br />

tatsächlich forderte der internationale Währungsfonds<br />

(IWF) einschneidende Maßnahmen,<br />

um die Inflation einzudämmen<br />

und Polens Kreditwürdigkeit wiederherzustellen.<br />

Noch zielweisender waren für Polen und<br />

Balcerowicz aber nicht die allgemeinen Vorgaben<br />

und Empfehlungen des IWF, sondern<br />

die besonderen Kontakte, die Balcerowicz<br />

beispielsweise zu Jeffrey Sachs, einem einflussreichen<br />

US-Ökonomen, unterhielt (und<br />

unterhält!). Zustandegekommen waren diese<br />

bereits in den siebziger Jahren, <strong>als</strong> Balcerowicz<br />

nach dem Studium an der heutigen<br />

Warschauer Wirtschaftsuniversität (bereits<br />

dam<strong>als</strong> die „modernste“ Ökonomiefakul-<br />

92


tät Polens) vor seiner Promotion zunächst<br />

ein <strong>MB</strong>A-Programm an der New Yorker St.<br />

John’s University absolvierte. In der Folgezeit<br />

brachte er seine Fachkompetenz allerdings<br />

mehr im akademischen Umfeld und<br />

im „Untergrund“ ein. 1978 initiierte er einen<br />

informellen Zusammenschluss von Experten,<br />

die sog. Balcerowicz-Gruppe. Im<br />

munteren Zusammenspiel mit sympathisierenden<br />

ausländischen Ökonomen entwickelte<br />

das Bündnis Alternativen zum maroden<br />

polnischen Wirtschaftssystem. Um den<br />

sozialen Frieden zu wahren, wurden einzelne<br />

Mitglieder im Verlauf der achtziger Jahre<br />

dann von der Regierung zu Stellungnahmen<br />

und zur Mitwirkung an aktuellen<br />

Reformvorhaben eingeladen. Dieser Kanal<br />

für die westlich orientierte Wirtschaftsdoktrin<br />

der damaligen Zeit (man erinnere sich<br />

an Reaganomics und den Thachterismus)<br />

in die polnische Politik ist auch ein Erklärungsgrund<br />

für den oben genannten Systemhybrid.<br />

Vor allen Dingen aber ist er ein<br />

Vorläufer für die offene Einflussnahme der<br />

westlichen Welt bei der Ausgestaltung des<br />

Balcerowicz-Plans. So waren nicht nur einige<br />

Gefolgsleute aus der Balcerowicz-Gruppe<br />

Mitglied in der Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung<br />

des Plans (Marek Dabrowski etwa),<br />

sondern in beratender Funktion auch der<br />

Neoklassiker Jeffrey Sachs mit deutlicher<br />

personeller und administrativer Unterstützung<br />

des IWF. Nicht zu unterschätzen auch<br />

die „Hilfestellung“, die seitens der EU erfolgte.<br />

In diesem Licht muss der Balcerowicz-Plan<br />

denn eher im Kontext internationaler<br />

Einflussnahme <strong>als</strong> vor dem Hintergrund<br />

polnischer Tradition gesehen werden.<br />

Für die Natur des Balcerowicz-Plans gibt<br />

es keine monokausale Erklärung. Die Systemtransformation<br />

geschah im Konzert mit<br />

den anderen Staaten Mittel- und Osteuropas<br />

und war letztlich Ergebnis des Zusammenbruchs<br />

des gesamten Ostblocks. Nicht<br />

zuletzt wegen der übergeordneten Systemdebatten<br />

muss ein großer Teil der Motivation<br />

für den Charakter der Maßnahmen aus<br />

dem globalen Zeitgeist abgeleitet werden<br />

– mehr <strong>als</strong> aus der polnischen Identität. Zu<br />

markant sind die Umstände in Balcerowicz’<br />

Ausbildung: geprägt vom inkonsequenten<br />

Vorgehen der sozialistischen Regierungen<br />

und ausgebildet an polnischen und USamerikanischen<br />

Wirtschaftselitehochschulen,<br />

war er zu empfänglich für die Rezepte,<br />

die von Jeffrey Sachs herangetragen<br />

wurden. Hier den Brückenschlag zur polnischen<br />

Adelsrepublik oder Kongresspolen<br />

zu machen, erscheint wagemutig. Jedoch<br />

ließe sich andersherum spekulieren, dass<br />

erst der Umgang mit Polen <strong>als</strong> Spielball europäischer<br />

Interessenspolitik über die Jahrhunderte<br />

hinweg verhindert hat, dass sich<br />

eine Tradition von Wirtschaftspolitik und<br />

ökonomischer Führungsweise entwickelte.<br />

Die Zukunft wird zeigen, wie sich Polen in<br />

der Europäischen Union darstellen und seinen<br />

eigenen Weg finden wird.<br />

Literatur<br />

Adam, J. (1994): The transition to a market<br />

economy in Poland, in: Cambridge Journal<br />

of Economcis, Vol. 18, pp. 607 – 618.<br />

Balcerowicz, L. (1995): Socialism, Capitalism,<br />

Transformation, Budapest et al.: Oxford<br />

University Press.<br />

Fuhrmann, R. (1990): Polen: Handbuch;<br />

Geschichte, Politik, Wirtschaft, Hannover:<br />

Fackelträger.<br />

Hoen, H. (1996): „Shock vs. Gradualism“<br />

in Central Europe Reconsidered, in: Comparative<br />

Economic Studies, Vol. 38 (1), pp.<br />

1 – 20.<br />

Lavigne, M. (1999): The Economics of Transition.<br />

From Socialist to Market Economy,<br />

2nd edition, London: MacMillan.<br />

Neunhöffer, G. (2001): Die neoliberale Kulturrevolution<br />

– neoliberale Think Tanks in<br />

Polen, in: UTOPIE kreativ, Vol. 126, pp. 313<br />

– 323.<br />

Shields, S. (2003): The „Charge of the Right<br />

Brigade“: Transnational Social Forces and<br />

the Neoliberal Configuration of Poland’s<br />

Transition, in: New Political Economy,<br />

Vol. 8 (2), pp. 225 – 244.<br />

93


Nikolaus Kopernikus<br />

von Olaf Schweisthal<br />

Es scheint, dass Weltbilder um so erfolgreicher<br />

sind, je mehr sie bestimmten<br />

Grundbedürfnissen des Menschen entgegenkommen,<br />

die psychologischer, geistiger<br />

oder ästhetischer Natur sein können. Die<br />

Überzeugungskraft der sinnlichen Wahrnehmung,<br />

insbesondere des Visuellen, ist<br />

groß; unsere gesamte physiologische Konstitution<br />

ist gleichsam ehern geschmiedet an<br />

die Ruhe und Unverrückbarkeit des uns tragenden<br />

Bodens. Die Vorstellung einer bewegten<br />

Erde widerspricht dem Augenschein<br />

und hat zunächst wenig Plausibilität. Das<br />

auf der Geozentrik, <strong>als</strong>o der Mittelpunktstellung<br />

der Erde basierende Zwei-Kugel-<br />

Universum der Antike trug der unmittelbaren<br />

Sinneswahrnehmung in hohem Grade<br />

Rechnung; zudem muss es <strong>als</strong> in sich widerspruchsfrei<br />

und einfach bezeichnet werden.<br />

Auch anspruchsvollere Beobachtungen und<br />

Messungen der gestirnten Umwelt lassen<br />

sich zwanglos darin einordnen: Eine gewaltige<br />

Hohlkugel, an deren Innenseite die Fixsterne<br />

befestigt sind, dreht sich in westlicher<br />

Richtung gleichmäßig um eine feste Achse.<br />

Die Erde wird <strong>als</strong> vergleichsweise winzige,<br />

ruhende Kugel imaginiert, deren Mittelpunkt<br />

zugleich derjenige der Sternenkugel<br />

ist. Die Planeten, zu denen auch Sonne<br />

und Mond gerechnet wurden, bewegen sich<br />

in dem weiten Raum zwischen Erd- und<br />

Himmelskugel. Ein „Außerhalb“ der letzteren,<br />

im Sinne der Raumvorstellung, gibt<br />

es nicht; die Sternenkugel ist „eingelagert“<br />

in ein unbestimmtes Etwas, eine Art Nichts<br />

vom Standpunkt der irdischen Erfahrung<br />

aus – jenseits von Raum, Zeit und Materie:<br />

die Wirkungsregion göttlicher Ursächlichkeit,<br />

des „unbewegten Bewegers“ (nach Aristoteles).<br />

Eingefügt in die Sternenkugel sind weitere<br />

Hohlkugeln, die ein gemeinsames Zentrum<br />

besitzen: den Mittelpunkt der Erde.<br />

Sie tragen die Planeten auf ihrer Bahn entlang.<br />

Das System der geozentrischen Kugeln<br />

geht auf den Platon-Schüler Eudoxus zurück<br />

und wurde geschaffen, um die Bewegungen<br />

der Planeten auf die <strong>als</strong> vollkommen<br />

geltende Figur des Kreises bzw. der Kugel<br />

zurückzuführen, die Platon zur Konstituente<br />

des Kosmos erklärt hatte. Nach Aristoteles<br />

war die im Zentrum des Universums<br />

stehende Erde zunächst umgeben von den<br />

sphärischen Hüllen der drei irdischen Elemente<br />

Wasser, Luft und Feuer; die Feuersphäre<br />

wiederum wurde umschlossen von<br />

den kristallenen Sphären bzw. Hohlkugeln,<br />

in die jeweils - in wachsender Entfernung<br />

von der Erde - Mond, Merkur, Venus, Sonne,<br />

Mars, Jupiter und Saturn eingelagert<br />

waren und im Umlauf gehalten wurden.<br />

Jenseits der kristallenen und durchsichtigen<br />

Planetensphären kam die Fixsternsphäre<br />

bzw. die Sternenkugel, die absolute Grenze<br />

des Weltalls.<br />

In der Schrift „Über den Himmel“<br />

schreibt Aristoteles: Die natürliche Bahn ihrer<br />

Teile und der ganzen Erde ist zur Mitte<br />

des Alls hin gerichtet. Deswegen befindet<br />

sie sich jetzt in diesem Mittelpunkt. Nun<br />

könnte man fragen, wenn beide Mittelpunkte<br />

zusammen fallen, zu welchem strebt<br />

alles Schwere und die Teile der Erde naturgemäß<br />

hin, zu dem des Alls oder zu dem der<br />

94


Erde? Notwendig zu dem des Alls, da auch<br />

alles Leichte und das Feuer, das die Gegenbewegung<br />

zum Schweren ausführt, nach<br />

dem Rande des die Mitte umschließenden<br />

Raumes strebt. Nur mittelbar ist die Mitte<br />

der Erde auch Mitte des Alls, der Sturz erfolgt<br />

auch zur Mitte der Erde hin, aber nur<br />

mittelbar, insofern sie ihre Mitte in der Mitte<br />

des Alls hat [...] Dass die Erde sich nicht<br />

bewegt, auch nicht außerhalb der Mitte ist<br />

hieraus zu erkennen. Zudem ist aus dem<br />

Gesagten auch der Grund ihres Verweilens<br />

klar. Denn wenn, wie man beobachtet, die<br />

Körper von allen Seiten nach der Mitte fallen<br />

und das Feuer von der Mitte zum Rande<br />

hin strebt, dann kann unmöglich irgendein<br />

Teil von ihr die Mitte verlassen, es sei denn<br />

mit Gewalt.<br />

Die aristotelische Beweisführung geht<br />

von einer dem naiven Realismus nahe stehenden<br />

Betrachtungsart aus. Die Dinge<br />

werden zunächst einmal so gedeutet, wie<br />

sie den Sinnen erscheinen. Die sich hierauf<br />

aufbauenden Schlussfolgerungen und Verallgemeinerungen<br />

sind rein spekulativer<br />

Natur. Aristoteles schließt eine sich bewegende<br />

Erde kategorisch aus. Wenn sich die<br />

Erde tatsächlich bewegen würde wäre nach<br />

Aristoteles die gesamte irdische Physik vielfältigen<br />

Verzerrungen und Verschiebungen<br />

unterworfen. So würden etwa die Wolken,<br />

die ihren „natürlichen“ Ort einnehmen,<br />

stets hinter der rotierenden Erde zurückbleiben.<br />

Unter der Bezugnahme auf den Platon-<br />

Schüler Herakleides von Pontos, der unter<br />

anderem die Drehung der Erde um ihre<br />

Achse und damit die Ruhe der Sternenkugel<br />

behauptet hatte, führt Ptolemäus in seiner<br />

Schrift „Almagest“ die genannten aristotelischen<br />

Argumente zur Mittelpunktstellung<br />

der Erde im Universum an und fährt fort:<br />

Obwohl sie den gebrachten Argumenten<br />

nichts entgegenzusetzen haben, haben gewisse<br />

Denker ein Schema ersonnen, das sie<br />

für akzeptabler halten, von dem sie glauben,<br />

dass nichts dagegen eingewendet werden<br />

kann, wenn sie zum Beispiel vorschlagen,<br />

dass der Himmel ruht, jedoch die Erde<br />

um ein und dieselbe Achse von West nach<br />

Ost rotiert, indem sie eine Umdrehung in<br />

ungefähr einem Tag vollendet. Diese Leute<br />

vergessen jedoch, dass es zwar keinen Einwand<br />

gegen diese Theorie geben mag, soweit<br />

Himmelserscheinungen betroffen sind, doch<br />

nach den (irdischen) Bedingungen zu urteilen,<br />

die uns und die Objekte der Luft um<br />

uns betreffen, muss eine solche Hypothese<br />

lächerlich erscheinen [...] Wenn die Erde<br />

in einer solch kurzen Zeit solch eine große<br />

Drehung um ihre Achse macht [...] muss<br />

alles, was nicht auf der Erde steht, ein und<br />

dieselbe Bewegung im Gegensinn der Erde<br />

gemacht haben, und Wolken sowie alle Dinge,<br />

die fliegen und geworfen werden können,<br />

könnten niem<strong>als</strong> nach Osten wandern,<br />

denn die Erde würde sie alle stets überholen,<br />

so dass alles nach Westen zurückbleiben<br />

würde. Der astronomischen Plausibilität der<br />

Erdrotation wird deren physikalische Unmöglichkeit<br />

entgegengestellt.<br />

Kopernikus – dies gilt <strong>als</strong> der Kern der<br />

mit seinem Namen verbundenen „Wende“ –<br />

hat die kosmische Mittelpunktsstellung der<br />

Erde im aristotelisch-ptolemäischen Weltsystem<br />

mit derjenigen der Sonne vertauscht.<br />

Er hat die irdische Heimstatt, die der sinngebundenen<br />

Erfahrung ruhend und unverrückbar<br />

erscheint, <strong>als</strong> in „rasender“ Bewegung<br />

begriffen erkannt, ihr den kosmischen<br />

Status eines Planeten verliehen. Damit hat<br />

er die sinnliche Unmittelbarkeit der wahrgenommenen<br />

Gestirnbewegung <strong>als</strong> Schein<br />

entlarvt, dem absoluten Oben-Unten-System<br />

der Geozentrik ein System der Relativität<br />

entgegengestellt, ohne jedoch dessen<br />

kosmologische und erkenntnistheoretische<br />

Implikation voll zu durchschauen.<br />

Im „Commentariolus“, einer Frühfassung<br />

seiner Lehre, hat Kopernikus die<br />

Grundzüge der Heliozentrik thesenartig<br />

wie folgt umrissen: Erster Satz (prima petitio):<br />

Für alle Himmelskörper oder Sphären<br />

gibt es nicht nur einen Mittelpunkt. / Zweiter<br />

Satz: Der Erdmittelpunkt ist nicht der<br />

Mittelpunkt der Welt, sondern nur der der<br />

Schwere und des Mondbahnkreises. / Dritter<br />

Satz: Alle Bahnkreise umgeben die Sonne,<br />

<strong>als</strong> stünde sie in aller Mitte, und daher liegt<br />

der Mittelpunkt der Welt in Sonnennähe. /<br />

Vierter Satz: Das Verhältnis der Entfernung<br />

Sonne-Erde zur Höhe des Fixsternhimmels<br />

ist kleiner <strong>als</strong> das vom Erdhalbmesser zur<br />

Sonnenentfernung, so dass diese gegenüber<br />

95


der Höhe des Fixsternhimmels unmerklich<br />

ist. / Fünfter Satz: Alles, was an Bewegung<br />

am Fixsternhimmel sichtbar wird, ist nicht<br />

von sich aus so, sondern von der Erde aus<br />

gesehen. Die Erde <strong>als</strong>o dreht sich mit den<br />

ihr anliegenden Elementen in täglicher Bewegung<br />

einmal ganz um ihre unveränderlichen<br />

Pole. Dabei bleibt der Fixsternhimmel<br />

unbeweglich <strong>als</strong> äußerster Himmel. /<br />

Sechster Satz: Alles, was uns bei der Sonne<br />

an Bewegung sichtbar wird, entsteht nicht<br />

durch sie selbst, sondern durch die Erde<br />

und unseren Bahnkreis, mit dem wir uns<br />

um die Sonne drehen, wie jeder andere Planet.<br />

Und so wird die Erde von mehrfachen<br />

Bewegungen dahin getragen. / Siebenter<br />

Satz: Was bei den Wandelsternen <strong>als</strong> Rückgang<br />

oder Vorrücken erscheint, ist nicht von<br />

sich aus so, sondern von der Erde aus gesehen.<br />

Ihre Bewegung allein genügt <strong>als</strong>o für<br />

so viele verschiedenartige Erscheinungen<br />

am Himmel. Nicht von sich aus so - das ist<br />

die Formel für die Zurückweisung des Augenscheins,<br />

der sinnlichen Täuschung - die<br />

Formel der Relativität.<br />

Nikolaus Kopernikus wurde am 19. Februar<br />

1473 in Thorn (Polen) <strong>als</strong> Sohn einer<br />

vermutlich deutschen Kaufmannsfamilie<br />

geboren. Nach dem frühen Tod seines Vaters<br />

übernahm sein Onkel Lucas Watzenrode<br />

(Bischof von Ermland) seine Erziehung.<br />

Kopernikus studierte in Krakau, Bologna<br />

und Padua Mathematik, Astronomie, aristotelische<br />

Philosophie, lateinische Literatur,<br />

Recht und Medizin. 1495 wird Kopernikus<br />

zum Domherrn beim ermländischen<br />

Kapitel in Frauenburg gewählt. Domherren<br />

waren finanziell gut versorgt und hatten einen<br />

vergleichsweise bescheidenen Kreis an<br />

Pflichten (ihnen oblagen wechselnde Verwaltungsaufgaben,<br />

ein theologisches Studium<br />

und die Erlangung der Priesterweihe<br />

wurden für entbehrlich erachtet). Kopernikus<br />

stand in engem privaten Kontakt mit<br />

dem Astronomen Domenico Novara. Dieser<br />

hegte Zweifel an der Richtigkeit der<br />

ptolemäischen Astronomie und hat sie auch<br />

Kopernikus übermittelt. Die erste Niederschrift<br />

des heliozentrischen Weltsystems<br />

erfolgt in der „Commentariolus“, die spätestens<br />

1514 abgeschlossen war. Erste Arbeiten<br />

an seinem Hauptwerk „De revolutionibus<br />

orbium caelestium“ (Über die Kreisbewegungen<br />

der Himmelskörper) finden um 1516<br />

statt. 1539 kommt der Mathematikprofessor<br />

Joachim Rhetikus nach Frauenburg und<br />

wird Kopernikus‘ Schüler und glühender<br />

Bewunderer. 1540 veröffentlicht Joachim<br />

Rhetikus in Danzig die „Narratio prima“;<br />

hiermit wird die heliozentrische Lehre des<br />

Kopernikus erstmalig der Öffentlichkeit<br />

zugänglich gemacht. Im November 1542 erleidet<br />

Kopernikus einen schweren Schlaganfall,<br />

der zu einer rechtsseitigen Lähmung<br />

führt. Am 24. Mai 1543 stirbt Kopernikus,<br />

wenige Stunden nachdem er das erste gedruckte<br />

Exemplar seines Hauptwerkes in<br />

Händen hält.<br />

Literatur<br />

Kirchhoff, Jochen: Kopernikus. Reinbeck<br />

bei Hamburg (rowohlt) 1996<br />

96


Juliusz Zarębski –<br />

ein Kosmopolit im Schatten Chopins<br />

von Jorma Daniel LünenbÜRger<br />

Unter den polnischen Komponisten der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

nimmt Juliusz Zarębski (1854-1885) eine besondere Stellung ein: <strong>als</strong> Klaviervirtuose<br />

steht er ganz in der Tradition von Chopin und Liszt, weist aber <strong>als</strong> Komponist<br />

in den wenigen Werken, die er vor seinem frühen Tod vollenden konnte,<br />

weit über seine Zeit hinaus.<br />

Es ist ein häufig wiederkehrendes Phänomen,<br />

dass besonders begnadeten Musikern<br />

nur eine kurze Lebensspanne beschieden<br />

ist. Wolfgang Amadeus Mozart (1756-1791)<br />

und Franz Schubert (1797-1828) sind hierfür<br />

nur die berühmtesten, keineswegs aber die<br />

einzigen Beispiele. Auch Fryderyk Chopin<br />

(1810-1849), der bis heute bekannteste polnische<br />

Komponist, hatte eine kaum längere<br />

Lebensspanne. Diesen drei Musikern war<br />

es aber vergönnt, in musikalischen Metropolen<br />

aufzuwachsen und auf einem geradlinigen<br />

Weg die Erfolge zu erringen. Juliusz<br />

Zarębskis kurzer Lebensweg, der in Schitomir<br />

begann und endete, zeichnete sich dagegen<br />

durch viele Umwege aus.<br />

Schon bei der ersten Beschäftigung mit<br />

dem Thema hat man es unweigerlich mit einer<br />

Gemengelage aus verschiedenen Eigennamen<br />

zu tun, die die Wirren der Geschichte<br />

widerspiegeln. Einerseits hat Schitomir,<br />

die zwischen Kiew und Lemberg gelegene<br />

Hauptstadt der Provinz Wolynien, mehrere<br />

Namensvarianten. Als Żytomierz war die<br />

Stadt Teil des polnischen Königreiches und<br />

fiel 1793 bei der zweiten polnischen Teilung<br />

an Russland, heute nennt sie sich auf ukrainisch<br />

Žytomyr. Auch die französischen<br />

Formen Jitomir und Gitomir wurden verwendet.<br />

Andererseits benutzte auch Juliusz<br />

Zarębskis verschiedene Namensformen.<br />

Auf französisch nannte er sich Jules (de) Zarembski,<br />

und vereinzelt ist auch die deutsche<br />

Variante Julius Zaremski überliefert.<br />

„Dieser Zarębski – hol ihn der Teufel!<br />

– ist ein ebenso begabter Pianist wie Komponist!“<br />

Dieser Ausspruch ist von Alexander<br />

Borodin überliefert, nachdem er den<br />

jungen polnischen Musiker bei Franz Liszt<br />

(1811-1886) kennen gelernt hatte. Liszt,<br />

der 1832 bereits das Debüt Chopins in Paris<br />

miterlebt hatte, war seit 1874 der Lehrer<br />

Zarębskis. Der erste Unterricht fand in Rom<br />

statt, später folgte Zarębski seinem Lehrer<br />

nach Weimar und begleitete ihn auch bei<br />

dessen Konzertreisen. Zarębski war einer<br />

der auserwählten Schüler, die mit dem Meister<br />

vierhändig spielen durften. Liszt spielte<br />

eine wichtige Rolle für Zarębski, er war<br />

nicht nur Lehrer, sondern auch eine Vaterfigur<br />

für ihn. In einem Brief an Liszt unterschrieb<br />

Zarębski bereits 1876 mit „ergebenster<br />

Schüler und Freund“.<br />

Die musikalische Ausbildung Zarębskis<br />

hatte allerdings schon in früher Kindheit<br />

begonnen. Den ersten Klavierunterricht<br />

hatte er bei seiner Mutter. Mit der drei Jahre<br />

Portrait in: R. D. Golianek,<br />

J. Zarębski, Kraków 2004<br />

97


älteren Schwester Maria spielte er vierhändig<br />

Klavier und aus dem Jahre 1865 gibt es<br />

die erste Überlieferung eines Konzertes in<br />

seiner Heimatstadt Schitomir. Wenig später<br />

entstanden erste Kompositionen. Ab 1870<br />

studierte Zarębski am Wiener Konservatorium<br />

bei Joseph Dachs, belegte auch das<br />

Fach Komposition bei Franz Krenn und<br />

schloss bereits 1872 ab. Im folgenden Jahr<br />

erwarb er in nur drei Monaten in St. Petersburg<br />

das Diplom eines freien Künstlers.<br />

Seit seiner Ausbildung lebte Zarębski mehr<br />

im Ausland <strong>als</strong> in Polen, das war nicht untypisch<br />

in dieser Zeit. Im Schatten von Liszt<br />

hatte er mit einer regen Konzerttätigkeit<br />

begonnen, die ihn in die wichtigsten Musikstädte<br />

Europas führte. Zarębski hatte<br />

sich <strong>als</strong> Pianist einen Namen gemacht.<br />

Unter den Schülern von Liszt hatte<br />

Zarębski die deutsche Pianistin Johanna<br />

Wenzel kennen gelernt, die aus Schweidnitz<br />

bei Breslau stammte. Er heiratete sie<br />

Anfang 1879 in Schitomir. Es ist symptomatisch<br />

für die Geschichte Polens, dass die<br />

Heimatorte der beiden im 20. Jahrhundert<br />

ihre territoriale Zugehörigkeit verändert<br />

haben. 1879 konzertierte Zarębski in Brüssel<br />

und bekam dort am Konservatorium<br />

eine Professorenstelle angeboten, die er 1880<br />

antrat. Im gleichen Jahr wurde die einzige<br />

Tochter Wanda geboren, die auch Pianistin<br />

werden sollte. Das Leben des Weitgereisten<br />

veränderte sich innerhalb kurzer Zeit. Bei<br />

gemeinsamen Auftritten in Brüssel wurde<br />

das Ehepaar Zarębski vom Publikum gefeiert.<br />

Trotz der äußerlich gefestigten Position<br />

musste Juliusz Zarębski seine Tätigkeiten<br />

einschränken, weil er körperlich<br />

sehr schwach war und die Tuberkulose<br />

fortschritt. So hatte er nie sehr viele Schüler<br />

und komponierte auch nur wenig. Dennoch<br />

entstanden zwischen 1880 und 1885<br />

viele seiner Werke. Im Sommer 1885 reiste<br />

er, von der Krankheit gezeichnet, in seine<br />

Heimatstadt und verstarb dort am 15. September.<br />

Liszt reiste auch in seinen letzten Lebensjahren<br />

noch viel und kam in den<br />

1880er-Jahren dreimal nach Brüssel, wo er<br />

Anteil nahm am Leben seiner ehemaligen<br />

Schüler. „Der edle Charakter von Juliusz<br />

Zarębski und sein großes Künstlertalent<br />

bleiben mir in stetiger Erinnerung“ schrieb<br />

Liszt an dessen Witwe, <strong>als</strong> er die Nachricht<br />

vom Tod seines ehemaligen Schülers erhalten<br />

hatte. Liszt selbst starb ein Jahr später.<br />

Es kann nur Spekulation bleiben, wie sehr<br />

ihn der frühe Tod eines seiner besten Schüler<br />

schmerzte. Zarębskis Ehefrau Johanna,<br />

die nach polnischer Sitte Janina Zarębska<br />

genannt wurde, sollte Brüssel treu bleiben.<br />

Sie bekam dort eine Kammermusikprofessur,<br />

die sie bis 1924 inne hatte, und starb im<br />

Jahr 1928.<br />

Die äußeren Lebensumstände sagen wenig<br />

über den künstlerischen Gehalt eines<br />

Musikers aus, erleichtern jedoch das Verständnis<br />

des Menschen Juliusz Zarębski.<br />

Sein Œuvre ist sehr übersichtlich, weil er<br />

in jungen Jahren vor allem aktiver Pianist<br />

war und dann – <strong>als</strong> er eine feste Anstellung<br />

hatte – krankheitsbedingt zurückstecken<br />

musste. Dennoch hat er deutliche Spuren<br />

hinterlassen, die einen Einblick in sein Leben<br />

geben können. Das Œuvre umfasst<br />

vor allem Klavierwerke, aber auch einige<br />

Liedvertonungen und Kompositionen für<br />

kammermusikalische Besetzungen. In den<br />

Foto: Franz Liszt mit seinen ehemaligen Schülern<br />

Franz Servais, Juliusz und Janina Zarębski,<br />

Brüssel 1881<br />

(Nationalarchiv der Richard-Wagner-Stiftung)<br />

Skizzen fanden sich auch einige Orchesterbearbeitungen<br />

seiner Klavierwerke, die jedoch<br />

nicht vollendet wurden. Das wohl bekannteste<br />

Werk war die zunächst nur aus<br />

Rezensionen bekannte „Große Fantasie“,<br />

die erst jüngst identifiziert wurde.<br />

98


Zarębski ist natürlich nicht der einzige<br />

polnische Komponist seiner Zeit, manche<br />

sind berühmter <strong>als</strong> er. Chopin hatte ein<br />

weltweites Interesse für die polnische Musik<br />

geweckt. Es war dann das Verdienst von<br />

Stanisław Moniuszko (1819-1872), mit Halka<br />

eine polnische Nationaloper geschaffen<br />

zu haben. Der in Lublin geborene Henryk<br />

Wieniawski (1835-1880) war ein international<br />

gefeierter Geigenvirtuose und <strong>als</strong> komponierender<br />

Pianist machte sich Ignacy Jan<br />

Paderewski (1869-1941) einen Namen. Karol<br />

Szymanowski (1882-1937) war es dann vorbehalten,<br />

den Weg für die bekannten Komponisten<br />

des 20. Jahrhunderts zu bereiten.<br />

Bei Zarębski werden immer wieder seine<br />

Fertigkeiten hervorgehoben, polnische Folklore<br />

in der Kunstmusik neu erklingen zu<br />

lassen. Hier hatte Chopin Pionierarbeit geleistet<br />

mit zahlreichen Polonaisen und Mazurkas,<br />

und hier verstand es Zarębski, neue<br />

originelle Ideen zu entwickeln. So ist die<br />

Franz Liszt gewidmete Grande Polonaise<br />

op. 6 (ca. 1881) eines der berühmtesten Beispiele,<br />

in der die oft orchestrale Behandlung<br />

des Klaviers in einer groß angelegten Form<br />

zu hören ist. Der Einfluss von Liszt wird in<br />

den verschiedenen Farbschattierungen deutlich,<br />

die in Les roses et les épines op. 13 (ca.<br />

1882) erklingen. Zwar hatte Zarębski begonnen,<br />

manche seiner Klavierstücke zu orchestrieren,<br />

eigenständige Orchesterwerke sind<br />

aber nicht vorhanden.<br />

Liszt war auch der Widmungsträger von<br />

Zarębskis letztem und größtem Opus, dem<br />

Klavierquintett op. 34, das 1885 vollendet<br />

wurde. Liszt hörte in Brüssel die Uraufführung<br />

des Werkes am 30. April 1885, wenige<br />

Monate vor dem Tod von Zarębski, der<br />

selbst den Klavierpart spielte. Es gibt zwar<br />

Hinweise, dass Zarębski bereits um 1770 ein<br />

Klavierquintett geschrieben hatte, die Noten<br />

sind aber nie aufgetaucht. Das Quintett<br />

op. 34 für Klavier und Streichquartett hat<br />

eine herausgehobene Stellung im Œuvre von<br />

Zarębski wenn man bedenkt, dass alle anderen<br />

Werke mit Opuszahl nur für Klavier (zu<br />

zwei oder vier Händen) geschrieben worden<br />

sind. Liszt war sehr angetan von dem Werk,<br />

wie der bei der Uraufführung mitwirkende<br />

ungarische Geiger Jenö Hubay zur Erstausgabe<br />

des Werkes 1931 zu berichten wusste.<br />

Das Quintett steht in einer Tradition von<br />

zahlreichen Klavierquintetten in der zweiten<br />

Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nach Schumanns<br />

Quintett op. 47 von 1842 schrieben<br />

u. a. Johannes Brahms (1864), César Franck<br />

(1879) und Antonín Dvořák (1887) Werke<br />

für diese Besetzung. In Zarębskis Quintett<br />

werden seine hohen Fähigkeiten besonders<br />

deutlich. Er verwendet zum einen eine breite<br />

Palette an Klangmöglichkeiten: orchestrale<br />

Klangfülle wechselt mit intimsten<br />

kammermusikalischen Momenten, lyrisch<br />

dahinfließende Melodien werden von rhythmisch-tänzerischen<br />

Episoden unterbrochen.<br />

Zum anderen sind in diesem Werk auch die<br />

harmonischen Mittel wegweisend: Zarębski<br />

verwendet wie selbstverständlich dissonante<br />

Klänge, die nicht aufgelöst werden und so<br />

impressionistische Klangflächen entstehen<br />

lassen. Zarębski ist hier seiner Zeit weit voraus,<br />

man kann nur erahnen, wohin diese<br />

Begabung hätte führen können!<br />

Nachdem das Quintett im Mai 1890 am<br />

Brüsseler Konservatorium mit der Witwe<br />

Zarębskis am Klavier wiederaufgeführt wurde,<br />

war es für ein paar Jahrzehnte vergessen.<br />

„Klavier mit zwei Tastaturen“: Karikatur von Juliusz<br />

Zarębski, (aus: Mucha.Pismo humorystyczne i ilustrowane“,<br />

21 (9) III 1879, S. 2.)<br />

Erst nach der Drucklegung wurde es regelmäßig<br />

gespielt und inzwischen einige Mal<br />

aufgenommen. Das Schicksal dieses Werkes<br />

spiegelt das gesamte Schicksal des Komponisten<br />

wider, durch den frühen Tod geriet<br />

er zunächst in Vergessenheit. Seine Klavierwerke<br />

und das Quintett wurden zwar wieder<br />

gespielt, aber erst in jüngster Gegenwart<br />

bekam er durch die Musikwissenschaftler<br />

Malou Haine (Brüssel) und Ryszard Daniel<br />

Golianek (Poznań) auch die gebührende<br />

Aufmerksamkeit in der Musikforschung.<br />

Dennoch sind bis heute viele Fragen offen.<br />

99


Bezeichnend für Zarębski ist, dass er<br />

immer wieder versuchte, die Grenzen der<br />

Konventionen zu erweitern. Das betrifft<br />

ihn nicht nur <strong>als</strong> Komponisten, sondern<br />

auch <strong>als</strong> Klavierinterpreten. Als er 1878<br />

nach Paris kam, traf er neben Charles Gounod<br />

auch die Brüder Mangeot, die einen<br />

Flügel mit zwei Tastaturen entwickelt hatten.<br />

Die zweite Tastatur war seitenverkehrt<br />

und erweiterte dadurch die Möglichkeiten<br />

des Pianisten, erforderte aber zugleich<br />

auch eine erhebliche Umstellung. Zarębski<br />

sprach von der „Emanzipation der beiden<br />

Hände und Erweiterung ihres musikalischen<br />

Bereichs.“ Auf der Pariser Weltausstellung<br />

1878 trat Zarębski mit dem Mangeot-Klavier<br />

auf. Dass das Instrument nur<br />

eine Randnotiz der Musikgeschichte blieb,<br />

hängt vor allem damit zusammen, dass es<br />

ein Einzelstück war und bei den Konzerten<br />

in Paris und London und in anderen Städten<br />

ein erheblicher Transportaufwand notwendig<br />

war.<br />

„Chopin est mort – vive Zarębski!“<br />

schrieb man in Paris um 1880. Schon fünf<br />

Jahre später hatte sich das Bild gewandelt.<br />

Während Chopin sich <strong>als</strong> Synonym für<br />

die polnische Musik im 19. Jahrhundert<br />

ins kollektive Gedächtnis eingebrannt hat,<br />

steht Zarębski bis heute in seinem Schatten.<br />

Dieser Schatten hat aber inzwischen<br />

an Schwärze verloren und vieles ist schon<br />

erkennbar. Juliusz Zarębski war ein Weltenbummler,<br />

ein Kosmopolit. Der Radius<br />

seines Wirkens reichte von St. Petersburg<br />

und Kiew nach Rom und Paris, von Warschau<br />

und Wien nach Berlin und Brüssel.<br />

Zarębski hat uns eindrucksvolle Zeugnisse<br />

seiner Musikalität hinterlassen, durch seine<br />

Krankheit konnte er aber nur einen Bruchteil<br />

seiner Ideen umsetzen. Neben allen<br />

seinen musikalischen Verdiensten lohnt es<br />

sich, auch einmal die europäische Dimension<br />

seines Lebens in Betracht zu ziehen.<br />

Literatur<br />

Chechlińska, Zofia. Artikel „Zarębski, Juliusz.”<br />

The New Grove Dictionary of Music<br />

and Musicians. Vol. 27, hg. V. Stanley Sadie,<br />

London 22001, S. 749.<br />

Golianek, Ryszard Daniel. Dzieła musyczne<br />

Juliusza Zarębskiego. Chronologiczny<br />

katalog tematyczny. The musical works of<br />

Juliusz Zarębski. Chronological thematic<br />

catalogue. Poznań 2002.<br />

Golianek, Ryszard Daniel. „Three Previously<br />

Unknown Musical Pieces by Juliusz<br />

Zarębski.” Ad Parnassum. A Journal<br />

of Eighteenth- and Nineteenth-Century<br />

Instrumental Music, 2003, I (2), S. 111-120.<br />

Golianek, Ryszard Daniel. „Die Handschriften<br />

der Kompositionen Jules Zarembskis<br />

im Goethe- und Schiller-Archiv<br />

in Weimar.“ Die Musikforschung, 2004<br />

(2), S. 53-60.<br />

Golianek, Ryszard Daniel. Juliusz Zarębski.<br />

Człowiek - muzyka - kultura. Kraków<br />

2004.<br />

Haine, Malou. „Un élève particulièrement<br />

doué de Franz Liszt: Jules Zarembski.“ Liszt<br />

Saeculum, 1997, 58 (1), S. 3-12.<br />

Haine, Malou. „Dix-neuf lettres de la correspondance<br />

entre Liszt et les époux Zarembski.“<br />

Liszt Saeculum, 1997, 58 (1), S. 13-26.<br />

Ochlewski, Tadeusz (Hg.). Geschichte der<br />

polnischen Musik. Warschau 1988.<br />

Szalkowska, Beata und Couvreur, Manuel.<br />

„Bruxelles et la musique polonaise (1875-<br />

1925).“ Ausstellungskatalog „Art nouveau<br />

polonais. Bruxelles-Cracovie. 1890-1920.“<br />

Conception: Paul Aron, Crédit Communal<br />

de Belgique, Bruxelles 1997, S. 113-132.<br />

Strumiłło, Tadeusz. Juliusz Zarębski.<br />

Kraków 21985.<br />

100


Janusz Korczak – der polnische Pestalozzi<br />

von Koralia Sekler<br />

Die Entdeckung des Kindes, seiner Rolle in der Gesellschaft, durch Janusz<br />

Korczak ist in die Geschichte der Pädagogik und Heilerziehung eingegangen.<br />

Zum ersten Mal sprach ein Erzieher nicht von einem zu erziehenden Kind, sondern<br />

