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Faule Eier Agentenroman - Holzinger Verlag, Berlin

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Heinrich Eichenberger<br />

<strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>


Heinrich Eichenberger<br />

<strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong><br />

<strong>Agentenroman</strong><br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

HUBERT W. HOLZINGER VERLAG<br />

BERLIN


ISBN 978-3-926396-72-3<br />

© 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>,<br />

www.holzinger-verlag.de<br />

1. Auflage 2009. Alle Rechte vorbehalten.<br />

Printed in Germany.<br />

Lektorat: Kurt Kowalsky, <strong>Berlin</strong><br />

Umschlagentwurf: Robin W. Schäfer, <strong>Berlin</strong><br />

Umschlaggestaltung: Frank Stiefel, <strong>Berlin</strong><br />

Foto: red cocktail © Amir Kaljikovic 4354050; Agentur: Fotolia.de<br />

Druck und Bindung: Steinmeier GmbH, Nördlingen


über den Autor<br />

Dr. Heinrich Eichenberger ist studierter Ökonom und war in führenden<br />

Positionen multinationaler Konzerne tätig. Der frühere Bereichsleiter<br />

eines Geheimdienstes betreibt heute professionelle Nachrichtenbeschaffung<br />

für die Wirtschaft.<br />

Alle seine Romane sind sorgfältig recherchiert und setzen sich augenzwinkernd<br />

und kritisch mit den Machenschaften heutiger Geheimdienste<br />

auseinander. In seinem Domizil am Vierwaldstättersee schafft<br />

es der Katzenfreund und Liebhaber klassischer Musik immer wieder,<br />

seine Recherchen spannend und mit großem Esprit zu Papier zu bringen.<br />

Eichenberger: »In einer Welt voller Narren steht die Wahrheit oftmals<br />

im Dienste der Lüge.«<br />

Am Ende des Buches gibt der Autor ein Interview.<br />

5


6<br />

Hinweise<br />

Der Roman »<strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>« ist aus der Reihe »Ein neuer Fall für Sir<br />

Alec«. Dieser <strong>Agentenroman</strong> ist eine vollständig überarbeitete Fassung<br />

des bereits erschienenen Romans »Das geheimnisvolle Kobalt-Ei«. Die<br />

hier vorliegende Geschichte berücksichtig neueste geheimdienstliche<br />

Erkenntnisse und ist damit aktueller denn je.<br />

Die in den Romanen beschriebenen Handlungsstränge sind chronologisch<br />

in der Folge »<strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>« → »Der Siegermacher« geschrieben<br />

worden. Alle Romane sind jedoch abgeschlossene Geschichten, so dass<br />

es den Lesern freigestellt ist, welchen Roman sie zuerst lesen.<br />

Die Bücher dieser Reihe sind auf Grundlage langjähriger Recherchen<br />

und Analysen entstanden. Aus rechtlichen Gründen mussten jedoch<br />

Namen und Orte geändert werden, so dass eine Ähnlichkeit mit lebenden<br />

oder verstorbenen Personen jetzt rein zufällig wäre und nicht beabsichtigt<br />

ist.<br />

Das Buch erscheint ohne Autorisation der erwähnten Geheimdienste<br />

MI6 und CIA


Personen der Handlung<br />

Sir Alec, International Strategic Consultancy, Geheimdienstchef a. D.<br />

zur besonderen Verwendung<br />

Sharon, Sekretärin von Sir Alec<br />

Mercedes de Cárdenas und<br />

Richard Henry Harriott von Palma Management<br />

Frank W., Programmiergenie, Kreativdirektor, Alkoholiker<br />

Victor Havlicek, Detektiv in Prag, ehemaliger KGB-Agent, informeller<br />

Operator des MI6<br />

Pjotr Alexandrowitsch Carlin, Antiquitätenhändler aus St. Petersburg,<br />

Kurator und Kunstsachverständiger<br />

Hermann W. Kropf, Dr., Rechtsanwalt, Zürich<br />

Reinhold Reinhold, Kanzleiassistent von Dr. Kropf, Zürich<br />

Friedrich Meister, selbst ernannter Weltmeister im Kunsthandel, Zürich,<br />

geschiedener Ehemann von Agnieszka Meister-Novak<br />

Agnieszka Meister-Novak, »Eisvogel«, Direktorin des Schmuckgeschäfts<br />

Caratus, Zürich<br />

Willy Kessler, Vorstandsvorsitzender der Greves AG, Zürich-Örlikon<br />

Rolf Kessler, Sohn von Willy Kessler, Informatiker<br />

Samuel Rüegg, 2. Direktor der Greves AG<br />

Urs Flückiger, Betriebsleiter der Greves AG<br />

Schmied aus Herisau (Schweiz), Hauptaktionär des Schmuckgeschäfts<br />

Caratus AG<br />

Hans Seidler, Vorstandsvorsitzender, Transtecco GmbH<br />

Georg Follmann, Gesellschafter und Geschäftsführer der Transtecco<br />

GmbH in Frankfurt<br />

Jozef Babic, Technischer Geschäftsführer der SloTrade (Bratislava)<br />

und ehemaliger KGB-Agent<br />

7


8<br />

Unternehmen<br />

CincinatTec Tools in Ohio: Maschinenbauer<br />

Greves AG in Zürich-Oerlikon: Maschinenbauer für High-Tech-Geräte<br />

SloTrade in Bratislava: Handelsgesellschaft für High-Tech-Produkte<br />

und Know-how<br />

Transtecco GmbH in Frankfurt: Handelsgesellschaft für High-Tech-<br />

Produkte und Know-how<br />

Chemotechnica aus Kiew: potentieller Kunde der Greves AG<br />

Insektikill & Co. KG aus Linz: potentieller Kunde der Greves AG<br />

Institutionen<br />

CIA: Central Intelligence Agency (deutsch: »Zentraler Nachrichtendienst«),<br />

offizielle Abkürzung CIA, ist der Auslandsnachrichtendienst<br />

der Vereinigten Staaten. Seit dem 30.5.2006 war General Michael Vincent<br />

Hayden ihr Direktor<br />

MI6: Auslandsgeheimdienstabteilung des britischen Geheimdienstes<br />

Secret Intelligence Service (SIS). MI6 steht für »Military Intelligence,<br />

Abteilung sechs«. Seit 2004 ist Sir John McLeod Scarlett der Direktor<br />

des MI6. Er hat zum Juli 2009 seinen Rücktritt eingereicht.<br />

FSB: Federalnja Sluschba Besopasnowski ist der Russische Inlandgeheimdienst.<br />

Direktor des FSB ist Aleksandr Bortnikow seit dem<br />

12.05.08. Der Vorgänger von 1999 bis zum 12.05.08 war Nikolai Platowitsch<br />

Patruschew und davor 1998/99 Wladimir Wladimirowitsch<br />

Putin.<br />

Echelon: Von der CIA aufgebautes, global operierendes Netzwerk von<br />

Abhörposten, Filterrechnern und Funkaufklärungssatelliten. Da es auf<br />

speziell programmierte Schlüsselwörter reagiert, lässt sich die weltweite<br />

elektronische Kommunikation rastermäßig erfassen und auswerten.<br />

Weitere Informationen: www.sir-alec.de; www.sir-alec.ch


I<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Frankfurt, Ende August. Der Geschäftsmann mit Regenmantel, schottischer<br />

Schirmmütze und Aktentasche war Anfang fünfzig, etwa 1,70<br />

groß, schlank, aber wenig sportlich. Obwohl er nur mäßigen Schrittes<br />

die riesige Vorhalle des Frankfurter Hauptbahnhofes durchschritt,<br />

machte er einen gehetzten Eindruck. Kurz vor der Reihe öffentlicher<br />

Fernsprecher blickte er über die Schulter zurück und stieß sich an einem,<br />

seinen Weg kreuzenden Gepäcktrolley schmerzlich das Schienbein.<br />

»Passen Sie doch auf!«<br />

Doch die Karre mit dem Gepäck reagierte nicht und die kurzsichtige<br />

Lenkerin der Bagage hatte die Kollision nicht mitbekommen, da sie<br />

ebenfalls rückwärts blickend versuchte, ihren vertrottelten Gatten im<br />

Gewühle der Reisenden ausfindig zu machen. »Hermann! Kommst du<br />

jetzt...«<br />

Von den fünf öffentlichen Fernsprechern waren drei außer Betrieb, die<br />

restlichen besetzt. Hinkend wandte sich der Geschäftsmann ab und<br />

steuerte dem Ausgang der Bahnhofshalle zu. Während er mit der Schulter<br />

eine seitliche Glastür aufdrückte, erfreute ihn an der linken Flucht<br />

des Bahnhofgebäudes am Ende der langen Schlange wartender Taxifahrzeuge<br />

eine blaue, halb offene Telefonstation, die mit allerlei Piktogrammen<br />

und Hinweistafeln suggerierte, dass ihre Bedienung kinderleicht<br />

und superpreiswert wäre.<br />

Auf einer wackligen Tastatur im Bogen der gläsernen Schutzwände<br />

wählte er eine lange Nummer und kurz darauf meldete sich eine rauchige<br />

weibliche Stimme mit den Worten: »Palma Management, buenas<br />

tardes! Was kann ich für Sie tun?«<br />

»Sprechen Sie Deutsch?«, schnaufte der Mann.<br />

»Aber sicher. Ganz wie Ihnen beliebt«, flirtete es aus der Ohrmuschel<br />

des Telefonhörers lächelnd zurück.<br />

Der Mann schluckte trocken. Erste Regentropfen spritzten an das mit<br />

Dreck verschmierte und zerkratzte Glas der Telefonstation. Die Aktentasche<br />

rutschte ihm auf den Gehweg. Das kurze Kabel des Telefonhörers<br />

hinderte den Anrufer daran, sich nach der Tasche zu bücken.<br />

»Trifft es zu, dass Sie Informationen kaufen und verkaufen?«, erkundigte<br />

sich der Anrufer.<br />

9


»Nein, mein Herr, wir handeln nicht mit Informationen. Unser Geschäft<br />

besteht darin, für unsere Klienten Informationen zu beschaffen,<br />

auf Mandatsbasis und gegen Honorar. Das ist etwas anderes. Wir<br />

betreiben einen Competitive Intelligence Service.«<br />

»Wie sind Ihre Konditionen?«<br />

Die Dame am Ende der Leitung war alles andere als ein Telefonmäuschen.<br />

Ihre Stimme wurde nun noch schmeichelnder: »Cher ami, sollten<br />

Sie sich als erstes für unsere Honorare interessieren, so sind Sie bei uns<br />

an der falschen Adresse. Wir stellen Rechnung nach Aufwand und noch<br />

kein Klient hat das beanstandet.«<br />

»Ja, ist ja schon gut. Ich kenne Sie nicht«, sagte der Anrufer nervös.<br />

»Sie wurden mir empfohlen von Samuel Rüegg aus Zürich-Oerlikon.<br />

Hören Sie, mein Name ist Follmann. Wie wär's, wenn ich so bald wie<br />

möglich mit einem von Ihren Herren im Raume Frankfurt zusammenkommen<br />

könnte?«<br />

»Herren?«, schmollte sie, »wir haben keine Herren im Raum Frankfurt.<br />

Kommen Sie nach Mallorca und wir können bei strahlendem Sonnenschein<br />

in angenehmer Atmosphäre darüber reden, was wir für Sie<br />

tun können...«<br />

Er bückte sich angestrengt, fischte mit der linken Hand dann doch seine<br />

Aktentasche vom Boden auf und schrie nach oben: »Moment bitte,<br />

die Schnur ist zu kurz...«<br />

Als der Anrufer nach oben kam, bemerkte er, wie sich an die rechte<br />

Schutzwand ein Typ angelehnt hatte. Das aufgenähte Emblem am Ärmel<br />

seiner Lederjacke zeigte eine fliegende, weiße Taube auf blauem<br />

Grund.<br />

»Glauben Sie denn, dass wir uns richtig verstanden haben?«, flüsterte<br />

der Mann irritiert in den Hörer.<br />

»Keine Sorge«, flötete es am anderen Ende, »Sie buchen einen Flug,<br />

geben uns über den Abflugtermin Bescheid und alles Weitere lässt sich<br />

hier sicher und in Ruhe besprechen.«<br />

»Gut«, meinte der Mann im offenen Regenmantel und hielt seine Tasche<br />

fest, »ich erkundige mich sofort nach einem entsprechenden<br />

Flug...« Da stieß sich der Typ mit der Friedenstaube auf dem Oberarm<br />

vom Schutzglas ab und drängte sich in die Innenseite des Halbkreises<br />

neben den Anrufer.<br />

»Na, hören Sie mal«, empörte sich der Geschäftsmann unangemessen<br />

kleinlaut. Der blondgelockte Engel hatte ein feistes, dickliches, fett<br />

glänzendes Gesicht und schwulstige Lippen. Eine schwere Wolke billigen<br />

Rasierwasserdunstes quoll von ihm weg. Der über einen Kopf grö-<br />

10


ßere Kerl griff nach vorn, nicht sehr schnell, aber unvermittelt, und umfasste<br />

mit einer Hand die Gurgel seines telefonierenden Gegenübers.<br />

»Entschuldigung«, stammelte dieser noch etwas fassungslos in die Muschel,<br />

dann schnürte die Bärenpranke seine Luftröhre ab.<br />

»Hallo, Banallo«, lächelte der Würger und Follmann ließ seine Tasche<br />

fallen. Den Telefonhörer immer noch in der Hand versuchte er, sich zu<br />

wehren. Vergeblich. Der grinsende Typ in der Lederjacke war ein<br />

Meister seines Faches. Wohl dosiert schnürte er seinem Opfer gerade so<br />

viel der notwendigen Atemluft ab, dass dieses, stets kurz vor der Ohnmacht,<br />

sich nur labil schwankend auf den Beinen halten konnte.<br />

»Du sollst keine Propaganda machen. Das ist nicht gesund«, lächelte<br />

der Würger leise.<br />

Hinter seinen breiten Schultern war jetzt ein beigefarbener Damenhut<br />

mit rosa Taft erkennbar. Seine etwa fünfzigjährige Trägerin hatte ihre<br />

mit allerlei Koffern und Taschen bepackte Gepäckkarre beinahe in die<br />

Hacken des Würgers gerammt, jetzt fragte sie herrisch: »Brauchen die<br />

Herren noch lange?«<br />

»Bin gleich fertig, junge Frau«, tröstete der Würger, ohne die Angesprochene<br />

nur eines Blickes zu würdigen. Zu Follmann sagte er: »Das<br />

nächste Mal drücke ich stärker, wenn du verstehst, was ich meine.«<br />

Dann ließ er los. Das Opfer japste nach Luft, hustete und keuchte:<br />

»Was wollen Sie... eigentlich... von mir...?«<br />

Der blonde Hüne lachte und wandte sich halb zu der Dame hinter sich,<br />

während sich hinter dieser eben ein schmächtiges Männlein im grau gesprenkelten<br />

Anzug zu verstecken versuchte: »Ist das dein Mann?«<br />

»Ja, natürlich...«, rang nun die Angesprochene, empört über das selbstverständliche<br />

Du, nach Luft.<br />

»Er hat die Hose offen«, griente der Hüne.<br />

Schrecksekunde. »Hermann! Man muss sich ja schämen.«<br />

Follmann atmete tief durch. Deren Sorgen wollte er haben. Der Blonde<br />

mit der Friedenstaube wandte sich wieder ihm zu. Mit beiden Händen<br />

in den Hosentaschen wirkte er jetzt nur noch feist, fast wie das überfette,<br />

grinsende Kind eines Riesen.<br />

Follmann bückte sich nach seiner Aktentasche. Zumindest schien die<br />

unmittelbare Gefahr vorüber zu sein. Als er hoch kam, registrierte er jedoch<br />

höchst erstaunt, wie die Stirn seines Gegenübers irgendwie unnatürlich<br />

auf ihn zukam. Als dann der harte Schädel des Blonden auf Follmanns<br />

Nasenwurzel knallte, verlor dieser augenblicklich das Bewusstsein,<br />

ließ alles los und sackte in sich zusammen.<br />

11


»Bitte schön, junge Frau«, grinste der Blonde und machte den Weg<br />

zum Telefonposten frei, an dem der Hörer wie wild hin und her baumelte.<br />

»Wird auch Zeit«, schimpfte die Dame. »Los, Hermann! Wo sind die<br />

Münzen?« Dann stockte die Frau, drehte sich um und rief dem Hünen<br />

in der Lederjacke hinterher: »He, Sie da! Wollen Sie Ihren Freund hier<br />

liegen lassen?«<br />

II<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Palma de Mallorca. Der Schlitz auf der linken Seite des Kleides fand<br />

wenige Zentimeter unterhalb der Stelle sein Ende, wo das in die<br />

Strümpfe integrierte Strumpfband am Oberschenkel von Mercedes de<br />

Cárdenas seinen Dienst leisten sollte. Doch es zwickte.<br />

Richard Henry Harriott, Geschäftspartner der gut vierzigjährigen, traute<br />

seinen Augen nicht. Hatte das Weib doch tatsächlich auf der Geschäftskreditkarte<br />

eine fünfstellige Summe angehäuft. Dass sie sich<br />

nun, auf dem Schreibtisch sitzend, immer mehr entblößte, hielt er für<br />

ein Ablenkungsmanöver der perfiden Art.<br />

»Du brauchst nicht abzulenken«, schimpfte er deshalb irritiert und<br />

stierte wie hypnotisiert auf das blütenweiße Höschen, das ihm wie Evas<br />

biblischer Apfel entgegen leuchtete.<br />

»Ich habe nicht die Absicht, mein starker Held«, säuselte die Angesprochene<br />

bei schmerzverzerrtem Gesicht beiläufig. Dann gab das<br />

Strumpfband die feinen Härchen an ihrem Oberschenkel wieder frei.<br />

Als die Spanierin hoch blickte, sah sie in die großen Augen ihres englischen<br />

Gegenübers und fing sofort schallend an zu lachen. Sie zeigte mit<br />

dem Finger auf Richard und prustete los: »Schau dir den an. Habe ich<br />

schon einmal so geglotzt, wenn du deine Herrensocken hochgezogen<br />

hast?«<br />

Das wäre ja kein Vergleich, wollte Richard zuerst einwenden, sagte<br />

dann aber resignierend: »Wenn du dich nicht beherrschst, gehen wir<br />

bankrott.«<br />

Richard legte die Abrechnung auf den Schreibtisch zurück und wollte<br />

zu einer Standpauke ansetzen. Da schlug Mercedes ihre Beine übereinander,<br />

fixierte ihn herausfordernd und zischte genervt: »Wird alles abgebucht.<br />

Wo ist das Problem?«<br />

12


Richard kapitulierte.<br />

Während seines eigenen Studiums hatte ihn der britische Secret Intelligence<br />

Service, bekannt als MI6, angeworben und ausgebildet. Nach der<br />

üblichen Zeit als Desk Researcher hatten sie ihn bei allen möglichen<br />

Aktionen mitlaufen lassen und dann letztendlich als Liaison-Officer des<br />

Wirtschaftsministeriums zwischen offiziellen und inoffiziellen Auftraggebern<br />

so positioniert, dass der Dienst sämtliche Informationen abschöpfen<br />

konnte.<br />

Dann gab es in England einen Regierungswechsel und Richard verlor<br />

seine Position als Liaison-Officer, galt gleichzeitig jedoch als Geheimdienstmann<br />

als verbrannt. »Wir werden Sie nicht als 008 einsetzen«,<br />

hatte sein Vorgesetzter hämisch bemerkt und Richard nahe gelegt zu<br />

kündigen. Misstrauisch hatte er den Dienst quittiert, aber gleichzeitig<br />

gehofft, dass der Dienst fair wäre und ihn weiterhin, aber informell verwenden<br />

würde.<br />

An jenem Nachmittag, als Richard vor Jahren das Dienstgebäude seines<br />

damaligen Arbeitgebers in Cheltenham für immer verließ, war ein<br />

älterer Herr mit dem Gesicht eines Habichts mit seiner schwarzen<br />

Daimler-Limousine in gemessener Fahrt neben dem Arbeitslosen hergefahren.<br />

Als Richard sich verwundert für den Verfolger interessierte,<br />

hatte der Alte seinem Chauffeur ein Zeichen gegeben, das Fenster herunter<br />

gelassen und im dezenten, sehr bestimmten Ton freundlich lächelnd<br />

gesagt: »Junger Mann, ich habe Ihnen ein Angebot zu machen,<br />

das Sie schwerlich ablehnen können.«<br />

Der Herr, Sir Alec, war ein typischer Vertreter des gehobenen, englischen<br />

Staatsdieners, unauffällig und sorgfältig gekleidet, mit dem Aussehen<br />

eines Asketen mit vornehmer Herkunft und elitärer Ausbildung.<br />

Richard hatte ihn gekannt. Und zwar so genau, wie kleinere Angestellte<br />

einer Behörde ihren Dienststellenleiter kennen, nämlich vom Sehen und<br />

stets bestrebt, nichts mit ihm zu tun zu bekommen.<br />

Im Angesicht dieses Edelmannes stellte sich der Arbeitslose sofort die<br />

Frage, ob der Dienst ihn mit dem informellen Angebot endgültig kaltstellen<br />

wollte oder ihm tatsächlich jetzt eine vielversprechende Karriere<br />

bevorstände. Denn wenn Richard während seines Dienstes im Apparat<br />

nichts gelernt hätte, hätte er doch mitbekommen, dass allzu oft das Gegenteil<br />

eines Anscheins die traurige Wahrheit war.<br />

Grundsätzlich galt, wer hoch hinaus wollte, war in Gefahr, einsam und<br />

tief zu fallen.<br />

Später hatte Richard mitbekommen, dass Sir Alec offenbar eine ganze<br />

Gruppe ähnlicher informeller Agenten führte, doch kannte er keinen<br />

13


einzigen dieser Kollegen, noch wäre es möglich gewesen, Näheres zu<br />

hinterfragen.<br />

Wie dem auch war. An diesem Tag registrierte die britische Geheimdienstbürokratie<br />

einen Mitarbeiter weniger und einige Zeit darauf die<br />

Ferieninsel Palma de Mallorca in ihrem Gewerberegister eine freischaffende<br />

Unternehmensberatung mehr. Auf dem goldfarbenen Firmenschild<br />

war der Name »Palma Management« zu lesen.<br />

Palma Management leistete für seine Kunden »Competitive Intelligence<br />

Service« also die systematische, andauernde und legale Sammlung<br />

und Auswertung von Informationen über Konkurrenzunternehmen,<br />

Wettbewerbsprodukte, Marktentwicklungen, Branchen, neue<br />

Patente, neue Technologien und Kundenerwartungen.<br />

Das war das offizielle Angebot. In Wirklichkeit versuchte man, das zu<br />

leisten, was einem aus London befohlen wurde. Die Betonung lag auf<br />

uneingeschränktem Gehorsam und unbedingter Verschwiegenheit.<br />

Sonst aber war man frei wie ein Vogel, besonders dann, wenn es um die<br />

Finanzierung der gesamten Unternehmung ging.<br />

Verirrte sich tatsächlich ein Kunde, so musste er vor Auftragsannahme<br />

von London genehmigt werden. Und natürlich wurde der Auftrag geheimdienstlich<br />

abgeschöpft und die vereinnahmten Honorare mit allerlei<br />

früheren Aufwendungen verrechnet.<br />

Sir Alec, den Richard mit »Habicht« titulierte, hatte wohl dem Apparat<br />

versprochen, dass sich seine rechtsstaatlich fragwürdige Parallelorganisation<br />

finanziell selbst tragen würde. Und nicht nur dies: Wie der tatsächliche<br />

Greifvogel die Hühner jagte, trachtete der Alte nicht nur nach<br />

Erkenntnissen, sondern nach merkantilen Überschüssen aus den halb<br />

bzw. illegalen Operationen.<br />

Und ebenso, wie die Operationen gelenkt wurden, forcierte der Alte<br />

seinem Agenten eine intelligente, auf Wunsch jederzeit bereite Partnerin<br />

zu. Richard hatte Mercedes seinerseits als Assistentin des Presseattachés<br />

an der spanischen Botschaft in London kennen gelernt und von<br />

der ersten Minute an bewundert.<br />

Das rassige Weib in der Frau war dann auch zuverlässig, scharfsinnig,<br />

sprach mehrere Sprachen fließend und tatsächlich allzeit bereit, jeden<br />

Befehl aus London zu befolgen. Leider hatte der alte Habicht noch nie<br />

befohlen, mit dem Agentenkollegen Richard ins Bett zu steigen.<br />

So knisterte es immer etwas im Penthouse-Büro weit über dem Jachthafen<br />

von Mallorca, in dem Mercedes im anliegenden Appartement<br />

auch wohnte, während der inoffizielle Bürovorsteher in der Suite eines<br />

Hotels sich dauerhaft eingerichtet hatte.<br />

14


Richard erinnerte sich an ihren ersten gemeinsamen Auftrag. Mercedes<br />

hatte an ihrem Schreibtisch Platz genommen, eine Taste gedrückt und<br />

über ihre roten Lippen geflötet: »Ich habe einen Auftrag. Sir Alec hat<br />

uns eben sein O.K. gegeben.«<br />

»Wie? Was? Nicht so schnell«, fühlte sich Richard überrumpelt.<br />

Mit der Zeit hatte er dann ein feines Gespür für Aufträge oder Aufgaben<br />

bekommen, die keine waren oder für deren Ergebnisse sich niemand<br />

interessierte. Und genau dieses Gefühl beschlich Richard jedes<br />

Mal, wenn er sich an diesen ersten Auftrag erinnerte. Zu offensichtlich<br />

hatten damals die Panzerschränke in den Firmen offen gestanden und<br />

zu offensichtlich verließen seine Gesprächspartner stets dann für längere<br />

Zeit ihre Büros, wenn er am liebsten die in den Panzerschränken<br />

liegenden Papiere abgelichtet hätte. Doch der erste Auftrag brachte<br />

umgerechnet zweihunderttausend Britische Pfund, was damals viel<br />

Geld war. Mercedes hatte keck in seine Augen geblickt, ihn herausfordernd<br />

angelächelt und geflüstert: »Partner?«<br />

»Ja, natürlich«, hatte er gestottert.<br />

Sie aber hatte den Kopf geschüttelt: »Nicht natürlich. Gleichberechtigt!«<br />

Mercedes pflegte die Verbindung nach London, beschaffte und koordinierte<br />

die Aufträge sowie die notwendigen Information. Und Richard<br />

spielte nach außen den Chef, ärgerte sich, dass er alle Informationen zuletzt<br />

bekam und der alte Habicht in London regelmäßig seine Spesenabrechnungen<br />

zusammenstrich.<br />

So gesehen war es unangemessen, an der Kreditkartenabrechnung von<br />

Mercedes herumzunörgeln. Natürlich wusste Ihre Majestät die Königin<br />

weder etwas von Richard noch von der Existenz im Ausland ansässiger<br />

Privatunternehmen, die für ihren Geheimdienst arbeiteten. Würde nämlich<br />

eines Tages eine Aktion platzen, so stände der Geheimdienst Ihrer<br />

Majestät mit weißer Weste da. Mit der Produktion von Unlauterkeiten<br />

aller Art hätte keine staatliche Stelle etwas zu tun und brauchte diese<br />

somit weder zu dementieren noch zu verwischen.<br />

Wenn die Presse über die rechtsstaatliche Verwerflichkeit im Allgemeinen<br />

und die fehlende parlamentarische Kontrolle im Besonderen berichten<br />

würde, verwiese die gesetzestreue Regierung mit Unschuldsmine<br />

auf ihre weiße Weste, während ein entlassener, wohl übergeschnappter,<br />

ehemaliger Liaison-Officer, der auf Mallorca Detektiv<br />

spielte, die stinkenden Vorkommnisse verantworten müsste.<br />

Spätestens dann würde man Mercedes ins Königreich zurück beordern<br />

und Richard aus luftiger Höhe fallen lassen.<br />

15


Auch der CIA unterhielt seit Jahren ein sogenanntes NOC-Programm,<br />

was für Non Official Cover steht. Die schalten zur Tarnung Headhunter<br />

ein, sorgen für die geeigneten Kandidaten und übernehmen die zusätzlichen<br />

Kosten, die beispielsweise dadurch entstehen können, dass der<br />

platzierte Manager und NOC-Officer bedeutend mehr verdient als ein<br />

gleichwertiger CIA-Beamter. Zudem muss der Maulwurf sozial für den<br />

Fall abgesichert werden, dass seine Tarnung auffliegt. Natürlich unvorstellbar,<br />

dass die Erbsenzähler in London mit einem solchen Problem<br />

umgehen könnten.<br />

Jetzt holte Richard tief Luft und versuchte, mit dem Fuß den unter seinem<br />

Tisch stehenden Aktenvernichter näher an sich heran zu ziehen.<br />

Dieser wackelte bedenklich. Zwischen dem Apparat und dem sich darunter<br />

befindlichen Papierauffangbehälter quollen die Schnipsel heraus.<br />

»Leert die Putzfrau eigentlich den Aktenvernichter nicht?«, murrte er.<br />

Mercedes schwang sich von der linken, vorderen Ecke seines riesigen<br />

Schreibtisches. »Die Putzfrau putzt ja auch nicht. Warum soll sie dann<br />

den Aktenvernichter leeren?«<br />

»Warum putzt die Putzfrau nicht?«, empörte sich der selbst ernannte<br />

Bürovorsteher.<br />

»Weil du, mein alter Don Juan, mit ihr Tango tanzen wolltest und sie<br />

diese plumpe Annährung ihrem arbeitlosen Mann erzählte. Der war<br />

gestern hier und meinte, dass er in Zukunft seine Frau vertreten würde.<br />

Und ob du mit ihm auch Tango tanzen würdest.«<br />

»Ich schlage ihm eins aufs Maul«, ärgerte sich der Ertappte und schüttelte<br />

verständnislos den Kopf.<br />

»Die ärmliche Bezahlung wurde auch bemängelt«, stichelte Mercedes<br />

liebenswürdig wie immer in den offenen Wunden herum. »Wenn sie<br />

nicht besser entlohnt würde, zeige sie das bei der Gewerkschaft an.«<br />

»Ach was!«, tat Richard nun ehrlich überrascht, »seit wann sind Gewerkschaften<br />

für schwarzarbeitende Putzfrauen zuständig?«<br />

Richard verzog das Gesicht, als hätte er auf eine Zitrone gebissen. Alle<br />

Operationen, so bemühte er sich wenigstens, wurden, wenn möglich, im<br />

Rahmen der jeweiligen Gesetze durchgeführt. Ohne Absprache mit den<br />

jeweiligen Staaten waren aber Geheimdienstaktionen auch unter Freunden<br />

verpönt. Er, Richard, reiste jedoch stets als Tourist und operierte<br />

als Geschäftsmann. Nicht zur Tarnung, sondern wirklich. Nur dass sein<br />

Geschäft eben darin bestand, Informationen zu sammeln, auszuwerten<br />

und weiterzugeben. In dieser Logik war es natürlich ebenfalls unklug,<br />

16


eine schwarzarbeitende Putzfrau zu beschäftigen, wollte er doch nirgends<br />

auffallen, auch nicht bei spanischen Behörden.<br />

»Die ist sicherheitsüberprüft«, schimpfte der Engländer, »die können<br />

wir nicht einfach auswechseln.«<br />

»Die ist illegal«, lächelte Mercedes und streichelte den auf den<br />

Schreibtisch gesprungenen Kater Domingo gegen den Strich.<br />

»Reize das Tier nicht. Wenn man es gegen den Strich bürstet, wird das<br />

Viech nur unnötig geil.«<br />

»Gibt es da Parallelen?«, frotzelte Mercedes.<br />

Richard stutzte: »Sicher, der Mann unserer Putzfrau wird ähnlich reagieren.<br />

Alle minder intelligenten Lebewesen fabulieren schwach informationsbelastete<br />

Kommunikation.«<br />

»Mein Gott«, seufzte die Katzenanimateurin, »ein Glück, dass der von<br />

dir täglich produzierte Unsinn von niemandem aufgeschrieben wird.«<br />

Noch wenige Zentimeter und der Aktenvernichter war in Richards<br />

Reichweite. Natürlich hätte sich Richard nur etwas strecken müssen,<br />

um sein Ziel zu erreichen, doch seine Trägheit war stärker. Richard gab<br />

dem Apparat einen letzten Ruck, dann fiel dieser um.<br />

»Diese Weiber! Nicht fähig, einen Aktenvernichter zu leeren, aber<br />

mehr Lohn wollen.«<br />

Der eigentliche Schredder hatte sich vom darunter stehenden Behälter<br />

gelöst. Tausende von kleinsten Schnipseln streuten und quollen auf die<br />

Auslegware. Richard atmete tief durch. Dann zeriss er die Kreditkartenabrechnung<br />

in kleine Stücke und warf die Schnipsel auf das Chaos<br />

am Boden dazu.<br />

»So, was liegt sonst noch an?«<br />

»Hallo, Banallo!«, Mercedes hatte sich einen Kaffee mit der Espressomaschine<br />

gebrüht und saß nun umrührend in einem der tiefen Ledersessel<br />

in der Rauchtischecke des überdimensionierten Büros.<br />

Richard blinzelte verständnislos gegen das Sonnenlicht.<br />

Mercedes half nach: »Ein Herr Follmann hat angerufen. Er machte einen<br />

insgesamt gehetzten Eindruck. Als ich ihm bedeutete, dass er hier<br />

bei uns sicher und in angenehmer Atmosphäre seine Probleme besprechen<br />

könne, wurde ihm offenbar schlecht.«<br />

»Du sprichst in Rätseln...«<br />

»Ich konnte nicht alles verstehen. Er rief, wie ich eruierte, von einem<br />

öffentlichen Fernsprecher aus Frankfurt an. Aber plötzlich war er nicht<br />

mehr allein, sondern irgendwer sagte eben dieses Hallo Banallo und<br />

Follmann entschuldigte sich wegen der Unterbrechung. Danach ist er<br />

offenbar umgefallen...«<br />

17


»Das war eine Videokonferenz vom öffentlichen Fernsprecher oder<br />

woher kannst du das wissen?«<br />

Mercedes deutete auf die Telefonanlage und Richard drückte die entsprechende<br />

Taste. Sämtliche Telefonate wurden automatisch mitgeschnitten.<br />

Richard lauschte. Leider war die Qualität der Aufnahme sehr<br />

schlecht.<br />

»Das klingt nach Schwächeanfall, sonst hätte diese Frau ja sicher wie<br />

am Spieß um Hilfe geschrien«, analysierte Richard. »Bekomme ich keinen<br />

Kaffee?«<br />

»Natürlich«, meinte die Partnerin spitz, »mit der Kaffeemaschine wolltest<br />

du ja auch keinen Tango tanzen.«<br />

»Na dann, bitte schön«, sagte der Herr verärgert und griff zum Telefon,<br />

wenn Samuel Rüegg einen Follmann empfohlen hatte, müsste jener<br />

ja schließlich auch wissen, wer dieser war. Und tatsächlich erwies sich<br />

diese gedankliche Konstruktion als folgerichtig, während die Hoffnung,<br />

dass Mercedes ihm einen Kaffee aufbrühen würde, im Reich der Tagträume<br />

versandete.<br />

»C'est le ton qui fait la musique«, würden die Engländer sagen, wenn<br />

sie außer Englisch noch Französisch könnten. Richard glaubte allerdings,<br />

dass die gesamte Welt Englisch sprach, sah man von den sieben<br />

Prozent Chinesen in der Londoner Chinatown einmal ab.<br />

Auch Samuel Rüegg von der Firma Greves in Oerlikon bei Zürich wäre<br />

ebenfalls einwandfrei zu verstehen gewesen, wenn man den englischen<br />

Geschäftsmann aus Mallorca endlich durchgestellt hätte.<br />

»Sie warten noch einen Moment, der Herr Direktor ist zu Ihnen auf<br />

dem Weg«, sagte jetzt wiederholt dessen Vorzimmerdame.<br />

»Das ist überhaupt nicht nötig«, frotzelte Richard auf Englisch, »der<br />

Herr Direktor braucht nicht zu mir nach Mallorca zu kommen, ich will<br />

ihn nur am Telefon sprechen.«<br />

»Oh, merci viel Mal«, sagte jetzt die Frau und legte auf.<br />

»Du bist eben der Größte, wenn du allein bist«, lachte Mercedes amüsiert<br />

über Richards verdutztes Gesicht. »Hier, du Sprachgenie, ist die<br />

Akte der Greves AG über den damaligen Vorgang.«<br />

Vor gut zwei Jahren hatte die Schweizer Firma sie beauftragt zu ermitteln,<br />

warum ein Auftrag über mehrere hundert Präzisionsschaufeln aus<br />

Titan für Miniaturtriebwerke storniert wurde. Diese waren für Steuerungsraketen<br />

für die exakte Platzierung von Nachrichtensatelliten bestimmt<br />

gewesen und der damalige Auftraggeber, eine Firma im deutschen<br />

Böblingen, hatte seinen Rückzug mit drastischen Budgetkürzun-<br />

18


gen im Gesamtprojekt begründet. Das war gelogen. Man hatte einen<br />

anderen Hersteller gefunden, der auf der Grundlage der ausspionierten<br />

Konstruktionsunterlagen billiger produzieren konnte. Wo der oder die<br />

Kopisten saßen, war auch für London eine interessante Frage, doch bei<br />

der Vielzahl der Lieferanten und Unterlieferanten nur schwer zu beantworten.<br />

Genau so einen Kopisten hatten die Schweizer damals als Störenfried<br />

vermutet und beauftragten Palma Management zu ergründen, wer dieser<br />

Lieferant war und zu welchen Preisen und mit welcher Qualität der<br />

Konkurrent plötzlich liefern konnte.<br />

Richard blätterte frustriert und lustlos in der Akte. Gesprächspartner<br />

bei Greves waren Präsident Willy Kessler und Samuel Rüegg, damals<br />

Leiter Export gewesen.<br />

Richard hatte heraus bekommen, dass die Greves AG von einer<br />

Transtecco GmbH in Frankfurt ausgetrickst worden war. Diese Handelsgesellschaft<br />

für High-Tech-Produkte und Know-how war aber kein<br />

Hersteller wie Greves, sondern sie wusste sich die Präzisionsteile irgendwie<br />

am Markt zu beschaffen.<br />

Richard konnte für seinen Auftraggeber dann auch wenig tun, weil die<br />

undichte Stelle nicht ermittelt werden konnte, trotzdem zahlte die Greves<br />

AG seine Rechnung, ohne zu murren.<br />

Richard schmiss die Akte achtlos zum Restmüll unter seinen Schreibtisch.<br />

Im Nebenraum zischte die Espressomaschine.<br />

»Bitte, Liebes, bringe mir ein Tässchen mit, bitte, bitte, bitte.«<br />

»Du konntest dich also an das Zauberwort noch erinnern?«, schmunzelte<br />

Mercedes und tänzelte mit zwei Tassen Kaffee und etwas Gebäck<br />

heran.<br />

»Danke!«, murrte Richard. »In der Akte steht nur der gewöhnliche<br />

Scheiß.« Er griff zum Telefonhörer und drückte die Wahlwiederholung.<br />

»Einer der Geschäftsführer der Firma Transtecco hört auf den Namen<br />

Follmann«, insistierte Mercedes.<br />

»Firma Greves, Vorzimmer von Direktor Rüegg«, meldete sich die bekannte<br />

weibliche Stimme am Telefon.<br />

»Woher weißt du das?«, fragte Richard.<br />

»Na, hören Sie mal, ich arbeite hier seit zwanzig Jahren«, empörte sich<br />

die Frau am anderen Ende der Leitung auf Englisch.<br />

»Aus der Akte«, lächelte Mercedes und zeigte unter Richards Schreibtisch.<br />

19


»Und warum telefoniere ich mir hier die Finger wund?«, schimpfte Richard.<br />

»Das ist Ihr Problem, mein Herr. Herr Rüegg ist nun angekommen.<br />

Wollen Sie ihn jetzt noch sprechen oder nicht?«, fragte es aus dem Telefonhörer.<br />

Nun legte Richard auf.<br />

»Dann haben wir es also mit dieser windigen Transtecco zu tun«, urteilte<br />

Richard und machte einen langen Arm unter den Schreibtisch, um<br />

die Akte wieder nach oben zu angeln. »Diesen Kopisten und Schwarzhändlern<br />

ist natürlich auch jeder Schwächeanfall zuzutrauen.«<br />

»Hier«, zeigte Mercedes auf die Akte und scheuchte den Kater vom<br />

Schreibtisch.<br />

Gemäß Registerauszug war Georg Follmann Gesellschafter und Geschäftsführer<br />

der Transtecco GmbH in Frankfurt. Datum des Eintrags<br />

war der 15. Januar 2001. Neben Follmann waren noch Philipp Schütz<br />

und Hans Seidler aufgeführt.<br />

Die Person und die Firma mit all dem Hintergrund verliehen dem Vorgang<br />

natürlich höchste Bedeutung.<br />

Die Adresse und die Telefonnummer der Transtecco waren bekannt.<br />

Schwieriger erwies sich die Suche nach den privaten Koordinaten von<br />

Follmann. Die Nummer war im Telefonbuch nicht eingetragen, was in<br />

Deutschland jedem Telefonanschlussbesitzer freigestellt ist. Ein Durchfragen<br />

bei der Firma erschien nicht ratsam. Follmann hatte wahrscheinlich<br />

mit Absicht nicht mit seinem Handy oder von seinem Büro aus telefoniert,<br />

sondern einen öffentlichen Fernsprecher aufgesucht.<br />

In solchen Situationen konnte sich Richard an die Freunde in London<br />

wenden, welche über ihre Presseattachés, wie offiziell bleibe dahingestellt,<br />

im Nu auf die Datenbanken der nationalen Telefongesellschaften<br />

zugreifen konnten. Also sandte Mercedes eine E-Mail an die Zentralstelle<br />

und erhielt zwei Stunden später die angeforderten Informationen.<br />

Auf diese Weise hielt sich London über alle Anfragen im Bild, und die<br />

Attachés konnten keinerlei Rückschlüsse auf die Interessenten ziehen.<br />

»Es ist besser, du rufst an«, gab Richard zu bedenken. Würde das Gespräch<br />

verunglücken, so gab es für eine Frau stets eine Rückzugslinie,<br />

weil sie sich als ungeschickte Sekretärin verabschieden konnte. »Vielleicht<br />

solltest du zur Dame des Hauses nicht Schätzchen sagen«, wandte<br />

Richard noch ein, doch dann war es schon zu spät.<br />

»Palma Management, buenas tardes!«, hauchte Mercedes der Frau am<br />

anderen Ende der Leitung entgegen, als wolle sie ihr eben sanft mittei-<br />

20


len, dass der werte Gatte beim letzten Besuch in ihrem Appartement<br />

seine Armbanduhr im Badezimmer hatte liegen lassen.<br />

In vielen Ländern wie Skandinavien, Großbritannien oder Nordamerika<br />

ist es völlig normal, dass Frauen auch abends geschäftliche Telefonanrufe<br />

an Privatnummern tätigen. In anderen Ländern wirft ein solcher<br />

Anruf sofort Fragezeichen auf, vor allem wenn die Dame des Hauses<br />

den Hörer abnimmt. Oftmals verursacht er Abwehrreflexe oder zumindest<br />

Misstrauen. Bei aller Emanzipation herrscht gerade in Deutschland<br />

eine solche Kultur. Das trifft insbesondere dann zu, wenn der Anruf<br />

in den Abendstunden erfolgt.<br />

Man stelle sich vor, eine wegen der ungewohnten Stunde etwas unsichere<br />

weibliche Stimme verlangt den Herrn des Hauses; es sei geschäftlich.<br />

Die Gattin wird ein sauersüßes Lächeln aufsetzen, je nach allgemeiner<br />

oder momentaner Gemütslage eine entsprechende Grimasse<br />

schneiden und den schnurlosen Hörer dem Gatten entgegenstrecken,<br />

der gerade mitten in der Besuchsrunde sitzt: »Hallo Liebling, eine Dame<br />

am Apparat, es ist angeblich geschäftlich?« Irritiert, welche seiner<br />

Eroberungen so blöd sein dürfte, um jetzt und hierher anzurufen, greift<br />

er interessiert und geniert zum Hörer und entfernt sich damit. Der<br />

Abend dürfte gelaufen sein.<br />

Richard schaute auf die Uhr. Es war nun fünf Uhr nachmittags und er<br />

hoffte inständig, dass Frau Follmann so früh am Tag keine falschen<br />

Schlüsse zog.<br />

»Ihr Gatte nahm gestern mit uns Kontakt auf, ich möchte seiner Bitte<br />

um Rückruf nun nachkommen. Kann ich ihn freundlicherweise sprechen«,<br />

herzte Mercedes und ignorierte die verzweifelten Handzeichen<br />

von Richard.<br />

»Bedaure sehr«, meinte Frau Follmann recht leutselig, »er liegt im<br />

Krankenhaus und wird voraussichtlich erst am Wochenende entlassen.«<br />

»Das tut mir aber Leid. Darf ich fragen, ob er einen Unfall hatte?«<br />

»Nein, er hatte sein Handy vergessen und mich vom Bahnhof aus angerufen.<br />

Und stellen Sie sich vor, während des Gesprächs sagte er<br />

plötzlich, dass ihm übel sei und ich möchte einen Notarzt rufen. Dann<br />

muss er einfach zusammengesackt sein...«<br />

»Mein Gott, wie schrecklich«, tratschte Mercedes dazwischen und<br />

zeigte Richard mit dem Zeigefinger einen Vogel.<br />

»...aber der Arzt sagte, kein Herzinfarkt. Er muss jetzt nur noch zwei<br />

Tage zur Beobachtung bleiben, wegen der Gehirnerschütterung... äh<br />

oder so.«<br />

21


»Dann kann man ihm ja nur gute Besserung wünschen«, lächelte Mercedes,<br />

»ich werde mir erlauben, wenn’s recht ist, Mitte der nächsten<br />

Woche mich nochmals zu melden.«<br />

»Nein, nein«, wehrte sich die Frau des Geschäftsführers etwas zu<br />

schnell, »er wird sich bei Ihnen schon melden, aber ich glaube, die Sache<br />

hat sich in der Zwischenzeit auch erledigt.«<br />

Mit den üblichen Floskeln wurde das Gespräch beendet. Richard hatte<br />

sich wieder beruhigt, offenbar ordneten Frauen die Stimme von Mercedes<br />

irgendwie anders ein.<br />

»Die lügt, diese Schlampe«, empörte sich die Spanierin, »ihr Gatte ist<br />

zusammengebrochen, während er mit mir telefonierte...«<br />

»Und beim Zusammensacken«, ergänzte Richard, »kann man sich keine<br />

Gehirnerschütterung zuziehen. Die Sache ist oberfaul. Hast du bemerkt,<br />

wie sie sich dagegen wehrte, dass wir nochmals anrufen wollten?«<br />

»Fazit: Follmann wurde zusammengeschlagen, weil er mit uns Kontakt<br />

aufnahm und nichts anderes«, schloss Mercedes die Analyse.<br />

Richard drückte auf die Fernbedienung des Fernsehers. Auf Bloomberg<br />

tickerte eben, dass sämtliche Börsen inzwischen um die zwei Prozent<br />

gefallen waren und die New Yorker Börse war gerade dabei, ebenfalls<br />

nach Süden abzudrehen. Richard zeigte mit dem Finger auf den<br />

Kasten: »Ich bin ruiniert!«<br />

»Honey«, schmunzelte die studierte Ökonomin, »it’s only a paper<br />

loss.«<br />

Wäre die Börse nun gestiegen, hätte Richard sicher die Akte wieder<br />

auf den Boden geschmissen. Jetzt aber fragte er: »Wer bezahlt das?«<br />

»Follmann«, meinte Mercedes, zuckte aber gleichzeitig mit den Schultern.<br />

»Und was sagt London?«<br />

»Interessante Frage«, lächelte Mercedes und kniff die Augen zusammen,<br />

»Sir Alec hat jedenfalls nicht Nein gesagt.«<br />

»Sicher bekämen wir nun recht schnell heraus, in welchem Krankenhaus<br />

dieser Follmann liegt«, resümierte der Börsianer hart an der Armutsgrenze,<br />

»wiederholt er aber die Version seiner Frau, können wir<br />

ihm ja schlecht unsere Hilfe intravenös einflößen und der Krankenkasse<br />

in Rechnung stellen.«<br />

»Wiederholt er die Version seiner Frau, bedeutet dies, dass ihn das<br />

‚Hallo Banallo’ eingeschüchtert hat...«<br />

22


»Oder«, zweifelte Richard, »dass er tatsächlich nur einen Schwächeanfall<br />

erlitt, die Dame des Hauses aber nicht zugeben wollte, dass der<br />

Herr Gemahl auch mit anderen Leuten telefoniert...«<br />

»Na, ja«, verzog Mercedes ihr Gesicht, »dann wird er ja eines Tages<br />

wieder anrufen. Soll ich uns ein Leberwurstbrot schmieren?«<br />

»Pfui Teufel!«<br />

»Etwas anderes können wir uns bei dieser Börsen- und Auftragslage<br />

nicht mehr leisten«, grinste sie schelmisch.<br />

»Hört, hört«, registrierte Richard den Stimmungswechsel, »ich dachte,<br />

es wird alles ohne Probleme abgebucht. Da vorne hat ein Landsmann<br />

von mir eine wunderschöne Pizzeria aufgemacht und serviert köstliche<br />

Fischgerichte mit frittierten Kartoffeln.«<br />

»Mein Gott«, sagte Mercedes angewidert, »ein Engländer schwenkt<br />

auf Mallorca für seine Landsleute Fischstäbchen in der Friteuse und<br />

mein Partner beschreibt diese Missetat als Köstlichkeit. Diese Welt<br />

muss untergehen!«<br />

»In Lebensgefahr schwebt dieser Follmann jedenfalls nicht...«, nahm<br />

Richard den Faden wieder auf.<br />

»Vorausgesetzt, das Frankfurter Krankenhaus beschäftigt keinen englischen<br />

Koch«, warf Mercedes ein und wich der geschmissenen Akte geschickt<br />

aus.<br />

Und während der Kater träge sein Haupt erhob, meinte Richard: »Hätte<br />

man Follmann umbringen wollen, man hätte es bereits getan.«<br />

So beschloss man, essen zu gehen. Am Windsor, einem renommierten<br />

und eleganten Speiserestaurant, schlenderte man der akuten Börsen-<br />

und Auftragslage angemessen vorbei und fand sich in einer kleinen,<br />

recht gemütlichen Spelunke in der Nähe des Hafens wieder.<br />

»Na, ja«, tupfte sich Richard nach dem Essen mit der Serviette den<br />

Mund, »wenn man die englische Küche stets meidet, kann man sie auch<br />

nicht vergleichen.«<br />

*<br />

In den folgenden Tagen wuchs der Papierabfall unter Richards<br />

Schreibtisch, ohne dass sich jemand die Mühe machte, den gekippten<br />

Schredder wieder aufzurichten. Dafür erholten sich die internationalen<br />

Börsen etwas und Richards Gemütszustand verbesserte sich den Umständen<br />

entsprechend.<br />

23


Mercedes hatte versucht, den Ehemann der Putzfrau davon zu überzeugen,<br />

dass seine Gattin bei ihnen in den besten Händen wäre und sie ihre<br />

Arbeit angstfrei wieder aufnehmen solle. Vergebens.<br />

»Ich nicht wollen, dass Frau in fremden Händen ist - sie nur putzen«,<br />

hatte der schnauzbärtige Mann gejammert. Und je stärker die Beschwichtigungsversuche<br />