von einem Menschen, der sich an dem Erziehungsprozess gleichberechtigt<br />

beteiligt.<br />

Henryk Goldszmit, bekannt <strong>als</strong> Janusz<br />

Korczak, wurde am 22. Juli 1878 oder 1879<br />

in Warschau geboren. Die Ursache für die<br />

Unklarheit bzgl. des Geburtsdatums ist das<br />

Versäumnis seines Vaters, der <strong>als</strong> Rechtsanwalt<br />

die Geburt seines Sohnes nicht rechtzeitig<br />

gemeldet hat. Aus diesem Grund existiert<br />

keine Geburtsurkunde. 1890 starb<br />

Henryks Vater – Józef Goldszmit.<br />

Janusz Korczak <strong>als</strong> Arzt<br />

In den Jahren 1898 – 1905 studierte er an<br />

der medizinischen Fakultät der Universität<br />

Warschau. Ab 1903 bis 1911 arbeitete Korczak<br />

<strong>als</strong> Kinderarzt im Bauman-Berson-Kinderkrankenhaus<br />

in Warschau. Zusätzlich<br />

bildete er sich in Medizin im Ausland (in<br />

Berlin, Paris und London) fort. 1904/1905<br />

arbeitete er <strong>als</strong> Lazarettarzt im russisch-japanischen<br />

Krieg.<br />

1911 gab Korczak seine Arztpraxis, die er<br />

parallel zu seiner Tätigkeit im Krankenhaus<br />

führte, auf. Von 1914 bis 1918 war er <strong>als</strong> Militärarzt<br />

im Ersten Weltkrieg tätig. In dieser<br />

Zeit entstand das Werk „Wie man ein Kind<br />

lieben soll?“<br />

1919/1920 übernahm er im polnisch-bolschewistischen<br />

Krieg medizinische Tätigkeiten<br />

in epidemiologischen Militärkrankenhäusern<br />

und steckte sich mit Typhus an.<br />

Während seiner Pflege starb Korczaks Mutter<br />

an der gleichen Erkrankung (1920).<br />

Korczak <strong>als</strong> Publizist und Redakteur<br />

Seine erste Publikation „Der gordische<br />

Knoten“ veröffentlichte er <strong>als</strong> Gymnasiast<br />

im Jahre 1896. 1899 erstellte er die erste literarische<br />

Arbeit unter dem Pseudonym Janusz<br />

Korczak. Es schrieb sowohl Kinderbücher<br />

wie „Der Bankrott des kleinen Jack“ (1926)<br />

und „Lustige Pädagogik. Meine Ferien. Radioplaudereien<br />

des alten Doktors“ (1939) <strong>als</strong><br />

auch zahlreiche pädagogische Werke über<br />

die Entwicklung und Erziehung von Kindern:<br />

“Kinder der Straße“ (1901), „Kind des<br />

Salons“ (1906), „Wie man ein Kind lieben<br />

soll?“ (1920-1921), „Das Recht des Kindes<br />

auf Achtung“ (1929).<br />

Gleichzeitig veröffentlichte er viele Zeitungsartikel<br />

und moderierte Kinder- und<br />

Pädagogiksendungen im Radio (1931 - 1939<br />

„Radioplaudereien des alten Doktors“). Am<br />

9. Oktober 1926 gründete Korczak die „Kleine<br />

Rundschau“, die er bis 1931 in Zusammenarbeit<br />

mit Kindern <strong>als</strong> Beilage zu der<br />

polnisch-jüdischen Zeitung „Unsere Rundschau“<br />

erstellte. 1942 entstanden die „Get-<br />

Janusz Korczak<br />

Arzt, Pädagoge, Publizist<br />

101


totagebücher“, in denen Korczak u.a. seine<br />

letzten Tage beschrieb.<br />

Janusz Korczak <strong>als</strong> „Vater“ der Waisen<br />

Im Sommer 1899 (oder 1901) fuhr er in<br />

die Schweiz, um die Arbeit von Pestalozzi<br />

besser kennen zu lernen. Vor allem interessierten<br />

ihn Schulen, Krankenhäuser, Wohlfahrtsinstitutionen,<br />

aber auch praktische<br />

Ideen für didaktische Mittel.<br />

Im Jahre 1908 wurde Korczak zum Mitglied<br />

einer Hilfsgesellschaft für Waise und<br />

fing mit dem Bau des jüdischen Waisenhauses<br />

(Dom Sierot) in der Krochmalna-<br />

Straße in Warschau an.<br />

Janusz Korczak mit den Waisenkindern<br />

Am 7. Oktober 1912 zog er mit „seinen<br />

Waisenkindern“ dorthin und übernahm<br />

unentgeltlich die Leitungsfunktion des<br />

Hauses.<br />

1919 eröffnete er zusammen mit Maryna<br />

F<strong>als</strong>ka (Leiterin) das Waisenhaus „Nasz<br />

Dom“ (Unser Haus) für polnische Kinder.<br />

Das jüdische Kinderhaus „Dom Sierot“<br />

wurde im Jahre 1940 ins Warschauer Ghetto<br />

zwangsverlegt.<br />

Am 5. oder 6. August 1942 wurde dieses<br />

Waisenhaus liquidiert und seine Bewohner<br />

(das Personal, ca. 200 Kinder und Janusz<br />

Korczak) höchstwahrscheinlich nach Treblinka<br />

deportiert und dort ermordet. Der<br />

Marsch vom Ghetto zum Umschlagplatz<br />

wurde zu einem oft in der Kunst und Literatur<br />

dargestellten Motiv bis hin zu einem<br />

Mythos.<br />

Leitgedanken der Pädagogik Korczaks<br />

Im Zentrum der Pädagogik von Korczak<br />

steht das Kind, das seit seiner Geburt<br />

<strong>als</strong> Mensch gesehen wird und nicht nach<br />

bestimmten Zielen Anderer erst zu einem<br />

Menschen erzogen wird.<br />

„Einer der schlimmsten Fehler besteht<br />

darin anzunehmen, daß die Pädagogik<br />

eine Lehre über das Kind und nicht eine<br />

Lehre über den Menschen sei.“<br />

(Janusz Korczak 1972, 45)<br />

In der gesamten Arbeit von Janusz Korczak<br />

(<strong>als</strong> Arzt, Schriftsteller und Waisenhausleiter)<br />

wird der Glaube an das Kind,<br />

seine Fähigkeiten, Autonomie und seine<br />

Anstrengungen, immer besser zu sein,<br />

stark vertreten. Korczak fördert und fordert<br />

die Emanzipation aller Kinder. Er kritisiert<br />

eine „f<strong>als</strong>che“ unbewusste Erziehung,<br />

bei der die Erwachsenen ihre körperliche,<br />

geistige und materielle Überlegenheit nur<br />

dazu ausnutzen, um die Kinder ihren Zielen,<br />

Plänen, ihrem Snobismus, ihren Komplexen<br />

und sogar ihren Trieben gefügig zu<br />

machen. Dieser Art von Erziehung stellt<br />

Korczak seine natürliche nicht von vornherein<br />

von einem engen Ziel bestimmte Erziehung<br />

gegenüber.<br />

Die „Entdeckung des Kindes“ und seiner<br />

Rechte (das Recht des Kindes auf seinen<br />

Tod, das Recht des Kindes auf den heutigen<br />

Tag und das Recht des Kindes so zu sein,<br />

wie es ist) durch Korczak liefern folgende,<br />

von mir ausgewählte, Grundsätze:<br />

– Förderung individueller Bedürfnisse der<br />

Kinder (weniger zukunftsorientiert – eher<br />

im „Hier und Jetzt“),<br />

– freie Entfaltungsmöglichkeiten (aber<br />

abhängig von sozialen Gegebenheiten),<br />

102


– Abbau eines Kindheitside<strong>als</strong> (jedes Kind<br />

ist ein Individuum), d.h. Recht des Kindes<br />

auf „Mittelmäßigkeit“,<br />

– Gleichberechtigung der Kinder gegenüber<br />

den Erwachsenen (sowohl innerhalb der<br />

Familie <strong>als</strong> auch in Einrichtungen),<br />

– Förderung der Selbstentfaltung , Selbstständigkeit<br />

und Selbstverwaltung,<br />

– Zubilligung altersgemäßer Rechte und<br />

Pflichten,<br />

– Förderung des Rechts der Kinder auf autonome<br />

Regierung und Verwaltung in Form<br />

von eigenem Kollegialgericht.<br />

In dem von Korczak eingeführten Gericht<br />

hatten die Kinder die Möglichkeit<br />

einer Kommunikationsentwicklung und<br />

öffentlicher Problemdarstellung. Das Gericht<br />

richtete auch über die Erzieher und Janusz<br />

Korczak, was eine hohe erzieherische<br />

Bedeutung für die Kinder hatte und ihre<br />

Stellung (<strong>als</strong> gleichberechtigter Partner) im<br />

Erziehungsprozess veränderte. Die Richterfunktionen<br />

übten die Kinder aus.<br />

Damit hatte Korczak vor, die Abhängigkeit<br />

der Kinder von ihren Erziehern zu reduzieren,<br />

klare Regeln für alle einzuführen,<br />

beim Kind das Interesse für sein Verhalten<br />

zu wecken und gleichzeitig sein Reflexionsvermögen<br />

und Eigenverantwortung zu fördern.<br />

Wie soll ein Erzieher nach Korczaks<br />

Grundsätzen arbeiten?<br />

Die Erziehung, so Korczak, soll vom<br />

Kind ausgehen. Mitgefühl und einfühlendes<br />

Verstehen sind die Voraussetzungen<br />

erzieherischen Handelns. Korczak warnt<br />

alle Pädagogen vor der allgemeinen Generalisierung<br />

der Kinder. Es gibt keine Kinder<br />

im Allgemeinen, sondern jedes Kind ist ein<br />

Individuum (genau wie jeder Erwachsene).<br />

Demzufolge soll in einem Erziehungsprozess<br />

jedes Kind individuell betrachtet und<br />

erzogen werden. Die Kinder werden nicht<br />

zu Menschen gemacht, sie sind Menschen!<br />

praktische Arbeit mit Kindern ist nach Korczak<br />

von der pädagogischen Theorie weit<br />

entfernt. Darum muss jeder Pädagoge wachsam<br />

erziehen, da er währenddessen selbst<br />

von dem Kind erzogen wird. Das Aneignen<br />

von zahlreichen theoretischen Ansätzen<br />

reicht leider nicht aus, um Kinder adäquat<br />

zu fördern. In Beziehungen zu ihnen sind<br />

vielmehr Empathie, Fähigkeit, von Kindern<br />

zu lernen und ihre Signale rechtzeitig aber<br />

auch entsprechend zu deuten, unabdingbar.<br />

Der Erzieher ist ein sorgfältiger und gewissenhafter<br />

Beobachter des Kindes. Diese Beobachtungen<br />

sollen schriftlich festgehalten<br />

und anschließend reflektiert werden, um sie<br />

während der Förderung optimal nutzen zu<br />

können.<br />

Der Erzieher soll einerseits Freiräume<br />

zum Experimentieren und für die weitere<br />

Entfaltung jedes einzelnen Kindes schaffen<br />

und andererseits in der Lage sein, bei Gefahren<br />

einzugreifen und entsprechend zu<br />

handeln (auch Grenzen setzen).<br />

Korczaks pädagogische Grundgedanken<br />

sind, trotz der fast hundert Jahre, weiterhin<br />

aktuell und werden in vielen erziehungswissenschaftlichen<br />

Arbeiten <strong>als</strong> revolutionär<br />

und reformierend bezeichnet. Janusz Korczak<br />

hat zum ersten Mal in der Geschichte der<br />

Pädagogik das Kind <strong>als</strong> gleichberechtigten<br />

Partner gesehen und nach diesem Prinzip<br />

gelebt.<br />

Er behielt bis zum Schluss seines Lebens<br />

die Fähigkeit, wie eins „seiner“ Waisenkinder<br />

zu fühlen, zu denken und zu handeln.<br />

Diesen Kindern blieb er bis zum Tode<br />

treu.<br />

Zwischen dem Pädagogen und dem Kind<br />

soll eine dialogische Beziehung aufgebaut<br />

werden, die aus gegenseitigem Respekt besteht<br />

und in Form von gleichberechtigter<br />

Partnerschaft geführt wird. Die tatsächliche<br />

103


Henryk Goldszmit, znany jako Janusz<br />

Korczak, urodził się 22 lipca 1878 lub 1879<br />

roku w Warszawie. Przyczyną niejasności<br />

jego urodzin jest zaniedbanie przez ojca,<br />

który jako adwokat, nie zgłosił na czas narodzin<br />

swego syna. Z tego powodu nie istnieje<br />

metryka jego urodzenia. W 1890 roku<br />

zmarł Henryka ojciec – Józef Goldszmit.<br />

Janusz Korczak jako lekarz<br />

W latach 1898 – 1905 studiował na wydziale<br />

medycznym Warszawskiego Uniwersytetu.<br />

Od 1903 do 1911 roku pracował<br />

jako pediatra w szpitalu dzecięcym im. Baumana<br />

i Bersona w Warszawie. Dodatkowo<br />

dokształcał się w medycynie za granicą<br />

(w Berlinie, Paryżu i Londynie). W latach<br />

1904/1905 pracował jako lekarz w szpitalu<br />

wojskowym podczas rosyjsko-japońskiej<br />

wojny. W roku 1911 zamknął swój gabinet lekarski,<br />

który prowadził równocześnie z pracą<br />

w szpitalu. Od 1914 do 1918 roku - podczas<br />

pierwszej wojny światowej - był lekarzem<br />

wojskowym. W tym czasie powstało dzieło<br />

„Jak kochać dziecko?” W latach 1919/1920<br />

przejął podczas polsko-bolszewickiej wojny<br />

medyczne funkcje w epidemiologicznych<br />

wojskowych szpitalach i zaraził się tyfusem.<br />

Podczas jego pielęgnacji zmarła matka<br />

Korczaka, która zaraziła się od niego tą<br />

samą chorobą (rok 1920).<br />

Janusz Korczak jako publicysta i redaktor<br />

Jego pierwszą publikację „Gordyjski<br />

węzeł” wydał jako gimnazjalista w roku<br />

1896. W 1899 roku napisał pierwszą literacką<br />

pracę pod pseudonimem Janusz Korczak.<br />

Pisał książki dziecięce, takie jak: „Bankructwo<br />

małego Dżeka” (1926), „Pedagogika<br />

żartobliwa. Moje wakacje. Gadaninki radiowe<br />

Starego Doktora” (1939) i wiele pedagogicznych<br />

prac o rozwoju i wychowaniu dzieci:<br />

„Dzieci ulicy” (1901), „Dziecko salonu”<br />

(1906), „Jak kochać dziecko?” (1920-1921),<br />

„Prawo dziecka do szacunku” (1929).<br />

Jednocześnie opublikował wiele<br />

artykułów do gazet i prowadził w radiu programy<br />

dziecięce i pedagogiczne (w latach<br />

1931-1939 „Gadaninki radiowe Starego Doktora”).<br />

9 października 1926 roku utworzył<br />

„Mały Przegląd”, który redagował do roku<br />

1931 wraz z dziećmi jako dodatek do polsko-żydowskiej<br />

gazety „Nasz Przegląd”. W<br />

1942 roku powstały „Pamiętniki w getcie”,<br />

w których Korczak opisuje, miedzy innymi,<br />

swoje ostatnie dni.<br />

Janucz Korczak jako „ojciec” sierot<br />

Latem 1899 (oder 1901) roku wyjechał do<br />

Szwajcarii, aby lepiej poznać działalność Pestalozziego.<br />

Przede wszystkim interesowały<br />

go szkoły, szpitale, instytucje dobroczynne,<br />

ale także praktyczne pomysły pomocy naukowych.<br />

W roku 1908 Korczak został członkiem<br />

Stowarzyszenia Pomocy Sierotom i rozpoczął<br />

budowę żydowskiego Domu Sierot przy ulicy<br />

Krochmalnej w Warszawie. 7 października<br />

1912 przeprowadził się tam ze „swoimi sierotami”<br />

i objął funkcję dyrektora bez wynagrodzenia.<br />

W roku 1919 otworzył wraz z<br />

Maryną F<strong>als</strong>ką (dyrektorką) dom sierot dla<br />

polskich dzieci (Nasz Dom). Zydowski dom<br />

dziecka został w roku 1940 zmuszony do<br />

przeprowadzki do warszawskiego getta. 5 lub<br />

6 sierpnia 1942 roku zlikwidowano żydowski<br />

Dom Sierot, a jego mieszkańców (personal,<br />

około 200 dzieci i Janusza Korczaka) deportowano<br />

najprawdopodobniej do Treblinki,<br />

gdzie zostali zamordowani. Marsz z getta do<br />

Umschlagplatz stał się bardzo często przedstawianym<br />

motywem w sztuce i literaturze a<br />

zarazem mitem.<br />

104


Literatur<br />

BARCZEWSKA, L./MILEWICZ, B.<br />

(Hrsg.), 1981: Wspomnienia o Januszu Korczaku.<br />

Warszawa: Nasza Księgarnia<br />

BIEWEND, E., 1974: Liebe ohne Illusionen.<br />

Leben und Werk des Janusz Korczak.<br />

Heilbronn.<br />

KLEIN, F., 1996: Janusz Korczak. Sein Leben<br />

für Kinder. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.<br />

KUNZ, L. (Hrsg.), 1994: Einführung in die<br />

Korczak- Pädagogik. Weinheim und Basel:<br />

Beltz Grüne Reihe.<br />

KORCZAK, J., 1967: Wie man ein Kind lieben<br />

soll. Göttingen.<br />

KORCZAK, J., 1972: Janusz Korczak: die<br />

Verantwortung des Pädagogen; Erinnerungen<br />

der Mitarbeiter; Tagebuch im Ghetto.<br />

1.Aufl. Düsseldorf: Rochus<br />

KORCZAK, J., 2001: Von Kindern und anderen<br />

Vorbildern. Gütersloh: GTB.<br />

KORCZAK, J., 2001: Verteidigt die Kinder!<br />

Gütersloh: GTB.<br />

KORCZAK, J., 2001: Das Recht des Kindes<br />

auf Achtung. Gütersloh: GTB.<br />

LIFTON, B., 1990: Der König der Kinder.<br />

Das Leben von Janusz Korczak. Stuttgart:<br />

Klett- Cotta.<br />

RADTKE, U., 2000: Janusz Korczak <strong>als</strong><br />

Pädagoge. Zum Recht des Kindes auf Achtung.<br />

Marburg.<br />

SCHONIG, B., 1999: Auf dem Weg zu einer<br />

eigenen Pädagogik. Annäherungen an<br />

Janusz Korczak. Hohengehren: Schneider<br />

Verlag.<br />

105


Marie Sklodowska-Curie<br />

Ein Leben für die Wissenschaft<br />

von Melitta Naumann-Godó<br />

Paris am Nachmittag des 20. April 1995,<br />

einem Donnerstag. Am Panthéon sowie<br />

entlang der Rue Soufflot und ihrer Nachbarstraßen<br />

sammelte sich bei schönem Wetter<br />

eine beträchtliche Menschenmenge. An<br />

zwei Seiten des Platzes waren große Tribünen<br />

aufgestellt. Eine riesige Trikolore zierte<br />

in ganzer Breite das Säulenportal des neoklassizistischen<br />

Gebäudes, dessen Krypta<br />

seit der französischen Revolution Gedächtnis-<br />

und letzte Ruhestätte von berühmten<br />

Franzosen ist, denen die Nation ihren Respekt<br />

erweist. Unter der großen Kuppel<br />

prangt die Inschrift: „Den großen Männern,<br />

ihr dankbares Vaterland.“<br />

Es war der Wunsch des Staatspräsidenten<br />

Francois Mitterrand, dass in den letzten Tagen<br />

seiner Amtszeit die Gebeine von Marie<br />

und Pierre Curie in das Panthéon überführt<br />

würden. Ihn begleiteten der polnische Präsident<br />

Lech Walesa, der französische Premierminister<br />

und Verwandte der beiden großen<br />

Wissenschaftler, die sich um eine grauhaarige<br />

Dame, die jüngste Tochter Ève, gruppierten.<br />

Hier ein Auszug aus Mitterrands Rede:<br />

„Indem wir die sterblichen Überreste von Pierre<br />

und Marie Curie in das Heiligtum unseres<br />

kollektiven Gedächtnisses überführen,<br />

vollzieht Frankreich nicht nur ein Werk der<br />

Anerkennung; es bekräftigt damit auch seinen<br />

Glauben an die Wissenschaft und seinen<br />

Respekt vor jenen, die wie Pierre und Marie<br />

Curie ihre Kraft und ihr Leben der Forschung<br />

widmen. Diese Zeremonie heute ist allerdings<br />

insofern gänzlich ungewöhnlich, <strong>als</strong> erstm<strong>als</strong><br />