von Mercedes wurden, desto misstrauischer wurde<br />

der Schnauzbart.<br />

An diesem Nachmittag schleppte nun Richard zur Überraschung des<br />

häuslichen Katers ein neues Kätzchen an, das bereits durch seine rot lackierten,<br />

langen Fingernägel jedem sachkundigen Dritten signalisierte,<br />

dass es Arbeit im bürgerlichen Sinne des Wortes nur aus dem Fernsehen<br />

kannte.<br />

»Das ist Isabella!«, sagte Richard und strahlte wie ein Honigkuchenpferd.<br />

Mercedes sagte nichts und staunte mit halb geöffnetem Mund Bauklötze.<br />

Damit hatte Richard gerechnet und wollte sich mit solchen Kleinigkeiten<br />

nicht aufhalten lassen: »Also, Isabella...«, strahlte er die junge<br />

Frau im kurzen Röckchen an, »du machst hier jeden Tag alles sauber,<br />

zuerst den Schredder leeren, dann die Kaffeemaschine, die Küche, dann<br />

das Katzenklo, die Waschräume usw. - du weißt schon... Sonntags hast<br />

du frei. Das Geld gibt es cash. O. K.?«<br />

Isabella lächelte lieb, sagte auch »O. K.«, hielt dabei die Hand auf und<br />

ließ Mercedes nicht aus den Augen, betrachtete sie doch das andere<br />

Weib instinktiv als Rivalin.<br />

Mercedes machte nun den Mund wieder zu, schluckte einmal trocken,<br />

trank einen Schluck Mineralwasser und sagte auf Englisch sehr deutlich<br />

und messerscharf: »Ich gehe recht in der Annahme, dass du dieses<br />

Schätzchen zum ... hier angeschleppt hast, denn Putzen wird sie nicht<br />

können.«<br />

Richard war augenblicklich eingeschnappt. »Wie? Was redest du da?<br />

Die habe ich von der Arbeitsvermittlungsstelle, die hat einen Sozialversicherungsschein<br />

und kostet 400 Euro pro Monat.«<br />

»Pro Nacht«, zischte Mercedes und ihre dunklen Augen wurden zu<br />

Flammenwerfern.<br />

Dann klingelte das Telefon. »Palma Management, buonas días«, säuselte<br />

Mercedes unvermittelt in den Hörer, als hätte sie sich eben selbst<br />

400 Euro mit etwas Lustvollem verdient.<br />

Richard nahm seine Reinemachefrau in den Arm und führte sie in die<br />

Küche. »Lass’ dich nicht einschüchtern, das wird schon«, tröstete er die<br />

24


Hübsche und zeigte ihr die Espressomaschine, deren Unterbau bereits<br />

mit Kaffeesatz überquoll.<br />

»Die Greves AG«, unterbrach Mercedes Stimme die Arbeitsunterweisung.<br />

Richard zwinkerte der Kleinen zu und beeilte sich.<br />

»Rüegg«, flüsterte Mercedes und reichte ihm den Hörer.<br />

»Herr Direktor«, tat Richard erfreut und fragte sich, was der nun wollte.<br />

»Sie haben mich angerufen. Ich war leider stark beschäftigt... Also,<br />

was kann ich für Sie tun?«<br />

Das kam nun sehr ungelegen. Diesem Rüegg wollte er nichts mehr<br />

über Follmann sagen, besonders deshalb, weil er glaubte, in dieser Angelegenheit<br />

bereits alles zu wissen.<br />

»Sehr aufmerksam, eigentlich wollte ich mich nur nach Ihrem werten<br />

Befinden erkundigen. Sie wissen ja, Nachbetreuung. Nur allseits zufriedene<br />

Klienten werden uns weiter empfehlen.«<br />

Samuel Rüegg lachte: »Ja, ich bin mit Ihrer Leistung derart zufrieden,<br />

dass ich mir überlege, einen neuen Auftrag zu erteilen.«<br />

Richard war erstaunt, spitzte die Ohren und hob den Zeigefinger, ein<br />

Zeichen für Mercedes mitzulauschen. Während Mercedes dies zweifelsfrei<br />

zu deuten vermochte, betrachtete Isabella das als Zeichen für ihren<br />

Auftritt. Nur noch mit einem rüschigen Slip und BH bekleidet, tänzelte<br />

sie mit einem Tablett heran, auf dem drei Tassen Espresso angerichtet<br />

waren.<br />

»Ich denke«, meinte eben der Direktor, »wir werden in nächster Zeit<br />

intensiver als bisher zusammenarbeiten müssen.«<br />

Richard hatte es die Sprache verschlagen. Und während Mercedes<br />

zischte, er möchte dieses Flittchen entfernen, meinte der Schweizer<br />

durchs Telefon: »Irgendwo in unserem Laden sitzt so ein Lump, der unsere<br />

Arbeiten an die Konkurrenz verkauft...«<br />

»Ist ja schrecklich«, zuckte Richard zusammen, weil er Mercedes<br />

gleichzeitig in ihrer Schreibtischschublade kramen sah, in der auch eine<br />

geladene 9 mm-Pistole lag. Isabella deutete sein Winken als Aufforderung,<br />

den Kaffee zu servieren, und lächelte süß.<br />

»Ist das alles, was Sie dazu zu sagen haben?«, insistierte Rüegg.<br />

»Nein, nein«, versicherte Richard, »ich bin ganz Ohr.«<br />

Während Richard noch überlegte, ob Mercedes nun ihn oder die hübsche<br />

Putzfrau erschießen wolle, knallte es ohrenbetäubend. Richard ließ<br />

sich blitzartig aus seinem Bürostuhl unter den Schreibtisch fallen. Während<br />

aus dem von der Schreibtischplatte herunterbaumelnden Telefon-<br />

25


hörer ein verzweifeltes, »Hallo« zu vernehmen war, schallte das befreiende<br />

Lachen Mercedes durch die Weiten des großen Büros.<br />

Isabella war weinend davongerannt und Richard erkannte aus seiner<br />

Deckung heraus, dass der Schönen lediglich die Zuckerdose vom Tablett<br />

auf den Rauchtisch geknallt war. Reflexe hat man oder eben nicht,<br />

tröstete sich der Agent und rappelte sich wieder auf.<br />

Mercedes, die den mentalen Hintergrund des filmreifen Fallrückziehers<br />

nicht ahnen konnte, griff zum Hörer und versuchte, die Situation<br />

zu retten: »Herr Direktor? Einen Moment bitte, der Chef ist sofort wieder<br />

am Apparat.«<br />

»Ja, ist er vom Stuhl gefallen?«, lachte Rüegg aus der fernen Schweiz,<br />

»bei Ihnen ist ja der Teufel los.«<br />

26<br />

III<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Zürich, zwei Tage später. Vom Flughafen aus hatte Richard den Zug<br />

genommen und stand nun vor dem Zürcher Hauptbahnhof mit einer<br />

Menge Zeit. Strahlendes, wenn auch kühles Wetter ermunterte etwas<br />

herumzuschlendern, und so begann seine Wanderung zwangsläufig in<br />

der Bahnhofstraße, der er bis zum Paradeplatz folgen wollte.<br />

Auf halbem Weg kam er an den Schaufenstern eines Juweliers vorbei,<br />

dessen Geschäftsemblem ein überdimensionierter Diamanttropfen war.<br />

Eine der ersten Adresse für Pretiosen am Platze, vermutete der Engländer<br />

und spähte durch die großen blendfreien Scheiben ins Innere des<br />

Geschäftes. Dort beobachtete er die Kunden, wie sie sich über Tabletts<br />

beugten, auf denen einzelne Schmuckstücke präsentiert wurden. Schüttelte<br />

der Kunde seinen Kopf, so verschwand das Objekt sofort wieder in<br />

einer sicheren Schublade und wurde durch ein anderes ersetzt.<br />

Die Juweliere dieser Welt hatten aus zahlreichen Trickbetrügereien<br />

und Wechselfallengaunereien gelernt. Keinem Betrüger war es mehr<br />

möglich, unbemerkt ein ihm präsentiertes Stück mit einem wertlosen<br />

Duplikat auszutauschen. Kein Wunder bei dieser Kundschaft, pflegte<br />

Richard eines seiner Vorurteile. Denn die Kunden des Geschäfts waren<br />

mittelgroße, schwere Männer mit Lederjacken und keine eleganten<br />

Damen, die sich aus Langeweile mal zur Abwechslung etwas Schmuck<br />

zulegten, wie Richard vermutet hätte. Offensichtlich wurden umfang-


eiche Käufe getätigt und Bündel von Geldscheinen über die Glasplatten<br />

geschoben.<br />

Richard schaute vergrämt auf seine eigene edle Armbanduhr, für deren<br />

Gegenwert sich so mancher Student ein Auto gekauft hätte. Leider war<br />

das Ding nicht kaputt, denn irgendeinen Grund müsste er schon haben,<br />

um sich eine neue zu kaufen. Der Agent drehte sich abrupt um, diese<br />

ganze dekadente Gesellschaft sollte ihm gerade gestohlen bleiben.<br />

Auf der anderen Straßenseite passierte im Schritttempo ein silbergrauer<br />

Porsche Cayenne mit dunkel getönten Scheiben. Das Auto erinnerte<br />

ihn an einen Breitmaulfrosch und er hätte wetten können, dass die<br />

Mehrzahl der Leute überhaupt nicht erkannten, dass es sich bei dieser<br />

unförmigen Familienkutsche um einen Porsche handelte.<br />

Der Agent überquerte die Straße und freute sich einen Augenblick<br />

lang, selbst keinen Parkplatz suchen zu müssen. In einem Café mit<br />

Stehbar bestellte er sich einen Espresso.<br />

Nein, für drei Franken wollte das Mädchen an der Espressomaschine<br />

keine Kreditkarte akzeptieren und sogleich begann ein langes Palaver<br />

darüber, warum sie auf den Hundert-Euro-Schein nun in Schweizer<br />

Franken herausgeben wolle. Nach fünf Minuten hatte er noch zwei Kuchenstücke<br />

dazu gekauft, einen Zehn-Euro-Schein aus der Brieftasche<br />

gefischt und sich mit einem verärgerten »ist gut so« abgedreht.<br />

Richard stellte sich in Position, um die Typen zu beobachten, die auf<br />

der gegenüberliegenden Straßenseite den Juwelier beglückten.<br />

Jetzt überquerten zwei dieser Pelzjacken die Bahnhofstraße und steuerten<br />

direkt auf das Café zu. Sie stellten sich ebenfalls an die Stehtische.<br />

Beinahe hatte er damit gerechnet, dass sie seinetwegen dieses Lokal<br />

aufgesucht hätten, aber sie nahmen keinerlei Notiz von ihm. Verstohlen,<br />

aber mit sichtlichem Stolz zeigten sie einander ihre Trouvaillen,<br />

indem sie vorsichtig mit Velours überzogene Schatullen aus den Innentaschen<br />

der Vestons zogen und diese ein wenig öffneten und schnell<br />

wieder verstauten. Des Russischen zwar nicht mächtig, erkannte Richard<br />

dennoch die Sprache. Er machte sich einen Spaß daraus, ihre Blicke<br />

auf sich zu ziehen und ihnen freundlich zuzulächeln. Sie nickten<br />

ebenfalls. Unsicher zwar, denn sie reisten vielleicht zum ersten Mal in<br />

den Westen. Irgendetwas Ungesetzliches hatten sie ja nicht getan.<br />

»Guter Laden«, warf Richard zu den seltsamen Besuchern etwas burschikos<br />

hinüber und machte ein anerkennendes Gesicht. Die Russen<br />

stutzten, nickten dann aber ebenfalls zustimmend oder vielleicht auch<br />

nur verlegen. Richard schob sich ein Stück des teuer erstandenen trockenen<br />

Gebäcks in den Mund, denn eine weitere Konversation war<br />

27


wohl weder erwünscht noch möglich. Der Espresso war ausgetrunken<br />

und es war eine Menge Gebäck übrig, das ohne Flüssigkeit nicht genießbar<br />

erschien.<br />

»Bekomme ich noch einen Espresso?«, fragte er das Mädchen an der<br />

Kaffeemaschine auf Englisch.<br />

»Nur wenn der Herr in Franken zahlen kann«, trotzte die Hübsche auf<br />

Französisch zurück und es hätte nur noch gefehlt, dass sie mit dem Fuß<br />

aufgestampft hätte.<br />

Richard ließ sich nicht anmerken, dass er recht gut Französisch sprach<br />

und winkte wieder mit dem Hunderter: »Bitte schön, ich kann jetzt aber<br />

nicht noch zwanzig Gebäckstücke kaufen, weil Sie kein Wechselgeld<br />

haben.«<br />

»Wir haben Wechselgeld, mein Herr!«<br />

»Kein Problem«, mischte sich nun einer der Russen vom Nachbartisch<br />

ein und bezahlte Richards Espresso mit Dollarnoten und einem Abwinken<br />

in punkto Wechselgeld. Vielleicht druckten diese Russen die Dollarscheine<br />

selbst, schoss es Richard durch den Kopf, aber bedankte sich<br />

freundlich.<br />

Den bezahlten Kaffee betrachteten die Männer als Einladung, an seinen<br />

Stehtisch zu wechseln. Sie zeigten ihm ein Stück Papier, lächelten<br />

freundlich und fragten: »Was ist das?«<br />

Das Papier war eine Ausfuhrerklärung und Richard hatte einige Mühe,<br />

den Russen zu erklären, dass sie den Zettel beim Zoll nicht abstempeln<br />

lassen müssten, wenn sie auf die Erstattung der Umsatzsteuer verzichten<br />

wollten. »Wegwerfen?«, meinte einer der beiden fast erfreut.<br />

Richard schmunzelte, bestimmt war hier guter Rat teurer als ein Espresso.<br />

Ging er aber davon aus, dass die Herrschaften nichts mit irgendwelchen<br />

Behörden zu tun haben wollten, so war der Verzicht auf die<br />

Rückerstattung der Umsatzsteuer bei der Ausfuhr vielleicht die beste,<br />

aber nicht billigste Lösung.<br />

Die Russen bedankten sich herzlich, schlugen die Kragen ihrer Pelzjacken<br />

hoch, als hätte es Kältegrade, klopften dem Fremden kräftig auf<br />

die Schulter und machten sich davon. Als Richard den Männern nachblickte,<br />

sah er, wie der silbergraue Breitmaulfrosch mit den getönten<br />

Scheiben gerade wieder am Café vorbeigetuckert war. Immer noch keinen<br />

Parkplatz gefunden? Was fuhr der überhaupt in der Fußgängerzone<br />

herum?<br />

Richards Problem war, dass er nun den zweiten Espresso ebenfalls<br />

ausgetrunken hatte, aber wieder nicht das trockene Gebäck gegessen.<br />

28


»Wollen Sie noch einen Kaffee, die Herrschaften haben mindestens<br />

zehn bezahlt?«, sagte das Mädchen nun zu seiner Überraschung auf<br />

Englisch.<br />

»Danke! Vielleicht ein Glas Wasser?«<br />

»Na, das hätte der Herr auch gratis bekommen können.«<br />

*<br />

Eine Viertelstunde später klingelte Richard dann doch bei dem noblen<br />

Juwelier. Nein, das mit der neuen Uhr hatte er sich bereits aus dem<br />

Kopf geschlagen und die Putzfrau wollte er dem edlen Haus ebenfalls<br />

nicht abwerben. Sein Motiv bestand aus einer Mischung von Langeweile<br />

und Wichtigtuerei.<br />

Bevor die Tür von innen entriegelt wurde, entdeckte der Agent eine<br />

Kamera im werbenden Diamanttropfen.<br />

Schließlich stand er im Vorhof der Schatzkammer und verlangte diskret<br />

den Geschäftsführer. Der erwies sich als Geschäftsführerin, etwa<br />

vierzig, im perfekten dunkelblauen Kostüm von Versace, unnahbar und<br />

stolz. Eine goldene Schlange um den schlanken Hals biss sich mit funkelnden<br />

Augen in den eigenen Leib. Das schwarze Haar mit dem starken<br />

Blauschimmer und den Greifern wie Korallen machte die Dame<br />

zum Eisvogel aus Mineralien und wirkte somit wie ein Teil der Auslage.<br />

Er tat so adelig, wie er konnte und stellte sich im affektiertesten Englisch<br />

vor: »Mein Name ist Richard Henry Harriott«, und zeigte seinen<br />

britischen Pass. »Ich möchte bei Ihnen einen größeren Kauf tätigen, in<br />

bar, versteht sich. Gibt es dafür eine Obergrenze?«<br />

Der Eisvogel wurde nochmals einige Zentimeter höher. Die riesige Nadel<br />

am eleganten Jackett wogte mit. »Es gibt keine Obergrenze, Sir.<br />

Um wie viel geht es etwa?«<br />

»Sechsstellig, Britische Pfund natürlich, keine Schweizer Franken«,<br />

prahlte der Mann, der in dem Geschäft gegenüber seinen Espresso nicht<br />

hatte bezahlen können.<br />

Der Eisvogel zuckte mit keiner Wimper.<br />

»Auch mal siebenstellig«, schob Sir Richard nach. Diesmal hob die<br />

Dame ihre Augenbrauen und bat ihn in ein kleines Separée.<br />

»Wie soll ich da technisch vorgehen, Diskretion, Sicherheit, Sie verstehen.<br />

Können Sie mir einen Rat geben?«<br />

29


Die Dame wusste Bescheid und erklärte ihm unumwunden, was man<br />

bei Schweizer Bankhäusern alles zu beachten hätte, um sogenannt steuerneutrales<br />

Geld als Ausländer aufbewahrt zu bekommen. Um größere<br />

Barabhebungen zu vermeiden, solle er im Bankhaus noch ein Tresorfach<br />

mieten und das Geld bei Bedarf sukzessiv vom Schalter in den Safe<br />

umschichten.<br />

Na ja, im Café gegenüber hatte er ja noch zehn Espresso gut, da ließen<br />

sich zwischendurch immer mal wieder mit einem Stück Gebäck im<br />

Mund leicht ein paar Zehntausender umschichten. Doch solche Witze<br />

behielt der Engländer für sich, war aber von der ungeschminkten Offenheit<br />

und Kompetenz, wie diese sensitive Angelegenheit behandelt<br />

wurde, beeindruckt.<br />

Die Frage, wie er die vermeintlichen Millionen Schwarzgeld aus England<br />

herausbekommen sollte, ohne gegen diverse Devisenausfuhrvorschriften<br />

zu verstoßen, blieb allerdings sein Problem. Vielleicht wusste<br />

Sir Alec Rat, schmunzelte der Scheinkunde.<br />

»Wann dürfen wir uns auf Ihren Besuch freuen?«, riss man ihn aus seinen<br />

Gedanken.<br />

»Übernächste Woche!? Ich würde gerne vorher anrufen.« Dabei überreichte<br />

er ihr seine Visitenkarte und wartete auf die ihre, wobei sie, wie<br />

ihm schien, eine lange Sekunde zögerte. Gemessen begann er halblaut<br />

zu lesen: »Madame Agnieszka Meister-Novak, Direktorin.«<br />

Er verneigte sich ein wenig und entbot ihr seine Wertschätzung. Auf<br />

Grund des Vornamens schloss Richard, dass seine Gesprächspartnerin<br />

polnischer Abstammung war und riskierte die Bemerkung, dass sich<br />

Polen und England schon immer gut verstanden hätten. Der Eisvogel<br />

nickte kühl, aber etwas zu langsam für reine Routine.<br />

Auf dem Weg zum Ausgang fragte Richard: »Hier verkehren wohl des<br />

Öfteren Russen?«<br />

»Gut beobachtet, Sir, nachdem es in ihren Bruderländern nichts mehr<br />

zu stehlen gab, räumen sie nun zu Hause ab. Good bye, Sir!«<br />

Ihre Bemerkung kippte Richard regelrecht aus dem Haus. So schnell,<br />

wie es sich gerade noch schickte, tauchte er unter dem nimmermüden<br />

Auge der Fernsehkamera hinweg auf die anonyme Bahnhofstraße. Ohne<br />

sich umzublicken, ging er zum Paradeplatz und von dort durch den<br />

Park und über die Brücke zum Bellevue.<br />

»Gut beobachtet, Sir«, blieb ihm im Ohr, und er wiederholte die Worte<br />

der scheinbar harmlosen Bemerkung unaufhörlich. Er war hier der Beobachter,<br />

wurde er selbst beobachtet, so ärgerte ihn das ungemein.<br />

30


Das Wetter war etwas milder geworden und irgendwann schlenderte<br />

der Engländer an den besten Geschäftsadressen der Stadt vorbei. Moderne<br />

Bürohäuser wechselten ab mit stattlichen Wohnblocks, welche<br />

teilweise vor Jahrzehnten zu Geschäftshäusern umfunktioniert worden<br />

waren, dazwischen ein paar Hotels und Restaurants, ja sogar alte Villen<br />

mit ihren Gärten. Die meisten Geschäftshäuser beherbergten Treuhand-<br />

und Beratungsfirmen, Werbeagenturen, Headhunter und unendlich viele<br />

Anwälte.<br />

Rein zufällig las Richard »Dr. iur. Hermann W. Kropf« an einer Messingtafel.<br />

Den kannte er doch?<br />

Ohne den Umweg des Nachdenkens griff Richard zum Handy und<br />

wählte sein eigenes Büro an. Nach längerem Klingeln meldete sich eine<br />

Frauenstimme mit »Hallo, niemand da« und legte wieder auf. War<br />

Mercedes nun vollends übergeschnappt? Beim zweiten Versuch ließ er<br />

das Mobiltelefon von Mercedes klingeln, die sich dann nach geraumer<br />

Zeit auch mit »Was gibt’s?« meldete.<br />

»Spinnst du?«, begrüßte er seine Partnerin, »was heißt hier ‚Hallo, niemand<br />

da!’. Oder warst du das gar nicht?«<br />

»Ich bin im Keller und verstaue deinen Heimtrainer«, antwortete Mercedes.<br />

»Was ist denn in dich gefahren, meinen Heimtrainer zu entsorgen, den<br />

brauche ich noch.«<br />

»In den letzten zwei Jahren hast du ihn jedenfalls nicht gebraucht«, erinnerte<br />

sich Mercedes kühl, womit sie leider Recht hatte.<br />

»Und wer nahm das Telefon ab?«<br />

Mercedes lachte: »Das war deine Isabella...«<br />

»Was heißt hier meine Isabella? Putzt die jetzt doch? Ich dachte, du<br />

hättest sie rausgeschmissen?«<br />

»Nein, das ist komplizierter... Also, was gibt’s, wolltest du uns kontrollieren?«<br />

Richard schluckte, dann sagte er unvermittelt: »Kropf?«<br />

Mercedes schaltete blitzschnell, im Hintergrund schepperte der Heimtrainer<br />

krachend auf den Betonboden, dann sagte sie: »Der hat etwas<br />

mit dem Kunden zu tun, zu dem du jetzt unterwegs bist...«<br />

»Wusste ich doch«, freute sich Richard über seine Intuition und legte<br />

auf.<br />

Richard schaute an dem Haus empor. Eine große Anwaltsfabrik schien<br />

Dr. Kropf nicht zu betreiben. Im Gegenteil: Von außen sah das Büro<br />

eher nach einer One-Man-Show aus. Doch was für ein Zufall, dass er<br />

nun gerade das Schild dieses Advokaten entdeckt hatte.<br />

31


32<br />

*<br />

Es wurde Zeit und Richard machte einen langen Hals, um nach einem<br />

Taxi zu suchen. Er hatte Glück und bald schon setzte man ihn vor dem<br />

Swissôtel ab. Das Zimmer war vorab reserviert, so dass Richard nur<br />

noch den Schlüssel in Empfang nehmen musste.<br />

Er schmiss seine Tasche aufs Bett und machte sich auf ins Dachrestaurant<br />

»Szenario«. Es war noch lange Zeit, doch Richard wollte einen guten<br />

Tisch reservieren, um nicht später mitsamt Gast an der Bar oder<br />

sonst wo notlanden zu müssen.<br />

Der Restaurantchef machte eine leichte Verbeugung und Richard<br />

meinte, er möchte gerne den zu reservierenden Tisch persönlich aussuchen.<br />

»Wählen Sie«, schmunzelte der Mann im schwarzen Anzug und<br />

machte eine ausholende Handbewegung.<br />

Richards Blick durchschweifte den Speisesaal, denn er wollte selbst<br />

viel sehen, doch nicht auf dem Präsentierteller sitzen. »Sehr wohl«,<br />

machte der Angestellte, nachdem der Engländer seine Wahl getroffen<br />

hatte, »welche Zeit darf ich notieren?«<br />

Richard schaute auf die Uhr. »Genau in zwei Stunden.«<br />

Als sich Richard im Bad das Rasierwasser auf die Bartstoppeln<br />

klatschte, hatte er das Gefühl, zu spät zu kommen. Doch eben war gerade<br />

die zweite Stunde angebrochen und es gab nun wirklich keinen<br />

Grund, im Dachrestaurant dumm herumzusitzen und auf den Gast zu<br />

warten.<br />

Die Unruhe blieb jedoch hartnäckig. War etwas mit Mercedes? Sicher<br />

nicht, und wenn, sie wüsste sich selbst zu helfen. Der Agent zog seine<br />

Anzugweste straff und zupfte sich den Kragen seines weißen Hemds<br />

zurecht. Bekam er den neuen Auftrag nicht, so würde es nicht an der<br />

fehlenden Krawatte liegen.<br />

Richard schaltete den Fernseher ein. Der TV-Kanal des Senders<br />

Bloomberg war nicht zu finden. Der Agent schaltete auf irgendwas, regulierte<br />

die Lautstärke etwas nach oben, zog sein Jackett an, ließ das<br />

Licht brennen und machte sich auf zum Fahrstuhl. Die andauernde innere<br />

Unruhe war nicht mehr auszuhalten.<br />

Oben im Dachrestaurant war der Platzanweiser in seinem schwarzen<br />

Anzug beim Telefonieren. Richard drückte sich an ihm vorbei und steuerte<br />

auf den zuvor reservierten Tisch zu. Da stellte sich ihm ein Kellner<br />

in den Weg: »Sie haben reserviert?«


»Ja, hier«, zeigte Richard auf den leeren, bereits eingedeckten Tisch in<br />

der Ecke am Fenster.<br />

Der Kellner wich nicht, sondern sagte nun völlig überraschend: »Moment,<br />

der Herr, das muss ich abklären. Bitte nehmen Sie doch solange<br />

an der Bar Platz.«<br />

Ohne einen sofortigen Uppercut war sich dem Drängen dieses Kellners<br />

nicht zu entziehen. Richard drehte sich ab und murrte verärgert: »Beeilen<br />

Sie sich gefälligst.«<br />

Sonderbar, jetzt wo er etwas deplaziert an der Bar saß und auf Kosten<br />

des Hauses ein Getränk in der Hand hielt, war die Unruhe weg.<br />

Bald schon beschäftigten sich zwei livrierte kleine Mädchen mit dem<br />

reservierten Tisch und wechselten sowohl Tischdecke als auch Besteck<br />

und Servietten aus. Sehr aufmerksam, dachte Richard noch, empfand<br />

die Sache jedoch vollkommen übertrieben und unnötig, denn wegen eines<br />

eventuellen kleinen Fleckens hätte er sich bestimmt nicht beschwert,<br />

wenn er ihn überhaupt bemerkt hätte.<br />

Eines der Mädchen entfernte nun die beigefarbene Tischlampe mit ihrem<br />

stabilen Messingsockel, griff unter den Servierwagen und schloss<br />

ein aus der Entfernung nicht unterscheidbare Ersatzleuchte an. Da das<br />

zuvor dort stehende Lämpchen so golden leuchtete wie das jetzige,<br />

wusste nun auch Richard, warum er zuvor so unruhig war.<br />

Da kam auch schon der Kellner und deutete mit einer leichten Verbeugung<br />

an, dass Richard seinen Platz jetzt einnehmen könne.<br />

»Vielen Dank«, lächelte der Agent ausgesprochen freundlich und ließ<br />

sich zum Tisch führen. Als man ihm das Glas von der Bar nachgereicht<br />

hatte, stand Richard wieder auf und verließ das Restaurant, das sich zunehmend<br />

füllte. »Bin sofort wieder da«, meinte er vorsorglich und eilte<br />

zum Aufzug.<br />

Nach einem kurzen Besuch in seinem Hotelzimmer, in dem der Fernsehapparat<br />

immer noch lief, fuhr Richard hinunter in die Tiefgarage.<br />

Raschen Schrittes durchquerte er die sich im Oval schlängelnde Auffahrt.<br />

Der Hotelklasse entsprechend, gehörte die Mehrzahl der Wagen<br />

zumindest zur gehobenen Mittelklasse. Dann fand Richard, was er vermutet<br />

hatte: Nahe des Rollgitters stand ein silbergrauer Porsche Cayenne.<br />

Hier in diesem Hotel bestimmt nicht bemerkenswert, doch der<br />

Wagen hatte dunkel getönte Scheiben.<br />

»Alarm!«, schrie eine innere Stimme in Richard schrill auf und erhöhte<br />

ungesund seinen Blutdruck. Diesen Wagen hatte Richard heute bereits<br />

schon zwei Mal gesehen, da war er sich sicher. Der Breitmaulfrosch<br />

33


selbst war ja bereits eine Seltenheit, dass nun ein solches Fahrzeug mit<br />

getönten Scheiben hier unten zu finden war, konnte kein Zufall sein.<br />

Zurück im Restaurant erschien Herr Rüegg. Etwas früh, strahlend,<br />

kontaktfreudig wie immer, vielleicht an Gewicht etwas zugelegt, denn<br />

der oberste Knopf des Hemdkragens war unter der Krawatte offenbar<br />

nicht mehr zuzukriegen. Die Männer begrüßten sich herzlich.<br />

Richard hatte krampfhaft sein weiteres Vorgehen überlegt. Rüegg fing<br />

glücklicherweise sofort irgendein belangloses Gespräch an. Solange er<br />

hier nun von seiner Leidenschaft als Kanufahrer erzählte, war noch alles<br />

in bester Ordnung. Wahrscheinlich würde man erst nach dem Essen<br />

zum Geschäft kommen und Richard verstand es, die Leidenschaft seines<br />

Gegenübers in Bezug auf seine Kanuabenteuer am Lodern zu halten.<br />

Der Kellner unterbrach die Ausführungen mit zweimal gemischtem<br />

Salat. Samuel Rüegg schlürfte die nicht gerade mundgerechten Salatblätter<br />

in seinen Schlund und blickte Zustimmung erheischend zu Richard.<br />

»Es gibt also Weltmeisterschaften im Kanufahren?«, fragte Richard.<br />

»Sie kennen sich ja überhaupt nicht aus...«, stellte Rüegg fest und fing<br />

an, das weltweite Wettbewerbsreglement zu erklären.<br />

Richard unterdrückte ein Gähnen. Er war sich sicher, dass die ausgetauschte<br />

Tischlampe präpariert war. Da er seine Gegner nicht kannte,<br />

hatte er es nicht gewagt, die Lampe zu inspizieren. Gleichzeitig war er<br />

sich sicher, dass man das Mikrophon nur finden würde, schraubte man<br />

die Lampe auf. Das hochempfindliche Mikrophon gab die Gespräche<br />

nicht über einen Sender weiter, sondern modulierte das Signal auf die<br />

Stromleitung. Innerhalb desselben Stromkreises war so ein Abhören<br />

theoretisch im gesamten Hotelkomplex möglich. Manche Babyüberwachungsanlagen<br />

funktionieren ähnlich. Diese Abhörtechnik hatte den unschätzbaren<br />

Vorteil, dass die »Wanze« immer mit Strom versorgt wurde,<br />

weitgehend störungsfrei war und sich in Aktion nicht durch Funkwellen<br />

verriet und geortet werden konnte.<br />

Richard lehnte sich zurück, denn das Personal brachte das Hauptgericht.<br />

»Guten Appetit!«<br />

Kam dieser als sicher angenommene Lauschangriff von einem Mitarbeiter<br />

der Greves AG? Das war unwahrscheinlich, denn für diese Leute<br />

wäre nur das Gespräch zwischen ihm und Rüegg interessant gewesen.<br />

Die Leute, die man auf ihn angesetzt hatte, wussten aber offensichtlich<br />

34


nicht, was ihn nach Zürich geführt hatte. Und wenn, war es für sie von<br />

Interesse, alle seine Bewegungen zu observieren.<br />

Mit welcher Gewichtsklasse hatte er es hier zu tun? Richard versuchte,<br />

den Kellner einzuschätzen, der offensichtlich den Austausch der Lampe<br />

überwacht hatte. 1.000 Franken, glaubte der Agent, waren für diesen<br />

Mann ein willkommenes Trinkgeld. Oder die Restaurantleitung war<br />

eingeweiht, man hatte ihr einen amtlichen Ausweis gezeigt, sie auf Geheimhaltung<br />

in einer wichtigen Sache von nationalem Interesse eingeschworen...<br />

Richard verwarf diesen Gedanken. Amtliche Wege werden zu komplizierten<br />

Wegen. Der Hoteldirektor ruft seinen Rechtsanwalt an, dieser ist<br />

nicht zu erreichen, man will von dem angeblichen richterlichen Beschluss<br />

eine Kopie machen usw... Ohne Zustimmung des Leiters der<br />

Haustechnik-Abteilung will der Direktor keine Lampe herausgeben und<br />

so fort.<br />

Nein. Da war mit dem Satz »1.000 Franken sind doch viel Geld« beim<br />

Kellner mehr zu erreichen und gäbe er sich damit nicht zufrieden, legte<br />

man noch einen Tausender drauf. Eine Lampe wird ausgeliehen, im<br />

Hotelzimmer präpariert und dem Mann zurückgegeben. Was er dann zu<br />

tun hätte, war denkbar einfach. Er ordnet an, dass der Tisch neu einzudecken<br />

wäre und die Lampe auszutauschen. »Warum das denn?«, fragt<br />

die Auszubildende im ersten Lehrjahr und der Kellner meint, diese hätte<br />

so sonderbar gesurrt oder sonst etwas.<br />

»Sie hören mir überhaupt nicht zu«, sagte jetzt Rüegg vorwurfsvoll mit<br />

vollem Mund.<br />

»Doch, doch«, widersprach Richard, »erzählen Sie mehr davon.«<br />

Die professionelle Technik, die Tausender für Hotelzimmer und Bestechung,<br />

das Auto der gehobenen Klasse bestärkten Richard darin, dass<br />

er es mit keinen windigen Privatdetektiven zu tun hatte und fast sicher<br />

auch keine Schweizer Behörden hier mitspielten. Die Gewichtsklasse<br />

der Herrschaften war hoch, vielleicht zu hoch, um mit ihnen hier Katz<br />

und Maus zu spielen. Andererseits hatte Richard nicht die geringste<br />

Lust, nun tagelang einen Schatten hinter sich zu haben und sich nur<br />

noch in Badezimmern bei laufendem Wasser und spielenden Radios<br />

ungestört unterhalten zu können.<br />

Das Gespräch mit Rüegg hätte man im Normalfall am Nachbartisch<br />

abzuschöpfen versucht, das macht wenig Umstände und fällt normalen<br />

Zielpersonen nicht auf. Der Lauschangriff sollte also perfekt getarnt<br />

werden. Warum? Weil das zu erwartende Gespräch so entscheidend<br />

war? Sicher nicht. Wer annimmt, dass ein Gespräch entscheidend ist,<br />

35


muss vorab Informationen besitzen. Wie aber konnte jemand auf einen<br />

solchen Schluss kommen? Hier fand nichts anderes statt als ein Gespräch<br />

zwischen einem Unternehmensberater und einem Unternehmensvorstand,<br />

weil der Unternehmensberater einen Auftrag ergattern<br />

wollte. Die diesem Gespräch zugrunde liegende Banalität wussten somit<br />

die Angreifer nicht. Aber sie wussten wahrscheinlich, dass er, Richard,<br />

ein Profi, ein Geheimdienstmann war. Sonst gäbe der Aufwand<br />

an Tarnung keinen Sinn. Denn wäre Richard nicht wesentlich früher im<br />

Restaurant eingetroffen, die Herrschaften hätten das gesamte Gespräch<br />

dieses Abends auf Tonband.<br />

Richard tupfte sich mit der Serviette den Mund. Das Essen war köstlich<br />

und Rüegg machte Anstalten, gesprächsweise alsbald zum geschäftlichen<br />

Teil überzugehen.<br />

Der Agent nahm einen Zettel aus seiner Brieftasche und schrieb in<br />

Druckbuchstaben darauf: »RUHE BEWAHREN! WIR WERDEN AB-<br />

GEHÖRT!« Dann schob er den Zettel dem Kanufahrer zu. Dieser las<br />

und verstummte augenblicklich vollends.<br />

Hinter dem abräumenden Personal tauchte der Kellner wieder auf, der<br />

die neue Bestellung an Getränken aufnehmen wollte.<br />

Richard entnahm seiner Jacketttasche einen kleinen isolierten Seitenschneider,<br />

lächelte freundlich und sagte: »Haben Sie einen leichten Moselwein<br />

aus dem Rheingau?« Dabei nahm er das niedliche Werkzeug<br />

und kappte die Stromleitung der Tischlampe, die augenblicklich verlöschte.<br />

Es gab noch nicht einmal einen Kurzschluss, sah man von den<br />

entgleisenden Gesichtszügen des Kellners einmal ab.<br />

Dann sagte der Agent leise, aber unzweideutig: »Sie haben die Wahl,<br />

junger Mann. Sie können mir nun klar, deutlich, ehrlich und sofort erzählen,<br />

wer Sie dafür bezahlt hat, diese Lampe auszutauschen. Oder ich<br />

werde hier so ein Fass aufmachen, dass das Schmiergeld, das man Ihnen<br />

zusteckte, sicher das letzte Geld war, das Sie sich in diesen Räumen<br />

verdient haben.«<br />

Rüegg war blass und des Kellners Gesicht hatte die Farbe Grau. Vielleicht<br />

sagte er jetzt: »Ich verstehe nicht, mein Herr. Die vorhergehende<br />

Lampe war defekt, jetzt haben Sie diese ebenfalls zerstört. Hat man es<br />

denn hier nur noch mit Idioten zu tun?«<br />

Aber der Kellner sagte langsam und sehr leise, schüchtern auf den Boden<br />

blickend: »Bitte, Mister Harriott, ich verliere meine Stellung. Die<br />

beiden Männer boten mir 5.000 Dollar, dafür muss ich hier lange arbeiten.<br />

Ich dachte zuerst, die wären von der Bundespolizei, aber es waren<br />

36


deutsche Geschäftsleute. Als ich das Geld nahm, blieb mir keine Wahl<br />

mehr.«<br />

»Hotelgäste?«<br />

»Zimmer 604, die Suite.«<br />

Richard lächelte wieder. »Die Sache bleibt unter uns. Wechseln Sie die<br />

Lampe nun gegen eine neue aus und bringen Sie mir eine Tüte, ich<br />

werde dieses Exemplar mitnehmen.«<br />

»Aber, so viele überzählige Lampen haben wir nicht«, stotterte der Angestellte.<br />

»Für Ihr Wohlverhalten in dieser Angelegenheit ist mir das gerne auch<br />

einen Tausender wert.«<br />

Zehn Minuten später wurde die Tischlampe nun nochmals ausgetauscht.<br />

Dieses Mal vom Kellner persönlich, nicht ohne dass sich dieser<br />

verstohlen nach dem Geschäftsführer des Restaurants umschaute, der<br />

sporadisch immer mal wieder im Eingangsbereich auftauchte.<br />

»Sie hätten sich die Namen dieser Typen geben lassen sollen«, flüsterte<br />

Rüegg ganz aufgeregt.<br />

Richard lachte: »Sie glauben doch nicht, dass diese Namen echt sind.<br />

Wahrscheinlich ist sogar das Autokennzeichen gefälscht, das ich noch<br />

überprüfen lassen werde.«<br />

»Diese Schweine«, flüsterte der Schweizer, »hatte ich also doch Recht,<br />

dass unser gesamter Betrieb verwanzt ist.«<br />

Richard war nicht so überzeugt, dass die ganze Sache nur im Entferntesten<br />

etwas mit Rüeggs Maschinenbaufirma zu tun hatte. Irgendwer<br />

scheute keine Mühe und Kosten, ihn selbst auszuspionieren. Per Handy<br />

schickte er Mercedes eine SMS mit der Zahl 7. Es war der Code, dass<br />

sie professionell angegriffen wurden. Insgesamt gab es zehn dieser<br />

denkbar einfachen Codes, die natürlich auch kein Spezialist knacken<br />

konnte, weil nur Mercedes und er diese Vereinbarungen kannte. Sie<br />

aber würde nun wissen, was zu tun wäre.<br />

Zu seinem Gesprächspartner sagte Richard: »Da sehen Sie mal, wie<br />

wichtig es ist, mich zu engagieren.«<br />

Es dauerte geraume Zeit, bis Samuel Rüegg sich wieder in normaler<br />

Lautstärke mit Richard unterhalten konnte. Zu tief saß der Verfolgungsschock,<br />

der sich erfahrungsgemäß in der Hälfte der Fälle zu einer Neurose<br />

entwickeln würde. Dieses Phänomen ist vom Verfolgungswahn abzugrenzen.<br />

An Verfolgungswahn leiden semiprofessionelle Fachleute,<br />

Ermittler und informelle Agenten, die ihr theoretisches Wissen über die<br />

unterschiedlichen Möglichkeiten der Observation und der Lauschangriffe<br />

in der Realität wiederzufinden bestätigt sehen wollen.<br />

37


So werden dann grundsätzlich Hotelzimmer nach Wanzen abgesucht,<br />

unschuldige Bürger, die zufällig die Straße entlang schlenderten, weil<br />

sie ebenfalls das gewählte Restaurant besuchen wollen, der Nachstellung<br />

verdächtigt, die eigene Haustür wird regelmäßig nach Einbruchsspuren<br />

untersucht, der Pkw auf magnethaftende Peilsender usw. Doch<br />

nie bestätigt sich in der Realität, was theoretisch so plausibel von allen<br />

Feinden angeblich immer angewandt wird.<br />

Was man dabei verdrängt, ist meist die simple Tatsache, dass man<br />

überhaupt nicht so wichtig ist, dass Fremde Kosten und Mühe für eine<br />

Observation aufbringen wollen. Die realistische Einschätzung der eigenen<br />

Wichtigkeit steht eben in keinem Leitfaden für Ermittler und Agenten.<br />

Andererseits mangelt es regelmäßig an der realistischen Einschätzung<br />

der Möglichkeiten potentieller Gegner. Hat beispielsweise die eifersüchtige<br />

Ehefrau einen Detektiv engagiert, beschränken sich dessen<br />

Mittel mental, materiell und auf Grund der normativen Kraft des Alltags.<br />

Es ist eben sehr kostspielig, eine Zielperson über Monate hinweg<br />

lückenlos zu observieren. Menschen gehen auch einfach stundenlang<br />

spazieren, betreten Juweliere, um sich wichtig zu machen oder unterhalten<br />

sich über Weltmeisterschaften im Kanufahren. Für den Beobachter<br />

sind dies jedoch alles Informationen, die sich in Bezug auf den<br />

Abhöraufwand von den gesuchten in keiner Weise unterscheiden. Der<br />

Informationsmüll des Alltags macht die Suche nach der Quintessenz<br />

zur Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Dies kostet Zeit, Kraft und<br />

Geld und eliminiert die Angreifer mit ihren Mitteln, je perfekter diese<br />

sind, desto nachhaltiger.<br />

Der Grad jeder Intelligenz entscheidet sich in erster Linie mit der Selektion<br />

von überflüssigen Informationen und nur sekundär mit deren<br />

Verarbeitung. Immer größer werden die Mengen des gesammelten und<br />

auszuwertenden Materials und immer älter sind die bei der Auswertung<br />

gezogenen Erkenntnisse.<br />

Hat man jedoch tatsächlich mit seinen Abwehrmaßnahmen Erfolg, so<br />

wird der Wahn zur Obsession. Was läge also näher, als die einmal angewandten<br />

und zum Erfolg führenden Maßnahmen einer Abwehrtechnik<br />

zu intensivieren. Die Neurose ist da. Das »immer mehr desselben«<br />

füllt den Psychologen die Praxen und Bankkonten und ist über logische<br />

Argumentation nicht aus den Köpfen zu vertreiben. Auf das »Du wirst<br />

nicht abgehört oder verfolgt« kommt »Doch, doch, ich wurde schon<br />

einmal abgehört und hätte es damals ebenfalls nie vermutet«.<br />

38


Richard schmunzelte, denn auch ihm waren diesbezügliche Wahnvorstellungen<br />

und neurotische Zwänge nicht fremd. Trotzdem beunruhigte<br />

ihn die Tatsache, dass offenbar potente Zeitgenossen sich mit seiner<br />

Person beschäftigten, mehr als der eigene Geisteszustand.<br />

»Vielleicht sollten wir unsere Besprechung irgendwo anders fortsetzen«,<br />

meinte Rüegg.<br />

Richard winkte ab: »Das ist derzeit der abhörsicherste Ort auf der<br />

Welt.«<br />

»Wenn Sie meinen«, sagte der Schweizer und fing mit der Darlegung<br />

seiner geschäftlichen Probleme an.<br />

Die Greves AG hatte in der Fertigung von Industrierobotern eine gute<br />

Marktstellung. Das zweite Standbein entwickelte sich in der Zulieferung<br />

von Präzisionsteilen für die Raumfahrt- und Rüstungsindustrie.<br />

Die beiden Sparten erzielen einen Umsatz von einigen hundert Millionen<br />

Euro. Qualitativ und technisch war die Greves AG weltweit absolute<br />

Spitze.<br />

»Ein Industrieroboter besteht aus einem sichtbaren mechanischen Teil<br />

mit Armen, Greifern, fräsenden, bohrenden, stanzenden und schneidenden<br />

Werkzeugen«, erklärte der Direktor. »Die Steuerung der Vorgänge<br />

wird durch spezielle Elektronik und der entsprechenden komplexen<br />

Software sichergestellt.« Mit ihren Industrierobotern könnten sehr<br />

komplizierte Werkstücke hergestellt werden, überdies würden die Dimensionen<br />

im Zuge der Miniaturisierung immer kleiner, mitunter so<br />

klein, dass eine Fertigung von Hand gar nicht mehr möglich wäre. Dieser<br />

Know-how begründe die starke Stellung der Greves AG als Zulieferer<br />

für den erwähnten Kundenkreis.<br />

»Na, ein Programm, also die Software, ist ja mit jedem PC zu kopieren«,<br />

lächelte Richard.<br />

Rüegg winkte nach dem Kellner. »Auch einen Kaffee?«, fragte er Richard,<br />

der nichts einzuwenden hatte.<br />

»Unsere Hardware ist jedoch speziell gefertigt«, fuhr Rüegg fort, »man<br />

kann davon ausgehen, dass unsere Software auch nur auf unserer Hardware<br />

läuft. Die Elektronik und die Softwareprogramme sind wie siamesische<br />

Zwillinge zu sehen.«<br />

»Und die Prints können Sie nicht selbst fertigen«, spekulierte Richard<br />

und kniff seine Augen lauernd zu Schlitzen zusammen.<br />

»Sie haben es erfasst! Die eigene Herstellung dieser Leiterplatten erforderte<br />

astronomische Investitionen. Eine Eigenfertigung ist nicht vorstellbar.<br />

Die jeweiligen Print-Hersteller erklären sich natürlich als seriös<br />

– aber was heißt das schon...«<br />

39


»Und«, brachte Richard die Sache auf den Punkt, »mit der Auslagerung<br />

der Print-Fertigung einerseits und geknackter oder gestohlener<br />

Software andererseits ist alles außer Haus und der Vorsprung auf die<br />

Konkurrenz ist dahin.«<br />

Rüegg nickte: »Im Falle des letzten Auftrages waren wir auf der Großserie<br />

sitzen geblieben, weil mit der ersten Produktion die siamesischen<br />

Zwillinge zur freien Kopie außer Haus waren.<br />

Doch es ist auf Grund der Kürze der Zeit ein schwieriges Unterfangen,<br />

die Software zu knacken. Ein Billiganbieter muss folglich ihren Plan<br />

zur Herstellung der Prints beschaffen, so dass er zeitgleich mit ihnen<br />

seine Raubkopie in Auftrag geben kann. Die Differenz im Angebot<br />

kann maximal die Summe ihres Forschungs- und Entwicklungsaufwandes<br />

ausmachen.«<br />

Der Kaffee kam und Richard blickte in das zerknirschte Gesicht des<br />

Kellners.<br />

»Haben sich die Figuren bei Ihnen gemeldet?«<br />

Der Kellner lehnte sich weit vor, dann flüsterte er: »Ja, am Hausapparat.<br />

Ich sagte, ich wüsste nicht, was mit der Lampe wäre. Daraufhin<br />

wurde der Typ sofort aggressiv. Ich solle ihn nicht anlügen, denn ich<br />

würde genau wissen, was mit der Lampe wäre, Sie hätten das Kabel<br />

durchgeschnitten.«<br />

»Es tut mir ja auch Leid«, tat Richard zerknirscht.<br />

Dann sagte der Kellner: »Die Gefahr ist jetzt vorbei, die Herrschaften<br />

sind eben abgereist.«<br />

Richard lachte: »Na, hoffentlich sehr weit weg. Mit meiner noch ausstehenden<br />

Belohnung haben Sie sich ja heute ein gutes Trinkgeld verdient.<br />

Ich hätte noch eine Bitte: Wenn Sie den Nachtdienst an der Hotelrezeption<br />

freundlich um einen Gefallen bitten, wäre es dann möglich,<br />

mir die Meldeunterlagen der Herrschaften zu besorgen? Und wenn mit<br />

Kreditkarte bezahlt wurde, noch den Kartenbeleg?«<br />

»Nichts leichter als das«, freute sich der Kellner, »das Mädchen an der<br />

Rezeption ist meine Freundin.«<br />

Als der Kellner außer Hörweite war, sagte Rüegg: »Wir können doch<br />

nicht ewig hier sitzen bleiben, mein gesamter Betrieb wird verwanzt<br />

sein. Und das Schlimme ist, jeder ist verdächtig.«<br />

»Sie auch!?«, insistierte Richard zweideutig und registrierte die kurze<br />

Empörung in den Augen des Direktors.<br />

»Wie soll ich das verstehen?«<br />

»Wie ich es gesagt habe«, blieb der Unternehmensberater hartnäckig,<br />

»Sie glauben doch nicht wirklich, dass der Pförtner oder die Putzfrau<br />

40


ei Ihnen Blaupausen mit der Minox-Kamera fertigt. Der Fisch stinkt<br />

ganz oben am Kopf...«<br />

Richard machte eine Pause und sah in Rüeggs irritiertes Gesicht.<br />

»Mein Freund, Sie müssen es sich einfach gefallen lassen, dass jeder,<br />

der Zugang zu den Geschäftsgeheimnissen der Greves AG hat, verdächtig<br />

ist. Ich hätte überhaupt keine Operationsbasis, würde ich bereits<br />

im Vorfeld bestimmte Personen ausschließen, nur weil sie mir sympathisch<br />

sind...« Richard lachte: »Und die Kunden, die mich beauftragen,<br />

sind mir besonders sympathisch.«<br />

»So kann ich nicht arbeiten und leben«, empörte sich der Direktor,<br />

»dann ist mein Vorstandskollege ja auch verdächtig, mein Anwalt und<br />

alle, denen ich vertraue.«<br />

»Sie, mein Lieber, Sie können jedem weiterhin vertrauen, dem Sie bisher<br />

vertrauten. Ich werde Ihnen beim erfolgreichen Abschluss meiner<br />

Arbeit dann beweisen, wem oder was man nicht mehr vertrauen darf.«<br />

Richard lehnte sich zurück und ergänzte lächelnd: »Denken Sie positiv,<br />

wenn Ihnen nichts Besseres einfällt. Auch die übergroße Mehrzahl<br />

der Tischleuchten sind weder verwanzt noch sonst wie gefährlich.<br />

Wenn Sie bei jeder Tischleuchte das Leitungskabel durchschneiden,<br />

haben Sie nämlich sehr bald ein anderes Problem...«<br />

»Und das wäre?«<br />

»Sie haben in allen Restaurants Hausverbot!«<br />

»Und wie konnten Sie hier mit einem einzigen Schuss einen Volltreffer<br />

landen?«, wunderte sich Rüegg.<br />

»Wissen Sie denn, in wie vielen Restaurants ich bereits Hausverbot<br />

habe?«, fragte Richard mit ernster Mine zurück.<br />

Dann kam er auf das eigentliche Thema zurück: »Nehmen wir an, ein<br />

externer Print-Hersteller wäre nicht ganz dicht. Wer würde da rechtlich<br />

aktiv werden?«<br />

»So einen Fall würden wir unserem langjährigen Rechtskonsulenten,<br />

Dr. Kropf, übertragen, ein Genie von Anwalt. Er tritt zwar kaum einmal<br />

forensisch in Erscheinung, leitet aber die Vorbereitung und die Durchführung<br />

der Prozesse sehr engmaschig und gekonnt.«<br />

»Ist Kropf auch im Verwaltungsrat des Unternehmens?«, erkundigte<br />

sich Richard.<br />

»Ist er nicht. Er nimmt, soviel ich weiß, keine Verwaltungsratsmandate<br />

mehr an.«<br />

»Herr Kropf erfreut sich bestimmt eines weiten Freundeskreises«, analysierte<br />

Richard zweideutig.<br />

41


»Er kann sich das leisten. Der hat ein weit größeres Vermögen als ich.<br />

Dem Vernehmen nach hat er sein Geld an der Börse gemacht«, erklärte<br />

der Direktor, »sie nennen ihn alle Mephisto. Wo er überall seine Finger<br />

drin hat, ist mir nicht bekannt. In seinem Privatleben sollen sich schon<br />

recht schillernde Ereignisse zugetragen haben. Ist seine Sache, als eingefleischter<br />

Single ohne Verwandtschaft braucht er nur auf sich selbst<br />

Rücksicht zu nehmen. Näheres kann ich Ihnen aber nicht sagen. Ich<br />

möchte Sie überhaupt bitten, meinen Namen dort nicht zu erwähnen.«<br />

»Wer verschafft mir dann zu Kropf eine Eintrittskarte?«, war Richard<br />

besorgt.<br />

»Unser CEO, Willy Kessler, wird das schon richten.«<br />

Dann kam der Kellner mit der Rechnung, denn Richard hatte darauf<br />

bestanden, dass der schuldbeladene Kellner hier nichts unter den Tisch<br />

fallen ließ. Das war ihm recht leicht gefallen, weil Rüegg die Rechnung<br />

beglich. Einen Tausender Trinkgeld steuerte Richard bei und empfing<br />

die gesamten Meldeunterlagen. Nur ein flüchtiger Blick darauf ließ ihn<br />

zusammenzucken. Blitzschnell drehte er die Papiere um, faltete sie<br />

sorgfältig und steckte sie ein. Rüegg brauchte diese Erkenntnis nicht zu<br />

wissen, und er selbst müsste diese Information erst einmal verdauen.<br />

42<br />

*<br />

Das Zeichen an der Hotelzimmertür, das Richard angebracht hatte, als<br />

er die Zange aus seiner Tasche holte, war beschädigt. Der laufende<br />

Fernseher hatte die ihm nachstellenden Typen also nicht abgeschreckt.<br />

Richard hatte dies erwartet, denn mit solchen Tricks kann man vielleicht<br />

kleine Diebe abschrecken, aber keine Profis. Richard war sich sicher,<br />

dass man sein Hotelzimmer ebenfalls präpariert hatte.<br />

Die überstürzte Abreise seiner Schatten war ohne Belang. Wer sich für<br />

seine Zwecke mal kurz eine Suite anmietete und einem Bediensteten<br />

5.000 Dollar zustecken kann, wird es sich auch leisten können, eine Ersatzmannschaft<br />

im Hintergrund bereit zu halten, sind die anderen verbrannt.<br />

Vielleicht saßen derzeit in irgendeinem anderen Zimmer andere<br />

Figuren und lauschten sich ein Ohr ab.<br />

Nach einem nur ihm und Mercedes bekannten Verfahren wäre es Richard<br />

möglich gewesen, seiner Partnerin die bisher gewonnenen Erkenntnisse<br />

durchzugeben, so z. B. die Namen der Typen und die Autonummer.<br />

Doch der Agent scheute die Codierungsarbeit und sendete<br />

Mercedes per SMS das Codewort »Gute Nacht« zurück. Das hieß de-


chiffriert »Gute Nacht«. Sollte also seine Handyfrequenz abgefangen<br />

werden, wünschte er den Herrschaften beim Auswerten viel Glück.<br />

Richard sicherte die Tür von innen, schaltete den Fernseher ab und legte<br />

sich ins Bett. »Hallo, Mister Miller, ich habe wichtige Informationen<br />

für Sie. Schreiben Sie bitte mit...«, sagte er laut gegen die Zimmerdecke.<br />

»Ja, also Achtung 1, 2, 7, 4, 3, Achtung, 6, 13, 8, 9...«, und irgendwann,<br />

bei etwa 121, 125, 117..., hatte Richard keine Lust mehr und<br />

schlief ein.<br />

*<br />

Am nächsten Morgen verzichtete Richard auf das Hotelfrühstück und<br />

fuhr mit der Straßenbahn zu dem ihm bereits bekannten Café, das ja<br />

auch Sitzgelegenheiten bot. Der Agent machte sich keine Hoffnung,<br />

dass ihm nochmals die Typen mit dem Breitmaulfrosch hinterher fuhren.<br />

Natürlich gab es Methoden, auch die beste Observation aufzudecken,<br />

doch das machte alles Umstände und es genügte Richard, vermeintlichen<br />

Schatten Arbeit zu machen, ohne selbst welche zu haben.<br />

Das Mädchen an der Espressomaschine war heute eine resolute Frau<br />

mittleren Alters. Die noch offenen Tassen Kaffee waren also verloren.<br />

Richard entschied sich für Spiegeleier mit Speck und setzte sich relativ<br />

ungefragt zu einem älteren Rentner mit Bart, der verzweifelt in die<br />

Runde geschaut und offensichtlich einen Gesprächspartner gesucht hatte.<br />

Leider war die Verständigung sehr mühsam, denn der Alte hörte<br />

schlecht, sprach kein Englisch und nur sehr schlecht Französisch.<br />

Das Frühstück dauerte und der Alte erzählte irgendetwas auf Schweizerdeutsch<br />

und der Engländer nickte interessiert, aber nichts verstehend.<br />

Ab und an beugte er sich zu dem Alten hinüber, als wäre irgendetwas<br />

äußerst vertraulich und freute sich klammheimlich, dass eine professionell<br />

durchgeführte Observation nun nicht umhin konnte, des Alten<br />

Identität festzustellen. Denn stände im Observationsprotokoll<br />

»Zielperson traf sich mit einem etwa 70-jährigen Bartträger, keine weiteren<br />

Erkenntnisse«, machte dies keinen guten Eindruck.<br />

Nicht ohne eine irgendwo herumliegende Zeitung aufzunehmen, verabschiedete<br />

sich Richard und ging in Richtung Straßenbahnhaltestelle,<br />

drückte einem dort Wartenden die Zeitung in die Hand, winkte nach einem<br />

Taxi und fuhr davon. Wurde er observiert, hatten die Späher nun<br />

schon wieder eine Menge Probleme mit dem Einordnen der Ereignisse.<br />

*<br />

43


Gut gelaunt wurde Richard von Willy Kessler, dem Chief Executive<br />

Officer der Greves AG, empfangen. Samuel Rüegg hatte ihn bereits<br />

über die Erkenntnisse und Probleme des letzten Abends informiert:<br />

»Ich weiß nun gar nicht, wo wir uns ungestört unterhalten können«, eröffnete<br />

der CEO das Gespräch.<br />

»Wo frühstücken Ihre Arbeiter?«, fragte Richard.<br />

»Tja«, lachte Kessler, »der Raum wird als Raucherraum genutzt und<br />

wir werden keine große Freude haben.«<br />

Richard winkte und Kessler und Rüegg folgten ihm aus dem Büro.<br />

»Auf geht’s. Eine Sekretärin brauchen wir nicht und Notizen sollte sich<br />

auch keiner machen.«<br />

Fast so wie im richtigen Leben saßen die drei bald auf Holzstühlen an<br />

einem Tisch mit einem Untergestell aus Stahlrohr neben zwei Getränkeautomaten.<br />

Kessler zündete sich sofort eine Zigarette an, hustete kräftig und meinte:<br />

»So habe ich mein Arbeitsleben begonnen. Es war nicht die schlechteste<br />

Zeit als Maschinenbaulehrling bei Sulzer in Winterthur.«<br />

Tja, Richard wusste darauf nichts zu erwidern und Rüegg schaute verlegen<br />

an seinem 1.000 Dollar-Anzug hinunter, irgendwie fühlte er sich<br />

in dieser Umgebung völlig deplatziert.<br />

»So weit treibt uns also die Geheimhaltung«, überbrückte Kessler die<br />

Peinlichkeiten und witzelte: »Ich biete dem Personalrat mein Vorstandszimmer<br />

als Raucherraum an.«<br />

Obwohl Richard nach der gestrigen Information aus den Meldeunterlagen<br />

überhaupt nicht mehr sicher war, dass die Nachstellungen wirklich<br />

nichts mit der Firma Greves zu hätten, verweigerte er sich diesem<br />

Zweifel trotzig und sagte: »Ich wollte Ihnen lediglich einen Vorgeschmack<br />

von dem geben, was auf Sie zukommen könnte...«<br />

»Verstehe ich nicht«, fiel ihm Rüegg ins Wort, »glauben Sie denn<br />

nicht, dass hier bereits alles verwanzt ist?«<br />

Richard nickte: »Ich glaube nach wie vor, dass Sie weiterhin so leben<br />

und arbeiten können, als gäbe es weder Spione noch Wanzen, noch<br />

Richtmikrophone oder andere Mittel. Lediglich die Gespräche mit mir<br />

sowie die Erörterung über meine Arbeit sollten abgesichert werden. Sie<br />

sehen, ich bin sehr flexibel. Ihnen, meine Herren, rate ich, sich über die<br />

anstehenden Probleme nicht mehr zu unterhalten. Das bedeutet: Die<br />

Sekretärin schreibt auch nachher keine Aktennotiz. Betrachten Sie mich<br />

als englischen Spinner und vergessen Sie das Problem an sich. Wenn<br />

44


ich Rüegg gestern Abend richtig verstanden habe, manövriert sich das<br />

Unternehmen gerade in existenzielle Probleme.«<br />

Kessler zog an seiner Zigarette und flüsterte: »Ich darf gar nicht daran<br />

denken.«<br />

Die Tür öffnete sich einen Spalt und ein jugoslawischer Arbeiter<br />

drückte sich in den Raucherraum und wunderte sich über die Figuren,<br />

die sich hier in seinem Pausenraum breit gemacht hatten.<br />

»Hast du Kleingeld?«, fragte er Kessler unvermittelt und ohne Scheu,<br />

weil er den Chef der Firma offenbar nicht kannte. Kessler kramte in seiner<br />

Jacketttasche: »Ich habe bald überhaupt kein Geld mehr.« Doch er<br />

konnte wechseln und ließ sich eine Limonade mit ziehen.<br />

»Würden Sie sich für Ihren Informatiker verbürgen?«, fragte Richard<br />

unvermittelt die beiden. Kessler und Rüegg nickten spontan und mit<br />

voller Überzeugung.<br />

»Wie würden Sie Ihre Bürgschaft begründen? Bitte entschuldigen Sie<br />

meine Pedanterie.«<br />

Nicht ohne Stolz erklärte Kessler: »Er ist mein Sohn Rolf. Ich werde<br />

ihm eines Tages meine paar Greves-Aktien übertragen. Das ist zwar<br />

kein riesiges Paket, aber sicher genug, um auch aus finanzieller Sicht<br />

seine Loyalität zu begründen. Er hat als Diplomingenieur auf dem Gebiet<br />

der Elektronik und Informatik abgeschlossen. Nach kurzen Aufenthalten<br />

in den USA ist er vor fünf Jahren bei uns eingetreten und hat die<br />

Softwareabteilung und die dazugehörige Print-Technologie übernommen<br />

und weiterentwickelt.«<br />

»Ich schlage vor, Ihr Sohn ist der Vierte im Bunde«, überraschte der<br />

Agent, »und ich bitte den Vater um Erlaubnis, mit Ihrem Herrn Sohn<br />

geheime Absprachen treffen zu dürfen.«<br />

Kessler und Rüegg verstanden nicht.<br />

»Meine Idee ist sehr simpel«, erklärte Richard, »ich bespreche mit Ihrem<br />

Herrn Sohn gewisse operative Maßnahmen. Wird er es schaffen,<br />

die Maßnahmen für sich zu behalten, so können wir sicher sein, dass<br />

niemand sich aus Versehen verrät und die Operation gefährdet.«<br />

»Kommt überhaupt nicht in Frage, ich muss schließlich wissen, was in<br />

meinem Betrieb vorgeht«, sagte Kessler energisch und drückte seine<br />

Zigarette im Aschenbecher aus.<br />

Richard lächelte verständnisvoll, dann sagte er sehr sachlich und leise:<br />

»In Ihrem Betrieb finden derzeit eine oder mehrere feindliche Operationen<br />

statt, von denen Sie nichts wissen. Sie spüren wohl die Ergebnisse<br />

dieses Tuns, weil Ihnen die Umsatzzahlen wegbrechen, aber Sie wissen<br />

45


nichts über Art und Umfang der Operation an sich, noch über die Personen.<br />

Sie haben nicht die leiseste Ahnung...«<br />

Richard machte eine Wirkungspause und Kessler nahm sich eine neue<br />

Zigarette aus der Packung.<br />

»Wenn Sie nämlich nur die leiseste Ahnung darüber hätten, wer hier<br />

wo welche Operationen zu Ihrem Nachteil tätigt, wäre ich überhaupt<br />

nicht hier. Sie würden den oder die Typen eigenhändig erschießen.«<br />

Das Feuerzeug klickte.<br />

Richard fuhr fort: »Jetzt bitte ich um die Erlaubnis für eine zeitlich begrenzte<br />

Gegenoperation, die ich selbstverständlich eines Tages offen legen<br />

werde. Aber Sie verweigern mir dies. Lassen Sie mich raten. Sie<br />

verweigern mir dies nicht aus Misstrauen gegenüber meiner Person<br />

oder die Ihres Herrn Sohns, sondern weil Sie vierzig Jahre lang glaubten,<br />

sämtliche Vorgänge auf dem Schiff der Greves AG unter Kontrolle<br />

gehabt zu haben. Diese Kontrolle aber war, zumindest in der letzten<br />

Zeit, nur eine Illusion...«<br />

Kessler blies Richard den Zigarettenrauch ins Gesicht: »Hören Sie auf,<br />

Sie haben ja Recht. Soll ich meinen Sohn rufen lassen?«<br />

Richard schüttelte den Kopf. »Es soll zwischen ihm und mir möglichst<br />

keine Beziehung unterstellt werden können. Geben Sie ihm in der<br />

nächsten Woche ein verlängertes Urlaubswochenende, ich würde mich<br />

freuen, ihn auf Mallorca begrüßen zu dürfen.«<br />

»Einverstanden! Wann können wir mit den ersten Ergebnissen rechnen?«<br />

»Gute Frage, ich hoffe, dass sich mein Auftrag vor dem Zeitpunkt abschließen<br />

lässt, an dem man Ihnen den nächsten Auftrag wegschnappt.«<br />

»Viele derartige Einbrüche wird es nicht mehr geben können«, meldete<br />

sich Rüegg besorgt zu Wort, »eine Entwicklungsarbeit ist kurz vor der<br />

Fertigstellung. Etwa im Januar nächsten Jahres erfolgt die Präsentation.<br />

Die Interessenten unterschreiben Kaufoptionen und üben diese dann in<br />

den kommenden Wochen aus. Vorausgesetzt, unser Angebot wird genau<br />

in dieser Zeit nicht von einem Kopisten wieder unterboten.«<br />

»Dann wird es Zeit, dass Ihr Sohn Rolf recht schnell zu mir nach Mallorca<br />

kommt.«<br />

Der Jugoslawe am Nachbartisch hatte aufgeraucht und verließ den<br />

Pausenraum.<br />

»Den habe ich ja vollkommen vergessen«, erschrak Kessler, »der hat<br />

jetzt alles mithören können.«<br />

Richard lachte: »Wenn er Englisch spricht, weiß er jetzt, was ihn bestimmt<br />

nicht interessiert. Aber die Situation belegt, wie wichtig es für<br />

46


die Operation ist, dass sie so verläuft, wie ich es angedeutet habe. Die<br />

Rechte weiß von der Linken nichts. Das moderne Management vermeidet<br />

den Kontakt zum gewöhnlichen Volk, aber es ist äußerst geschwätzig<br />

innerhalb seines Dokumentations- und Controllingzwangs und der<br />

zahlreichen Meetings und Hearings und sonstigen Ausreden, keine<br />

Verantwortung übernehmen zu müssen.«<br />

Rüegg klopfte Richard auf die Schulter: »Sie sind unser Mann. Vielen<br />

Dank, dass Sie das alles kostenlos und vollkommen altruistisch für uns<br />

machen wollen...«<br />

»Nichts zu danken«, ging Richard auf den Spaß ein, »gebt mir lediglich<br />

einen winzigen Punkt, wo ich hintreten kann.«<br />

Den hatte Kessler bereits gefunden. Er hatte es nicht lassen können,<br />

sich noch einen Kaffee aus dem rückwärtigen Automaten zu ziehen.<br />

Doch das Gerät, das normalerweise zuerst Pappbecher ausspuckte und<br />

dann die Brühe folgen ließ, hatte nur die Münzen verschluckt.<br />

»Seit mindestens zehn Jahren beschwert sich der Personalrat regelmäßig,<br />

dass das Gesöff dieser Kaffeeautomaten ungenießbar wäre«,<br />

schimpfte der Vorstandsvorsitzende, »wie können diese Sozialisten das<br />

denn behaupten, wenn überhaupt kein Kaffee herauskommt.«<br />

Richard trat zu und der Automat klapperte etwa zwanzig Münzen aus.<br />

Da diese nicht alle im Geldrückgabeschacht Platz hatten, spuckten die<br />

silbernen Stücke in den Raum hinein. Kessler sprang hinter den Münzen<br />

her, als hätte der kleine Bub einen Kaugummiautomaten geknackt:<br />

»Gott sei Dank, Richard, schauen Sie her, nun kann ich Sie endlich bezahlen.«<br />

»Sie benötigen natürlich eine Legitimation für die anfallenden Kosten«,<br />

nahm Richard den Faden auf. »Meine Präsenz hier im Haus muss<br />

einen plausiblen Grund haben. Ein plausibles, vielleicht sogar notwendiges<br />

Mandat ist die Firma CincinatTec Tools in Ohio.«<br />

»Ein namhafter Konkurrent«, bestätigte Rüegg.<br />

»Eben«, nickte Richard, »und mein offizielles Mandat lautet, diese<br />

Firma strategisch zu durchleuchten. Einverstanden?«<br />

Die Herren waren das und Richard stolz auf seine Einfälle und Fußtritte.<br />

Hätte er gewusst, dass er sich und seinem Mandanten mit diesem<br />

Decknamen gerade einen von besonderer Tragweite ausgelesen hatte,<br />

sie hätten sich nicht so fröhlich voneinander verabschiedet.<br />

47


IV<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

St. Petersburg, Ende August. Pjotr Alexandrowitsch Carlin räkelte sich<br />

im französischen Fauteuil und genoss seinen Wohlstand. Er besaß in St.<br />

Petersburg ein renommiertes Antiquitätengeschäft am Newski-Prospekt.<br />

Kein westlicher Besucher, der an Raritäten interessiert war oder<br />

vom Kunsthandel etwas verstand, hätte auf einen Besuch bei Carlin<br />

verzichten wollen. Es sei denn, er wollte dort nicht gesehen werden. In<br />

solchen Fällen wurde Pjotr Alexandrowitsch Carlin ins Hotel gebeten.<br />

Vor der Wende war der studierte Kunsthistoriker als Sachverständiger<br />

für das Kulturministerium tätig gewesen, was dem Liebhaber der Petersburger<br />

Goldschmiedekunst heute nur zum Vorteil gereichte. Er katalogisierte<br />

nämlich sämtliche noch vorhandenen oder aktenkundigen<br />

Pretiosen und Kunstgegenstände, die mal von der Zarenfamilie, vom<br />

Adel und vom reichen Bürgertum in Auftrag gegeben oder aus Kollektionen<br />

gekauft worden waren.<br />

Für die Sammler von besonderem Interesse waren immer schon Einzelanfertigungen.<br />

Da sich die noblen und reichen Kunden meistens nur<br />

von Goldschmieden erster Adressen bedienen ließen, von denen einzelne<br />

den begehrten Titel eines »Hofjuweliers« trugen, waren in der<br />

Regel Skizzen für Entwürfe, akkurate Zeichnungen, Fakturen mit den<br />

Namen der Kunden und manchmal sogar die Korrespondenz dazu aufbewahrt.<br />

Das erleichterte die Arbeit des Archivars ungemein, soweit die<br />

Revolutionskommandos nicht in der ersten Phase der kommunistischen<br />

Machtübernahme ganze Arbeit geleistet hatten, indem sie im Übereifer<br />

viele Papiere zerstörten. Die konfiszierten Kunstobjekte wurden, wie es<br />

hieß, dem Volk zurückgegeben und in Museen aufbewahrt.<br />

Erst viel später wurden die dazugehörigen Dokumente gesucht und zusammengetragen.<br />

Viele gaben Aufschluss über ihren Standort und belegten,<br />

dass manche Kostbarkeit bereits vor der Revolution ins Ausland<br />

verkauft wurde. Für Behörden und Kuratoren waren jene Fährten interessanter,<br />

welche zum früheren russischen Adel und der Bourgeoisie<br />

wiesen und deren Schätze den damaligen Razzien offenbar entgangen<br />

waren.<br />

Ganz besonders hatte er sich mit den Kunstwerken aus dem Hause Fabergé<br />

befasst, war doch die Zarenfamilie eine der wichtigsten Auftraggeber<br />

um die Jahrhundertwende. Schmuckstücke, Dosen, Miniaturen<br />

kunstvoller Portraits, Ostereier aller Größen mit allegorischen Darstel-<br />

48


lungen im Jugendstil aus Gold und Silber, emailliert, reich versehen mit<br />

Edel- und Halbedelsteinen füllten ganze Bände. Im Zentrum der Interessen<br />

haben stets die kaiserlichen Prunkeier gestanden. Da gab es sogenannte<br />

Überraschungseier. Beim Aufklappen kamen kostbar gefertigte<br />

Figuren, Früchte, Tiere und andere Dinge zum Vorschein. Wahrlich<br />

vornehmste Geschenke!<br />

Pjotr Alexandrowitsch Carlin wurde in den frühen Achtzigerjahren mit<br />

der Suche der vermissten Objekte betraut. Auftraggeber war offiziell<br />

das Kulturministerium, inoffiziell gleichzeitig der KGB. Es lag auf der<br />

Hand, dass er dadurch entweder in wenigen Jahren zur anerkannten<br />

Kapazität auf dem Gebiet von antiken Pretiosen aller Art wurde oder<br />

sich in den Mühlen des sowjetischen Geheimdienstes aufrieb.<br />

Pjotr Alexandrowitsch landete nicht in einem sibirischen Straflager,<br />

sondern spielte das Spiel »Gauner im Staatsdienst« virtuos und nicht<br />

ohne beträchtlichen Eigennutz.<br />

Fast schon zur Selbstverständlichkeit wurden für den russischen<br />

Kunsthistoriker Reisen ins westliche Ausland und so wurde er zum<br />

gern gesehenen Gast in den Auktionshäusern von Paris über Amsterdam<br />

bis nach Zürich. Der von ihm so neu gewonnene Freundeskreis in<br />

der Spitzenliga des westlichen Kunsthandels nutzte der KGB unter stets<br />

wechselnden Legenden, um seine geraubten bzw. unterschlagenen Pretiosen<br />

zu versilbern. Dass der Kurator auch selbst das eine oder andere<br />

Juwel, anstatt offiziell zu archivieren, für sich abzweigte, blieb sein<br />

Geheimnis.<br />

Und so übernahm Carlin zu treuen Händen die Kostbarkeiten seiner<br />

KGB-Leute, welche ihn und sein Aktenköfferchen sicher bis ins Flugzeug<br />

der Air France begleiteten. Und jedes Mal erkundigten sie sich<br />

fürsorglich nach dem Wohlbefinden seiner Frau Gemahlin und seiner<br />

beiden Töchterchen. Für Pjotr Alexandrowitsch ein klarer Wink mit<br />

dem Zaunpfahl, das Ticket für den Rückflug auch wirklich zu benutzen.<br />

Doch besser, als in der real existierenden UdSSR konnte es Carlin im<br />

Westen überhaupt nicht gehen.<br />

Den Erlös aus den Verkäufen platzierte Pjotr Alexandrowitsch unverzüglich<br />

auf zwei Bankkonten in der Schweiz, eines auf den Decknamen<br />

des KGB-Offiziers, das andere für sich selbst. Nach Moskau zurückgekehrt,<br />

rechnete er mit den Auftraggebern stets genau ab. Eine durch die<br />

Blume angebotene Leistungsprämie, anstelle einer ungeschminkten<br />

Provision, lehnte er sehr höflich, aber entschieden mit dem Hinweis ab,<br />

es sei ihm eine große Ehre und eine tiefe Verpflichtung, für die stolze<br />

Sowjetunion tätig zu sein. Instinktiv wollte er jeder Abhängigkeit vom<br />

49


KGB vorbeugen, denn er kannte die geheime Mechanik des gefürchteten<br />

Geheimdienstes gut genug.<br />

Unter der Tarnkappe des biederen Kurators gelang es ihm, seine Parallelgeschäfte<br />

völlig geheim zu halten. Zur Sicherheit versetzte er die Objekte<br />

immer bei verschiedenen Abnehmern, um gefährliche Querverbindungen<br />

zu vermeiden. Das Schattenspiel nahm beinahe regelmäßige<br />

Formen an und florierte jedenfalls auf allen Seiten zur vollen Zufriedenheit.<br />

Mit dem Einzug von Glasnost und Perestroika reduzierte sich der illegale<br />

Kunsthandel auf höchstens noch zweitrangige Objekte. Nicht, dass<br />

Carlins Eifer, gehortete Schätze aufzustöbern, nachgelassen hätte. Aber<br />

das Wissen darum behielt er für sich. Der neuen Zeit folgend verlagerte<br />

Pjotr Alexandrowitsch folglich seine Aktivitäten unauffällig, aber<br />

schrittweise vom ehrwürdigen, bescheiden bezahlten Kurator hin zum<br />

sachkundigen Antiquitätenhändler.<br />

Anfang der Neunzigerjahre beschloss er, nach St. Petersburg zu ziehen,<br />

um dort ein erstrangiges Geschäft zu eröffnen. Von Anfang an erfolgreich,<br />

zählte er die neue russische Klasse und viele Westeuropäer<br />

zu seinen Kunden. Sozusagen als Gewürz in der Suppe pflegte er sorgfältig<br />

auch den Handel mit Objekten, für welche die Ausfuhr streng<br />

verboten war. Vorhandene Instinkte wollen gebraucht werden, sollen<br />

sie nicht verkümmern. Die Tschetschenen und andere mafiosen Erpresser<br />

hielt er sich mit Hilfe seiner früheren KGB-Partner vom Leib. Die<br />

waren zwar auch nicht zum Nulltarif erhältlich, aber wesentlich günstiger<br />

und vor allem weitaus verlässlicher. Sein Geschäft war aus dem<br />

Schatten ans offene Tageslicht getreten, dem selbst die fahle Petersburger<br />

Wintersonne ein mildes Lächeln zollte. Die Metamorphose vom<br />

Schattenspiel zum modernen russischen Unternehmer war ihm gelungen.<br />

Heute gehörte er zum privilegierten neuen Mittelstand, welcher es sich<br />

leisten konnte, die Ferien mit der ganzen Familie im westlichen Ausland<br />

zu verbringen. Etwas unterhalb der ganz großen Gauner und<br />

Schieber, die man in den teuersten europäischen Hauptstädten und Ferienorten<br />

antrifft, aber immerhin.<br />

Was Pjotr Alexandrowitsch zu immer neuen Geschäften antrieb, konnte<br />

man mit einem einzigen Wort umschreiben: Existenzangst! Nie wieder<br />

wollte er in seinem Lebensstandard zurückfallen. Die Hölle ist in<br />

Russland nämlich kein mystisches Konstrukt des Aberglaubens, sondern<br />

faktische Realität des Alltags.<br />

50


In St. Petersburg waren nämlich bittere Armut und schreiendes Elend<br />

auch dann nicht zu übersehen, wenn man sich redlich um Verdrängung<br />

der einen umgebenden Umstände bemühte. Nie wieder wollte Pjotr<br />

Alexandrowitsch arm sein und dagegen gab es nur ein Mittel: Geld und<br />

zwar mehr Geld. Für letzteres würde der Antiquitätenhändler alles machen<br />

und so lebte er den sich ständig erneuernden Tagtraum, wie er mit<br />

dem einmaligen, großen Geschäft für immer ausgesorgt hätte.<br />

Jetzt schrillte das Telefon und riss den Kunsthistoriker aus seinen Gedanken:<br />

»Da paschalsta?«<br />

»Guten Tag, Pjotr Alexandrowitsch«, schrie es aus der Hörermuschel,<br />

»hier spricht der Weltmeister.«<br />

Der Russe erkannte die Stimme nicht sofort, doch konnte er das Geschrei<br />

leicht zuordnen. »Friedrich? Ich begrüße dich aus ganzem Herzen...«<br />

Friedrich Meister war der älteste Bekannte, den Pjotr Alexandrowitsch<br />

im Westen hatte, denn mit ihm hatte der Russe sein erstes Geschäft<br />

über den Stacheldraht hinweg gemacht. Der Schreihals war Kunsthändler<br />

in Zürich und man nannte ihn nicht von ungefähr Weltmeister,<br />

denn er galt in seiner Klasse als ungeschlagener Meister im Kasse machen.<br />

Im Bannstrahl seiner Berufskollegen ertrug der Meister deren tiefe<br />

Verachtung mit Nachsicht und freute sich über deren blanke Missgunst.<br />

Bescheidenheit war vor allem nicht die Zier des groß gewachsenen,<br />

inzwischen übergewichtigen Mittsechzigers.<br />

»...was verschafft mir die Ehre, dass du selbst anrufst?«<br />

»Ich brauche Großes aus den unergründlichen Tiefen des roten, russischen<br />

Bären. Vergiss alles, was du jemals mit deinem Bauchladen verdient<br />

hast. Es geht um Millionen...«, orakelte der Schweizer.<br />

Pjotr Alexandrowitsch holte tief Luft. Der Meister war wohl ein Großmaul,<br />

doch er war ein äußerst verlässlicher Geschäftspartner, überlegt<br />

und entschlossen und pflegte nicht das mühselige Herumtändeln vieler<br />

seiner Berufsgenossen. Ein Vorzug, der gerade bei Geschäften über<br />

große Distanzen von entscheidender Bedeutung war.<br />

»Ich denke«, schmunzelte der Russe, »dass es bei dir stets um Millionen<br />

geht. Was soll also die Aufregung?«<br />

»Richtig«, sagte der Meister, »aber dieses Mal handelt es sich um ein<br />

sog. Kobalt-Ei und mein Kunde hat kein Limit. Hörst du?«<br />

Dem Russen hatte es die Sprache verschlagen und er hielt vor Schreck<br />

die Sprechmuschel seines Telefonhörers zu. Dann sagte er erschrocken:<br />

»Hast du dein Tätigkeitsfeld gewechselt?«<br />

51


Der Weltmeister lachte: »Wie kommst du denn darauf? Du weißt doch,<br />

dass ich vielleicht eine Frau, aber noch nie die Dinge liebte, mit denen<br />

ich gehandelt habe. Mich interessierte der Glitzerkram noch nie. Was<br />

mich interessiert. ist das Geld und die damit verbundene Macht. Ich<br />

dachte, du kennst mich. Ich würde dem Teufel meine Mutter verkaufen,<br />

zahlte er den entsprechenden Preis. Und jetzt habe ich den Teufel als<br />

Kunde...«<br />

»Meine Mutter ist jedenfalls bereits tot...«<br />

Meister lachte: »Der Teufel will auch nicht dein Mütterlein, sondern<br />

dieses verdammte Kobaltding....« Irgendein Grunzen kam durch die<br />

Leitung. »...was sage ich hier Ei, Super-Ei, merkantil eine Bombe – und<br />

diese werde ich ihm mit deiner Hilfe beschaffen.«<br />

Pjotr Alexandrowitsch ließ sich auf einen mit rotem Samt überzogenen<br />

Stuhl fallen. Das Gespräch musste so schnell wie möglich beendet werden,<br />

nur dessen war sich der ehemalige Sowjetbürger sicher. »Vielleicht<br />

sollten wir uns persönlich treffen und uns hier nicht am Telefon<br />

um Kopf und Kragen reden«, flüsterte er unangebracht leise.<br />

»Warum so ängstlich?«, schrie der Weltmeister zurück, »bei euch<br />

herrscht doch das blanke Chaos und du bist meine letzte Hoffnung...«<br />

»Treffen wir uns an der alten Stelle?«, unterbrach der Russe den<br />

Schweizer.<br />

»Wenn es dir nicht zu weit ist. Ich hätte gegen einen Schluck Wasser<br />

nichts einzuwenden.«<br />

Sie lachten beide und verabredeten sich fürs Wochenende. Pjotr Alexandrowitsch<br />

atmete tief durch. Das war ja gerade nochmals gut gegangen.<br />

Nur eines war sicher: In Fragen der Konspiration war der Weltmeister<br />

eine Niete.<br />

52<br />

*<br />

London, zwei Wochen später. Der Pförtner des Geschäftshauses an der<br />

Regent Street meldete einen Mr. Brown und wies ihn in den vierten<br />

Stock. Im Visier der Überwachungskamera klingelte dieser alsbald an<br />

der schweren Tür mit der in vornehmen goldenen Lettern gehaltenen<br />

Aufschrift »International Strategic Consultancy«.<br />

Das Surren des elektrischen Türöffners war deutlich, der Ruck an der<br />

Tür vergeblich. Nach einem erneuten Versuch nahm Brown seine linke<br />

Schulter zu Hilfe, verlor das Gleichgewicht und fiel der sich selbst bemühenden<br />

Vorzimmerdame Sharon um den Hals. Kleine Überraschun-


gen erwecken Aufmerksamkeit, doch die Dame war über die unfreiwillige<br />

Umarmung alles andere als erfreut.<br />

»Damned shitty door!«, fluchte der Mann.<br />

»Go ahead«, forderte Sharon ungerührt auf und wandte sich diskret ab.<br />

Der Amerikaner verstand nicht so recht, kicherte dann aber doch etwas<br />

verlegen und schnitt wenig amüsiert eine Grimasse. Als Sharon ihren<br />

eigentlichen Vorposten wieder eingenommen hatte, präsentierte Brown<br />

mit einer leichten Verbeugung seine Visitenkarte und sagte: »Brown.«<br />

»Was Sie nicht sagen«, entfuhr es Sharon sichtlich verärgert, nahm demonstrativ<br />

die Visitenkarte vom Tisch und steckte sie ohne Verzögerung<br />

in den hinter ihr stehenden Aktenvernichter, der den billigen Karton<br />

mit einem kurzen, aber unüberhörbaren Aufheulen verspeiste. Dann<br />

wandte sich die Frau wieder ihrem Computerbildschirm zu und arbeitete<br />

weiter. Wenn sie etwas hasste, waren es Typen mit falschen Namen.<br />

Und Brown, da war sich Sharon sicher, war immer ein falscher<br />

Name.<br />

Sein Träger machte den Mund wieder zu, blickte zuerst irritiert auf<br />

seine braunen, überlangen, wildledernen Schuhe, die den dunkelblauen<br />

Anzug nach unten unpassend abschlossen, dann räuspernd auf seine<br />

klobige, multifunktionale Armbanduhr, dann zur Decke, um letztlich<br />

vorsichtig einzuwenden: »Vielleicht sollten Sie mich freundlicherweise<br />

anmelden.«<br />

»Nicht nötig«, murrte die Dame und hämmerte mit ihren schlanken<br />

Fingern auf die Tastatur ihres Computers.<br />

Auch Sir Alec, der Hausherr, hatte es nicht eilig, so dass sein amerikanischer<br />

Besucher mit rotem Kopf etwa fünf Minuten von einem Bein<br />

auf das andere zu wippen gezwungen war. Dann aber erschien der<br />

Gastgeber höchstpersönlich. Unauffällig, aber sorgfältig gekleidet breitete<br />

er beide Arme aus und begrüßte seinen Gast mit den Worten:<br />

»Sollten Sie versehentlich vermutet haben, ich hätte auf Sie gewartet,<br />

so haben Sie mich falsch verstanden, mein Freund.«<br />

Dabei lächelte der Alte derart herzlich und verbindlich, dass seinem<br />

Gast nichts anderes übrig blieb, als anzunehmen, er hätte sich verhört.<br />

»Mister Miller«, Sir Alec machte eine einladende Handbewegung auf<br />

den nächst stehenden ledernen Sessel, »setzen Sie sich.«<br />

»Brown!«, korrigierte der Gast und versank im Sessel.<br />

Sir Alec war die informelle Schnittstelle zwischen seinem ehemaligen<br />

MI6-Arbeitgeber und den im rechtlichen Graubereich operierenden informellen<br />

Agenten. Er war die graue Eminenz für »Kreative Innovationen«,<br />

wie er seine Beratungsfirma nannte. Niemand fragte nach seiner<br />

53


Legitimation und seine besondere Verwendung war so geheim, dass er<br />

sie selbst nur unscharf zu umreißen vermochte.<br />

Dem Sir war klar, dass der Zweck die Mittel heiligen musste, denn wäre<br />

es, wie üblicherweise angenommen, anders, bedeutete dies, dass man<br />

bewusst zweit- oder drittklassige Mittel wählte, um seine Ziele zu erreichen.<br />

Das konnten nur Philosophen glauben. Und so war es dem Mann,<br />

der von seinem Mitarbeiter Richard heimlich mit »alter Habicht« tituliert<br />

wurde, zur Selbstverständlichkeit geworden, mit unheiligen Mitteln<br />

bis an sämtliche Schmerzgrenzen zu gehen. An dem Tag, an dem<br />

ein ganz spezieller Fonds ihm den monatlichen sechsstelligen Betrag<br />

nicht mehr überweisen würde, würde Sir Alec wissen, dass man auf<br />

seine spezielle Verwendung verzichten wolle. Er würde ohne Rückfragen<br />

die spärlichen Akten vernichten, seine Vorzimmerdame ins Hauptquartier<br />

zurückschicken und sich auf seinen Landsitz nach Cheltenham<br />

zurückziehen.<br />

Noch war es nicht so weit. Sonst hätte das Hauptquartier dem nun gerade<br />

im Ledersessel versunkenen Verbindungsmann des CIA nicht signalisiert,<br />

dass sie einerseits selbst von dem angedeuteten Vorgang<br />

nichts zu wissen glaubten, noch der Ansicht waren, darin verwickelt<br />

sein zu müssen, aber andererseits gerne gewillt wären, den amerikanischen<br />

Freunden jede erdenkliche Hilfe zukommen zu lassen.<br />

Die Zusammenarbeit zwischen den Diensten funktioniert nämlich nach<br />

dem Prinzip Spion gegen Spion. Und selbstverständlich sind die Gewürze<br />

wie Missgunst, Habgier, Neid und dem Gegenüber unterstellter<br />

Dilettantismus professionell getarnt. Arbeitete der befreundete Dienst<br />

nämlich nur halb so dilettantisch wie das eigene Haus, war dieser Emissär<br />

mit dem falschen Namen ein hohes Sicherheitsrisiko. Dieser Logik<br />

folgend verwies man den Amerikaner an die »schwach« mit dem Hause<br />

befreundete Beraterfirma. Erstens waren die eigenen Leute mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit in die Sache nicht verwickelt, was man zweitens<br />

nicht zugeben wollte und drittens würde, wenn überhaupt, der Alte<br />

schon wissen, wo seine Leute wieder einmal die Finger drin hätten, was<br />

man viertens selbst auch nicht wissen wollte.<br />

Als auch der Gastgeber in einem Sessel der altehrwürdigen Sitzgruppe<br />

versunken war, brachte Sharon den für Besprechungen obligaten Tee<br />

und verschwand wortlos, aber demonstrativ ihre Hüften schwingend<br />

aus dem Herrenzimmer. Der Sir räkelte sich nach der Seite und zauberte<br />

eine ansehnliche Flasche Rum zum Vorschein.<br />

»Sie entschuldigen bitte«, murmelte er, »aber dieser englische Tee ist<br />

unverdünnt in meinem Alter nicht mehr genießbar.« Angewidertes<br />

54


Schütteln durchdrang bei diesen Worten seinen Körper. Obwohl Sir<br />

Alec noch nicht einmal daran dachte, seinen Gast an der Medizin teilhaben<br />

zu lassen, zierte sich dieser in einer floskelhaften Abwehrgeste.<br />

»Mister Smith«, fragte der Sir, »was verschafft mir die Ehre, einen<br />

leibhaftigen Repräsentanten der englisch-amerikanischen Handelskammer<br />

empfangen zu dürfen?«<br />

»Brown«, korrigierte Brown und glaubte nun nicht mehr an ein Versehen.<br />

Sir Alec grinste.<br />

Überraschend schnell kam der Verbindungsmann des CIA zur Sache.<br />

»Sie operieren von Mallorca aus bei einer Firma in der Schweiz. Wir<br />

wollten in dieser Sache um Zusammenarbeit bitten. Die sich daraus ergebenden<br />

Synergieeffekte könnten beiden Diensten zum Vorteil gereichen.«<br />

Der alte Habicht machte große Augen. »Wir«, und er zeigte dabei auf<br />

sich, »operieren nirgendwo, aber selbstverständlich können wir in dieser<br />

Sache zusammenarbeiten.«<br />

Grundsätzlich arbeitete man nämlich immer zusammen und Sir Alec<br />

hätte aus reiner Neugierde eine Zusammenarbeit nie verweigert. Aber<br />

wie gesagt, das war der Grundsatz, der Grad der Zusammenarbeit war<br />

dann auch meist mehr als bescheiden.<br />

Herr Brown wusste nun nicht so recht, ob er sich wieder verhört hatte,<br />

deshalb schob er nach: »Es ist im allergrößten Interesse der nationalen<br />

Sicherheit.«<br />

»Natürlich«, nickte Sir Alec höchst amüsiert, »wenn Onkel Sam irgendwo<br />

in Europa die Gesetze bricht, ist es immer von allergrößtem Interesse<br />

der nationalen Sicherheit.«<br />

Brown ließ sich nicht beirren: »Es handelt sich um illegalen Technologietransfer.<br />

Wir haben gesicherte Erkenntnisse darüber, dass die Technologie<br />

bzw. bereits fertige sogenannte Mini-Kobaltbomben mit Hilfe<br />

eines Schweizer Unternehmens aus der ehemaligen Sowjetunion nach<br />

Saudi Arabien transferiert werden. Und Ihr Mann sitzt mittendrin.«<br />

Sir Alec kniff die Augen zusammen. »Kobaltbomben« waren irgendwelche<br />

Bestrahlungsgeräte zur Krebstherapie und Sir Alec hoffte, dass<br />

er selbst und seine Mitarbeiter mit diesen Geräten nie Bekanntschaft<br />

machen müsste.<br />

»Hat seine Allmächtigkeit, der amerikanische Präsident, Krebs?«<br />

Brown machte große Augen: »Wie darf ich das verstehen? Unser Präsident<br />

ist meines Wissens bei bester Gesundheit.«<br />

55


Sir Alec trank einen Schluck von seinem mit Rum verdünnten Tee.<br />

»Wenn ein Bestrahlungsgerät zur nationalen Sicherheit erklärt wird, ist<br />

meine Frage doch berechtigt.«<br />

Brown horchte auf, verstand und stellte klar: »Sir, ich spreche von einer<br />

nuklearen Waffe. Einer perfiden Form einer schmutzigen Bombe,<br />

die mit minderer Sprengkraft ein Gebiet möglichst stark radioaktiv kontaminiert.<br />

Hier in London in einem Kleinlaster transportiert und gezündet,<br />

machte die Stadt über Jahrzehnte unbewohnbar.«<br />

Sir Alec bedauerte es, nicht an seinem Schreibtisch zu sitzen und mit<br />

wenigen Tastendrücken mittels Internet diesbezügliche Wissenslücken<br />

schließen zu können. Aber er kannte die Hysterie der Geheimdienste<br />

und die Schreckensgebilde, die alle Geheimdienste projizieren, um ihre<br />

Operationen zu begründen. Deshalb winkte er ab: »Ja, ja, schon gut. Ich<br />

dachte, der Kalte Krieg ist zu Ende. Strickt ihr an einer neuen Legende,<br />

um eure Hochrüstung zu rechtfertigen?«<br />

Der Besucher rümpfte über soviel Antiamerikanismus die Nase, schüttelte<br />

verständnislos den Kopf und erklärte: »Es ist ja kein Geheimnis,<br />

dass sich Terroristen seit einiger Zeit darum bemühen, über schlecht bezahlte<br />

sowjetische Wissenschaftler Zugang zu spaltbarem Material und<br />

der entsprechenden Technologie zu beschaffen. Islamische Terroristen<br />

würden uns damit noch nicht einmal erpressen wollen, sondern die<br />

Bombe ohne Vorwarnung zünden.«<br />

»Wissen Sie, junger Mann«, sagte der Alte zu dem Vierzigjährigen,<br />

»eben, weil es kein Geheimnis ist, drängt sich bei mir sofort der Verdacht<br />

auf, dass man von interessierter Seite mit allen Mittel dafür gesorgt<br />

hat, dass derartige Ängste in der Öffentlichkeit gezielt geweckt<br />

wurden. Ist diese sog. Kobaltbombe nicht eine veraltete Technik?«<br />

Brown nickte: »Gewiss, sie war noch nicht einmal Bestandteil der damaligen<br />

Abrüstungsverhandlungen zwischen den Supermächten. Wir<br />

dachten lange Zeit, dass diese Technik nie über den Planungsstatus hinaus<br />

ging.«<br />

»So, so«, machte der Sir wenig standesgemäß und holte die Rumflasche<br />

aus ihrem Versteck. »Wo operiert ihr, dass man sich hier Schnittstellen<br />

einbilden könnte?«<br />

Brown rutschte in seiner ledernen Mulde etwas unbehaglich hin und<br />

her, dann sagte er: »Das weiß ich nicht.«<br />

Sir Alec nickte nachdenklich. Der letzte Satz war offensichtlich wahr.<br />

Der nachfolgende nicht zu widerlegen: »Der Transfer einer kleinen Kobaltbombe,<br />

vermittelt durch gewissenlose Geschäftsleute irgendwo in<br />

Europa, wäre für Islamisten ein Gottesgeschenk. Wir müssen leider an-<br />

56


nehmen, dass irgendwelche europäischen Zöllner eine derartige Nuklearwaffe<br />

noch nicht einmal erkennen würden, ist sie als Druckgefäß oder<br />

Rührwerk aus der chemischen Industrie deklariert.«<br />

Brown kramte nach einem Stück Papier, das er zusammengefaltet aus<br />

der Innentasche seines Jacketts gezogen hatte. »Das ist das Observationsprotokoll<br />

unseres Mannes in Karlsbad...«<br />

Sir Alec streckte seine Hand aus...<br />

»Darf ich Ihnen eigentlich überhaupt nicht zeigen«, meinte Brown und<br />

schob das Protokoll über den Tisch. Mühsam stemmte sich der Alte aus<br />

seinem Sessel, ohne Lesebrille nutzten ihm auch die geheimsten Informationen<br />

wenig.<br />

Um sich nicht noch einmal aus diesem tiefen Sessel hochwuchten zu<br />

müssen, schnappte sich der Sir gleich noch die Teetasse samt Rumflasche<br />

und platzierte sich endlich hinter seinen Schreibtisch.<br />

Das Dokument, das er nun lesen sollte, hatte drei Seiten. Nach einiger<br />

Zeit blickte Sir Alec über seinen Brillenrand hinweg und schüttelte den<br />

Kopf: »Wissen Sie, junger Mann«, sagte er angespannt ruhig und sachlich,<br />

»in diesem Papier steht, dass Karlsbad in Tschechien liegt und<br />

nicht, wie offenbar von Ihrem Haus zuerst angenommen, in Deutschland.<br />

Dann ist es mir noch möglich, den Schluss zu ziehen, dass die russische<br />

Zielperson sich in einem Hotel niedergelassen hat, in dem es gesundheitsfördernde<br />