in unserer Geschichte eine Frau zu Ehren ihrer<br />

besonderen Verdienste in das Panthéon<br />

eingeht. “<br />

Eine zielstrebige junge Frau<br />

Maria Salomee Sklodowska wurde am 7.<br />

November 1867 in Warschau geboren. Ihr<br />

Kosename in der Familie war Mania. Die<br />

Stadt und das ganze so genannte Kongress-<br />

Polen litten in jener Zeit unter russischer<br />

Herrschaft. Gerade deshalb blieben die Nationalgefühle<br />

der Bevölkerung nach wie vor<br />

überaus lebendig. Marias Eltern, Wladyslaw<br />

Sklodowski und Bronislawa Boguska,<br />

stammten beide aus verarmten Landadel.<br />

Beide Familien litten sehr unter den Repressionen,<br />

die den verschiedenen antizaristischen<br />

Revolten zwischen 1830 und 1863<br />

folgten. Schon Maries Großeltern gehörten<br />

Kreisen der Intelligenz an, die sich die nationale<br />

Befreiung zum Ziel gesetzt hatten<br />

und deshalb die kulturelle Identität ihres<br />

Volkes durch schulische Bildung zu erhalten<br />

suchten. So wurde allen Kindern der Familie<br />

– auch den vier Töchtern – trotz des frühen<br />

Tuberkulosetods der Mutter eine sehr<br />

gute Ausbildung zuteil.<br />

Da Frauen im zaristischen Polen der Zugang<br />

zur Hochschule verwehrt blieb, schlossen<br />

Maria und ihre ältere Schwester Bronia<br />

einen Pakt: Maria nahm eine Stelle <strong>als</strong> Gouvernante<br />

an, um der Schwester ein Medizinstudium<br />

in Paris zu finanzieren, und Bron-<br />

106


ia sollte nach ihrer Approbation wiederum<br />

ihr zum Studium zu verhelfen. So geschah<br />

es. sechs Jahre lang arbeitete sie <strong>als</strong> Gouvernante<br />

und Hauslehrerin bei reichen polnischen<br />

Familien und hegte währenddessen<br />

Kontakte zur illegalen Fliegenden Universität,<br />

ehe sie zu ihrer Schwester nach Paris an<br />

die Sorbonne in die akademische und geistige<br />

Freiheit durfte.<br />

Trotz der knappen Mittel, der Kälte im<br />

Winter und des häufigen Hungerns hielt<br />

Marie in der Rückschau „diese Jahre der<br />

Einsamkeit, die nur dem Studium gewidmet<br />

waren“, mit für die besten ihres Lebens.<br />

Ihrem Bruder schrieb sie: „Man muss einfach<br />

an seine Begabung glauben und sich<br />

zum Ziel setzen, diese Begabung auch zu<br />

entfalten“. Bei der Abschlussprüfung für<br />

das Lizenziat in Physik, im Frühsommer<br />

1893, war sie die Beste. Sie erhielt daraufhin<br />

ein Stipendium der Alexandrinowitsch-<br />

Stiftung. Mit den 600 Rubeln konnte sie<br />

einen entsprechenden Abschluss in Mathematik<br />

anstreben; sie erwarb dieses Lizenziat<br />

im Juli 1894 <strong>als</strong> Zweitbeste und - bislang<br />

einmalig in der Geschichte der Stiftung -<br />

zahlte später die ganze Summe der Stiftung<br />

wieder zurück.<br />

Arbeiten und Leben Seite an Seite mit<br />

Pierre Curie<br />

„Pierre“, so schrieb Marie später, „begegnete<br />

mir mit einer einfachen und aufrichtigen<br />

Sympathie für mein arbeitsreiches<br />

Leben“. Es dauerte nicht lange bis er sie<br />

bat, sein Leben mit ihm zu teilen – doch<br />

Marie zögerte: Die Entscheidung für den<br />

Franzosen hätte die endgültige Trennung<br />

nicht nur von ihrem Vater bedeutet, der auf<br />

ihre Rückkehr hoffte, sondern auch von ihrem<br />

Heimatland, in dessen Dienst sie ihr<br />

mühsam erworbenes Wissen zu stellen gedachte.<br />

Nach Ende des Semesters machte sie mit<br />

ihrem Vater einige Wochen Urlaub. Pierre<br />

beschwor sie nach Paris zurückzukommen<br />

– aus Angst sie zu verlieren. Während der<br />

nächsten Monate nach ihrer Rückkehr vermochte<br />

er schließlich sie gänzlich für sich<br />

zu gewinnen. Die Trauung fand am 26. Juli<br />

1895 im Rathaus von Sceaux statt. Das junge<br />

Paar – mit weiterhin schmalem Budget<br />

– bezog eine kleine Wohnung in der Nähe<br />

der Städtischen Schule für Industrielle Physik<br />

und Chemie, an der Pierre Oberassistent<br />

war. Der Direktor erlaubte ihr sogar, an der<br />

Seite ihres Mannes im Labor zu arbeiten<br />

(was für die damalige Zeit höchst außergewöhnlich<br />

war).<br />

Marie wie auch Pierres Neugier war<br />

durch ein merkwürdiges Phänomen geweckt<br />

worden, das im Vorjahr der Physiker<br />

Henri Becquerel entdeckt hatte: Radioaktivität,<br />

das Aussenden einer unsichtbaren<br />

durchdringenden Strahlung von Uransalzen.<br />

Eben die Erforschung dieser Strahlen<br />

wählte Marie <strong>als</strong> Thema ihrer Doktorarbeit.<br />

Nach einigen Referenzmessungen am<br />

Uran begann Marie Curie, systematisch<br />

andere Substanzen daraufhin zu untersuchen,<br />

ob auch sie die bemerkenswerte Eigenschaft<br />

aufweisen, spontan unsichtbare<br />

Strahlung zu emittieren. Sie prüfte unzählige<br />

Metalle, Salze und Oxide, sowie natürliche<br />

Minerale. Dabei vermerkte sie in ihren<br />

Aufzeichnungen: „Zwei Uranminerale,<br />

die Pechblende und das Torbenit sind viel<br />

aktiver <strong>als</strong> das Uran selbst. Das ist bemerkenswert<br />

und lässt einen glauben, diese Minerale<br />

könnten ein Element enthalten, das<br />

sehr viel aktiver ist <strong>als</strong> das Uran.“ Angesichts<br />

dieser vielversprechenden Vermutung<br />

gab Pierre Curie seine eigenen Forschungen<br />

gänzlich auf und fahndete zusammen mit<br />

Marie in Pechblende nach der hypothetischen<br />

neuen Substanz. Dieses Vorhaben<br />

war allerdings schwieriger, <strong>als</strong> das junge<br />

Paar zunächst angenommen hatte, denn der<br />

Massenanteil des gesuchten Elements am<br />

Ausgangsmaterial war geringer <strong>als</strong> eins zu<br />

eine Million. Doch schon wenige Monate<br />

später verkündeten die Curies ihre Entdeckung<br />

in einem Bericht der Akademie der<br />

Wissenschaften, sowie zeitgleich in der pol-<br />

107


nischen Zeitschrift „Swiatlo“: „Wir sind der<br />

Meinung, dass die Substanz, die wir aus der<br />

Pechblende gewonnen haben, ein noch nicht<br />

beschriebenes Metall enthält. Bestätigt sich<br />

das Vorhandensein dieses neuen Metalls,<br />

schlagen wir vor, es nach der Herkunft eines<br />

der Autoren Polonium zu nennen.“ Inzwischen<br />

hegten sie den Verdacht, Pechblende<br />

könne sogar noch ein weiteres bis dahin unbekanntes<br />

radioaktives Element enthalten.<br />

Und tatsächlich vermochten sie ein zweites<br />

radioaktives Element nachzuweisen, das nur<br />

in sehr geringer Konzentration darin vorkam<br />

und 900fach so radioaktiv war wie Uran.<br />

Sie bezeichneten es in ihrem gemeinsam geführten<br />

Laborbuch <strong>als</strong> Radium. Trotz der<br />

ermüdenden Trennungsarbeit in ihrem Labor,<br />

das nicht mehr <strong>als</strong> eine Baracke mit geteertem<br />

Boden und Glasdach war, fand Marie<br />

Curie die Muße, folgendes zu notieren:<br />

„Wir hatten besondere Freude daran zu sehen,<br />

dass unsere Radiumkonzentrate spontan<br />

leuchteten. Pierre hatte zwar gehofft,<br />

dass sie sehr schöne Farben haben würden.<br />

Er musste aber zugeben, dass die unerwartete<br />

Erscheinung ihm viel besser gefiel. [...]<br />

Es geschah, dass wir nach dem Abendessen<br />

an unsere Arbeitsstätte zurückkehrten, um<br />

alles noch einmal zu betrachten. [...] Von allen<br />

Seiten gewahrten wir ihre schwach erhellten<br />

Umrisse, und dieses Leuchten, das in<br />

der Dunkelheit zu schweben schien, war für<br />

uns jedes Mal ein neuer Grund für freudige<br />

Gefühle und Zufriedenheit.“ Von den Gefahren<br />

der radioaktiven Strahlung ahnten<br />

Marie und Pierre Curie dam<strong>als</strong> noch nichts.<br />

Beide erlitten verbrennungsähnliche Verletzungen,<br />

<strong>als</strong> sie sich hochaktiven Präparaten<br />

aussetzten, die in einer versiegelten Glasröhre<br />

innerhalb einer dünnen Metallschachtel<br />

waren. Die daraus resultierenden Verbrennungen<br />

und ihre Symptome beschrieben sie<br />

anschließend kaltblütig minutiös in einem<br />

Brief an die Akademie.<br />

Inzwischen interessierten sich auch andere<br />

Physiker und Chemiker in verschiedenen<br />

Ländern für die neuen Elemente und<br />

ihre geheimnisvolle Strahlung rätselhaften<br />

Ursprungs. An der Revolution der Physik<br />

um die Wende zum 20. Jahrhundert hatten<br />

Marie und Pierre Curie wichtigen Anteil:<br />

Für ihre Arbeiten über die Radioaktivität<br />

erhielten sie 1903 einen der ersten Nobelpreise.<br />

Ihr privates Glück aber war nur von<br />

kurzer Dauer. Das Paar hatte zwei Töchter<br />

Irène und Ève, doch erlitt Marie wenige<br />

Monate vor ihrer Nobelpreisverleihung<br />

eine Fehlgeburt, wahrscheinlich infolge der<br />

ständigen Strahlenexposition im Labor. Am<br />

19. April 1906 wurde Pierre Curie von einer<br />

Pferde-Droschke überfahren und war sofort<br />

tot. Marie und ihre Kinder traf die Nachricht<br />

wie ein Schock. Pierre Curie wurde im<br />

engsten Familienkreis auf dem Friedhof in<br />

Sceaux bestattet. Zum ersten und einzigen<br />

Mal in ihrem Leben führte Marie in dieser<br />

Zeit ein Tagebuch, in dem sie ihre eigenen<br />

Gefühle notierte. Ungefähr ein Jahr<br />

lang wandte sie sich in Briefform direkt an<br />

Pierre, um ihre Erinnerung an die letzten<br />

gemeinsam verbrachten Momente und ihre<br />

Gedanken lebendig zu halten. Sie war untröstlich<br />

über den Verlust ihres Mannes und<br />

Gefährten, doch sie schaffte es, sich wieder<br />

aufzuraffen und vergrub sich in Arbeit, um<br />

zu vergessen.<br />

Marie trägt die Fackel weiter<br />

Nach dem plötzlichen Tod ihres Mannes<br />

widmete Marie sich verbissen der Forschung<br />

und Lehre. Sie wollte unbedingt das Gemeinschaftswerk<br />

fortsetzen. Man bot ihr<br />

seine Nachfolge <strong>als</strong> Professor an: die Vorlesungen<br />

und das Laboratorium. Marie nahm<br />

an und hielt im November 1906 <strong>als</strong> erste<br />

Frau eine Vorlesung an der Sorbonne. Bei<br />

der wissenschaftlichen Arbeit, in die sie sich<br />

stürzte, unternahm sie einen neuen Versuch,<br />

Radium abzutrennen und in Reinform zu<br />

gewinnen. Drei Jahre später gelang es ihr<br />

schließlich mit viel Mühe, elementares Radium<br />

zu erhalten.<br />

Im November 1910 kandidierte sie auf<br />

Anraten von Freunden um den frei gewordenen<br />

Platz eines kürzlich verstorbenen Mitglieds<br />

in der Akademie der Wissenschaften.<br />

Sie landete damit im Kreuzfeuer der Medien.<br />

Im konservativen Lager der Medien<br />

erhoben sich nationalistische Stimmen, erinnerten<br />

an ihre polnische Herkunft und<br />

behaupteten, die Entdeckung des Radiums<br />

sei allein Pierre Curie anzurechnen. Je länger<br />

der Medienrummel dauerte, desto mehr<br />

gemahnte er an die Dreyfus-Affäre. Da half<br />

108


es wenig, dass die Zeitung „Le Temps“ an<br />

Maries Verdienste erinnerte. Den entscheidenden<br />

Punkt nämlich vermochte niemand<br />

auszuräumen: Sie war kein Mann. Als sie<br />

daraufhin in der Stichwahl 28:30 dem Physiker<br />

M. Brillouin unterlag, beschloss sie,<br />

nie wieder für die Akademie der Wissenschaften<br />

zu kandidieren.<br />

Das Aufsehen, die Angriffe und die verlorene<br />

Wahl waren durchaus nicht alles, was<br />

Marie 1911 überstehen musste. Es kam noch<br />

sehr viel schlimmer durch die „Affäre Langevin“.<br />

Obwohl Marie Curie dam<strong>als</strong> bereits<br />

seit fünf Jahren verwitwet war und ihr Kollege<br />

und Physiker Paul Langevin getrennt<br />

von seiner Frau und seinen vier Kindern<br />

lebte, kam es zu einer erneuten Schlammschlacht<br />

in der französischen Presse, in der<br />

allein Marie Curie öffentlich gebrandmarkt<br />

und verurteilt wurde. Reaktionäre Elemente<br />

in der französischen Presse benutzten den<br />

Vorfall um xenophobischen Hass zu schüren<br />

gegen eine „ausländische Frau, die ein<br />

französisches Heim zerstörte.“ Zudem sparten<br />

sie nicht mit einer Vielzahl an Vorurteilen<br />

gegenüber gottlose Intellektuelle und<br />

emanzipierte Frauen.<br />

Auf dem Höhepunkt der „Affäre Langevin“<br />

erhielt Marie Curie wieder ein Telegramm<br />

aus Stockholm, das ihren zweiten<br />

Nobelpreis ankündigte, diesmal für<br />

Chemie. Wenige Tage später erhielt sie von<br />

Svante Arrhenius, einem Mitglied der königlich<br />

Schwedischen Akademie die Mitteilung,<br />

sie möge „unter diesen Umständen von<br />

der Absicht zurückzutreten, hier den Nobelpreis<br />

entgegenzunehmen“. Marie schrieb<br />

zurück, dass ihr der Nobelpreis für die Entdeckung<br />

des Radiums und Poloniums zuerkannt<br />

wurde und dass sie beabsichtige nach<br />

Schweden zu kommen, um ihn abzuholen,<br />

denn „ich denke es gibt keine Verbindung<br />

zwischen meiner wissenschaftlichen Arbeit<br />

und [...] meinem Privatleben. “<br />

Blutbefund, der von den bekannten Fällen<br />

perniziöser Anämie abweicht, verraten die<br />

wahre Ursache: die Einwirkung des Radiums.<br />

Am Freitag, den 6. Juli 1934, nahm Marie<br />

Curie in aller Bescheidenheit ihren Platz<br />

am Friedhof von Sceaux ein. Kein Trauerzug,<br />

keine offizielle Vertretung. Ihr Sarg<br />

wurde oberhalb des Sarges von Pierre Curie<br />

bestattet. Ihre Geschwister warfen eine<br />

Handvoll polnischer Erde, die sie von daheim<br />

mitgebracht hatten, in das offene<br />

Grab.<br />

Literatur<br />

Ève Curie, Madame Curie. Frankfurt/M.-<br />

Hamburg, S. Fischerverlag, 1952.<br />

Susan Quinn, Marie Curie: A Life. London,<br />

Heinemann, 1996.<br />

Pierre Radványi, Die Curies : Eine Dynastie<br />

von Nobelpreisträgern. Spektrum der<br />

Wissenschaft Biographie, 2001.<br />

Per-Olov Enquist, Das Buch von Blanche<br />

und Marie, Roman/Hanser, 2004.<br />

Während des ersten Weltkriegs gründete<br />

Marie Curie einen radiologischen Notdienst<br />

für Verwundete. In den Jahren danach<br />

nahm sie wieder voller Engagement<br />

ihre Forschungen über Eigenschaften der<br />

radioaktiven Elemente auf. Sie starb am<br />

4. Juli 1934. Die abnormen Symptome, der<br />

109


Lech Wałęsa –<br />

Vom Helden der Demokratisierung zum<br />

Exzentriker der Demokratie<br />

von Magdalena Hoffmann<br />

Der gesellschaftliche Umbruch in Polen, der mit dem Streik 1980 in Danzig<br />

seinen Anfang genommen hat, ist unweigerlich mit der Person Lech Wałęsas<br />

verbunden. Er wird zu einem Symbol – und scheitert anschließend im Alltag<br />

der erkämpften Demokratie.<br />

Am 14. August 1980 springt Lech Wałęsa<br />

über die Mauer der bereits bestreikten Danziger<br />

Lenin-Werft und hebt damit das für<br />

ihn geltende Hausverbot eigenmächtig auf.<br />

Der Arbeiterschaft ist er bestens bekannt,<br />

sogleich erkennt sie ihn <strong>als</strong> ihren „Anführer“<br />

an. Wałęsa ist nämlich seit 1967 auf<br />

der Werft <strong>als</strong> Elektriker tätig gewesen, wo<br />

er sich schon früh politisch betätigt. So ist<br />

er 1970 <strong>als</strong> Mitglied des illegalen Streikkomitees<br />

beim Dezemberstreik aktiv beteiligt,<br />

der wegen des gewaltsamen Vorgehens<br />

der Staatsmacht mit Toten und Verletzten<br />

endet. Danach setzt er sich stets für eine<br />

Verbesserung der katastrophalen Arbeitsbedingungen,<br />

sowie für ein Denkmal für die<br />

getöteten Arbeiter von 1970 ein, was 1976<br />

zu seiner Entlassung und Hausverbot führt.<br />

Dies verhindert nicht, dass er nach wie vor<br />

seine Linie verfolgt; 1978 schließt er sich<br />

dem „Gründungskomitee der freien Gewerkschaften“<br />

an und führt mit seinen Mitstreitern<br />

Protestaktionen durch, was ihm<br />

1979 mehrere Haftstrafen beschert.<br />

Seine Unerschrockenheit, seine Tatkraft<br />

und seine Bereitschaft, sich durch die Arbeiterschaft<br />

in die Pflicht nehmen zu lassen,<br />

qualifizieren ihn zu einer Führungsfigur. Außerdem<br />

ist er mit Redetalent und Ausstrahlungskraft<br />

gesegnet – Eigenschaften, mit<br />

denen er eine Menschenmenge buchstäblich<br />

zu „elektrisieren“ weiß. Dass Lech Wałęsa<br />

aber zu der Symbolfigur von Solidarność<br />

schlechthin wird, verdankt sich seinem politischen<br />

Instinkt, den er für die sich im Zuge<br />

der Augustereignisse aufbrechende Veränderungskraft<br />

beweist. Er erfasst aber nicht<br />

nur die Stimmung richtig, sondern versteht<br />

es darüber hinaus, sie zu kanalisieren und<br />

sich ihr <strong>als</strong> Identifikationsfigur anzubieten.<br />

Mehrere Entwicklungen im Vorfeld begünstigen<br />

die Entwicklung auf der Danziger<br />

Lenin-Werft, die <strong>als</strong> „Mutter aller polnischen<br />

Werften“ gilt und insgesamt rund<br />

17.000 Arbeiter umfasst. Seitdem sich 1976<br />

nach der brutalen Niederschlagung von<br />

Arbeiterprotesten in Radom und dem Ursus-Werk<br />

bei Warschau ein „Komitee zur<br />

Verteidigung der Arbeiter“ (KOR) unter<br />

der Ägide angesehener Intellektueller wie<br />

Jacek Kuroń und Adam Michnik gebildet<br />

hat, entstehen weitere Bürgerrechtsorganisationen<br />

sowie eine rege Untergrundpresse.<br />

Eine Kooperation der segmentierten sozialen<br />

Gruppen kündigt sich damit an, die<br />

denselben Wunsch nach einer Verbesserung<br />

110


der materiellen, sozialen und politischen<br />

Lage haben. Die katholische Kirche sorgt<br />

für zusätzlichen „Kitt“ – nach der Wahl von<br />

Karol Woijtyła zum Papst im Jahr 1978 und<br />

spätestens nach seiner Polenreise im Juni<br />

1979 wird deutlich, dass er der Hoffungsträger<br />

der Polen ist.<br />

Der Auslöser des entscheidenden Auguststreiks<br />

1980 wirkt im Rückblick wie<br />

eine Fußnote der Geschichte: Die beliebte<br />

Kranführerin Anna Walentynowicz, die<br />

ebenfalls Mitglied des „Gründungskomitee<br />

der freien Gewerkschaften“ ist, wird entlassen.<br />

Zunächst ist der Streik <strong>als</strong>o ein „werftinterner“<br />

Streik, dessen Forderungen sich<br />

auf die Wiedereinstellung von Anna Walentynowicz,<br />

Lohnanhebungen, sowie ein<br />

Lech Wałęsa während des Auguststreiks,<br />

1981<br />

Denkmal für die getöteten Arbeiter von<br />

1970 beschränkt. Nachdem bereits eine Einigung<br />

mit dem Direktor erzielt worden ist<br />

und der Streik vor seinem Ende steht, wird<br />

der Ruf laut, sich auch für andere Betriebe<br />

einzusetzen und allgemeine politische Forderungen<br />

zu erheben: Wałęsa nimmt die<br />

Herausforderung an und setzt den Streik<br />

fort. Damit findet die entscheidende Wende<br />

vom „bloßen“ Besetzungsstreik zum „Solidaritätsstreik“<br />

statt. Nicht mehr das partikulare<br />

Interesse der Danziger Arbeiterschaft<br />

steht jetzt im Mittelpunkt, sondern das der<br />

gesamten polnischen Arbeiterschaft, nein,<br />

noch mehr: der ganzen polnischen Nation,<br />

sofern sie sich mit dem Wunsch nach<br />

Freiheit, Offenheit und Demokratie identifiziert.<br />

Wałęsa beweist ein ungeheures Gespür<br />

für diese vibrierende Stimmung, in der<br />

plötzlich so viel mehr möglich erscheint <strong>als</strong><br />

ursprünglich erhofft und versteht es darüber<br />

hinaus, sie in einem Symbol einzufangen,<br />

in dem sich Polen wieder finden kann:<br />

das Kreuz. Ein Augenzeuge schildert:<br />

„Am Sonntag, den 17. August, lud Walesa<br />

wie Simon von Kyrene das Holzkreuz vom Tor<br />

auf seine Schultern und trug es an den Ort,<br />

wo das zukünftige Denkmal geplant war. Das<br />

Kreuz wurde einbetoniert, und gefestigt wurde<br />

damit für die Tage unseres Streiks auch<br />

die Einheit von mehreren hundert Betrieben<br />

– Werften, Fabriken, Institutionen, Ämtern,<br />

Hochschulen, Vereinen und Verbänden…“<br />

Die gewaltfreie „Revolution auf Knien“<br />

hat begonnen. Die Arbeiter harren in großer<br />

Disziplin aus, versammeln sich zum Gebet.<br />

Priester lesen die Messe, Frauen und Kinder<br />

bringen Essen an die Zäune und sprechen<br />

Mut zu. Intellektuelle (u.a. Tadeusz Mazowiecki<br />

und Bronisław Geremek) kommen<br />

aus Warschau und stellen sich <strong>als</strong> Berater<br />

zur Verfügung – anders <strong>als</strong> im März 1968,<br />

<strong>als</strong> die Studenten protestiert haben und im<br />

Dezember 1970, <strong>als</strong> die Arbeiter gestreikt<br />

haben, kommt es nun zur wichtigen Verbündung<br />

von Arbeitern und Intellektuellen.<br />

Krzemiński beschreibt die eigentümliche<br />

Atmosphäre auf dem Danziger Werftgelände<br />

im August 1980 <strong>als</strong> „eine Mischung aus<br />

politischer Kundgebung, Messe, Volksfest<br />

und verschanztem Lager“.<br />

Die feste Entschlossenheit der Streikenden<br />

zwingt die Machthaber schließlich<br />

zum Einlenken; am 31. August unterschreibt<br />

Wałęsa in demonstrativer Manier<br />

mit einem überdimensionalen Kugelschreiber<br />

die „Vereinbarung von Danzig“, mit<br />

der die Forderungen weitgehend erfüllt<br />

werden: Es werden „unabhängige und sich<br />

selbst verwaltende“ Gewerkschaften zugelassen<br />

und eine Prüfung der Schicksale der<br />

Entlassenen und Gefangenen zugesichert.<br />

Ferner wird ein neues Zensurgesetz, das<br />

mehr Meinungspluralismus ermöglichen<br />

soll, erlassen, sowie ein Wirtschaftsprogramm<br />

zur Verbesserung der Lebenssituation<br />

in Aussicht gestellt. Im September<br />

organisiert sich die Solidarność-Bewegung<br />

offiziell, indem sie sich ein Statut <strong>als</strong> „Unabhängige,<br />

sich selbst verwaltende Gewerk-<br />

111


schaft Solidarność“ gibt. Sie versteht sich <strong>als</strong><br />

Dachverband einer gewerkschaftlichen Organisation<br />

mit dezentraler Struktur; Lech<br />

Wałęsa wird ihr erster Vorsitzender. Innerhalb<br />

kurzer Zeit treten ihr etwa 13 Millionen<br />

Polen bei – das Organisationsmonopol über<br />

die Arbeiterschaft kann von der kommunistischen<br />

Partei nicht mehr glaubhaft beansprucht<br />

werden. Dies bringt sie in tiefe Bedrängnis,<br />

die Unruhe auf Seiten der Partei<br />

nimmt zu, zumal die UdSSR beginnt, mit<br />

einer Intervention zu drohen. Im März 1981<br />

kommt es zu einer gewaltsamen Auflösung<br />

einer Solidarność-Versammlung in Bromberg,<br />

was die Atmosphäre zusätzlich belastet.<br />

Nachdem im September/Oktober die<br />

Solidarność auf ihrem Kongress einen „Aufruf<br />

an die Arbeiter Osteuropas“ formuliert<br />

und ein Treffen zwischen Wałęsa, dem Primas<br />

Glemp und Jaruzelski erfolglos endet,<br />

verkündet General Jaruzelski am frühen<br />

Morgen des 13. Dezember 1981 die Verhängung<br />

des Kriegszustandes in Polen. Wałęsa<br />

wird interniert, Solidarność-Anhänger verhaftet,<br />

Panzer fahren vor der Lenin-Werft<br />

auf. Ein Versammlungsverbot wird ausgesprochen,<br />

sowie nächtliche Ausgangssperren<br />

verhängt. Das Telefonnetz und Verkehrsverbindungen<br />

werden unterbrochen, Schulen<br />

und Universitäten geschlossen, zahlreiche<br />

Posten werden vom Militär besetzt.<br />

Wałęsa wird am 12. November 1982 aus<br />

seinem Internierungsort Arłamów (Südostpolen)<br />

entlassen und gilt fortan <strong>als</strong> „Privatperson“.<br />

Er steht zwar nach wie vor unter<br />

polizeilicher Beaufsichtigung, doch sein<br />

Ruf und sein Bekanntheitsgrad im Ausland<br />

„immunisieren“ ihn vor weiteren Übergriffen.<br />

1983 wird ihm der Friedensnobelpreis<br />

verliehen, den seine Ehefrau Danuta stellvertretend<br />

in Oslo entgegen nimmt, da<br />

Wałęsa fürchtet, dass ihm ansonsten die<br />

Einreise verwehrt bliebe. Er unterhält Kontakt<br />

zu anderen Solidarność-Anhängern<br />

und ist im Untergrund aktiv, doch vergehen<br />

noch einige Jahre, bis er wieder Gelegenheit<br />

erhält, seine charismatische Integrationskraft<br />

auszuüben. Die Jahre 1982-88 sind<br />

durch viele Untergrundaktivitäten, durch<br />

eine sehr schlechte Versorgungslage sowie<br />

parteiinterne Auseinandersetzungen in der<br />

kommunistischen Partei (PZPR) geprägt.<br />

Neben der desaströsen wirtschaftlichen Situation<br />

sorgt die grassierende Korruption<br />

und Vetternwirtschaft innerhalb der PZPR<br />

für Streit zwischen den „Betonköpfen“ und<br />

Reformern, der die Partei letztlich paralysiert.<br />

Erst 1988 kommt wieder deutlich Bewegung<br />

in die politische Szene: Einerseits<br />

mehren sich ab April 1988 wieder die Streiks,<br />

bei denen auch die Wiederzulassung von<br />

Solidarność gefordert wird, woran der nach<br />

wie vor existierende Selbstbestimmungswille<br />

deutlich wird. Andererseits setzen sich die<br />

Reformer in der PZPR durch. Beide Entwicklungen<br />

bereiten den Boden für die Verhandlungen<br />

„am runden Tisch“, die vom<br />

6. Februar bis 5. April 1989 in Warschau<br />

stattfinden. Es gelingt Lech Wałęsa erneut,<br />

die vielen Gruppen hinter sich zu bringen<br />

und <strong>als</strong> ihr gemeinsamer Wortführer Geschlossenheit<br />

gegenüber der Regierung zu<br />

zeigen. Die Verhandlungen haben die Wiederzulassung<br />

von Solidarność und freien<br />

Gewerkschaften, Abschaffung der Zensur,<br />

Religionsfreiheit sowie den Zugang der Opposition<br />

zu Massenmedien zum Ergebnis.<br />

Ferner einigt man sich auf die Wiedereinführung<br />

des 1952 abgeschafften Staatspräsidentenamtes,<br />

auf die Schaffung des Senats<br />

<strong>als</strong> zweiter Parlamentskammer, sowie auf<br />

„halbfreie“ Neuwahlen zum Sejm. Dieser<br />

Teil der Vereinbarung war „ein politisches<br />

Kunstwerk der Halbheiten“ (Krzemiński),<br />

denn nur 1/3 der zu wählenden Sitze standen<br />

zur freien Wahl, die „restlichen“ 2/3<br />

waren bereits für die Regierungspartei vorgesehen.<br />

Trotz dieses eigentümlichen Kompromisses<br />

verhelfen die Wahlen am 4. Juni<br />

1989 Solidarność zu einem moralischen Sieg:<br />

Sie gewinnt alle „freien“ Sitze und 99 von<br />

100 Senatssitzen. Da die Blockparteien sich<br />

zunehmend von der PZPR distanzieren,<br />

scheitert sie mit der Regierungsbildung, was<br />

dazu führt, dass letztlich Tadeusz Mazowiecki<br />

am 20. August 1989 der erste nichtkommunistische<br />

Regierungschef im „Ostblock“<br />

wird.<br />

Am 29. Dezember 1989 wird eine maßgebliche<br />

Verfassungsänderung vorgenommen<br />

– die Volksrepublik Polen wird wieder<br />

zur Republik Polen, Passagen zum kommunistischen<br />

Führungsanspruch werden<br />

gestrichen, es erfolgt die Umwandlung in<br />

einen demokratischen Rechtsstaat. Nach<br />

diesem historischen Triumph bröckelt nun<br />

112


die Geschlossenheit von Solidarność und<br />

eine beginnende Entfremdung von Mazowiecki<br />

und Wałęsa wird deutlich, die bald<br />

zu einer zwischen Intellektuellen und Arbeitern<br />

anwächst.<br />

Ab dem Jahr 1990 lernt man Wałęsas Eigenschaften<br />

unter anderem Vorzeichen kennen:<br />

Seine praktische Orientierung wächst<br />

zu einem ausgeprägten Antiintellektualismus,<br />

seine Impulsivität steigert sich zur<br />

Unberechenbarkeit, sein Charisma gleicht<br />

bald vornehmlich polemischer Attitüde.<br />

Das sich bereits abzeichnende Zerwürfnis<br />

mit Mazowiecki vollzieht sich im Frühjahr<br />

1990 auf einem Kongress der Solidarność,<br />

Statt vom Vorgänger Jaruzelski eingeführt<br />

zu werden, lässt er sich im Warschauer Königsschloß<br />

vom Präsidenten der Londoner<br />

Exilregierung, Ryszard Kaczorowski, die<br />

Amtsinsignien Vorkriegspolens übergeben.<br />

Dabei ruft er die 3. Republik aus, womit<br />

eine demonstrative Missachtung der<br />

Volksrepublik verbunden ist, denn bei dieser<br />

Zählung sieht er das souveräne Polen in<br />

der (unmittelbaren) Tradition der „Adelsrepublik“<br />

und der 2. Republik des Zwischenkriegspolens.<br />

Betende Arbeiter der Lenin-Werft während des Auguststreiks 1980<br />

bei dem Wałęsa gegen die „intellektuellen<br />

Eierköpfe“ wettert. Dementsprechend polemisch<br />

fällt auch der Wahlkampf zur Neuwahl<br />

des Staatspräsidenten aus, die wegen<br />

der fehlenden demokratischen Legitimation<br />

des bisherigen Amtsinhabers, General Jaruzelski,<br />

ausgeschrieben wird. Die Spaltung<br />

von Solidarność wird nun für jeden offenbar:<br />

Während Mazowiecki für den liberalen<br />

Flügel antritt, vertritt Wałęsa den katholisch-konservativen<br />

Flügel. Nach einer<br />

Stichwahl gegen den dubiosen Geschäftsmann<br />

Tymiński gewinnt Wałęsa letztlich<br />

die Wahl zum Staatspräsidenten am 9. Dezember<br />

1990 mit 74, 25 %, (woraufhin Mazowiecki<br />

<strong>als</strong> Regierungschef zurücktritt).<br />

Bei seinem Amtsantritt am 22. Dezember<br />

1990 gelingt Wałęsa noch ein Coup:<br />

Nach Jahren der unbestrittenen gesellschaftlichen<br />

Führung tut sich Wałęsa<br />

schwer mit dem kleinlich wirkenden, unaufregenden<br />

Alltag einer Demokratie. Mit<br />

seinem zunehmenden Machtanspruch, der<br />

sich in seinem Ziel einer neuen präsidialen<br />

Verfassungsordnung nach französischem<br />

Vorbild ausdrückt, eröffnet er den „Krieg<br />

an der Spitze“, indem er sich auf ständige<br />

Machtkämpfe mit dem Sejm einlässt. Am<br />

18. November 1992 wird übergangsweise die<br />

„kleine“ Verfassung verabschiedet, die eine<br />

Stärkung der Rechte des Sejm und der Regierung<br />

vorsieht, dem Präsidenten aber immer<br />

noch viel Einfluss zugesteht. Die Querelen<br />

hören nicht auf und werden durch das<br />

extrem unübersichtliche Parteienspektrum,<br />

das Koalitionen erschwert, und häufige Regierungswechsel<br />

immer wieder angefacht.<br />

Nach den Sejmwahlen im Jahr 1993 spitzt<br />

sich die Lage noch zu, denn die Wałęsa verhasste,<br />

postkommunistische SLD (Bündnis<br />

113


der Demokratischen Linken) und die PSL<br />

(Bauernpartei) bilden die neue Regierung.<br />

Wałęsa verweigert sich diesem Wahlergebnis,<br />

indem er wichtige Gesetzesvorhaben<br />

blockiert, Ministerernennungen nicht vollzieht<br />

und wiederholt mit der Auflösung des<br />

Parlaments droht. Dieses Verhalten bringt<br />

ihm den Ruf ein, ein „Meister der Destruktion“<br />

(Adam Michnik) zu sein. Es bleibt<br />

nicht folgenlos, denn eine starke Politikverdrossenheit<br />

greift um sich, die Gesellschaft<br />

spaltet sich zunehmend.<br />

Nach einem sehr polemisch geführten<br />

Wahlkampf verliert Wałęsa im November<br />

1995 nur knapp gegen Aleksander<br />

Kwaśniewski von der SLD. 1997 unterstützt<br />

er zwar die sich neu formierte AWS (Wahlaktion<br />

Solidarität), nimmt dabei aber nur<br />

eine Nebenrolle ein. Im Jahr 2000 zeigt sich<br />

sein öffentlicher Bedeutungsverlust auf bestürzende<br />

Weise: Bei seiner erneuten Kandidatur<br />

zur Wahl des Staatspräsidenten erhält<br />

er nur noch etwa 1 %.<br />

Literatur<br />

Bingen, Dieter: Die Republik Polen. Eine<br />

kleine politische Landeskunde, Bonn 1998.<br />

Krzemiński, Adam: Polen im 20. Jahrhundert.<br />

Ein historischer Essay, München 1998.<br />

Schmidt-Rösler, Andrea: Polen. Vom Mittelalter<br />

bis zur Gegenwart, Regensburg 1996.<br />

Wałęsa, Lech: Ein Weg der Hoffnung (Autobiographie),<br />

Wien/ Hamburg 1987.<br />

(Der Augenzeugenbericht ist der Autobiographie<br />

entnommen)<br />

Ziemkiewicz, Rafał: „Spokojnie, to tylko<br />

Wałęsa“ (übers.: „Ruhig, das ist nur<br />

Wałęsa“), erschienen in der Tageszeitung<br />

„Rzeczpospolita“ vom 28. August 2006.<br />

Wałęsas politischer Entwicklung haftet<br />

etwas Tragisches an; seine persönlichen<br />

Eigenschaften haben ihn unter politischen<br />

Ausnahmebedingungen zur Führungsfigur<br />

werden lassen, unter (demokratischen) Normalbedingungen<br />

aber zu einem Exzentriker.<br />

Die polnische Öffentlichkeit ist mittlerweile<br />

sein Pathos, seine Sprunghaftigkeit und sein<br />

Inszenierungstalent gewohnt, und reagiert<br />

gelassen mit Nichtbeachtung darauf. Dies<br />

wird auch der ausländischen Presse empfohlen;<br />

ein polnischer Publizist gab Ende<br />

August in der Tageszeitung „Rzeczpospolita“<br />

ausländischen Journalisten den Rat,<br />

sich ihm wie einem seltenen Exemplar zu<br />

nähern: „Achtung, das ist Wałęsa – schaut,<br />

staunt, und hört, was er sagt, denn morgen<br />

wird er etwas anderes erzählen.“<br />

Offensichtlich gibt es nicht nur einen<br />

Kairos für die Übernahme von Führung,<br />

sondern auch einen für den eigenen Rückzug.<br />

Letzterer scheint Wałęsa leider entgangen<br />

zu sein.<br />

114


„Diese Menschen – das ist Polen“<br />

von Judith Luig<br />

Aufteilungen, Vertreibungen und Verfolgungen haben Polens Geschichte im<br />

20. Jahrhundert bestimmt. Aber nicht nur. Gegen die Einflüsse von außen gab<br />

es im Lande selbst immer wieder Bemühungen um nationale Einheit. Und<br />

Schriftsteller, die vor allzu viel Patriotismus warnten und nach einer moderaten<br />

polnischen Identität suchten.<br />

„Der Polnische Roman im 20. Jahrhundert“.<br />

Dieser Arbeitstitel wäre für meine<br />

Doktormutter ein Fest. In ihrer freundlich-kritischen<br />

Art würde sie meinen Ansatz<br />

wie folgt auseinandernehmen: „Was bedeutet<br />

‚polnisch’? Louis Begley wurde 1933<br />

<strong>als</strong> Ludwig Beglejter in Strji geboren. Zählt<br />

sein Roman Wartime Lies zur polnischen Literatur?“<br />

Ein ähnliches Problem stelle sich<br />

für die gewählte Zeitspanne. „Verändert<br />

sich die Kunst, nur weil ein neues Jahrhundert<br />

anbricht? Gehört nicht Schneeweiß und<br />

Russenrot zur europäischen Popliteratur der<br />

Neunziger, obwohl es 2002 erschien?“ Und<br />

überhaupt: „Kann man von dem polnischen<br />

Roman im 20. Jahrhundert reden?<br />

Man kann, würde ich ihr antworten. Natürlich,<br />

meine Doktormutter hätte schon<br />

Recht mir ihrem Einwand: Wie überall änderte<br />

sich die polnische Literatur mit den<br />

jeweiligen zeitgenössischen Einflüssen und<br />

nicht mit dem Jahrtausendwechsel. Auch<br />

hier schuf die Moderne neue Kunstrichtungen.<br />

Zwei Weltkriege und die organisierte<br />

Vernichtung von Menschen zwangen<br />

zu einem neuen Nachdenken über Kunst<br />

und Literatur. Doch anders <strong>als</strong> die Autoren<br />

anderer Länder wurden die Künstler Polens<br />

im 20. Jahrhundert durch ein alles dominierendes<br />

Thema vereint. „Das Kardinalproblem“,<br />

so erklärt Karl Dedecius, Leiter<br />

des Deutschen Polen-Instituts, „war, ist und<br />

bleibt das Verhältnis der Polen zu ihren beiden<br />

Großnachbarn Russland und Deutschland,<br />

die Polens alte Landkarte bis zur Unkenntlichkeit<br />

verstümmelt haben.“ Und<br />

auch wenn die Geschichte von nation<strong>als</strong>ozialistischer<br />

Besatzung und kommunistischer<br />

Herrschaft bekanntermaßen nur eine Fortführung<br />

der endlosen Unterwerfung und<br />

Zerstückelung Polens, die bereits 1772 begann,<br />

ist, so hat die Erfahrung von Fremherrschaft<br />

und Terror doch die Kunst des<br />

20. Jahrhunderts in ganz besonderer Weise<br />

beeinflusst. Die größte Aufgabe der Intellektuellen<br />

zu Beginn dieses Jahrhunderts<br />

war, ein Polen, „was bislang nur in der Vorstellung<br />

seiner Patrioten exististierte,“ wie<br />

Marci Shore in Caviar and Ashes schreibt,<br />

Wirklichkeit werden zu lassen. Wie die Suche<br />

nach einer polnischen Identität sich in<br />

der Darstellung Polens und seiner Einwohner<br />

im Roman dieser Zeit wiederfindet, ist<br />

Gegenstand der folgenden Kurzporträts.<br />

Nächte und Tage<br />

Nach dem 1. Weltkrieg war die polnische<br />

Intelligentia damit beschäftigt, den neu<br />

entstandenen Staat zu unterstützen. Wie<br />

viele ihrer Altersgenossen hatte sich Maria<br />

Dąbrowska (1889-1965), die Tochter eines<br />

115


Witold Gombrowiczs<br />

(Quelle: Staatsbibliothek<br />

Berlin)<br />

verarmten Gutsbesitzers, während ihres<br />

Studiums in Brüssel an den Bestrebungen<br />

zur Unabhängigkeit beteiligt. Als sie nach<br />

Polen zurückkehrte, wandte sie sich den<br />

Problemen der Landarbeiter zu. Ihr erster<br />

Roman Landlose (1925) ist eine kritische<br />

Darstellung der Armut der Bauern, eines<br />

der großen Probleme der jungen Republik.<br />

Dąbrowskas Realismus wurde prägend<br />

für die Literatur ihrer Zeit. Ihr wohl<br />

berühmtestes Werk Nächte und Tage (1934)<br />

ist eine 2000-seitige Generationengeschichte,<br />

die oft mit Thomas Manns Buddenbrocks<br />

verglichen wurde.<br />

Am Bodensee<br />

Der Einmarsch der Deutschen im September<br />

1939 beendete jäh jegliches nationales<br />

kulturelles Schaffen. Polnische<br />

Literatur und Musik waren verboten, Zuwiderhandelnden<br />

drohte die Todesstrafe. Als<br />

Gegenreaktion auf die deutsche Dominanz<br />

der Vierziger Jahre wurde nach dem Krieg<br />

gerade die Literatur besonders wichtig, die<br />

zerschnittene Fäden wieder aufnahm und<br />

sich an den Werken der „polnischen Spötter“<br />

der Vorkriegszeit orientierte. Wie zum<br />

Trotz gegen Tod, Vernichtung und Zerstörung<br />

drängte Stanisław Dygats (1914-1978)<br />

in seinem 1946 erschienenen Roman Am<br />

Bodensee (Jezioro Bodenskie) den Krieg in<br />

den Hintergrund und setzte sich damit von<br />

seinen Zeitgenossen ab, die vor allem die<br />

gegen Polen begangenen Grausamkeiten<br />

der Deutschen in ihren Werken beschreiben.<br />

Dygats Buch, verfasst 1942, erzählt von<br />

einem Lager für Kriegsgefangene am Bodensee,<br />

ähnlich dem, in dem der Autor selbt<br />

während des Krieges festsaß. Die äußerst<br />

moderaten Bedingungen des Lagers stehen<br />

im krassen Gegensatz zu der Wirklichkeit<br />

der Arbeits- und Konzentrationslager. Langeweile<br />

scheint hier das größte Leiden. Da<br />

die Insassen den verschiedensten Nationalitäten<br />

angehören, beginnt der Protagonist,<br />

seine eigene Beziehung zu seinem Land und<br />

sein „Polentum“ zu definieren. Diese Reflexionen<br />

finden vor allem Ausdruck in einer<br />

Rede „Ich und mein Volk“, in dem Dygat<br />

das Thema des ewig leidenden Polen ironisiert.<br />

Das Land wird mit Jesus verglichen:<br />

Polen erinnert in seiner Form an ein Herz,<br />

[...] man kann es auch mit einem Menschen<br />

mit ausgebreiteten Armen vergleichen. Ja.<br />

Mit ausgebreiteten, ans Kreuz geschlagenen<br />

Armen.<br />

Doch durch tolpatschiges Verhalten<br />

nimmt der Redner sich jeden Anspruch auf<br />

Glaubwürdigkeit. Unter den polnischen<br />

Zuhörern wird die Intention des Redners<br />

verstanden. Sie hinterfragt die romantische<br />

Vorstellung des leidenden Landes und<br />

drückt doch gleichzeitig einen nationalen<br />

Charakter aus, der gegen andere abgegrenzt<br />

wird. „Diese ausländischen Holzköpfe haben<br />

natürlich nichts begriffen“, lobt einer<br />

die Aufführung des Sprechers. Darüberhinaus<br />

bringt die Pose des vaterlandslosen<br />

Polen dem Protagonisten noch ganz andere<br />

Vorteile. Er setzt sie erfolgreich zur Verführung<br />

einer jungen Französin ein.<br />

Am Bodensee kritisiere „die romantische<br />

Grundidee des polnischen Messianismus“<br />

und entlarve Polens „sentimentale<br />

Fiktionen“ wenn auch auf eine „liebenswert-ironische<br />

Weise“, kommentiert Dedecius.<br />

Dygats Darstellung patriotischer<br />

Gefühle stieß selbst in der Atmosphäre des<br />

demokratischen Pluralismus, der zu dieser<br />

Zeit auf dem polnischen Büchermarkt<br />

herrschte, auf erbitterte Gegener. „Ein besonders<br />

eifriger linker Kritiker“, schreibt<br />

der Literatuwissenschaftler Hans-Christian<br />

Trepte, „verstieg sich sogar zu der Meinung,<br />

[...] daß Dygat auf dem Scheiterhaufen verbrannt<br />

werden müßte.“ So wie die Ketzer<br />

zu Zeiten der Reformation.<br />

Trans-Atlantik<br />

Ein kritischer Blick auf Polnisches findet<br />

sich auch in Witold Gombrowiczs spielerischen<br />

bis absurden Schriften, die er in<br />

den Nachhwehen des 2. Weltkrieges verfasst.<br />

In Trans-Atlantik, seinem zweiten Roman,<br />

erzählt ein junger polnischer Exilant<br />

von seinen abenteuerlichen bis grotesken<br />

Erlebnissen in Argentinien. Das avantgardistische<br />

Buch löste heftigste Kontroversen<br />

aus, <strong>als</strong> es 1953 in Paris erschien. Die erst ein<br />

Jahr zuvor gegründete Volksrepublik Polen<br />

tat sich mit Gombrowiczs Satire schwer. Als<br />

116


provokant und beleidigend empfanden viele<br />

die Geschichte des Exilanten, der sich bei<br />

Ausbruch des Krieges weigert, wie die anderen<br />

Polen heimzukehren um fürs Vaterland<br />

zu kämpfen. Nationales wird hier mit einem<br />

Fluch bedacht:<br />

So fahrt denn hin ihr, fahrt ihr Landsleute zu<br />

eurer Nation! Fahrt ihr nur zu Eurer heiligen<br />

wohl Verdammten Nation! Fahrt denn hin zu<br />

diesem hl. Dunklen Gebilde, welches seit jahrhunderten<br />

krepiert, aber nicht fertigkrepieren<br />

kann!<br />

Im Vorwort zur polnischen Ausgabe<br />

des Romans erklärt der Autor seine Kritik<br />

am Patriotismus: „Trans-Atlantik ist eine<br />

Abrechnung [...] mit einem schwachen Polen.<br />

[...] dies ist ein Korsarenschiff, das eine<br />

Menge Dynamit schmuggelt, um unsere<br />

bisherigen nationalen Gefühle zu sprengen.<br />

Es enthält auch ein ganz deutliches Postulat<br />

in bezug auf dieses Gefühl: Das Polentum<br />

überwinden.“ Die Erfahrungen des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

sollten nach Gombrowiczs<br />

Meinung die Menschen lehren, das enge<br />

Konzept einer nationalen Identität aufzugeben.<br />

„Das Problem ist nicht das Verhältnis<br />

der Polen zu Polen, sondern das Verhältnis<br />

des Menschen zur Nation. [...] ich strebe<br />

(wie immer) eine Verstärkung und Bereicherung<br />

des individuellen Lebens, eine Vermehrung<br />

seiner Widerstandsfähigkiet gegen<br />

das drückende Übergewicht der Masse an.“<br />

Die schöne Frau Seidenman<br />

Die Sowjetische Herrschaft verändert<br />

polnisches Schreiben ein weiteres mal. Auf<br />

dem Schriftstellerkongress 1949 in Sczcecin<br />

wird der sozialistische Realismus <strong>als</strong> maßgebliche<br />

Stilrichtung festgelegt. Polnische<br />

Autoren, deren Werke der Obrigkeit missfallen,<br />

können nur im Ausland veröffentlicht<br />

werden. Wie zum Beispiel Andrzej Szczypiorski.<br />

Sein Roman Początek (Der Anfang),<br />

erschien 1986 in Frankreich.<br />

Die schöne Frau Seidenman, so der deutsche<br />

Titel, ist ein Porträt von Warschauern<br />

in den Vierziger Jahren. Mit zärtlicher Ironie<br />

erschafft Sczcypiorski kleinere und größere<br />

Momentaufnahmen von Menschen,<br />

die jeder auf unterschiedliche Weise versuchen,<br />

„mit einer Prise Illusion und Leid“<br />

ihr Schicksal anzunehmen. Sein Spektrum<br />

reicht von Richtern und Ärzten bis hin zu<br />

Kleinkriminellen und Prostituierten. Szczypiorski<br />

schildert einen einfachen Schneider,<br />

dem gegen seinen Willen ein jüdisches<br />

Vermögen zugefallen ist, das er jetzt in ein<br />

ehrgeiziges Musemsprojekt für seine Heimatstadt<br />

stecken will; er berichtet von der<br />

Entscheidung eines jungen Juden, der freiwillig<br />

zurück ins Getto geht, und einer Ordensschwester,<br />

die jüdische Kinder versteckt<br />

und zum Katholizismus erzieht.<br />

Im Zentrum der zahlreichen Geschichten<br />

steht die Verwandlung der Titelheldin, Irma<br />

Seidenman, von einer jüdischen Arztwitwe<br />

in eine polnische Offizierswitwe, die<br />

zugleich für die Verwandlung des Landes<br />

steht. Nachdem sie der Gestapo entkommen<br />

ist, erwacht ihr Patriotismus. „Diese<br />

Menschen“, stellt sie fest „das ist Polen.“<br />

Während sie unter Dr. Kordas Augen die<br />

Milch trank, barfuß, mit tränennassem Gesicht,<br />

bebend in der Kühle der frühen Stunde,<br />

überkam sie zum ersten Mal im Leben die<br />

freudige Gewißheit, dass dies ihr Land war<br />

mit nahen und geliebten Menschen, denen sie<br />

nicht nur ihre Lebensrettung verdankte, sondern<br />

auch ihre Zukunft. Noch nie hatte sie so<br />

tief und so schmerzlich ihre Zugehörigkeit zu<br />

Polen empfunden, noch nie hatte sie mit soviel<br />

bitterer Freude und Hingabe an Ihr Polentum<br />

gedacht. Polen, dachte sie, mein Polen.<br />

Polen wird bei Sczcypiorski zu einer Vision<br />

eines Landes und seiner Bevölkerung.<br />

Den Nazis soll es nicht gelingen, die Menschen,<br />

ihre Menschlichkeit und ihre Ordnung<br />

zu beherrschen. Das drückt unter<br />

anderem die Figur des Schneiders aus, der<br />

durch die Deutschen zu Geld gekommen<br />

ist, der sich aber der Struktur der polnischen<br />

Gesellschaft bewußt bleibt:<br />

Ein geheimnisvoller, paradoxer und dennoch<br />

wichtiger Faden der Abhängigkeit verband<br />

sie [...], ein Faden, der sich aus dem uralten<br />

Knäuel des Polentums, der polnischen Geschichte<br />

und Kultur herleitete, [...] ein Faden<br />

der Abhängigkeit und Gemeinsamkeit.<br />

117


(Quelle: www.cafebabel.com)<br />

Doch die Hoffnung wird enttäuscht. In<br />

Vorrausblenden zeigt der Roman, dass sich<br />

Polen nach dem Krieg keinesfalls in eine<br />

ideale Welt der Brüderlichkeit verwandeln<br />

wird. Irma Seidenman, die sich entschlossen<br />

hat die Identität ihrer f<strong>als</strong>chen Papiere<br />

anzunehmen, wird von den Kommunisten<br />

in demselben Gebäude, in dem die Gestapo<br />

sie festnahm, von den Russen <strong>als</strong> Jüdin entlarvt<br />

und verliert ihre Arbeit.<br />

Im Gegensatz zu dem Widerstand, mit<br />

dem die Figuren in dem Roman den Deutschen<br />

begegnen, scheint die sowjetische Zeit<br />

von Resignation bestimmt zu sein. Szczypiorskis<br />

versöhnlicher Ansatz in der Schilderung<br />

der Deutschen findet sich nicht in seinem<br />

Porträt der kommunistischen Ära. Die<br />

Vorrausblenden zeigen besiegte Menschen.<br />

„Die polnische Sache“, so stellt der Eisenbahner<br />

Filipek fest, „ist mit Schweinemist<br />

besuldet.“<br />

Schneeweiß und Russenrot<br />

Für die junge Generation polnischer Autoren<br />

ist die Zeit unter den Nazion<strong>als</strong>ozialisten<br />

in Vergessenheit geraten. Ihr Gegner<br />

ist der russische Schwarzmarkt und der kapitalistische<br />

Westen. Zwei Jahre vor dem<br />

EU-Beitritt Polens erscheint Schneeweiß<br />

und Russenrot, ein Roman, der die narzisstischen<br />

Selbstdarstellungen deutscher<br />

Popliteraten imitiert. Doch während es bei<br />

Stuckrad-Barre und Kracht um die Marken<br />

von Jeans, Autos oder Sonnenbrillen geht,<br />

markieren die Polen bei Dorota Masłowska<br />

ihre Männlichkeit ganz traditionell durch<br />

Drogen- und Frauenkonsum. Andrezj, genannt<br />

der Starke, ist Anti-Held des Postkommunismus.<br />

Seine politische Haltung<br />

bezeichnet er <strong>als</strong> „links-patriotisch“ oder<br />

„national-anarchistisch“, wobei ihm selber<br />

nicht ganz klar zu sein scheint, was er damit<br />

meint.<br />

Der Leser begleitet Andrezj bei seinem<br />

Streifzug durch die Tristesse von Plattenbausiedlungen,<br />

billigen Diskos und dreckigen<br />

Wohnungen, auf der Suche nach<br />

Sex und Speed. Andrezjs Alltag ist ein<br />

selbst-kreierter Kriegsschauplatz. Verzweifelt<br />

kämpft er um eine polnische Identität,<br />

die er selbst nicht näher umschreiben kann,<br />

und in der er vor allem von wirtschaftlichem<br />

Erfolg und dem Zerstören des russisch dominierten<br />

Schwarzmarktes träumt. Russland<br />

wird zur Metapher für alles, was die<br />

Jugend zerstört. „Magda sei übler <strong>als</strong> eine<br />

gewöhnliche Schlampe vom Bahnhof“, zitiert<br />

der Ich-Erzähler, „übler <strong>als</strong> die, die am<br />

Hauptbahnhof stehen. Weingummirot im<br />

Gesicht, schmutzig. Wie die von den Russen.“<br />

Eben jene Magda steht in dem Roman<br />

für die komplette Chanchenlosigkeit ihrer<br />

Generation. „In diesem Land gibt es keine<br />

Zukunft, unsere Liebe hat hier keine Chance“,<br />

sagt sie in einem der raren Momente<br />

der Reflektion, „wohin du guckst, überall<br />

Gewalt, denk nur an diesen polnisch-russischen<br />

Krieg, der jetzt in der Stadt stattfindet,<br />

dass man nicht reinkann, ohne auf<br />

russische Triebschweine zu stoßen.“ Doch<br />

dieser Krieg wird immer nur angedeutet,<br />

er bleibt eine vage rassistische Phobie, eine<br />

Drogenfantasie des Protagonisten. Tatsächlich<br />

taucht kein einziger Russe in dem Roman<br />

auf. Es bleibt bei Schattenschlachten,<br />

wie in jener Speed-getrübten Szene, in der<br />

Anstreicher das Haus des Starken in weißroten<br />

Farben zur Kampfansage streichen<br />

wollen. Einer von ihnen erklärt den Hintergrund:<br />

Weil entweder ist man Pole oder man ist kein<br />

Pole. Entweder ist man polnisch oder man ist<br />

russisch. Mit Schmackes gesagt, entweder man<br />

ist Mensch oder Arschloch. Und Schluss, so<br />

viel dazu.<br />

Doch der Westen ist ebenso verdammt<br />

in der Wahrnehmung von Maslowskas Figuren.<br />

Weil er „stinkt, eine zerstörte Umwelt<br />

hat, die er mit diversen unnatürlichen<br />

Verbindungen verschmutzt, PVC, THC“,<br />

so erklärt es der Starke. Er weiß, „dass dort<br />

Judenfresser, Arbeiterfresser den Ton angeben,<br />

Mörder, die sich selbst und ihre unehelichen<br />

Kinder durch Unterdrückung<br />

ernähren, dadurch, dass sie den Leuten Markenkacke<br />

in Markenpapier durch die Firma<br />

McDonald´s verkaufen.“ Beim Erscheinen<br />

ihres ersten Romanes war die Autorin<br />

18 Jahre alt. Dass sich ihre groteske Skizze<br />

der polnischen Jugend oft im Belanglosen<br />

verliert, wurde von der begeisterten Presse<br />

118


zum Programm erklärt. Masłowskas Protagonist,<br />

so schreibt eine Journalistin, „verkörpert<br />

eine Generation, die sich im Aufbruch<br />

befindet.“ Viel ist von diesem Aufbruch in<br />

Schneeweiß und Russenrot aber nicht zu<br />

spüren. Es ist viel eher die Bestandsaufnahme<br />

einer Generation junger Polen nach dem<br />

Absturz.<br />

Abschließend bleibt mir noch zu bemerken,<br />

dass meine Doktormutter wahrscheinlich<br />

recht hätte. Bei der Vielfalt an Autoren<br />

und Stilrichtungen fällt es schwer, von dem<br />

polnischen Roman des 20. Jahrhunderts zu<br />

reden. Wie ich aber in diesen kurzen Beschreibungen<br />

einiger Bücher gezeigt habe,<br />

kann man durchaus von einem Leitmotiv<br />

des polnischen Romans reden: die Suche<br />

nach einem Polentum. Und auch mit Beginn<br />

eines neuen Jahrhunderts, das Polen <strong>als</strong><br />

eine demokratische Republik erleben sollte,<br />

ist der „polnische Komplex“ (Gombrowicz)<br />

nicht überwunden. Die Kaczynski-Brüder<br />

und die Politik ihrer Partei „Recht und Gerechtigkeit“<br />

scheinen alles daran zu setzen,<br />

ihr Volk in alten Feindschaften verharren zu<br />

lassen. Dass das Präsidialamt die linksalternative<br />

tageszeitung mit dem nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Stürmer verglichen hat, nachdem<br />