Heilquellen gäbe...« Sir Alec schüttelte den Kopf.<br />

»... ein Treffen mit der aus der Schweiz angereisten Kontaktperson<br />

konnte nicht bestätigt werden, da man am fraglichen Abend die Zielperson<br />

aus den Augen verloren hatte.«<br />

Sir Alec schmiss den mit »top secret« gestempelten Wisch achtlos auf<br />

seinen Schreibtisch zurück: »Hören Sie, Mister Brown oder wie immer<br />

Sie auch heißen mögen. Dieses Papier ist also von allergrößter Wichtigkeit?<br />

Und Sie tragen es achtlos auf der Straße herum...«<br />

»Ich bin bewaffnet«, meinte der CIA-Mann und vergaß seine offizielle<br />

Rolle als Repräsentant der englisch-amerikanischen Handelskammer.<br />

Sir Alec winkte verächtlich ab und tippte mit dem Zeigefinger senkrecht<br />

auf die Unterlage: »Dieses Papier beweist nur, dass der amerikanische<br />

Steuerzahler jährlich Milliarden für einen Geheimdienst ausgibt,<br />

der in der Regel Erkenntnisse liefert, die in Europa in jedem Lexikon<br />

stehen...«<br />

Sir Alec lehnte sich entmutigt zurück: »Ist Dummheit bei euch Tarnung?<br />

Und was verlangen Sie von uns Zusammenarbeit, wo auf diesem<br />

Wisch sogar der Hotelname geschwärzt ist?«<br />

57


Brown räusperte sich verlegen: »Die Sicherheitsstufe lässt ein weiteres<br />

Offenlegen unserer Informationen nicht zu...«<br />

Sir Alec lachte bitter: »Das Hotel, dessen Namen ihr hier mühsam geschwärzt<br />

habt, ist das Imperial...«<br />

»Was wissen Sie darüber?«, platzte Brown dazwischen.<br />

»Nichts«, zuckte der Alte resignierend mit den Schultern, »es ist allgemein<br />

bekannt, dass dort viele Russen absteigen.«<br />

Diesen Besuch hatte sich der CIA-Mann allerdings etwas anders vorgestellt.<br />

Es dürstete ihn heftig und zum ersten Mal bekam er eine Ahnung<br />

davon, warum es auf der Britischen Insel so viele Sturztrinker<br />

gab. Das Klima war eisig, der Tee bitter, die Menschen arrogant. Müde<br />

lächelnd sagte der Amerikaner nun: »Sir, ich bin hier nur Emissär in<br />

diplomatischer Mission und keinesfalls für die Situation verantwortlich<br />

zu machen...«<br />

Für Sir Alec war auch diese Bekundung nicht neu. Dann aber ließ der<br />

amerikanische Geheimagent die Katze aus dem Sack: »Sir, könnte ich<br />

trotzdem einen Schluck Rum in meinen Tee bekommen?«<br />

V<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Palma de Mallorca, Anfang September. Beim Abflug von Zürich waren<br />

nach dem schönen Wetter der Vortage bereits Vorboten der nasskalten<br />

Jahreszeit angebrochen. Umso mehr schätzte Richard nach der<br />

Landung im mediterranen Palma, dass hier immer noch nachsommerliche<br />

Wärme herrschte. Die Fahrt zum Zentrum gestaltete sich flüssig,<br />

hatten doch die meisten Touristen die Insel wieder verlassen.<br />

Bald erschien rechter Hand die Kathedrale, dann die Palmenpromenade,<br />

links die Hafenanlagen voller Schiffe. Normalerweise fühlte sich<br />

Richard auch nach kurzer Abwesenheit hier sicher und wohl. Doch jetzt<br />

beschäftigte ihn die Frage, ob er die Schatten von Zürich nun auf die<br />

Insel gelotst hatte. Es war vollkommen unsinnig, etwaige Verfolger im<br />

Flugzeug entdecken zu wollen. Denn es ist ja klar, dass alle Herrschaften,<br />

die man beim Einchecken als mögliche Verfolger registrierte, man<br />

beim Verlassen des Flughafens am Zielort wiederentdeckte. Jetzt jedenfalls<br />

bei der Autofahrt konnte Richard keine Verfolger eruieren, doch<br />

das mochte nichts heißen.<br />

58


Richtige Profis würden bereits sein Domizil wissen und so führte man<br />

die Observation nach dem »Hase- und Igel-Prinzip« weiter. Am Flughafen<br />

bestätigte einer der Igel, dass der Hase angekommen wäre, und<br />

vor seinem Büro erwartete ein anderer Igel bereits seine Ankunft. Für<br />

eine lückenlose Observation werden bis zu dreißig Personen eingesetzt.<br />

Alles eben stets eine Frage von Macht und Ohnmacht.<br />

Richard bog in die Tiefgarage ein und parkte neben dem Sportwagen<br />

von Mercedes. Die für teures Geld erworbene Lampe aus dem Restaurant<br />

hatte Richard bereits im Hotel in Zürich demontiert und trug jetzt<br />

nur den ausgebauten Sender in seiner Reisetasche. London würde die<br />

Technik vielleicht einzuordnen wissen.<br />

Im Büro begrüßte ihn Kater Domingo, dann Mercedes und schließlich<br />

stand recht züchtig gekleidet Isabella im Entree und lächelte.<br />

Der Engländer zeigte mit dem Zeigefinger auf das Mädchen und murrte:<br />

»Wie soll ich deren Anwesenheit einschätzen?«<br />

»Wir haben uns für dich, den großen Meister, extra herausgeputzt und<br />

du freust dich noch nicht einmal«, schmollte Mercedes. Das war natürlich<br />

keine Antwort, dann gelogen und geputzt war auch nicht, wie Richard<br />

beim Anblick des umgefallenen Schredders unter seinem<br />

Schreibtisch feststellen musste.<br />

Der Heimkehrer stellte die Tasche neben seinen Bürostuhl und ließ<br />

sich genervt auf diesen fallen. »Macht mir eine der reizenden Damen<br />

wenigstens einen Kaffee?«<br />

Die Kleine, die Mercedes noch vor seiner Abreise mit Hure beschimpft<br />

hatte verstand offenbar nur Französisch und das auch nicht richtig.<br />

Aber das Wort Kaffee ist wahrscheinlich international und Isabella<br />

machte mit ängstlichem Lächeln eine kleine Verbeugung und schlich in<br />

die Küche. Na, immerhin.<br />

»Wir haben uns ausgesprochen«, säuselte Mercedes, »so von Frau zu<br />

Frau. Du verstehst?«<br />

»Nein, verstehe ich nicht, wenn sie schon hier ist, hätte sie ja wenigstens<br />

putzen können«, nörgelte der eingebildete Bürovorsteher und tippte<br />

auf eine Taste am Computer.<br />

»Ich wollte zuerst dich fragen, bevor ich der Kleinen solche Quälereien<br />

zumutete.«<br />

»Für nichts anderes war das Mädchen engagiert.«<br />

»So?«<br />

»Ja, für nichts anderes!«<br />

59


Richard fischte den Sender aus seiner Tasche und stellte ihn demonstrativ<br />

auf den Schreibtisch. »Den habe ich aus der Tischlampe des Restaurants<br />

ausgebaut.«<br />

»Fein«, lächelte Mercedes und nahm die Elektronik in die Hand. In<br />

Kenntnis seiner technischen Fähigkeiten sagte sie: »Dann ist die Lampe<br />

jetzt kaputt?«<br />

»Das ist ja wohl das kleinste Problem.« Richard erzählte, wie er im<br />

Restaurant in Zürich den Verdacht hatte, dass man ihn und seinen Gesprächspartner<br />

abhören wollte. Wie er dem Kellner mit einem Skandal<br />

drohte und in einer Art Wiedergutmachung von diesem die Meldezettel<br />

und kopierten Kreditkartenbelege ausgehändigt bekam.<br />

Mercedes las ungläubig: »Transtecco GmbH, die Herren Follmann und<br />

Seidler. Was soll denn das?«<br />

Richard nickte: »Ja, das ist eine Überraschung. Wir bekommen hier einen<br />

Anruf von diesem Follmann, der sich anschließend im Krankenhaus<br />

wiederfindet. Ich fahre kurz darauf in die Schweiz und werde mit<br />

großer Wahrscheinlichkeit von der ersten Sekunde an observiert. Und<br />

zwar genau von Mitarbeitern dieser Firma...«<br />

Dann kam der Kaffee und dieses Mal rutschte die Zuckerdose nicht auf<br />

den Rauchtisch, was daran lag, dass die alte kaputt war und noch kein<br />

Ersatz beschafft wurde. Dafür packte Isabella die ganze Zuckertüte auf<br />

den Tisch. Auch eine Variante.<br />

»Kulturell entwickelt sich dieses Haus sukzessiv rückwärts«, stellte<br />

Richard fest und stocherte mit dem Kaffeelöffel in der Tüte herum.<br />

»Was sagst du dazu?«<br />

»Zu unseren kulturellen Rückschritten?«, fragte Mercedes nach, wartete<br />

aber die Antwort nicht ab: »Tja, Follmann und Seidler sind Vorstandsmitglieder<br />

bei dieser Transtecco. Dieser Follmann ist um die<br />

fünfzig, der Seidler im Pensionsalter...«<br />

»Woher weißt du das?«<br />

»Aus den Registerauszügen der GmbH. Wir haben über die Brüder<br />

schließlich eine Akte.«<br />

Richard schaute unter den Schreibtisch, offenbar vermutete er diese<br />

Akte auf dem Papiermüll.<br />

»Hier«, machte Mercedes und hielt den diesbezüglichen Schnellhefter<br />

hoch. »Ein Rentner und ein angeschlagener Fünfzigjähriger führen in<br />

Zürich eine Operation durch, die ein Geheimdienst nicht hätte besser<br />

machen können. Das passt doch nicht zusammen. Dass dir zwei Mal<br />

diese Porsche-Limousine aufgefallen ist, lässt ja nicht darauf schließen,<br />

dass hier Dilettanten am Werk waren. Im Gegenteil, das Fahrzeug ver-<br />

60


schwand danach von der Bildfläche und tauchte erst wieder in der Tiefgarage<br />

des Hotels auf. Dass du die Wanze in der Lampe entdeckt hast,<br />

war lediglich Glück. Wärst du nicht früher im Restaurant erschienen...«<br />

»Stimmen denn die Geburtsdaten überein?«, fragte Richard.<br />

Mercedes checkte die Meldezettel des Hotels. »Die Geburtsdaten fehlen.<br />

Aber wie du ja vom Kellner bereits in Erfahrung bringen konntest,<br />

waren die Typen zwischen dreißig und vierzig und nicht zwischen<br />

fünfzig und siebzig.«<br />

»Ja, natürlich«, ärgerte sich Richard über die eigene Frage. »Nehmen<br />

wir einmal an, es steckt eine kriminelle Bande, aus welchen Motiven<br />

auch immer, hinter der Aktion. Der Identitätsdiebstahl hätte dann noch<br />

den Nutzeffekt, dass man die Spesen nicht selbst bezahlen müsste...«<br />

Richard schüttelte zweifelnd den Kopf. Mercedes hatte sich an ihren<br />

Arbeitsplatz gesetzt und London kontaktiert.<br />

»Wenn«, so die Frau, »es sich nebenher noch um eine kleine Kreditkartenbetrügerei<br />

handelt, ist die Kartennummer recht neu...«<br />

»Ich wette«, sagte Richard und schlürfte seinen Kaffee, »die Karte<br />

wird seit Monaten verwendet und die Abrechnungen ordentlich ausgeglichen.«<br />

»Ich wette ja nicht«, meinte Mercedes.<br />

Das Büro von Sir Alec hatte einen umständlichen Zugriff auf diesbezügliche<br />

Datenbanken der Zentrale des MI6 in London. Und natürlich<br />

hatte der große Bruder nicht nur die Kopfdaten der meisten Kreditkartenbesitzer,<br />

sondern alle Abrechnungen mit Punkt und Komma. Nur<br />

musste Mercedes mit ihrer verschlüsselten Anfrage über das Büro von<br />

Sir Alec gehen und dies funktionierte entweder schnell und problemlos<br />

oder mit tagelangen Verzögerungen und Rückfragen. Dieses Mal klappte<br />

es schneller als erwartet.<br />

»Bingo!«, rief Mercedes schon nach wenigen Minuten. »... aha... das<br />

Kreditkartenkonto steht mit 74.000 Euro im Plus und das Guthaben<br />

wird derzeit mit 1,4 Prozent verzinst. Karte, nein, die Karten, es sind<br />

insgesamt vier, sind Firmenkarten der Transtecco GmbH. Und jetzt hör’<br />

zu: Jeweils zwei Karten laufen auf die Herren Follmann und Seidler.«<br />

Richard lehnte sich in seinem Bürosessel zurück und faltete die Hände<br />

spitz zum Gebet, während er nachdenklich die beiden Zeigefinger an<br />

seine Nasenspitze tippte. »Und jetzt?«<br />

Mercedes schaute auf die Uhr: »Du betest und ich rufe diesen Follmann<br />

an.«<br />

»Als Kreditkartenmäuschen? Oder als Hotelmaus? Der kennt doch deine<br />

Stimme.«<br />

61


Mercedes griff zum Telefon: »Aber nicht meinen legendären Schweizer<br />

Akzent...«<br />

Richard verzog zweifelnd sein Gesicht: »Moment, ich spiele zumindest<br />

die passenden Hintergrundgeräusche ab.«<br />

Dann schwenkte er zum CD-Player und suchte am Display den entsprechenden<br />

Track. »Meer und Möwen, Büro, Flughafen, Großraumbüro,<br />

Autobahnraststätte, Bahnhof...« Ein Tastendruck und Mercedes<br />

kam sich vor, als würde sie an der Nordsee mit dem Handy die Sturmwarnungen<br />

ansagen. Genervt legte sie den Telefonhörer zurück.<br />

»Scheiß Technik!«, schimpfte der Engländer und drückte eine andere<br />

Taste. Nach weiteren drei Fehlgriffen waren die Hintergrundgeräusche<br />

perfekt. »Vergiss nicht, die Telefonnummer zu unterdrücken.«<br />

»Swissôtel, Zürich, grüezi«, meldete sich Mercedes sehr geschäftsmäßig,<br />

»ich hätte gerne Ihren Herrn Follmann gesprochen.«<br />

Richard verzichtete auf die Muschel der Mithöranlage, er hätte sowieso<br />

kaum etwas verstanden.<br />

»Follmann«, meldete sich dieser nach kurzer Zeit.<br />

»Swissôtel, Zürich, grüezi, Herr Follmann, ich hoffe, Sie hatten einen<br />

angenehmen Flug...«<br />

»Guten Tag«, meldete sich Follmann irritiert, »danke, aber ich bin<br />

nicht geflogen. Wie kommen Sie darauf?«<br />

»Oh, das konnte ich selbstverständlich nicht wissen. Dann haben Sie<br />

die weite Reise von Zürich nach Frankfurt mit dem Wagen gemacht?«<br />

»Was soll das denn? Ich fahre grundsätzlich mit der Bahn. Aber ich<br />

war ja seit Jahren nicht mehr in Zürich. Das muss sich um eine Verwechslung<br />

handeln...«<br />

Mercedes tat irritiert, war auch etwas über das weitere Vorgehen unsicher<br />

und machte zu Richard große Augen, dabei wedelte sie mit dem<br />

Kreditkartenbeleg. Nun schob Isabella ihren Kopf durch die Terrassentür.<br />

Nicht wissend, dass sie so den großen Meister beim blitzschnellen<br />

Entscheiden störte. Der winkte dann auch sofort nervös in deren Richtung,<br />

was Mercedes auch nicht half.<br />

»Einen Augenblick, bitte«, überbrückte Mercedes die Denkpause. Richard<br />

winkte ab, Follmann war natürlich der Falsche. Dann sagte Mercedes<br />

ins Telefon: »Ach, entschuldigen Sie vielmals, das ist ja ein Fehler<br />

meinerseits. Ich hoffe aber, dass wenn Sie oder Ihre Mitarbeiter<br />

wieder einmal in Zürich sind, bei uns absteigen wollen. Auf Wiederhören!«<br />

und legte auf.<br />

62


Mercedes blies die Luft aus den Wangen: Das war knapp. Als Richard<br />

auch verstand, meinte er: »Dann wette ich jetzt, dass dieser Seidler<br />

vollkommen anders reagiert. Los, noch mal das gleiche Theater.«<br />

Mercedes wiederholte ihre Anwahl, nur dass sie dieses Mal den Herrn<br />

Seidler verlangte.<br />

»Seidler«, hörte man eine tiefe und ruhige Stimme.<br />

»Swissôtel, Zürich, grüezi, Herr Seidler, ich hoffe, Sie hatten einen angenehmen<br />

Flug...«<br />

»Guten Tag, was verschafft mir die Ehre?«<br />

»Sie waren von Dienstag zu Mittwoch unser Gast«, flötete Mercedes,<br />

da dieser Seidler sie ja nicht kannte und sie sich deshalb nicht verstellen<br />

musste.<br />

»Ich?«, fragte Seidler verwundert.<br />

»Jawohl«, lächelte die Agentin, »Sie hatten, wenn ich mich nicht irre,<br />

die Suite 104. Vermissen Sie nichts?«<br />

Das war natürlich eine Provokation hart an der Grenze zum Kindergarten,<br />

nach dem Prinzip: Rate mal, was du bei uns liegen gelassen hast?<br />

Das hätte sich eine Angestellte eines Grand Hotels nie erlauben dürfen.<br />

»Was sagen Sie? Zürich?«, rätselte Seidler. »Ja, kann sein. Habe ich<br />

etwas liegen lassen?«<br />

»Richtig«, strahlte Mercedes mit sichtlichem Vergnügen am bösen<br />

Versteckspiel.<br />

»Na, sagen Sie schon«, wurde nun Seidler hörbar nervös und ärgerlich.<br />

»Ja, es ist ein - ich lese vor«, Mercedes machte eine Pause, dann phantasierte<br />

sie: »XF, Bindestrich 24 Strich acht. Irgend so ein technisches<br />

Gerät mit einem kleinen Mikrophon.«<br />

Man meinte zu hören, wie Seidler, gleich einem Stier, wütend durch<br />

die Nase schnaubte. Dann sagte er: »Blödes Zeug, werfen Sie es in den<br />

Müll...«<br />

»Das kann ich doch nicht wissen, Herr Direktor«, tat Mercedes beleidigt.<br />

»Sie können auch nichts dafür, Entschuldigung«, versuchte er, die Angelegenheit<br />

zu beruhigen, »mein Partner.. äh.. bastelt Flugzeugmodelle<br />

und da wird er einen Teil dieser Elektronik vergessen haben. Nichts<br />

wert, gar nichts wert.«<br />

»Oh, solche Fernsteuerungen sind teuer«, widersprach nun Mercedes<br />

in ganzer Liebenswürdigkeit.<br />

»Na, ja«, murrte der Mann von der Transtecco wegschwimmend.<br />

63


»Hatten Sie denn in Zürich einen angenehmen Aufenthalt?«, stocherte<br />

Mercedes weiter und schloss die Prüfungsfrage mit der Feststellung ab:<br />

»Der dauernde Herbstregen ist ja nicht jedermanns Sache.«<br />

Mercedes hob spitz ihren Zeigefinger, man möge nun lauschen, denn<br />

die richtige Antwort wäre gewesen: »Da hatte ich ja Glück, bei mir hat<br />

es keinen Tropfen geregnet« oder so ähnlich.<br />

Aber Seidler sagte: »Regen hat mir noch nie etwas ausgemacht, vielen<br />

Dank.«<br />

Mercedes verabschiedete sich und Seidler wird sich verärgert am hageren<br />

Schädel gekratzt haben.<br />

»Isabella, Schätzchen«, rief Mercedes auf Französisch, »mache uns<br />

bitte noch einen Kaffee.«<br />

»Dann lass uns einmal kombinieren«, resümierte Richard, »Follmann<br />

ist der Sandsack. Er weiß überhaupt nicht, dass mit seiner Identität jemand<br />

anders durch die Welt reist. Dafür bekommt er hin und wieder<br />

aufs Haupt geschlagen. Seidler war auch nicht in Zürich, geschweige<br />

dass er davon unterrichtet war. Aber im Unterschied zu Follmann weiß<br />

er von der Existenz seines Doubles. Läuft die Überprüfung des Autokennzeichens?«<br />

Mercedes bejahte und fragte: »Wenn Seidler die Hintermänner kennt,<br />

ist er damit der Drahtzieher der Operation?«<br />

»Nein, fast sicher nicht. Er wusste doch überhaupt nicht, dass er, also<br />

sein Identitätsvielfaches, in Zürich gewesen war. Einem Drahtzieher<br />

hätte man dies berichtet. Seidler weiß, dass es Doubles von ihm und<br />

diesem Sandsack gibt, aber er kann sie nicht kontrollieren.«<br />

»Hast du die vollständigen Kartenabrechnungen gezogen?«<br />

»Wie könnte ich? Es ist wahrscheinlich nur eine Frage von Stunden,<br />

bis Sir Alec einen ausführlichen Bericht haben will, welche Probleme<br />

uns denn so beschäftigen, ohne dass er im Voraus unterrichtet worden<br />

wäre«, vermutete die Partnerin.<br />

»Wenn man vom Teufel spricht«, sagte Richard und nahm das blinkende<br />

Telefon ab.<br />

»Da Sie offensichtlich noch leben«, kam Sir Alec ohne Umschweife<br />

zur Sache, »bitte ich um einen ausführlichen Spielbericht.«<br />

»Ich habe auch noch ein paar Fragen«, meinte Richard.<br />

»Dann kommen Sie rüber, ich bin heute Abend im Büro«, sagte der<br />

Alte und legte auf.<br />

Das ganze Gespräch war ein Hinweis, dass man sich in einer Stunde<br />

über einen bestimmten Chatroom im Internet austauschen konnte. Natürlich<br />

nicht vom Internetanschluss des Büros, sondern über ein Handy,<br />

64


dessen Nummer von einer Prepaid-Card stammte. Da eine solche Karte<br />

auf den Namen irgendeiner unbeteiligten Hausfrau lief und nur für diesen<br />

einen Chat benutzt wurde, wäre das Abfiltern auf der Datenautobahn<br />

reiner Zufall. Doch sicher, dass eine Kommunikation nicht weggefischt<br />

wurde, war man nur, unterhielt man sich im Flüsterton bei<br />

Windstärke fünf mit vorgehaltener Hand mitten auf einer Wiese. Richard<br />

winkte ab. Und Mercedes, die seine Gedanken wohl erraten hatte,<br />

sagte: »Ich habe doch gar nichts gesagt.«<br />

Am späten Nachmittag hatte man Sir Alec ausführlich über alles berichtet<br />

und den ausgebauten Sender auf den Weg nach London gebracht.<br />

Sir Alec hatte ohne weitere Umstände die letzten drei monatlichen<br />

Kreditkartenabrechnungen der Transtecco übermittelt. Es waren<br />

sogenannte Kartendoppel. Für alle vier Karten zeichnete die GmbH<br />

verantwortlich, waren aber jeweils auf die Namen Follmann bzw. Seidler<br />

ausgestellt.<br />

Bereits bei flüchtigem Abgleich konnte man feststellen, dass Richards<br />

Verdacht begründet war. So hatte z. B. Seidler sich in einem Geschäft<br />

in der Frankfurter Taunusstraße zwei Hemden gekauft und mit der Visa-Karte<br />

bezahlt, während zwanzig Minuten später sein Double in Prag<br />

mit der Mastercard eine Tankrechnung beglich.<br />

Follmanns Zugfahrt, die mit dem tragischen Schwächeanfall endete,<br />

war ebenfalls mit seiner Visa-Karte bezahlt worden und während er im<br />

Krankenhaus lag, bezahlte sein Double mit der Mastercard eine Restaurantrechnung<br />

in Wuppertal.<br />

»Da haben wir uns ja eine Chance vermasselt«, ärgerte sich Richard,<br />

»wenn Seidler sein Double auf den Anruf in Zürich anspricht, werden<br />

die Herrschaften einerseits wissen, dass wir ihnen auf der Spur sind,<br />

andererseits uns die Chance verbauen, weiterhin Bewegungsprofile<br />

erstellen zu können.«<br />

Mercedes kam mit einer Pizza in der Hand und meinte: »Du musst<br />

dich entscheiden...«<br />

»Ich nehme die Pizza Salami.«<br />

»Das habe ich erwartet«, schmunzelte Mercedes, »du musst dich entscheiden,<br />

ob Dilettanten hinter uns her sind oder Profis.«<br />

Richard stand auf und bewegte sich in Richtung Essecke. Isabella hatte<br />

den Tisch gedeckt und brachte nun die eine Pizza für ihn und eine für<br />

sich. Dafür musste sie zwei Mal laufen, weil sie jeden einzelnen Teller<br />

krampfhaft mit zwei Händen festhielt.<br />

»Dilettanten sind das nicht, bezahlen jedoch trotzdem mit der Kreditkarte.<br />

Das machen sie bestimmt nicht arglos. Auch konnten sie sich,<br />

65


nachdem ich ihren Lauschangriff abgewehrt hatte, ausrechnen, dass ich<br />

mehr als ein Bullshit produzierender Unternehmensberater bin und auf<br />

die Melde- und Zahlungsunterlagen des Hotels Zugriff bekommen<br />

würde. Trotzdem bezahlten sie mit der Karte...« Richard machte eine<br />

Pause, dann sagte Mercedes: »Und werden auch weiterhin damit bezahlen,<br />

weil...« »...sie nichts zu befürchten haben«, ergänzte der Hausherr.<br />

»Bon appétit«, lächelte Richard und bewaffnete sich mit dem Besteck.<br />

Auch Isabella hatte sich züchtig gesetzt, lächelte und machte Anstalten,<br />

die Pizza mit den Händen aufzurollen.<br />

»Wohnt sie jetzt hier«, fragte Richard seine Partnerin, die Esssitten des<br />

Mädchens ignorierend, »hast du sie adoptiert oder was ist?«<br />

Mercedes zuckte mit den Schultern: »Schlafen kann sie ja in dem einen<br />

der beiden Gästezimmer...«<br />

»So, so?!«, machte Richard mit vollem Mund.<br />

»Nur dort, mein Held«, stellte Mercedes mit drohendem Unterton klar.<br />

Pause. Richard überlegte. Während der Mensch kaut, ist seine Denkleistung<br />

bekanntlich stark eingeschränkt. Dann glaubte er zu wissen,<br />

was dieser Tonfall transportieren wollte und schwieg für die nächsten<br />

zwei Bissen. Wer die Kommunikation zwischen zwei Raubkatzen einmal<br />

beobachtet hat, wird nachvollziehen können, dass auch denen oftmals<br />

ein leichtes Fletschen der Zähne genügt, um sich tausend Worte<br />

zu ersparen.<br />

»Sie wohnt fürs Erste hier«, stellte nun Mercedes fest, »weil sie bisher<br />

unten am Hafen in einer Absteige für fünfzig Euro die Nacht wohnte<br />

und sich mit feinen Männerbesuchen die Zeit vertreiben sollte.«<br />

»Wir entwickeln uns aber hier nicht zum Auffangbecken für sozial Gestrandete<br />

und ich möchte gefälligst gefragt werden, wenn sich der Gesellschaftszweck<br />

des Unternehmens grundsätzlich ändert«, erklärte Richard,<br />

bevor er sich ein weiteres Stück Pizza einverleibte.<br />

»Du hast mich ja auch nicht gefragt, als du sie angeschleppt hast«, vermied<br />

Mercedes den Streit nicht.<br />

»Ich dachte, es besteht Konsens darüber, dass hier mal jemand putzt.«<br />

Er hob die Papierserviette hoch und beklagte: »Und früher gab es Stoffservietten...«<br />

»Die Stoffservietten sind allesamt schmutzig, weil die alte Putzfrau<br />

immer noch nebenher die Wäsche machte und die anderen Sachen zur<br />

Reinigung brachte, die Pizzen einkaufte und das Katzenfutter und, und,<br />

und...«<br />

66


»Ja, ist ja schon gut«, kapitulierte Richard, der nicht vergessen hatte,<br />

weshalb diese Frau nicht mehr erschien. »Und warum putzt nun das süße<br />

Ding nicht, sondern bräunt sich den Bauchnabel auf unserer Terrasse?«<br />

»Wenn Isabella hier wohnen darf und ordentlich bezahlt wird, wird sie<br />

auch putzen«, überraschte nun Mercedes.<br />

Richard schluckte das letzte Stück Pizza fast ungekaut hinunter. Eine<br />

Antwort und weitere Fragen ersparte er sich, sollten doch diese Weiber<br />

gerade machen, was sie wollten. Mercedes hatte der Kleinen zugezwinkert,<br />

denn jetzt stand diese auf, fiel ihm um den Hals und sagte: »Merci<br />

beaucoup, merci beaucoup!«<br />

»Nichts zu danken«, murrte der Engländer.<br />

Am nächsten Tag kam wenig überraschend die Meldung, dass der Porsche<br />

Cayenne auf eine Transtecco, Residenz Genf, zugelassen war und<br />

nicht, wie Richard zuerst angenommen hatte, dass es sich bei den Nummerschildern<br />

um Dubletten handelte. Diese Herrschaften waren derart<br />

selbstverständlich getarnt, dass es bereits eine Frechheit war. Denn von<br />

einer Tarnung musste ausgegangen werden, da mit der Transtecco<br />

GmbH Palma Management in Wirklichkeit nichts zu tun hatte. Die<br />

Transtecco kam wohl beim letzten Auftrag der Greves AG ins Visier,<br />

doch sie hatten keinen Schaden und wurden noch nicht einmal durchleuchtet.<br />

Ein Handelsgeschäft wie diese Firma stach vielleicht mit unsauberen<br />

Methoden seine Konkurrenten aus, aber beschäftigte keine Agenten. Im<br />

Gegenteil, für schmutzige Geschäfte gab es das Instrument des Outsourcing.<br />

Ginge etwas schief, war nicht der eigene Name im Gespräch,<br />

sondern der der beauftragten Firmen, Agenturen oder kriminellen Typen.<br />

Da sich Follmann nach seinem Krankenhausaufenthalt bei ihnen nicht<br />

mehr gemeldet hatte, gab es auch keinen Grund anzunehmen, dass hier<br />

Abwehrversuche der Transtecco gegen die Palma stattfanden. Im Gegenteil,<br />

Follmann saß artig in seinem Büro und hatte sich einschüchtern<br />

lassen, was wollte man also die Palma Management von Richard und<br />

Mercedes auf sich aufmerksam machen? Das gab alles keinen Sinn.<br />

Mercedes hatte über einen Wirtschaftsjournalisten in Zürich eruieren<br />

lassen, seit wann es die Transtecco-Residenz in Genf bereits gab. »Diese<br />

Herrschaften residieren dort nicht, sondern haben nur einen Briefkasten<br />

in Genf und das bereits seit zehn Jahren«, meinte der Zeitungsmann<br />

herzerfrischend und ergänzte die Information mit dem Zusatz: »Auch<br />

67


wenn Sie es mich nicht gefragt haben: In Barcelona, Wien, Budapest<br />

und Prag gibt es weitere derartige Briefkästen. Die sind epidemiologisch,<br />

das haben Krankheiten so an sich.«<br />

Der Zürcher wusste also anscheinend überhaupt nichts vom Hauptgeschäft<br />

in Frankfurt oder es war ihm klar, dass dieses nur das Sahnehäubchen<br />

auf der ungenießbaren Suppe war und ohne Bedeutung. So<br />

nahmen Mercedes und Richard an, dass irgendwer die Transtecco als<br />

Tarnung benutzte und nicht umgekehrt. Die Transtecco würde keinerlei<br />

schlecht getarnte Operationen durchführen. Ein wesentlicher Unterschied.<br />

Mit dem Sahnehäubchen hatte man es wegen des Auftrages der Greves<br />

vielleicht zu tun. Aber warum einem die darunter befindliche Brühe<br />

Schwierigkeiten machte, blieb ein Rätsel.<br />

Auch Sir Alec, die graue Eminenz in London, hatte dazu nichts zu sagen.<br />

Sogar das Sendemodul war angeblich unbekannt. Was waren das<br />

in London denn für Stümper? Da ritten die Russen, die Mafia oder<br />

sonst wer seit zehn Jahren wie Django durch die Prärie, durch halb Europa<br />

und der britische Geheimdienst wusste weniger als ein Schweizer<br />

Recherchierjournalist im Ruhestand.<br />

Was Richard besonders ärgerte, war, dass sein Bericht dem alten Habicht<br />

nicht ausführlich genug war. Dabei hatte Richard minutiös alles<br />

Wesentliche berichtet. »Sage dem alten Habicht«, schob er die Konfrontation<br />

zu Mercedes ab, »dass, wenn er mehr wissen wolle, er gefälligst<br />

selbst hinfahren soll. Ich wisse die Nummer der Straßenbahn, mit<br />

der ich gefahren bin, nicht mehr. Dieser Pedant, dieser verkalkte!«<br />

Da der offizielle Auftrag der Greves AG lautete, eine Konkurrenzanalyse<br />

über die CincinatTec Tools zu erstellen, wurden mit Kessler und<br />

Rüegg lange Gespräche am Telefon im Klartext geführt. Auch der Auftrag<br />

kam offiziell per Fax und bei der Überweisung der ersten Zahlung<br />

a conto stand bei Verwendungszweck »Konkurrenzanalyse CincinatTec<br />

Tools«. Wer die Mittel und Möglichkeiten hatte abzuhören, hatte also<br />

genug zu lauschen. Die Geschäftsbeziehung zwischen der Greves und<br />

Palma Management war so formal alles andere als konspirativ.<br />

Mercedes übernahm in Folge dann auch die offizielle Auftragserfüllung.<br />

Sie produzierte also den Bullshit, den der Auftraggeber irgendwann<br />

in einem Aktenordner ungelesen abheften würde, weil der Wirtschaftsprüfer<br />

ja eine Unterlage zur Rechtfertigung der Kosten benötigte.<br />

So kam man nicht umhin, die CincinatTec Tools telefonisch zu<br />

kontaktieren, den Vorstand um ein Interview zu bitten, Mitarbeiter auszufragen<br />

usw... Wer mithören wollte, konnte dies und Mercedes führte<br />

68


diese Gespräche in der ihr eigenen Liebenswürdigkeit. Damit setzte sie<br />

manchem männlichen Gesprächspartner den Floh ins Ohr, dass sie<br />

nichts anderes im Sinn hätte, als sich nur von ihm ihre geheimsten<br />

Träume erfüllen zu lassen. Männer sind in dieser Beziehung eben unverbesserlich<br />

empfänglich.<br />

Auch der anfallende Papiermüll wurde so mit vielen diesbezüglichen<br />

Notizen gefüttert. Denn wer versucht, Gespräche abzuhören, fängt in<br />

der Regel auch den Hausmüll ab. Natürlich nehmen Laien an, dass sich<br />

in den riesigen Betonklötzen aller Geheimdienste der Welt Büros befänden,<br />

in denen übergroße Computeranlagen ständig neue Berechnungen<br />

durchführten. Insider hingegen wissen, dass sich das Innenleben<br />

von Geheimdienstzentralen nur unwesentlich von Müllverwertungsanlagen<br />

unterscheidet. Natürlich gibt es Unterschiede. Während Müllverwertungsanlagen<br />

den Müll verbrennen oder recyceln, heften Geheimdienste<br />

den aus fremden Tonnen gesammelten Müll zuerst in Aktenordnern<br />

ab, speichern ihn nach Jahren auf Mikrofilm, um ihn dann unter<br />

Aufsicht zu verbrennen. Denn die von Geheimdiensten gesammelten<br />

Erkenntnisse aus den Mülleimern der Zielpersonen sind sofort top secret.<br />

Isabella staunte dann auch nicht schlecht, als Mercedes mit Filzstift<br />

auf die Innenseite der drei Pizza-Kartons irgendwelche Bemerkungen<br />

schrieb und besonderen Wert darauf legte, dass auf das Papier, mit dem<br />

das Katzenklo gesäubert wurde, zuvor ein paar kryptische Notizen geschrieben<br />

wurden.<br />

*<br />

Diese Welt ist eben eine der schönsten, dachte Richard, als er sich ins<br />

Kaffeehaus Cappuccino setzte, weil er Besuch erwartete.<br />

Das Gebäude war früher das Stadtpalais einer Adelsfamilie. Später<br />

wurde der klassizistische Sandsteinbau zu einem feudalen Kaffeehaus<br />

umgestaltet. Säulen und Bögen gaben das Gepräge. Und in den wenigen<br />

kalten Tagen wärmten dekorative Gasbrenner den weiten und hohen<br />

Raum.<br />

Vom Eingang, der mit pompösen dunkelroten Veloursvorhängen ausgestattet<br />

war, gelangte der Besucher auf die obere Ebene des Cafés.<br />

Von hier ließ sich das Kommen und Gehen zur geschäftigen Calle San<br />

Miguel bestens beobachten. Drei Stufen tiefer befand sich die untere<br />

Ebene. Das gab dem Raum eine zusätzliche Weite und Klasse. Für Richard<br />

von besonderem Interesse war der Ausgang in einen Garten, von<br />

welchem aus ein schmaler Weg in die Kapillaren der Altstadt führte.<br />

69


Nicht offiziell, aber unauffällig begehbar diente dieser wohl eher den<br />

Angestellten des Hauses als den Gästen. Von der oberen Ebene führte<br />

eine offene Treppe in den ersten Stock, wo sich eine Bildergalerie über<br />

mehrere durchgehende Räume ausbreitete. Die meisten Gäste, welche<br />

die Treppe hochstiegen, hatten aber nicht die Galerie, sondern die<br />

Waschräume zum Ziel. Ein idealerer Ort für konspirative Treffs oder<br />

für den Austausch von Botschaften war schlechterdings nicht denkbar.<br />

Richard hatte nun aber nicht vor, Rolf Kessler, den Chefinformatiker<br />

der Greves AG und Sohn des Vorstandsvorsitzenden, in der sanitären<br />

Einrichtung des Kaffeehauses zu empfangen, sondern bestellte sich eine<br />

große Flasche Mineralwasser, einen doppelten Espresso und blieb am<br />

Tisch sitzen.<br />

Mercedes hatte sich den Ford Fiesta der Frau des Hausmeisters ausgeliehen.<br />

Die Gute bekam für diese Zeit im Austausch den 200 SLK von<br />

ihr und hatte dieses ungleiche Tauschgeschäft mit »Jesus, Maria, Muttergottes,<br />

hoffentlich baue ich damit keinen Unfall« quittiert. Das hinderte<br />

die resolute Frau jedoch nicht daran, alles stehen und liegen zu<br />

lassen und mit überhöhter Geschwindigkeit die Calle del Santo Cristo<br />

hochzuheizen, als wäre der Leibhaftige persönlich hinter ihr her.<br />

Die Agentin hatte nämlich keine Lust, ihren Wagen nach Peilsendern<br />

zu checken, um danach mit dem schlechten Gefühl zum Flughafen zu<br />

fahren, dass sie etwas übersehen hätte. Auch für das Aufspüren von<br />

Peilsendern gilt nämlich, frei davon ist ein Fahrzeug sicher nur, wenn<br />

man es auf der Schrottpresse zu einem halben Kubikmeter Schrott zusammenpresst<br />

und diesen Würfel anschließend in einen Hochofen<br />

schiebt und zehn Minuten wartet.<br />

Nach einiger Zeit kam Rolf Kessler alleine den Dienstbotengang zum<br />

edlen Kaffeehaus hinaufgeschlendert. Mercedes hatte ihn unten am<br />

Weg abgesetzt. Verlaufen konnte er sich nun nicht mehr. So betrat Rolf<br />

das alte Palais, schaute sich kurz um und steuerte instinktiv auf Richard<br />

zu. Mercedes hatte ihren Partner anscheinend treffend beschrieben.<br />

»Ganz schöner Umstand«, sagte der Informatiker, nachdem er sich,<br />

ohne Richard die Hand zu schütteln, gesetzt hatte. Auch das war die gute<br />

Schule von Mercedes.<br />

»Sehen Sie das Ganze so, als würde Ihnen ständig ein Rudel Ratten auf<br />

Schritt und Tritt folgen. Wenn Sie spontan die Richtung wechseln,<br />

flüchtet die Meute sofort, um Ihnen im nächsten Moment wieder aufzulauern«,<br />

dozierte Richard.<br />

70


»Nicht jedermanns Sache«, stellte der Informatiker fest, »mein Vater<br />

hat mir nun überhaupt nichts erzählt, sondern hat bereits selbst Verfolgungswahn.«<br />

»Das reden Sie ihm mal schnell wieder aus«, lachte Richard, »ich habe<br />

ihm bereits gesagt, dass er so wie bisher weiter leben und arbeiten solle.<br />

Nur bat ich ihn darum, seinem Sohn nicht abzuverlangen, dass er die<br />

Abmachung mit mir erzählen soll.«<br />

»Welche Abmachung?«, fragte der Diplomingenieur.<br />

»Die, die wir nun treffen werden«, antwortete Richard.<br />

»Na, dann schießen Sie mal los. Ich habe noch nicht einmal Papier dabei,<br />

um mir Notizen zu machen. Mein Gepäck, ja sogar mein Jackett<br />

hat Ihre Geschäftspartnerin konfisziert. Sie bringe die Sachen schon<br />

mal ins Hotel.« Er zog eine entsprechende Visitenkarte aus der Brusttasche<br />

seines Hemds und drehte diese ratlos zwischen den Fingern.<br />

Richard lachte. »Sie brauchen auch kein Papier. Sie müssen sich lediglich<br />

meine Geschichte anhören und diese dann mit Ihrem Fachwissen<br />

für unsere Zwecke umsetzen. Dafür haben Sie heute und morgen den<br />

ganzen Tag Zeit. Denn ich kann nicht Ihren Gastgeber spielen, weil wir<br />

über kurz oder lang von Ratten umzingelt wären.«<br />

Der junge Kessler, er war nun auch schon vierzig, schüttelte sich angewidert.<br />

»Also hören Sie zu. In einem von mir betreuten Unternehmen saß ein<br />

Lohnbuchhalter. Irgendwann fing die Geschäftsleitung an, ihn zu mobben.<br />

Drei Monate ließ er die Gemeinheiten über sich ergehen. Andere<br />

gehen danach zum Psychiater, dieser Buchhalter aber ging zu seinem<br />

Chef und fragte ihn, was er denn bekomme, wenn er freiwillig ginge.<br />

Doch sein Chef lachte ihn nur aus, irgendwann würde er noch Geld<br />

bringen, dass er gehen dürfe. Da kündigte der Mann zum Erstaunen aller<br />

selbst und verzichtete sogar noch auf seinen ihm zustehenden Resturlaub.<br />

Nach einem Jahr, genau an dem Tag, an dem sich sein letzter<br />

Arbeitstag jährte, fielen sämtliche Computer im Unternehmen aus und<br />

die Daten waren gelöscht. Doch in einem ordentlichen Unternehmen<br />

gibt es Backups und zahlreiche Sicherungen, so dass der Schaden nach<br />

einem Tag bereits vergessen war. Bald jedoch erwies sich die Reparatur<br />

als Pyrrhussieg, denn die zurückgespielten Daten waren alle falsch.<br />

Kein einziges der gemachten Backups erwies sich als brauchbar. Die<br />

Fehler waren peripher verteilt. Nicht nur jede zehnte Lohnabrechnung<br />

war falsch, sondern in der Produktion hatten plötzlich die Konstruktionsunterlagen<br />

kleine Fehler mit großen Auswirkungen.«<br />

71


Richard trank einen großen Schluck Wasser. Dann erzählte er weiter:<br />

»Rolf, hören Sie. Man spielte damals ein vollkommen neues Betriebssystem<br />

auf sowie eine neue Netzwerksoftware. Weit über sechs Monate<br />

brauchten die Mitarbeiter, um alles aus den Akten zu rekonstruieren<br />

und wieder einzugeben. Zahlreiche Schutzmaßnahmen wurden getroffen<br />

und unabhängig voneinander arbeiteten zwei Virenscanner. Aber<br />

am zweiten Jahrestag der damaligen Kündigung wiederholte sich das<br />

Desaster. Die nicht Abergläubischen glaubten an Zufall, die Abergläubischen<br />

an einen bösen Geist und die Staatsanwaltschaft lehnte ein Ermittlungsverfahren<br />

gegen den ehemaligen Lohnbuchhalter ab. Scheinbar<br />

zu Recht behauptete sie, dass auf Grund des Softwarewechsels sich<br />

kein weiterer Tatverdacht begründen ließe.<br />

Lieber Herr Kessler, der Mann war kein Diplomingenieur, er hatte<br />

auch nie Informatik studiert. Aber er ist auf diesem Gebiet ein seltenes<br />

Genie. Nur wollte diese Firma nie davon Kenntnis nehmen. Im Gegenteil,<br />

er wurde als ständiger Besserwisser wahrgenommen und gerade<br />

deshalb gemobbt. Ich habe ihn nach zwei Jahren in Ungarn besucht, er<br />

ist quasi ausgewandert und arbeitet heute bei einer Softwarefirma als<br />

Kreativdirektor, wenn ich das laienhaft einmal so beschreiben darf.<br />

Als ich hörte, dass die Prints und die Software bei Ihren Produkten<br />

quasi als siamesische Zwillinge auftauchten, dachte ich sofort an Frank<br />

W., so hieß nämlich der gute Mann.«<br />

»Und? Welche Abwehrmaßnahmen führten letztlich zum Erfolg?«,<br />

fragte Kessler junior.<br />

Richard machte eine resignierende Handbewegung: »Keine, man hat<br />

die gesamte Computeranlage, alle Sicherungsplatten, eben einfach alles<br />

in einen Hochofen geschmissen. Erst dann war Ruhe. Der Gesamtschaden<br />

belief sich auf über 100 Millionen Euro und führte das Unternehmen<br />

an den Rand der Insolvenz.«<br />

Die Bedienung fragte freundlich, ob die Herren noch etwas trinken<br />

wollten. Nach Aufgabe der Bestellung fragte Rolf: »Sie meinen, ich<br />

solle meine eigene Arbeit...?«<br />

Richard legte die Hand auf seinen Arm. »Ich möchte Ihre werte Arbeit<br />

derart vergiften lassen, dass jemand, der Ihre Früchte kopiert, das virtuelle<br />

Gift mitnimmt. Wenn Hardware und Software in derart enger Symbiose<br />

zueinander stehen wie in Ihren Anlagen, müsste sich genau steuern<br />

lassen, was, wann und wo wie falsch läuft. Erste Reaktion beim unbekannten<br />

Gegner: Reset. Zweitens: Softwarebackup und so weiter.<br />

Aber die Kopisten Ihrer Arbeit sollen immer wieder glauben, dass jetzt<br />

der Fehler behoben wäre und doch soll sich das Unheil sukzessive ver-<br />

72


schlimmern. Die Konkurrenz, welche die Greves auf kriminelle Art<br />

ausgestochen hat, soll immer dann Schrott produzieren, wenn sie glauben,<br />

dass jetzt alles bestens läuft.«<br />

Rolf rümpfte die Nase und schüttelte resigniert den Kopf: »Das kann<br />

ich nicht. Was Sie hier wollen, ist eine virtuelle Maschine in der virtuellen<br />

Maschine. Was glauben Sie, warum ich nicht der Creative Director<br />

in einer Softwarefirma bin, sondern der Angestellte meines Vaters?«<br />

Das klang glaubhaft. Richard hatte alles auf diese eine Karte gesetzt<br />

und jetzt baute sich eine schwierige Hürde auf, überwindbar, aber äußerst<br />

aufwändig.<br />

Abrupt wechselte er scheinbar das Thema. »Mit wem koordinieren Sie<br />

Ihre Arbeit?«<br />

Rolf überlegte: »Mit meinem Vater...?«<br />

»Nein, die Arbeit, wer hat zuvorderst Einblick in das, was Sie und Ihre<br />

Angestellten machen, planen, programmieren usw. Ich frage nicht,<br />

wem Sie vertrauen, wer die Strategien entwickelt.«<br />

»Das ist Urs, äh, Urs Flückiger, unser Betriebsleiter. Warum?«<br />

»Mit dem werden auch Probleme besprochen, er hat Einblick, wann<br />

ein Produkt serienreif ist?«, ging Richard auf die Gegenfrage nicht ein.<br />

»Ja, Urs leitet die gesamte Produktion, überwacht die Probeläufe usw.«<br />

Richard überlegte und kratzte sich am Hinterkopf. »Dieser Urs ist Ihr<br />

Freund?«<br />

»Nein, warum nehmen Sie das an? Ich war lediglich mit Flückiger<br />

beim Militär in der gleichen Einheit«, erklärte Rolf.<br />

Richard schwieg und Rolf Kessler nahm an, dass da noch etwas mehr<br />

erklärt werden müsse. »Nach meinem USA-Aufenthalt traf ich Urs<br />

dann in der Firma wieder.«<br />

»Zufällig?«<br />

Rolf zögerte, dann sagte er: »Ja... zufällig.«<br />

»So?« Richard kalkulierte in seine eigenen Überlegungen immer auch<br />

den Zufall ein, hatte also nichts gegen Zufälle. Aber er hatte auch ein<br />

feines Gespür dafür, wenn eine Aussage nicht die volle Wahrheit war.<br />

Da Rolf Kessler nicht so funktionierte, wie er sich dies ausmalte, war er<br />

für ihn plötzlich auch nur Zeuge im Verfahrensprozess. Vom Zeugen<br />

zum Verdächtigen waren in Richards Welt nur wenige Millimeter Luft,<br />

wenn nicht sogar ein fließender Übergang.<br />

Doch Rolf kapitulierte sofort. Bestimmt kein Merkmal, das Falschspieler<br />

und Gewohnheitslügner auszeichnet. »Ja, Urs wurde von Kropf protegiert<br />

und ich von meinem Vater.«<br />

73


Richard hob die Augenbrauen: »Was hatte Kropf, der Rechtsbeistand<br />

des Unternehmens, für ein Interesse, Flückiger in die Greves zu bekommen?«<br />

»Das ist eine alte Geschichte, über die ich nicht reden möchte«, sagte<br />

der junge Kessler kleinlaut.<br />

»Sie werden keine andere Wahl haben«, tat Richard gelassen und beschloss,<br />

in seinem nächsten Leben als Psychoanalytiker zu arbeiten.<br />

Rolf Kessler wurde klar, dass er bereits »A« gesagt hatte und nun nicht<br />

mehr zurückkonnte. So erzählte er, dass er und Flückiger als Offiziersanwärter<br />

bei einem Logistikregiment unter Kropf dienten. »Kropf war<br />

der Kommandant im Grade eines Oberst und Urs hat ihn angehimmelt,<br />

als wäre er ein Vier-Sterne-General. Eines Tages spielte Kropf mit seinen<br />

Männern während eines Manövers Vergewaltigung im Kriegseinsatz.<br />

Obwohl Urs und ich nicht mitmachten, deckte Urs den Kropf, als<br />

das Brigadekommando Untersuchungen anstellte. Den Rest können Sie<br />

sich denken?«<br />

»Kann ich nicht«, meinte Richard trocken.<br />

»Aber das muss unter uns bleiben«, wurde Kessler verschwörerisch.<br />

»Da wurden drei, vier Mädchen von etwa zwanzig Mann in einem<br />

Schuppen nach aller Kunst auf Kropfs Befehl vergewaltigt. Also nicht<br />

echt, müssen Sie wissen, es waren alles speziell für diese Aufgabe bezahlte<br />

Nutten, aber die schreckten auch vor dem zwanzigsten Mann innerhalb<br />

einer Stunde nicht zurück...«<br />

»Das versteht man wohl landläufig unter Kameradenliebe«, warf Richard<br />

ein, »die Damen waren vom Straßenstrich?«<br />

Kessler lachte: »Nicht gerade, die Puffmutter war auch dabei und kassierte<br />

das Geld. Die durfte aber außer Kropf keiner anrühren.«<br />

»Schlagen Sie doch bitte nun den Bogen zur Greves.«<br />

»Das ist schnell erzählt. Ein Zwei-Sterne-General namens Züger war<br />

vor meinem Vater Präsident der Greves AG und zog Kropf als Rechtsbeistand<br />

in das Unternehmen. Als Urs Flückiger sein Studium abgeschlossen<br />

hatte, kam er mit Hilfe von Kropf zur Greves. Als Züger<br />

dann starb, rückte mein Vater nach und Kropf blieb, so auch Urs. Für<br />

meinen Vater gab es offenbar keinen Grund, daran etwas zu ändern. Als<br />

ich von meinem Amerika-Trip zurückkam, fand ich die Konstellation<br />

so vor, wie sie jetzt immer noch ist. Aber Urs genießt keinerlei Privilegien<br />

und soviel ich weiß, hat er auch mit Kropf keinen Kontakt mehr.<br />

Mehr gibt es da nicht zu erzählen, glauben Sie mir.«<br />

»Ich glaube Ihnen«, lächelte Richard, »es steht außer Frage, dass ich<br />

über alles unterrichtet werden muss, was sich in Ihrer Abteilung in Zu-<br />

74


kunft ändert. Eine andere Frage ist, wäre dieser Flückiger in der Lage,<br />

meine oben skizzierten Anforderungen umzusetzen?«<br />

»Nein, auf keinen Fall. In der Greves bin ich in der Programmentwicklung<br />

die Kapazität, was ich mir nicht zutraue, können in der Firma die<br />

anderen auch nicht.«<br />

»Das sagten die Spezialisten, die den Buchhalter feuerten, auch«,<br />

meinte Richard trocken. »Wollen Sie es nicht doch einmal versuchen?«<br />

Rolf winkte nach der Bedienung. »Schauen Sie, einen guten Virus zu<br />

programmieren, ist schon eine hohe Kunst. Sie verlangen von mir aber<br />

das Kreieren einer Emulation. Eine Maschine soll in einer anderen Maschine<br />

selbständig arbeiten. Eliminiert man einen Fehler, registriert die<br />

andere Maschine diesen Fehler, lässt die Fehlerbehebung zu und wartet<br />

bis zu einem gewissen Zeitpunkt, um noch Schlimmeres anzurichten.<br />

Bei der Softwareproduktion gibt es solche Phänomene unabsichtlich.<br />

Man nennt sie Bug. Aber ein fachkundiger Dritter eliminiert einen solchen<br />

Bug, sobald er auftritt, wie ein Kammerjäger die Wanzen. Sie<br />

wünschen eine so programmierte Maschine, welche die Kammerjäger<br />

unerkannt auffrisst.«<br />

Richard nickte selbstzufrieden und sagte zur Bedienung: »Also, ich<br />

trinke nun einen trockenen Weißwein.«<br />

»Welchen denn?«, fragte das Mädchen, ohne Vorschläge zu unterbreiten.<br />

»Den billigsten!«<br />

Rolf hatte kein Wort verstanden, denn die Konversation mit der Bedienung<br />

fand auf Spanisch statt. Aber für billigen Weißwein fehlte ihm der<br />

Humor und so bestellte man noch eine Flasche Mineralwasser.<br />

»Sie haben sehr gut verstanden, was ich möchte«, gratulierte Richard.<br />

»Keine große Kunst zu wissen, wie billiger Weißwein schmeckt«, erwiderte<br />

Kessler und verzog dabei keine Mine.<br />

Als Richard verstand, dass auch Schweizer englischen Humor haben<br />

können, fiel ihm auf, dass direkt nebenan ein einzelner Herr im Begriff<br />

war, sich zu setzen. Auf dem zwischen ihnen stehenden Stuhl hatte er<br />

eine Aktentasche gestellt. Dann verwickelte er die Bedienung in ein<br />

kompliziertes Gespräch über das Kaffeehaus selbst. Er hätte es nicht<br />

gefunden, weil auf dem Stadtplan unten an der Ecke diese Straße nicht<br />

eingezeichnet wäre...<br />

»Ratte?«, fragte Kessler leise.<br />

»Wo denken Sie hin, dieses Kaffeehaus ist sauber«, log Richard laut<br />

und verzog eine Sekunde lang sein Gesicht. Er beschloss, ab sofort nur<br />

noch über das Wetter zu reden. »Zu heiß ist es aber heute nicht?«<br />

75


Kessler verstand sofort und wusste nichts darauf zu sagen. Schade,<br />

dass man sich gerade noch etwas zu trinken bestellt hatte, doch es war<br />

nun nicht mehr zu ändern.<br />

Als die Bedienung kam, bezahlte Richard mit einer stinkenden Wut im<br />

Bauch, die sich sofort auf das Trinkgeld der Unschuldigen auswirkte.<br />

Fast eine Stunde hatte es also gedauert, um Richards Standort ausfindig<br />

zu machen. Offenbar hatte man Zugriff auf die Handynetze. Verloren<br />

sie die Zielperson aus den Augen, musste man lediglich den Quadranten<br />

des Funknetzbetreibers absuchen. Auf keinen Fall wollte Richard<br />

mit Rolf im Schlepptau nun ein Ausweichmanöver starten. Es<br />

würde sein Schatten nur darauf stoßen, dass der Mann an seinem Tisch<br />

interessant sei.<br />

»Na, dann Prost.«<br />

Richard kippte den Weißwein in einem Zug hinunter und schlug seinem<br />

Gesprächspartner burschikos und zu dessen Überraschung auf die<br />

Schulter: »Ich muss jetzt gehen. Dann machen Sie es gut, alter Junge,<br />

vielleicht sieht man sich irgendwann einmal wieder.«<br />

Dann stand er auf und ließ den verdutzten Informatiker einfach sitzen.<br />

Eine halbe Stunde später führte Richard ein in der Verbindungsqualität<br />

miserables Gespräch mit Ungarn von einem öffentlichen Telefon aus.<br />

Frank W. konnte sich an den Engländer noch gut erinnern. Richard hatte<br />

ihn damals lediglich im Geiste überführt und ihn auch nur deshalb<br />

einmal in Ungarn besucht, obwohl der damalige Auftrag längst erfolglos<br />

zu den Akten gelegt wurde. Der Agent hatte eben das Bedürfnis,<br />

dem Mann in die Augen zu schauen, der seinen Auftraggeber und dadurch<br />

auch mittelbar ihn schachmatt gesetzt hatte.<br />

Natürlich gab Frank W. damals nichts zu und Richard insistierte auch<br />

nicht. Es reichte dem Agenten, dass er zur Begrüßung sagen konnte:<br />

»Ich wollte lediglich dem Mann einmal in die Augen schauen, der ein<br />

ganzes Heer von Spezialisten ausgetrickst hat.«<br />

Frank W. hatte nur gelacht. Er war eindeutig eine Inselbegabung und<br />

hatte eine Menge anderer Schwierigkeiten, so dass der britische Geheimdienst<br />

darauf verzichtete, ihn anzuwerben.<br />

Auch jetzt war Frank relativ stark angetrunken. Vielleicht wäre eine<br />

Kommunikation auch nicht mehr möglich gewesen, hätte Richard den<br />

Abstand nicht durch seinen Weißwein ex verringert. Betrunken sind<br />

Gesprächspartner bekanntlich stets nur in Relation zueinander.<br />

»Ich arbeite jetzt zu Hause«, lallte Frank ins Telefon, »tolle Einrichtung,<br />

bekomme das Geld überwiesen und brauche das Haus nicht mehr<br />

zu verlassen.«<br />

76


»Ich kann Sie morgen früh nochmals anrufen«, schlug Richard vor.<br />

»Nein, auf keinen Fall, vor Mittag bin ich nicht ansprechbar und<br />

abends betrunken.«<br />

»Aber den ganzen Tag eine ehrliche Haut«, lachte Richard. Die Idee,<br />

Frank nach Zürich einzuladen, gehörte wohl auch nicht zu den besten in<br />

Richards Leben. So sagte er: »Ein Freund von mir braucht Ihre Hilfe<br />

und ich fürchte, mit ein paar Ratschlägen am Telefon ist es nicht getan.«<br />

»Dann kommen Sie hierher.«<br />

»Ich glaube, das wird nicht helfen. Wir benötigen eine Emulation, einen<br />

Maulwurf, eine Maschine in der Maschine sozusagen«, schrie Richard<br />

durch das Rauschen und Knacken der Verbindung.<br />

»Null Problemo, schreib’ ich Ihnen«, lallte es zurück.<br />

»Das Programm muss mit einer speziellen Hardware korrelieren und<br />

möglichst jeden Reset überstehen.«<br />

Frank W. lachte schallend und Richard befürchtete, dass dieser Zustand<br />

chronisch würde. Dann endlich hörte das Lachen auf und wurde<br />

durch ein Schweigen abgelöst. Dann sagte Frank jammernd: »Ich bin<br />

krank. Hören Sie, ich bin krank und kann am Tag gerade noch zwei bis<br />

drei Stunden arbeiten. Was Sie wollen, dauert Wochen, wenn nicht Jahre...<br />

Nein, ich kann das auch nicht.«<br />

»Ich bezahle Ihnen eine erstklassige Schweizer Privatklinik. In vier<br />

Wochen sind Sie gesundheitlich wieder völlig hergestellt, Frank. Glauben<br />

Sie mir, wir Engländer haben mit Alkohol Erfahrung.«<br />

»Meine Firma stellt mich nicht frei, das können Sie vergessen«, lallte<br />

es leicht aus Ungarn zurück.<br />

»Ich organisiere das mit Ihrer Firma und ich verspreche Ihnen, dass<br />

man Sie mit Freuden ein paar Wochen freistellen wird.«<br />

»Das wollen Sie machen? Aber nichts von meinem Alkoholproblem<br />

erzählen, das wissen die nämlich nicht.«<br />

»Ehrenwort!«, lachte Richard.<br />

»Und wann geht’s los?«<br />

»Morgen Mittag!«<br />

Natürlich hatte Richard den Mund nun sehr voll genommen. Einerseits<br />

war er sich sicher, dass Franks ungarischer Arbeitgeber seinen Manager<br />

eben gerade wegen seiner Alkoholabhängigkeit gerne für eine Entziehungskur<br />

freistellen würde, andererseits brauchte er nun aber auch einen<br />

freien Platz in einer exklusiven Fachklinik sowie einen entsprechenden<br />

Flug.<br />

77


Als der Agent die Straße hinunterblickte, entdeckte er doch tatsächlich<br />

die Ratte aus dem Kaffeehaus, die an einem Friseurgeschäft die Auslagen<br />

betrachtete. Schön, wenn sich eine vage Vermutung vage bestätigt.<br />

Im Büro stolperte Richard zuerst über den Kater, dann über Isabella,<br />

die am Boden kniend die Scheuerleisten abwischte. Richard ersparte<br />

sich das Fluchen und verkniff sich auch eine frauenfeindliche Bemerkung.<br />

Immerhin hatte er eingesehen, dass seine Witze mit Putzfrauen<br />

der Sauberkeit im Büro abträglich waren.<br />

Mercedes war beim Telefonieren und Richard würde sofort das Gleiche<br />

tun. Er wählte die bekannte Zürcher Nummer und der Herr Journalist<br />

meldete sich mit einem: »Guten Tag, Mister Harriott, in letzter Zeit<br />

haben aber die verschiedenen Geheimdienste viel aufzuzeichnen.«<br />

Richard lachte. »Ich benötige morgen einen Platz in einer renommierten<br />

Schweizer Privatklinik, die sich auf Suchtkranke spezialisiert hat<br />

und in der Nähe von Zürich ist.«<br />

»Oh, ist es bei Ihnen jetzt auch schon so weit. Ich bin promovierter<br />

Ökonom und habe keine medizinische Kenntnisse.«<br />

Richard wusste nicht so recht, ob er lachen sollte, verkniff sich jedoch<br />

eine peinliche Klarstellung seiner Anfrage und schwieg.<br />

Dann sagte der Medienschaffende: »Ich werde mein Bestes tun. Alles<br />

Weitere per E-Mail.«<br />

»Ich kaufe zum Dank auch eines Ihrer Bücher«, log Richard.<br />

»Nicht nötig«, sagte der Schweizer, »ich schicke Ihnen eine Rechnung.<br />

Die Autorenhonorare ehemaliger Journalisten sind nicht so üppig.«<br />

Mercedes hatte mit dem Telefonieren aufgehört und sagte jetzt: »Da<br />

freue ich mich aber, mein großer Held, dass du es endlich eingesehen<br />

hast. Die freiwillige Suchttherapie verzeichnet große Erfolge. Ich werde<br />

dich auch einmal besuchen, wenn du wieder nüchtern bist.«<br />

Und Richard atmete tief durch.<br />

78<br />

*<br />

Budapest, am anderen Morgen. Zwei Männer stützten einen Dritten<br />

beim Schreiten durch das GAT, wie die Abkürzung des »General Aviation<br />

Terminal« in Luftfahrtkreisen international abgekürzt lautet. Auf<br />

dem Vorfeld stand eine PIPER PA22/150, Baujahr 1961 und wurde<br />

eben betankt.<br />

Dass die Wachleute am Terminal keine weiteren Fragen gestellt hatten,<br />

lag an Richards fünf einzelnen 100-Euro-Scheinen und so würde die of-


fizielle Luftfahrtgeschichtsschreibung nie erfahren, wer hier von dem<br />

International Airport Budapest mit einem klapprigen Kleinflugzeug das<br />

schöne Land verlassen hatte.<br />

Die einmotorige Maschine gehörte einer Flugschule und war, soweit es<br />

Richard einschätzen konnte, für die Umgebung Budapests und Umland<br />

auch noch flugtauglich. Viele transnationale Flüge hatte sie noch nicht<br />

erlebt, der Pilot - und das war die Schwierigkeit - aber auch nicht. Er<br />

hatte nämlich erst vor einer Woche seinen Flugschein bestanden und<br />

war bis dahin insgesamt gerade einmal zwei Stunden ohne Fluglehrer<br />

unterwegs gewesen.<br />

Das Gespräch, das den jetzt beginnenden Charterflug eingeleitet hatte,<br />

war dann auch folgendes:<br />

»Wir möchten eine Maschine chartern. Geht das bei Ihnen?«<br />

»Grundsätzlich ja. Wo soll’s denn hin gehen?«<br />

»Irgendwie der Donau entlang.«<br />

»Ja, wir haben eine schöne Piper, aber keinen Piloten.«<br />

Da meldete sich ein etwa zwanzigjähriger Mann zu Wort: »Ich kann ja<br />

fliegen!«<br />

»Du?«, zweifelte der Typ von der Flugschule, »bist du denn schon einmal<br />

mit einer vollbesetzten Maschine geflogen?«<br />

Der junge Mann schüttelte resigniert den Kopf.<br />

»Aber ich«, kürzte Richard das Gespräch ab.<br />

»Haben Sie denn einen Flugschein?«<br />

»Grundsätzlich ja, aber eben nicht dabei«, sagte der Engländer die halbe<br />

Wahrheit und verschwieg, dass er seit Jahren keinen Steuerknüppel<br />

mehr in der Hand gehalten hatte.<br />

»Na, dann ist es ja gut. Macht 216 Euro die Stunde.«<br />

Richard hinterlegte eine Kaution von 1.000 Euro und der junge Pilot<br />

freute sich mächtig, seine frisch erworbenen Pilotenkenntnisse endlich<br />

einmal unter Beweis stellen zu können.<br />

Richard hatte Rolf Kessler am Tag zuvor aus seinem Hotel in Palma<br />

abholen lassen, das dieser mühsam und völlig entnervt gefunden hatte,<br />

nachdem er ihn im Kaffeehaus so überraschend sitzen ließ. Den Flug<br />

Mallorca - München, München - Budapest hatten die Männer noch mit<br />

regulären Linienmaschinen absolviert. Warum man jetzt auf eine fliegende<br />

Kiste umsteigen musste, war Rolf unverständlich.<br />

»Sagen Sie nur...«, keuchte er verlegen, als er das heruntergekommene<br />

Kleinflugzeug zu Gesicht bekam.<br />

79


»Ich sage gar nichts. Wir fliegen jetzt erst einmal auf Verdacht los, das<br />

Weitere wird sich finden«, schnaufte Richard, denn der sich in der Mitte<br />

der beiden befindliche Frank W. musste in der Zwischenzeit einem<br />

Sandsack gleich geschleppt werden. Das lag nicht am Alkohol, sondern<br />

an einer offenbar überdosierten Beruhigungsspritze. Gerade seine Person<br />

musste ohne Formalitäten ausgeflogen werden.<br />

Nach dem üblichen Check, den ein Jungpilot noch sorgfältig macht,<br />

meldete er sich bei der Rollkontrolle über Funk zwecks Start via eines<br />

südlich des Flughafens liegenden sog. Pflichtmeldepunktes. Das Procedere<br />

dauerte und erst nach zwanzig Minuten mit laufendem Motor und<br />

dem unnötigen Verheizen des kostbaren Flugbenzins erhielten sie endlich<br />

vom Tower die Starterlaubnis.<br />

An der Halbbahnmarkierung der Startbahn wollte der junge Mann die<br />

Maschine hochziehen und erntete ein aggressives Klingeln der Überziehwarnanlage.<br />

Richard drückte den Steuerknüppel auf seiner Seite<br />

mit der Handfläche nach vorn, fasste mit der linken Hand auf die des<br />

Piloten, um sich zu überzeugen, dass auch Vollgas gegeben wurde. Piloten<br />

geben nämlich mit der Hand Gas und lenken mit den Füßen.<br />

»Ganz ruhig, junger Mann, die Startbahn ist noch lang.«<br />

Mit entlastetem Bugrad raste so das Kleinflugzeug dem Ende der Startbahn<br />

entgegen. Richards Rückenlehne vibrierte. Rolf, der Informatiker,<br />

hatte sich etwas nach vorne gelehnt und zitterte am ganzen Leib. War<br />

es das nun wert gewesen, wird er sich gedacht haben.<br />

Dann - die ersten Querbalken der Startbahnmarkierung zeigten das unwiderrufliche<br />

Ende von Startversuchen an - zog Richard vorsichtig den<br />

Steuerknüppel nach hinten. Leicht wie eine Kellertür bei Windstärke 8<br />

löste sich das überladene Flugzeug vom Teer der Startbahn und<br />

schraubte sich mühselig in die blaugraue Luft der Großstadt.<br />

»Hotel, Echo, Juliett, India, Lima«, meldete sich der blasse Pilot mit<br />

zittriger Stimme mit Erreichen des Pflichtmeldepunktes beim Tower,<br />

»Sierra, one thousand feet, bitte um Verlassen der Frequenz.«<br />

»Besser ist es«, murrte Richard.<br />

Der junge Pilot lächelte verlegen.<br />

Co-Pilot Richard, ohne dessen Hilfe man nun bereits mit Totalschaden<br />

irgendwo auf dem Budapester Flughafen liegen würde, übernahm die<br />

Führung. »Fliegen Sie nun bitte um die Kontrollzone herum, bis wir<br />

nördlich der Stadt die Donau wieder finden und dann immer auf der linken<br />

Seite dem Flüsschen nach.«<br />

Für den jungen Ungarn war dies nichts weiter als ein angenehmer<br />

Rundflug und kein Wölkchen am dunstigen Himmel deutete darauf hin,<br />

80


dass er heute noch das größte Desaster seines jungen Lebens erfahren<br />

durfte. Knappe zwanzig Meilen vor Bratislava, dem ehemaligen Pressburg,<br />

schaltete Richard den Transponder des Flugzeuges aus. Ein<br />

Transponder sendet ständig Kennzeichen und Höhe eines Flugzeuges.<br />

Aber die Luftüberwachung brauchte den unerlaubten Grenzübertritt<br />

nicht auch noch auf dem Radar zu verfolgen.<br />

»Was machen Sie da. Das ist verboten«, meldete sich der Jung-Pilot<br />

eher ängstlich als vorwurfsvoll.<br />

»Tja«, sagte Richard, »es ist auf dieser Welt so vieles verboten. Lassen<br />

Sie mal los, wir müssen etwas tiefer.«<br />

Und während Richard die Maschine in einer leichten Linkskurve nach<br />

unten drückte, gab Rolf den Cheeseburger, den er heute früh zu sich genommen<br />

hatte, einer Tüte zurück. Immerhin hatte sein Zittern aufgehört.<br />

In einer Höhe von dreihundert Fuß über Grund ließen sie die slowakische<br />

Grenze rechts liegen, passierten die österreichische Grenze und<br />

nahmen Kurs auf Wien.<br />

»Damit habe ich meinen Schein verloren«, sagte der Pilot resigniert<br />

und schrie zu Rolf nach hinten: »Sagen Sie ihm, dass das nicht geht.«<br />

Offenbar machte der Schweizer auf ihn einen seriöseren Eindruck.<br />

Doch der winkte schlapp mit der linken Hand ab, während er mit der<br />

rechten seine Tüte festhielt.<br />

Richard kramte derweil in der Kartenablage der Maschine herum und<br />

entfaltete schließlich mehrere Flugkarten.<br />

»Was soll denn das?», fragte der Ungar erschreckt. »Das sollte doch<br />

ein Rundflug um Budapest sein.«<br />

»Wer hat das gesagt?«, wurde Richard rhetorisch. »Ich sagte eindeutig<br />

und unter Zeugen, dass wir die Donau entlang flögen und diese endet<br />

bekanntlich irgendwo im Südwesten Deutschlands.«<br />

»Sind Sie wahnsinnig?«, schrie der Jungpilot wie von Sinnen. »Dafür<br />

hätte man einen Flugplan aufgeben müssen. Wir haben keine Karten<br />

und der Sprit reicht niemals.«<br />

»Ach wo! Wir steuern nun rechts um Wien herum und suchen links danach<br />

die Donau wieder. Verstanden?«<br />

Der Pilot unterbrach: »Ich muss austreten!«<br />

»Ja, aber hören Sie jetzt zu! Wir müssen Wien meiden, das ist sicher<br />

kontrolliertes Gebiet. Dann immer die Donau entlang bis Linz. Dann<br />

süd-westlicher Kurs unter München vorbei, bis links die Alpen kommen.<br />

Die nächste Etappe ist der Bodensee, hinter Lindau über den See<br />

81


über, nach Sankt Gallen. Da landen wir, weil da auch der Sprit alle ist.<br />

Dort können Sie dann in Ruhe Ihr Geschäft machen.«<br />

»Das dauert doch noch vier oder fünf Stunden. Sind Sie wahnsinnig?<br />

Wollen Sie die deutsche Grenze auch noch brechen? Die schießen uns<br />

ab!«<br />

»Es bleibt uns nichts anderes übrig«, sagte Richard und griff wieder<br />

einmal ins Steuer, da die Maschine wie ein nasser Sack in der Luft herumwackelte.<br />

Und das tröstete den Jungpiloten ungemein.<br />

So ließ man die Dinge laufen und bereits nach einer weiteren Stunde<br />

legte sich bei den Flugzeuginsassen die Angst. Dafür stellten sich andere<br />

Nöte ein wie Durst, Hunger und sonstige Bedürfnisse. Richard hatte<br />

mit dem jungen Piloten ausgemacht, ihn alle dreißig Minuten beim<br />

Steuern des Flugzeuges abzulösen. Dieses hatte nämlich keinen Autopiloten<br />

und der junge Mann keine Vorstellung davon, wie qualvoll ein<br />

Flug von mehreren Stunden mit einem Kleinflugzeug sein konnte.<br />

Als sie endlich die Linie München passierten, war über die Hälfte der<br />

Strecke geschafft und Richard bat den aus Ungarn verschleppten, aber<br />

nun wachen Informatiker Frank um sein Handy. Sein eigenes und das<br />

von Rolf blieben vorsorglich ausgeschaltet. Frank sprach kein Wort.<br />

Kalter Schweiß lief ihm das Gesicht hinunter, sein Haar war vollkommen<br />

nass, Lippen und Hände zitterten kontinuierlich.<br />

Richard beugte sich nach hinten: »Keine Angst, bald gibt es eine große<br />

Flasche Doppelkorn.«<br />

Zum Piloten sagte er: »Weiter runter, fliegen Sie in Baumwipfelhöhe<br />

und übersehen Sie die Hochspannungsleitungen nicht. Ich muss mal telefonieren.«<br />

Das wäre natürlich zwecklos gewesen, denn der Lärm in<br />

der Maschine hätte jede sprachliche Kommunikation unterbunden.<br />

Doch eine Kommunikation mit Mercedes war über SMS möglich, wenn<br />

ein Empfang in Bodennähe gewährleistet war.<br />

Aber das klappte auch während einer halben Stunde nicht und es blieb<br />

nichts anderes übrig, als einen privaten, auf einer Landkarte rudimentär<br />

markierten Landeplatz bei Sankt Gallen anzusteuern.<br />

Kurz vor Lindau passierte die Maschine zufällig einen kleinen Flugplatz.<br />

Seine Landebahn lag matt leuchtend zwischen zwei Waldschneisen.<br />

Der rot-weiße Windsack hing im abendlichen Wind in Richtung<br />

Westen. Ein grauer Container war Funkstation, Flughafenrestaurant und<br />

Empfangshalle in einem.<br />

»Hier können wir landen«, freute sich der Ungar. Richard schüttelte<br />

den Kopf: »Die Schweizer haben viel bessere Flughäfen. Mit Restau-<br />

82


ants, Bars und schönen Frauen. Einen Service, kann ich Ihnen sagen.<br />

Warten Sie’s ab.«<br />

Dann sah man Lindau im Abendlicht und bald die beiden steinernen<br />

Löwen des Bodenseehafens. »Jetzt Kurs halten«, redete sich Richard<br />

ein und übernahm das Ruder.<br />

Nach einem Flug von fünf Stunden und genau zweiundzwanzig Minuten<br />

hatte man weit und breit nördlich von Sankt Gallen keinen Landeplatz<br />

entdeckt, wie die Karte versprochen hatte. Dafür ging das Benzin<br />

aus und ohne groß zu stottern blieb der Motor stehen. Stille. Nur das<br />

leise Pfeifen des Fahrtwindes übertönte die Geräusche des eigenen, pochenden<br />

Herzens.<br />

Richard schrie: »Anschnallen, Benzinschalter auf aus, ich übernehme.«<br />

Ungewohnt stark sackte die Maschine ab. Richard hatte zum Kreisen<br />

und Suchen keine Zeit, in 1.000 Fuß Höhe sind die Wege in die Hölle<br />

kurz. »Klappen ausfahren!« Zögernd suchte die Hand des jungen Ungarns<br />

nach dem entsprechenden Schalter. »Los, los, voll raus!«, schrie<br />

Richard. Das Flugzeug bäumte sich kurz auf und verlor dann an Fahrt.<br />

Der Mann, der vor zehn Jahren seine letzte Notlandeübung absolviert<br />

hatte, dessen Pilotenschein abgelaufen, der den Flugzeugtyp nicht<br />

kannte und der nun schmerzend in die untergehende Sonne blickte, hatte<br />

zwei Möglichkeiten: ein gelbes und ein braunes Feld. Es hätte<br />

schlimmer kommen können. Richard richtete sich auf das braune Feld<br />

aus, zog den Hochdecker hart an, sackte wie ein leeres Ölfass die letzten<br />

paar Meter durch und schlug hart auf. Das Fahrwerk brach weg. Die<br />

Maschine kippte zur Seite, die Tragfläche berührte den Ackerboden<br />

und sorgte für eine Drehung des Rumpfs. Eine riesige Erdwolke verhüllte<br />

die Sicht der Flugpioniere. Die Maschine rutschte noch eine vermeintliche<br />

Ewigkeit weiter, kippte erst auf den abgebrochenen Flügelstumpf<br />

und dann wieder in Fluglage zurück. Ein letztes Knacken des<br />

verbogenen Bleches. Irgendwo zwitscherte ein Vogel erschreckt auf<br />

und ganz von Weitem hörte man das Brüllen einer einsamen Kuh.<br />

»Jemand verletzt?«, fragte einer.<br />

»Glauben Sie, Rolf«, fragte Richard und atmete tief durch, »dass Ihr<br />

Herr Vater diesen kleinen Blechschaden auf meiner Spesenrechnung<br />

akzeptieren wird?«<br />

Die Männer kletterten aus dem Flugzeug. Frank schwitzte nicht mehr,<br />

er war vollkommen klar und nüchtern. Der junge ungarische Pilot fing<br />

an zu weinen und setzte sich auf die Schollen des umgepflügten<br />

Ackers. »Wo sind denn nun Ihre tollen Schweizer Weiber, die Bars und<br />

Restaurants? Was haben Sie mit meinem Flugzeug gemacht? Es gehört<br />

83


mir doch nicht. Was haben Sie mit meinem Flugzeug gemacht? Sie<br />

Schwein, Sie...«<br />

Rolf Kessler kniete sich zu dem jungen Ungarn hinunter: »Seien Sie<br />

froh, dass Sie noch leben.« Und zu Richard, der eben versuchte, seinen<br />

1.000-Dollar-Anzug abzuklopfen, rief er hoch: »Danke! Mein Vater<br />

zahlt sicher.« Dann lachte er befreit. Lachen und Weinen liegen in solchen<br />

Situationen eng beieinander.<br />

Bald darauf marschierten ein englischer Unternehmensberater, ein<br />

Schweizer Informatiker, ein deutscher Programmierer und Lohnbuchhalter<br />

sowie ein ungarischer Pilot im Gänsemarsch über Feldwege in<br />

Richtung eines entlegenen Bauernhofs. Und der ungarische Pilot fragte<br />

zum letzten Mal: »Was haben Sie mit meinem Flugzeug gemacht?«<br />

Dann war die Sonne untergegangen und die verlumpten, verschrammten<br />

und unterschiedlich beschmutzten Männer waren froh, dass die<br />

spärliche Beleuchtung des Hofes nicht alle Flecken und Blessuren offenbarte.<br />

Ein Landwirt stand vor seinem Stall und fragte: »Guten Abend! Wo<br />

kommen die Herren denn hergelaufen?«<br />

»Wir hatten einen Motorschaden«, sagte Rolf Kessler geistesgegenwärtig.<br />

»Ja, das ist weniger günstig«, meinte der Mann. »Mein Sohn ist Automechaniker,<br />

vielleicht kann er Ihnen helfen.«<br />

»Danke vielmals«, meinte Rolf und machte ein fragendes Gesicht in<br />

Richtung Richard. Dieser nickte vielsagend und zeigte auf den Traktor<br />

mit angehängtem Mistwagen.<br />

Im ersten Schritt überredete Rolf den Landwirt, ihm für gutes Geld einen<br />

ungenutzten Heuschober zu vermieten. Dem Mann glaubhaft zu<br />

machen, dass hinter dem nächsten Hügel kein Auto stand, sondern ein<br />

Flugzeugwrack auf dem Acker läge, war nicht so einfach. Doch Vater<br />

und Sohn ließen sich schließlich überreden, im Schutze der Dunkelheit<br />

das Flugzeug mit Hammer und Meißel in transportierbare Stücke zu<br />

zerlegen und ohne Aufsehen, im wahrsten Sinne des Wortes, in die<br />

Zwischenablage Heuschober zu schieben.<br />

Versprochen war versprochen und der Bauersmann rief auf Wunsch<br />

von Rolf ein Taxi, das nach einer halben Ewigkeit auch kam.<br />

Richard setzte sich nach vorn und sagte: »Bahnhofstraße!«<br />

»Welche denn?«, fragte der Fahrer genervt.<br />

»In Zürich!«, rettete Rolf Kessler die Situation.<br />

84


*<br />

London im September, leichter Regen. Der Minister hatte Sir Alec<br />

zum Lunch eingeladen. Da die Speise im Ministerium kredenzt werden<br />

sollte, war dies für Sir Alec ein untrügliches Zeichen dafür, dass man<br />

sich auf Seiten des Gastgebers vollkommen sicher sein wollte, dass das<br />

damit verbundene Gespräch nie stattgefunden hätte.<br />

Aber eigentlich war dies nebensächlich, schenkte man der Presse Glauben,<br />

stand der Herr Minister wieder einmal kurz vor dem Rücktritt.<br />

Zum Lunch wurde Sir Alec nur deshalb eingeladen, weil man ihn nicht<br />

vorladen konnte. Würde er noch in einem ordentlichen Dienstverhältnis<br />

stehen, hätte man ihn zum entsprechend zuständigen Ministerialdirigenten<br />

befohlen, nur vielleicht einen Platz angeboten und ihm Anweisungen<br />

erteilt. Sir Alec machte sich darüber keine Illusionen und entsprechend<br />

peinlich war dann auch der obligatorische Smalltalk der beiden<br />

Herren.<br />

Natürlich interessierte es den Herrn Minister nicht, wie es der Frau Gemahlin<br />

gehen würde und ob das Wetter in Cheltenham auch so schlecht<br />

wäre wie in London. »Ja«, sagte er, »wir hatten schon lange keinen<br />

richtigen Sommer mehr und die Herbsttage waren früher auch nicht so<br />

verregnet. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass in diesem Jahr die<br />

Blätter eher fallen als im letzten.«<br />

»Und sie fallen in diesem Jahr auch entschlossener nach unten als früher«,<br />

erwiderte der Sir mit ernster Mine.<br />

»Ja«, nickte der Minister, »die Zeit wird immer schnelllebiger.«<br />

Als die Suppe gegessen und das Hauptgericht aufgetischt, gab der Minister<br />

dem livrierten Kellner ein Zeichen, den Raum zu verlassen. Der<br />

jedoch muss den Kopf geschüttelt haben und blieb starr wie eine Salzsäule<br />

an der Tür stehen. Das war eindeutig und für Sir Alec ein unmissverständliches<br />

Zeichen, dass der Herr Oberkellner und Saaldiener in<br />

Personaleinheit offenbar einen anderen Vorgesetzten haben musste.<br />

Der Herr Minister versuchte, diese Peinlichkeit mit der Bemerkung zu<br />

überbrücken, dass man heute ja so schlecht gutes Personal bekäme.<br />

Und hatte verlegen gelächelt, bis Sir Alec entgegnete, dass der MI6 seines<br />

Wissens keine Personalprobleme hätte. Dann war auch dieses Lächeln<br />

verschwunden.<br />

»Und mit Ihrem eigenen Personal ist alles in Ordnung?«, fragte der<br />

Minister daraufhin fast beiläufig.<br />

Sir Alec lachte herzlich zwischen einem Bissen Kroketten und dem<br />

rücksichtslosen Hinunterwürgen desselben. »Ich habe überhaupt kein<br />

85


Personal.« Am liebsten hätte sich der Sir auf die Schenkel geklopft, einen<br />

Lachkrampf bekommen und sich in die nächste Klinik einweisen<br />

lassen.<br />

»Aber, mein Freund«, amüsierte sich sein Gastgeber, »Sie haben einen<br />

Gärtner in Cheltenham beschäftigt und die reizende Sharon hier in London.<br />

Das weiß ja sogar ich.«<br />

Sir Alec schüttelte den Kopf: »Sell and lease back!«<br />

»Wie bitte?«<br />

»Sowohl der Gärtner als auch meine Sekretärin sind von einer Personalserviceagentur,<br />

an dieser - meines Wissens - das Verteidigungsministerium<br />

sowie das Innenministerium zu gleichen Teilen eine fünfzigprozentige<br />

Minderheitsbeteiligung besitzen.«<br />

Der Minister schnaubte, wurde sichtbar ärgerlich, lächelte trotzdem<br />

und würgte mühsam freundlich hervor: »Sir, wir hatten in meiner<br />

Amtszeit stets ein gutes Verhältnis. Es geht mir auch nicht um Ihren<br />

Gärtner, sondern um Ihren Mann in Zürich, der auf Mallorca herumspioniert.«<br />

Sir Alec ließ sich nicht einschüchtern. Bereits die letzte Bemerkung<br />

dieses Berufsschauspielers von Minister ließ zweifelsfrei darauf schließen,<br />

dass er noch nicht einmal seinen Text richtig auswendig gelernt<br />

hatte. So sagte der Sir wahrheitsgemäß: »Ich haben keinen Mann in Zürich.«<br />

»So kommen wir nicht weiter. Hören Sie«, schimpfte nun der Politiker<br />

und demaskierte sich vollständig, »es ist mir egal, ob das Ihre Männer<br />

sind oder die von einer Detektei. Fakt ist, dass Ihr Mann in Zürich in<br />

eine Angelegenheit von höchstem Interesse für die innere und äußere<br />

Sicherheit dieses Landes verwickelt ist. Und ich den Verdacht habe,<br />

dass Sie hier einen privaten Krieg führen wollen ohne Rücksicht auf<br />

das Wohl der Nation.«<br />

Der Sir kreuzte Messer und Gabel auf dem Teller und tupfte sich mit<br />

der Serviette die Lippen ab. »Mit Verlaub, Herr Minister, sollten Sie im<br />

Laufe des Gespräches zu der Erkenntnis gekommen sein, nicht ausreichend<br />

informiert zu werden, so würde ich dies nach einer entsprechenden,<br />

Ihrerseits vorgetragenen Bitte entschuldigen wollen.«<br />

Nun hörte auch der Minister auf zu speisen, holte einen Aktendeckel<br />

vom Beistelltisch an seiner Seite, schlug diesen auf und offenbarte, dass<br />

darin lediglich ein einziges Foto mit den Maßen 24 x 36 gelagert war.<br />

Wortlos schob er die Aufnahme über den Tisch.<br />

Der Sir blickte nur flüchtig auf das in der Mitte des Tisches liegende<br />

Bild. Er erkannte darauf sofort Richard, der von einem Herrn in Pelzja-<br />

86


cke mit slawischem Gesichtsausdruck freundschaftlich umarmt wurde.<br />

Offenbar war man gerade im Begriff, Brüderschaft zu trinken, obwohl<br />

das Bild selbst solches nicht explizit belegte. In welcher Umgebung die<br />

Aufnahme gemacht wurde, konnte man nicht erkennen.<br />

»Ich glaube«, bestätigte Sir Alec, »dass ich einen der Herren schon<br />

einmal gesehen habe. Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich mich in<br />

dieser Angelegenheit nicht mit Bestimmtheit festlegen möchte.«<br />

»Den rechten oder den linken?«<br />

Sir Alec hob leicht beide Schultern: »Wie gesagt, wenn es der eine<br />

nicht war, muss es der andere gewesen sein.«<br />

»Abräumen!«, schrie der Gastgeber ungehalten und mäßigte sich etwas,<br />

als er seinem Gast erklärte: »Hören Sie, in einer Woche bin ich<br />

hier raus. Feierabend! Dann geht mich das alles nichts mehr an. Wir<br />

müssen aber an einem Strang ziehen, hier im Königreich, in Europa und<br />

weltweit. Das muss ich Ihnen doch nicht erklären.«<br />

»Eben«, bestätigte der Sir und nippte angewidert an dem kredenzten,<br />

süßen und lauwarmen Tafelwein, »Sie sind in einer Woche hier raus,<br />

ich dagegen arbeite, solange es Ihre Majestät die Königin wünscht und<br />

es meine bescheidenen Kräfte zulassen.«<br />

Der Minister lachte, man sah ihm die bedingungslose Kapitulation an:<br />

»Wenn die Öffentlichkeit wüsste, dass Parlament und Regierung der<br />

eigenen Administration wie eine Feder im Wind ausgeliefert sind, das<br />

Volk würde sich auf den Marktplätzen versammeln.«<br />

»Wenn Sie meinen, Herr Minister«, sagte der Sir augenzwinkernd und<br />

stand auf. »Gut, dass wir einmal über alles offen geredet haben.«<br />

*<br />

Palma de Mallorca, zwei Tage später. Mercedes freute sich auf etwas<br />

Ruhe und beschloss, mit Isabella einen Ausflug über die Insel zu machen.<br />

Dazu wurde natürlich das eigene Fahrzeug genommen, denn irgendwelche<br />

Verfolger mussten ja beschäftigt werden.<br />

Richard hatte eine SMS geschrieben, dass er gut gelandet wäre und so<br />

gab es für Mercedes nicht den geringsten Anlass, bei diesem schönen<br />

Wetter Trübsal zu blasen. Natürlich durfte sie nie völlig alle Drähte<br />

kappen. So wurde das Telefon auf das Handy von Isabella umgeleitet,<br />

das sie ihr gekauft hatte und mit einer dieser Hausfrauen-Prepaid-Karten<br />

aus der Kiste bestückt. Da frau auch den Laptop mitnahm, war sie<br />

sich fast sicher, dass dies ein völlig sorgenfreier Tag werden würde.<br />

87


Denn merke: Ist ein Telefon ein einziges Mal abgeschaltet, wird man<br />

von aller Welt gesucht. Und hat man irgendwann einmal eine Unterlage<br />

nicht zur Hand, bricht diese Welt völlig zusammen.<br />

Hat man aber alles dabei, klingelt es nicht, fragt niemand und regnen<br />

lässt es auch keiner. »Auf geht’s«, sagte sie fröhlich zu Isabella.<br />

Die Fahrt war kürzer als geplant, denn unten am Hafen, also etwa 800<br />

Meter die Uferstraße entlang, winkte Patrick, ein Ex-Sergeant der spanischen<br />

Streitmacht und Freund des Hauses. Obwohl Richard stets den<br />

Verdacht äußerte, dass der Seebär bei den Gebirgsjägern diente und<br />

nicht schwimmen könnte, weil es bei der Marine keine Sergeanten gäbe,<br />

betrieb Patrick eine Segelschule und dies mit Erfolg.<br />

»Hallo, schöne Frau«, grüßte er überschwänglich und entdeckte erst<br />

jetzt Isabella. »Wo wollt ihr hin?«, rief er und fuchtelte mit Händen und<br />

Füßen, als würde sein Schiff brennen.<br />

Mercedes stoppte: »Shoppen, du lädst uns ja nicht auf dein Segelschiff<br />

ein.«<br />

»Aber ja, liebe Mercedes, ich habe den ganzen Tag frei. Kein Schüler,<br />

keine Maus und herrliches Wetter. Wo ist Ricardo, dein Bewacher?«<br />

Isabella hatte nichts verstanden und Mercedes übersetzte ihr die Einladung<br />

auf Französisch. »Wollen wir? Einkaufen können wir immer<br />

noch.«<br />

»Keine Bewacher«, rief Mercedes, »wir nehmen dich beim Wort, ich<br />

muss nur irgendwo den Wagen abstellen.«<br />

Alsbald turnten zwei Frauen über die Kaimauer hinüber auf die Santa<br />

Antonia und Patrick spielte galant den gastgebenden Kapitän.<br />

Natürlich war das vor der Directora de Administracion, wie der Seebär<br />

seine junge Frau nannte, nicht geheim zu halten. Die kaffeebraune<br />

Schönheit aus Venezuela hatte eine gute Nase dafür, wer Segelschüler<br />

war und wer nicht.<br />

Magnolia, wie Patrick sie nannte, brauchte jedoch heute überhaupt keinen<br />

entsprechenden Riecher zu haben, der deutsche Segelschüler im<br />

Rentenalter und mit kurzen Hosen stand bereits pünktlich neben ihr und<br />

wartete auf seine erste Segelstunde.<br />

»Termin fällt aus«, schrie der Segelschullehrer zu seinem Schüler und<br />

beeilte sich, das Tau vom Poller zu heben, »wir haben Sturmwarnung,<br />

alle Schiffe müssen hinüber nach Algier aufs Trockendock.«<br />

Was kümmerte es ihn, dass sich die Landratte nun wunderte, dass die<br />

anderen Boote nicht ins Trockendock ausliefen. Der Seebär startete den<br />

Hilfsmotor des gutmütigen Verdrängers und setzte sich vom Landungssteg<br />

des Club de Mar ab.<br />

88


»Ahoi«, machte es, ein Sprung und Magnolia war mit an Bord.<br />

»Was ist denn jetzt los?«<br />

»Für das Trockendock ist die Directora de Administracion zuständig«,<br />

fauchte seine Frau und lächelte Mercedes hämisch an.<br />

So schipperte die Achtzehn-Meter-Kieljacht mit drei Frauen und einem<br />

mürrischen Patrick aus dem Hafen und nahm Kurs auf den Cabo de Figuera.<br />

Als Fachmann war es für den Seebär ein Leichtes, bei ruhiger<br />

See das Schiff alleine zu meistern. Auch heute blieb ihm nichts anderes<br />

übrig, denn die Damen an Bord beherrschten nur das Tretbootfahren.<br />

Das Schiff auf südwestlichem Kurs, freundeten sich Mercedes und Isabella<br />

augenblicklich mit Magnolia an. Natürlich hätten sie sich in einer<br />

anderen Konstellation die Augen ausgekratzt und wären dazu auch zukünftig<br />

jederzeit bereit, doch die kooperativen Kräfte überwogen derzeit.<br />

Man hatte sich aus der Bordbar bedient und plauderte nun auf Französisch<br />

und Spanisch alle möglichen, äußerst anspruchsvollen Dinge, die<br />

für Männer allesamt Banalitäten waren.<br />

Zur gleichen Zeit stieg ein pensionierter Geheimdienstmann an der<br />

Plaza Mayor aus der Jaguarlimousine, die ihn vom Flughafen abgeholt<br />

hatte und betrat das Britische Konsulat. Sir Alec war auf Grund der<br />

Dringlichkeit der anstehenden Probleme davon ausgegangen, dass er<br />

sich in den Botschaftsräumen abhörgeschützt einmal mit Mercedes und<br />

Richard unterhalten könnte. Und selbstverständlich war der Besuch unangemeldet,<br />

dafür war Sir Alecs Terminplanung unumstößlich.<br />

Als man das Büro nicht über den üblichen Kanal erreichen konnte, gab<br />

es wohl bereits Gründe, dies beim kommenden Gespräch kritisch anzumerken,<br />

aber keine, an der eigenen Terminplanung zu zweifeln. Wie ja<br />

auch dem Herrn Minister bereits klar gemacht wurde, fühlte sich Sir<br />

Alec als schützende Hand Ihrer Majestät der Königin. Und kein Engländer<br />

könnte es sich erlauben, den Ruf zu einer, in diesem Falle mittelbaren,<br />

Audienz mit der Königin nicht bedingungslos und sofort Folge<br />

zu leisten.<br />

Als bei Mercedes das Handy klingelte, hatte Sir Alec bereits den dritten<br />

Anwählversuch hinter sich. Auf See funktionieren eben Mobiltelefone<br />

nur dann, wenn die Relaisstationen von Land zufällig einige<br />

Funkwellen über die See tragen. Dementsprechend war die Verständigung<br />

schlecht, als Sir Alec sagte: »Meine Teuerste, ich bedaure außerordentlich,<br />

euch in wichtigen Geschäften stören zu müssen. Es wäre<br />

mir aber eine große Freude, wenn ich euch jetzt in meiner Villa begrüßen<br />

dürfte.«<br />

89


Die Bemerkung mit den wichtigen Geschäften war der Rüffel, seine<br />

»Villa« das Konsulatsgebäude in Palma und das Adverb »jetzt« brauchte<br />

nicht übersetzt zu werden. Mercedes war überrascht. Saß sie doch<br />

seit über einem Jahr in diesem Palma de Mallorca, ohne Urlaub gemacht<br />

zu haben. Sie war jetzt gerade drei Stunden mal irgendwo anders<br />

und schon drohte die Welt zusammenzubrechen. Zudem lag aus London<br />

überhaupt kein Auftrag an, wenn man davon absah, dass der Auftrag<br />

der Greves AG routinemäßig vom Geheimdienst abgeschöpft wurde.<br />

Hatte der »alte Habicht«, wie sich Richard ausdrückte, endlich herausgefunden,<br />

welche Schatten ihnen seit geraumer Zeit folgten, dann<br />

konnte man dies ja auch in anderer Weise übermitteln als mit einem<br />

Überraschungsbesuch.<br />

Mercedes war vor Erregung aufgestanden und schnitt zu den anderen<br />

Frauen eine Grimasse, die denen signalisierte, dass jetzt gerade ein<br />

Mann versuchte, über ihre Freundin zu herrschen. Und die Empörung<br />

war natürlich entsprechend groß.<br />

»Das tut mir ausgesprochen Leid, Sir. Ich schippere hier irgendwo auf<br />

dem Mittelmeer herum, ein Freund hatte uns eingeladen und es ist jetzt<br />

nicht zu ändern«, versuchte Mercedes, freundlich zu klingen.<br />

Pause. Dann hörte sie Sir Alec sagen: »Dann streichen Sie „Villa“ und<br />

sagen Sie mir Ihre Koordinaten.«<br />

Am liebsten hätte Mercedes nun gefragt, was für Koordinaten er denn<br />

meine, aber das hätte sie selbst disqualifiziert. So sagte sie: »Ich gebe<br />

Ihnen den Kapitän. Es ist Patrick, ein Freund des Hauses.«<br />

Mercedes lief auf die kleine Brücke und raunte: »Mein Vater, er wird<br />

uns hier besuchen wollen.«<br />

Patrick konnte sich dies nicht vorstellen, doch nach einem kurzen Telefonat<br />

wusste er, dass der alte Herr Mittel und Möglichkeiten hatte,<br />

auch sein Segelboot einzuholen.<br />

»Hat der ein Schnellboot?«, fragte der Seebär verwundert, »was ist<br />

denn so dringend?«<br />

Mercedes gab Patrick einen Kuss auf die Wange. »Er ist der Stellvertreter<br />

des lieben Gottes. Frage nicht und rede nicht darüber.«<br />

»Ich dachte, nur bei Richard gibt es ständig irgendwelche paramilitärischen<br />