Jaroslaw Kaczynski auf einer Satireseite der<br />

taz <strong>als</strong> neue polnische Kartoffel bezeichnet<br />

worden war, zeigt, dass das Thema Nationalismus<br />

auch die ersten Jahre des 21. Jahrhunderts<br />

dominieren wird. Der Vorfall hat<br />

nochm<strong>als</strong> deutlich gemacht, dass die Pressefreiheit<br />

in Polen nicht gewährleistet ist. Wie<br />

sich diese Regierung auf die Freiheit der<br />

Schriftsteller auswirkt, werden die nächsten<br />

Monate zeigen.<br />

Dedecius, Karl, Panorama der Polnischen<br />

Literatur des 20. Jahrhunderts, Zürich 1997.<br />

Gombrowicz, Witold, Trans-Atlantik, Berlin<br />

1988.<br />

Masłowska, Dorota, Schneeweiß und Russenrot,<br />

Köln 2002.<br />

Miłosz, Czesław, Geschichte der Polnischen<br />

Literatur, Köln 1985.<br />

Sczcypiorski, Andrej, Die Schöne Frau Seidenman,<br />

Zürich 1988.<br />

Literatur:<br />

119


Joseph Conrad<br />

(d .i. Józef Teodor Konrad Korzeniowski)<br />

und das „Herz der Finsternis“<br />

von Anne Kraume<br />

Wie es im Kongo aussieht, wie aus dem polnischen Seemann Józef Teodor<br />

Konrad Korzeniowski der englische Schriftsteller Joseph Conrad wurde und wie<br />

nebenbei ein Schlüsseltext der modernen Literatur entstand: eine Reise ins Herz<br />

der Finsternis und ihre – literarischen – Folgen<br />

Auftakt<br />

Von Juli 1925 bis Mai 1926 bereist der<br />

französische Schriftsteller André Gide den<br />

Kongo. Nur kurze Zeit nach seiner Rückkehr<br />

nach Frankreich erscheinen die beiden<br />

Bücher Voyage au Congo (1927) und Le Retour<br />

du Tchad (1928), in denen er die Erlebnisse<br />

und Eindrücke von dieser Afrikareise<br />

verarbeitet; dem Band Voyage au Congo<br />

ist eine knappe Widmung vorangestellt: „A<br />

la mémoire de Joseph Conrad“, heißt es da<br />

einfach. Dieser Joseph Conrad, an den André<br />

Gide mit seiner Reiseerzählung erinnern<br />

möchte, hatte 35 Jahre vor diesem, von Juni<br />

bis Dezember 1890 nämlich, ebenfalls den<br />

Kongo bereist, und auch er hat seine afrikanischen<br />

Erfahrungen später literarisch verwertet.<br />

Heart of Darkness heißt der Roman<br />

von 1899, auf den sich André Gide in seinem<br />

Voyage au Congo immer wieder bezieht –<br />

explizit, indem er Conrad zum Teil wörtlich<br />

zitiert; aber auch implizit, indem er etwa<br />

dessen Formulierung vom „Herz der Finsternis“<br />

aufgreift und zu Beginn seiner Reise<br />

feststellt: „nous pénétrons dans de mystérieuses<br />

ténèbres“.<br />

Bei beiden Autoren, dem französischen<br />

und dem englischsprachigen, markiert die<br />

Reise ins Herz der Finsternis – oder vielmehr<br />

ihre literarische Verarbeitung – eine<br />

Art Wendepunkt: Als André Gide nach<br />

Afrika reist, hat er gerade seinen Roman Les<br />

Faux-Monnayeurs abgeschlossen, an dem er<br />

sechs Jahre lang gearbeitet hat und der so<br />

etwas wie die Summe seiner literarischen<br />

Veröffentlichungen werden sollte. Es zieht<br />

ihn weg aus Frankreich und Europa, weg<br />

auch von den rein literarischen Aufgaben<br />

dort – so schreibt er in einem Brief an Roger<br />

Martin du Gard: „L’idée du voyage se glisse<br />

constamment entre moi et mon livre […].<br />

C’est une hantise. Il est temps de partir, décidément.“<br />

Der Aufbruch markiert für Gide<br />

einen Neuanfang: vom Zeitpunkt seiner<br />

Kongoreise rücken mehr <strong>als</strong> bisher auch politische<br />

und soziale Probleme in sein Blickfeld,<br />

und die literarischen Fragen, mit denen<br />

er sich bisher beschäftigt hat, verlieren darüber<br />

zunehmend an Bedeutung.<br />

Joseph Conrad<br />

Wenn André Gides Kongoreise daher,<br />

zugespitzt formuliert, so etwas wie das<br />

Ende seiner Karriere <strong>als</strong> Autor von rein literarischen<br />

Werken darstellt, so verhält<br />

es sich im Fall von Joseph Conrad gerade<br />

120


umgekehrt: Mit der Veröffentlichung von<br />

Heart of Darkness <strong>als</strong> Fortsetzungsroman<br />

in Blackwood’s Magazine im Frühjahr 1899<br />

wird er tatsächlich erst zum anerkannten<br />

und erfolgreichen Schriftsteller in England<br />

– zum Niederschreiben dieses Textes unterbricht<br />

er die Arbeit am Manuskript von<br />

Lord Jim, aus dem wenig später, 1904, sein<br />

erster großer Roman werden sollte.<br />

Die Etappe von Joseph Conrads Leben,<br />

die mit der Veröffentlichung von Heart of<br />

Darkness ihren Anfang nimmt, ist gewissermaßen<br />

die dritte und letzte große Phase<br />

in diesem Leben – und jeder dieser drei Phasen<br />

können unterschiedliche geographische<br />

Räume zugeordnet werden. Der englische<br />

Autor Joseph Conrad wird nämlich unter<br />

dem Namen Józef Teodor Konrad Korzeniowski<br />

1857 <strong>als</strong> Sohn polnischer Eltern im<br />

dam<strong>als</strong> russischen Gouvernement Kiew geboren,<br />

und er lebt nach dem frühen Tod seiner<br />

Eltern bis zum Alter von 17 Jahren unter<br />

der Obhut eines Onkels im – zu seiner Zeit<br />

geteilten – Polen, ehe er in Marseille eine<br />

Karriere <strong>als</strong> Seemann beginnt. Von 1878 an<br />

segelt er unter britischer Flagge, und erst<br />

im Jahr 1886 erwirbt er nicht nur sein Kapitänspatent,<br />

sondern zugleich auch die britische<br />

Staatsbürgerschaft. Joseph Conrad,<br />

der gebürtige Pole, ist ein Autor zwischen<br />

den Welten: niem<strong>als</strong> wird er sich in England<br />

wirklich vollkommen zugehörig fühlen,<br />

aber noch weniger kann das zaristische<br />

Polen eine Heimat für ihn sein. Wenn die<br />

Zeit seiner schriftstellerischen Reife <strong>als</strong>o<br />

im Herzen der Finsternis ihren Anfang<br />

nimmt, ebenso weit weg von Polen wie von<br />

England, dann ist das kein Zufall: Damit<br />

wird deutlich, dass Joseph Conrads Heimat<br />

vielleicht weniger geographisch <strong>als</strong> vielmehr<br />

sprachlich-literarisch auszumachen ist.<br />

Der Kongo<br />

Als Józef Teodor Konrad Korzeniowski<br />

1894 seinen Abschied von der See nimmt,<br />

da unterschreibt er seine Entlassungspapiere<br />

erstm<strong>als</strong> mit dem anglisierten Namen<br />

„J. Conrad“. Seinen ersten längeren Text auf<br />

Englisch hat er allerdings schon vier Jahre<br />

vorher geschrieben – es handelt sich um ein<br />

Tagebuch aus kurzen Notizen und navigatorischen<br />

Vermerken, mit dem er seine Reise<br />

durch den Kongo protokolliert hat. Conrad<br />

reist wie Charlie Marlow, der Icherzähler<br />

aus Heart of Darkness, <strong>als</strong> Angestellter einer<br />

belgischen Handelsgesellschaft nach<br />

Afrika, für die er das Kommando eines<br />

Flussdampfers auf dem Kongo übernimmt.<br />

Der Kongo war zum Zeitpunkt von Conrads<br />

Reise, Ende des 19. Jahrhunderts, de<br />

facto Eigentum des belgischen Königs Leopold<br />

II., der sich das Land durch diplomatische<br />

Schachzüge, eine Reihe von Expeditionsprojekten<br />

und nicht zuletzt durch die<br />

Entsendung von Henry Morton Stanley <strong>als</strong><br />

Gouverneur dorthin gesichert hatte. Konzessionen<br />

an private Handelsgesellschaften<br />

sollten die Erschließung des riesigen Territoriums<br />

– und nicht zuletzt auch die Verbreitung<br />

der „europäischen Zivilisation“<br />

– vorantreiben, aber tatsächlich dienten sie<br />

allein der Ausbeutung des Landes und seiner<br />

Bewohner. Joseph Conrad bricht seinen<br />

Aufenthalt im Kongo nach sechs Monaten<br />

ab und reist schwer krank zurück nach Europa.<br />

Die literarische Reise von Charlie Marlow,<br />

von der dieser in Heart of Darkness<br />

erzählt, hat nun mit der tatsächlichen Reise<br />

des späteren Autors Joseph Conrad eine<br />

Reihe von Gemeinsamkeiten – der Autor<br />

ebenso wie seine literarische Figur erhalten<br />

ihren Posten <strong>als</strong> Kapitän nur dank der<br />

Intervention einer Tante bei den zuständigen<br />

Stellen in Brüssel; beide reisen flussaufwärts<br />

von der Mündung des Kongo ins<br />

Landesinnere und haben unterwegs mit<br />

denselben praktischen Schwierigkeiten zu<br />

kämpfen; beiden präsentiert sich die koloniale<br />

Wirklichkeit des Landes in ihrer ganzen<br />

Grausamkeit. Dennoch gibt es aber auch<br />

wesentliche Unterschiede zwischen den<br />

tatsächlichen und der literarischen Reise<br />

– Unterschiede, die ihre Begründung nicht<br />

zuletzt in der symbolischen Dimension finden,<br />

die der literarischen Reise ins Herz der<br />

Finsternis von Anfang an zukommt und die<br />

aus der Erzählung einen Schlüsseltext der<br />

Moderne macht.<br />

Unbestimmtheiten...<br />

Das Dominospiel wird nicht begonnen.<br />

Die Erzählung Heart of Darkness präsentiert<br />

sich dem Leser <strong>als</strong> eine Erzählung in<br />

121


der Erzählung – es gibt eine Rahmenhandlung,<br />

in der eine Gruppe von Freunden an<br />

Bord eines Schiffes nahe der Themsemündung<br />

auf den Wechsel der Gezeiten wartet,<br />

Charlie Marlow ist einer von ihnen – und<br />

eigentlich soll Domino gespielt werden, um<br />

die Wartezeit zu überbrücken. Die Steine<br />

sind schon zur Hand, aber statt zu spielen,<br />

beginnt Marlow eine scheinbar ebenso unvermittelte<br />

wie ziellose Erzählung von seiner<br />

Reise ins Herz der Finsternis. Keiner der<br />

Schauplätze in Marlows Geschichte hat einen<br />

Namen, alles bleibt im Unbestimmten<br />

– angefangen mit der zweideutigen Titelmetapher<br />

tauchen alle Orte im Text chiffriert<br />

auf: Brüssel ist die „Gräberstadt“, der Fluss<br />

Kongo taucht <strong>als</strong> riesige zusammengeringelte<br />

Schlange auf der Landkarte auf, das<br />

Land selbst wird nur <strong>als</strong> „Wildnis“ beschrieben...<br />

Conrads – oder Marlows – Erzählung<br />

lässt die reine Geographie auf diese Art und<br />

Weise mythisch grundiert und symbolisch<br />

überhöht erscheinen; alles kann hier auch<br />

<strong>als</strong> Zeichen für etwas anderes stehen, alles<br />

ist bedeutungsvoll und nichts wirklich konkret.<br />

Die Ambivalenzen setzen sich auch auf<br />

der Ebene der Personen fort: außer Marlow<br />

selbst und dem genial-dämonischen Elfenbeinagenten<br />

Kurtz, dessen Station im Inneren<br />

des Landes immer mehr zum Ziel von<br />

Marlows Reise wird, hat niemand in der<br />

Erzählung einen Namen – stattdessen werden<br />

alle Figuren nur mit ihren Funktionen<br />

bezeichnet, der Manager ebenso wie der<br />

Prokurist der Handelsgesellschaft. In der<br />

Darstellung der ganzen Absurdität dieser<br />

europäisch-bürokratisierten Lebensformen<br />

mitten im Dschungel scheinen nicht zuletzt<br />

weitere Ambivalenzen des Textes und seiner<br />

Intentionen auf – ist er <strong>als</strong> grundsätzliche<br />

Kritik an diesen kafkaesken Verwaltungsapparaten<br />

zu verstehen, oder sogar <strong>als</strong> Anklage<br />

der kolonialen Ausbeutungsmechanismen?<br />

Marlow wie Conrad legen sich nicht<br />

fest – bei ihnen wird erzählt, und dieses Erzählen<br />

muss notwendig immer unbestimmt<br />

bleiben – unbestimmter auch <strong>als</strong> zum Beispiel<br />

ein Dominospiel, bei dem stets klar ist,<br />

welcher Anschluss wozu passt.<br />

Stimmen<br />

Marlows Erzählung überbrückt das Warten<br />

auf den Wechsel der Gezeiten. Aber sie<br />

berichtet auch vom Warten – immer wieder<br />

muss der Icherzähler auf seiner Reise<br />

im Kongo warten, darauf, dass die Reise beginnt,<br />

darauf, dass sein Dampfer repariert<br />

wird, darauf, dass er Kurtz trifft, darauf,<br />

dass sich der Nebel lichtet. Die beiläufige<br />

Langsamkeit von Marlows Erzählung hat<br />

<strong>als</strong>o ihren Grund – und im Verlauf von dieser<br />

Erzählung wird es langsam dunkel über<br />

der Themse. Die Freunde, die um den Erzähler<br />

Marlow herumsitzen, nehmen von<br />

ihm nichts mehr wahr außer seiner Stimme,<br />

die auf diese Weise seltsam losgelöst von der<br />

Person über dem Schiff schwebt. Nicht einmal,<br />

wer von der Gruppe dieser körperlosen<br />

Stimme wirklich noch zuhört, ist auszumachen<br />

– es gibt nichts weiter <strong>als</strong> die Stimme<br />

und die Geschichte, die sie erzählt: „For a<br />

long time already [Marlow], sitting apart,<br />

had been no more to us than a voice...“<br />

Auch innerhalb der Geschichte, die Marlow<br />

erzählt, ist immer wieder die Rede von einer<br />

Stimme, die ihre Zuhörer fesselt: der Elfenbeinagent<br />

Kurtz zieht mit seiner Stimme sowohl<br />

seine Gefolgsleute <strong>als</strong> auch die Schwarzen<br />

rund um seine Station und nicht zuletzt<br />

auch Marlow selbst in seinen Bann – und<br />

vor allem dank dieser Fähigkeit ist Kurtz<br />

der erfolgreichste Agent der Handelsgesellschaft.<br />

Dieser „Macht der Mündlichkeit“,<br />

die in jenen Passagen aufscheint, in denen<br />

die Faszination beschrieben wird, die Kurtz<br />

auf seine Zuhörer ausübt, setzt der Text von<br />

Conrads Heart of Darkness aber ein anderes<br />

Modell entgegen. Dieses Modell ergänzt die<br />

Vorstellung von der Mündlichkeit nur teilweise<br />

– teilweise stellt es diese Vorstellung<br />

aber gerade auch in Frage: Wenn in Conrads<br />

Erzählung ein Buch <strong>als</strong> Symbol für die europäische<br />

Zivilisation schlechthin beschrieben<br />

wird, dann werden damit ganz andere Ideen<br />

aktiviert <strong>als</strong> die, die seine eigene – eben<br />

doch nur scheinbar mündliche – Erzählung<br />

vordergründig motivieren.<br />

Der Seemann Charlie Marlow findet mitten<br />

im Kongo, in einer verlassenen Hütte<br />

am Ufer des Flusses, ein zerfleddertes Buch<br />

– An Inquiry into some Points in Seamanship,<br />

versehen mit handschriftlichen Anmerkungen<br />

des vorherigen Besitzers. Das<br />

122


Buch scheint nicht allein deshalb fehl am<br />

Platz, weil es ein europäischer Text mitten<br />

in der afrikanischen „Wildnis“ ist, sondern<br />

auch, weil es Anweisungen für die Schifffahrt<br />

auf dem offenen Meer enthält, das<br />

von dem Fundort am Ufer des Flusses Kongo<br />

denkbar weit entfernt ist. Dennoch ist<br />

die Autorität des Buches ungebrochen: bei<br />

Marlows Spurensuche in der Fremde und<br />

im Fremden wird dieses Buch zum Phantombild<br />

des Vertrauten und zum Orientierungspunkt<br />

im Unbestimmten.<br />

Das Buch im Buch<br />

So wie in Heart of Darkness die Figur<br />

Charlie Marlow sein in der Wildnis gefundenes<br />

Seemannshandbuch liest, so liest<br />

später der Autor André Gide in eben derselben<br />

Wildnis Joseph Conrad: das europäische<br />

Buch wird auch für diesen Reisenden<br />

in der afrikanischen Wildnis zum Anhaltsoder<br />

Bezugspunkt, der ihm hilft, seinen<br />

Weg durch diese Wildnis zu bahnen. Der<br />

Seemann und Leser Marlow findet auf seiner<br />

Reise im Kongo – und durch diese Reise<br />

– seine Stimme und wird zum Erzähler.<br />

Der Schriftsteller André Gide wird dagegen<br />

auf seiner Reise in besonderer Weise zum<br />

Leser – zum Leser eines Buches, das gerade<br />

in seiner Unbestimmtheit immer wieder<br />

neue Anschlüsse ermöglicht. Joseph Conrads<br />

Novelle ist deshalb nicht durch einen<br />

Mangel, sondern eher eine Fülle an Bedeutung<br />

gekennzeichnet – diese entsteht immer<br />

wieder aufs Neue in der Übermittlung<br />

der vielen kleinen Unbestimmtheiten dieser<br />

Erzählung, und so in jeder neuen Lektüre<br />

von Heart of Darkness.<br />

Zum Weiterlesen<br />

Kaplan, Carola M.: Conrad the Pole: Definitely<br />

not „One of Us“, in: Alex S. Kurczaba<br />

(Hg.): Conrad and Poland, Lublin/New<br />

York 1996, S. 135-151.<br />

Putnam, Walter C. III: L’aventure littéraire<br />

de Joseph Conrad et d’André Gide, Saratoga<br />

1990.<br />

Schwarz, Daniel R.: Rereading Conrad,<br />

Columbia 2001.<br />

Speary, Susan: The Readability of Conrad’s<br />

Legacy: Narrative, Semantic and Ethical<br />

Navigations into and out of „Heart of<br />

Darkness“, in: Attie de Lange/Gail Fincham<br />

(Hg.): Conrad in Africa: New Essays<br />

on „Heart of Darkness“, Lublin/New York<br />

2002, S. 41-64.<br />

Watt, Ian: Essays on Conrad, Cambridge<br />

2000.<br />

West, Russell: Conrad and Gide. Translation,<br />

Transference and Intertextuality,<br />

Amsterdam/Atlanta 1996.<br />

Wiggershaus, Renate: Joseph Conrad,<br />

München 2000.<br />

Und natürlich:<br />

Joseph Conrad: Heart of Darkness, edited<br />

by Robert Kimbrough, New York/London<br />

1988<br />

123


Schwierigkeiten bei der Missionierung des<br />

Weltraums<br />

Anstöße für die Theologie in der Science-Fiction-Literatur von<br />

Stanislaw Lem<br />

von Clemens Bohrer<br />

Bei der Missionierung des Weltraums trifft Pater Lazimon auf ungeahnte Probleme:<br />

Die extrem kälteempfindlichen Quintolen wollen nach ihrem Tod statt<br />

ins Paradies lieber in die Hölle, weil es dort angenehm heiß ist. Der polnische<br />

Science-Fiction-Autor Stanislaw Lem versetzt religiöse Ansichten in eine skurrile<br />

Zukunft und gibt einer theologischen Betrachtungsweise in doppelter Hinsicht<br />

einen Anstoß.<br />

Quelle: Wikipedia<br />

Auf seiner 21. Reise landet Ijon Tichy auf<br />

Dychtonien, einem erdähnlichen Planeten,<br />

auf dem er in einem Kloster des Destruktianerordens<br />

Aufnahme findet. Die Mönche,<br />

so erfährt Tichy, leben im Verborgenen,<br />

weil sie die letzten Gläubigen in einer Welt<br />

sind, deren Einwohner den Glauben verloren<br />

haben und nunmehr sogar die verbliebenen<br />

Geistlichen verfolgen. Sein Aufenthalt<br />

erlaubt Tichy auch intensive Studien<br />

der dychtonischen Theologie, die angesichts<br />

der technologischen Entwicklung nach und<br />

nach alle wesentlichen Glaubensätze und<br />

Dogmen aufgeben musste. Erfindungen wie<br />

das Klonen oder die Wiedererweckung von<br />

Menschen aus DNA-Resten, Bewusstsein<br />

und Intelligenz in Computern und sogar<br />

Flüssigkeiten und die beliebige Programmierung<br />

von Persönlichkeiten und deren Glaubensgrundsätzen<br />

setzten die dychtonische<br />

Kirche im Laufe der Jahrhunderte immer<br />

mehr unter Druck. So musste die Kirche<br />

beispielsweise zustimmen, dass auch intelligente<br />

Maschinen und Flüssigkeiten der Sakramente<br />

teilhaftig werden oder einsehen,<br />

dass Glaube nicht ein Akt der Entscheidung<br />

sondern ein Produkt der biopsychischen<br />

Programmierung ist. Die letzten Gläubigen<br />

auf Dychtonien, so stellt Tichy schließlich<br />

fest, sind Computer in der Kleidung und<br />

mit dem Aussehen von Mönchen.<br />

Die Episode mit den Computermönchen<br />

kann beispielhaft für die vielen skurrilen<br />

Abenteuer sein, die Stanislaw Lem seinen<br />

Helden Ijon Tichy in den Reiseberichten<br />

erleben lässt, die unter dem Titel Sterntagebücher<br />

zusammengefasst sind. Neben dem<br />

Roman Solaris von 1960 sind die 1957 veröffentlichten<br />

Sterntagebücher wohl das bekannteste<br />

Werk von Lem, der im März 2006<br />

im Alter von 84 Jahren in Krakau verstorben<br />

ist. Seine Werke wurden in 57 Sprachen<br />

übersetzt und sind in einer Auflage von über<br />

45 Millionen weltweit erschienen, der Roman<br />

Solaris wurde zweimal verfilmt (zuletzt<br />

2003).<br />

Lem wurde 1921 in der polnischen Stadt<br />

Lwiw geboren, absolvierte eine Medizinausbildung<br />

und beschäftigte sich mit Fragestellungen<br />

auf dem Gebiet der Philosophie,<br />

Kybernetik und Mathematik. Während des<br />

Zweiten Weltkriegs schloss er sich der Wi-<br />

124


derstandbewegung gegen die deutschen<br />

Besatzer an, die ihn zeitweise zwangen <strong>als</strong><br />

Kraftfahrzeugsmechaniker und Schweißer<br />

zu arbeiten. Der „katholisch erzogene Atheist<br />

mit jüdischem Familienhintergrund“<br />

(FAZ vom 29.03.2006, 39) nahm in seinen<br />

Werken viele Entwicklungen wie die Genund<br />

Nanotechnik, den bargeldlosen Zahlungsverkehr<br />

und den Biochip früh vorweg.<br />

Bezeichnend für Lems Stil ist sein satirischer<br />

Zugang zu diesen Themen, der sich<br />

durch einen ernsthaften und mitunter protokollhaften<br />

Ton bei der Schilderung absurder<br />

und phantastischer Zukunftsszenarien<br />

auszeichnet. Die Faszination, die etwa der<br />

Leser der Sterntagebücher empfindet, rührt<br />

von einem unnachahmlichen Einfallsreichtum<br />

und einer sprühenden Phantasie bei der<br />

Anlage der Geschichten. So entfernt und<br />

abstrus die Abenteuer zunächst wirken, die<br />

Lems Helden erleben, so nah sind sie doch<br />

wieder der Lebenswelt seines Publikums.<br />

Hinter all den Unmöglichkeiten scheinen<br />

doch die Problemstellungen und Fragen der<br />

Gegenwart auf, auch wenn sie unter den<br />

Bedingungen des literarischen Genres in<br />

absurder Weise zugespitzt werden:<br />

Auf seiner 22. Reise begegnet Ijon Tichy<br />

einem Dominikanerpater. Pater Lazimon ist<br />

Chef der Weltraummission in einem Gebiet<br />

von 2.400.000 bewohnten Planeten und<br />

klagt dem Gast sein Leid mit dem Fortgang<br />

der Mission. Auf vielen Planteten stößt die<br />

Lehre der Kirche auf ungeahnte Schwierigkeiten,<br />

etwa bei den Quintolen, die bei einer<br />

Temperatur von 600 Grad Celsius frieren<br />

und sich daher nach ihrem Tod lieber<br />

in der Hölle <strong>als</strong> im Paradies wiederfänden.<br />

Da die Quintolen darüber hinaus fünf verschiedene<br />

Geschlechter haben, ist es für<br />

die Theologie ein heikles Problem, wer in<br />

den Priesterstand treten darf. Bei den Bischuten<br />

ist dagegen die Auferstehung etwas<br />

alltägliches, die Dartriden wollen sich mit<br />

dem Schwanz bekreuzigen, weil sie weder<br />

Hände noch Füße haben. Die Bewohner<br />

des Planeten Arpetusa sind hingegen vom<br />

Aussterben bedroht, sie haben aufgehört<br />

Ehen zu schließen und Kinder zu zeugen,<br />

weil es sie so heftig nach Erlösung verlangt,<br />

dass sie massenhaft in die Klöster eintreten<br />

und das Zölibat einhalten. Die frommen<br />

Memnogen schließlich haben ihrem Missionar<br />

Pater Oribas aus Nächstenliebe und<br />

um seines Seelenheils willen einen so grauenvollen<br />

Märtyrertod bereitet, dass sie sich<br />

sicher sind ihm den Status eines Heiligen<br />

und somit einen Platz im Himmelreich geschenkt<br />

zu haben.<br />

Diese und ähnliche Erzählungen von<br />

Stanislaw Lem sind Anstöße. Zunächst in<br />

einem durchaus wörtlichen Sinn, nämlich<br />

<strong>als</strong> Geschichten, an denen man Anstoß<br />

nehmen kann. Mancher könnte es <strong>als</strong> Verspottung<br />

seines Glaubens empfinden, wenn<br />

Stanislaw Lem einen Computer <strong>als</strong> Prior<br />

eines Ordens vorstellt, die kirchliche Lehre<br />

durch die Erfindung außerirdischer Gläubiger<br />

absurd werden lässt oder Glaubenssätze<br />

durch die Anwendung auf abstruse<br />

zukünftige Gesellschaftssysteme der Lächerlichkeit<br />

preisgibt. Ihre „Anstößigkeit“<br />

erhalten Lems Erzählungen durch eine bestimmte<br />

Technik, die er zumindest in den<br />

Geschichten, in denen religiöse oder theologische<br />

Themen eine Rolle spielen, immer<br />

wieder benutzt. Der polnische Science-Fiction-Autor<br />

entwirft dabei regelmäßig ein<br />

phantastisches Szenario, das er weit in die<br />

Zukunft oder auf einen fremden Planeten<br />

verlegt. In das auf diese Weise entstandene<br />

Hintergrundbild platziert er Menschen und<br />

Meinungen, wie er sie aus seiner eigenen<br />

Zeit und Umwelt kennt. So ist die Lehre der<br />

dychtonischen Kirche, die Lem <strong>als</strong> Zerrbild<br />

in Anlehnung an die Lehre der katholischen<br />

Kirche entwirft, in der futuristischen Umwelt<br />

zwangsläufig ein Anachronismus. Die<br />

Methoden der Weltraummission bleiben<br />

die gleichen wie der Leser sie aus dem Geschichtsunterricht<br />

kennt, d.h. die Prediger<br />

werden nicht auf die in der Zukunft liegende<br />

Situation weiterentwickelt, sondern Lem<br />

entwirft sie geradezu <strong>als</strong> absurden Kontrapunkt.<br />

Der Leser empfindet die Lächerlichkeit<br />

bestimmter Glaubenssätze in der von<br />

Lem erfundenen Welt wie man heute vielleicht<br />

das Tragen von gepuderten Perücken<br />

in deutschen Gerichtssälen lachhaft finden<br />

würde. Oder um es in einem Bild aus dem<br />

Neuen Testament auszudrücken: Stanislaw<br />

Lem bringt neuen Wein und alte Schläuche<br />

in einer Weise zusammen, dass die Behälter<br />

reißen müssen und die Unsinnigkeit des<br />

Unternehmens klar wird. Dem Autor steht<br />

natürlich die katholische Kirche in Polen in<br />

125


der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts vor Augen<br />

und er bedient sich bestimmter charakteristischer<br />

Rollen oder Äußerungen auf der<br />

Seite von Theologie und Kirche, um diese<br />

bewusst in eine Umgebung zu verpflanzen,<br />

in der sie unzeitgemäß wirken müssen. Lem<br />

führt keine theologische Debatte gegen den<br />

Zölibat oder gegen bestimmte Lehrsätze.<br />

Aber er stellt sie literarisch so geschickt in<br />

eine skurrile Umwelt, dass der Leser nicht<br />

nur die Umwelt, sondern auch die religiösen<br />

Praktiken oder Meinungen für absurd halten<br />

muss.<br />

Die Geschichten Lems sind „philosophisch-utopische<br />

Traktate und Fabeln über<br />

das Verhältnis des Menschen zur Technik,<br />

Bagatellen voll abstruser Ideen und Spinnereien,<br />

voller Schalkhaftigkeit und Witz“<br />

(taz vom 29. März 2006, 16). Dabei mag<br />

man es belassen und die Erzählungen mit<br />

mehr oder minder großer Freude lesen. Im<br />

Sinne eines Anstoßes können sie auch eine<br />

Herausforderung für die theologische Forschung<br />

sein. Denn ein ernster Kern liegt<br />

sicher in der den Texten impliziten Aufforderung,<br />

dass sich Theologie auf die Bedingungen<br />

der jeweiligen Zeit und Lebenswelt<br />

einlassen muss. Zeitgenossenschaft im<br />

Sinne der Berücksichtigung von gegenwärtiger<br />

Kultur im Hinblick auf theologische<br />

Fragestellungen und die Kommunikation<br />

theologischer Einsichten in die Gesellschaft<br />

hinein kommt insoweit eine erhöhte Bedeutung<br />

zu, <strong>als</strong> dass die Lebenswelt vieler Menschen<br />

sich in einem stetigen Veränderungsprozess<br />

befindet. Am eindrücklichsten lässt<br />

sich dieser Prozess vielleicht an der technischen<br />

Entwicklung im Bereich elektronischer<br />

Medien festmachen, durch die sich<br />

die Informations- und Kommunikationswelt<br />

radikal gewandelt hat. Aber auch Fortschritte<br />

in der Medizin fordern die theologische<br />

Ethik in einer Weise heraus, wie es<br />

vor einigen Jahrzehnten noch nicht absehbar<br />

war. Stanislaw Lems Geschichten zeigen<br />

eine Kluft auf, die der Autor zwischen einer<br />

für die Zukunft erdachten Kultur und einer<br />

an der Vergangenheit orientierten Haltung<br />

bestimmter Protagonisten erzeugt. Diese<br />

Kluft wird mitunter ins Extreme und Lächerliche<br />

gesteigert, wenn die Protagonisten<br />

die Probleme der Zukunft mit den Mitteln<br />

und Lösungsansätzen einer weit entfernten<br />

Vergangenheit angehen wollen. Die Erzählungen<br />

von Lem können ins Bewusstsein<br />

rücken, dass eine Veränderung der Lebenswelt<br />

durch Technologie auch die Theologie<br />

nicht unberührt lässt. Am einfachsten<br />

lässt sich dies in der Tat auf dem Gebiet der<br />

Medizintechnik zeigen, wo Stichworte wie<br />

Pränataldiagnostik oder Stammzellenforschung<br />

die theologisch-ethische Diskussion<br />

in Gang hält. Etwas hintergründiger, aber<br />

nichts desto trotz sehr wirkmächtig sind Errungenschaften<br />

auf dem Gebiet der Informationstechnologie,<br />

die in mancher Hinsicht<br />

für die Theologie herausfordernd sein<br />

können: Internetdienste wie Google Earth<br />

oder Wikipedia scheinen am Horizont das<br />

Versprechen der Allwissenheit aufleuchten<br />

zu lassen, Auferstehung ist in den virtuellen<br />

Welten der Massive Multiplayer Online Roleplaying<br />

Games wie World of Warcraft und<br />

damit im Erfahrungsbereich vieler Kinder<br />

und Jugendlichen eine Alltagserscheinung<br />

und die Beichte kann heute auch im Internet<br />

abgelegt werden, zumindest nach Meinung<br />

bestimmter Webmaster mit entsprechendem<br />

Angebot. Technologie, so kann<br />

man schließen, hat nicht nur in den entfernten<br />

und phantastischen Zukunftswelten<br />

von Stanislaw Lem theologische Relevanz,<br />

sondern fordert die aktuelle theologische<br />

Forschung heraus keine Kluft zwischen Lebenswelt<br />

und Botschaft entstehen zu lassen.<br />

Zum Weiterlesen<br />

Stanislaw Lem, Sterntagebücher, Frankfurt<br />

am Main 1998<br />

126


Wer ist Maciek?<br />

von Mechthild Barth<br />

In Wartime Lies erzählt Louis Begley von einem jüdischen Jungen, der mit<br />

seiner schönen Tante quer durch Polen vor dem Tod flieht. Verbirgt sich hinter<br />

diesem Roman in Wahrheit eine Autobiographie? Hilft das Versteckspiel mit der<br />

eigenen Vita dem Erinnern? Wie viel Dichtung und wie viel Wahrheit verträgt<br />