Operationen«, winkte der Kapitän belustigt ab. Er hatte mit Mercedes<br />

und Richard schon manchen Euro verdient, weil sie sein Schiff<br />

oftmals als Besprechungsraum benutzten. Nicht von ungefähr war hinter<br />

der Schiffsbar eine getarnte Tonbandanlage installiert worden und<br />

von Richard bezahlt.<br />

90


Mercedes konnte genau noch fünfzig Minuten mit ihren neuen Freundinnen<br />

tratschen, da wurde die Jacht von einem Schnellboot der spanischen<br />

Küstenwache eingeholt und fuhr längsseits, um den Gentleman<br />

zu übergeben. Äußerst sportlich federte der Sir auf das andere Schiff,<br />

bedankte sich bei den Polizisten und machte einen langen Hals, weil er<br />

wohl erwartete, dass er direkt in die offenen Arme von Mercedes und<br />

Richard fallen durfte.<br />

»Meine Liebe, ich bin ja untröstlich, dass ich Sie hier in der wohlverdienten<br />

Erholungspause stören muss«, log der Alte und umarmte die<br />

Raubkatze. Dann trat er einen halben Schritt zurück, wie das auch<br />

Dompteure im Zirkus tun, um Applaus heischend zu demonstrieren,<br />

schaut her, ich bin unverletzt!<br />

»Wo ist Richard?«<br />

Mercedes zuckte mit den Schultern: »Paps, ich weiß es nicht. Vielleicht<br />

in Zürich!? Vielleicht hat er auch irgendwo außerhalb übernachtet.«<br />

Das »Paps« hatte der Alte verstanden, trotzdem war sein Plan kaputt.<br />

Andere würden aus ihrer Haut fahren, Sir Alec zog an seiner Anzugweste<br />

und für einen kleinen, sehr kleinen Augenblick huschte etwas<br />

Enttäuschung über seine Gesichtszüge. Dann sagte er lächelnd und aufgeräumt:<br />

»Du hast sicher Gäste, stelle mich ihnen vor, damit wir uns<br />

danach ungestört unterhalten können.«<br />

»Das ist Patrick, er hat eine Segelschule und war so freundlich, mich<br />

auf seine Jacht einzuladen. Patrick, mein Herr Vater«, tat Mercedes artig,<br />

wie ihr befohlen. Das mit dem Vater musste durchgezogen werden,<br />

auch wenn es niemand der Anwesenden wirklich glaubte.<br />

Feine Sitten, dachte Patrick, fühlte sich aber über die sofort ausgesprochenen<br />

Komplimente des Sir in Bezug auf Navigation und Standortbestimmung<br />

geschmeichelt.<br />

Die beiden Frauen waren mehr als erstaunt, diesem offenbar mächtigen<br />

Mann so einfach die Hand geben zu können. Zumindest Isabella hatte<br />

stets erlebt, dass, wenn die Polizei kam, ihre Bekanntschaften abgeholt<br />

wurden.<br />

»Lassen Sie sich nicht stören. Doch entschuldigen Sie bitte, dass ich<br />

einen Augenblick mit meiner Tochter alleine sprechen möchte«, klärte<br />

dann Sir Alec die Situation. Das Ganze hatte nicht einmal zehn Minuten<br />

gedauert, doch die so Begrüßten und aus ihrem Umfeld Hinauskomplimentierten<br />

hatten vorübergehend das Gefühl, dass sie einen guten<br />

Freund und Gönner gewonnen hätten. Sir Alec empfand sich als die unangefochtene<br />

Autorität und die dominierende Spinne im Netz, Er spann<br />

91


Fäden, überholte gesponnene und krümmte keiner Fliege in seiner Umgebung<br />

auch nur ein Bein. Vielleicht brauchte er sie eines Tages, um<br />

sie zu verspeisen.<br />

Da die Kajüte mit der Bar nun leer war, weil die Damen auf Deck, öffnete<br />

Sir Alec den Barschrank: »Richard berichtete über eine Tonbandmaschine...<br />

Ja, lassen Sie - ich wollte mich nur versichern, dass das Gerät<br />

abgeschaltet ist.«<br />

Dem blieb nichts verborgen, dachte die Agentin. Andere sitzen in diesem<br />

Alter im Ohrensessel und murmeln: »Hauptstadt von Frankreich<br />

mit fünf Buchstaben? Früher habe ich das noch gewusst.« Aber dieser<br />

Fuchs konnte sich noch an eine Einzelheit aus einem drei Jahre alten<br />

Bericht erinnern.<br />

Sir Alec setzte sich mit einem halb vollen Glas Whisky in der Hand.<br />

Patrick hatte großzügig auf die Selbstbedienung hingewiesen, wohl<br />

wissend, dass von diesen Engländern bisher immer alles großzügig bezahlt<br />

wurde. Und Mercedes schüttelte sich angeekelt über dieses Gesöff,<br />

das sich der Alte nun ohne Eis lauwarm einverleiben würde. Doch<br />

er trank nicht. Er hielt das Glas nur schmückend in seiner Hand. Es<br />

sollte sich als Requisite herausstellen, die man im Theaterstück »Papa<br />

unterhält sich mit Tochter bei einem Drink gemütlich an der Bar« eben<br />

brauchte.<br />

Dann begann unvermittelt eine hochnotpeinliche Befragung über den<br />

Auftrag von Richard, die Greves AG und ihr Umfeld. Nur ein Dummkopf<br />

hätte nicht erkannt, dass jede gegebene Antwort neuerliche Fragen<br />

nach sich zogen, die messerscharf formuliert keinen Spielraum für Unschärfen<br />

ließen. Die beibehaltene Liebenswürdigkeiten, die dauernden<br />

rhetorischen Entschuldigungen beeindruckten Mercedes in keiner Weise.<br />

Leicht bekleidet, ursprünglich in toller Feiertagsstimmung spürte die<br />

Agentin zunehmend Ernüchterung, Beklemmung und Hitze. Sie wusste,<br />

hier fand in einer für Sir Alec offenbar äußerst wichtigen Sache ein<br />

Verhör statt, das Agenten in dieser Welt nur dann erleben, wenn sie der<br />

Kollaboration mit dem Feind verdächtigt werden.<br />

Konnte sie diesen unterschwelligen Verdacht nicht vollständig ausräumen,<br />

so würde der schöne und interessante Job an der Seite von Richard<br />

zerplatzen wie eine Seifenblase. Das könnte sie noch verkraften,<br />

denn sie kam aus wohlhabendem Haus. Doch würden Herren wie dieser<br />

Sir zu der Erkenntnis kommen, dass sie ein doppeltes Spiel spielte, sie<br />

müsste um ihr Leben fürchten. Doppelagenten werden nämlich selten<br />

erschossen. Sie verunglücken mit Autos, stürzen mit Flugzeugen ab<br />

oder befinden sich plötzlich auf Schiffen, die in schwerer See unterge-<br />

92


hen. Auch das wäre nicht so schlimm. Doch man ließe sie noch ein paar<br />

Jahre in dieser Gewissheit leben, dass dort, wo sie hinflüchten würden,<br />

der tödliche Unfall auf sie wartete.<br />

Mercedes stand auf, nahm sich ein Milchglas aus dem Regal und<br />

schenkte es sich ebenfalls mit diesem lauwarmen Whisky viertel voll.<br />

Dieses Gesöff konnte sie nun nicht mehr schütteln.<br />

Die Kajütentür ging auf, Isabella streckte ihren Kopf durch den Spalt,<br />

sagte so etwas wie »Entschuldigung« und zog sich schnellstens wieder<br />

zurück.<br />

»Nein, Sir«, sagte die Agentin nun bestimmt und trank einen kräftigen<br />

Schluck, »keine Erkenntnis aus dem Greves Auftrag, keine Information<br />

wurde zurückgehalten, unterschlagen oder auch nur aus Versehen nicht<br />

an Sie weitergeleitet. Wenn Richard nicht zu erreichen ist, ist das ausschließlich<br />

durch die Tatsache begründet, dass wir seit der Annahme<br />

des Greves Auftrages professionell observiert werden. Auch darüber<br />

wurden Sie, Sir, umfassend in Kenntnis gesetzt...«<br />

»Es gibt, meine Liebe...«<br />

Mercedes spuckte Feuer: »Sie erlauben, dass ich zu Ende spreche, Sir!<br />

Anstatt uns Hinweise zu geben, wie diese Observation von London eingeschätzt<br />

wird oder was wir dagegen unternehmen sollen, werden wir<br />

verdächtigt. Ich darf Ihnen versichern, Sir, dass ich jederzeit bereit bin,<br />

meinen Dienst zu quittieren. Ich würde es auch auf der Stelle tun, wenn<br />

ich jetzt nicht in die Situation gebracht worden wäre, den Verdacht, der<br />

auf uns lastet, auszumerzen.«<br />

Mercedes hatte ausgetrunken, öffnete die Kajütentür und schrie auf<br />

Spanisch: »Patrick, ich möchte zurück. Beeil’ dich, bitte.«<br />

»Sind Sie fertig?«, fragte Sir Alec scharf und stand auf.<br />

»Ja, Sir!«<br />

»Sie dürfen mir glauben, meine Liebe, dass meine Entscheidung, Ihnen<br />

persönlich einige harmlose Fragen zu stellen, nur darauf zurückzuführen<br />

ist, dass ich Sie persönlich sehr schätze. Ich kann Sie nur dazu ermuntern,<br />

mit dem Ausmerzen, wie Sie sich ausdrückten, zu beginnen.«<br />

Sir Alec hatte die Schärfe wieder aus seiner Stimme genommen. Er<br />

klang gewohnt vornehm, höflich und liebenswürdig. Aber was hieße<br />

das schon, wenn man noch nicht einmal wusste, wessen Vergehen man<br />

verdächtigt wurde.<br />

Kaum war er an Deck, fuhr das Schnellboot der Küstenwache wieder<br />

längs und der Sir verabschiedete sich ausgesprochen liebenswert. Nein,<br />

er hatte nicht mehr vor, nun auch noch Richard zu befragen. Mercedes<br />

würde ihn ihm, wenn nötig, ans Messer liefern.<br />

93


»Was ist passiert?«, fragte Isabella mit großen angstvollen Augen. Sie<br />

hatte von all dem nichts verstanden, sie hatte keine Ahnung davon, was<br />

ihre Arbeitgeber taten. Sie wusste nur, dass die beiden sehr wohlhabend<br />

und mächtig sein müssten. Und Mercedes hatte ein gutes Herz. Aber<br />

Isabella hatte ein feines Gespür für Bedrohungen. Eigene Verfolgung,<br />

Unterdrückung und Ausbeutung in ihrem Heimatland, die Flucht und<br />

die lange Zeit in der Illegalität hatten ihre Instinkte geweckt und die<br />

Sinne geschärft.<br />

»Monsieur, sehr besorgt und sehr gefährlich«, analysierte Isabella, als<br />

sie mit Mercedes wieder alleine in ihrem Büroappartement angekommen<br />

waren.<br />

»Das wird so sein«, lächelte ihre Arbeitgeberin nebenbei und kramte in<br />

ihrer Schreibtischschublade. »Wo, mein Schatz, ist denn meine Pistole<br />

geblieben? Aha, hier ist ja das gute Stück.«<br />

Die Frau nahm die 9 mm-Pistole aus dem Schreibtisch. Mercedes versicherte<br />

sich der Fülle des Magazins und lud die halbautomatische Pistole<br />

durch. Zum Glück war die Waffe rostfrei, gut geölt und voll funktionsfähig.<br />

Eine entscheidende Voraussetzung, wenn man sich plötzlich<br />

genötigt sieht, den natürlichen Waffen einer Frau eine der Marke Smith<br />

& Wesson hinzuzufügen. Und auch dafür besaß sie eine gründliche<br />

Ausbildung.<br />

VI<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Karlsbad, Ende September. Pjotr Alexandrowitsch Carlin, der Kunsthistoriker<br />

aus St. Petersburg, war das zweite Mal nach Karlsbad gekommen,<br />

um in dieser Sache den Weltmeister zu treffen. Nicht wegen<br />

der zwölf verschiedenen Quellen warmen und heilenden Wassers, die<br />

Karlsbader Boden verlassen, sondern eher wegen der dreizehnten Quelle,<br />

des Becherovka. Das Geschäft war längst angebahnt, nur der Weltmeister<br />

wollte sich noch ein wenig wichtig machen, auch war er noch<br />

gleichzeitig an einem Betrieb in Karlsbad beteiligt.<br />

Der Becherovka tritt allerdings nicht kostenlos aus dem Boden. Vielmehr<br />

musste die Köstlichkeit erst erfunden werden, was im Jahre 1807<br />

geschah. Seit jener Zeit wird das Rezept für den Kräuterschnaps immer<br />

nur von zwei Geheimnisträgern weitergegeben. Doch man musste<br />

nüchtern bleiben.<br />

94


Pjotr Alexandrowitsch war wieder im Imperial abgestiegen, während<br />

der Weltmeister das Grandhotel Pupp sich ausgewählt hatte. Das Imperial<br />

nahm hinter dem Grandhotel Pupp die zweite Position ein. Russen<br />

besitzen ein ausgeprägtes Sicherheitsgefühl. Sie fühlen sich unter ihresgleichen<br />

und in bewachten Festungen besonders wohl und geborgen.<br />

Zar Nikolaus II bezeichnete sichere russische Grenzen als Grenzen, bei<br />

denen auf beiden Seiten russische Soldaten stehen...<br />

Als der Weltmeister den Russen unter dem pompösen Eingang des<br />

Pupps begrüßte, umarmte man sich nach slawischer Sitte.<br />

»Lass’ uns spazieren gehen«, schlug der Weltmeister vor, »ich habe<br />

uns für acht Uhr einen Tisch reservieren lassen.«<br />

Pjotr Alexandrowitsch blickte auf seine Uhr und zögerte etwas. »Du<br />

weißt, dass ich mich noch mit meinem Bruder verabredet habe, nicht<br />

dass wir ihn verpassen.«<br />

»Keine Angst«, tat der Schweizer ab, »wir laufen hier mal im Bogen,<br />

in einer halben Stunde sind wir wieder da.«<br />

Sie schlenderten die Promenade abwärts bis zur ersten großen Brücke,<br />

wählten dann den Weg an den Trinkhallen entlang bis zum Park mit<br />

Dvoráks Denkmal. Erst dort überquerten sie die Teplá, das warme<br />

Flüsschen, und gingen auf der anderen Seite zurück bis zur Maria-<br />

Magdalena-Kirche.<br />

»Bekommt dein Bruder denn noch seinen Sold oder zahlt der Kreml<br />

seine Kernkrafttechniker auch nicht mehr?«, fragte der Weltmeister.<br />

Der Russe winkte ab. »Ich habe ihm vor ein paar Tagen 5.000 Dollar<br />

überwiesen. Sie bezahlen lächerliches Geld für ihre Wissenschaftler<br />

und auch das nur verspätet oder gar nicht.«<br />

Der Weltmeister lachte: »Wenn das mit dem Kobalt-Ei klappt, Pjotr<br />

Alexandrowitsch, bist du ein gemachter Mann. Wenn ich dich hier in<br />

diesem verdammten Land nicht so dringend brauchen würde, wollte ich<br />

ja meinen, du und deine ganze Verwandtschaft ziehen zu mir nach Zürich.<br />

Ich habe da Beziehungen zu einer Spezialwerkzeugfabrik, die<br />

Greves AG, die könnten so einen Physiker wie deinen Bruder gut brauchen.«<br />

Der Russe vergrub seine Hände noch etwas tiefer in den Manteltaschen:<br />

»Wo denkst du hin, hier kann mir nichts passieren. Es gibt viele<br />

Gelegenheiten, die Schätze auszugraben und ich habe die besten Beziehungen<br />

zum FSB, wie der KGB heute heißt.« Er krümmte sich vor Lachen<br />

über seine eigene Analyse. »Und bald kommt noch eine satte Million<br />

dazu.«<br />

95


Der Weltmeister zog die kühle Abendluft ein, als hätte er Fährte aufgenommen.<br />

»Ja, mein Lieber, Hauptsache, du kannst das Ding beschaffen.«<br />

»Keine Angst, ich lege dir die Bombe...«<br />

Der Weltmeister unterbrach ihn und hielt seinen Arm: »Lass’ doch mal<br />

den Herrn vorbei.«<br />

»Sag’ mal ehrlich«, fragte Pjotr Alexandrowitsch, während er zur Seite<br />

trat, »an wen verkaufst du weiter?«<br />

»Das errätst du nie«, lachte der Schweizer, »mein Abnehmer ist ein<br />

ehemaliger Vier-Sterne-General. Aber heute arbeitet er für die Mafia.«<br />

Schließlich erreichten sie wieder das Hotel. Nirgendwo war der Bruder<br />

von Pjotr Alexandrowitsch zu entdecken und die Geschäftspartner beschlossen,<br />

bereits ihren Tisch einzunehmen.<br />

»Kein Wort zu meinem Bruder«, beschwor der Russe den Schweizer,<br />

während sie Platz nahmen, »noch nicht einmal Irina, meine Frau, darf<br />

von dem Projekt etwas erfahren.«<br />

»Ist ja auch nicht nötig«, sagte der Schweizer, »ich kann dir sagen, alles,<br />

was mit Nukleartechnik und so Ähnlichem zu tun hat, hat mich<br />

schon als Kind interessiert. Der General, der das Ei abnimmt...«<br />

Dann kam der Kellner, machte eine leichte Verbeugung und sagte:<br />

»Kann ich schon mal die Getränke aufnehmen?«<br />

Während die beiden überlegten, was man vorab trinken könnte, ging<br />

der Kellner rückwärts am Platz des Russen vorbei, sagte »Sie entschuldigen<br />

bitte«, lehnte sich nach vorn und griff mit seiner Serviette in den<br />

Lampenschirm der Tischlampe. Ein leichter Dreh und die Glühbirne<br />

hatte ihren Kontakt wieder gefunden und strahlte ihr warmes Licht auf<br />

einen kleinen Teil des gedeckten Tisches. »So ist es besser«, meinte der<br />

Bedienstete und verschwand.<br />

»Ich dachte, der wollte die Getränke aufnehmen«, wunderte sich Friedrich<br />

Meister und schüttelte verständnislos seinen Kopf.<br />

96<br />

*<br />

Zürich, im Regen, zwei Tage später. Ein Tiefdruckgebiet hatte sich<br />

über Ungarn, Österreich, dem südlichen Deutschland und Teilen der<br />

Schweiz breit gemacht. Eine starke Inversionswetterlage mit Nebel,<br />

Hochnebel und Nieselregen machte Flüge nach Sicht zu einem hoffnungslosen<br />

Unterfangen. Hätte Richard noch einen Tag gewartet, er<br />

hätte in Budapest erst gar nicht loszufliegen brauchen, und die einma-


lige Kapazität in Sachen Informatik würde ungenutzt vor sich hin versumpfen.<br />

Nicht, dass Richard vorhatte, den im Heuschober bei Sankt Gallen liegende<br />

Schrotthaufen von Flugzeug nach Budapest zurückzufliegen,<br />

aber er musste endgültig entsorgt werden.<br />

Mühsam versuchte er, mit Flugschule, Versicherung und den restlichen<br />

Beteiligten ein Gentlemans Agreement treffen, wie man für alle Seiten<br />

gut aus der Sache herauskommen könnte.<br />

Insbesondere war Richard daran gelegen, dass dem jungen ungarischen<br />

Piloten keine Nachteile entstehen würden. Die internationalen und nationalen<br />

luftrechtlichen Vorschriften waren eindeutig, die der Zoll- und<br />

Grenzbehörden ebenfalls. Und obwohl nach der Notlandung Kesslers<br />

Sohn Rolf gemeint hätte, sein Vater würde das Flugzeug bezahlen,<br />

stellte der lediglich misstrauische Fragen, bekam diese nur unzureichend<br />

beantwortet und zahlte für das vierzig Jahre alte Flugzeug nichts.<br />

So gab der CEO, dessen Sohn Richard als Lebensretter ansah, den<br />

»Schwarzen Peter« an Richard zurück. Sollte dieser seinen Auftrag zu<br />

seiner vollsten Zufriedenheit erfüllen, würde er dieser Flugschule eventuell<br />

ein gleichwertiges, gebrauchtes Flugzeug kaufen. Wäre der Auftrag<br />

jedoch nicht vollständig erfüllt, könne Richard das Flugzeug gerade<br />

selbst bezahlen.<br />

Der Versicherer hatte es sich in dieser Hinsicht einfach gemacht. Er<br />

kündigte an, nicht bezahlen zu wollen, wenn keine offizielle Flugunfalluntersuchung<br />

stattfände. Und fände eine solche statt, bezahlte er nur,<br />

wenn der Unfall nicht grob fahrlässig herbeigeführt worden sei. Im<br />

Klartext, die Versicherung zahlte auf keinen Fall.<br />

Auf Grund der von Mercedes gemachten Andeutungen empfand es der<br />

grobfahrlässige Pilot Richard als überflüssig, Sir Alec nach einem<br />

Überschuss aus seiner »Portokasse« zu fragen, der alte Habicht würde<br />

sich um seine privat verursachten Kosten einen Teufel scheren.<br />

So konnte Richard überschlägig kalkulieren, dass der Auftrag der Greves<br />

AG noch ein paar Tausender kosten würde, anstatt Geld zu bringen,<br />

wenn er keinen Erfolg hätte. Und dass die Gewitterwolken, die sich<br />

über ihm und Sir Alec zusammenbrauten nur dann verzogen, wenn er<br />

und Mercedes die unsinnigen Nachstellungen und Observationen entlarven<br />

könnten. Denn in ihnen war offensichtlich der Grund aller Probleme<br />

zu finden.<br />

Richard hatte den ungarischen Piloten allein in der Suite des Swissôtel<br />

wohnen lassen. Er selbst hatte sich bei einer alten Dame in einem möblierten<br />

Zimmer unter dem Namen Peter Müller einquartiert und teilte<br />

97


sich mit ihr und einem anderen Untermieter die sanitären Anlagen quer<br />

über den Flur.<br />

Wenn man lange im Geschäft ist, kennt man natürlich in allen Teilen<br />

der Welt irgendwelche Leute. Sein schönes, aber offensichtlich verräterisches<br />

Handy hatte Richard einem befreundeten Frankfurter Taxifahrer<br />

geschickt. Der Langzeitstudent und Taxifahrer hatte ihm versprochen,<br />

das Gerät immer wieder einmal zehn Minuten in Betrieb zu nehmen.<br />

Einerseits, um die entsprechenden SMS-Nachrichten abzulesen und an<br />

ihn weiterzureichen, andererseits, dass die Herrschaften, die ihn observierten,<br />

ihre vermeintliche Zielperson immer wieder einmal auf ihrem<br />

Observationsradar entdecken konnten. Irgendwer fertigte also wahrscheinlich<br />

gerade ein Bewegungsprofil an und versuchte zu analysieren,<br />

warum Richard sich kreuz und quer durch Frankfurt bewegte.<br />

Natürlich bezahlte Richard seine Rechnungen derzeit in bar, denn er<br />

musste davon ausgehen, dass die Gegenseite auch Zugriff zu den Kartenabrechnungen<br />

hatte.<br />

Der Agent war endlich unbeobachtet, unerreichbar, nicht zu orten und<br />

machte sich erst einmal daran, die Spuren der eigenen Notlandung zu<br />

verwischen. So bekam der Landwirt in dem Dorf nördlich Sankt Gallen<br />

von dem Engländer erneut Besuch, wo er sich vergewisserte, dass der<br />

Schrott vor unbefugten Blicken geschützt eine vorläufige Bleibe gefunden<br />

hatte.<br />

Nach dem dritten Telefonat und einer A-conto-Überweisung von einigen<br />

Tausendern war auch der ungarische Fluglehrer davon zu überzeugen,<br />

dass der Schaden in den nächsten Wochen irgendwie geregelt<br />

würde.<br />

Der ungarische Jungpilot wurde auf Richards Kosten neu eingekleidet.<br />

Nach drei Tagen war ihm das ebenfalls zur Verfügung gestellte Taschengeld<br />

ausgegangen und er fuhr mit der Bahn zurück nach Budapest.<br />

Zu fremden Piloten hatte er erst einmal das Vertrauen verloren.<br />

Endlich den Rücken frei, fuhr der Agent in die Privatklinik für Suchtkrankheiten.<br />

Noch in der Unglücksnacht hatte er das Taxi zu dieser Klinik<br />

gelotst. Nachdem er dem Programmierer Frank W. versichert hatte,<br />

dass Neuankömmlinge in diesen Privatkliniken mit einem guten Essen<br />

und einer guten Flasche Wein empfangen würden und dass auf dem<br />

Zimmer eine Minibar stände, hatte sich der aus Ungarn Verschleppte<br />

noch recht gutgelaunt und froher Dinge verabschiedet. Dann war das<br />

über drei Meter hohe, blaue Stahlgittertor hinter ihm ins Schloss gerollt<br />

und der Chefarzt selbst hatte den Neuankömmling gleich noch am Tor<br />

per Handschlag begrüßt.<br />

98


Als Richard das Foyer der Klinik betrat, fragte die Schwester hinter<br />

der halbrunden Rezeption, ob sein Gepäck noch nachgereicht würde.<br />

»Moment«, empörte sich Richard, »ich bin hier nicht in Behandlung.«<br />

»Haben Sie eine Überweisung?«<br />

»Ich bin überhaupt nicht in Behandlung«, schimpfte nun der Engländer,<br />

»ich bin kein Alkoholiker.«<br />

»Das sagen sie alle«, murrte die Schwester auf Deutsch und sagte auf<br />

Englisch: »Wen möchten Sie denn besuchen?«<br />

»Prof. Dr. Jürgen Obersdorf.«<br />

»Das ist aber kein Patient«, meinte nun die Schwester und lächelte<br />

schelmisch.<br />

Darauf Richard: »Das sagen sie alle!«<br />

Der Professor hatte wohl nicht die geringste Lust, den unangemeldeten<br />

Besucher zu empfangen, denn er ließ ausrichten, dass er gar nicht im<br />

Haus sei. Aber den Patienten könne Richard in Begleitung eines Pflegers<br />

gerne jederzeit besuchen.<br />

Mehr war ja fürs Erste auch nicht nötig und der Pfleger würde beim<br />

anschließenden konspirativen Gespräch ja nicht dabei sitzen wollen,<br />

tröstete sich Richard.<br />

Der Pfleger war früher vielleicht Gefängnisaufseher, zumindest hätte<br />

man ihn dafür gehalten, hätte er nicht eine weiße Hose und ein weißes<br />

Poloshirt getragen.<br />

»Normalerweise sind Besuche in den ersten zwei Wochen überhaupt<br />

nicht erlaubt«, sagte der etwa dreißigjährige Muskelprotz, »aber kommen<br />

Sie mit.«<br />

Richard war bewusst ohne Rolf Kessler gekommen, denn er wollte<br />

Frank vorab instruieren, weil bestimmte Operationen auch Kessler nicht<br />

zur Kenntnis gebracht werden durften. Die Unterlagen der Greves AG<br />

hatte Richard dabei und so konnte Frank sofort mit seiner Arbeit beginnen.<br />

Sie waren am Krankenzimmer angekommen, der Pfleger schloss die<br />

Tür auf und brüllte: »Herr Frank, Besuch für Sie.« Zu Richard sagte er:<br />

»Es ist das Bett am Fenster.«<br />

Richard erkannte an der Seitenwand eine Sichtscheibe, hinter der das<br />

Pflegepersonal die drei Patienten im Raum überwachte.<br />

Frank lag im karierten Nachthemd in einem schmucklosen Krankenbett,<br />

bei dem seitlich, wie bei einem Kinderbettchen, ein Gitter hochge-<br />

99


zogen war. Der Patient erhielt eine Dauerinfusion und war mit allen<br />

möglichen Drähten verkabelt.<br />

»Was hat man denn mit Ihnen gemacht?«, empörte sich Richard. Frank<br />

W. öffnete halb seine Augen und murmelte etwas Unverständliches.<br />

Der Pfleger stand immer noch an der Tür. Offenbar hatte er geahnt,<br />

dass sich der englische Besucher mit seinem Aktenkoffer den Krankenbesuch<br />

etwas anders vorgestellt hatte.<br />

»Er war doch vor zwei Tagen noch topfit. Wir machten noch Witze.<br />

Was ist denn passiert?« Richard war wohl weder Professor noch Alkoholiker,<br />

erkannte aber selbst, dass mit seinem Patienten heute und morgen,<br />

wenn überhaupt jemals ein Gespräch zu führen war, geschweige<br />

denn, dass man etwas arbeiten konnte.<br />

Im Nachbarbett röchelte es, dann fing der Patient an zu zucken, dann<br />

zu krampfen, schließlich bäumte er sich in seinem Bett auf, um danach<br />

ermattet wie leblos zurückzufallen.<br />

»Alkoholepilepsie«, sagte der Pfleger lakonisch, »Ihr Freund hatte bisher<br />

keinen Anfall, kann aber noch kommen, der ist ja noch frisch.«<br />

Richard hätte seinem verschleppten Ungarn am liebsten rechts und<br />

links eine Ohrfeige gegeben, hatte aber Bedenken, dass das graue und<br />

eingefallene Gesicht die Schläge aushalten würde.<br />

»Wann kann man denn mit dem wieder etwas anfangen?« Richard<br />

ging auf den Pfleger zu, der sich nicht von der Tür bewegt hatte und<br />

jetzt rätselte: »Vierzehn Tage? Vier Wochen? Vielleicht nie mehr?«<br />

»Warum, was hat er denn?«<br />

»Eine Alkoholpsychose, besser bekannt als Delirium tremens«, meinte<br />

das Schwergewicht, »im besten Fall endet es in einem längeren Tiefschlaf,<br />

es kann aber auch zum Tode führen. Aber ich denke, wir haben’s<br />

hier im Griff. Wir haben ihn jetzt sediert. Das bedeutet noch lange<br />

nicht, dass er wieder vollkommen hergestellt werden kann...«<br />

»Was heißt das denn?«<br />

Sie hatten das Krankenzimmer, das eine Wachstation war, verlassen<br />

und gingen den angenehm dekorierten Flur wieder zurück.<br />

»Was das heißt, können Sie sich aussuchen. Kennen Sie ihn gut? Es<br />

kann sein, dass er sich nur noch schwach an Sie erinnert. Ist aber auch<br />

möglich, dass er noch Jahre danach Halluzinationen hat oder vollkommen<br />

dement ist. Wer weiß das schon. In der Regel kommen sie hier etwas<br />

blöder raus als rein und nach dem dritten Rückfall sind sie auf dem<br />

Bewusstseinsstand eines Dreijährigen.«<br />

100


»Das kann doch gar nicht sein. Auf den Brandyflaschen stehen überhaupt<br />

keine Warnhinweise wie auf den Zigarettenpackungen«, empörte<br />

sich der Engländer.<br />

»Tja«, lächelte der bullige Pfleger gequält, »vom Rauchen ist noch keiner<br />

verblödet. Aber man hat Gefallen daran, von den eigentlichen Problemen<br />

in der Gesellschaft abzulenken. Es sind eben immer die Geister,<br />

die man ruft.«<br />

Er hatte Richard die ganze Zeit über die Tür zur Station offen gehalten.<br />

Über den Schlüssel an seiner Kette blieb er mit dieser verbunden: »Sie<br />

kommen selbst wieder raus?«<br />

»Gott sei Dank!«, meinte Richard und eilte davon.<br />

Wenn man einen umbringen wollte, hatte Richard immer gepredigt,<br />

dann macht man das im Krankenhaus. Je größer das Haus, umso lausiger<br />

die Sicherheit. Alle liefen oder schlurften anonym aneinander vorbei<br />

und die Vielfalt der Tötungsarten wäre riesig: Armaturen abschalten,<br />

Tabletten austauschen, Schläuche durchschneiden... und die Schere<br />

läge auf dem Tablett...<br />

Diese Klinik war ein Hochsicherheitstrakt und umbringen konnte man<br />

die Leute, indem man sie zum Suff verführte. Vielleicht waren sie nicht<br />

ganz tot, aber derart verblödet, dass sie keine weitere Gefahr mehr darstellten.<br />

*<br />

Mallorca, nach dem gestörten Segeltörn. Wären ihre vermuteten Widersacher<br />

im Krankenhaus zu finden gewesen, Mercedes hätte ihre Pistole<br />

wieder in die Schreibtischschublade zurückgelegt. Die Kommunikation<br />

zwischen ihr und Richard war unterbrochen, dafür funktionierte<br />

die zwischen ihr und Isabella immer besser.<br />

»Hör zu, mein Liebes«, sagte die Agentin, während sie sich ihre Haare<br />

nach hinten zusammenband, »du musst jetzt stark sein. Du kannst ja<br />

Auto fahren. Dann höre jetzt genau zu...«<br />

Eine Stunde später sahen zwei Männer Mercedes mit einem khakifarbenen<br />

Overall bekleidet in ihrem offenen Sportcoupé aus der Tiefgarage<br />

fahren.<br />

»Madame scheint es eilig zu haben«, murrte der Beifahrer und griff<br />

nach dem Sicherheitsgurt. Der andere Mann startete den weißen Lieferwagen,<br />

der von außen den Anschein erweckte, er wäre ein überbrei-<br />

101


tes Kühlfahrzeug, doch das Kühlaggregatgehäuse auf der Fahrerkabine<br />

war mit hochempfindlichen Kameras bestückt.<br />

Der 200 SLK bog nach links in Richtung des neuen Kongresszentrums,<br />

fuhr die Avenida Gabriel Roca, dem Herzstück zwischen dem<br />

historischen Stadtteil und den modernen, für den Tourismus gebauten<br />

Quartieren entlang, kam zu den rechts liegenden Hafenrestaurants und<br />

hielt vor einem Restaurant in zweiter Spur.<br />

Sich rechts und links umschauend, rannte die Fahrerin in das Restaurant.<br />

Der Lieferwagen war vorbeigefahren und parkte vor der nächsten<br />

Kreuzung am rechten Straßenrand.<br />

»Was macht sie?«, fragte der Fahrer seinen Kollegen.<br />

»Die wird sich eine Pizza holen«, murrte der andere und stellte das Teleobjektiv<br />

der laufenden Kamera scharf, »durch die Mauern können wir<br />

noch nicht schauen.«<br />

Bereits nach kurzer Zeit rannte die Zielperson mit einem Stoffbeutel<br />

unterm Arm zu ihrem Wagen zurück, sprang, hielt sich im Sprung mit<br />

der rechten Hand am Holm der Frontscheibe fest und hechtete sich fast<br />

perfekt auf ihren Fahrersitz hinüber.<br />

»Hast du das gesehen? Los, gib Gas, die hat es eilig.«<br />

Der Lieferwagen wurde gestartet und alsbald von der Zielperson überholt.<br />

Mit quietschenden Reifen raste die Frau an den kilometerlangen<br />

Hafenanlagen vorbei und ignorierte sämtliche Geschwindigkeitsbegrenzungen.<br />

»Gib Gas, die will uns abhängen. Die hat in diesem Restaurant etwas<br />

abgeholt und nun möchte sie nicht, dass wir die Übergabe mitbekommen.«<br />

Obwohl das Fahrzeug der Männer für einen Lieferwagen stark motorisiert<br />

war, hatte man Defizite in der Beschleunigung hinter dem 200<br />

SLK vor ihnen. Irgendwann war der Wagen der Frau nur noch ein glitzernder<br />

Punkt am Ende des Horizonts der schnurgeraden Straße. Trotz<br />

der herbstlichen Jahreszeit stand die Sonne immer noch sehr hoch am<br />

Himmel und ließ die Luft auf der schwach befahrenen Ausfallstraße<br />

flirren. Tempo 160 forderte von dem Fahrer des Observationsfahrzeuges<br />

höchste Aufmerksamkeit.<br />

Nach einigen Minuten kam ihnen auf der gegenüberliegenden Fahrbahn<br />

ein Fahrzeug entgegen. Erst im letzten Augenblick erkannten die<br />

Männer, dass sie eben an dem aus den Augen verlorenen Zielfahrzeug<br />

vorbeigefahren waren.<br />

Bremsen, Wenden und wieder Gas geben war eins, was dazu führte,<br />

dass das hohe Fahrzeug beinahe umgekippt wäre.<br />

102


Rechter Hand fuhr man jetzt an den sich fast endlos ziehenden Lagerhallen<br />

des erweiterten Jachthafens wieder zurück. Der zu verfolgende<br />

Wagen hatte es nun plötzlich nicht mehr eilig, die Männer erkannten<br />

die Bremslichter, dann einen leichten Linksschwenk des Fahrzeugs, um<br />

danach im rechten Winkel den Bürgersteig hochzufahren, diesen zu<br />

überqueren und scheinbar in der Wand einer der Hallen zu verschwinden.<br />

»Hast du das gesehen?«<br />

»Ich bin doch nicht blind. Da vorne muss eine Baulücke sein, die Hallentore<br />

gehen alle von der Hafenstraße weg.«<br />

»Das ist doch die Hafenstraße«, widersprach der andere.<br />

»Ja, dann ist eben die hinter den Hallen liegende Straße die Uferstraße.<br />

Ist doch egal!«<br />

Sie hatten die Stelle erreicht, an der der Sportwagen über den Bürgersteig<br />

gefahren und sich durch eine schmale Lücke zwischen zwei<br />

Hallen durchgezwängt haben musste. Denn eines war sicher, einen Lieferwagen<br />

müsste man falten, um ihn durch die Lücke zu bringen.<br />

»Die ist weg«, resümierte der Beifahrer.<br />

»Bloody Vamp!«, fluchte sein Kollege und gab Gas. Ganz vorne, so<br />

erinnerte er sich, befand sich ein graues Pförtnerhaus und eine Schranke<br />

sperrte die Hafenzufahrt.<br />

Als man endlich diesen Wendepunkt erreichte, stellte man erleichtert<br />

fest, dass das Pförtnerhaus nicht besetzt war und die Schranke offen<br />

stand. Die Fahrt ging über zwei Eisenbahnschienen und dann nach<br />

rechts. Wie vermutet befand sich zwischen Kaimauer und Hallen eine<br />

Zufahrtstraße, die sich ohne Bürgersteig schnurstracks ebenfalls bis<br />

zum Horizont zog.<br />

»Fahr’ langsam«, riet der Beifahrer, »wenn sie davongebraust ist, holen<br />

wir sie nie wieder ein. Aber vielleicht stellte sie hier irgendwo in einer<br />

der Hallen ihr Auto ab.« Vereinzelt waren am Kai Motorjachten<br />

festgemacht. Personen, die sich um diese Jahreszeit dort noch aufhielten,<br />

waren meist Hafenarbeiter. Die Jachten sollten winterfest gemacht<br />

werden, ihre Besitzer würden sich erst im Frühjahr wieder darum kümmern<br />

wollen. Man hatte Zeit, viel Zeit. Und so standen die spitzbögigen<br />

Lagerhallentore weit offen, gaben Einblick auf allerlei Gerät, ausgediente,<br />

aber nicht verschrottete Gegenstände, Kisten, Ballen und Autoreifen.<br />

Doch weit und breit war niemand zu sehen.<br />

Was die Männer nicht wussten, war, dass das Hase-und-Igel-Spiel nur<br />

dann funktioniert, wenn der Igel nicht flüchtet, sondern an einer Stelle<br />

wieder verkündet: »Bin schon da!«<br />

103


Diesen Gefallen tat Mercedes ihren Verfolgern nicht, aber der halb in<br />

einer Halle eingestellte Wagen nahe der informellen Baulückenauffahrt<br />

signalisierte, dass Frau Igel nicht weit sein könnte. Der Beifahrer<br />

schmiss seine Zigarette aus dem offenen Fenster und schloss es. »Langsam<br />

vorbeifahren!«<br />

Nirgendwo war jemand zu sehen. Mit laufender Kamera passierte man<br />

das Fahrzeug und fuhr an ihm vorbei. Nach etwa dreißig Metern schrie<br />

der Beifahrer aufgeregt: »Stopp! Halt an!«<br />

Im rechten Rückspiegel hatte er eine Person am Fahrzeug ausgemacht.<br />

»Was ist denn jetzt schon wieder?«<br />

»Da liegt jemand auf der Straße.«<br />

»Wo?«<br />

»Na, längs der Fahrertür.«<br />

Sie hielten an und stiegen aus. Mit gezogenen Waffen näherten sie sich<br />

der leblosen Gestalt. Tatsächlich, längs des Fahrzeugs lag unnatürlich<br />

verkrümmt ein junges Mädchen mit dem Gesicht zum Boden. Ihr kurzer,<br />

tigerfellgemusterter Rock hatte sich hochgeschlagen, ihre weiße<br />

Bluse war nass, ihre schwarzen Haare mit Blut verklebt und um ihren<br />

Kopf hatte sich eine im Radius etwa fünfzig Zentimeter große Blutlache<br />

gebildet.<br />

»Das ist nicht die Hexe«, zischte der Anführer und machte mit dem<br />

Kopf eine Bewegung in Richtung Halle. Immerhin standen die Männer<br />

im hellen Sonnenlicht, während sich die vermeintliche Täterin im Dunkel<br />

der Halle auf die Lauer legen konnte.<br />

Aber alle Vorsicht und Absicherung stellte sich als unnötig heraus. In<br />

der Halle war niemand und sie bot auch wenige Möglichkeiten, sich zu<br />

verbergen.<br />

»Wo ist dieser Vamp?«, fragte der eine und steckte die gezogene Pistole<br />

wieder ein.<br />

»Na, wo denn schon, die ist da zu Fuß durch, wo sie sich zuvor mit<br />

dem Wagen durchgezwängt hatte. In ein anderes Fahrzeug rein und<br />

über alle Berge.«<br />

Gleichzeitig machte er sich an dem Sportcoupé zu schaffen, doch er<br />

glaubte selbst nicht, dass er in ihm irgendetwas finden könnte, was sie<br />

weiterbrächte. Auch der Zündschlüssel war abgezogen.<br />

Professionell vermied man eine Annährung an das offenbar tote Mädchen.<br />

Mit den heutigen kriminaltechnischen Methoden fände man später<br />

DNA-Spuren von ihnen und dies wollten sie auf jeden Fall meiden.<br />

»Verdammt, komm’, lass’ uns gehen. Das Mädchen wird schon jemand<br />

finden. Dem ist nicht mehr zu helfen.«<br />

104


Das mit dem Gehen hatte der Mann natürlich nicht wörtlich gemeint,<br />

aber eben fuhr ihr stehen gelassenes Liefer- bzw. Observationsfahrzeug<br />

langsam davon. Für einen kurzen Augenblick nahmen die Männer an,<br />

dass sie die Handbremse nicht angezogen hätten und spurteten wie wild<br />

hinter dem eigenen Fahrzeug her. Doch dann mussten sie erkennen,<br />

dass sich das Fersengeld nicht lohnen würde, frau war gerade dabei, ihnen<br />

ihr Fahrzeug zu entführen.<br />

Einer der Männer nahm seine Pistole hoch, doch sein Kollege hielt seinen<br />

Arm fest: »Zwecklos, du schießt uns nur ein Loch ins Blech. Sicher<br />

wird sie das Fahrzeug irgendwo abstellen.« Er keuchte. Observationen<br />

sind in der Regel langweilig und gesundheitsschädlich. Man rauchte,<br />

stierte sinnlos aus dem Fenster und aß ungesundes Fastfood. Diese Situation<br />

hier war die große Ausnahme und alles andere als Routine.<br />

»Warum ist sie nicht mit ihrem Mercedes geflüchtet?« Etwa hundert<br />

Meter hatten sich die Männer von dem Sportwagen entfernt und gingen<br />

nun fluchend zurück. »Die hat uns reingelegt«, sagte der Gescheitere<br />

unter den beiden, denn sind zwei irgendwo versammelt, muss einer von<br />

beiden dümmer sein. Der bewies das auch, indem er analysierte: »Nein,<br />

das war Zufall. Die hat das Mädchen erschossen und kam nicht mehr an<br />

ihr Fahrzeug heran, weil wir ihr in die Quere kamen.«<br />

Eigentlich hätte man mit dem Handy nun eine Nummer anrufen müssen,<br />

einen Bericht geben und konnte sich leicht ausmalen, dass man mit<br />

dem Schaden auch noch den Spott ernten könnte. Aber beide Handys<br />

lagen im abhanden gekommenen Fahrzeug.<br />

Ganz weit hinten, in der Höhe der Einfahrt zur Hafenmole, glaubten<br />

die Männer ein Polizeifahrzeug zu erkennen, das langsam näher kam.<br />

»Nichts wie weg!« Mäßigen Schrittes gingen sie bis zu der provisorischen<br />

Lücke zurück, durch die Mercedes vor nicht ganz einer halben<br />

Stunde ihren Wagen gezwängt hatte. Nur nicht rennen, kein Aufsehen<br />

erregen.<br />

Als die Baulücke die Sicht zur öffentlichen Straße freigab, sahen die<br />

Männer ihr entwendetes Fahrzeug geparkt am Straßenrand stehen.<br />

»Welch feiner Zug der Dame«, flüsterte der Anführer und zog wieder<br />

seine Waffe.<br />

Nichts rührte sich. Leider musste man die zehn Meter zwischen Hallenfront<br />

und Fahrbahn nun überwinden und wollte dies mit gezogener<br />

Pistole auch wagen. Gemeinsam sicherte man rechts und links die im<br />

toten Winkel rückliegende Hallenwand. Niemand zu sehen. Dann<br />

stürmten sie auf ihr Fahrzeug zu.<br />

105


Als die Männer hinter sich eine Stimme hörten, wussten sie, dass heute<br />

nicht ihr Tag war.<br />

»Waffe fallen lassen! Hände hoch! Nicht umdrehen! Auf den Boden!<br />

Wer sich zuerst umdreht, ist als erster tot!« Die Stimme von Mercedes<br />

war laut, schneidend und ließ keine Fragen offen. Fast zeitgleich ließen<br />

die Typen ihre Waffen fallen.<br />

»Zwei Schritte vor und hinlegen!«, schrie Mercedes, »los, mit dem Gesicht<br />

in den Dreck.« Genau so hatte das erschossene Mädchen ebenfalls<br />

gelegen. Die Männer machten sich keine Illusionen. Hier befahl ein<br />

Profi!<br />

Langsam knieten sie sich in den Sand, nahmen die Hände herunter und<br />

legten sich flach auf den Boden.<br />

»Hände über den Kopf!«<br />

Dann merkten sie, dass die Frau auf dem Dach der Halle gestanden haben<br />

musste, denn deutlich war ein Sprung zu hören. Blitzschnell sammelte<br />

die Agentin die Waffen der beiden Männer ein. Es waren baugleiche<br />

7,65 mm-Pistolen deutscher Fabrikation.<br />

Mercedes wich sofort wieder zurück. Auch die beste Bewaffnung nützte<br />

ihr nichts, überraschte sie ein gut im Nahkampf ausgebildeter Typ<br />

mit einem Angriff.<br />

Mercedes schaute rechts und links die Hafenstraße hinunter, nirgendwo<br />

ein Fahrzeug, nirgends ein Fußgänger. Die Frau umfasste ihre<br />

Waffe mit beiden Händen und zielte auf die Typen: »Langsam vom<br />

Bauch auf den Rücken rollen«, befahl sie, denn sie legte größten Wert<br />

darauf, dass die Männer erkennen konnten, welche Chancen sie hatten:<br />

keine!<br />

»Ausziehen!«, befahl die Frau. »Ganz langsam, der kleinste Trick ist<br />

euer letzter.«<br />

Als sich einer der Männer erheben wollte, schrie Mercedes: »Hast du<br />

dich noch nie im Liegen ausgezogen? Du Niete!«<br />

Der Mann erinnerte sich schwach an bessere Zeiten und fügte sich. Der<br />

andere hatte das Hemd schon aus und zögerte mit der Hose.<br />

»Auch die Unterhosen!«, schrie Mercedes. »Los, los, los.«<br />

Dann waren die Männer bis auf die Socken nackt und lagen mit den<br />

Armen im Nacken zwischen der Agentin und ihrem eigenen Observationsfahrzeug.<br />

Wie eine Katze schlich Mercedes um sie herum: »Ich<br />

wünsche nicht, weiterhin von euch Luschen verfolgt zu werden. Sagt<br />

eurem Häuptling, er möge mir Grund und das ihn umtreibende Anliegen<br />

sagen, vielleicht kann man zusammenarbeiten. Kapiert er dies nicht<br />

106


und macht weiter wie bisher, schicke ich den nächsten Idioten, der mir<br />

nachstellt, als Räucherschinken zurück. Verstanden?«<br />

Die Männer nickten, noch immer liegend.<br />

Mercedes zeigte nach vorn. »Seht ihr Typen hier diese Baulücke? Dort<br />

werdet ihr nun durchlaufen. Und zwar pfeilgerade wie Windhunde mit<br />

einem großen Sprung über die Hafenmauer. Höre ich es zweimal platschen,<br />

seid ihr frei. Schlägt einer einen Haken, so schieße ich ihn wie<br />

einen Hasen ab und er ist tot, noch bevor er aus meinem Blickwinkel<br />

verschwunden ist. Verstanden?«<br />

»Yes, Mam«, brummte der eine und der andere nickte wieder und<br />

schaute verlegen zur Seite.<br />

Die Agentin war sich sicher, dass ihre Anweisungen peinlich genau<br />

befolgt werden würden. In solchen Situationen ist es vollkommen unerheblich,<br />

zu welchen Sanktionen man selbst bereit wäre. Entscheidend<br />

ist immer, welche Befürchtungen und Ängste das Gegenüber in dieser<br />

Situation anzunehmen gezwungen ist. Die Männer hatten im konkreten<br />

Fall gute Gründe anzunehmen, dass die Frau mit der Pistole keinerlei<br />

Skrupel hätte, ihre Ankündigungen wahr zu machen. Mercedes stand<br />

jetzt mit dem Rücken zum Fahrzeug: »Los! Rettet euer Leben, bevor<br />

ich es mir anders überlege.«<br />

Die Männer rannten schnurgerade zwischen den Hallen durch, überquerten<br />

die Uferstraße und sprangen folgsam über die Kaimauer. Hätten<br />

sie nach links geschaut, sie hätten den Streifenwagen der spanischen<br />

Polizei gesehen, der in der Zwischenzeit bis auf vierzig Meter herangerollt<br />

war.<br />

»Hast du das gesehen?«, fragte der spanische Polizist im langsam patrouillierenden<br />

Fahrzeug seinen mitfahrenden Kollegen und schüttelte<br />

verständnislos den Kopf. »Jetzt baden die bereits hier in diesem<br />

Dreckwasser. Das Wasser ist doch eisig kalt.«<br />

»Los, fahr’ weiter!«, befahl der Ältere. »Ich habe keine Lust, mich mit<br />

diesen ausländischen Spinnern noch vor Feierabend herumzustreiten.«<br />

Als Mercedes das Polizeiauto sah, erschrak sie kräftig. Sie sammelte<br />

die Klamotten der beiden ein und warf sie zusammen mit deren Waffen<br />

in das Observationsfahrzeug. Dann setzte sich die Frau hinters Steuer<br />

und fuhr davon.<br />

Der Agentin war klar, dass eine Befragung der beiden Typen nutzlos<br />

gewesen wäre, sie waren bei einem Unternehmen angestellt, bekamen<br />

ihre eng begrenzten Aufträge und lieferten dort ihre Observationsergebnisse<br />

ab. Warum man sie und Richard observierte, wussten die beiden<br />

überhaupt nicht oder man hatte ihnen eine Legende aufgetischt.<br />

107


Mercedes fand den Führerschein des einen, der andere hatte keine Papiere<br />

bei sich. Das Fahrzeug war ein Dauermietauto einer ansässigen<br />

Leihfirma. Der Mietvertrag war auf die ihr bekannte Firma Transtecco,<br />

dieses Mal der Niederlassung Barcelona, ausgestellt. Nichts Neues und<br />

Mercedes hatte auch keine Lust, in dieser Sache Detektiv zu spielen.<br />

Bald hatte die Agentin eine Seitenstraße der Plaza Mayor erreicht. Ein<br />

spanischer Polizist stand sich die Beine vor einem geschlossenen, grauen<br />

Hoftor in den Leib. Mercedes hupte und schreckte den Mann aus<br />

seiner Gedankenlosigkeit.<br />

»Der Herr Konsul feiert eine Party. Ich bin schon zu spät, klingeln Sie<br />

doch bitte einmal Sturm«, flirtete sie mit gewohntem liebenswertem<br />

Schmollmund. So eine tolle Fischhändlerin hatte der spanische Polizist<br />

schon lange nicht mehr gesehen und tat, worum man ihn gebeten hatte.<br />

Nach einiger Zeit bequemte sich ein Angestellter des Britischen Konsulats,<br />

das graue Tor einen Spalt zu öffnen und machte Anstalten, mit<br />

dem spanischen Polizisten ein langwieriges Palaver anzustellen.<br />

Mercedes war bereits auf den Gehweg gefahren und ließ permanent<br />

den Motor aufheulen. In Englisch rief sie jetzt zu dem Konsulatsangestellten:<br />

»Wenn du nicht aufmachst, kocht dich Lord Horatio Kitchener<br />

in lauwarmer Senfsoße, wenn du weißt, wer das ist.«<br />

Mit den Mitteln der Überraschung, dem nötigen Druck und einem gerüttelten<br />

Maß an Frechheit machte Mercedes Field Marshal Earl Kitchener<br />

of Khartoum alle Ehre. Der Nationalheld des englischen Volkes<br />

war bekannt für seine rücksichtlose Härte gegen alles, was dem Einfluss<br />

und der Macht seines Vaterlandes im Wege stand. Aber nur Mercedes<br />

wusste anscheinend, dass der Lord unter tragischen Umständen<br />

bereits 1916 ums Leben gekommen war. Ob er Senfsoße mochte, war<br />

nicht überliefert. Dass er jetzt der Agentin beistand, eine reine Spekulation.<br />

Das graue Tor öffnete sich, der Lieferwagen machte einen Satz und<br />

stand mitten auf dem engen Hof des Konsulats. Mercedes stieg aus.<br />

»Schließen Sie das Tor! Sie können dem Herrn Konsul mitteilen, es<br />

wäre angerichtet.«<br />

Lächelnd wedelte die Agentin mit dem Autoschlüssel vor der Nase des<br />

Angestellten herum. »Bitte schön!«, dann drängte sie sich durch den<br />

enger werdenden letzten Spalt des Hoftores. »Weiß Lord Kitchener<br />

denn Bescheid?«, fragte der Überrumpelte.<br />

»Sicher doch!«, rief Mercedes und zwinkerte dem spanischen Wachpolizisten<br />

verstohlen zu.<br />

108


Ein 200 SLK war mit offenem Verdeck beim Konsulat vorgefahren.<br />

Isabella sah aus wie aus dem Wasser gezogen. An einem Handwaschbecken<br />

in der Lagerhalle des Jachthafens hatte sie sich das dunkle Curryketchup<br />

»extra scharf« aus den schwarzen Haaren gespült und aus<br />

dem Gesicht gewaschen. Leiche spielen war keine einfache Aufgabe,<br />

wenn der Dreck des Hallenbodens in der Nase kitzelt.<br />

Erleichtert wechselte sie jetzt vom Fahrer- auf den Beifahrersitz.<br />

Mercedes schwang sich hinter das Steuer, legte den Automatikwahlschalter<br />

von »P« auf »S« und fuhr mit quietschenden Reifen davon:<br />

»Gut gemacht, Schätzchen!« Und der Konsularangestellte schloss verwundert<br />

seinen offenem Mund.<br />

Mercedes machte sich nicht die Mühe, Sir Alec zu informieren. Wenn<br />

sich der alte Habicht schon darüber beklagte, dass die Berichte von Richard<br />

und Mercedes lückenhaft wären, sollte er auch einmal Recht behalten.<br />

Spätestens dann, wenn der Verbindungsmann zum Geheimdienst<br />

das auf dem Hof des Konsulats abgestellte Observationsfahrzeug<br />

zu Gesicht bekam, glühten die Drähte zwischen Palma de Mallorca und<br />

London sowieso.<br />

*<br />

Zürich. In der Zwischenzeit verwässerte sich Richards Strategie im<br />

schönen, gleichmäßig verregneten Zürich zur Unkenntlichkeit. Sein<br />

großer Plan, den oder die Hintermänner der Industriespionageaktivitäten<br />

bei der Greves AG zu entlarven, war in großer Gefahr, solange der<br />

Zauberlehrling im Alkoholdelirium noch nicht einmal seinen eigenen<br />

Namen wusste, geschweige denn für ihn arbeiten konnte.<br />

Natürlich verschwieg Richard den Verantwortlichen bei Greves das<br />

Ausmaß, ja sogar den Umstand der eingetretenen Misere. Und selbstverständlich<br />

hätte er nie zugegeben, dass er im Grunde ratlos war.<br />

Da sich in der Nacht immer wieder die Ereignisse der Notlandung in<br />

seinen Gedanken panikartig abspielten, saß der Agent wie gerädert am<br />

Frühstückstisch im Wohnzimmer seiner Zimmerwirtin.<br />

»Sie trinken doch keinen Alkohol?«, musterte ihn die Vermieterin, die<br />

beim Frühstück mit dabei saß und den gekochten Vorderschinken rationierte.<br />

»Keinen Tropfen«, beteuerte Richard und hätte die Alte würgen können.<br />

109


»Na?«, vermerkte sie skeptisch, »bei euch Engländern weiß man das<br />

nie so sicher.«<br />

So ging es nicht weiter.<br />

Richard beschloss, beim Rechtsbeistand der Greves AG hereinzuplatzen.<br />

Vom alten Kessler, dem CEO, hatte Richard ja die Erlaubnis erhalten,<br />

mit jedem Mitarbeiter des Unternehmens ohne Rückfrage Kontakt<br />

aufnehmen zu können. Trotzdem war es ein mentaler Klimmzug,<br />

rechtfertigen zu wollen, warum er mit dem Rechtskonsulent des Unternehmens<br />

nun Kontakt suchte, denn sein offizieller Auftrag war ja eine<br />

Konkurrenzanalyse über die CincinatTec Tools zu erstellen. Da Richards<br />

Weg bereits beim ersten Spaziergang durch Zürich ihn durch<br />

Zufall am Büro des Herrn Kropf vorbeiführte, betrachtete er dies jetzt<br />

im Rückblick als Fingerzeig des Schicksals.<br />

Auf der Straße winkte Richard ein Taxi und ließ sich auf direktem<br />

Weg in das Geschäftsviertel, in dem der Anwalt residierte, chauffieren.<br />

Als sie in der Straße ankamen, bat er den Taxifahrer, die Straße einfach<br />

einmal zügig hoch und runter zu fahren. Vielleicht konnte man irgendwo<br />

am Straßenrand stehende Fahrzeuge mit getönten Scheiben<br />

ausmachen. Richard spähte angestrengt nach entsprechend verdächtigen<br />

Autos und entdeckte mindestens drei. In einer Gegend, in der Advokaten,<br />

Konsulate und Geldhändler Tür an Tür residierten, war auch Wach-<br />

und Sicherheitspersonal nicht weit und es schien unmöglich zu sein,<br />

hier die Spreu vom Weizen trennen zu wollen.<br />

»Fahren Sie hier die offene Einfahrt hoch«, wies er den Taxifahrer an.<br />

Der murrte, weil er es nicht schaffte, das große Verbotsschild zu übersehen.<br />

Richard tröstete den Fahrer mit einem Hundert-Franken-Schein.<br />

Bald schon stand das Taxi auf dem Wirtschaftshof des Bürogebäudes<br />

zwischen Müllcontainern. Richard stieg aus. »Wenn ich in einer halben<br />

Stunde nicht zurück bin oder jemand meckert, brauchen Sie nicht länger<br />

auf mich zu warten.«<br />

Während solche Bürokomplexe nach vorne oft gut gesichert waren,<br />

stand an der Hinterfront meist eine Tür offen. Irgendjemand - und sei es<br />

der Hausmeister selbst - legt immer ein Sperrholz zwischen Rahmen<br />

und Tür, damit er wieder rein käme. So war es auch in diesem Fall.<br />

Damit konnte sich Richard sicher sein, dass mögliche Beobachter des<br />

Hauseingangs ausgetrickst waren.<br />

Nach dem Aufstieg vom halben Untergeschoss zum Erdgeschoss fuhr<br />

der Agent mit dem Aufzug zwei Stockwerke höher als nötig. Von dort<br />

schlich er lautlos die Treppen hinunter bis er vor der Kanzleitür des<br />

Rechtsanwalts Dr. Hermann Werner Kropf stand. Richard lauschte<br />

110


nach unten. Tatsächlich hatte jemand den Eingang betreten und gleich<br />

wieder verlassen. Beobachten konnte er das nicht, aber er nahm an,<br />

dass eine der Wachen von nebenan die Stockwerkanzeige über dem<br />

Aufzug abgelesen hatte, was einen Hinweis auf seinen Besuchszweck<br />

geben könnte. Das gesamte fünfte Geschoss war nämlich von einem libanesischen<br />

Geldhändler belegt.<br />

Richard drückte auf den Klingelknopf bei Kropf und war über das tatsächliche<br />

Klingeln dann erstaunt. Denn hinter den meisten Türen surrt<br />

es oder macht es Ding-Dong. Hier blieb alles still. Dafür öffnete eilfertig<br />

ein junger, stark übergewichtiger Mann mit bleichem Gesicht. »Ja,<br />

bitte?«<br />

»Müller«, sagte Richard Harriott, »ich muss dringend in Sachen Greves<br />

AG Herrn Dr. Kropf sprechen.«<br />

»Haben Sie einen Termin?«<br />

»Selbstverständlich, irgendwann heute Abend mit meiner Gattin.« Richard<br />

lächelte und machte sogar eine kleine Verbeugung. Diese reichte<br />

aus, um sich an dem Bleichgesicht vorbeimogeln zu können. Bereits eine<br />

Tür weiter entdeckte er Kropf in seinem Büro. Da die Tür offen<br />

stand, hatte der Anwalt also bereits alles mitgehört.<br />

Kropf, der am Schreibtisch saß, hob den Kopf und tönte blechern:<br />

»Muss aber schnell gehen, ich habe keine Zeit.«<br />

Richard schloss hinter sich die Zimmertür und ging die drei Schritte<br />

bis zum Schreibtisch des Mannes. Kropfs Sessel war so platziert, dass<br />

er das Licht im Rücken, die Besucher, die ihm gegenüber saßen, hingegen<br />

im Gesicht hatten. Wer so etwas nicht gewöhnt ist, kann das durchaus<br />

als unangenehm empfinden. Richard störte es nicht. Die bald flach<br />

einfallenden Sonnenstrahlen ließen die weit abstehenden Ohren seines<br />

Gegenübers rosarot leuchten. Wäre sich Kropf dessen bewusst gewesen,<br />

er hätte eine vorteilhaftere Sitzordnung gewählt.<br />

Richard entschuldigte sich und überreichte seine Visitenkarte: »Es gibt<br />

viele Gründe im Lauf unseres Gesprächs, diese Wirklichkeit nicht zu<br />

erwähnen.« Dabei zeigte er auf seine Visitenkarte.<br />

Kropf war irritiert und tippte fragend auf die Karte: »Das sind Sie,<br />

Herr Müller?«<br />

»Richtig, Müller, wie auf der Karte geschrieben.«<br />

Kropf verzog sein Gesicht und wackelte dabei unbeabsichtigt mit den<br />

Ohren. »Sie glauben doch nicht, dass ich hier Ungeziefer in den Räumen<br />

habe?«<br />

111


Während Richard die ganze Zeit ungewöhnlich leise gesprochen hatte,<br />

brüllte Kropf, als hätten sie die größte Auseinandersetzung. Doch sein<br />

Englisch war gut, sah man von einem seltsamen Akzent einmal ab.<br />

»Das kann ich nicht mit Bestimmtheit sagen, Herr Dr. Kropf«, erläuterte<br />

Richard, »doch ich werde, seit ich den Greves-Auftrag annahm,<br />

observiert, finde aber in meiner Person keine plausiblen Motive für den<br />

doch sehr professionellen Aufwand, der in dieser Hinsicht betrieben<br />

wurde.«<br />

»Also«, schrie Kropf, »bei unserem militärischen Abschirmdienst waren<br />

die Wanzen damals so groß wie Zigarrenkisten. Und glauben Sie<br />

mir, Müller, so eine Kiste hätte ich gemerkt.«<br />

Richard lachte: »Die Technik ist heute weiter...«<br />

Kropf bot dem Besucher mit einer Handbewegung den Stuhl an, der<br />

vor seinem Schreibtisch stand. Dann nahm er den Telefonhörer von der<br />

Gabel und versuchte, die Kappe von der Sprechmuschel zu schrauben,<br />

was nicht gelang. Schnell kapitulierend, schmiss er den Hörer auf die<br />

Gabel zurück. Trotzdem hatte Richard den Eindruck, dass er sein Gegenüber<br />

stark beunruhigt hatte. Jetzt schob er die richtige Geschäftskarte<br />

nach.<br />

»Na, ja«, sagte Kropf, nachdem er sie gelesen hatte, »über Ihren CincinatTec-Auftrag<br />

können wir ja reden, das ist mir doch egal, ob da einer<br />

mithört oder nicht.«<br />

»Sicherlich!«, grinste der Engländer. Zu gerne hätte er gewusst, bei<br />

welchen Gesprächen es Kropf nicht egal war, dass eventuell mitgehört<br />

wurde, und bei welchen Gesprächen er unter allen Umständen vermeiden<br />

wollte, dass jemand mithörte.<br />

Das Gespräch über die Konkurrenzanalyse interessierte Kropf in keiner<br />

Weise, Richard auch nicht und so begann er zunehmend, die sonstigen<br />

Leistungen seiner Palma Management vorzustellen. »Industriespionage<br />

hat eine hohe Dunkelziffer. Ich könnte mir ohne weiteres vorstellen,<br />

dass mein Mandat dahingehend erweitert wird, sollte der Verdacht<br />

bestehen, dass undichte Stellen im Unternehmen sind...«<br />

Kropf wurde plötzlich etwas aufmerksamer: »Hat Ihnen Kessler eventuell<br />

einen entsprechenden Auftrag erteilt?«<br />

»Nein. Er wird keine Gründe haben«, log Richard.<br />

»Eben«, war Kropf erleichtert und ergänzte, »die spinnen nämlich alle.<br />

Da bekommt ein anderer einen Auftrag und man ist nie selbst schuld.«<br />

Kropf hob einen Kugelschreiber hoch. »Doch klar, wenn man gewöhnliches<br />

Zeug produziert, ein anderer das nachmacht und eventuell billiger<br />

anbietet.« Er ließ den teuren Stift achtlos fallen.<br />

112


Richard hörte interessiert diese Worte. Kropf wusste, dass die Greves<br />

AG kein gewöhnliches Zeug produzierte und Kropf musste auch wissen,<br />

dass die letzten Aufträge eben durch Industriespionage verloren<br />

gingen. Wie konnte er dann so leichtfertig reden?<br />

Kropf hatte natürlich erfasst, worum es bei einem Competitive Intelligence<br />

Service ging. Er ahnte Richards Möglichkeiten. Der Agent spürte,<br />

dass Kropf Bedarf dafür haben musste. Nur wollte er diesen Bedarf<br />

nicht in der Greves AG erkennen wollen bzw. wehrte sich sogar gegen<br />

diesen Gedanken. Jetzt wurde Kropfs Blick eisig. Klar auf ihn gerichtet,<br />

erkundigte er sich mit kalter Stimme: »Würden Sie auch Handelsfirmen<br />

ausspionieren?«<br />

»Als Objekt durchaus, aber der Bezeichnung Spionage muss ich widersprechen.<br />

Spionage ist illegal. Wir beschaffen die gesuchten Informationen<br />

ausschließlich mit legalen Mitteln...«<br />

Richard formulierte extrem legalistisch im Rahmen des Schweizer<br />

Strafgesetzbuches, um Kropf keinerlei Angriffspunkte zu bieten.<br />

Kropf lehnte sich einen Zentimeter zurück, um sich gleich wieder nach<br />

vorne zu neigen. Mit seinem Körper berührte er die Kante seines<br />

monströsen Schreibtisches. Dann fixierte er Richards Augen. Den<br />

Rechtsbeistand »Mephisto« zu nennen, war geschmeichelt, Kropf war<br />

eisig, kalt und rücksichtslos. Richard fragte sich, ob Joseph Goebbels<br />

ebenfalls solche abstehenden Ohren gehabt hatte und im Umkehrschluss<br />

Kropf einen Klumpfuß.<br />

»Bei einer Handelsfirma könnte das Sortiment interessieren«, flüsterte<br />

Kropf, »die Lieferanten, die Kunden und die Konditionen. Wäre das ein<br />

Fall für Sie?«<br />

»Im Prinzip ja, muss aber erst studiert werden. Wann können wir anfangen?«<br />

»Ihre Antwort gefällt mir. Sie werden von mir hören.«<br />

Damit war das Gespräch eigentlich beendet. Kropf hatte nicht gefragt,<br />

welche dringenden Anliegen denn Richard gehabt hätte, um unangemeldet<br />

vorbeizukommen, sondern erhob sich. Auch Richard tat es ihm<br />

gleich und ging völlig unbefangen im Raum umher. An einer Wand<br />

hingen Fotographien von hohen Schweizer Offizieren, Kränze unterschiedlicher<br />

Breite zierten die steifen Mützen. Er hielt bei jedem an und<br />

las die Messingplakette, welche über Grad, Namen und Funktion Auskunft<br />

gab.<br />

Richard wusste, dass Kropf das ungefragte Herumgehen störte, aber<br />

wer eine Galerie von Generälen mit Bewunderung inspiziert, war wohl<br />

113


sofort wieder rehabilitiert. Respekt für die Schweizer Armee, von Ausländern<br />

bezeugt, tut den Eidgenossen besonders gut.<br />

Kropf begann zu kommentieren. Jeden hatte er natürlich persönlich gekannt<br />

oder zählte noch heute zu seinen Kameraden. Richard verneigte<br />

sich anerkennend.<br />

Einer der Zwei-Sterne-Generäle hieß Züger, wie Richard bereits von<br />

Rolf wusste. Nach seiner Pensionierung ließ er sich zum Präsidenten<br />

der Greves wählen und hatte Kropf dann zum Greves-Mandat verholfen.<br />

Nein, ein besonders umfangreiches Mandat sei dies nicht, antwortete<br />

Kropf auf Richards Frage. Er kenne auch deren Geschäft kaum und<br />

wolle sich auch nicht aufdrängen. Wenige Minuten zuvor hatte er aber<br />

noch wissen wollen, dass bei Greves nicht wegen Industriespionage<br />

ermittelt werden müsse, weil man gewöhnliches Zeug produzierte. Und<br />

diese Rede war nun wieder eine Spur zu flach, zu indifferent, um wahr<br />

zu sein.<br />

Mit keinem Wort erwähnte Kropf den heutigen Betriebsleiter Urs Flückiger<br />

noch Rolf Kessler. Eine merkwürdige Auslassung, wenn doch<br />

schon vom Militär und Greves die Rede war. Und natürlich war Richard<br />

die Erzählung mit dem Vergewaltigungsspiel von Rolf Kessler in<br />

Erinnerung, wobei er nicht annahm, dass der ehemalige Oberst dies erwähnen<br />

würde.<br />

Offensichtlich war es aber Richard gelungen, zu Kropf einen minimalen<br />

persönlichen Kontakt herzustellen. Den Advokaten inmitten militärischer<br />

Größen zu bewundern, war Labsal für seine Eitelkeit.<br />

Überraschend ging Kropf zu einem großen, mit einem Vorhang verdeckten<br />

Schrank. Er winkte Richard herbei. Dann ließ er den Vorhang<br />

fallen. Zum Vorschein kam eine prachtvolle Vitrine mit einer Sammlung<br />

von Nippsachen, Gläsern, Kunstgegenständen aller Art. Der Anwalt<br />

knipste die Beleuchtung an. Nur so auf einen Blick konnte sich Richard<br />

über den Wert kein Bild machen.<br />

Applaudieren konnte nicht falsch sein. Jedenfalls war das der Auslöser<br />

für ein Referat des großen Kunstsammlers. Jedes Porzellanfigürchen<br />

wurde beschrieben, aus welcher Manufaktur, mit Jahr und Serie usw.<br />

Besonders kundig waren seine Ausführungen über die Ikonen. Richard<br />

gab sich vor allem bei jenen Objekten osteuropäischer Herkunft sehr interessiert,<br />

von denen er annahm, dass sie auf verschlungenen Wegen in<br />

Kropfs Vitrine gelangt waren.<br />

Ganz auf das Ego seines Gastgebers eingehend, gab er sich seiner Bewunderung<br />

hin: »Herr Kropf, wie Sie es nur geschafft haben, diese erle-<br />

114


sene Ikone zu beschaffen. Zuerst muss man ja wissen, dass es die überhaupt<br />

gibt... Mein Kompliment, Herr Doktor, mein Kompliment!«<br />

Kropf sprang an die Angel. Er dehnte sich nach allen Seiten, sein Kinn<br />

ragte in die Luft.<br />

»Diese Ikone stammt aus Kiew. Ich habe sie noch aus der Sowjetunion<br />

herausbekommen. Wem sie wann gehörte, ist nur ungenau bekannt. Sicher<br />

ist es mir gelungen, sie weit unter ihrem heutigen Wert zu kriegen.<br />

Zur Bezahlung sind oftmals auch andere Währungen als Geld möglich.<br />

Der Sammler wird eben von verschiedenen Motiven getrieben.«<br />

Richtig, dachte Richard, nämlich Kunstsinn, Gier, Eitelkeit, Narzissmus,<br />

Macht und Geltungsdrang.<br />

Kropf hatte plötzlich unendlich viel Zeit. Keine straffe Effizienz wie<br />

im geschäftlichen Teil ihrer Sitzung. Richard musste sich beinahe hüten,<br />

um nicht ein Quäntchen Sympathie für ihn zu entwickeln, wäre<br />

nicht die letzte Bemerkung über die ominösen Währungen gewesen.<br />

Am Schluss der Vorführung machte Kropf ein geheimnisvolles Gesicht:<br />

»Ich zeige Ihnen nun etwas ganz Seltenes, das Herzstück meiner<br />

Sammlung.«<br />

In der Vitrine befand sich eine ganze Etage, welche von zwei Spiegeltüren<br />

bisher verschlossen war. Er drehte den silbernen Schlüssel in der<br />

Mitte und öffnete sie langsam und sorgfältig. Was zum Vorschein kam,<br />

war tatsächlich atemberaubend. Sechs Fabergé-<strong>Eier</strong> standen in einer<br />

Reihe, die kleineren außen, die größeren innen. Selbstverständlich jedes<br />

verschieden in Farbe, Motiv und Verzierung. Die einen standen auf einem<br />

runden Fuß, andere wurde von drei, wieder andere von vier zierlichen<br />

Füßchen getragen. In der Mitte war noch ein Platz leer gelassen.<br />

»Hier steht eines gar nicht mehr so fernen Tages das Fabergé-Ei aller<br />

Fabergé-<strong>Eier</strong> schlechthin«, verkündete der Gastgeber.<br />

Richard machte ein fragendes Gesicht. Die Miene des Mephisto verdüsterte<br />

sich. Offenbar hatte er erwartet, dass sein Besucher wüsste,<br />

was das nun für ein Ei zu sein hätte. Das eine einzelne Ei, das Richard<br />

von seiner Zimmerwirtin regelmäßig zum Frühstück zugeteilt bekam,<br />

war jedenfalls stets hart und kalt.<br />

»Es ist ein Ei, das der Zar damals hatte anfertigen lassen. Im Moskauer<br />

Zentralarchiv gibt es aus dem Jahre 1905 einen Vermerk im Auftrag Ihrer<br />

Majestät für Graf Witte.«<br />

Kropf machte eine Wirkungspause, als hätte er eben den wissenschaftlichen<br />

Beweis erbracht, dass Osterhasen doch Ostereier legen könnten.<br />

Dann ergänzte er: »Hier ist eine Skizze dieses legendären Big Blue,<br />

fünfundzwanzig Zentimeter hoch, teilweise dunkel schraffiert mit ei-<br />

115


nem Vermerk blau und hier die goldziselierten Füßchen. Was sagen Sie<br />

nun?«<br />

»Ich finde die Idee, an ein blaues Ei das Wort blau zu schreiben, in intellektueller<br />

Hinsicht frappierend«, bekundete Richard todernst, »der<br />

Skribent beschränkt sich auf das Wesentliche, widerlegt damit seinen<br />

abusiven Ruf, ohne gänzlich von seiner Obsession Abstand nehmen zu<br />

müssen. Weil die Farbe an sich ja bereits ausreichend deskriptiv erscheint,<br />

es aber nicht ist.«<br />

Richard schnitt ein gescheites Gesicht. Als Student hatte er sich bei einer<br />

Kunstzeitung etwas Taschengeld dazu verdienen wollen und bald<br />

ganze Kommentare für diese verfasst. Je mehr Unsinn man mit Fremdwörtern<br />

verpackte, desto ehrfurchtsvoller war die Resonanz der verblödeten<br />

Leserschaft. Diese Taktik funktioniert von der Kunst und Musik<br />

über Theater und Literatur bis zur Psychologie, wo sie wahre Urständ<br />

feiert.<br />

Der Oberst a. D. stutze für einen kurzen Augenblick, lächelte gequält<br />

und schrie: »Ja, natürlich. Wichtig ist mir nur, dass es das Ei gibt und<br />

dass ich es bekommen werde.«<br />

»Bombastisch!«, lobte Richard den <strong>Eier</strong>mann, ohne zu wissen, welch<br />

semantische Nähe er damit zu den rätselhaften Dingen in seiner Umgebung<br />

erreicht hatte.<br />

»Ich habe den tüchtigsten Spürhund im Kunsthandel, den es gibt, darauf<br />

angesetzt. Der arbeitet für mich. Ich muss das Ei haben. Verstehen<br />

Sie, ich muss es haben! Was ich Ihnen jetzt verrate, muss unter uns<br />

bleiben.«<br />

»Sie sprechen mit einem Private Investigator, Freund des Hauses und<br />

Kunstliebhaber«, erinnerte Richard, »jedes Wort bleibt selbstredend<br />

streng vertraulich.«<br />

Wenn es nicht durch eine Wanze übertragen und irgendwo in einem<br />

Raum auf Tonband aufgezeichnet würde, dachte der Agent.<br />

Kropf schien zu überlegen, ob er vielleicht seinen Kunsthändler um<br />

den vor ihm stehenden Private Investigator verstärken sollte.<br />

»Vielleicht hätten Sie Interesse daran, Ihren Auftrag mit der Jagd nach<br />

dem Big Blue zu ergänzen? Ich habe eine Million Dollar Belohnung<br />

ausgesetzt.«<br />

Richard dachte sofort an die Kosten für das kaputte Flugzeug. Könnte<br />

er sich nebenher noch eine Million dazu verdienen, hätte er ein paar<br />

Sorgen weniger. Nicht, dass er bereits an Hunger litt, aber eher legt ein<br />

Hund einen Wurstvorrat an, als dass er sich einen derart lukrativen Auftrag<br />

mangels Know-how oder Zeit entgehen lassen würde.<br />

116


Natürlich war sich Richard darüber im Klaren, dass die ausgesetzte<br />

Belohnung mit den Schwierigkeiten bei der Suche korrelieren würde.<br />

Gleichzeitig widerstrebte es Richard, ausschließlich auf Basis einer Erfolgsprovision<br />

zu arbeiten. Und es gibt nichts umsonst, zudem war diesem<br />

Kropf zuzutrauen, dass er im letzten Augenblick vor der Übergabe<br />

noch zu Feilschen anfing. Diesbezüglich hätte er bei Richard wohl<br />

schlechte Karten, war aber der Transfer von Russland in die Schweiz<br />

bereits illegal, so war man schneller als gedacht in der Rolle des erpressten<br />

Betrügers.<br />

Richard sagte deshalb: »Sehr interessant.«<br />

»Wissen Sie was?«, prahlte Kropf, »arbeiten Sie doch einfach mit diesem<br />

Kunsthändler zusammen. Ich befehle es dem! Sie schöpfen von<br />

ihm die Informationen ab und wenn Ihnen beliebt, machen wir das Geschäft<br />

ohne diesen Kriegsdienstverweigerer.«<br />

Richard sagte: »Ach was? Ihr Vertrauen ehrt mich.«<br />

Und Kropf griff zum Telefon und rief den Kunsthändler an. Er befahl<br />

ihm quasi, mit Richard ab sofort zusammenzuarbeiten. Sonst könne er<br />

diesen Auftrag vergessen.<br />

Ein Windhund jagt einem Windei hinterher, dachte Richard und<br />

schaffte es nicht, die in seinem Mundwinkel stehende Verachtung darüber<br />

zu verbergen. Kropf übersah alles und betrachtete seine Idee nun<br />

als ausgemachte Sache. »Sie werden dieses Geschäft in kürzester Zeit<br />

zum Erfolg bringen, da bin ich mir sicher.«<br />

Richard verneigte sich zum Abschied auf seine knappe englische Art<br />

und verwies auf die bereits überreichte Geschäftskarte der Palma Management.<br />

Kropf fühlte sich bestätigt und nickte mit hohlem Kreuz. Dann läutete<br />

er stürmisch nach seinem Lakaien: »Brigadegeneral Harriott wünscht<br />

zu gehen!«<br />

*<br />

Das Taxi, das im Hof hätte warten sollen, war natürlich weg und auf<br />

die Straße wollte Richard auf keinen Fall treten. Immerhin bestand die<br />

Möglichkeit, dass Kropf observiert wurde und diese Typen auch ihn<br />

wiedererkennen würden. Man musste also irgendwie nach hinten verschwinden,<br />

was sich als nicht einfach herausstellte.<br />

In früheren Zeiten hatte der eben ernannte Brigadegeneral auch mehrere<br />

Müllcontainer und Hinterhofmauern mit Leichtigkeit zu überwin-<br />

117


den verstanden, ohne seinen 1000-Dollar Anzug zu beschädigen. Auch<br />

jetzt blieb der Anzug heil, aber sein dunkelblauer Mantel aus reinem<br />

Kaschmir mit einer 70-prozentiger Schurwollebeimischung litt stark<br />

unter seinen Kletterkünsten. Dann endlich stand Richard auf dem Hinterhof<br />

der rückliegenden Villa. Hier war kein Sperrholz zwischen Tür<br />

und Rahmen, dafür alarmierte das Hausmädchen die Polizei. Die beiden<br />

Polizisten öffneten alle Türen und forderten den Engländer mit der<br />

Hand am imaginären Pistolenhalfter auf, sich auszuweisen.<br />

Die Uniformierten glaubten dem Engländer kein Wort von der aufgetischten<br />

Geschichte, fuhren ihn aber mit ihrem Streifenwagen noch bis<br />

zum Juweliergeschäft Caratus. Da wollte Richard zwar überhaupt nicht<br />

hin, hatte den Polizisten aber dieses Geschäft als Grund für seinen Aufenthalt<br />

in Zürich angegeben. Leider fuhren die Polizisten nicht weiter,<br />

sondern lugten ihm angestrengt nach. So blieb Richard nichts anderes<br />

übrig, als bei Caratus zu klingeln.<br />

Scheinbar hatte der Eisvogel nur auf ihn gewartet, denn er schwebte<br />

mit fliegenden Fahnen zur Tür, öffnete diese und breitete zum Empfang<br />

demonstrativ seine Flügel aus.<br />

»Da, schau’ her«, sagte der Streifenwagenfahrer zu seinem Kollegen,<br />

»bei Caratus ist er bekannt, aber Geld für die Straßenbahn hat er keins.«<br />

»Make it or break it«, dachte Richard, ohne zu wissen, was er denn<br />

nun in diesem Juweliergeschäft machen oder brechen wollte. Schließlich<br />

hatte er bei seinem letzten Besuch noch von siebenstelligen Beträgen<br />

gesprochen, mit denen er hier einzukaufen beabsichtigte. Bisher jedenfalls<br />

hatte er bei Madame Agnieszka Meister-Novak noch nicht<br />

einmal ein paar Manschettenknöpfe erworben.<br />

Die Dame machte ihm das Entree recht einfach, denn sie war wie verwandelt<br />

und herzte ihn liebevoll. Hatte der Eisvogel eventuell eine<br />

Zwillingsschwester?<br />

»Mister Harriott, Sie werden es nicht glauben, aber eben habe ich an<br />

Sie gedacht.«<br />

Die Gattung der »Alcedinidae«, wie Gelehrte den Eisvogel bezeichnen,<br />

werden nicht unter Raubvögel kategorisiert, doch die Fische, nach<br />

denen sie stoßen, sind dann auch tot. Die heute, passend zum Kostüm,<br />

rot lackierten Krallen umfassten seine Oberarme, ein Mittel, um sein<br />

Gegenüber besonders herzlich zu begrüßen, ohne ihm die Hand geben<br />

zu müssen.<br />

An der Tatsache gemessen, dass ihm zwei Polizisten nachschauten,<br />

weil sie nicht glauben konnten, dass einer, der gerade noch über Müll-<br />

118


container geklettert war, nun bei Caratus einkaufen wollte, hätte die<br />

Begrüßung allerdings nicht besser sein können.<br />

»Sie haben die Polizei mitgebracht?«, herzte die Frau und endlich fuhr<br />

der Streifenwagen davon.<br />

»Mir ist ein Schützenpanzer der Armee in meinen Mietwagen gefahren«,<br />

sagte Richard nach dem jüdischen Prinzip, wenn Schweinefleisch,<br />

dann muss es triefen, »und die den Unfall aufnehmenden Polizisten waren<br />

so freundlich, mir das nun notwendig gewordene Taxi zu ersetzen.«<br />

»Ist da nicht die Militärpolizei zuständig?«, tat sie erstaunt.<br />

»Ich denke, dass man in jedem Land der Welt froh sein kann, wenn<br />

sich die Polizei außerhalb der Dienstvorschriften überhaupt für Freundlichkeiten<br />

zuständig fühlt«, wich Richard aus.<br />

Madame Meister-Novak trat einen Schritt zurück, betrachtete den Besucher<br />

von oben bis unten und flötete: »Ich sehe, Ihnen ist nichts passiert!?<br />

Ihr Mantel ist ja noch ganz schmutzig. Mein Gott, dieses Militär<br />

fährt nun schon durch Zürichs Straßen und rammt unsere ausländischen<br />

Gäste. Kommen Sie, Magdalena bürstet Ihnen den Mantel aus.«<br />

Die so erwähnte Angestellte eilte herbei und nahm dem Besucher<br />

dienstbeflissen den Mantel ab.<br />

»Darf ich fragen, in welchem Zusammenhang eine so reizende Frau an<br />

einen derart hässlichen Engländer denkt?«<br />

Der Eisvogel fühlte sich geneckt, zögerte einen kurzen Augenblick zu<br />

lange und entrüstete sich dann: »Na, hören Sie mal, wenn Sie in Zukunft<br />

mit meinem geschiedenen Gatten zusammenarbeiten, dann sind<br />

wir doch so etwas wie Geschäftsfreunde.«<br />

Das hätte sie nie gesagt, wäre sie nicht für einen Augenblick auf dem<br />

falschen Fuß erwischt worden, und Richard hätte nie geglaubt, dass<br />

man derart ins Blaue schießen konnte, umso sicher ins Schwarze zu<br />

treffen.<br />

Natürlich! Kropf hatte ihm die Visitenkarte dieses Kunsthändlers hingelegt,<br />

mit dem er in Sachen <strong>Eier</strong>suche zusammenarbeiten solle. Besser:<br />

Dessen Wissensstand er abfischen solle, um danach angeblich<br />

selbst die Million kassieren zu können. Eine feine Gesellschaft. Richard<br />

ärgerte sich, die Visitenkarte nicht sorgfältig gelesen zu haben und<br />

hoffte inständig, dass die geschiedene Gattin ihm tiefere Einblicke gewährte<br />

als ein Stück Pappkarton.<br />

Der Eisvogel war in sein Büro vorausgeflogen und bot ihm nun einen<br />

Sessel, eine Tasse Kaffee und etwas Gebäck an. Richard bedankte sich<br />

artig: »Dann wäre es ja in unserem beiderseitigen Interesse, wenn wir<br />

119


Mittel und Wege fänden, diese sich anbahnende Freundschaft vertraulich<br />

zu vertiefen.«<br />

»Ja«, strahlte die ehemalige Frau vom Meister und entledigte sich des<br />

feinen Satinschales, der ihr als Flügelersatz gedient hatte, »laden Sie<br />

mich heute Abend zum Essen ein.«<br />

»Mit Freuden! Die Betonung lag jedoch auf vertraulich«, lächelte Richard<br />

anzüglich.<br />

»Wo denken Sie hin?«, empörte sich die Direktorin des Juweliergeschäfts,<br />

»ich bringe natürlich meinen Herrn Vater mit« und lachte<br />

schallend.<br />

Sie hatten sich in der Hotelhalle des Baur au Lac ab 19 Uhr verabredet<br />

und Richard inspizierte die Räumlichkeiten mit der ihm eigenen Paranoia.<br />

Bereits um 18 Uhr betrat er den vornehmen Raum und wählte eine<br />

Zweier-Sitzgruppe auf der Rückseite neben der Service-Bar, von welcher<br />

aus das Kommen und Gehen lückenlos beobachtet werden konnte<br />

und die genügend akustischen Abstand zu etwaigen Nachbarn bot.<br />

Überdies waren von hier zwei unauffällige Türen für etwaige Rückzüge<br />

schnell erreichbar, die eine ins Restaurant Français, die andere auf den<br />

Flur mit der Garderobe und den Waschräumen.<br />

In diesem noblen Salon wurde nur mit gedämpfter Stimme gesprochen,<br />

was angenehm war, aber eine wünschenswerte Geräuschkulisse vermissen<br />

ließ. Blieb zu hoffen, dass der Eisvogel nicht allzu weittragend<br />

zwitscherte.<br />

Der eintreffende Kellner machte keine Anstalten, die Tischlampe auszuwechseln,<br />

so dass Richard aus einer speziellen Teekarte eine Portion<br />

»Lapsang Souchong« bestellte, welche ihm helfen sollte, auf englische<br />

Art die lange Wartestunde zu überstehen. Der Engländer schüttete Zucker<br />

in die Tasse und gab etwas kalte Milch dazu, rührte gründlich um<br />

und goss schließlich den Tee darüber. Dann nippte er von diesem Gebräu,<br />

verzog angewidert das Gesicht und bestellte sich, zum Erstaunen<br />

des Kellners, einen Kaffee.<br />

Richard kramte nach der bei Kropf nicht beachteten Visitenkarte.<br />

Friedrich Meister firmierte mit Galerie und Kunsthandel. Hatte er seine<br />

geschiedene Frau angerufen und ihr sein Leid geklagt? Das hätte bedeutet,<br />

Kropf hatte Meister unmittelbar nach Richards Besuch angerufen<br />

und ihm mitgeteilt, dass er seine potentielle Provision nun mit einem<br />

Engländer zu teilen hätte. Der aufgezwungene Partner hieße Richard<br />

Harriott. Einerseits war fraglich, ob man einen solchen Namen in<br />

120


der Kürze der Zeit als Schweizer im Gedächtnis behielt, aber auch<br />

wenn, gab es andererseits keinen Sinn, diesen Namen umgehend an die<br />

geschiedene Gattin weiterzusagen. Die dann sagte: »Oh, Darling, den<br />

kenne ich. Der war vor ein paar Tagen bei mir im Geschäft und machte<br />

große Avancen.«<br />

Wahrscheinlicher wäre es, wenn überhaupt, dass man sich über den eigenwilligen<br />

Kropf ausweinte und die geschiedene Frau ihren Senf dazu<br />

gab, den man dann aber auch nicht hören wollte. Vielleicht ist es Galeristen<br />

mangels Kundschaft langweilig, doch Meister müsste wissen,<br />

dass das Geschäft seiner Gattin gut frequentiert war. Will man sich<br />

ausheulen, so ruft man die Frau eventuell vom Kunden weg oder es<br />

drängt sie dort hin. Alles keine befriedigenden Voraussetzungen für das<br />

Absingen von Klageliedern.<br />

Fazit: Der Eisvogel hatte Richard nicht die Wahrheit gesagt. Er wiegte<br />

den Kopf hin und her, gelogen hatte die Frau jedoch auch nicht. Sie<br />

wurde nicht von ihrem geschiedenen Gatten informiert, sondern von<br />

Kropf selbst. Und dies musste ebenfalls kein Informationsgespräch im<br />

eigentlichen Sinne des Wortes gewesen sein, sondern eine Instruktion.<br />

Warum? Wurde sie geführt oder führte sie?<br />

Der Engländer war stolz auf seine Analyse und beschämt darüber,<br />

noch nie in eine Begegnung so konzeptlos hineingestolpert zu sein.<br />

Immerhin glaubte er jetzt zu wissen, dass höchste Vorsicht geboten<br />

war.<br />

Dann, die erste Minute nach sieben Uhr war noch nicht verstrichen,<br />

trat der Eisvogel durch die Pforte.<br />

Ganz Businesswoman trug sie ein dunkelblaues Kostüm, Bally-Schuhe<br />

mit halbhohen Absätzen von gelinde gesagt zurückhaltender Eleganz,<br />

die schwarzblauen Haare in einem Knoten zusammengefasst. Dezente<br />

Ohrstecker und eine Perlennadel im Jackett waren die einzigen<br />

Schmuckstücke. In der Hand hielt sie eine elegante flache Handtasche<br />

aus Lackleder, welche auch dünne Aktenstücke aufnehmen konnte.<br />

Nicht mit Geflatter, sondern im Gleitflug schwebte sie durch den<br />

Raum, eine Volte links, eine Volte rechts, stellte die Flügel vor seiner<br />

Sitzgruppe auf, stoppte und landete.<br />

Richard erhob sich im geziemenden Moment und machte eine englische<br />

Verbeugung. Madame reichte ihm die Hand in der Art, wie sich<br />

gleichwertige Persönlichkeiten begrüßen.<br />

»Es ist recht angenehm hier«, stellte sie sich umschauend fest, schlug<br />

ihre Beine übereinander und floskelte: »Ich hoffe, ich bin pünktlich.<br />

Warten Sie schon lange?«<br />

121


»Ich war vorzeitig hier«, lächelte Richard, »das kühle Wetter vermieste<br />

mir einen Spaziergang und meine mir aufgezwungene Immobilität<br />

weitere Ausschweifungen.«<br />

Der Kellner kam und die Dame orderte ein Gläschen Tio Pepe.<br />

»Männer stehen nach über tausend Jahren Patriarchat in dem zweifelhaften<br />

Ruf, ausschließlich von sich zu erzählen«, versuchte Richard das<br />

Gespräch zu eröffnen und seine Erwartungshaltung zu verdeutlichen.<br />

»Und jetzt erwarten Sie, dass ich von mir erzähle?«, schmunzelte sie.<br />

»Sie sprechen zum Beispiel ein hervorragendes Englisch«, versuchte<br />

er, das Eis zu brechen.<br />

»Danke«, sagte sie zu Richard und dem Kellner gleichzeitig, und als<br />

Letzterer weg war: »Meine Eltern kamen aus Gdansk. Aufgewachsen<br />

bin ich in Warschau. Mein Vater war Ministerialbeamter im Amt für<br />

kirchliche Angelegenheiten. Meine Mutter unterrichtete Kunstgeschichte<br />

am Gymnasium. Ich selbst hatte mich nach dem Abitur auf<br />

Fremdsprachen spezialisiert, also Englisch, Deutsch, etwas Französisch<br />

und Russisch ohnehin.«<br />

»Sicher haben Sie auch eine entsprechende Begabung für Fremdsprachen.«<br />

»Na, ich weiß nicht«, kokettierte die Frau. »Aber später wurde ich Reiseführerin<br />

in Warschau. Bei dieser Gelegenheit habe ich auch meinen<br />

Mann, Friedrich Meister, kennen gelernt.«<br />

»Ein weit gereister Mann. Ich hatte noch nicht das Vergnügen.«<br />

»Ich schon«, lachte sie, »er ist zwanzig Jahre älter als ich. Eigentlich<br />

habe ich damals meinen Vater geheiratet«, sie winkte verächtlich ab,<br />

»aber ich wollte heraus aus dem Mief des kommunistischen Paradieses.<br />

Für mich war die reiche Schweiz eine Traumwelt...«<br />

»Hüte dich vor dem Ankommen!?«<br />

Madame Novak hatte offenbar die psychologischen Klippen rund um<br />

das Ankommen nicht studiert, denn sie stutzte einen kurzen Moment.<br />

»Er ist in seinem Fach bestimmt eine Kapazität, aber eben auch ein<br />

Großmaul, Lügner und Angeber.«<br />

»Ältere Männer schmücken sich eben mit ihren schönen Frauen«, entschuldigte<br />

Richard seinen Geschlechtsgenossen.<br />

»Und die dummen Gänse fügen sich in ihre Leibeigenschaft«, zischte<br />

sie verächtlich und machte dann: »Pah, für etwas Schmuck und ein wenig<br />

Taschengeld ordnet sich die Frau der vorgestellten Leistung des<br />

Mannes unter. Wissen Sie was? Ich brauche jetzt einen Schnaps.«<br />

Sie hatte den bestellten Sherry nicht angerührt. Jetzt notierte der herbeigeorderte<br />