Erinnerung?<br />

Louis Begleys erster Roman Wartime Lies<br />

(auf Deutsch unter dem Titel Lügen in Zeiten<br />

des Krieges veröffentlicht) wurde seit seinem<br />

Erscheinen Anfang der 90er Jahre von der<br />

Kritik hoch gelobt und von vielen gelesen.<br />

Das Interesse der Öffentlichkeit galt zum<br />

einen dem Autor, der sich überraschenderweise<br />

<strong>als</strong> ein erfolgreicher, 57-jähriger Anwalt<br />

aus New York entpuppte; zum anderen<br />

stellte sich von Anfang an die Frage, inwieweit<br />

der Roman über den jüdischen Jungen<br />

Maciek, der vor der nation<strong>als</strong>ozialistischen<br />

Verfolgung quer durch Polen flieht, erfunden<br />

war. Denn eigentlich glich er mehr einer<br />

Autobiographie. Wurde diese Geschichte<br />

vielleicht nur <strong>als</strong> Roman ‚getarnt‘?<br />

Gewisse Parallelen zwischen der Kindheit<br />

des Autors und der Macieks sind jedenfalls<br />

äußerlich vorhanden: Louis Begley wurde<br />

<strong>als</strong> Ludwig Beglejter 1933 im dam<strong>als</strong> noch<br />

polnischen Stryj (heute Ukraine) <strong>als</strong> einziger<br />

Sohn eines jüdischen Arztes und seiner<br />

Frau geboren und versteckte sich während<br />

des Zweiten Weltkriegs gemeinsam mit<br />

der Mutter an verschiedenen Orten in Polen.<br />

Maciek hingegen – ebenfalls Sohn eines<br />

Arztes – begibt sich zusammen mit seiner<br />

einfallsreichen und schönen Tante Tania auf<br />

die Flucht vor dem Tod.<br />

Auch im Roman selbst stellt sich gleich<br />

zu Beginn die Frage nach der Identität der<br />

Hauptfiguren, denn die Kindheit Macieks<br />

wird in einer Vorgeschichte mehr <strong>als</strong> vierzig<br />

Jahren später von einem Mann um die<br />

fünfzig erinnert (<strong>als</strong>o mehr oder weniger<br />

demselben Alter wie Begley). Er bleibt im<br />

Grunde inkognito, seine äußeren Umstände<br />

werden nur angedeutet. Das Versteckspiel,<br />

das der Junge gemeinsam mit seiner Tante<br />

betreiben muss, um zu überleben, scheint<br />

auch dieser Mann, von dem wir nicht einmal<br />

den Namen erfahren, noch weiterzuführen.<br />

So sind von Anfang an die Parallelen<br />

zwischen ihm und dem Jungen Maciek<br />

verschwommen gelassen: „He thinks on the<br />

story of the child that became such a man.<br />

For the sake of an old song, he calls the child<br />

Maciek.“<br />

Noch wichtiger <strong>als</strong> die Frage nach Autenthizität<br />

scheinen mir allerdings die Fragen<br />

nach Identität und Erinnerung zu sein, die<br />

sich durch das Verschleiern der Geschichte<br />

und ihrer inneren Zusammenhänge stellen:<br />

Zu welcher Identität kann ein Heranwachsender<br />

gelangen, wenn er eben diese leugnen<br />

muss, um zu überleben? Hilft das Verfremden,<br />

das Literarisieren der eigenen Vita, unerträgliche<br />

Erinnerungen – zumindest auf<br />

Papier – zu bannen? Schreibt man auch gegen<br />

das Vergessen an, wenn man eine fiktive<br />

127


Variante möglichen (Über-)Lebens erzählt,<br />

hinter der sich vielleicht die tatsächlich<br />

stattgefundene Geschichte verborgen hält?<br />

Bereits der Titel Wartime Lies weist auf<br />

die Thematik von Begleys Romans hin.<br />

Maciek und seine Tante überstehen den<br />

Holocaust nur mit Hilfe eines Rollenwechsels:<br />

Aus den galizischen Juden werden polnische<br />

Katholiken. Die beiden fliehen von<br />

Versteck zu Versteck, wobei das ständige<br />

Verstellen zur wichtigsten Überlebensstrategie<br />

wird. Im Alter zwischen sechs und elf<br />

durchläuft der Junge, der die Geschichte<br />

aus seiner Perspektive erzählt, eine höchst<br />

eigentümliche Schule des Lebens, die dem<br />

Ideal, wie es in klassischen Bildungsromanen<br />

oder auch in traditionellen, dem Humanismus<br />

verpflichteten Autobiographien<br />

vertreten wird, geradezu ins Gesicht schlägt:<br />

Um des nackten Überlebens Willen wird er<br />

strikt dazu angehalten, ein f<strong>als</strong>ches Spiel zu<br />

treiben und unbedingt seine wahre Identität<br />

zu verbergen und zu leugnen. Macieks prägende<br />

Erfahrung wird die der Verstellung<br />

und der Täuschung, und so gestaltet sich<br />

seine Entwicklung von einem unbedarften<br />

Kind zu einem perfekten Lügner.<br />

Dieses Versteckspiel setzt der namenlose<br />

Mann auch Jahrzehnte später noch<br />

fort. Seine Kindheit kann nur <strong>als</strong> „the stuff<br />

of nightmares“ beschrieben werden, und<br />

dementsprechend ist seine Verbindung zur<br />

Vergangenheit eine ausgesprochen ambivalente,<br />

die es ihm unmöglich macht, seine<br />

Geschichte ohne eine fiktionale Brechung<br />

zu erzählen. Die Fiktionalisierung des eigenen<br />

Lebens – mag sie nun <strong>als</strong> Kunstgriff<br />

innerhalb des Romans geschehen oder <strong>als</strong><br />

Verfremdung der Autobiographie – ermöglicht<br />

es dem Erzählenden, sich der inneren<br />

Wahrheit zu nähern, selbst wenn die äußeren<br />

Ereignisse dabei abgeändert werden. So<br />

berichtet das Kind Maciek in der Hauptgeschichte<br />

über ein Leben, welches das des<br />

Mannes der Rahmenhandlung, aber auch<br />

das des Autors sein könnte, jedoch genau so<br />

nicht stattgefunden haben muss.<br />

Gleichzeitig spiegelt sich in dieser Fiktionalisierung<br />

beziehungsweise Verschleierung<br />

der eigenen Geschichte auf Romanebene<br />

die prägende Welterfahrung des Kindes wider,<br />

das nur zu überleben vermag, wenn es<br />

sich selbst verleugnet. Zwar versucht Tania<br />

durchaus, ihrem Neffen ein Bewusstsein<br />

für seine Herkunft zu vermitteln, indem sie<br />

ihn heimlich in den jüdischen Glauben einführt,<br />

während er offiziell auf die Erstkommunion<br />

vorbereitet wird, doch letztendlich<br />

ist es die Perfektionierung der Täuschung,<br />

die Maciek am stärksten formt. Seine gesamte<br />

Existenz verdankt er einer Lüge, und<br />

so wundert es nicht, dass auch der Mann der<br />

Vorgeschichte, der wohl ebenfalls eine von<br />

Gefahr und Vernichtung geprägte Kindheit<br />

erleben musste, seine Identität nicht entblößen<br />

möchte oder diese vielleicht nicht einmal<br />

wirklich nennen könnte.<br />

Zudem wirft die Thematik und die damit<br />

verknüpfte erzählerische Konstruktion<br />

von Wartime Lies ein anderes Licht auf eine<br />

grundsätzliche Problematik beim Schreiben<br />

über die Shoa. In den ersten Jahrzehnten<br />

nach dem Ende des Nation<strong>als</strong>ozialismus<br />

war es das Bedürfnis nach einem<br />

faktentreuen Zeugnis der Überlebenden,<br />

das viele Schreibende veranlasste, eine<br />

möglichst exakte Wiedergabe ihrer Erlebnisse<br />

anzustreben. Gerade in der Literatur<br />

über den Holocaust sind res factae und res<br />

fictae lange <strong>als</strong> unversöhnbare Opponenten<br />

betrachtet worden – eine Haltung, die sich<br />

im Grunde erst seit Beginn der 90er Jahre<br />

allmählich verändert hat. Nicht die empirische<br />

Wahrheit ist heutzutage mehr das<br />

ausschließliche Kriterium, das hier anzulegen<br />

ist, sondern vielmehr wird die Fiktion<br />

<strong>als</strong> Bestandteil der Wahrheit angesehen, die<br />

jeder einzelnen Version innewohnt. Gerade<br />

in der Fiktionalisierung lässt sich eine Form<br />

finden, die sowohl die Schwierigkeit von<br />

„Dichtung und Wahrheit“ beim autobiographischen<br />

Schreiben zum Ausdruck <strong>als</strong><br />

auch eine individuelle Traumatisierung zu<br />

einer allgemeinen Darstellung bringt und<br />

dadurch eine weitere Tür zum Verständnis<br />

einer solchen Erfahrung öffnet.<br />

Das Schreiben über die Shoa findet mehrere<br />

Jahrzehnte danach unter anderen Vorzeichen<br />

statt, wie man das auch deutlich<br />

bei Begley erkennen kann, dessen Wartime<br />

Lies teilweise sogar an einen Abenteuerroman<br />

erinnert. Heutzutage, wo die Fakten<br />

über den Holocaust mehr oder weniger be-<br />

128


kannt zu sein scheinen, kann das Bekannte<br />

auf eine irritierende Weise neu erzählt werden,<br />

<strong>als</strong> wäre es das erste Mal. Werke wie<br />

Ruth Klügers weiter leben, Sarah Kofmans<br />

Rue Ordener. Rue Labat oder Art Spiegelmans<br />

Comic Maus zeigen deutlich, dass<br />

nicht mehr so sehr eine Wertung der Geschehnisse<br />

im Vordergrund steht <strong>als</strong> vielmehr<br />

die Einflüsse auf das Individuum, das<br />

subjektive Erfahren.<br />

Ein Roman wie Wartime Lies, der die<br />

Geschichte eines Überlebens erzählt und<br />

die Auswirkungen dieses Überlebens auf<br />

das Individuum nicht nur schildert, sondern<br />

eben auch narrativ darstellt, ermöglicht<br />

eine neue Perspektive auf ein in unserer<br />

Kultur inzwischen tief verankertes Weltwissen.<br />

Diese neue Sicht lässt uns fragen, wie<br />

wir mit solchen zentralen Gedächtnisorten<br />

wie dem Trauma der Shoa in unserer Zeit<br />

umgehen sollen. Ähnlich wie die so lange<br />

andauernde Diskussion um das Holocaust-<br />

Denkmal in Berlin sind Werke wie Wartime<br />

Lies, Imre Kertész’ Roman eines Schicksallosen<br />

oder Roberto Benignis Film Das Leben<br />

ist schön von größter gesellschaftlicher Relevanz.<br />

Denn sie lassen uns unter anderem<br />

darüber nachdenken, wie die Erinnerung an<br />

die Shoa weitergegeben werden soll und befähigen<br />

den Leser oder Zuschauer dazu, auf<br />

bekannte, ja vertraute Themen einen neuen,<br />

unverbrauchten Blick zu werfen und somit<br />

zu einem anderen Umgang mit ihnen zu gelangen.<br />

narrativen Inszenierung, wie stark die historische<br />

Erfahrung von Verfolgung und Vernichtung<br />

noch in unser Jetzt hineinreicht<br />

und es prägt.<br />

Literatur<br />

Louis Begley: Wartime Lies. New York:<br />

Knopf 1991.<br />

Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen.<br />

Berlin: Rowohlt 1994.<br />

Ruth Klüger: weiter leben. Eine Jugend.<br />

Göttingen: Wallstein 1992.<br />

Sarah Kofman: Rue Ordener. Rue Labat.<br />

Autobiographisches Fragment. Tübingen:<br />

edition diskord 1995.<br />

Art Spiegelman: Maus. A Survivor‘s Tale.<br />

New York: Pantheon Books 1986.<br />

Die Frage nach der Identität des Kindes<br />

Maciek wird im Roman Begleys am Ende<br />

negativ beantwortet. Der Verlust der Kindheit<br />

führt auch zu einem Verlust des Selbst,<br />

da das Kind niem<strong>als</strong> die Möglichkeit erhalten<br />

hat, das zu sein, was es war: „And where<br />

is Maciek now? He became an embarrassment<br />

and slowly died.“ Der pessimistische<br />

Schluss straft die abenteuerlich anmutende<br />

escape story Lügen, da sie sich auf die dargestellte<br />

Weise letztendlich doch nur <strong>als</strong><br />

das Konstrukt des namenlosen Mannes herausstellt,<br />

der aufgrund seiner Erlebnisse in<br />

der Kindheit seine wahre Identität nicht zu<br />

enthüllen vermag und dem Holocaust auch<br />

<strong>als</strong> Erwachsener nicht entkommt. Dennoch<br />

schreibt auch er beziehungsweise der Autor<br />

mit dieser fiktiven Erinnerung gegen das<br />

Vergessen an und verdeutlicht mit seiner<br />

129


Witold Gombrowicz und der Antiroman<br />

von Maria Karger<br />

Wer war Witold Gombrowicz?<br />

Witold Gombrowicz stammte aus<br />

kleinem polnischem Landadel. Am 04. August<br />

1904 in Małoszyce geboren wuchs er in<br />

einer Umgebung auf, in der sehr viel Wert<br />

auf Tradition, Manieren, eben Form gelegt<br />

wurde. Provinziell und katholisch, adelig<br />

und polnisch, so wurde Gombrowicz erzogen<br />

– in einer Familie, in der sich seine<br />

Brüder noch duellierten, wenn jemand sie<br />

zu scharf fixiert hatte, in der die Eltern zu<br />

siezen waren und Mahlzeiten nach einem<br />

althergebrachten Zeremoniell eingenommen<br />

wurden. Das Hauptmotiv von Gombrowicz’<br />

Gesamtwerk – die Rebellion gegen<br />

Formen in jeder Hinsicht, sein Plädieren für<br />

das Ungeformte, Unfertige, Unreife – fußt<br />

nach seiner eigenen Aussage auch auf den<br />

Erfahrungen seiner Kindheit und Jugend:<br />

dem immerwährenden Sich-Aufreiben an<br />

Regeln und Riten.<br />

Den Erwartungen seiner Familie entsprechend<br />

studierte Gombrowicz in Warschau<br />

Rechtswissenschaften und arbeitete einige<br />

Jahre <strong>als</strong> Jurist. Das gab er jedoch auf, nachdem<br />

1933 sein erstes Buch Pamiętnik z okresu<br />

dojrzewania (dt.: Memoiren aus der Epoche<br />

des Reifens) erschien – allerdings nicht etwa<br />

deshalb, weil der Erzählband ein großer Erfolg<br />

gewesen wäre. Die Kritiker hielten das<br />

Werk für ebenso unfertig und unreif wie seinen<br />

Autor.<br />

Mit seinem nächsten Roman (bzw. Anti-<br />

Roman) Ferdydurke (1938) feiert Gombrowicz<br />

zwar auch keine großen Erfolge – er<br />

bleibt nach wie vor umstritten. Doch gilt<br />

er immerhin <strong>als</strong> junger und viel versprechender<br />

Nachwuchsliterat und erhält <strong>als</strong><br />

solcher eine Freikarte für eine Jungfernfahrt<br />

auf einem Passagierschiff. Abenteuerlustig<br />

tritt er die Reise ins ferne Buenos Aires an.<br />

Als aber kurz nach seiner Ankunft in Europa<br />

der zweite Weltkrieg ausbricht, verlängert<br />

Gombrowicz seinen Aufenthalt am Rio de<br />

la Plata – um ganze 24 Jahre. Um seinen Lebensunterhalt<br />

zu bestreiten, nimmt er eine<br />

Tätigkeit <strong>als</strong> Bankangestellter in der Banco<br />

Polacco auf, in seiner Freizeit verkehrt er mit<br />

jungen und unbekannten Künstlern in Bars<br />

und Cafes, spielt Schach und diskutiert.<br />

Vom europäischen Kulturbetrieb, wo er sich<br />

so gern profiliert hätte, bleibt er allerdings<br />

ausgeschlossen. Damit jemand von seinen<br />

Gedanken und Theorien Kenntnis nähme,<br />

publiziert Gombrowicz monatlich sein Dziennik<br />

(dt.: Tagebuch) in der polnischen Exilantenzeitschrift<br />

„Kultura“. Nach Meinung<br />

seiner Kritiker ist Dziennik Gombrowicz’<br />

vielschichtigstes, sprachgewaltigstes und bedeutendstes<br />

Werk. (Es geht dabei auch nicht<br />

wie in einem klassischen Tagebuch um stille<br />

Selbstergründung oder intime Geständnisse<br />

– man muss sich eher einen vielstimmigen<br />

Erzählerchor vorstellen, der den Leser direkt<br />

anspricht und alle inneren Widersprüche<br />

des Autors plastisch entwickelt.)<br />

Erst 1963 nimmt Gombrowicz eine Gelegenheit<br />

wahr, wieder nach Europa zurückzukehren:<br />

Mit einem Stipendium der<br />

Ford Foundation lebt er ein Jahr in West-<br />

Berlin; <strong>als</strong> das ausläuft, zieht er nach Südfrankreich,<br />

wo er 1969 an den Folgen seines<br />

Asthmas stirbt. Nach Polen ist er nie mehr<br />

zurück gekehrt.<br />

130


Worum ging es Witold Gombrowicz<br />

und wie setzte er es um?<br />

Eine Grundaussage durchzieht Gombrowicz’<br />

gesamtes schriftstellerisches Schaffen<br />

– und zwar inhaltlich ebenso wie auch in<br />

Sprache und Werkform: „Unser Lebenselement<br />

ist die ewige Unreife.“<br />

Mit Unreife meint Gombrowicz das<br />

Recht auf Individualität und geistige Freiheit,<br />

jenseits der „reifen Formen des Lebens“.<br />

Denn der Mensch, so Gombrowicz,<br />

besitze keinen eigenen ursprünglichen<br />

harten Persönlichkeitskern, keine dauerhafte<br />

Form – er ist per se <strong>als</strong>o unreif, unförmig.<br />

Andererseits ist er aber für seine<br />

Existenz und für sein Bewusstsein darauf<br />

angewiesen, eine „Form“ zu haben und<br />

nicht „a-morph“ dahinzutreiben. Zu dieser<br />

Form aber kann der Mensch nur im Umgang<br />

mit anderen Subjekten kommen, die<br />

ihn definieren, ihn formen, ihm „eine Fresse<br />

machen“. Erst im Umgang mit und in<br />

Abgrenzung zu anderen wird der Mensch<br />

jung oder alt, schön oder hässlich, klug oder<br />

dumm. Form ist für Gombrowicz <strong>als</strong>o die<br />

Kultur, das heißt Verhaltensnormen, Moral,<br />

Religion, Ideologie, aber auch Sprache,<br />

Kunst oder Liebe und die künstlerischen –<br />

vor allem literarischen – Konventionen. Die<br />

Unform hingegen ist das Freie, Natürliche,<br />

Ungestaltete im Menschen, das durch die<br />

äußeren Formen permanent eingeengt und<br />

angegriffen wird.<br />

Es geht <strong>als</strong>o immer um Polarität, um<br />

Form gegen Unform, um Reife gegen Unreife.<br />

Wie Gombrowicz diese Gegensätzlichkeit<br />

in seinen Werken zum Ausdruck<br />

gebracht hat, versteht man vielleicht am<br />

besten, wenn man ihn in Kontrast setzt<br />

zu einem anderen großen Schriftsteller des<br />

20. Jahrhunderts: Thomas Mann. Auch bei<br />

Thomas Mann war die Feder seines schriftstellerischen<br />

Schaffens die Polarität, insbesondere<br />

der permanente Kampf von Natur<br />

und Kultur. Thomas Mann reagiert darauf,<br />

indem er – ironischerweise – die Form selbst<br />

<strong>als</strong> Stilmittel aufbietet, <strong>als</strong> „Schutzwehr“ im<br />

Kampf gegen die Mächte des Chaos.<br />

Gombrowicz hingegen macht es ganz<br />

anders: Die Auseinandersetzung, die Abrechnung<br />

mit Zwängen und Konventionen<br />

vollzieht er nicht allein inhaltlich, nein: er<br />

bricht auch mit den Formen und den Konventionen<br />

der Darstellung selbst, er sprengt<br />

sie geradezu, indem er sprachlich und gestalterisch<br />

und damit den Eindruck von<br />

Groteske erzeugt).<br />

Das zeigt sich zum Beispiel an Ferdydurke,<br />

jenem großen Roman, der in Wahrheit<br />

ein Anti-Roman ist, ein Brechen mit der<br />

literarischen Gattung Roman, die Gombrowicz<br />

wie alle literarischen Kategorien<br />

aufgrund ihrer Formenstrenge für steril,<br />

versnobt und unehrlich gegenüber der Realität<br />

hält.<br />

Kennzeichnend dafür ist schon der Titel<br />

Ferdydurke, der nicht das Geringste mit<br />

dem Werk zu tun hat – ein Unsinnswort<br />

und nicht wie sonst bei einem Romantitel<br />

ein Name, ein Symbol oder ein Schlüsselbegriff<br />

für seinen Inhalt.<br />

An der Geschichte des Protagonisten Józio<br />

zeigt Gombrowicz dann, was er meint,<br />

wenn er sagt, dass erst die Gesellschaft den<br />

Menschen die „Fressen macht“. Eine „Fresse“<br />

(poln. geba) ist in der Sprache Gombrowicz’<br />

jene Maske, die den Menschen von<br />

den anderen übergestülpt wird. In Ferdydurke<br />

wird Józio, ein polnischer Schriftsteller<br />

von 30 Jahren, von den Kritikern für<br />

sein erstes Werk verrissen; man hält ihn für<br />

ebenso unreif und unausgegoren wie seine<br />

Texte (Biographische Parallelen zu Gombrowicz<br />

drängen sich auf!). Weil nun die<br />

Kritiker ihn für einen jungen und unbedarften<br />

Jüngling halten, bekommt er auch<br />

genau diese „Fresse“ aufgesetzt; im Buch<br />

wird diese Entwicklung aber völlig überspitzt<br />

und grotesk weitergeführt: Ein Herr<br />

Professor Pimko kommt Józio zu Hause besuchen<br />

und schleppt ihn fort, in ein Provinzgymnasium.<br />

Der Schriftsteller, der sich<br />

seines Alters und bereits abgeschlossenen<br />

Hochschulstudiums ja bewusst ist, versucht<br />

sich zu wehren, aber zu seinem Entsetzen<br />

stellt er fest, dass sich seine Stimme<br />

verändert, dass seine Hände zu Händchen<br />

und sein Kopf zu einem Köpfchen werden.<br />

Und aus seinem anfangs noch energischen<br />

Widerstand wird ein widerwillig gemachter<br />

Kratzfuß gegenüber dem Herrn Professor.<br />

131


Vor allem: Weder Lehrer noch Mitschüler<br />

an seinem neuen Wirkungsort erkennen<br />

sein wahres Alter: Als Kind betrachtet wird<br />

Józio schließlich wirklich zum Kind. Man<br />

hat ihm eine „Fresse gemacht“. Und wie jede<br />

„Fresse“ formt sie den Menschen um, verändert<br />

ihn auch in tiefsten Inneren. Józio wird<br />

seinem Äußeren entsprechend auch in seinem<br />

Wesen „infantilisiert“.<br />

Józio wird auch „verliebt gemacht“ und<br />

zwar in Sutka, die Tochter seiner Wirtsfamilie,<br />

bei der er <strong>als</strong> frisch gebackener Gymnasiast<br />

unterkommt. Er verliebt sich <strong>als</strong>o<br />

nicht aus freien Stücken und Gombrowicz<br />

illustriert damit seine höchst irritierende<br />

These, niemand könne sich ohne den<br />

Einfluss Dritter verlieben. Der eigene Enthusiasmus<br />

(auch für künstlerische Schönheit,<br />

für Musik oder Landschaften) erwächst<br />

nur in Interaktion mit der Begeisterung<br />

anderer. Denn das eigene ICH, das<br />

in sich selbst gründende Individuum, gibt es<br />

nicht und kann es nicht geben und kann daher<br />

auch keine Entscheidungen treffen.<br />

Sogar sich selbst (<strong>als</strong> schaffender Schriftsteller)<br />

sieht Gombrowicz <strong>als</strong> Opfer externer<br />

Formungsprozesse. In seinem Tagbuch notiert<br />

er, dass er seine Bücher „in der Angst<br />

vor der Kritik (…), im Hass gegen die Kritik<br />

und in der Begierde, der Kritik zu entgehen“<br />

schreibe.<br />

Nicht einmal der Sprache, seinem ureigenen<br />

Ausdrucksmittel traut Gombrowicz. Sie<br />

ist für ihn bereits eine das Individuum vergewaltigende<br />

Form, die in Wahrheit nicht<br />

dazu dient, die Wirklichkeit zu beschreiben,<br />

sondern die vielmehr die zu beschreibenden<br />

Erfahrungen überhaupt erst wesentlich konstituiert:<br />

Denn Wahrnehmung kann nicht<br />

„authentisch“ sein, sie wird immer durch die<br />

sprachliche Fähigkeit des Wahrnehmenden<br />

geprägt. Man versteht nicht, was man nicht<br />

benennen kann, und man versteht es auch<br />

nur so, wie man es benennen kann. Deshalb<br />

kann auch er <strong>als</strong> Schriftsteller nicht „frei<br />

schaffen“; notwendigerweise vordefiniert<br />

und von Konventionen geprägt sind seine<br />

künstlerischen Äußerungen durch den jeweiligen<br />

Gattungsrahmen<br />

„Jeder sagt nicht, was er sagen will, sondern<br />

was sich schickt. Die Worte vereinigen<br />

sich verräterisch hinter dem Rücken,<br />

und nicht wir sagen die Worte, sondern die<br />

Worte sagen uns (…)!“ lässt Gombrowicz<br />

die Hauptfigur Hendrik in „Die Trauung“<br />

sagen.<br />

Zugegeben – Gombrowicz’ mehr oder<br />

weniger existentialistische Theorien sind aus<br />

heutiger Sicht wenig originell (wobei er sie<br />

allerdings 20 Jahre vor ihrem Durchbruch<br />

in Philosophie und Soziologie formulierte).<br />

Sein Verdienst liegt vielmehr darin, dass<br />

es ihm gelungen ist, seine Ideen in lebendige,<br />

zugleich sehr intensive und vor allem<br />

auch lustige und lesbare künstlerische Texte<br />

umzusetzen.<br />

Wie wurde und wird<br />

Witold Gombrowicz rezipiert?<br />

Gombrowicz zehrte zu Lebzeiten wenig<br />

von seinem schriftstellerischem Ruhm. Vor<br />

der Emigration war er allenfalls umstritten,<br />

später nur wenig beachtet. In Polen sind seine<br />

Bücher wegen seiner unverhohlenen Kritik<br />

an der nationalen Tradition viele Jahre<br />

verboten.<br />

Erst in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts<br />

gelangte Gombrowicz zu Weltruhm.<br />

Seine Theaterstücke wurden nach<br />

Jahrzehnten uraufgeführt, seine Prosa, vor<br />

allem seine Tagebücher wurden beklatscht.<br />

Die größten Erfolge feiert Gombrowicz zu<br />

dieser Zeit in Frankreich und Deutschland.<br />

1968 wurde Gombrowicz sogar für den Literaturnobelpreis<br />

vorgeschlagen.<br />

In Polen, wo die Werke Gombrowicz’<br />

bis 1989 nicht bzw. nur eingeschränkt veröffentlicht<br />

werden durften, hat er in den<br />

letzten Jahren ein immer größer werdendes<br />

Publikum gefunden. Ferdydurke ist heute<br />

eine verbreitete Schullektüre; seine Theaterstücke<br />

sind klassisches Repertoire an polnischen<br />

Bühnen.<br />

Anlässlich des 100. Geburtstags des<br />

Schriftstellers ist das Jahr 2004 sogar vom<br />

Sejm (dem polnischen Parlament) zum Witold-Gombrowicz-Jahr<br />

ausgerufen worden.<br />

132


Die wichtigsten Werke von Witold Gombrowicz<br />

Erzählungen<br />

Pamiętnik z okresu dojrzewania (Memoiren aus der Epoche des Reifens) (1933)<br />

Bakakaj (dt. Bacacay) (1957) (zweite, verbesserte und ergänzte um zwei neuen Erzählungen<br />

Ausgabe von Memoiren aus der Epoche des Reifens)<br />

Romane<br />

Ferdydurke (1938)<br />

Opętani (dt. Die Besessenen) (1939)<br />

Trans-Atlantyk (1953)<br />

Pornografia (dt. Verführung) (1960)<br />

Kosmos (dt. Indizien) (1965)<br />

Theaterstücke<br />

Ślub (dt. Die Trauung) (1953)<br />

Iwona Księżniczka Burgunda (dt. Yvonne, die Burgunderprinzessin) (1958)<br />

Operetka (dt. Operette) (1966)<br />

Andere Schriften<br />

Dziennik (dt. Tagebuch) (1953-1956)<br />

Dziennik (s.o.) (1957-1961)<br />

Dziennik (s.o.) (1961-1966)<br />

Testament, Entretiens avec Dominique de Roux (dt. Eine Art testament) (1969)<br />

Wędrówki po Argentynie (dt. ArgentinischeWanderungen und andere Schriften) (1977)<br />

133


„Wie leben?“<br />

Zur Bedeutung und Ethik des Erinnerns bei<br />

Cesław Miłosz und Wisława Symborska<br />

von Monika Mann<br />

Einige ausgewählte Stellungnahmen der Literaturnobelpreisträger Cesław<br />

Miłosz und Wisława Symborska bieten sich an, im Erinnerungsdiskurs verortet<br />

zu werden. Dabei fällt auf, dass sich beide in ihrer Einschätzung der Bedeutung<br />

der Erinnerung unterschiedlich positionieren. Aufgrund ihrer Aussagen<br />

wird außerdem die Frage zu beantworten versucht, wie der ethische Auftrag<br />

und die Notwendigkeit der Erinnerung gelebt werden können, angesichts der<br />

so subjektiven und ideologiegefährdeten Struktur individuellen wie kollektiven<br />

Erinnerns.<br />

„Zu den geistigen Entdeckungen und<br />

literarischen Überraschungen der zweiten<br />

Hälfte unseres Jahrhunderts gehört zweifelsohne<br />

[…] vor allem die polnische Poesie,<br />

die seit jeher der wertvollste und wirkungsvollste<br />

Teil der polnischen Literatur<br />

war und ist. Sie brach über uns herein mit<br />

dem ganzen Gewicht der in ihr angestauten<br />

moralischen und historischen Auseinandersetzungen:<br />

zwischen Zwang und Freiheit,<br />

zwischen Ost und West, zwischen Vergangenheit<br />

und Zukunft.“ So äußert sich Karl<br />

Dedecius, der Übersetzer vieler polnischer<br />

Autoren und der Vermittler der polnischen<br />

Literatur in Deutschland, über die polnische<br />

Lyrik des vergangenen Jahrhunderts.<br />

Zwei Autoren prägten die Lyrik des 20.<br />

Jahrhunderts in besonderem Maße: Cesław<br />

Miłosz und Wisława Symborska. Beide sind<br />

für die kulturelle Identität Polens von großer<br />

Bedeutung und gelten <strong>als</strong> international<br />

renommierte Dichter. Sie gewannen neben<br />

zahlreichen anderen internationalen Preisen<br />

den Nobelpreis für Literatur: Miłosz im<br />

Jahr 1980 und Szymborska im Jahr 1996. Da<br />

mir aufgrund fehlender Kenntnisse der polnischen<br />

Sprache ihre Texte nur in den deutschen<br />

Übersetzungen zugänglich sind, verbietet<br />

sich für mich eine direkte sprachliche<br />

Analyse ihres lyrischen Schaffens. So nehme<br />

ich das Thema des Doktorandenkolloquiums<br />

zum Anlass, ihr Werk und ihr Selbstverständnis<br />

<strong>als</strong> polnische Dichter nach ihrer<br />

Rolle <strong>als</strong> Dichter „zwischen Vergangenheit<br />

und Zukunft“ zu befragen.<br />

Damit steht die Frage nach der Bedeutung<br />

der Erinnerung der Geschichte im Zentrum<br />

dieses Essays. Geschichte entsteht<br />

durch individuelles wie kollektives Erinnern.<br />

Die Merkmale individueller Erinnerung<br />

sind nach Aleida Assmann die der subjektiven<br />

Perspektivität, der Fragmentarität<br />

und der Labilität. Erst in den Medien der<br />

Sprache, der Schrift und des Bildes können<br />

sie gemeinschaftsbildend wirken, identitätsstiftend<br />

sein, willentlich gebildet werden<br />

und in Mythen und Erzählungen und anderen<br />

kulturellen Formen symbolisch materialisiert<br />

werden. Doch auch im kollek-<br />

134


tiven Gedächtnis kann keine Objektivität<br />

erreicht werden: Es bleibt perspektivisch<br />

und beruht auf dem Prinzip der Auswahl,<br />

das heißt, dass das Vergessen für das kulturelle<br />

Gedächtnis einen konstitutiven Teil<br />

bildet. Die Dringlichkeit der Frage, wie die<br />

Grauen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts<br />

erinnert werden können, damit sie<br />

sich nicht wiederholen, motiviert und prägt<br />

den Erinnerungsdiskurs der letzten Jahre<br />

in besonderer Weise. „Im Falle einer traumatisierten<br />

Erinnerung wie der der Überlebenden<br />

des Holocaust ist die Maxime von<br />

der heilenden Kraft des Vergessens […] der<br />

ethischen Forderung der gemeinsamen Erinnerung<br />

gewichen“ schreibt Aleida Assmann.<br />

Doch wie kann dieser ethischen Forderung<br />

nachgegangen werden, eingedenk<br />

der eben beschriebenen unzuverlässigen<br />

Struktur des individuellen und kollektiven<br />

Erinnerns? Konstruktionen individuellen<br />

und kollektiven Gedenkens bedürfen der<br />

kritischen Reflexion und einer transkulturellen<br />

Beobachterperspektive. Gerade die<br />

identitätsstiftenden Speicherungs- und Filterungsvorgänge<br />

kollektiven Erinnerns unterliegen<br />

der Gefahr der Instrumentalisierung<br />

und ideologischen Prägung. Aleida<br />

Assmann spricht hierbei gerade der künstlerischen,<br />

individuellen Reflexion die Kraft<br />

zu, die Raster kollektiven Gedenkens aufzubrechen<br />

und Horizonte zu verschieben.<br />

„Insbesondere die individuelle, aber verallgemeinerbare<br />

künstlerische Schöpfung hat<br />

einen wichtigen Anteil an der Erneuerung<br />

des Gedächtnisses, indem sie die fest gezogene<br />

Grenze zwischen dem Erinnerten<br />

und Vergessenen infrage stellt und durch<br />

überraschende Gestaltung immer wieder<br />

verschiebt.“ Innerhalb dieses Erinnerungsdiskurses<br />

sollen so nun zwei künstlerischdichterische<br />

Positionen von Miłosz und<br />

Symborska skizziert werden, wie sie aus ihren<br />

Nobelpreisreden und Ausschnitten ihres<br />

lyrischen Werks deutlich werden. Es können<br />

nur einige wenige Texte berücksichtigt werden;<br />

insofern ist die folgende Darstellung<br />

keine umfassende Verortung ihrer Standpunkte<br />

und nicht mehr <strong>als</strong> ein Schlaglicht<br />

auf einige Äußerungen der Dichter.<br />

Durch Erinnerung werden Biographien<br />

und Identitäten geschaffen, und so sollen<br />

nun zunächst einige Lebensstationen der<br />

beiden Künstler kurz vorgestellt werden.<br />

Miłosz und Symborska haben den Dichterstatus<br />

und die nationale wie internationale<br />

Anerkennung gemeinsam. Im Blick auf ihre<br />

Lebensgeschichte fallen aber sehr schnell<br />

ihre völlig unterschiedlichen Lebensrealitäten<br />

auf: Miłosz Biographie erscheint sehr<br />

bewegt und von den zeitgeschichtlichen Ereignissen<br />

geprägt. Er wurde in Seteiniai in<br />

Litauen geboren und verbrachte seine Jugend<br />

und Studienzeit in Wilna, das dam<strong>als</strong><br />

zu Polen gehörte und das vor dem Holocaust<br />

<strong>als</strong> „Jerusalem des Nordens“ galt. Wilna war<br />

ein Ort, der von Litauern, Polen, Juden und<br />

Weißrussen gleichermaßen geprägt wurde<br />

und an dem unterschiedlichste kulturelle<br />

Traditionen nebeneinander lebten. Zu seiner<br />

eigenen Identität äußerte sich Miłosz in<br />

seiner Nobelpreisrede: „My family already<br />

in the Sixteenth Century spoke Polish […],<br />

so I am a Polish, not a Lithuanian, poet. But<br />

the landscapes and perhaps the spirits of Lithuania<br />

have never abandoned me.“ Eine<br />

solche polnisch-litauische Identität ist auch<br />

ein Produkt seiner Phantasie, wie er <strong>als</strong> späterer<br />

Exilant selber von sich sagt: „Durch<br />

die Entfernung werde ich dazu verleitet, mir<br />

in meiner Phantasie eine Heimat zu schaffen,<br />

die in der Geschichte liegt. Wo immer<br />

ich mich auf Erden bewege, trage ich sie<br />

mit mir wie eine Schnecke ihr Haus.“ Seine<br />

Erinnerung an seine Herkunft ist somit<br />

durchaus nostalgisch geprägt. Der Anfang<br />

seiner dichterischen Karriere liegt in Wilna.<br />

Dort bildete sich in den dreißiger Jahren<br />

eine dichterische Avantgarde, die Literatengruppe<br />

„Zagary“ („Fackelträger“), die<br />

gegen die Krakauer, optimistischere Avantgarde<br />

gerichtet war, und die Miłosz mitbegründete.<br />

Apokalyptische Visionen prägten<br />

diese Dichtung, die auf spätere, grausame<br />

historische Realitäten hinzuweisen scheinen.<br />

Im Zentrum standen die politische<br />

und soziale Realität, kein ästhetischer Formalismus.<br />

Nach dem Krieg war er Diplomat<br />

der Volksrepublik Polen in New York,<br />

Washington und Paris, bis er im Jahr 1951<br />

mit der Regierung brach und in den Westen<br />

ging. Er verbrachte einen Großteil seines<br />

Lebens im französischen und amerikanischen<br />

Exil und wurde 1961 Professor für<br />

Slawistik an der Universität Berkeley, bis er<br />

nach dem Ende des Kommunismus nach<br />

Polen zurückkehrte und von da an in Kra-<br />

135


kau lebte. Er starb im Jahr 2004 in Krakau.<br />

Seine Dichtung ist stark von einem humanistischen<br />

Geist geprägt. Lyrik ist nur dann<br />

sinnvoll, wenn sie im Dienst des Menschen<br />

steht: „Was ist Poesie, die weder Völker /<br />

Noch Menschen rettet?“ schreibt er 1945.<br />

Der Holocaust und der zweite Weltkrieg sowie<br />

das Schicksal Polens prägen sein Werk<br />

und sein Verständnis von der Aufgabe der<br />

Literatur in ganz besonderer Weise. Die<br />

Geschichte und ihre Erinnerung stehen im<br />

Zentrum seiner Aufmerksamkeit.<br />

Szymborska dagegen, geboren in Kornik<br />

bei Posen, studierte Polonistik und Soziologie<br />

in Krakau und lebt seitdem in dieser<br />

Stadt ein stilles und zurückgezogenes Leben<br />

<strong>als</strong> Schriftstellerin<br />

und Rezensentin. Sie<br />

stellte ihr Frühwerk in<br />

den Dienst des sozialistischen<br />

Realismus, von<br />

dem sie sich aber später<br />

distanzierte. Ihr Werk<br />

ist geprägt von unmit-<br />

Wolken<br />

Mit der Beschreibung der Wolken<br />

müßt ich mich eilen –<br />

schon im Bruchteil eines Moments<br />

sind sie nicht mehr die, sind sie andere.<br />

[…]<br />

Nicht beschwert mit dem Erinnern von<br />

nichts,<br />

erheben sie sich mühelos über die<br />

Fakten.<br />

Was wären das schon für Zeugen,<br />

sie verlaufen sofort in jede Richtung.<br />

Verglichen mit den Wolken<br />

erscheint das Leben verwurzelt,<br />

fast schon dauerhaft und beinahe ewig.<br />

telbarem Realitätsbezug,<br />

selbstironischer<br />

Distanz, einfachen syntaktischen<br />

Strukturen<br />

und sachlicher Lexik,<br />

mikrokosmischer Metaphorik<br />

und thematischer<br />

Vielfalt. Sie ist<br />

ein „Kosmos für sich“<br />

und ein „Phänomen der<br />

Unwiederholbarkeit“,<br />

wie Dedecius schreibt.<br />

Miłosz hat zahlreiche<br />

Äußerungen über seine<br />

Dichtung und deren<br />

Motivation gemacht –<br />

Szymborska hält sich in diesem Punkt sehr<br />

zurück und tritt kaum in Kommunikation<br />

mit der Öffentlichkeit. Im Unterschied zu<br />

Miłosz befassen sich ihre Texte – auf der<br />

Textoberfläche - kaum mit geschichtlichen,<br />

nationalen und politischen Tatsachen. Ihre<br />

Texte sind weniger historisch <strong>als</strong> vielmehr<br />

anthropologisch motiviert. Wenn sie über<br />

Leiden schreibt, steht nicht polnisches Leiden,<br />

sondern menschliches Leiden im Zentrum<br />

ihres Interesses – womit sie in der<br />

polnischen Literaturszene eine Ausnahme<br />

bildet. Ihr Humanismus scheint nicht historisch<br />

geprägt, sondern ihr geht es um<br />

den Menschen und die Welt in einer sehr<br />

viel umfassenderen Perspektive. Ihre Nobelpreisrede<br />

ist eine der wenigen Gelegenheiten,<br />

bei denen sich Szymborska über ihre Arbeit<br />

und ihre Motivation äußert. Dort sagte sie<br />

etwas Bemerkenswertes zur Herkunft von<br />

dichterischer Inspiration: „Inspiration, was<br />

auch immer sie sei, entsteht aus einem fortwährenden<br />

»Ich weiß nicht«.“ Diese Inspiration<br />

ist nicht nur Dichtern vorbehalten,<br />

sondern allen Menschen, die Fragen stellen,<br />

denn „alles Wissen, aus dem nicht neue<br />

Fragen aufkeimen, ist schnell totes Wissen“.<br />

So gelangt auch der Dichter nie an einen<br />

Punkt, „fertig“ zu sein, die Antwort gefunden<br />

zu haben, am Punkt ewiger Wahrheit<br />

angelangt zu sein: „[…]<br />

sobald er [der Dichter]<br />

nur einen Punkt gesetzt<br />

hat, beginnt er zu zögern;<br />

es wird ihm klar,<br />

daß seine Antwort provisorisch<br />

und völlig unzulänglich<br />

ist.“ Somit<br />

wird er immer wieder<br />

von jenem »Ich weiß<br />

nicht« vorangetrieben.<br />

Nun aber zur zentralen<br />

Fragestellung: Welche<br />

Bedeutung messen<br />

Szymborska und Miłosz<br />

der Erinnerung zu und<br />

wie ist ihr ethischer<br />

Auftrag ausführbar? Im<br />

Oktober 2000 trafen<br />

sich in Wilna vier Dichter<br />

aus Deutschland, Polen<br />

und Litauen: Günter<br />

Grass, Czesław Miłosz,<br />

Wisława Symborska und Tomas Venclova.<br />

An diesem Ort wollten sie „grenzübergreifend<br />

über die Zukunft der Erinnerung<br />

nachdenken“. In dem Band Die Zukunft der<br />

Erinnerung, der anlässlich dieser Begegnung<br />

entstand, veröffentlichten sie Texte zu dieser<br />

Fragestellung. Miłosz, der sich in seinem<br />

Beitrag mit der Geschichte der Stadt Wilna<br />

befasst, macht schon in den ersten Sätzen<br />

seinen Standpunkt innerhalb des Erinnerungsdiskurses<br />

deutlich: „Weil es mir um<br />

das kollektive Gedächtnis geht, muß ich<br />

gestehen, daß ich die historische Wahrheit<br />

136


in gewissen Grenzen für möglich und<br />

zudem für sehr notwendig halte.“ Wie<br />

aber ist der Begriff „historische Wahrheit“<br />

zu verstehen? Besonders Miłosz<br />

Nobelpreisrede gibt auf diese Frage<br />

Antwort: Für ihn steht die Suche nach<br />

Realität im Zentrum seines Schaffens.<br />

Seinen Realitätsbegriff versucht er vor<br />

allen philosophischen Relativierungen<br />

zu verteidigen und definiert ihn <strong>als</strong><br />

„the incomprehensible<br />

quality of<br />

God-created things,<br />

namely being, the<br />

esse“. Aufgabe des<br />

Dichters sei es somit<br />

„to comtemplate<br />

Being“. Die<br />

Erkenntnis von Realität<br />

aber sei gerade<br />

über die Erinnerung<br />

möglich:<br />

„»To see« means not<br />

only to have before<br />

one’s eyes. It may<br />

mean <strong>als</strong>o to preserve<br />

in memory. »To<br />

see and to describe«<br />

may <strong>als</strong>o mean<br />

to reconstruct in<br />

imagination. A distance<br />

achieved,<br />

thanks to the mystery<br />

of time, must<br />

not change events,<br />

landscapes, human<br />

figures into a tangle<br />

of shadows growing<br />

paler and paler.<br />

On the contrary, it<br />

can show them in<br />

full light, so that<br />

every event, every<br />

date becomes expressive<br />

and persists as an eternal reminder<br />

of human depravity and human<br />

greatness.” Der Dichter wird so<br />

ein „eternal reminder”, der die erkannte<br />

Wahrheit kommuniziert. Aufgrund<br />

dieses Erkenntnisvorgangs ist für ihn<br />

auch ein teleologisches Geschichtsbild<br />

möglich: „it is probable that in spite of<br />

all horrors and perils, our time will be<br />

judged as a necessary phase of travail<br />

Psalm<br />

[…]<br />

Von ungezählten Insekten nenne ich<br />

nur die Ameise,<br />

die zwischen dem linken und rechten<br />

Schuh des Grenzpostens<br />

auf dessen Frage: woher, wohin – sich<br />

zu keiner Antwort bequemt.<br />

Oh, dieses ganze Durcheinander auf<br />

einmal auf allen Kontinenten!<br />

Schmuggelt da nicht vom anderen<br />

Ufer die Rainweide<br />

Das hunderttausendste Blatt über den<br />

Fluß?<br />

[…]<br />

Kann überhaupt von Ordnung<br />

gesprochen werden,<br />

wo man nicht einmal die Sterne<br />

ausbreiten kann,<br />

damit man weiß, wem welcher<br />

leuchtet?<br />

[…]<br />

Nur das, was menschlich ist, kann<br />

wahrhaft fremd sein.<br />

Der Rest ist Mischwald,<br />

Maulwurfsarbeit und Wind.<br />

before mankind ascends to a new awareness.”<br />

Ein solches Realitäts- und Erinnerungskonzept<br />

ist stark metaphysisch<br />

geprägt. Es wird gestützt durch<br />

ethische und moralische Argumente.<br />

Miłosz wehrt sich gegen eine Zeit, die<br />

den Wahrheitsbegriff nicht mehr eindeutig<br />

beantworten kann, die - wie es<br />

in den kommunistischen Staaten geschah<br />

- Geschichte neu schreibt, die<br />

Auschwitz leugnet.<br />

Scharf kritisiert er<br />

selbst poststrukturalistische<br />

Literaturtheorien<br />

<strong>als</strong><br />

Weg zum Totalitarismus.<br />

Eine solche<br />

Kritik erscheint<br />

mir äußerst fragwürdig,<br />

ebenso<br />

wie Miłosz Realitätsbegriff,<br />

der von<br />

Jahrhunderten europäischer<br />

Philosophiegeschichte<br />

unberührt<br />

erscheint.<br />

Individuelle, dichterische<br />

Erinnerung<br />

ist für ihn der Weg<br />

zur Erkenntnis von<br />

Wahrheit; kollektive<br />

Erinnerung der<br />

Weg, diese Wahrheit<br />

zu tradieren<br />

und zu erhalten,<br />

um zu einer besseren<br />

Welt zu gelangen.<br />

Im Folgenden<br />

sollen Gedichte<br />

vorgestellt werden,<br />

die Symborska dem<br />

Band Die Zukunft<br />

der Erinnerung beisteuerte. Das, was<br />

bei Miłosz „historische Wahrheit“ genannt<br />

wurde, wird bei ihr relativiert,<br />

wie in ihrem Gedicht Wolken deutlich<br />

wird.<br />

Im Vergleich mit der Fluidität der<br />

Wolken erscheint das Leben auf der<br />

Erde dauerhaft und ewig. Doch diese<br />

Dauer und Ewigkeit ist dadurch schon<br />

137


elativiert, da sie sich allein auf die Materie<br />

der Erde bezieht, die nur im Vergleich<br />

mit den Wolken so statisch erscheint. Die<br />

Wolken zeigen dem Menschen, dass es kein<br />

absolutes, transzendentes Sein gibt, sondern<br />

nur Werden und Entstehen. Das Sein bleibt<br />

eine menschliche Erfahrung, aber es besitzt<br />

keinen Absolutheitsanspruch und keine metaphysische<br />

Komponente. Diese Relativität<br />

des menschlichen Seins wird auch in ihrem<br />

Gedicht Psalm gezeigt, in dem das Reich<br />

der Natur und die Staaten- und Nationenbildung<br />

der Menschen miteinander in Kontrast<br />

gesetzt werden.<br />

Die Erfahrung von Fremdheit, Hass,<br />

Krieg und Grenzen sind menschliche Erfahrungen,<br />

die Realitätsanspruch besitzen, aber<br />

keine Ewigkeit und Allgemeingültigkeit.<br />

Auch die Erinnerung ist kein Mittel, um<br />

Fakten Ewigkeit zu verleihen. Ihr Gedicht<br />

Ende und Anfang erzählt vom Ende eines<br />

Krieges und der mühevollen, oft verzweifelten<br />

und erschöpfenden Arbeit des Neubeginns.<br />

Dieses Gedicht zeigt einerseits die Notwendigkeit<br />

der Erinnerung und die Notwendigkeit<br />

des Vergessens <strong>als</strong> conditio humana.<br />

Die Erinnerung ist präsent, solange<br />

es Menschen gibt, in deren Erinnerung die<br />

Erfahrungen präsent sind. Doch Vergangenheit<br />

birgt weder Wahrheit noch die Antwort<br />

für das Morgen, denn die „durchgerosteten<br />

Argumente“ werden „auf den Müll“<br />

geschmissen. Die Präsenz einer Erfahrung<br />

schwindet mit jeder nachkommenden Generation,<br />

bis das Vergessen einsetzt, Gras über<br />

die Sache wächst. Die Wolken bilden den<br />

Schluss des Gedichtes. Was somit bleibt, ist<br />

nicht die Dauer, das Verweilen, die Ewigkeit<br />

der Erinnerung, sondern der Wechsel, das<br />

Werden, die Vergänglichkeit. Dies ist kein<br />

teleologisches Weltbild, sondern ein dynamisches,<br />

das keine allgemeingültigen, fest<br />

gefügten Wahrheiten und Realitäten für<br />

sich beansprucht.<br />

Miłosz und Szymborska geben unterschiedliche<br />

Antworten auf die Frage nach<br />

der Bedeutung der Erinnerung. Miłosz stellt<br />

sich <strong>als</strong> Lyriker in den Dienst an den Menschen<br />

und begibt sich über Kontemplation<br />

auf eine metaphysische Suche nach dem,<br />

was er „historische Wahrheit“ oder „Realität“<br />

nennt. In diesem Erkenntnisvorgang<br />

glaubt er, dass sich jenes „esse“ in der zeitlichen<br />

Distanz, in der Erinnerung herauskristallisieren<br />

wird; eine historische Wahrheit,<br />

die er mit sich trägt wie seine Heimat<br />

und von der seine Lyrik Zeugnis gibt. Insofern<br />

ist in seiner Vorstellung der Dichter<br />

und seine Texte jener „eternal reminder“,<br />

der die Erinnerung der Wahrheit verbürgen<br />

soll. Bei Szymborska gibt es keine historische<br />

Wahrheit, keine Metaphysik, kein<br />

„esse“ im Sinne Miłosz’. Sie betrachtet die<br />

Ende und Anfang<br />

Nach jedem Krieg<br />

muß jemand aufräumen.<br />

Leidliche Ordnung<br />

kommt nicht von allein.<br />

[…]<br />

Jemand, mit dem Besen in der Hand,<br />

erinnert sich noch, wie es war.<br />

Jemand hört zu und nickt<br />

mit dem nicht geköpften Kopf.<br />

Aber ganz in der Nähe schon<br />

treiben sich welche herum,<br />

die das langweilig finden.<br />

Manchmal buddelt einer<br />

unterm Strauch<br />

durchgerostete Argumente aus<br />

und wirft sie auf den Müll.<br />

Diejenigen, die wussten,<br />

worum es hier ging,<br />

machen denen Platz,<br />

die wenig wissen.<br />

Weniger noch <strong>als</strong> wenig.<br />

Und schließlich so gut wie nichts.<br />

Im Gras, das über Ursachen<br />

und Folgen wächst,<br />

muß jemand ausgestreckt liegen,<br />

einen Halm zwischen den Zähnen,<br />

und in die Wolken starrn.<br />

Welt aus einer mikrokosmischen Perspektive<br />

und ruft dem Leser die unterschied-<br />

138


lichsten Seinsformen dieses Kosmos ins Bewusstsein.<br />

Dadurch verliert die Seinsform<br />

Mensch an Absolutheitsanspruch. Ihre Begriffe<br />

von Wahrheit und Erinnerung verlieren<br />

sich in der Generationenfolge, sind der<br />

Zeit unterworfen und keine allgemeingültigen<br />

Einheiten. Erinnerung ist nicht fixierbar,<br />

und es gibt keinen Anspruch auf eine<br />

ewige Erinnerung, denn das Vergessen ist<br />

ebenso Teil des natürlichen Prozesses von<br />

Werden und Vergehen. Das Vergessen wird<br />

in Szymborkas Texten nicht angeklagt. Es<br />

ist vielmehr eine menschliche Erfahrung<br />

wie das Leid, das erinnert werden soll. Da es<br />

keinen Anspruch auf eine ewige, allgemeingültige<br />

Wahrheit gibt, kann es auch keinen<br />

Anspruch auf eine ewige Erinnerung geben,<br />

die eine solche Wahrheit verbürgen könnte.<br />

Wie aber soll Erinnerung an den Holocaust<br />

gelebt werden, Erinnerung, die einerseits<br />

so lebensnotwendig ist, andererseits<br />

so vergänglich, konstruierbar und subjektiv?<br />

Miłosz zeigt <strong>als</strong> Zeitzeuge eindrücklich<br />

den Kampf gegen das Vergessen und gegen<br />

die Leugnung geschehener Verbrechen, der<br />

absolut notwendig ist. Szymborskas Texte<br />

aber sind genauso notwendig. Denn nur im<br />

Bewusstsein um die Relativität unserer Erkenntnis,<br />

um die Konstruiertheit und Vergänglichkeit<br />

von Erinnerung, kann die Suche<br />

nach dem, was war, immer wieder neu<br />

motiviert werden. Nur dann, wenn nachfolgende<br />

Generationen jenes „Ich weiß nicht“<br />

stellen, kann Vergangenes wieder lebendig<br />

werden. Somit ist Vergessen nicht nur ein<br />

menschliches Übel. Es motiviert den Menschen,<br />

immer wieder neu die erzählte und<br />

tradierte Vergangenheit auf ihre Subjektivität<br />

zu befragen, Fakten zu bewahren und<br />

zu erhalten und Wahrheitssuche zu betreiben,<br />

die nicht abschließbar ist. Ist die<br />

Wahrheit einmal festgesetzt und definiert,<br />

warum sollte man sich dann noch mit ihr<br />

auseinandersetzen? Szymborkas Texte zeigen,<br />

dass es kein Erinnerungsmonopol gibt.<br />

Erinnerung wird dann <strong>als</strong> ethischer Auftrag<br />

gelebt, wenn sich die Menschen im Bewusstsein<br />

um ihre subjektive Perspektivität<br />

immer wieder neu auf die Suche begeben<br />

und Geschichte so lebendig erhalten.<br />

Wie leben? – fragte im Brief<br />

mich jemand, den ich dasselbe<br />

hatte fragen wollen.<br />

Weiter und so wie immer,<br />

wie oben zu sehn,<br />

es gibt keine Fragen, die dringlicher wären<br />

<strong>als</strong> die naiven.<br />

(aus: „Das Ende eines Jahrhunderts“<br />

von Wisława Szymborska)<br />

Literatur<br />

Assmann, Aleida: Individuelles und kollektives<br />

Gedächtnis – Formen, Funktionen<br />

und Medien. In: Das Gedächtnis der<br />

Kunst. Geschichte und Erinnerung in der<br />

Kunst der Gegenwart. Hrsg. von Kurt Wettengl.<br />

Frankfurt (Main), 2000.<br />

Dedecius, Karl: Poetik der Polen. Frankfurter<br />

Vorlesungen. Frankfurt (Main), 1992.<br />

Grass, Günter; Miłosz, Czesław; Szymborska,<br />

Wisława; Venclova, Tomas: Die Zukunft<br />

der Erinnerung. Hrsg. von Martin<br />

Wälde. Göttingen, 2001.<br />

Miłosz, Czesław: Zeichen im Dunkel. Poesie<br />

und Poetik. Hrsg. von Karl Dedecius.<br />

Frankfurt (Main), 1979.<br />

Miłosz, Czesław: Nobel Lecture.<br />

http://nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laureates/1980/milosz-lecture-en.html<br />

Polnische Literatur. Annäherungen. Eine<br />

illustrierte Literaturgeschichte in Epochen.<br />

Hrsg. von Wacław Walecki. Krakau-Oldenburg,<br />

1999.<br />

Polnische Poesie des 20. Jahrhunderts.<br />

Hrsg. und übertragen von Karl Dedecius.<br />

Frankfurt (Main)/Berlin/Wien, 1982.<br />

Szymborska, Wisława: Die Gedichte. Herausgegeben<br />

und übertragen von Karl Dedecius.<br />

Frankfurt (Main), 1997. (Hier ist<br />

auch ihre Nobelpreisrede enthalten.)<br />

139


Cinématographie engagée – Polnisches Kino<br />

von Stefanie Manthey<br />

Innerhalb des Konvoluts an Fotos von<br />

und über den polnischen Drehbuchautor<br />

und Regisseur Krzysztof Kieslowski (1941-<br />

1996) gibt es eine wiederholt praktizierte<br />

und eingefangene Geste, der Motivcharakter<br />

zukommt. Die Daumen beider Hände<br />

im 90°-Winkel voneinander abgespreizt,<br />

setzen beide an den Kuppen des Daumes,<br />

beziehungsweise Zeigefingers der jeweils<br />

anderen Hand an und bilden ein querrechteckiges<br />

Sichtfeld aus. Indem man diese Geste<br />

nachvollzieht und sich mit dieser Rahmung<br />

im Umraum orientiert, nähert man<br />

sich der Position, die Koen Tachelet mit<br />

Bezug auf Kieslowskis Schaffen <strong>als</strong> die „dekalogische<br />

Kreuzung zwischen Beobachten<br />

und Handeln“ bezeichnet. Historisch fundierter<br />

und spezifischer wird diese Position,<br />

wenn man sich anhand von Begriffen und<br />

Bezeichnungen wie Filmhochschule Lodz,<br />

„Schwarze Serie“, „Kino der moralischen<br />

Unruhe“, Andrzej Munk, Jerzy Bossak und<br />

Jerzy Toeplitz, Andrzej Wajda und Krzysztof<br />

Zanussi, Polnisches Filminstitut, Adam<br />

Mieckiewicz-Institut sowie www.culture.<br />

pl mit den rahmenden Faktoren vertraut<br />

macht, die polnischem Kino Charakter,<br />

Tiefe und Gesicht gegeben haben und geben.<br />

Tachelet, Koen, Zehn Geschichten, eine<br />

Gemeinschaft, in: Programmheft Die Zehn<br />

Gebote. Nach den Geschichten und Filmen<br />

Dekalog 1-10 von Krzystof Kieślowski und<br />

Krzystof Piesiewicz. In einer Fassung von Koen<br />

Tachelet für die Münchner Kammerspiele,<br />

München 2004, S. 5-7, S. 6.<br />

Die Aufarbeitung seiner Geschichte sowie<br />

Bemühungen um dessen vitale und eigenständige<br />

Fortexistenz sind zwei Tendenzen,<br />

die sich seit Beginn der 1990 Jahre<br />

gegenseitig profilieren und innerhalb eines<br />

gesamteuropäischen Kontextes auszurichten<br />

suchen, in dem Identität und Erinnerung<br />

sowohl die Funktion von Kategorien zur<br />

Orientierung wie Leitmotiven zukommt.<br />

Mit diesen beiden Begriffen sind zugleich<br />

ein Anspruch und eine Aufgabenstellung<br />

formuliert, denen man ohne Wissen um geschichtliche<br />

Sachverhalte nicht gerecht werden<br />

kann. Sie haben Spuren im Leben der<br />

Menschen hinterlassen, die fortdauern und<br />

sich langsam zu erzählbaren Stoffen herauskristallisieren.<br />

Ein Jahrzehnt, eine Generation<br />

sind Zeiteinheiten auf der Suche nach<br />

Verortung und Profilierung in größeren Zusammenhängen,<br />

die immer wieder in den<br />

Alltag der Menschen, dessen Struktur und<br />

Rituale zurückverweisen. Parallel dazu entwickelt<br />

sich das kommerzielle Kino zu einer<br />

eigenen Größe, werden Nationalepen<br />

und literarische Stoffe polnischer Literatur<br />

des 19. Jahrhundert produziert, in alten und<br />

neuen Fassungen rezipiert, vermarktet und<br />

aufgearbeitet. <br />

Vor 1990 sind es historische Einschnitte,<br />

die das Nachkriegskino prägen: Die Befreiung<br />

Ostmitteleuropas von der deutschen<br />

Okkupation 1945. 1948/1949 den Zeitraum,<br />

Das junge polnische Kino, hrsg. v. Adam-<br />

Mickiewicz-Institut, Warschau 2005;<br />

Meyer, Stefan und Robert Thalheim, Asche<br />

oder Diamant? Polnische Geschichte in den<br />

Filmen Andrzej Wajdas, Berlin 2000.<br />

140


in dem Polen und anderen neu gegründeten<br />

Satellitenstaaten unter kommunistischer<br />

Herrschaft mit Gewalt die aus der ehemaligen<br />

UDSSR importierte Doktrin des Sozialistischen<br />

Realismus aufgezwungen wurde.<br />

1956 markiert einen Wendepunkt, der<br />

den Beginn des langsamen, aber unaufhaltsamen<br />

Prozesses der Entstalinisierung ankündigte,<br />

1970 einen weiteren politischen<br />

Wendepunkt, der August 1980 die Geburt<br />

der Solidarnosc-Bewegung und der Dezember<br />

1981 die Verhängung des Kriegsrechts.<br />

1989 den Fall des kommunistischen Systems<br />

mit den bis in die Gegenwart reichenden<br />

Konsequenzen und Auswirkungen, die eine<br />

umfassende Neuorientierung Polens <strong>als</strong> eigener<br />

Staat notwendig machten. <br />

In diesem zeitlichen Umfeld liegen die<br />

Anfänge für das zehnteilige, rund dreizehnstündige<br />

Filmepos Dekalog, das 1989 bei den<br />

Filmfestspielen von Venedig vor internationalem<br />

Publikum uraufgeführt wurde. Auf<br />

Hendrykowski, Marek, Veränderungen<br />

in Ostmitteleuropa, in: Geschichte des<br />

Internationalen Films, hrsg. v. Geoffrey<br />

Nowell-Smith, Stuttgart – Weimar 1998,<br />

S. 591-600, S. 591. Zu den Entwicklungen<br />

der 1990er Jahre im Bereich polnischen<br />

Filmschaffens siehe folgende Artikel, die<br />

<strong>als</strong> Download auf der Seite www.culture.<br />

pl zur Verfügung stehen: Bozena, Janicka,<br />

Der polnische Film in den Jahren 1989-<br />

1999. Das Jahrzehnt des Oskars; Lubelski,<br />

Tadeusz, Der zeitgenössische polnische<br />

Dokumentarfilm. Eine Diskussion mit der<br />

Wirklichkeit.<br />

„Die Zeit war ungut. […] Was noch kommen<br />

sollte, hing in der Luft. Im Land herrschten<br />

Chaos und Unruhe – in allen Bereichen,<br />

in jeder Hinsicht, in fast jedem Leben. Die<br />

Spannung, das Gefühl der Sinnlosigkeit und<br />

die Vorahnung noch schlechterer Zeiten waren<br />

spürbar und offensichtlich. In der übrigen Welt<br />

– dam<strong>als</strong> fing ich an zu reisen – beobachtete ich<br />

ähnliche Unsicherheiten; nicht in der Politik,<br />

sondern im ganz normalen Leben. Unter dem<br />

höflichen Lächeln hatte ich Gleichgültigkeit<br />

gespürt. Ich hatte das eindringliche Gefühl,<br />

dass ich immer häufiger Menschen sah, die<br />

nicht wussten, wofür sie lebten.“ Krzystof<br />

Kieślowski und Krzystof Piesiewicz, Dekalog.<br />

Zehn Geschichten für zehn Filme. Aus dem<br />

Polnischen von Beata Prochowska, Frankfurt<br />

Wunsch der akkreditierten Journalisten<br />

wurden im Vorfeld Flugblätter mit dem<br />

Wortlaut der Zehn Gebote verteilt. Hinter<br />

dem Regisseur und Drehbuchautor Krzysztof<br />

Kieslowski lagen zu diesem Zeitpunkt<br />

rund drei Jahre Auseinandersetzung mit<br />

dem Normenkatalog der abendländischen<br />

Kultur. Ursprünglich beabsichtigte er in<br />

seiner Funktion <strong>als</strong> kommissarischer Chef<br />

der Filmgruppe „Tor“ die zehn Drehbücher<br />

zu schreiben, um jungen Regisseuren die<br />

Möglichkeit zu einem Spielfilmdebüt im<br />

polnischen Fernsehen zu geben. Die umfassende<br />

Lektüre von Literatur zum Alten<br />

und Neuen Testament sowie von Studien<br />

theologischer und philosophischer Kommentare<br />

mündete in eine zwölfmonatige<br />

Ausarbeitung der Drehbücher in Zusammenarbeit<br />

mit dem Rechtsanwalt Krysztof<br />

Piesiewicz in der Küche von Kieslowskis<br />

Warschauer Wohnung. Zum Zeitpunkt<br />

der Fertigstellung der Drehbücher war<br />

Kieslowski nicht mehr bereit, die filmische<br />

Umsetzung an junge Regisseure zu delegieren.<br />

Es war entschieden, die herausfordernde<br />

Verantwortung für den gehaltvollen<br />

Stoff und dessen Übersetzung in ein filmisches<br />

Epos selbst zu übernehmen. Dazu<br />

reichte er die Drehbücher zunächst beim<br />

(Main) 1990, S. 9.<br />

Zehn Gebote, Dekalog im Alten Testament<br />

die Gebote, die Mose von Gotte auf dem Sinai<br />

empfing; sie sind in zwei weitgehend übereinstimmenden<br />

Fassungen überliefert: in 2.<br />

Mos. 20, 2-17 sind sie in die Sinaierzählung<br />

eingegliedert und erscheinen dort <strong>als</strong> die erste<br />

und wichtigste Rechtsbekundung Gottes; in 5.<br />

Mos. 5,6-21 werden sie in der Abschiedsrede des<br />

Mose vor dem Einzug Israels in das verheißene<br />

Land zitiert. Die Zehn Gebote sind Reihen von<br />

Rechtssätzen apodiktischen Rechts, wie sie auch<br />

sonst im Alten Testament vorkommen. Diese<br />

Rechtssatzform enthält im Gegensatz zum kasuistischen<br />

Recht absolute und universale Verbote,<br />

die <strong>als</strong> Ausdruck göttlichen Willens verstanden<br />

werden und die Richtschnur für Glauben und<br />

Handeln von Menschen darstellen sollen. Im<br />

Neuen Testament bleibt die Bedeutung der<br />

Zehn Gebote erhalten (Mk 7, 8-13); es werden<br />

jedoch einzelne Gebote verschärft bzw. durch<br />

radikalere Forderungen ergänzt (Mt. 5, 21-30;<br />

Mk. 10, 17-21).Brockhaus Enzyklopädie in vierundzwanzig<br />

Bänden, 19., völlig neu bearbeitete<br />

Auflage, Mannheim 1989, Bd. 24, S. 463<br />

141


polnischen Fernsehen ein, um die Finanzierung<br />

des Projekts zu sichern. Nachdem<br />

diesem Antrag stattgegeben worden war,<br />

wurde Kieslowski beim Kulturministerium<br />

mit dem Anliegen vorstellig, zwei Sequenzen<br />

zusätzlich <strong>als</strong> Kinoversionen zu produzieren.<br />

Er stellte dem zuständigen Gremium<br />

insgesamt vier Drehbücher unter der Bedingung<br />

zur Verfügung, dass eine Langfassung<br />

auf der Drehbuchversion von Dekalog 5 (Ein<br />

kurzer Film über das Töten) basieren müsse.<br />

Die Dreharbeiten dauerten von März 1987<br />

bis Juni 1988, die Produktionszeit belief sich<br />

inklusive der Schnittarbeiten auf neunzehn<br />

Monate. Kieslowski drehte jede Folge mit<br />

wechselnden Schauspielern und Kameramännern<br />

innerhalb von zwanzig Tagen ab.<br />

Er konzipierte den Arbeitsplan so, dass Sequenzen<br />

aus unterschiedlichen Folgen, wenn<br />

sie am gleichen Ort innerhalb der insgesamt<br />

<strong>als</strong> Schauplatz dienenden Trabantenstadt in<br />

der Nähe von Warschau spielten, nach Neueinrichtung<br />

der spezifischen Beleuchtung<br />

unmittelbar aufeinander folgend gedreht<br />

werden konnten. Der Dekalog wurde 1990<br />

in beinahe allen Ländern Europas zur besten<br />

Sendezeit ausgestrahlt, arte und der Sender<br />

Freies Berlin realisierten zusätzlich Dokumentationen<br />

über den Themenkomplex und<br />

dessen Realisierung. Gegenwärtig überwiegen<br />

Bemühungen, den Dekalog sowohl<br />

zu historisieren, <strong>als</strong> auch in der Folge von<br />

Aufführungen im Rahmen von Kieslowski<br />

gewidmeten Filmreihen in ausgewählten<br />

Wach, Margarete, Krysztof Kieślowski. Kino<br />

der moralischen Unruhe, Köln 2000, S. 266,<br />

268, 270-273. Für eine eigenhändige Zeichnung<br />

dieses wesentlichen Arbeitsplatzes siehe: Ausst.<br />

Kat. Krzysztof Kieślowski. Signs and Memory,<br />

hrsg. v. Muzeum Kinematografii, Lodz 2005, S.<br />

18, Abb. 6.<br />

Wach, Margarete, Krysztof Kieślowski. Kino<br />

der moralischen Unruhe, Köln 2000, S. 286.<br />

Siehe auch die im näheren zeitlichen Umfeld<br />

zusammengestellten Arbeitsmaterialien und<br />

Untersuchungen: Dekalog. Zehn Geschichten<br />

für zehn Filme, Hamburg 1990; Dekalog.<br />

Materialien und Arbeitshilfen, hrsg. v. Katholischem<br />

Filmwerk, Frankfurt am Main 1991;<br />

Das Gewicht der Gebote und die Möglichkeiten<br />

der Kunst, hrsg. v. Walter Lesch und Matthias<br />

Loretan, Freiburg im Breisgau 1993.<br />

Programmkinos hinsichtlich seiner überzeitlichen<br />

Bedeutung zu befragen. Auf diese<br />

Weise wird ein Referenzfeld aufgespannt,<br />

in das sich die individuelle Auseinandersetzung<br />

einzubetten und einzubringen vermag.<br />

In der Sicherung von Erinnerungen aus dem<br />

Umfeld der Entstehungszeit und der Erstpräsentation<br />

gewinnt das Gesamtwerk an<br />

Identität. <br />

I<br />

Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine<br />

anderen Götter neben mir haben.<br />

Im Mittelpunkt von Dekalog Eins stehen<br />

der Sprachwissenschaftler und Mathematiker<br />

Krzystof und sein elfjähriger Sohn Pawel.<br />

Nachdem Pawel vom Milchholen zurückgekehrt<br />

ist, stellt er seinem Vater am<br />

noch frühen Morgen am Frühstückstisch<br />

große Fragen. Er fragt danach, was der Tod<br />

ist und was nach dem, vom Vater <strong>als</strong> totalem<br />

Ende bezeichneten Zustand bleibt. Die Liste<br />

faktischer Todesursachen, die Erklärung,<br />

dass der Tod eine Unterbrechung des Versorgungskreislaufs<br />

zwischen Herz und Gehirn<br />

ist, stellen ihn nicht zufrieden. Er will<br />

wissen was bleibt. Sein Vater antwortet ihm<br />

zögerlich: „Was eine Person erreicht hat, die<br />

Erinnerung an diese Person. Die Erinnerung<br />

ist wichtig. Die Erinnerung daran, dass jemand<br />

sich auf eine bestimmte Art und Weise<br />

bewegt hat oder dass sie freundlich waren.<br />

Man erinnert sich an ihre Gesichter, ihr<br />

Lächeln, dass ein Zahn fehlte/ Co Pozostanie?<br />

Co osiagnáł człowiek, wspomnienie o<br />

nim.Wspomnienie jest wane. Wspomnienie<br />

o tym, że ktoś poruszał sie na swój sposób<br />

albo, że byl mily. Człowiek przypomina sobie<br />

ich twarze, uś miech, brakujacy záb.“ An<br />

dieser Stelle möchte der Vater die Unterhaltung<br />

unterbrechen. Er sagt, dass es zu früh<br />

sei, zu früh für diese Fragen an diesem Morgen.<br />

Er scheut sich, das Thema Tod in seiner<br />

Existentialität und den kulturellen Formen<br />

und Ritualen der Verarbeitung auf der Suche<br />

nach Letztbegründungen zwischen ihm<br />

Ausst. Kat. Krzysztof Kieślowski. Signs and<br />

Memory, hrsg. v. Muzeum Kinematografii,<br />

Lodz 2005; Kat. Ausst. Krzysztof Kieślowski<br />

1941-1996. Regisseur. Film Director, hrsg. v.<br />

Polnischen Filminstitut, Warschau 2006; Wach,<br />

Margarete, Krysztof Kieślowski. Kino der moralischen<br />

Unruhe, Köln 2000, S.265-306.<br />

142


und seinem Sohn groß werden zu lassen.<br />

Er ahnt, dass sie in dieser Frage nicht einer<br />

Meinung sind und möglicherweise auch<br />

nicht sein können. Er weicht dieser ebenso<br />

realen wie schmerzlichen Erfahrung jedoch<br />

nicht aus und fragt danach, was passiert sei,<br />

nachdem sie beide realisiert haben, dass die<br />

frisch geholte Milch sauer ist. Pawel erzählt<br />

von der für ihn unverständlichen Nähe von<br />

Freude und Leid, von erlebtem Glück und<br />

dem Tod der vertrauten, streunenden Existenz<br />

eines Hundes aus der Nachbarschaft,<br />

bei dessen Anbahnung er nicht anwesend<br />

war. Er erinnert sich an die formelhaften<br />

Worte, die bei einem christlichen Begräbnis<br />

gesprochen werden und spricht sie laut<br />

aus. Der Vater bezeichnet sie <strong>als</strong> narkotische<br />

Aussagen. Pawel ringt mit der Trennschärfe,<br />

die sich zwischen ihm und seinem Vater<br />

aufbaut, während dieser zugibt, in der Frage<br />

nach der Existenz der Seele unwissend<br />

zu sein. So endet das von Pawel begonnene<br />

Gespräch mit der vage ausgesprochenen<br />

Vermutung, dass es dem Hund jetzt besser<br />

gehe. Der akustisch vorgebrachte Trost<br />

vermag sich jedoch nicht im Gesichtsausdruck<br />

einzunisten. Der Vater verliert seinen<br />

Sohn durch einen tragischen Unfall. Seine<br />

Berechnungen der Tragfähigkeit des Eises<br />

eines nahe gelegenen zugefrorenen Sees, auf<br />

dem Pawel seine neuen Schlittschuhe ausprobieren<br />

will, erweisen sich <strong>als</strong> nicht zutreffend.<br />

<br />

II<br />

Du sollst dir kein Gottesbild machen. Du<br />

sollst keinen Götzen dienen.<br />

Hauptfiguren von Dekalog Zwei sind<br />

ein älterer Chefarzt, eine junge Violinistin<br />

mit Namen Dorota Geller und deren<br />

krebserkrankter Mann Andrzej. Verzweifelt<br />

versucht sie zu erfahren, ob ihr Mann<br />

Für Basisinformationen über die einzelnen<br />

Teile siehe: Lexikon des Internationalen Films.<br />

Kino, Fernsehen, Video, DVD, hrsg. v. Hans<br />

Peter Koll, Stefan Lux und Hans Messias,<br />

3 Bde., Frankfurt am Main 2001, Bd. 1, S.<br />

580-581; Filmklassiker. Beschreibungen und<br />

Kommentare, hrsg. v. Thomas Koebner, 4 Bde.,<br />

3. Aufl. Stuttgart 2001, Bd. 4 (1982-1999), S.<br />

309-327.<br />

sterben wird. Von der Diagnose möchte sie<br />

abhängig machen, ob sie sich für oder gegen<br />

das Kind entscheidet, das sie von ihrem<br />

Geliebten erwartet. Aus der Stimmung angespannten<br />

Wartens heraus, in die immer<br />

wieder auf ihrem Anrufbeantworter hinterlassene<br />

Nachrichten des Geliebten hindurchdringen,<br />

tritt sie ans Fenster und entlaubt<br />

Blatt für Blatt einen Gummibaum.<br />

Schließlich bleibt nur noch der Stamm, den<br />

sie nach unten umbiegt, ohne jedoch die<br />

Verbindung zu den Wurzeln vollends abzutrennen.<br />

Ebenso hartnäckig bemüht sie sich<br />

um ein Gespräch mit dem Chefarzt. Nachdem<br />

dies zustandegekommen und der Arzt<br />

über die Umstände informiert ist teilt er ihr<br />

mit, dass ihr Mann sterben wird. Dieser<br />

überlebt gegen alle medizinische Vernunft,<br />

während in ihrem Organismus neues Leben<br />

heranwächst.<br />

III<br />

Du sollst den Namen des Herrn<br />

nicht missbrauchen.<br />

Dekalog Drei spielt an einem Heiligabend<br />

in Warschau. Das Familienfest des<br />

Taxifahrers Janusz wird dadurch gestört,<br />

dass seine ehemalige Geliebte Ewa erscheint<br />

und ihn auffordert, ihr bei der Suche<br />

nach ihrem Mann Edward zu helfen.<br />

Gemeinsam suchen sie eine Unfallstation,<br />

eine Ausnüchterungszelle und den Bahnhof<br />

nach Spuren ab. Die vergebliche Suche<br />

mündet darin, dass sie ihre vage Hoffnung<br />

eingesteht, ihn an diesem Abend wiedergewinnen<br />

zu können. Die Szene des Abschieds<br />

der beiden und ihrer Fahrzeuge findet<br />

auf einer dreieckigen, schneebedeckten<br />

Verkehrsinsel statt, auf der auch ein mit<br />

bunten Leuchtkugeln geschmückter Weihnachtsbaum<br />

steht. Die beiden, sich gegenüberstehenden<br />

Autos blinken noch ein letztes<br />

Mal auf, bevor beide samt ihrer Insassen im<br />

Morgengrauen dorthin zurückkehren woher<br />

sie gekommen sind.<br />

IV<br />

Du sollst den Sabbat heiligen<br />

Auftakt von Dekalog Vier ist ein Ereignis<br />

am Ostermontag: Der Schauspielschü-<br />

143


lerin Anka fällt, nachdem ihr Vater Michal<br />

wegen einer Geschäftsreise die gemeinsame<br />

Wohnung verlassen hat, ein Brief ihrer<br />

verstorbenen Mutter in die Hände, der<br />

erst nach dem Tod des Vaters geöffnet werden<br />

soll. Mit weissumrandeter Sonnenbrille<br />

kommt sie zum Flughafen, um ihn abzuholen.<br />

Auf seine floskelhaft-höflichen Fragen<br />

antwortet sie nicht. Als er sie auffordert zu<br />

sagen, was vorgefallen sei, sagt sie den Inhalt<br />

des Briefs auswendig auf. Die Konfrontation<br />

mit der Aussage, dass er nicht ihr<br />

leiblicher Vater sei, führt zu einem langen,<br />

nächtlichen Gespräch, während dessen beide<br />

ihre Gefühle füreinander erforschen. Am<br />

nächsten Morgen gesteht sie ihm gegenüber,<br />

dass sie den Brief erfunden und die Handschrift<br />

der Mutter gefälscht hat.<br />

V<br />

Du sollst Vater und Mutter ehren<br />

In Dekalog Fünf steht die Fragwürdigkeit<br />

tradierter, normativer Gesetze des Zusammenlebens<br />

von Menschen von Beginn<br />

an im Mittelpunkt. „Das Gesetz sollte nicht<br />

die Natur imitieren, das Gesetz sollte die<br />

Natur verbessern. Die Menschen haben das<br />

Gesetz erfunden, um ihre Verhältnisse zu<br />

regeln. Das Gesetz entscheidet darüber, wer<br />

wir sind und wie wir leben. Entweder wir<br />

beobachten oder wir brechen es. Die Menschen<br />

sind frei. Ihre Freiheit wird von der<br />

anderer begrenzt. Bestrafung bedingt Rache.<br />

Insbesondere dann, wenn sie auf Verletzung<br />

zielt, aber sie beugt Kriminalität und<br />

Verbrechen nicht vor.“ Mit diesen Worten<br />

zweifelt der hochbegabte Jurastudent Piotr<br />

öffentlich am Sinn der Bestrafung des Verbrechers<br />

durch den Staat. Während er seine<br />

Prüfungsfragen beantwortet, begeht ein<br />

junger Mann namens Jacek einen brutalen<br />

Mord an Waldemar Rybkowski, einem Taxifahrer.<br />

Im Anschluss daran kehrt er zu<br />

dem Auto des Getöteten zurück, schraubt<br />

das Taxischild ab und wirft es ins Feld, bevor<br />

er ein von der Ehefrau des Taxifahrers<br />

gemachtes Butterbrot aus dem Handschuhfach<br />

nimmt und regungslos verspeist. Die<br />

Tat ändert an seinem ebenso aggressiven<br />

wie teilnahmslosen Verhalten seinem und<br />

dem Leben anderer gegenüber nichts. Piotr<br />

muss in seinem ersten Fall pflichtverteidigen.<br />

Er kann ihn nicht vor der Todesstrafe<br />

retten. Vor der Hinrichtung erfährt er von<br />

einer schweren Schuld, die den Verurteilten<br />

seit Jahren quält.<br />

VI<br />

Du sollst nicht töten<br />

Dekalog Sechs handelt von der Komplexität<br />

und Fragilität, die einem möglicherweise<br />

zu begründenden Liebesverhältnis eigen<br />

ist, das sich nicht auf wechselseitige Bedürfnisbefriedigung<br />

beschränkt. Der neunzehnjährige<br />

Postangestellte Tomek beobachtet<br />

heimlich seine Nachbarin Magda durch<br />

ein Fernrohr. Dieses hat er sich durch einen<br />

nächtlichen Einbruch in eine Schule besorgt.<br />

Eine Lache aus glitzernden Glassplittern<br />

verbleibt auf dem Turnhallenboden,<br />

während alle übrigen distanzierenden Glasbarrieren<br />

intakt bleiben. Die Kontaktaufnahmen<br />

bleiben indirekt: Fenster, Schalteröffnungen<br />

sowie teleskopartig auszufahrend<br />

Hilfsmittel sind dazwischengeschaltet. Der<br />

Kontakt, der für einen Abend zustande<br />

kommt, treibt den jungen Mann aufgrund<br />

der zynischen Zurückweisung seiner idealisierten<br />

Vorstellung der Frau, die sexuelle<br />

Abenteuer, aber keine Liebe kennt, in einen<br />

Selbstmordversuch, der das Verhältnis<br />

auf eine veränderte Grundlage stellt, dessen<br />

Ausgang aufgrund der unterschiedlichen<br />

Schluss-Sequenzen von Fernseh- und Kinoversion<br />

ambivalent bleibt.<br />

VII<br />

Du sollst nicht ehebrechen<br />

Dekalog Sieben vermittelt einen Einblick<br />

in das Leben einer Familie, in der die Konstellation<br />

aus Vater Stefan, Mutter Ewa und<br />

Tochter Majka im Umfeld der Geburt der<br />

mittlerweile fünfjährigen Ania umdefiniert<br />

wurde. Die Großmutter hat ihrer Tochter in<br />

ihrer Position <strong>als</strong> Direktorin der Schule, an<br />

der der Polnischlehrer Wojtek lehrt, der der<br />

leibliche Vater des Kindes ist, die Mutterschaft<br />

zu ihren eigenen Gunsten entzogen<br />

und die angemaßte Mutterschaft rechtlich<br />

besiegeln lassen. Die leibliche Mutter Majka<br />

jedoch kann es nicht mehr ertragen, auf<br />

ihr Kind verzichten zu müssen und entführt<br />

es um mit ihm nach Kanada auszuwandern.<br />

Vor der Konfrontation mit dem leiblichen<br />

Vater machen beide Halt an einem im Wald<br />

144


stehenden Kinderkarussel. Ania steigt auf<br />

eines der Pferde und genießt die Fahrt, die<br />

in ein kurzes Gespräch mündet, in dem<br />

Majka ihr zu verstehen gibt, dass diejenige,<br />

die sie Mutter nennt, nicht ihre Mutter ist<br />

und doch eine Mutter hat.<br />

VIII<br />

Du sollst nicht stehlen<br />

In Dekalog Acht wird die Ethikprofessorin<br />

Sofia, die ihren Studenten stets konkrete<br />

Beispiele menschlichen Verhaltens liefert,<br />

mit ihrer eigenen Vergangenheit konfrontiert,<br />

<strong>als</strong> die nach Amerika ausgewanderte<br />

Jüdin Elzbieta, die Übersetzerin ihrer Bücher,<br />

danach fragt, wie das Verhalten einer<br />

polnischen Familie zu bewerten ist, die<br />

sie <strong>als</strong> kleines Kind zunächst taufen lassen<br />

wollte, letztlich jedoch unter Berufung auf<br />

das achte Gebot Hilfe verweigerte. Sie stellt<br />

diese Frage in dem Hörsaal, in dem die Professorin<br />

für gewöhnlich lehrt. Bevor sie sie<br />

stellt, wechselt sie von einem Platz in den<br />

mittleren Reihen in die erste Reihe. Vorgeblich,<br />

weil der weiter zurückliegende eine zu<br />

große Entfernung für das Mikrophon des<br />

Kassettenrekorders darstellt, mit dem sie<br />

die Vorlesung mitschneidet.<br />

IX<br />

Du sollst nicht f<strong>als</strong>ches Zeugnis geben wider<br />

deinem Nächsten<br />

Dekalog Neun beginnt mit einem Gespräch,<br />

in dem der glücklich verheiratete<br />

Chirurg Roman erfährt, dass er für immer<br />

impotent sein wird. Angst und Selbstzweifel,<br />

Verdächtigungen und Eifersucht keimen<br />

auf, während sie sich ewige Liebe und<br />

Treue schwören. In einem Gespräch mit einer<br />

gesanglich sehr begabten Studentin, die<br />

Patientin des Krankenhauses ist, in dem der<br />

Chirurg arbeitet, wird die anmaßende Winzigkeit<br />

dessen angedeutet, was ein Mensch<br />

zum Leben braucht: Wechselseitige Liebe<br />

und Anerkennung, die sich zwischen den<br />

natürlichen und individuell unterschiedlichen<br />

Abstand zwischen Daumen und Zeigefinger<br />

passt. Insgeheim unterstellt er seiner<br />

Frau Hanka eine Beziehung zu einem<br />

anderen Mann und spioniert ihr nach. Dadurch,<br />

dass sie tatsächlich eine Affäre mit<br />

dem Studenten Mariusz hat, wird die Ehe<br />

auf eine harte Probe gestellt. F<strong>als</strong>che Schlüsse<br />

führen schließlich zu einem Selbstmordversuch.<br />

X<br />

Du sollst nicht begehren deines Nächsten<br />

Frau, Haus, Sklave, Rind, Esel oder sonst etwas,<br />

das ihm gehört. (Dt)<br />

In Dekalog Zehn werden die Konsequenzen<br />

der Erbschaft einer kostbaren<br />

Briefmarkensammlung hinsichtlich Neid<br />

und Besitzgier mit Anleihen an Krimin<strong>als</strong>tücke<br />

ausbuchstabiert. Die Brüder Artur<br />

und Jerzy streben danach die Sammlung<br />

zu komplettieren. Bei einem konspirativen<br />

Treffen im Park mit dem Markenhändler,<br />

in dem es weniger um Philatelistisches <strong>als</strong><br />

um Blutgruppen geht, erklärt sich Jerzy<br />

bereit, eine Niere für die krankte Tochter<br />

des Markenhändlers zu spenden. Doch die<br />

Sammlung wird trotz aller Sicherheitsmassnahmen<br />

gestohlen. Hatten die beiden schon<br />

zuvor nur den eigenen Vorteil im Auge, so<br />

steigern sie sich nun in gegenseitige Schuldzuweisungen<br />

und Verdächtigungen.<br />

Jüngere und junge, weniger bekannte<br />

polnische RegisseurInnen nehmen sich<br />

einzelner Themen und Stoffe wie Schuld,<br />

Familie und Erinnerung, die im Dekalog<br />

angedeutet oder aufgegriffen werden, wegen<br />

deren Aktualität in einer sich radikal<br />

veränderten Welt an, die Spuren christlicher<br />

Werte aufweist. Mit Zweifel, aber<br />

ohne Angst arbeiten sie an einer Weiterentwicklung<br />

der hier fassbaren, am Dokumentarischen<br />

geschulten Filmsprache in ihrer<br />

bisweilen spröden, langsamen Nachhaltigkeit<br />

in der furchtlosen Auseinandersetzung<br />

mit kulturübergreifenden Urthemen. 10 Auf<br />

den verwandten Filmbändern und anderen<br />

Speichermedien haben alle Varianten von<br />

10 Siehe: Krzystof Krauze, Schuld, 1999; Filip<br />

Zylber, Abschied von Maria, 1993; Wojciech<br />

Smarzowski, Hochzeit 2004; Dorota Kedzierzawska,<br />

Krähen, 1994; Magdalena Piekorz,<br />

Striemen, 2004; Dariusz Jabłoński, Der<br />

Fotograf, 1998, Macie J. Drygas, Hört meinen<br />

Schrei, 1991; Slawomir Fabicki, Männersache,<br />

2001; Wojciech Staroń, Eine Polin in Sibirien,<br />

1998.<br />

145


Menschen gleichberechtigt Platz. 11 Ihren<br />

Aussagen und Werken zufolge scheint ihnen<br />

viel daran zu liegen, sich der Wirklichkeit in<br />

ihren Eigenheiten mit dem Bewusstsein für<br />

deren in sich brüchige Strukturen und Rituale<br />

anzunähern und deren Durchlässigkeit<br />

gegenüber den großen Themen auf ebenso<br />

behutsame wie radikale Weise ausgehend<br />

von ihrem unmittelbaren Lebens- und Erfahrungsumfeld<br />

transparent werden zu lassen.<br />

12 Parallel dazu entstehen Filme mit bisweilen<br />

surreal überformten Qualitäten über<br />

Phänomene wie Egoismus, kapitalismusgesättigte<br />

Dekadenz und Exzesse. 13 Die staatliche<br />

Filmförderung, ein jahresübergreifendes<br />

Festivalwesen innerhalb Polens sowie die Beteiligung<br />

junger Regisseure an internationalen<br />

Kurzfilmfestiv<strong>als</strong> tragen dazu bei, dass<br />

diese Form der Filmkultur im Angesicht der<br />

wachsenden Kommerzialisierung weiterexistieren<br />

kann. 14 Der ideale Betrachter dieser<br />

Filme ist ein cinophiler Mensch jeglicher<br />

Altersklasse, für den der Gang ins Kino ein<br />

selbstverständliches Ritual innerhalb des lebenslangen<br />

Prozesses ist, sich in der Welt<br />

und den darin lebenden Menschen zurechtfinden<br />

zu lernen und dabei im Bewusstsein<br />

für Vorträglichkeiten, Wiederholungen und<br />

Nachträglichkeiten ebenso kostbare wie<br />

schmerzliche Erfahrungen zu sammeln.<br />

11 Siehe: Piotr Trzask<strong>als</strong>ki, Edi, 2002; Maciej<br />

Adamek, Leben Lernen, 2003; Borys Lankosz,<br />

Evolution, 2001.<br />

12 Siehe: Marek Lechki, Meine Stadt, 2002;<br />

Mariusz Front, Doppelporträt, 2000; Dariusz<br />

Gajewski, Warschau, 2003.<br />

13 Mariusz Treliński, Die Egoisten, 2000; Lech<br />

J. Majewski, Wojaczek, 1999; Łukasz Barczyk,<br />

Wandlungen, 2003; Piotr Szczepański, Generation<br />

C.K.O.D.<br />

14 Die Filmförderung fällt in die Zuständigkeit<br />

folgender Institutionen: Biuro Komitetu<br />

Kinematografii, Warschau; Agencia Produkcji<br />

Filmowej, Warschau; Agencija Scenariuszowa,<br />

Warschau; Film Polski Agencija Promocij, Warschau;<br />

Filmoteca Naradowa, Warschau. Monatlich<br />

erscheint die Zeitschrift „Kino“ (www.<br />

kino.onet.pl). Für eine Übersicht der jährlich<br />

stattfindenden Festiv<strong>als</strong> siehe: Polski Cinema<br />

2001, hrsg. v. Film Polski Agencija Promocji,<br />

Warschau 2001, S. 17.<br />

146


Teuflische Einbildungen.<br />

Der polnische Regisseur Roman Polanski und<br />

die Imagination des Bösen<br />

von Julian Hanich<br />

Der polnische Regisseur Roman Polanski hat in seinem Leben viele Spielarten<br />

des menschlichen Horrors kennengelernt. Diese Erfahrungen spiegeln sich in<br />

seinen Filmen. Allerdings vermeidet er dabei häufig die direkte Darstellung<br />

von Gewalt und Grauen und verlässt sich lieber auf den Vorstellungswillen des<br />

Zuschauers.<br />

Der Mensch Roman Polanski hat dem<br />

„Bösen“ vielfach ins Gesicht gesehen: dem<br />

„Bösen“ in seinen scheußlich schillernden<br />

Facetten von Genozid, Mord, Folter, Denunziation<br />

und Vergewaltigung. Der Regisseur<br />

Roman Polanski ist dem „Bösen“ ein<br />

ganzes Filmemacherleben lang auf den Fersen<br />

geblieben, um es einzufangen, auf die<br />

Leinwand zu zerren und seine Fratze dem<br />

Zuschauer vor Augen zu führen – oder sollte<br />

man vielleicht eher sagen: es mit suggestiven<br />

Aussparungen wirkungsmächtig anzudeuten?<br />

Auf der einen Seite stehen die persönlichen<br />

Erfahrungen: Der polnische Jude Polanski,<br />

geboren am 18. August 1933, wuchs im Krakauer<br />

Getto auf, wo er die kaltblütige Erschießung<br />

einer Frau hautnah erlebte, den<br />

Abtransport seiner Mutter mit ansehen<br />

musste und selbst nur knapp der Liquidierung<br />

des Gettos entkam. Er überlebte auf<br />

dem Land bei Bauern-Familien, die ihn versteckten.<br />

Nach dem Krieg erfuhr er, dass<br />

seine Mutter in Auschwitz vergast worden,<br />

dass sein Onkel in Buchenwald gestorben,<br />

dass sein Vater dem Tod in Mauthausen nur<br />

knapp entronnen war. Am 9. August 1969<br />

wurde seine Frau Sharon Tate, dam<strong>als</strong> im<br />

achten Monat schwanger, in ihrem Haus in<br />

den Hollywood Hills brutal von vier Mitgliedern<br />

der Gruppe um Charles Manson<br />

mit 16 Messerstichen ermordet. Mit dem<br />

Blut von Polanskis Frau hatte eine der Täterinnen<br />

noch das Wort „Pig“ an die Wand<br />

geschmiert, bevor sie floh. Er selbst stand<br />

1977 in den USA vor Gericht, weil er ein 13-<br />

jähriges Mädchen erst zum Drogenkonsum<br />

verführt und dann oral, vaginal und anal penetriert<br />

hatte. Er entzog sich dem Urteil, <strong>als</strong><br />

sich eine Gefängnisstrafe abzeichnete und<br />

floh im Februar 1978 nach Frankreich. Seitdem<br />

ist er nicht mehr in die USA zurückgekehrt,<br />

dem Land, wo er mit Rosemary’s Baby<br />

(1968) und Chinatown (1974) zwei seiner<br />

größten Filme gedreht hatte. Selbst seinen<br />

Oscar für die „beste Regie“ (Der Pianist)<br />

nahm er 2002 nicht selbst entgegen.<br />

Auf der anderen Seite findet man seine<br />

filmische Auseinandersetzung mit dem<br />

Abgründigen, Niederträchtigen, Abscheulichen.<br />

Auch wenn man mit einer monokausalen<br />

Ursache-Wirkungs-Erklärung zwischen<br />

Leben und Werk selten weit kommt,<br />

liegt es dennoch nahe, in seiner Biographie<br />

zumindest eine Teilerklärung für seine Faszination<br />

für das „Böse“ zu suchen. In einem<br />

Roman Polanski<br />

(Foto: Steve Pyke)<br />

147


Interview erzählte er einmal: „When I was<br />

eight years old I was attacked and robbed in<br />

Krakow. Someone nearly bashed my skull<br />

in with a stone wrapped in newspaper. He<br />

hit me five times, very hard. When I woke<br />

up, I saw the blood running over my face<br />

and eyes. And ever since that day, whenever<br />

I’m standing under the shower, I feel the<br />

blood running over me.” Blut rinnt auch<br />

über das Auge des Betrachters seiner Filme<br />

– wenngleich es meist sein inneres Auge ist.<br />

Polanski hat Filme gedreht über Folter und<br />

Trauma (Der Tod und das Mädchen, 1994),<br />

den Holocaust (Der Pianist), Inzest (Chinatown),<br />

den mörderischen Willen zur Macht<br />

(Macbeth, 1971) und sadistischen Sex (Bitter<br />

Moon, 1992). Und mit Filmen wie The<br />

Fearless Vampire Killers (1967), Rosemary’s<br />

Baby und The Ninth Gate (1999) ist er immer<br />

wieder zu jenem Genre zurückgekehrt,<br />

das die Frage der manichäischen Konfrontation<br />

von „Gut“ und „Böse“ brennglasartig<br />

bündelt: dem Horrorfilm.<br />

Das Erstaunliche dabei: Polanski meidet<br />

häufig den direkten Blick ins Gesicht<br />

des Horrors – dennoch entkommen seine<br />

Zuschauer dem Angesicht des „Bösen“<br />

nicht. Wie ist das möglich? Anders <strong>als</strong> seine<br />

amerikanischen Kollegen Martin Scorsese,<br />

Quentin Tarantino oder Stanley Kubrick<br />

(ganz zu schweigen von der blutrünstigen<br />

Horde der Horror-Regisseure), gehört es zu<br />

Polanskis Stilprinzip, das „Böse“ nicht zu<br />

zeigen, sondern es vielmehr anzudeuten.<br />

Die Darstellung des Monsters, des Teufels,<br />

der Gewalt verlagert er geschickt von der<br />

Kinoleinwand auf die „innere“ Leinwand<br />

des Zuschauers. Mit anderen Worten: Er<br />

gelangt durch Suggestion zur Imagination,<br />

durch die Kraft der Andeutung zur Einbildungskraft.<br />

Polanski hat selbst einmal<br />

von der „landscape of the mind“ gesprochen:<br />

jener Bilder-Landschaft, bei der externe<br />

filmische Reize in interne mentale Einbildungen<br />

übergehen. Polanski behauptet,<br />

stark von Richard L. Gregorys Klassiker Eye<br />

and Brain. The Psychology of Seeing (1966)<br />

beeinflusst zu sein. Darin argumentiert der<br />

britische Psychologe, dass unsere Wahrnehmungen<br />

durch die Summe unserer optischen<br />

Erfahrungen mitgeformt werden.<br />

In seiner Autobiographie von 1984 schreibt<br />

der Filmemacher zusammenfassend: „Wir<br />

sehen weit weniger, <strong>als</strong> wir glauben – weil<br />

in unserem Gehirn bereits frühere Eindrücke<br />

gespeichert sind.“ Die Imagination<br />

in Polanskis Kino (und nicht nur dort) ist<br />

immer ein synthetischer Akt, der sich parasitär<br />

unterschiedlicher mentaler Zustände<br />

bedient: der aktuellen Wahrnehmung, der<br />

Erinnerung sowie allgemeiner konzeptueller<br />

Vorstellungen.<br />

Dazu gibt es ein schönes Beispiel aus dem<br />

Film The Fearless Vampire Killers (der bei<br />

uns <strong>als</strong> Tanz der Vampire bekannt wurde).<br />

Der Vampirjäger Professor Abronsius (Jack<br />

McGowran) und sein Assistent Alfred (Roman<br />

Polanski) setzen an, dem schlafenden<br />

Vampir Shagal (Alfie Bass) einen spitzen<br />

Holzpflock ins Herz zu hämmern. Polanski<br />

zeigt diese Szene nicht direkt – stattdessen<br />

nimmt er einen Umweg, indem er<br />

die Tat <strong>als</strong> Schattenwurf an die Wand projiziert.<br />

Als Alfreds Schatten auf den vom<br />

Professor gehaltenen Pflock schlägt, legen<br />

wir jedoch das in der Szene zuvor gesehene<br />

Bild des aufgebahrten Vampirs und die beiden<br />

tatsächlichen Protagonisten ‚über’ die<br />

Schattenbilder an der Wand. Man könnte<br />

von einer mentalen Doppelbelichtung sprechen:<br />

Wir sehen Imaginations- und Wahrnehmungsbild,<br />

mentales und Filmbild<br />

gleichzeitig übereinander geschichtet. Die<br />

Gewaltdarstellung wird folglich nur angedeutet<br />

und findet erst in unserem Kopf<br />

ihre volle Konkretisierung. Dass Polanski<br />

daraus auch noch einen herrlichen Gag zu<br />

ziehen in der Lage ist, beweist seine Größe<br />

in Sachen Suggestion: Nach einem Schnitt<br />

enthüllt er uns nämlich, dass die beiden gar<br />

nicht auf den Vampir eingehauen haben<br />

(wie man zunächst annehmen musste), sondern<br />

dass der Pflock in ein Kissen geschlagen<br />

wurde:<br />

Roman Polanski und Jack McGowran in The Fearless<br />

Vampire Killers Quelle: MGM)<br />

148


Am exemplarischsten führt uns Polanski<br />

das Wirkungsprinzip der Andeutung jedoch<br />

am berühmten Ende von Rosemary’s Baby<br />

vor Augen, auf das ich nun im Detail eingehen<br />

will. Worin geht es in Rosemary’s Baby?<br />

Das frischvermählte Ehepaar Woodhouse<br />

bezieht zu Beginn des Films ein großes,<br />

leicht unheimlich anmutendes Apartment<br />

in New York City. Wie sich herausstellt, ist<br />

mit der Wohnung, mit den Nachbarn und<br />

in der Folge auch mit Rosemary (Mia Farrow)<br />

irgendetwas nicht in Ordnung. Eines<br />

Nachts träumt Rosemary, wie sie von Satan<br />

vergewaltigt wird. Oder erlebt sie den<br />

teuflischen Beischlaf tatsächlich? Jedenfalls<br />

stellt sie wenig später fest, dass sie in jener<br />

Nacht befruchtet wurde. Die Schwangerschaft<br />

verläuft merkwürdig: Sie nimmt beinahe<br />

nichts mehr zu sich, entwickelt paranoide<br />

Züge und wähnt sich verfolgt. Oder<br />

stellt ihr tatsächlich jemand nach? Dennoch<br />

gebiert sie das Kind – nur um dann herauszufinden,<br />

dass sie von einer satanischen Sekte,<br />

zu der auch ihr Mann Guy (John Cassavettes)<br />

und das benachbarte Ehepaar Minnie<br />

(Ruth Gordon) und Roman Castevet (Sidney<br />

Blackmer) gehören, benutzt wurde, um<br />

den Sohn des Teufels auszutragen. Oder ist<br />

es gar nicht Satans Sohn?<br />

In der besagten Schlussszene betritt Rosemary<br />

mit einem Messer bewaffnet das<br />

Wohnzimmer ihrer Wohnung, wo sich die<br />

satanische Sekte versammelt hat. Langsam,<br />

beinahe tranceartig nähert sie sich der<br />

schwarzen Wiege ihres Kindes (siehe Foto).<br />

Da ihr das Baby sofort nach der Geburt entzogen<br />

wurde, hat sie es bis dahin noch nicht<br />

zu Gesicht bekommen. Das gleiche gilt für<br />

uns Zuschauer: Wir haben es bisher nur<br />

schreien gehört, gesehen haben wir es nicht.<br />

Der Clou an dieser Szene, ja des gesamten<br />

Films ist gerade, dass wir das Teufelskind<br />

nie tatsächlich sehen werden. Die Szene ist<br />

zunächst geprägt von nahezu völliger Stille.<br />

Nur das leise Tick-Tack, Tick-Tack einer<br />

Wanduhr ist aus dem Hintergrund zu hören.<br />

Vorsichtig zieht Rosemary den Schleier<br />

der Wiege beiseite, wobei der Film uns weiterhin<br />

bewusst den Blick auf das Kind verwehrt.<br />

Als Rosemary das Kind erblickt, weiten<br />

sich ängstlich ihre Augen. Sie reißt ihre<br />

linke Hand vor dem Mund und sieht sich<br />

erschrocken um. Die Musik schwillt an; die<br />

Streicher imitieren weibliche Schreie.<br />

Mia Farrow in der Schlussszene von Rosemary’s Baby<br />

(Quelle: Paramount Pictures)<br />

Zu diesem Zeitpunkt dürfte bei den meisten<br />

Zuschauern die Imagination noch vage<br />

und schemenhaft sein (wenn überhaupt irgendetwas<br />

visualisiert wird). Mit anderen<br />

Worten: Es stellt sich noch keine visuelle<br />

Vorstellung des monströsen Kindes ein.<br />

Dies ändert sich jedoch schrittweise – und<br />

zwar schon sehr bald. Zunächst, wenn wir<br />

Rosemary fragen hören: „What have you<br />

done to it? What have you done to its eyes?”<br />

Und dann, deutlicher noch, wenn der Nachbar<br />

Roman Castavet antwortet: “He has his<br />

father’s eyes.” Die beiden Verweise auf die<br />

Augen des Kindes legen es dem Zuschauer<br />

nahe, zur Vergewaltigungsszene zurückzugehen,<br />

in welcher für einen kurzen Moment<br />

die beängstigenden, orangefarbenen Augen<br />

des Teufels auffunkelten. Da uns der Film<br />

sehr stark nahe legt, dass Rosemarys Kind<br />

identisch ist mit Satans Sohn, setzt er ein<br />

sehr lebhaftes Imaginationsbild frei, das sich<br />

– einerseits – aus der Erinnerung der Teufelsaugen<br />

aus der früheren Szene und – andererseits<br />

– einer Vorstellung von Babys im<br />

Allgemeinen zusammensetzt: ein mentales<br />

Bild <strong>als</strong>o, in dem ein Babygesicht und teuflische,<br />

orangefarbene Augen (vergleichbar,<br />

aber nicht identisch mit den vorher im Film<br />

gesehenen) verschmelzen.<br />

Dieses Imaginationsbild wird neu belebt<br />

und in anderen Facetten konkretisiert,<br />

wenn zwei Frauen aus der Sekte Rosemary<br />

auffordern, die Hände und Füße des Kindes<br />

anzusehen. Vor meinem mentalen Auge<br />

blitzte in diesem Moment das Bild eines Ba-<br />

149


ys mit widerlichen, entstellten, braunen<br />

Händen auf, vergleichbar mit – aber kleiner<br />

<strong>als</strong> – diejenigen des Teufels in der zuvor<br />

erwähnten Vergewaltigungsszene. Da die<br />

Vergewaltigungsszene jedoch keine Darstellung<br />

der Füße des Teufels enthält, muss<br />

der Zuschauer daher auf mentales Bildmaterial<br />

jenseits des Filmes zurückgreifen. In<br />

meiner Vorstellung sah ich das Baby mit<br />

zwei Pferdefüßen ausgestattet, wie ich sie<br />

ganz ähnlich <strong>als</strong> Kind in dem beliebten<br />

Bilderbuch Hans Wundersam gesehen hatte.<br />

Meine visuelle Imagination dieser Szene<br />

bediente sich <strong>als</strong>o zweier unterschiedlicher<br />

Formen der Erinnerung: Ich erinnerte mich<br />

an eine frühere Szene des Films und eine<br />

Darstellung, die ich <strong>als</strong> Kind gesehen hatte<br />

– und brachte beide in das Imaginationsbild<br />

mit ein.<br />

Weiterführende Literatur<br />

Edward Casey: Imagining. A Phenomenological<br />

Study. Bloomington: Indiana University<br />

Press, 2000.<br />

Paul Cronin (Hg.): Roman Polanski Interviews.<br />

Jackson: University of Mississippi<br />

Press, 2005.<br />

Richard L. Gregory: Eye and Brain. The<br />

Psychology of Seeing. London: Weidenfeld,<br />

1977.<br />

Roman Polanski: Autobiographie. München:<br />

Heyne, 1985.<br />

Um es noch einmal zu betonen: Diese<br />

bildliche Imagination ist ein synthetischer<br />

Akt. Zwei unterschiedliche mentale Zustände<br />

– Erinnerung und allgemeine konzeptuelle<br />

Vorstellung – verbinden sich in einem<br />

dritten – der Imagination – und fördern so<br />

ein synthetisiertes Bild des Teufelssohnes<br />

zutage. Durch geschickte Manipulation<br />

bringt uns der Regisseur Roman Polanski<br />

<strong>als</strong>o dazu, das Bild von Satans Sohn so lebhaft<br />

auf unsere mentale Leinwand zu projizieren,<br />

dass viele Zuschauer es danach<br />

tatsächlich <strong>als</strong> Teil des Zelluloidstreifens<br />

wähnten. In seiner Autobiographie weist<br />

Polanski auf eben diese Reaktionen mancher<br />

Zuschauer hin, „die sich einbildeten,<br />

das Baby samt teuflischen Pferdefüßen erblickt<br />

zu haben. Dabei war das einzige, was<br />

sie im Bruchteil einer Sekunde tatsächlich<br />

gesehen hatten, eine hauchfeine Überblendung<br />

der katzengleichen Augen, die auf<br />

Rosemary herabstarren – und zwar schon<br />

in ihrem Alptraum zu Beginn des Films.“<br />

Auch mir ging es so, <strong>als</strong> ich den Film für<br />

diesen Essay kürzlich noch einmal sah: Völlig<br />

überzeugt dem Film-Bild des satanischen<br />

Kindes am Ende wieder zu begegnen, war<br />

ich überrascht, <strong>als</strong> dieses sich an keiner Stelle<br />

materialisierte. In meiner Erinnerung an<br />

den Film hatte ich die visuelle Imagination<br />

offenbar unter visueller Wahrnehmung gespeichert.<br />

Gibt es einen lebhafteren Beweis<br />

für die Macht von Polanskis unheimlichen<br />

Suggestionen des „Bösen“?<br />

150


Klaus Kinski<br />

von Michael Lentze<br />

Klaus Kinski war ohne Zweifel einer der<br />

größten Schauspieler des vergangenen Jahrhunderts.<br />

In zahllosen Filmen zeigte er sein<br />

künstlerisches und schauspielerisches Genie.<br />

In vielen Werken ist er <strong>als</strong> Person zu erleben,<br />

die stets zwischen Genie und Wahnsinn<br />

agiert und auf einem schmalen Grad<br />

den Zuschauer bedrückt und fesselt gleichermaßen.<br />

Kinski – geboren <strong>als</strong> Nikolaus Günther<br />

Karl Nakszynski in Zoppot bei Danzig<br />

– führt auch privat ein Leben, das durch<br />

ständige Grenzüberschreitungen fasziniert.<br />

Er wird oft <strong>als</strong> Egomane beschrieben, der<br />

keinen Gott neben sich dulde. Er legte eine<br />

selbstzerstörerische Radikalität und Professionalität<br />

an den Tag, die berufliche und<br />

private Konflikte oft eskalieren ließ, ihn<br />

aber letztlich zu der ihm eigenen Kreativität<br />

führte.<br />

In einzigartiger Weise vermochte er seine<br />

jeweiligen künstlerischen Rollen mit dem<br />

realen Leben zu verschmelzen: „Ein Künstler,<br />

der ausschließlich aus und für sich existierte<br />

und keinerlei Distanz zur Profession<br />

kannte: Das Leben und die Kunst wurden<br />

identisch“ (Ina Brockmann: Klaus Kinski,<br />

Deutscher Taschenbuchverlag 2001).<br />

Er kannte kein Maß und kein Urteil<br />

und vertraute letztlich nur der eigenen Person.<br />

In seinem Werk zeigte und lebte er den<br />

haltlosen Rowdy letztlich ebenso authentisch<br />

wie den sensiblen Künstler. Nur wenige<br />

Schauspieler polarisieren derartig stark<br />

wie Klaus Kinski: er wurde geliebt oder gehasst<br />

ob seiner Tabubrüche und Wutanfälle.<br />

Er wurde bewundert für seine gnadenlose<br />

Offenheit der Gesellschaft und dem Leben<br />

gegenüber und mit Abscheu betrachtet <strong>als</strong><br />

Person, die jeden Respekt vor Dingen und<br />

Personen verloren zu haben schien.<br />

Viele seiner Filme entstanden in Zusammenarbeit<br />

mit Werner Herzog, der die Ambivalenz<br />

im Umgang mit Kinski erlebt hat<br />

und in seinem Werk „Mein liebster Feind<br />

– Klaus Kinski“ (1999) retrospektiv darlegt.<br />

In einem Interview zu diesem Film sagte<br />

er einmal: „Im übrigen habe ich auch mit<br />

Kinski jeden Tag völlig anders und neu gearbeitet<br />

- je nach Bedürfnis, nach Lage oder<br />

je nach Zerbrechlichkeit zum Beispiel. Es<br />

gab viele Tage, an denen er sozusagen ein<br />

Stützkorsett brauchte und andere, wo er<br />

eine bedingungslose Sicherheit im Hintergrund<br />

forderte, die ich ihm zu geben hatte.<br />

Manchmal musste ich ihn absichtlich provozieren,<br />

damit er sich erst Mal leer brüllt<br />

und nach zwei Stunden Schreikrämpfen<br />

ganz leise, konzentriert und gefährlich war.<br />

Jeder Tag begann unausrechenbar morgens<br />

beim gemeinsamen Frühstück.“ (aus der<br />

Wochenzeitung: Freitag37, Berlin, 29. Oktober<br />

1999).<br />

Kinski vermochte es in einzigartiger Weise,<br />

Rastlosigkeit, Kompromißlosigkeit und<br />

Besessenheit in seinen Rollen zu verkörpern.<br />

Daß sich seine Einstellung auch im realen<br />

Leben widerspiegelte, verwundert nicht.<br />

In seinen Memoiren „Ich bin so wild nach<br />

deinem Erdbeermund“ (München, 1975)<br />

beschreibt Kinski in schonungsloser Offenheit,<br />

wie er auf der ständigen Hast nach<br />

Arbeit, Liebe, Arbeit, Liebe, Arbeit und viel<br />

Liebe lebt.<br />

151


In seinem letzten Film „Kinski Paganini“<br />

agiert Klaus Kinski sowohl <strong>als</strong> Hauptdarsteller<br />

wie <strong>als</strong> Regisseur. Schon in den<br />

sechziger Jahren entdeckt Kinski Parallelen<br />

zwischen sich und dem berühmten italienischen<br />

Geiger: beide verausgaben sich<br />

für das Publikum, provozieren mit ihrem<br />

künstlerischen Ausdruck, führen einen exzessiven<br />

Lebensstil mit scheinbar unersättlicher<br />

Lust am Sex.<br />

In Deutschland gelangte der Film<br />

schließlich 1999 in die Kinos – Jahre nach<br />

Kinskis Tod. Die Reaktionen reichten von<br />

absoluter Ablehnung bis hin zu totaler Bewunderung.<br />

Eine Polarisierung in den öffentlichen<br />

Meinungen, wie sie Kinski sein<br />

Leben lang begleitet hat.<br />

Kinski sammelt für den Film Jahrzehnte<br />

lang alles an Informationen über Niccolo<br />

Paganini, was er auftreiben kann, dazu<br />

Requisiten jeder Art. Er schreibt das Drehbuch,<br />

überarbeitet es, versucht Geldgeber<br />

für sein Projekt zu finden, was ihm erst<br />

Ende der achtziger Jahre gelingt.<br />

In seinem Film will er seine Perfektion<br />

und seine Ideen umsetzen – ohne irgendwelche<br />

Kompromisse eingehen zu müssen.<br />

Er bereitet jede Einstellung jahrelang vor,<br />

wählt jedes Musikstück selber aus und will<br />

sich um der Authentizität wegen sogar alle<br />

Zähne ziehen lassen – sein Zahnarzt verweigerte<br />

sich jedoch dem Eingriff. In seiner<br />

Autobiographie schreibt er schließlich über<br />

die Dreharbeiten: „Die Arbeit an Pagani<br />

war die einzige magische Arbeitszeit meines<br />

Lebens gewesen.“ (Klaus Kinski: Ich brauche<br />

Liebe, München 1991).<br />

Als der Film schließlich 1988 in der fertigen<br />

Fassung vorliegt, stößt er auf Ablehnung,<br />

da er <strong>als</strong> zu brutal und nahezu pornographisch<br />

angesehen wird. Kinski selber<br />

kämpft die letzten Jahre seines Lebens<br />

schließlich um die Aufführung – großenteils<br />

vergebens.<br />

Er begeistert mit seinem Werk in Privataufführen<br />

zwar viele Menschen, ins<br />

Kino bringt er ihn aber nicht. „Was mich<br />

interessiert ist, daß das Kinopublikum meinen<br />

Film sieht. Der Kampf um den Verleih<br />

meines Filmes wird nicht eher enden, <strong>als</strong><br />

bis die ganze Welt Kinski Paganini sehen<br />

kann.“ (aus: Ich brauche Liebe).<br />

152


Dramatische Theologie in Innsbruck – der<br />

europäische Theologe Jozéf Niewiadomski<br />

von Sebastian Maly<br />

Der in Innsbruck lehrende, aus Lublin stammende Theologe Józef Niewiadomski<br />

steht für das theologische Paradigma einer „Dramatischen Theologie“. Welche<br />

dramatischen Erkenntnisse stecken hinter diesem Ansatz?<br />

Begegnet bin ich dem Theologen Jozéf<br />

Niewiadomski das erste Mal am Beginn<br />

meines Studiums in einem theologischen<br />

Sammelband, der das theologische Verhältnis<br />

des Christentums zu anderen Religionen<br />

zum Thema hatte. Im Inhaltsverzeichnis<br />

stand auch ein von einem Autorentrio verfasster<br />

dreiteiliger Aufsatz mit dem Titel<br />

„Dramatischer Ansatz für die Begegnung<br />

der Weltreligionen“. Einer der Autoren war<br />

Niewiadomski. Ich überblätterte den Aufsatz<br />

mit einem Kopfschütteln, klang er mir<br />

doch zu sehr nach dem, was viele Theologen<br />

sehr gerne tun: Sie laufen irgendeinem<br />

in anderen Wissenschaften aufgebrachten<br />

Stichwort hinterher und machen daraus ein<br />

neues theologisches Paradigma („Narrative<br />

Theologie“, „Neurotheologie“, „Kommunikative<br />

Theologie“), womit sich inzwischen<br />

auch gut Drittmittel einwerben lassen.<br />

Bei besagtem Aufsatz musste ich zunächst<br />

an ein Theater der Weltreligionen denken,<br />

schlimmstenfalls malte ich mir eine Art Familienaufstellung<br />

der Weltreligionen aus.<br />

Ich habe bis heute den besagten Aufsatz<br />

nicht gelesen. Inzwischen weiß ich aber,<br />

dass hinter dem „dramatischen Ansatz“ der<br />

drei Autoren eine „Dramatische Theologie“<br />

(DT) steckt, die tatsächlich ein ernstzunehmendes<br />

theologisches Paradigma darstellt,<br />

das Aufmerksamkeit und keinen leisen<br />

Spott verdient, auch wenn man selbst nicht<br />

auf diese Weise Theologie treiben möchte.<br />

Einer der Hauptakteure der dramatischen<br />

Theologie ist Jozéf Niewiadomski. Er wurde<br />

1951 in Lublin geboren. Nach Studien in<br />

Lublin und Innsbruck wurde er 1975 zum<br />

Priester der Diözese Lublin geweiht und<br />

verfolgte anschließend eine akademische<br />

Laufbahn an der Universität Innsbruck.<br />

Dort war er der erste Assistent und Doktorand<br />

von Raymund Schwager SJ, dem leider<br />

kürzlich verstorbenen Dogmatikprofessor,<br />

der <strong>als</strong> Gründungsvater der DT zu gelten<br />

hat, weswegen man ihn in Fachkreisen liebevoll-spöttisch<br />

den „Sündenbock-Schwager“<br />

genannt hat. Auf die Ursache dieses<br />

Spitznamens komme ich gleich noch zurück.<br />

Niewiadomski promovierte und habilitierte<br />

in Innsbruck, war dann von 1991 bis<br />

1996 Professor für Dogmatik in Linz, bevor<br />

er 1996 Professor für Dogmatik in Innsbruck<br />

wurde, wo er bis heute lehrt und wirkt.<br />

Bei aller intellektuellen Eigenständigkeit<br />

verfolgt Niewiadomski – u.a. auch <strong>als</strong><br />

Teilnehmer eines groß angelegten interfakultären<br />

Forschungsprojekts („Dramatische<br />

Theologie: Innsbrucker Forschungsprojekt<br />

zu Religion, Gewalt, Kommunikation und<br />

Weltordnung“) – das von seinem Lehrer<br />

Schwager begründete Paradigma einer DT.<br />

153


Deswegen ist die DT gut geeignet, den Theologen<br />

Niewiadomski vorzustellen und dabei<br />

ein intellektuelles Profil sichtbar zu machen,<br />

das sich auch mit dem Thema unseres<br />

Europäischen Doktorandenkolloquiums<br />

„Erinnerung und Identität“ in Verbindung<br />

bringen lässt.<br />

Was ist DT? DT ist ein Forschungsprojekt<br />

oder -programm, das in vielfältiger<br />

Weise auf wissenschaftliche, gesellschaftliche<br />

und historische Herausforderungen<br />

reagiert. Niewiadomski hat gemeinsam mit<br />

Schwager und anderen dieses Programm in<br />

einem Aufsatz aus dem Jahr 1996 zu formulieren<br />

versucht. Der „harte Kern der DT“,<br />

wie Schwager und Niewiadomski es nennen,<br />

besteht demnach aus folgenden Thesen:<br />

1. Ein dauerhafter und echter Friede<br />

zwischen den Menschen, der nicht auf einer<br />

Opferung Dritter aufgebaut ist und ohne<br />

Polarisierung auf Feinde auskommt, übersteigt<br />

menschliche Kräfte. Wenn er dennoch<br />

Wirklichkeit wird, ist dies ein klares<br />

Zeichen dafür, dass Gott selber in den<br />

Menschen am Wirken ist (inkarnatorische<br />

Logik).<br />

2. Wenn echte Versöhnung zwischen<br />

Menschen versagt, wird das Unbewältigte<br />

– oft im Namen Gottes – auf Dritte abgeschoben.<br />

Auf diese Weise entstehen ‚Sün-<br />

Eine ausführliche Bibliographie von Niewiadomski<br />

findet sich unter http://systheol.uibk.<br />

ac.at/niewiadomski/publ/ .<br />

Ich stütze mich bei der Darstellung der DT<br />

auf den Aufsatz Schwager/Niewiadomski et al.<br />

(1996), Dramatische Theologie <strong>als</strong> Forschungsprogramm,<br />

in: Zeitschrift für Katholische Theologie<br />

118 [1996], 317-344. Auch alle wörtlichen<br />

Zitate entstammen diesem Aufsatz. Leider<br />

rekonstruiert der Aufsatz das Forschungsprogramm<br />

der DT auf eine m.E. unnötig<br />

komplizierte und teilweise verwirrende Weise,<br />

indem er es in ein fragwürdiges wissenschaftstheoretisches<br />

Korsett zu zwängen versucht,<br />

das wiederum die Wissenschaftlichkeit von<br />

Theologie gewährleisten soll. Außerdem sind<br />

die Ausführungen mit allerlei theologischen Voraussetzungen<br />

und Begriffen gespickt, die nicht<br />

erklärt werden, und selbst beim Fachtheologen<br />

das ein oder andere Stirnrunzeln auslösen.<br />

denböcke’. Da Jesus Christus in seiner gewaltfreien<br />

Feindesliebe sich selber vom<br />

Bösen treffen ließ und da Gott ihn vom<br />

Tod erweckt hat, kann durch den Glauben<br />

an Jesus Christus das Versagen beim eigenen<br />

Bemühen um echte Versöhnung positiv<br />

aufgearbeitet und in das Bemühen um einen<br />

dauerhaften Frieden integriert werden.<br />

3. Der in der Spannung zwischen<br />

Abschiebung (der Schuld) und Versöhnung<br />

ermöglichte Lebensraum stellt den Ort aller<br />

anderen menschlichen und mitmenschlichen<br />

Erfahrungen (z.B. Endlichkeit, Sexualität)<br />

dar und transformiert auch die<br />

Naturerfahrungen des Menschen.<br />

Der „harte Kern“ der DT formuliert ein<br />

Paradigma, einen Rahmen, innerhalb dessen<br />

eine Theologie auf der Höhe zeitgenössischer<br />

Probleme getrieben werden soll.<br />

Dieser Rahmen stellt seinerseits bereits eine<br />

vorausgegangene bestimmte Deutung der<br />

christlichen Tradition dar. Diese Deutung<br />

enthält zwei zentrale Elemente: (1) Die Geschichte<br />

Gottes mit den Menschen ist im<br />

Sinne eines Dramas – wobei angemerkt<br />

werden muss, dass die genaue Bedeutung<br />

dieses Begriffs nirgendwo im Aufsatz geklärt<br />

wird – zu verstehen: Gott versucht<br />

mit den Menschen zu kommunizieren. Die<br />

Menschen gehen nicht angemessen darauf<br />

ein, es kommt zu Gewalt, die Menschen<br />

verstricken sich in Schuld und schieben<br />

diese Schuld im Kreuz Jesu auf Gott ab.<br />

Doch Gott überwindet all das und wendet<br />

die Geschichte so, dass am Ende ein<br />

‚Happy End’ steht. (2) Die christliche Soteriologie<br />

oder Erlösungslehre ist der Hintergrund,<br />

auf dem dieses Drama seine eigentliche<br />

Bedeutung gewinnt. Gott geht<br />

es in all seinem Handeln um das Heil der<br />

Menschen. Nicht der Mensch schafft im<br />

Drama sein Heil. Es wird ihm von Gott geschenkt<br />

bzw. Gott wirkt im und durch den<br />

Menschen sein Heil.<br />

Laut der dritten These konstituieren beide<br />

Elemente den Lebensraum der Menschen,<br />

der dann die Interpretation aller<br />

weiteren Erfahrungen des Menschen bestimmt.<br />

Die DT will somit alle geschicht-<br />

154


lichen Erfahrungen und Naturerfahrungen<br />

des Menschen von ihrem Paradigma her<br />

deuten. Für diese Aufgabe geht die DT über<br />

den genannten harten Kern hinaus und bedient<br />

sich dazu des Denkens des in den USA<br />

lehrenden, aus Frankreich stammenden Literaturwissenschaftlers<br />

und Religionsphilosophen<br />

René Girard. Dessen sog. „mimetische<br />

Theorie“ soll ein Instrumentarium<br />

bilden, „um in kritischer Auseinandersetzung<br />

mit den Human- und Gesellschaftswissenschaften<br />

die vielfältigen religiösen,<br />

politischen und psychischen Erfahrungen,<br />

die die Menschen im Laufe der Geschichte<br />

gemacht haben, den zentralen Hypothesen<br />

[dem besagten harten Kern, SM] […] zuzuordnen.“<br />

Girard hat seine mimetische Theorie in<br />

einer Vielzahl, auch ins Deutsche übersetzter<br />

Publikationen entwickelt. Die mimetische<br />

Theorie versucht alle kulturellen Phänomene<br />

auf das mimetische Verhalten des Menschen<br />

zurückzuführen. Unter „mimetischem Verhalten“<br />

ist dabei zunächst die These zu verstehen,<br />

dass ein Großteil unseres Verhaltens<br />

auf einer wechselseitigen Nachahmung des<br />

Verhaltens anderer beruht. Ursache des für<br />

Girard interessanten mimetischen Verhaltens<br />

ist das Aneignungsverhalten oder das<br />

Begehren des Menschen – ob es dabei um<br />

lebenswichtige Ressourcen, attraktive Sexualpartner<br />

oder um das dicke Auto des Nachbarn<br />

geht. Auf zweierlei Weise findet im<br />

Begehren eine Nachahmung, eine mimesis<br />

statt. Zunächst ahmt derjenige, der etwas<br />

begehrt, was er nicht hat, den nach, der das<br />

Begehrte besitzt. Jener begehrt das Objekt,<br />

das er nicht besitzt, in ähnlicher Weise, wie<br />

derjenige, der es besitzt. Dieses Begehren<br />

des Habenichts steigert nun wiederum das<br />

Begehren desjenigen, der das Objekt tatsächlich<br />

besitzt. Das Auftreten eines Rivalen<br />

bestätigt nämlich die Berechtigung des<br />

Begehrens. Dieser Widerstand stachelt dann<br />

Auf Deutsch zuletzt erschienen ist René<br />

Girard: Ich sah den Satan vom Himmel fallen<br />

wie einen Blitz. Eine kritische Apologie des<br />

Christentums. München: Hanser 2002 (frz.<br />

Originalausgabe 1999). Auf dieses Buch stütze<br />

ich mich bei der Darstellung der Theorie Girards.<br />

Eine ausführliche Bibliographie ist unter<br />

http://theol.uibk.ac.at/cover/girard_bibliography.html<br />

abrufbar.<br />

das Begehren des Habenichts erneut an etc.<br />

Diese mimetische Natur des Begehrens<br />

gibt Girard zufolge Aufschluss darüber, wie<br />

schlecht zwischenmenschliche Beziehungen<br />

normalerweise funktionieren. Die mimetischen<br />

Rivalitäten sind darüber hinaus die<br />

Hauptquellen zwischenmenschlicher Gewalt.<br />

Viele Gewalteskalationen zeichnen<br />

sich gerade dadurch aus, dass in ihnen das<br />

Objekt, um das es ursprünglich ging, keine<br />

Rolle mehr spielt. Die Gewalt wird vielmehr<br />

durch die jeweilige Nachahmung des anderen<br />

am Laufen gehalten. Ein Blick auf die<br />

schrecklichen Eskalationen im Nahen Osten<br />

in den letzten Monaten mag diese Theorie<br />

prima facie plausibel erscheinen lassen.<br />

Will eine Gesellschaft überleben, muss<br />

sie dieser Gewaltspirale entgegenwirken.<br />

Girard hat durch religions- und kulturgeschichtliche<br />

Studien eine grundlegende<br />

Strategie in vielen Gesellschaften zu diesem<br />

Zweck ausgemacht: Er nennt sie den „Sündenbockmechanismus“.<br />

Die innere Einigung<br />

der Gesellschaft ereignet sich durch<br />

eine gemeinsame Polarisierung der Gesellschaft<br />

auf Opfer oder Feinde hin. Die Tötung<br />

oder Ausstoßung des zum Opfer oder<br />

Feind Erklärten reinigt die Gesellschaft<br />

von der ihr inhärenten Gewalt, weil dieser<br />

Akt keine mimesis nach sich zieht. Das<br />

Opfer wird deswegen bewusst in ein ‚Jenseits’<br />

befördert, weil es von dort aus kein<br />

gewaltsames ‚Feedback’ gibt. Während der<br />

Sündenbock <strong>als</strong> solcher austauschbar ist, ist<br />

seine Funktion für die Gesellschaft, nämlich<br />

ihre Einung, unersetzlich. Deswegen<br />

wird die Entfernung des Sündenbocks wiederholbar<br />

gemacht bzw. ritualisiert, damit<br />

sich die Gesellschaft immer wieder der ‚Heil<br />

bringenden Abwesenheit’ des Sündenbocks<br />

vergewissern kann. Aus dieser gewalttätigen<br />

Polarisierung entspringen somit laut Girard<br />

sakrale Projektionen (Mythen, Rituale<br />

etc.), durch welche die empirischen Opfer<br />

verdeckt werden. Die Religion und insbesondere<br />

die archaischen Religionen bewahren<br />

in ihrer Struktur dieses Wissen um den<br />

Zusammenhang von Gewalt, Mimesis und<br />

Sündenbock auf – selbstverständlich ohne<br />

dieses Wissen explizit zu machen.<br />

Nach Girard stellen jedoch die Weltreli-<br />

155


gionen Versuche dar, das eigentlich Religiöse<br />

von den gewalttätigen Projektionen zu<br />

differenzieren. Zu einer wirklichen Aufdeckung<br />

und Überwindung der Projektionen<br />

und der Gewalt kommt es jedoch erst in<br />

der jüdisch-christlichen Offenbarungsgeschichte:<br />

Im Geschick Jesu wird der Sündenbockmechanismus<br />

enttarnt und dekonstruiert;<br />

denn das Opfer ist unschuldig,<br />

hat aber gleichzeitig eine Heil bringende<br />

Wirkung, indem es zum Inbegriff der Gewaltlosigkeit<br />

und Liebe wird. Allerdings<br />

handelt es sich nur um eine halbierte Aufklärung.<br />

Denn gerade in der Deutung des<br />

Todes Jesu <strong>als</strong> Opfer habe die christliche<br />

Tradition dieselbe mythologisierende Projektion<br />

verwendet wie die archaischen Religionen<br />

auch. Diese dem Christentum<br />

innewohnende Widersprüchlichkeit sieht<br />

Girard auch <strong>als</strong> Grund dafür an, dass die<br />

den Sündenbockmechanismus aufhebende<br />

Wirkung der christlichen Lehre historisch<br />

so wenig Durchschlagkraft gehabt hätte.<br />

Anstatt den Gewaltverzicht vorzuleben,<br />

hätte sich das Christentum im Gegenteil<br />

selbst immer wieder <strong>als</strong> Ausgangspunkt von<br />

Gewalt herausgestellt.<br />

Die ausführliche Darstellung der Theorie<br />

Girards entspricht der Bedeutung, welche<br />

diese Theorie für die DT hat, was die<br />

Protagonisten der DT auch zugeben. Zwar<br />

wird auch davon gesprochen, dass die weitere<br />

Arbeit zeigen werde, ob „auch die mimetische<br />

Theorie mit der Zeit so schwerfällig<br />

wird, dass sie für die Progressivität des<br />

Forschungsprogramms eine Gefahr darstellt.“<br />

Die DT ist <strong>als</strong>o nicht einfach mit<br />

einer ‚Girardisierung’ der Theologie gleichzusetzen.<br />

Faktisch wird man <strong>als</strong> Außenstehender<br />

jedoch den Eindruck nicht los, dass<br />

die DT die Umrisse der mimetischen Theorie<br />

Girards bereits in ihrem „harten Kern“<br />

internalisiert hat, obwohl Schwager und<br />

Niewiadomski in ihrem Aufsatz behaupten,<br />

es handle sich dabei nur um eine „Hilfshypothese“.<br />

Die Theorie Girards erweist sich<br />

nicht zuletzt wegen ihrer inhärenten These<br />

einer gewissen Überlegenheit des Christentums<br />

<strong>als</strong> theologisch sehr attraktiv.<br />

Mit der DT ist nicht nur ein Forschungsprogramm,<br />

sondern auch eine politische<br />

Aufgabe verbunden. Demnach wendet sich<br />

das Programm gegen die weit verbreitete<br />

Tendenz in verschiedenen, auch nichtchristlichen<br />

religiösen Gemeinschaften,<br />

nationalistischen oder tribalistischen Kräften<br />

zu verfallen und dadurch politische<br />

Gemeinschaften in ihrer Polarisierung auf<br />

Feinde ideologisch zu stärken. Spätestens<br />

durch diese politische Intention der DT<br />

wird deutlich, welches Licht die DT auf<br />

das Thema unseres Doktorandenkolloquiums<br />

„Erinnerung und Identität“ werfen<br />

könnte. Die DT ist keine ‚Theologie nach<br />

Auschwitz’ im engeren Sinne des Begriffs.<br />

Sie steht allerdings mit ihrem Fokus auf die<br />

menschlichen Gesellschaften inhärente Gewalt<br />

und deren Überwindung in der Tradition<br />

einer ‚Theologie nach Auschwitz’: Sie<br />

erkennt das jüdische Erbe des Christentums<br />

– gerade im Blick auf den schon im Alten<br />

Testament, v.a. in der prophetischen Literatur<br />

propagierten Gewaltverzicht – voll<br />

und ganz an und bezieht christliche Position,<br />

ohne die älteren Brüder und Schwestern<br />

abzuwerten; sie macht die Erfahrungen des<br />

20. Jahrhunderts nicht explizit, aber implizit<br />

zur Grundlage einer zeitgenössischen<br />

Deutung des christlichen Glaubens; sie erkennt<br />

an, dass nur Gott allmächtig ist und<br />

der auf sich allein gestellte Mensch das Heil<br />

und den Frieden in der Welt nicht hervorbringen<br />

kann.<br />

Gerade in dieser Deutung der DT erweist<br />

sich Józef Niewiadomski <strong>als</strong> ein europäischer<br />

Theologe. Denn so klar und<br />

deutlich die Gewalt im 20. Jahrhundert<br />

immer wieder von Deutschen ausging, so<br />

offensichtlich haben sich die Spuren dieser<br />

Gewalt in das kollektive und in das kulturelle<br />

Gedächtnis aller Europäer eingegraben.<br />

Ebenso offensichtlich – wenigstens in<br />

der Perspektive der DT – ist auch, dass eine<br />

Überwindung der Gewalt nur möglich ist,<br />

wenn die Menschen beginnen, den Sündenbockmechanismus<br />

zu durchschauen und –<br />

für den Fall, dass sie Christen sind – sich<br />

im Blick auf den Gekreuzigten mit ihrer eigenen<br />

Schuld und ihrem eigenen Versagen<br />

beim Bemühen um Versöhnung auseinanderzusetzen.<br />

Damit fordert die DT aber<br />

nichts Übermenschliches. Denn sie ist sich<br />

bewusst, dass ein echter Friede die menschlichen<br />

Kräfte übersteigt und nur von Gott<br />

kommen kann. Und dennoch: Wenn echte<br />

156


Versöhnung Wirklichkeit würde, wäre das<br />

ein Zeichen des Handelns Gottes auf Erden.<br />

Übrigens ist Niewiadomski (oder einfach<br />

„Niewi“, wie ihn die Innsbrucker Theologiestudierenden<br />

nennen, was ich aus sicherer<br />

Quelle weiß) auch Herausgeber und<br />

Autor eines Buches mit dem Titel „Die<br />

theologische Hintertreppe“ (erschienen<br />

2005). Analog zur „Philosophischen Hintertreppe“<br />

von Wilhelm Weischedel werden<br />

dort Theologen nicht über ihre Werke, sondern<br />

über ihre menschliche Seite, ihre Vorlieben,<br />

Schwächen, Hobbies etc. vorgestellt.<br />

Leider kann ich hier keinen Hintertreppen-<br />

Zugang zu Niewiadomski anbieten, weil ich<br />

ihn persönlich nie kennen gelernt habe. Aber<br />

ich kann – nach eingehender Beschäftigung<br />

mit seiner Homepage – immerhin mitteilen,<br />

dass er sich auch außerhalb der Universität<br />

sehr engagiert, sich für Opern und Kino interessiert<br />

und anscheinend eine Schwäche<br />

für sehr bunte Krawatten hat.<br />

157


Happy Birthday –<br />

Karl Dedecius zum 85. Geburtstag<br />

Karl Dedecius –<br />

Wszystkiego najlepszego<br />

z okazji 85-tych urodzin<br />

von Gabriela Biesiadecka<br />

Karl Dedecius – der bedeutendste Übersetzer der polnischen Literatur ins<br />

Deutsche und der Vermittler zwischen zwei Kulturen – feierte dieses Jahr seinen<br />

85. Geburtstag. Seine Aufgabe hat er selbst mit der eines Fährmanns verglichen:<br />

„Übersetzen heißt über-setzen, hinüber über den trennenden Fluss auf die andere<br />

Seite.“<br />

Lebensstationen,<br />

Sprachen und Übersetzen<br />

Karl Dedecius wurde <strong>als</strong> Sohn deutscher<br />

Eltern in der damaligen Vielvölkerstadt<br />

Łódź geboren. Er besuchte dort das<br />

polnische humanistische Stefan-Żeromski-<br />

Gymnasium und wuchs auf diese sehr natürliche<br />

Weise mit der polnischen Sprache<br />

und den polnischen Klassikern auf. „Das<br />

Gymnasium lehrte mich […], die mehrdeutige<br />

polnische Literatur, ihre Geheimschrift,<br />

zu lesen und zu verstehen. Freilich hauptsächlich<br />

die klassische. Die moderne nur bis<br />

zum Expressionismus, Tuwim und den anderen<br />

‚Skamandriten‘. Noch keine ‚Avantgardisten‘.“<br />

In seiner Klasse gab es dam<strong>als</strong> ein<br />

Dutzend Polen, sechs Deutsche, sieben Juden,<br />

zwei Franzosen und einen Russen. „Direktor<br />

Marczyński legte Wert darauf, daß wir<br />

zu Toleranz, gegenseitigem Respekt, zu Europäern<br />

erzogen wurden.“ Schon während seiner<br />

Zeit <strong>als</strong> Gymnasiast fanden auch die ersten<br />

Nachdichtungsversuche statt: „In der<br />

Schule übersetzte ich zum ersten Mal einen<br />

polnischen Dichter: Jan Kochanowski (1530-<br />

1584) – aus dem Lateinischen. […] Ich übersetzte<br />

Kochanowski gern, nicht nur wegen der<br />

Liebesgedichte. Zwei seiner Leitideen, zwei<br />

Hauptthemen seines Werks haben mich besonders<br />

geprägt: die Vergänglichkeit alles Irdischen,<br />

die vanitas vanitatum, und die Idee<br />

der Freiheit.“ Im Mai 1939, kurz vor Ausbruch<br />

des Zweiten Weltkrieges, legte Dedecius<br />

sein Abitur ab und bereitete sich auf ein<br />

Studium im Warschauer Institut der Theaterkunst<br />

vor. Dieses Studium konnte er aber<br />

nicht mehr antreten. Nach dem deutschen<br />

Einmarsch in Polen wurde der 19-jährige<br />

Dedecius zunächst in den Reichsarbeitsdienst<br />

und dann in die Deutsche Wehrmacht<br />

eingezogen. In Stalingrad wurde er<br />

schwer verwundet und geriet in sowjetische<br />

Kriegsgefangenschaft. Während dieser Zeit<br />

brachte er sich selbst die kyrillische Schrift<br />

und die russische Sprache bei, indem er die<br />

Werke von Lermontov und Jessenin studierte.<br />

„Meine Übertragungsproben wurden mit<br />

158


der Zeit zu Ausdrucksübungen. Sie lehrten<br />

mich, Partituren zu lesen – und zu hören.<br />

Das Übersetzen war der Beginn eines Studiums:<br />

andere Länder, andere Völker, andere<br />

Zeiten verstehen zu lernen, die Voraussetzungen<br />

des Zusammenlebens zu erkunden.“<br />

Nach der Rückkehr aus der Gefangenschaft<br />

1950 ging Dedecius zuerst zu seiner Verlobten<br />

in die DDR. Bis 1952 arbeitete er <strong>als</strong><br />

Oberassistent und wissenschaftlicher Übersetzer<br />

der Theaterwissenschaftlichen Abteilung<br />

am Deutschen Theater-Institut in<br />

Weimar. Ende des Jahres zog er nach Westdeutschland<br />

um und wurde bei der Frankfurter<br />

Allianz Versicherung AG eingestellt.<br />

Da sein neuer Beruf nichts mit der Schriftstellerei<br />

zu tun hatte, setzte Dedecius sein<br />

Übersetzungswerk in seiner Freizeit fort.<br />

Er beschäftigte sich mit polnischer Kultur<br />

und Literatur und pflegte private Kontakte<br />

zu polnischen Schriftstellern. Er übersetzte<br />

auch Werke aus dem Russischen ins Deutsche.<br />

1959 erschien die erste von ihm herausgegebene<br />

Anthologie „Lektion der Stille“.<br />

In den folgenden Jahren übersetzte er bekannte<br />

polnische Schriftsteller und Dichter<br />

wie u.a. Zbigniew Herbert, Stanisław Jerzy<br />

Lec, Tadeusz Różewicz, Adam Zagajewski<br />

und zwei polnische Nobelpreisträger:<br />

Wisława Szymborska und Czesław Miłosz.<br />

Außerdem veröffentlichte er eigene Essays<br />

zu Literatur und Übersetzungstechnik. Als<br />

Hauptwerk Dedecius’ gilt die „Polnische Bibliothek“,<br />

die 1982 bis 2000 im Suhrkamp<br />

Verlag erschien. Sie entstand im Rahmen der<br />

Tätigkeiten des Deutschen Polen-Instituts in<br />

Darmstadt, das von Dedecius 1979/1980 initiiert<br />

und danach fast zwei Jahrzehnte von<br />

ihm geleitet wurde. Die „Polnische Bibliothek“<br />

– eines der anspruchsvollsten Projekte<br />

der deutsch-polnischen Kulturbeziehungen<br />

– umfasst 50 Bände und liefert den Lesern<br />

das literarische Schaffen der polnischen<br />

Nachbarn vom Mittelalter bis zur Neuzeit.<br />

Ferner hat das Institut sieben Bände<br />

„Panorama der polnischen Literatur des 20.<br />

Jahrhunderts“ (1996-2000) herausgegeben.<br />

Schließlich ist auch noch eine vierbändige<br />

„Bibliographie deutsch-polnischer Wechselbeziehungen<br />

vom Mittelalter bis heute“ entstanden,<br />

die <strong>als</strong> Quelle für Wissenschaftler,<br />

Studenten und Kulturforscher dienen soll.<br />

Als Antwort auf diese wichtigen deutschen<br />

Initiativen wurden auch in Polen an der Posener<br />

Universität die „Deutsche Bibliothek“<br />

und im Krakauer Literarischen Verlag eine<br />

belletristische Reihe „Bibliothek deutschsprachiger<br />

Autoren“ veröffentlicht. In Zusammenarbeit<br />

mit dem Deutschen Polen-<br />

Institut verleiht die Robert Bosch Stiftung<br />

seit 2003 den mit jeweils zwei mal 10.000<br />

Euro dotierten Karl-Dedecius-Preis für<br />

Übersetzer.<br />

Ehrendoktorwürden, Auszeichnungen,<br />

Preise und poetische Geschenke<br />

Dedecius’ beständiges Engagement<br />

und sein Enthusiasmus, der „die neuere<br />

polnische Literatur <strong>als</strong> Beitrag der europäischen<br />

für unser Bewußtsein wiederentdeckt“<br />

(Urkunde der Verleihung des<br />

Übersetzerpreises der Deutschen Akademie<br />

für Sprache und Dichtung 1967) wurden<br />

vielseitig wahrgenommen und geehrt.<br />

Dedecius ist Inhaber mehrerer Ehrendoktorwürden,<br />

auch der der Universität Lublin<br />

(1987), sowie Träger zahlreicher Preise und<br />

Auszeichnungen. „In dankbarer Würdigung<br />

seines Wirkens für die Vermittlung<br />

zwischen polnischer und deutscher Kultur“<br />

überbrachte der damalige Bischof Karl<br />

Lehmann den „Besonderen Apostolischen<br />

Segen“ des Heiligen Vaters Johannes Paul<br />

II. anlässlich des 65. Geburtstags von Karl<br />

Dedecius. In den kommenden Jahren kamen<br />

die Würdigungen an Dedecius sowohl<br />

von deutscher <strong>als</strong> auch von polnischer Seite:<br />

Im Jahre 1990, am 7. Oktober, erhielt er<br />

den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels<br />

und am 3. Mai 2003 <strong>als</strong> erster Deutscher<br />

die höchste polnische Auszeichnung,<br />

den Orden des Weißen Adlers. Bei der Verleihung<br />

des Friedenspreises, die vier Tage<br />

nach dem Mauerfall stattfand, sagte Heinrich<br />

Olschowsky, Emeritus für Polonistik<br />

am Institut für Slawistik der Humboldt-<br />

Universität zu Berlin und Vertrauensdozent<br />

des <strong>Cusanuswerk</strong>es: „Den ehrenden<br />

Auftrag, die Laudatio zu halten, habe ich<br />

gern übernommen. Er bietet die Gelegenheit,<br />

öffentlich zu bekunden, daß das Anliegen<br />

von Karl Dedecius, mit Büchern<br />

mehr Verständigung zwischen Deutschen<br />

und Polen zu erreichen, grenzenlos war. Es<br />

stiftete zwischen uns Verbundenheit, die<br />

sich zwei Jahrzehnte gegen den Widersinn<br />

159


der Abgrenzungspraxis in der DDR gleichsam<br />

konspirativ behaupten mußte. Lange<br />

Zeit war Warschau unser einzig möglicher<br />

Begegnungsort. Polnische Literatur hat <strong>als</strong>o<br />

Deutsche aus beiden Staaten zusammengeführt.<br />

Davon mögen unter anderem die<br />

Nachdichtungen von Dedecius in Anthologien<br />

Leipziger und Ostberliner Verlage zeugen<br />

wie auch die Beiträge von Polonisten aus<br />

der DDR in den Büchern des Deutschen Polen-Instituts<br />

in Darmstadt.“<br />

Die Stadt Lódź hat Dedecius zum Ehrenbürger<br />

ernannt und ihm die Dauerausstellung<br />

im historischen Museum gewidmet.<br />

1999 bekam er den ersten Viadrina-Preis<br />

der Europa-Universität Frankfurt an der<br />

Oder für seine besonderen Verdienste um<br />

die deutsch-polnische Verständigung. Poeten,<br />

die er übersetzte, haben ihm ihre Dichtungen<br />

geschenkt. „Für Karl Dedecius in unverbrüchlicher<br />

Freundschaft“ – das Gedicht<br />

„COLANTONIO – S.GIEROLAMO E IL<br />

LEONE“ von Zbigniew Herbert, in dem<br />

er den Bezug auf Hieronymus, den Lehrmeister<br />

von Dedecius, nahm. Seine Übertragungskunst<br />

thematisiert das Gedicht<br />

„AN K.D.“ – wie der Übersetzer selbst sagt<br />

–„eines der schönsten Geschenke, die Tadeusz<br />

Różewicz mir machte.“<br />

AN K.D.<br />

Du übersetzt<br />

mein gedächtnis<br />

in dein gedächtnis<br />

mein schweigen<br />

in dein schweigen<br />

das wort leuchtest du aus<br />

mit dem wort<br />

hebst das bild<br />

aus dem bild<br />

förderst das gedicht<br />

aus dem gedicht zutage<br />

verpflanzt<br />

meine zunge<br />

in eine fremde<br />

dann<br />

tragen meine gedanken<br />

früchte<br />

in deiner sprache<br />

Poetische Intuition, subtiles Sprachgefühl<br />

und profunde Kenntnis von Kultur<br />

und Geschichte<br />

…haben Karl Dedecius zum Übersetzungsmeister<br />

der polnischen Literatur ins<br />

Deutsche gemacht. Die Übersetzungskunst<br />

von Dedecius erklärt Olschowsky in seiner<br />

Laudatio am Beispiel des Gedichtes „Kiesel“<br />

von Zbigniew Herbert, das eine moralische<br />

Meditation der Natur darstellt:<br />

„Sein Originaltitel lautet ‚Kamyk‘ (kleiner<br />

Stein). Außer der Verkleinerungsform enthält<br />

das polnische Wort keine besonderen<br />

Bedeutungsnuancen. Dedecius wählte dafür<br />

‚Kiesel‘, obwohl die polnische Entsprechung<br />

dieses Wortes ‚krzemień‘ ausschließlich<br />

die mineralogische Beschaffenheit eines<br />

Gesteins anzeigt (wie zum Beispiel Kieselerde).<br />

Diese ‚Eigenmächtigkeit‘ erbringt einen<br />

Bedeutungszuwachs: Der Titel wird<br />

zur Sinnspitze des Textes. Aus der blassen<br />

Bezeichnung wird ein Bild; anschaulich,<br />

genau, reich an sinnlichen Assoziationen:<br />

weiß, kühl, glattgeschliffen, gerundet. Dem<br />

Kiesel trauen wir zu, daß er uns Menschen<br />

moralisch zu prüfen in der Lage ist. Es heißt<br />

von ihm:<br />

sein eifer und seine kühle<br />

sind richtig und voller würde<br />

ich spür einen schweren vorwurf<br />

halt ich ihn in der hand<br />

weil dann seinen edlen leib<br />

eine f<strong>als</strong>che wärme durchdringt.<br />

Dieser Einfall entspringt nicht handwerklicher<br />

Perfektion“ – betont Olschowsky<br />

– „sondern poetischer Intuition! Er gliedert<br />

den polnischen Text in eine Motivreihe<br />

deutscher Dichtung von Goethe bis Rilke<br />

ein. Das Fremde enthält so die Aura des Vertrauten.“<br />

Marion Gräfin Dönhoff, die ehemalige<br />

Chefredakteurin der ZEIT, betonte Dedecius’<br />

„umfassende Kenntnis der Geistes- und<br />

Kulturgeschichte beider Völker.“ Sie schrieb:<br />

„Kein anderes Volk [<strong>als</strong> das polnische – Anmerkung<br />

der Autorin] hat so viele Wechsel<br />

durchleiden müssen. […] Für ein Volk mit<br />

solcher Vergangenheit ist Literatur natürlich<br />

nicht einfach Belletristik. Für die Polen<br />

160


waren Dichter und Schriftsteller stets die<br />

Hüter des nationalen Erbes. Sie – wie auch<br />

die Kirche – waren die Wahrer der Kontinuität.“<br />

Das Verständnis dafür lässt sich in<br />

der Nachdichtung von Karl Dedecius besonders<br />

entdecken und spüren. Er selbst<br />

sagt: „Die Übersetzung ist ein Organ der gesellschaftlichen<br />

Wahrheitsfindung und <strong>als</strong> solches<br />

auch das der Friedensstiftung. Eine der<br />

moderneren Definitionen von Kultur besagt,<br />

daß Kultur solche Traditionen und Glaubensvorstellungen<br />

beinhalte, die den Hintergrund<br />

einer Gesellschaft bilden. Die literarische<br />

Übersetzung, <strong>als</strong> ein Teil des Kulturgeschehens,<br />

macht der Sprach-Gesellschaft, an die<br />

sie sich wendet, die Hintergründe der anderen<br />

Sprachgesellschaft, von der sie zeugt, erkennbar.<br />

Landläufige Information behandelt<br />

das Fremde klinisch, vordergründig, <strong>als</strong> ein<br />

Drittes. Die literarische Übersetzung beruht<br />

auf Partnerschaft. Ihr gilt das andere nicht <strong>als</strong><br />

Fremdes, sondern <strong>als</strong> ein Zweites. Die Übersetzung<br />

führt durch Zwiesprache zu Hintergründen,<br />

die die Drittinformation verborgen<br />

läßt.“<br />

Der Übersetzungsprozess fängt nach<br />

Dedecius schon bei der Auswahl der Bücher<br />

an, die sorgfältig durchgeführt werden soll.<br />

Er sagt: „Das Buch ist die vornehmste Form<br />

des Gesprächs.“ Auch „Die Sprache – unser<br />

aller Instrument – ist das hochempfindliche<br />

Werkzeug des Dialogs.“ „Sprache ist das, was<br />

uns zusammenführt oder auseinandertreibt.<br />

Der Sprache, der eigenen und der des anderen,<br />

schulden wir besondere Aufgeschlossenheit<br />

und Behutsamkeit.“ Das folgende Gedicht,<br />

in dem wir den Übersetzer Dedecius auch<br />

<strong>als</strong> den Dichter Dedecius kennen lernen<br />

können, bringt einen schwierigen Übersetzungsprozess<br />

zum Ausdruck:<br />

Übersetzen.<br />

Über Sätzen sitzen?<br />

Lauter Fragen.<br />

Übersetzen.<br />

Über Sätzen sitzen.<br />

Aufsitzen? Nachsitzen,<br />

Hinter die Sätze sehen. Aufsehen? Nachsehen?<br />

Über den Sätzen stehen. Vorstehen? Beistehen?<br />

Unter die Sätze dringen.<br />

Vordringen? Eindringen?<br />

Lauter Fragen.<br />

Dieser Gedanke findet seine Kontinuität<br />

in Dedecius’ Buch „Vom Übersetzen“: „Das<br />

Übersetzen ist ein bewegtes, unsicheres Dasein<br />

zwischen Alternativen. Aber das Übersetzen<br />

hat unverzichtbare pädagogische Qualitäten.<br />

Es bändigt Gegensätze. Es bringt Ungleiches<br />

auf einen gemeinsamen Nenner. Es übt die<br />

Selbstlosigkeit, die Anpassungsfähigkeit und<br />

die Toleranz.“ Und an anderer Stelle: Übersetzungen<br />

sind „der Brückenbau, der die<br />

voneinander getrennten Ufer, Landzungen<br />

und Menschengruppen wieder zusammenführt.<br />

Ein zuverlässiges Kommunikationssystem.<br />

[…] Die übersetzte Literatur ist der<br />

materialisierte Kommunikationswille.“<br />

Seit über 50 Jahren arbeitet Karl Dedecius<br />

an seinem Lebenswerk: Er baut mit<br />

Erfolg eine „Brücke des Verstehens von Literatur<br />

und der Verständigung zwischen<br />

Völkern.“<br />

Literatur<br />

Karl Dedecius: Lebenslauf aus Büchern und<br />

Blättern. Frankfurt a.M.1990, Suhrkamp.<br />

Karl Dedecius: Ein Europäer aus Lodz. Erinnerungen.<br />

Frankfurt a.M.2006, Suhrkamp.<br />

Heinrich Olschowsky: „…er bringt das<br />

Eine/zum Anderen“. Laudatio, in: Friedenspreis<br />

des Deutschen Buchhandels<br />

1990. Karl Dedecius. Ansprachen aus Anlaß<br />

der Verleihung. Frankfurt a.M.1990.<br />

Börsenverein des Deutschen Buchhandels<br />

e.V. im Verlag der Buchhändler-Vereinigung<br />

GmbH.<br />

Marion Gräfin Dönhoff: Die Bewahrer:<br />

Das Deutsche Polen-Institut in Darmstadt<br />

wird 20. DIE ZEIT 03/2000.<br />

Natasza Stelmaszyk: Wege zur polnischen<br />

Literatur. Interview mit Karl Dedecius,<br />

in: Veröffentlichungen zum Forschungsschwerpunkt.<br />

Massenmedien und Kommunikation.<br />

Siegen 2000, Hausdruckerei<br />

Universität-GH.<br />

161


Programm<br />

Donnerstag, 16. November 2006 <br />

Geschichte und Gedächtnis<br />

09:00 Eröffnung der Tagung<br />

prof. dr hab Wiesław Andrzej Kamiński<br />

Rektor der Uniwersytet Marii-Curie Skłodowskiej (UMCS)<br />

prof. dr hab Henryk Gmiterek<br />

Dekan der Humanistischen Fakultät der UMCS<br />

prof. dr hab Janusz Golec<br />

Leiter des Instituts für Germanistik, UMCS<br />

prof. dr hab Piotr Kołtunowski<br />

Leiter des Lehrstuhls für Landes- und Kulturkunde der<br />

deutschsprachigen Länder, UMCS<br />

Prof. Dr. Josef Wohlmuth<br />

Leiter der Bischöflichen Studienförderung <strong>Cusanuswerk</strong><br />

Katharina Wildermuth, M.A.<br />

DAAD-Lektorin an der UMCS<br />

Dr. Stefan Raueiser<br />

Referent in der Bischöflichen Studienförderung <strong>Cusanuswerk</strong><br />

Ort: Uniwersytet Marii-Curie Skłodowskiej (UMCS), Fakultätsratssaal<br />

10:30 Die Geschichte eint – das Gedächtnis trennt<br />

N.N.<br />

15:00 Lokales Gedächtnis. Thematische Workshops<br />

Lublins jüdische Geschichte.<br />

Ein Stadtgang<br />

mgr Wiesław Wysok, Mitarbeiter der Bildungsabteilung,<br />

Staatliches Museum Majdanek / Państwowe Muzeum na Majdanku<br />

Jüdische Stadtgeschichte.<br />

Die Ausstellung im Zentrum „Brama Grodzka - Teatr NN“<br />

N.N.<br />

Juden in Lublin.<br />

Das Internetprojekt „Jüdisches Leben in Europa jenseits der<br />

Metropolen“<br />

N.N.<br />

20:30 „Es war einmal“. Die Geschichte des zerstreuten Rabbiners Szimiel<br />

Darsteller: Witold Dabrowski<br />

Ort: „Brama Grodzka - Teatr NN“<br />

162


Freitag, 17. November 2006<br />

Bezeugte Geschichte<br />

09:00 Besuch des Staatlichen Museums Majdanek<br />

geführter Rundgang durch das ehem. Lagergelände<br />

und die aktuelle Dauerausstellungmgr<br />

Wiesław Wysok und Wojciech Lenarczyk<br />

Mitarbeiter des Staatlichen Museums Majdanek/<br />

Państwowe Muzeum na Majdanku<br />

15:00 Bildungsarbeit und historische Lernen.<br />

Erfahrungen mit deutschen und polnischen Jugendlichen<br />

mgr Wiesław Wysok, Mitarbeiter der Bildungsabteilung,<br />

Staatliches Museum Majdanek/Państwowe Muzeum na Majdanku<br />

16:30 Shoah und Zweiter Weltkrieg – Gedenkpolitiken und<br />

Erinnerungskulturen im deutsch-polnischen Vergleich<br />

mgr Tomasz Kranz, Leiter der Wissenschaftsabteilung,<br />

Staatliches Museum Majdanek/Państwowe Muzeum na Majdanku<br />

20:30 Gottesdienst<br />

Ort: Katolicki Uniwersytet Lubelski Jana Pawła II (KUL)<br />

Samstag, 18. November 2006 <br />

Memoria und Anamnese<br />

10:00 Kein Europa ohne Versöhnung<br />

Gespräch mit S. E. Erzbischof Prof. Dr. Józef Życiński<br />

Ort: Katolicki Uniwersytet Lubelski Jana Pawła II (KUL)<br />

14:00 Vergegenwärtigende Erinnerung –<br />

Herausforderung christlicher Theologie<br />

Prof. Dr. Josef Wohlmuth<br />

Leiter der Bischöflichen Studienförderung, Bonn<br />

16:00 Erinnerung und Identität. Thematische Workshops<br />

Ort: Centrum Polonijne<br />

Der polnische Geschichtswettbewerb „Historia Bliska“ –<br />

Erinnerungsarbeit mit Jugendlichen<br />

mgr Alicja Wancerz-Gluza<br />

Fundacja Ośrodka KARTA, Warszawa<br />

Erinnerung und kulturelle Bedeutung von Polens<br />

und Deutschlands ehemaligen Osten<br />

Dr. Burkhard Olschowsky<br />

Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen<br />

im östlichen Europa, Oldenburg<br />

19:00 Erinnerung und Identität<br />

Abschlussplenum<br />

Ort: UMCS, Fakultätsratssaal<br />

21:00 Abschlussabend<br />

Ort: Restaurant Sielsko Anielsko<br />

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