Kellner die Bestellung eines zweifachen doppelten Wod-<br />

122


kas in einem Wasserglas. Richard schluckte trocken und bestellte sich<br />

noch einen Kaffee.<br />

»Wie lernten Sie Dr. Kropf kennen?«, schoss Richard aus der Hüfte.<br />

Sie war nicht zu beeindrucken, lächelte kalt und sagte scharf: »Ich hatte<br />

nicht behauptet, diesen Herrn zu kennen.«<br />

»Es lag nur nahe, verehrte Frau Meister-Novak«, tat Richard liebenswürdig.<br />

Der Kellner kam mit einer kleineren Flasche des gewünschten Wodkas<br />

und einem leeren Glas. Geistesgegenwärtig legte Madame die Hand auf<br />

des Kellners Arm: »Junger Mann, ich trinke nur eine Kleinigkeit. Vielleicht<br />

möchte mein Begleiter auch noch einen Schluck. Lassen Sie die<br />

Flasche stehen, wir bedienen uns selbst.«<br />

Richard hätte gute Lust gehabt, von dem deutsch-ungarischen Genie in<br />

der Suchtklinik zu erzählen. Aber sein Gegenüber musste eine Alkoholresistenz<br />

entwickelt haben, denn Madame schenkte sich das Wasserglas<br />

voll und trank die Flüssigkeit wie andere Menschen Orangensaft. Ihm<br />

bot sie erst gar nichts davon an.<br />

»Ja, entschuldigen Sie bitte, natürlich kenne ich ihn. Er war der erste in<br />

dieser feinen Gesellschaft, der mir keine Komplimente machte...«, sie<br />

trank noch einen Schluck, dann sagte sie kühl und voller Stolz: »Ich<br />

aber war die Einzige, die sich seine Gemeinheiten und Erniedrigungen<br />

nicht gefallen ließ. Soweit kommt es noch. Doch das Großmaul Meister<br />

wedelte um diesen Advokaten pausenlos herum, kein Wunder, dass<br />

Kropf ihn ab und zu nötigt.«<br />

Die durstige Frau richtete sich auf und schaute Richard keck an. Der<br />

rührte unberührt in seinem Kaffee und sagte beiläufig: »Immerhin hat<br />

der Vergewaltiger Sie prompt und unmittelbar von unserem Deal unterrichtet.«<br />

Sie kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen: »Sie sind wohl<br />

ein kleiner Detektiv?«<br />

Richard schüttelte den Kopf: »Kommt der Deal zwischen Kropf und<br />

mir zustande, dann wäre Ihr geschiedener Mann der Verlierer. Friedrich<br />

Meister hätte somit keinen Grund, seine geschiedene Frau anzurufen,<br />

um ihr die freudige Nachricht zu übermitteln, dass man ihm seine in<br />

Aussicht gestellte Provision streitig machen will.«<br />

Madame schenkte sich noch ein kleines Schlückchen nach und stellte<br />

die Flasche energisch zurück: »Da sehen Sie mal, was das alles für<br />

Deppen sind. Dieser hässliche Kropf hat mir die Angelegenheit im Imperativ<br />

Präsens berichtet, während Sie den Konjunktiv verwenden.«<br />

123


»Ich bin ebenfalls erstaunt«, bekundete Richard und nahm sich vor,<br />

das Pokerspiel noch eine Runde weiterzuspielen, »aber ich beabsichtige<br />

schon, das Geschäft einzugehen. Es sei denn, Sie, gnädige Frau, haben<br />

gute Gründe, die dagegen sprechen. Eigentlich sind Sie ja meine einzige<br />

Vertraute in dieser Angelegenheit.«<br />

»Wie komme ich dazu?«, reagierte sie widerspenstig und holte tief<br />

Luft. Dann sagte sie: »Machen wir uns nichts vor. Mein ehemaliger<br />

Mann ist im Kunsthandel eine Kapazität. Kropf benutzt Sie, um Druck<br />

auf ihn auszuüben bzw. ihm die Provision streitig zu machen. Am<br />

Schluss will er euch beide betrügen.«<br />

Auf diesen Gedanken war der kleine Detektiv allerdings schon selbst<br />

gekommen. »Warum tut er das? Wer im Glashaus sitzt...«<br />

Sie lehnte sich vor, nahm seine Hand und flüsterte: »Habgier, Missgunst<br />

und die selbstzerstörerische Sehnsucht danach, endlich jemand zu<br />

finden, der es ihm so richtig besorgt.«<br />

Diese Offenheit hatte etwas Verführerisches an sich: »Sie spielen mit<br />

dem Feuer, gnädige Frau. Ihr Umfeld wimmelt von Masochisten. Dass<br />

Sie unmittelbar in diese Sache eingeweiht wurden, lässt mich doch annehmen,<br />

dass Sie eine Vertrauensperson gegenüber Kropf sind. Sollte<br />

ich dieses Spiel eingehen wollen, so werde ich es mit Sicherheit gewinnen.«<br />

Richard zeigte mit seinem Zeigefinger auf ihre Nasenspitze: »Darf ich<br />

raten? Sie sind Kropf noch etwas schuldig und wollen ihm die angestrebte<br />

Erniedrigung verschaffen?«<br />

Sie lehnte sich zurück und lachte: »So kann man es auch sehen.« Dann<br />

kam sie wieder nach vorn und meinte: »Im Ernst, ich habe ihm viel zu<br />

verdanken. Er hat mir diese Direktionsstelle bei Caratus beschafft...«<br />

Für einen kurzen Moment nagte sie an ihrer Unterlippe, dann wechselte<br />

sie abrupt das Thema: »Ich dachte, Sie wollten mich zum Essen einladen.<br />

Jetzt sitzen wir hier in der Hotelbar, dann können wir auch nach<br />

oben gehen und uns einen Piccolo aus der Minibar genehmigen.«<br />

Richard lächelte amüsiert und zeigte mit dem Daumen nach hinten:<br />

»Lassen Sie uns ins Restaurant gehen.« Dann zeigte er nach oben: »Das<br />

mit dem Nachtisch wird, wenn’s gut sein soll, bis nach dem Essen Zeit<br />

haben.«<br />

Unvermittelt stand sie auf: »Dann lass’ uns gehen. Ich hätte zwar noch<br />

eine Dose Thunfisch zu Hause und, wenn’s sein müsste, auch ein Glas<br />

Champagner, aber Kropf spioniert mir nach. Bekommt er etwas mit, so<br />

bin ich meinen Posten los.«<br />

*<br />

124


Nach dem Essen und etliche Stunden später träumte Richard, dass er in<br />

einem fremden Hotelzimmer mit schwerem Schädel aufgewacht wäre<br />

und die Dame seines Herzens seine Armbanduhr gestohlen hatte. Dann<br />

hatte sich der mit Erdreich übersäte Zimmerboden plötzlich aufgewölbt<br />

und Richard hatte sich samt Bett überschlagen. Der Co-Pilot sagte<br />

eben: »Come on, Darling, schlafen kann ich auch in meinem Juwelierladen.«<br />

»Ich finde die Karte nicht«, murmelte Richard und schreckte hoch.<br />

Als das Zimmerpersonal das Frühstück herankarrte, ging es Richard<br />

bereits wieder bedeutend besser. Im Morgenmantel des Hotels strich er<br />

seinen Toast und meinte zu dem ihm gegenüber sitzenden aufgetauten<br />

Eisvogel: »Du bist schon wieder ganz Geschäftsfrau. Wann musst du<br />

im Geschäft sein?«<br />

Agnieszka blickte auf ihre Uhr: »Man erwartet mich so gegen zehn.<br />

Aber ich muss vorher noch einmal nach Hause, mich umziehen.<br />

Manchmal ruft Kropf bereits um sieben Uhr früh an und verwickelt<br />

mich in ein langes Gespräch. Wo ich doch so ein Morgenmuffel bin.«<br />

»Hatte ich nicht den Eindruck«, widersprach Richard. »Was sind<br />

Kropfs Intentionen?«<br />

Der Eisvogel fischte mit der Gabel ein langes Stück Schinken vom<br />

Tablett. »Dasselbe, was ich mit dem Schinken vorhabe...«, lachte sie<br />

und der Schinken glitt von der Gabel, streifte das Schälchen mit Marmelade<br />

und fiel auf das Tischtuch. »Mit dem Unterschied, dass ich von<br />

seiner Gabel direkt in den Senfpott fallen würde.«<br />

»In England verspeist man gerne einmal etwas Schinken mit lauwarmer<br />

Senfsoße«, kommentierte der Agent die Analogie und man sah ihm<br />

nicht an, ob er dies nun ironisch meinte oder als Empfehlung verstanden<br />

wissen wollte.<br />

»Ich möchte aber nicht verspeist werden. Es ist doch klar, dass eine<br />

Reiseführerin in einem führenden Juweliergeschäft nur durch Protektion<br />

Direktorin werden kann. Falle ich in Ungnade bei Verwaltungsrat<br />

Kropf, werden die Kapitaleigner der Aktiengesellschaft nicht allzu laut<br />

widersprechen wollen. Kropf hatte die Polakin gegeben und er wird sie<br />

auch wieder nehmen.«<br />

»Ohne Grund?«, zweifelte Richard mit vollem Mund.<br />

Die Frau lachte: »Gründe? Was heißt Gründe, schließlich bin ich für<br />

die Bilanzen verantwortlich, ich zeichne die Inventur gegen usw...«<br />

»Wo ist das Problem?«<br />

125


»Willst du es im Fachchinesisch des Bilanzrechts hören oder reicht es<br />

dir, wenn ich sage, dass der große Meister, mein ehemaliger Mann, das<br />

eine oder andere Schmuckstück mit 1.000-prozentiger Handelsspanne<br />

über Caratus verkauft, selbstredend mit Kropfs Wissen, seiner Billigung<br />

und einem kleinen Versehen im Wareneingangsbuch, in der Kasse<br />

und im gesamten Rechenwerk? Kropf steckt sich die 20.000 in die Tasche,<br />

mein geschiedener Mann die andere Hälfte, ich bekomme keinen<br />

Franken, wäre aber im Falle einer Buchprüfung die Verantwortliche.«<br />

»Da kann man sich in Kenntnis der Person Kropf wohl sicher sein,<br />

dass einige dieser Schwarzgeldgeschäfte im Hintergrund penibel dokumentiert<br />

sind«, vermutete Richard, »im Falle eines Falles gäbe es<br />

sauber quittierte Belege, die beurkundeten, wann der Meister seine Juwelen<br />

an das Haus Caratus verkauft hatte. Was will Kropf? Nur deine<br />

Knechtschaft oder deine Liebe?«<br />

Sie nahm das halbe Brötchen wieder vom Mund: »Wahre Liebe ist für<br />

ihn Knechtschaft. Er ergötzt sich am Widerstand seiner Opfer und<br />

wünscht sich insgeheim, von ihnen dann doch besiegt zu werden. Als<br />

ich ihm willens war, merkte ich schnell, dass sein Interesse schlagartig<br />

nachließ. Jetzt leiste ich dosierten Widerstand und verweigere ihm damit<br />

den Höhepunkt...«<br />

»Ein Paradox«, schmunzelte Richard.<br />

Der Frau war nicht zum Lachen. »Alles, was er macht, tut er in der<br />

Absicht, dass ich mich bei der Gegenwehr selbst vernichte.«<br />

Zielsicher stieß Richard seine Gabel durch den Speckmantel eines Berner<br />

Würstchens mitten in dessen Eingeweide. »Und gestern Abend hast<br />

du einen Weg gefunden, Kropf zu killen, ohne selbst die zarten Fingerchen<br />

zu beschmutzen?!«<br />

Der Eisvogel schmollte etwas, entschied sich zu einem Lächeln und<br />

flüsterte dann: »Vor dir hat er Angst. Er wusste ja nicht, dass wir uns<br />

bereits kennen. Aber kaum hattest du sein Büro verlassen, rief er mich<br />

an und warnte mich vor diesem Engländer. Auf keinen Fall solle ich<br />

mich mit dir einlassen, du wärst ihm bereits vor ein paar Jahren sehr gefährlich<br />

nahe gekommen. Seit wann kennst du Kropf denn?«<br />

»Seit gestern«, staunte Richard, »ich hatte aber bereits vor längerer<br />

Zeit einen Auftrag dieser Greves AG, mit der auch Kropf verbunden ist.<br />

Damals nahm ich von ihm jedoch überhaupt keine Notiz.«<br />

»Hätten wir uns nicht bereits gekannt, ich hätte den Mann gesucht, vor<br />

dem Kropf Angst hat. Wie auch immer«, resümierte Agnieszka, »ich<br />

weiß es, und er weiß es, du bist mehr als ein Unternehmensberater.«<br />

126


Der Engländer machte ein verdrießliches Gesicht: »Was soll ich sonst<br />

sein?«<br />

Die Frau grinste: »Sicher Mann genug, dem Kropf sein schmutziges<br />

Handwerk zu legen.«<br />

»Ich bin schon der Ansicht, dass Kropf seiner Klientschaft nicht nur<br />

zum Vorteil gereicht...«<br />

Die Polin lachte: »Du hast nichts verstanden! Er betrügt seine Mandanten<br />

nicht ein wenig. Kropf würgt sie, bis sie tot sind. Hätte er mit<br />

Landwirtschaft zu tun, er würde das Saatgetreide den Schweinen verfüttern,<br />

die Schweine auf eigene Rechnung verkaufen und sich daran<br />

ergötzen, wenn der Bauer verhungert.«<br />

Richard nickte: »Ich denke, dass ich das schon verstanden habe. Nur in<br />

unserem Rechtssystem ist kaufmännisches Versagen nicht justiziabel...«<br />

»Ja«, unterbrach die Schöne eiskalt, »man darf nicht prozessieren, man<br />

muss ihn vernichten.«<br />

Richard fuhr fort: »Es besteht die Gefahr, dass er beim Trinken eines<br />

Giftbechers von Untreue, Unterschlagung, Steuerhinterziehung und<br />

sonst was sich nicht den Magen verrenkt, sondern wohlgenährt einmal<br />

kurz und kräftig rülpst. Denn merke, wo beim normalen Bürger immer<br />

etwas hängen bleibt, zieren erfolgreich geschlagene Schlachten die Advokaten<br />

wie Lorbeerblätter die Uniformen von Generälen.«<br />

»Ich dachte, Lorbeerblätter kommen ins Gulasch.«<br />

»Wo ist der Unterschied?«<br />

Nachdem Agnieszka Meister-Novak das Hotelzimmer verlassen hatte,<br />

telefonierte Richard mit seiner Zimmerwirtin, die sich schon sorgte,<br />

weil er die ganze Nacht nicht nach Hause gekommen war und wohl das<br />

hartgekochte Ei zum Frühstück verpasst hatte. Richard schenkte ihr die<br />

im Voraus bezahlte Restmiete und ließ mit Hilfe eines Taxifahrers seine<br />

Sachen abholen. Er hatte die harten <strong>Eier</strong> satt und den rationierten<br />

Vorderschinken, der für sich genommen bereits eine Frechheit war,<br />

ebenfalls.<br />

Immerhin hatten die Verfolger ihn derzeit aus den Augen verloren und<br />

in diesem Hotel galt er als Angestellter Müller der Greves AG. Die Hotelrechnung<br />

würde ihm Kessler aber vom Honorar abziehen.<br />

Der alte Kessler war dann auch überhaupt nicht mehr gut auf ihn zu<br />

sprechen. Manager lieben das Controlling. In manchen Unternehmen<br />

wird bis zum endgültigen Bankrott jeder Schritt überwacht, erfasst, protokolliert<br />

und ausgewertet. Die Mitarbeiter jagen von einem Meeting<br />

127


ins andere und geben ihre schönen Präsentationen zum Besten. Am<br />

Schluss geht alles nach Plan, nur die Kunden sind außerplanmäßig zur<br />

Konkurrenz gelaufen.<br />

Von Richard nun überhaupt nichts mehr zu hören, während einem die<br />

Zeit unter den Nägeln brannte, erschien Kessler mehr als bedrohlich.<br />

Immerhin hatte am Schluss er und nicht Richard den Schaden. Als der<br />

Unternehmensberater sehr vorsichtig andeutete, dass Kropf Nutznießer<br />

des gesamten bösen Spiels sein könnte, lachte Kessler nur spöttisch:<br />

»Vielleicht ist es auch der Papst. Was soll Kropf davon haben, uns zu<br />

ruinieren? Außer, dass er einen Kunden los ist. Zudem hat der von<br />

Technik keine Ahnung. Sie verschwenden nur Ihre Zeit und mein<br />

Geld.«<br />

Am Nachmittag meldete sich Kessler junior zuerst telefonisch über die<br />

Mobilbox des Handys in Frankfurt und dann nach entsprechender Instruktion<br />

persönlich.<br />

»Mein Vater fühlt sich an unsere Verabredung der doppelten Geheimhaltung<br />

nicht mehr gebunden«, platzte Rolf mit der schlechten Nachricht<br />

heraus, »er hat mich angewiesen, ihm alles zu berichten, was Sie<br />

anordnen würden. Wörtlich meinte er, er wolle endlich wissen, wie man<br />

sein Geld zum Fenster hinausschmisse.«<br />

»Und Sie sind gekommen, um mir dies zu sagen?«, fragte Richard<br />

skeptisch und fletschte unbewusst die Zähne.<br />

Rolf schüttelte den Kopf und schaute beschämt auf die blaugrüne Auslegware<br />

des Hotelzimmers: »Ich soll Sie ausspionieren, um ihm berichten<br />

zu können, wie die Sache steht. Er ist eben immer noch der alte<br />

Haudegen, wenn er nicht die Fäden in der Hand hält, dann wird er fast<br />

wahnsinnig.«<br />

Der Zimmerservice in Form einer jungen Auszubildenden brachte zwei<br />

Kännchen Kaffee und zierte sich freudig erregt, das Trinkgeld anzunehmen.<br />

Der Agent goss Milch in die Tasse und dann den Kaffee drauf. Nach<br />

langem, unnötigem Rühren sagte er schließlich: »Ihr Herr Vater hat ja<br />

alle Fäden in der Hand. Das Unternehmen schreibt nun bereits im zweiten<br />

Jahr Verluste in beachtlicher siebenstelliger Höhe...« Wirkungspause,<br />

»...und das ganz ohne meine Hilfe. Sagen Sie ihm das bitte.<br />

Sagen Sie ihm ferner, dass ich nur Aufträge von Firmenchefs bekomme,<br />

die alles selbst können, toll machen und besser wissen! Ich<br />

frage mich nur, warum man mich dann beauftragt.«<br />

Richard trank einen Schluck. »Je länger einer im Management ist, desto<br />

fester wird sein Weltbild. Man hat alle Bekannten und Verwandten<br />

128


fest kategorisiert, man glaubt, alle Arbeitsabläufe optimiert zu haben,<br />

man weiß, wo der Freund ist und wo der Feind sitzt...«<br />

Während Richard redete, hatte er eine Menge Kreise und Striche auf<br />

den Hotelprospekt gemalt, jetzt zeigte er das Geschmiere hoch: »Und<br />

das ist dann die Maschine, jedes Rad an seinem Platz, jede Transmission<br />

an ihrer Stelle. Verstehen Sie das, Rolf? Und täglich drückt Ihr<br />

Herr Vater auf den Knopf und die Maschine soll z. B. <strong>Eier</strong>pfannkuchen<br />

produzieren. Aber es kommen hinten Kuhfladen heraus. Und nun sagt<br />

Ihr Herr Vater, man solle an der Maschine nichts ändern, alles wäre in<br />

bester Ordnung, nur die Kuhfladen hätten den Geschmack noch<br />

nicht...«<br />

Richard lehnte sich zurück. Rolf Kessler nickte: »Genau so ist es. Was<br />

Vater am meisten geärgert hat, ist, dass Sie die gesamte Aktion nicht<br />

offen legen. Damit er seinen Senf dazu geben kann.« Rolf schnaufte ärgerlich:<br />

»Eigentlich ist es mir auch egal, ich finde mit meinen Kenntnissen<br />

auch überall sonst einen Job - besser bezahlt ist er immer.«<br />

»Wenn der nächste Auftrag ebenfalls geklaut wird, dann hat sich das<br />

Problem endgültig erledigt. Vielleicht hat der Insolvenzverwalter in<br />

meine Person mehr Vertrauen?«, spekulierte der Engländer. »Läge die<br />

Lösung der Probleme auf der Hand, wäre ich nicht hier. In einem Unternehmen<br />

werden die <strong>Eier</strong>diebe sofort gestellt und entlassen, die<br />

dummen Saboteure fallen auf wie bunte Hunde. Bleiben noch die üblichen<br />

Verdächtigen. Nur professionelle Gauner und Spione sind nie üblich<br />

verdächtig, sie tun alles, um stets im entsprechenden günstigen<br />

Licht zu erscheinen.«<br />

»Was soll ich jetzt machen?«, fragte Rolf sichtlich entmutigt und katapultierte<br />

aus Versehen den Silberlöffel von der Untertasse auf den Boden.<br />

»Gestatten Sie mir eine Gegenfrage? Wann muss das Problem gelöst<br />

sein?«<br />

»Wir können eine Werkzeugmaschinenkombination anbieten, die superpräzise<br />

Hochleistungsventile fertigt. Wir arbeiten mit einer im Drehkopf<br />

integrierten Innenfräse. Damit werden die Ventile genauer, sind<br />

leichter anzusteuern und entsprechen endlich den Anforderungen der<br />

Kunden.«<br />

»Das hat meine Frage nicht beantwortet«, lächelte Richard, »ich<br />

schließe aber daraus, dass ähnliche Hochleistungsventile heute schon<br />

im Einsatz sind.«<br />

Richtig, bei der NASA, bei Chemotechnica in Kiew und die Insektikill<br />

& Co. KG in Linz will die Ventile in ihrer neuen Fertigungsanlage ein-<br />

129


auen. Zumindest die stehen am 4. Januar Gewehr bei Fuß und warten<br />

auf ein Angebot und die entsprechende Vorführung. Dann werden<br />

Kaufoptionen unterschrieben und irgendwann kommen die Aufträge.«<br />

»Wofür braucht die NASA superpräzise Hochleistungsventile, die<br />

auch ein Insektenvernichter verwendet?«<br />

Rolf schmunzelte: »Mit unseren Maschinen können die Ventile ja variiert<br />

werden. Die NASA benötigt diese Lösung für Satellitentriebwerke<br />

und die anderen für irgendwelche hochpräzisen Einspritzungen beim<br />

Giftkochen.«<br />

»Ab wann kann ein Kopist das Projekt an die Konkurrenz verraten?«<br />

»Ich schätze, Anfang, Mitte November stehen die Print-Pläne fest und<br />

die Software ist entsprechend modifiziert. Wenn die einzelnen Module<br />

zusammengefügt sind, erst dann rentiert sich eine Weitergabe. Zuvor<br />

werden immer wieder ganze Module verworfen, die Prints werden geändert<br />

usw. Diese Technologie zu verkaufen, lohnt sich eigentlich erst,<br />

wenn unser Angebot verbindlich vorliegt und die potentielle Konkurrenz<br />

weiß, wie genau der Kuchen ist, dessen Rezept man zum Kauf angeboten<br />

bekommt. Danach schreiben die ihre Dumping-Angebote und<br />

drei Jahre Forschungs- und Entwicklungsarbeit sind verloren.«<br />

»Und damit wäre das kleine Aktienpaket, das Ihnen Ihr Herr Vater eines<br />

Tages vermachen will, nur noch wertloses Papier«, brachte der Unternehmensberater<br />

die Sache auf den Punkt und trieb den Keil zwischen<br />

Vater und Sohn noch ein wenig tiefer.<br />

Rolf Kessler lachte nur und winkte ab: »Dieser Ochse, er ruiniert mit<br />

seinem Starrsinn die ganze Familie.«<br />

»Das ist so wie mit unserem Geisterflug von Budapest nach Sankt Gallen.<br />

Der Wetteinsatz war das Leben von vier Menschen. Bei aller Bescheidenheit,<br />

es hatte sich gelohnt, auf mich zu setzen.«<br />

»Tja, ohne Ihre tätige Mithilfe wären wir aber auch nicht in diese verflixte<br />

Situation gekommen.«<br />

»Der Flug war ein richtiger Schritt«, stellte Richard klar, »die Probleme<br />

in Ihrer Firma zu lösen. Sagen Sie Ihrem Herrn Vater, er möge<br />

mir bis November Zeit geben und ich wäre ihm für seine kritischen<br />

Bemerkungen in dieser Angelegenheit dankbar. Erwecken Sie bitte ferner<br />

das Missverständnis, ich würde ihn im November vollumfänglich in<br />

meinen Ermittlungsplan einweihen. Bisher hätte ich bei den entscheidenden<br />

Konkurrenten bereits selbst Spione untergebracht.«<br />

»Wirklich?«<br />

130


Richard lachte: »Bis November ist noch lange hin. Warum sollte ich<br />

nun meinen Auftraggeber noch mehr verärgern? Was macht eigentlich<br />

Rüegg?«<br />

»Rüegg ist voll auf Ihrer Seite, um den müssen Sie sich keine Sorgen<br />

machen, nur kann er sich gegen meinen Vater eben nicht durchsetzen.«<br />

Dann klingelte Kesslers Mobiltelefon. Richard hörte eine blecherne<br />

Stimme, dann sagte Rolf: »Ja, Herr Doktor, den kann ich Ihnen geben.«<br />

Er reichte sein Handy zu Richard und flüsterte: »Kropf!«<br />

»Müller«, murrte Richard.<br />

»Ja, von mir aus, Müller. Hören Sie, ich erwarte Sie baldmöglichst in<br />

meinem Büro!«<br />

»Morgen früh?«<br />

»Geht es nicht früher?«<br />

»Bedaure.«<br />

Richard hörte das Schnauben eines wilden Stiers. Dann sagte dieser:<br />

»Einverstanden!«<br />

»Das ging ja schneller, als ich dachte«, meinte Richard zu Rolf.<br />

»Ich verstehe nicht!?«<br />

VII<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

London, Anfang Oktober. Sir Alec dachte nicht im Traum daran, sich<br />

bei Mercedes zu bedanken. Dass sie ihm ein Observationsfahrzeug quasi<br />

frei Haus zur Untersuchung geliefert hatte, brachte ihn nicht weiter.<br />

Er schenkte sich Rum in den Tee.<br />

Nachdem das von Mercedes geraubte Lieferfahrzeug von Spezialisten<br />

intensiv untersucht wurde, kam man zu der Erkenntnis, dass es Anzeichen<br />

gäbe, die Central Intelligence Agency (CIA) hätte die Finger im<br />

Spiel. Wenn Sir Alec dann noch die Gespräche zwischen ihm und dem<br />

Verbindungsmann »Mr. Brown« bzw. seinem Minister mit in die<br />

Waagschale warf, war er sich eigentlich sicher, dass die CIA unter anderem<br />

gegen zwei seiner Leute operierte.<br />

Sir Alec nahm einen Schluck. Irgendetwas war mit dem Tee nicht in<br />

Ordnung.<br />

Allen Geheimdiensten dieser Welt ist gemein, dass sie Geld kosten<br />

und ihr Nutzen schwer zu beziffern ist. Wenn also ein befreundeter Geheimdienst<br />

zwei Mitarbeiter von ihm observierte, wenn man sich die<br />

131


Mühe machte, seinen Minister einzuschalten, dann verbrauchte diese<br />

Aktion die stets knappen materiellen und humanen Ressourcen. Und alleine<br />

diese Tatsache war eine Information, die zu hinterfragen war.<br />

Vielleicht war dieser Richard in etwas hineingestolpert, das seine Partnerin<br />

nicht wusste? Vielleicht wurden auch beide benutzt, ohne es zu<br />

wissen?<br />

Dem sympathischen Näschen von Mercedes konnte man jedenfalls<br />

nicht ansehen, ob sie log oder zumindest im Begriff war, den Apparat<br />

zu hintergehen. Damit wäre das Kapern des Observationsfahrzeugs nur<br />

ein Ablenkungsmanöver gewesen.<br />

Sir Alec trank einen weiteren Schluck. Der Tee schmeckte schrecklich,<br />

der Rum nach Wasser.<br />

Aber all dies war selbstverständlich kein Grund, mit der Gegenseite -<br />

und sei man mit ihr noch so gut befreundet - Kontakt aufzunehmen. Die<br />

Gegenseite würde in ihrer eigenen Logik sofort mit Desinformation reagieren.<br />

Im schlimmsten Falle kämen die Herrschaften dann zu der Erkenntnis,<br />

dass man selbst keine Kontrolle über die eigenen Mitarbeiter<br />

hätte.<br />

Die Gegenseite war nur von ihren Operationen abzubringen, wenn man<br />

sie von ihrem Irrweg überzeugte. Lag sie aber richtig, so musste man<br />

ihr mit der Aufklärung zuvorkommen.<br />

In dieser Logik gefangen, war es auch vollkommen klar, dass man das<br />

von Mercedes geraubte Fahrzeug wieder zurückgab. Nachdem man drei<br />

Tage brauchte, um das Fahrzeug zu untersuchen, übergab man es an die<br />

spanischen Behörden mit der Bemerkung, es hätte vor dem Haus im<br />

Halteverbot gestanden und ein Konsularangestellter hätte es im Übereifer<br />

auf den Hof des Konsulats gefahren. Und dort wäre es erst nach drei<br />

Tagen bemerkt worden, dies bitte man zu entschuldigen. Jeder, der den<br />

kleinen, engen Hof des Britischen Konsulats kannte, wusste wohl, dass<br />

man darauf ein Lieferfahrzeug nicht übersehen konnte, aber in diesem<br />

Gewerbe galt nicht, was wirklich geschah, sondern was man wirklich<br />

wissen wollte.<br />

Die spanischen Behörden setzten sich alsbald mit dem Halter in Verbindung,<br />

fragten unschuldig, warum er sein abgeschlepptes Fahrzeug<br />

nicht auslösen würde und so bekam dieser sein Fahrzeug und die Mitarbeiter<br />

ihr Geld, ihre Wäsche und Papiere zurück. Nur die konfiszierten<br />

Pistolen und Handys blieben verschwunden und natürlich fragte<br />

auch niemand nach deren Verbleib.<br />

132


So gesehen war die Aktion von Mercedes lediglich so etwas wie ein<br />

harmloser Visitenkartenaustausch unter latent Paranoiden. Sir Alec war<br />

sich dessen bewusst, hätte es aber nie zugegeben.<br />

Dem Alten war klar, dass sich sein Richard nicht in Frankfurt aufhielt,<br />

obwohl das Bewegungsprofil seines Handys dieses täglich signalisierte.<br />

Trotzdem brauchte er nun einen Verbindungsmann in dieser Mainstadt,<br />

um weiterzukommen. Bei der Suche nach einer geeigneten Figur, die<br />

man in diese Sache einweihen und verschieben könnte, wurde dem alten<br />

Raubvogel bewusst, dass er eigentlich schon längst um seine eigene<br />

Existenz kämpfte.<br />

Schließlich war er nicht irgendein leitender Offizier im Apparat, der<br />

nur nach Vorschrift Dienst machen müsste, um zu überleben, sondern<br />

die Innovation selbst. Wenn nun zwei seiner wichtigsten Mitarbeiter<br />

entscheidende Fehler unterliefen, an Verrat oder Falschspiel mochte er<br />

erst gar nicht denken, so wäre seine Organisation erledigt. Die Führung<br />

des Geheimdienstes würde daraus schließen, dass man sich auf den Alten<br />

nicht mehr verlassen könne, weil er seine Mitarbeiter nicht im Griff<br />

hätte.<br />

Sir Alec tätschelte seinen schwarzer Labrador Pat: »Du unschuldiger<br />

Hund, was wedelst du hier mit dem Schwanz? Man will Herrchen an<br />

den Kragen. Verstehst du das? Nein? Dann wird dir Herrchen jetzt beweisen,<br />

dass er noch lange nicht zum alten Eisen gehört.«<br />

»Sharon!«, schrie er durch sein Büro zu seiner Sekretärin hinüber. Die<br />

streckte den Kopf durch den offenen Spalt der zweifach gepolsterten<br />

Tür. »Erstens muss der Hund mal raus, der wedelt bereits die ganze<br />

Zeit mit dem Schwanz und zweitens schmeckt dieser Tee wie Wasser.«<br />

Seine Sekretärin öffnete die Tür nun vollständig, zeigte mit dem Finger<br />

zum Wasserbehälter: »Der Herr meinen die Flüssigkeit aus diesem<br />

Kessel?«<br />

»Ja, was denn sonst?«<br />

»Das ist Wasser, die Packung Tee, die ich Ihnen besorgte, Sir, steht<br />

seit zwei Tagen unberührt in der Küche.«<br />

*<br />

Frankfurt, drei Tage später. Mit einem flauen Gefühl in der Magengegend<br />

stieg Sir Alec am Frankfurter Hauptbahnhof aus dem Zug. Er war<br />

von London bis Basel geflogen, hatte die Grenze Schweiz/Deutschland<br />

am Badischen Bahnhof in Basel zu Fuß passiert und den kleinen Umweg<br />

mit der Fahrt im Speisewagen des ICE überbrückt. Wäre er direkt<br />

133


is Frankfurt am Main geflogen, hätten dies eventuell die Amerikaner<br />

registriert und dieses Risiko wollte er nicht eingehen. Die Fahrt lief unbehelligt<br />

vor Nachstellung des Zolls, denn sein Handgepäck hatte er als<br />

Diplomatengepäck deklariert.<br />

Die hübsche Frau, die ihm in Frankfurt Gesellschaft leisten würde, wäre<br />

ja alles andere als gut auf ihn zu sprechen. Doch die ganze Aktion<br />

wurde nur ihretwegen gemacht, was er ebenfalls nie zugeben würde.<br />

Aber professionelle Raubkatzen schmollen nicht, denn kaum hatte ihn<br />

sein Taxi einige hundert Meter gefahren, winkte sie ihm wie verabredet<br />

vom Straßenrand her freudig zu. »Halten Sie an«, befahl er dem Taxifahrer,<br />

»das ist meine Tochter.«<br />

Sir Alec hatte sich auf einen längeren Aufenthalt in Frankfurt eingestellt,<br />

denn Mercedes müsste erst einmal Gelegenheit bekommen, die<br />

Zielperson ins Visier zu nehmen. Dementsprechend war des alten Habichts<br />

Laune. Aus Gründen der Konspiration war es natürlich verboten,<br />

nun mit Mercedes sich irgendwo blicken zu lassen, spazieren zu gehen<br />

oder gemeinsam zu speisen. Doch bereits am späten Nachmittag brachte<br />

ein Bote ein Kuvert ins Hotel, in dem ein Foto der Zielperson lag und<br />

die Nachricht: »Verkehrt stets donnerstags im Shilu. Kommt so gegen<br />

21 Uhr. Bin vor Ort.«<br />

Sir Alecs Verbindungsmann zur Frankfurter Rotlichtszene würde nun<br />

den Türsteher und andere Platzhirsche des Nachtclubs an der Kaiserstraße<br />

dahingehend beeinflussen, dass niemand Mercedes vertreiben<br />

würde. Denn die Konkurrenz ist hart, und in diesem Milieu steht ein<br />

fremde Frau nicht lange am Bordstein.<br />

Eine Beschreibung von Mercedes hatte der Verbindungsmann nicht<br />

und Mercedes fragte sich die ganze Zeit, wie sie selbst diesen Typen<br />

erkennen würde.<br />

Das Röckchen, mit dem die Agentin sich kleidete, war etwas kurz,<br />

aber noch von der Länge, dass man sich jederzeit empören könnte, mit<br />

einer Bordsteinschwalbe verwechselt worden zu sein. Das Gleiche galt<br />

für die Höhe der Schuhe. Eine Gratwanderung, welche die Agentin bereits<br />

im Taxi bemerkte. Der Fahrer sagte nämlich sofort »Du« und hielt<br />

umgehend einen Vortrag darüber, dass in ein paar Jahren die Kaiserstraße<br />

vollkommen tot sei.<br />

Kaum war Mercedes vor dem Shilu angekommen, steuerte ein blonder<br />

Hüne auf sie zu. Sein feistes Gesicht und seine schwulstigen Lippen<br />

machten ihn nicht gerade vertrauenswürdig, doch er hatte ein kindliches<br />

134


Lachen im Gesicht. »Hallo, Banallo!«, sagte der Kerl, »ich bin der<br />

schöne Eddy.«<br />

Mercedes glaubte an keine Zufälle, wusste sofort dieses »Hallo Banallo«<br />

einzuordnen und machte sich nicht die geringsten Illusionen darüber,<br />

ob ihre zehnjährige Nahkampfausbildung in diesem Falle etwas<br />

nutzen würde.<br />

»Hallo«, lächelte sie angestrengt, schaute ihm offen ins Gesicht und<br />

fragte: »Sie arbeiten für alle möglichen Leute, nicht wahr?«<br />

»Wie man’s nimmt«, lachte er, denn Eddy lachte immer, »ich arbeite<br />

nicht für Kriminelle... nur für Ihren Chef und ein paar andere der Sorte.<br />

Ich bin schließlich mit einer Polizistin verheiratet. Warum?«<br />

»Ich hatte im ersten Moment den Eindruck, dass wir uns schon einmal<br />

begegnet sind«, tat Mercedes ab. Kein Wort hatte Sir Alec verlauten<br />

lassen, dass er den Typ kannte, der diesen Follmann beim Telefonieren<br />

mit ihr mit seinem blöden »Hallo Banallo« wahrscheinlich niedergeschlagen<br />

hat. Mercedes ärgerte sich derart, dass sie vollkommen ihren<br />

Auftrag vergaß: »Kennen Sie meinen Chef?«<br />

Eddy lachte: »Nicht persönlich, auch besser so, will niemand kennen<br />

lernen. Hauptsache ist, er bezahlt.«<br />

Mercedes beruhigte sich wieder. »Kennen Sie den Mann, den ich hier<br />

treffen soll?«<br />

»Den Freier? Ja, wenn der kommt, bleibe ich im Hintergrund. Machen<br />

Sie sich mal keine Sorgen. Ins Shilu kommt er nicht rein. Sie müssen<br />

noch den Namen von seiner Stammhure wissen, sie heißt Sonja.«<br />

Mercedes nickte und ging etwas näher zu dem Kerl heran. Immer noch<br />

besser, den schönen Eddy an der Seite zu haben, als von einer Horde<br />

Freier angemacht zu werden. Dann kam der Türsteher auf Eddy zu:<br />

»Hast du mal ne Kippe?«<br />

»Ich rauche nicht, das schöne Geld, das ihr da in die Luft bläst, spar’<br />

ich mir.«<br />

»Sie, Lady?«<br />

»Ich spare wohl nichts, habe aber meine Zigaretten vergessen...«<br />

»Los, da ist er«, zischte Eddy und drückte sich gerade noch rechtzeitig<br />

weg.<br />

Die Zielperson trug einen Übergangsmantel, war Anfang fünfzig und<br />

etwa 1,70 groß. Etwas geduckt steuerte er auf den Eingang des Shilu<br />

zu, doch der Türsteher versperrte den Weg und schüttelte leicht den<br />

Kopf: »Hier«, machte er, »die Lady will Sie sprechen.«<br />

Der Mann drehte sich irritiert in die falsche Richtung, dann um die eigene<br />

Achse, sah Mercedes und sagte eher schüchtern: »Ja, bitte?«<br />

135


»Georg?«, fragte Mercedes lieb und zaghaft, »ich soll dich schön grüßen<br />

von Sonja, aber sie kommt heute nicht.«<br />

»Was ist los? Warum nicht? Sie hätte mich doch im Geschäft anrufen<br />

können...«<br />

Mercedes zog den Freier etwas beiseite, brach umgehend in Tränen<br />

aus und schmiegte sich hilflos an seinen hässlichen Übergangsmantel.<br />

»Entschuldigung, es ist alles so aufregend.«<br />

Da Georg bereits schützend seinen Arm um die Unbekannte gelegt hatte,<br />

war der erste Schritt getan. »Ist Sonja etwas passiert?«<br />

Mercedes schüttelte den Kopf, zog das Näschen hoch und meinte:<br />

»Hast du mal ein Taschentuch?«<br />

Georg bot ihr ein Papiertaschentuch an. »Danke«, sagte die Agentin,<br />

»ihre Tochter hatte einen Unfall und Sonja geriet in Panik und ließ alles<br />

stehen und liegen. Das verstehst du doch?«<br />

»Einen schweren Unfall? Was ist passiert?«, fragte Georg.<br />

Mercedes schüttelte den Kopf: »Ich weiß es doch nicht. Sie sagte mir<br />

nur, fange mir den Georg vor dem Shilu ab. Es ist so ein lieber Mann,<br />

ich darf ihn nicht versetzen.«<br />

Georg wusste, was sich gehört und wollte die Unbekannte zu einem<br />

Getränk ins Shilu einladen. Doch der Türsteher winkte ab: »Wenn Sie<br />

nicht wollen, dass man der Frau die Augen auskratzt, ist es vielleicht<br />

besser, ihr geht irgendwo anders hin.«<br />

Das leuchtete dem Freier ein. Im dunklen Hintergrund entdeckte Mercedes<br />

den schönen Eddy, der gelassen an einem Auto lehnte. Mein<br />

Gott, dachte die Agentin, wenn die Queen wüsste, wer alles für ihr<br />

Reich arbeitete, sie würde keine Nacht mehr ruhig schlafen können.<br />

»Erzähle etwas von dir. Was machst du so? Sonja sagte, du hättest eine<br />

große Firma, die auch für die NASA arbeitet. Stimmt das?«<br />

Von dem weinenden, etwas hilflosen Mädchen verwandelte sich Mercedes<br />

zur professionellen Verführerin. Das Geheimrezept lautete: Fordere<br />

den Mann auf, über seinen Beruf, seinen Sport, seine Heldentaten<br />

und seine Pläne zu reden. Frage ihn jede Einzelheit ab. Lasse dir erklären,<br />

wie viele Untergebene er hat. Behaupte, dass er ein toller Chef sei,<br />

ein sehr guter Autofahrer und so gescheit, so intelligent und so stark.<br />

Der so Ausgefragte wird nach kurzer Zeit umfangreiche Erörterungen<br />

von Umständen darlegen, die niemanden auf dieser Welt wirklich interessieren,<br />

besonders die Frau nicht, mit der er verheiratet ist und die<br />

diese Geschichten bereits hundert Mal gehört hat. Im Umkehrschluss<br />

wird dieser Mann glauben, dass seine Gesprächspartnerin so klug, so<br />

136


gescheit, so intelligent und verständnisvoll sei, wie er noch keine getroffen<br />

hätte.<br />

»Wo gehen wir eigentlich hin?«, fragte Georg, nachdem sie bereits eine<br />

Weile die Kaiserstraße hoch in Richtung Hauptbahnhof gegangen<br />

waren.<br />

»Ich würde gerne wieder zurück in mein Hotel gehen«, sagte Mercedes,<br />

»ich bin doch nur noch zwei Tage hier und Sonja hat mir versprochen,<br />

dort anzurufen.«<br />

»Ach, du bist nicht aus Frankfurt?«, tat er überrascht.<br />

Mercedes verneinte und behauptete, dass sie in Barcelona eine kleine<br />

Bar hätte. Dann winkte sie ein Taxi herbei und sagte noch außerhalb<br />

des Wagens zum Fahrer: »Zum Steigenberger bitte.«<br />

Georg folgte zögernd. Da man ihn aber in keine fremde Absteige locken<br />

wollte, war die Sache annehmbar.<br />

Mercedes lachte: »Entschuldigung, aber wir kennen uns ja kaum.<br />

Wenn du anständig bist, können wir unten an der Bar noch etwas trinken.<br />

Komm bitte mit.«<br />

Hundert Meter hinter den beiden hielt der schöne Eddy ebenfalls ein<br />

Taxi an. Säßen die beiden an der Bar des Hotels, wäre sein Auftrag<br />

erstmal erfüllt. Die Künste der Lady wusste Eddy nicht einzuschätzen.<br />

Käme aber sein Auftrag in Gefahr, würde er sich den Typen wortlos<br />

schnappen und an die Bar des Hotels tragen. Das war sicher.<br />

Aber Georg wollte anständig sein und fuhr folgsam mit dieser Frau<br />

mit, von der er noch nicht einmal den Namen wusste.<br />

An der Bar angekommen, machte man von dieser dann doch keinen<br />

Gebrauch, sondern setzte sich an einen kleinen Tisch, der zum Restaurationsbereich<br />

des Barkeepers gehörte.<br />

»Wie heißt du eigentlich?«, fragte Georg, nachdem sie sich zwei Martini<br />

on the rocks bestellt hatten.<br />

»Kim«, log Mercedes und berührte unabsichtlich die Hand des Mannes.<br />

Etwas lachen, noch ein paar Fragen über den Job, die unabsichtliche<br />

Berührung des Knies, das vor Begeisterung über seine Erzählungen<br />

wiederholte Fassen seiner Hand rührt den Cocktail an, mit dem man<br />

Männer in die Horizontale lockt. Wer einmal in einer Deckanstalt gesehen<br />

hat, welch primitives Gestell den Bullen genügt, um ihren Samen<br />

zu spenden, bekommt eine Ahnung davon, welch komplizierten Weg<br />

Mercedes nun eingeschlagen hatte, weil sie gewisse Illusionen über den<br />

Mann an sich doch nicht zerstören wollte.<br />

So war Mercedes sicher, dass sich Georg bereits seit geraumer Zeit<br />

überlegte, wie er die Schöne in ihr Hotelzimmer begleiten konnte.<br />

137


Gleichzeitig stellte er sich die Frage, ob sie Geld verlangte und wenn,<br />

wie viel. War sie keine Professionelle, so zerstörte er mit einer diesbezüglichen<br />

Frage das zarte Pflänzchen der Freundschaft und der Sympathie,<br />

verbot sich aber gleichzeitig ein zu forsches Vorgehen.<br />

Mercedes aber hatte tief in ihrem Herzen einen festen Terminplan.<br />

Nach dem zweiten Martini ergriff sie Georgs Hand und sagte leise: »Du<br />

darfst nicht schlecht von mir denken. Aber ich vertrage keinen Alkohol.<br />

Ich habe vorher schon ein paar Gläser getrunken. Ich möchte jetzt nach<br />

oben gehen und mich hinlegen.«<br />

Damit war Georg noch keinen Schritt weitergekommen. Seine diesbezüglichen<br />

Komplexe dominierten sein Denken. Heiser sagte er: »Schade!«<br />

»Ja, wirklich«, meinte die scheinbar angetrunkene Kim. Der Mann bezahlte<br />

und sie schritten an der Rezeption vorbei bis zum Aufzug. Mercedes<br />

spitzte die Lippen zum Abschiedskuss, schwankte im richtigen<br />

Augenblick leicht, hielt sich taumelnd an ihm fest und kicherte: »Ich<br />

glaube, du musst mich nach oben begleiten, sonst finde ich das Zimmer<br />

nicht mehr.«<br />

Vor dem Zimmer kramte die Frau in ihrer Handtasche nach der<br />

Schlüsselkarte. »Psst«, machte sie, »leise sein, sonst glauben die anderen,<br />

ich wäre eine Dirne.«<br />

Georg war leise und die Tür irgendwann offen. Erschöpft von den<br />

Komplikationen mit dem Öffnen der Tür ließ man sich lachend aufs<br />

Bett fallen: »Jetzt geht es mir schon wieder besser!«<br />

Georg, der seinen Mantel unten an der Garderobe der Bar hatte hängen<br />

lassen, ließ sich willig sein Jackett ausziehen. Mercedes sprang freudig<br />

auf, die einzige Möglichkeit, des Mannes suchende Hand nicht abwehren<br />

zu müssen. »Ich gehe zuerst ins Bad«, frohlockte sie und verschwand.<br />

Die Vorfreude ist bekanntlich die schönste Freude und Georg knöpfte<br />

sich langsam sein Hemd auf, während er genüsslich hören konnte, wie<br />

sich im Badezimmer seine neue Bekanntschaft ihren schönen Leib berieselte.<br />

Bald schon gab es zwischen Mercedes alias Kim und der biblischen<br />

Eva nur noch den Unterschied, dass Letztere vor dem ersten Mal vermutlich<br />

keinen Bademantel trug.<br />

»Du siehst phantastisch aus«, sagte Georg, obschon es nichts zu sehen<br />

gab, und zog instinktiv seinen Bauch ein.<br />

»Danke«, lächelte die Verführerin, »das Bad ist frei.«<br />

138


Nachdem der Mann dann nackt und voller Vorfreude aus dem Bad gestürmt<br />

war, überraschte ihn die Hübsche sehr. Sie saß nämlich jetzt<br />

züchtig bekleidet auf einem gepolsterten Holzstuhl in der Nähe des gegenüberliegenden<br />

Fensters.<br />

»Liebling! Was ist los?«<br />

Mercedes antwortete nicht. Aus dem halb offen stehenden Wandschrank<br />

trat ein in seiner Erscheinung äußerst gepflegter, älterer Herr.<br />

Sein Gesicht war hager, braungebrannt und sein dunkel meliertes, graues<br />

Haar war zurückgekämmt und an den Schläfen leicht wellig.<br />

»Sie entschuldigen bitte die Störung. Aber bevor Sie sich mit meiner<br />

Tochter vergnügen, was Ihnen gegönnt sein soll, hätte ich gerne ein<br />

paar Fragen beantwortet bekommen.«<br />

Na, diesem Aufschneider hätte er es aber gegeben, immerhin war seine<br />

Tochter ja volljährig und freiwillig hier mit ihm zusammen. Was Georgs<br />

Empörung dämpfte, obwohl es diese hätte steigern müssen, war<br />

die Tatsache, dass der ältere Herr mit beiden Händen eine Walther PKK<br />

festhielt und mit dieser ständig direkt auf seinen Kopf zielte. Georg bildete<br />

sich ein, gut Englisch zu können, doch er fand keine einzige Vokabel.<br />

»Machen Sie keinen Scheiß. Ich habe Ihrer Tochter nichts getan.<br />

Hören Sie!«, rief er der Hysterie nahe auf Deutsch.<br />

Wie selbstverständlich übersetzte Mercedes mit ruhiger klarer Stimme<br />

ins Englische.<br />

Sir Alec machte eine entsprechende Handbewegung: »Ich möchte Sie<br />

herzlich bitten, sich auf die obere Seite des Bettes zu setzen.«<br />

Georg suchte seine Hosen, doch alle Kleidungsstücke waren verschwunden.<br />

Mercedes fragte: »Verstehst du ihn?«<br />

Georg nickte: »Yes, very well.«<br />

»Dann rate ich Ihnen dringend, meinen Anweisungen Folge zu leisten<br />

und Sie haben eine hinreichend gute Chance, diese Unterredung zu<br />

überleben.«<br />

»Wo sind meine Sachen?«<br />

»Tu’, was er sagt«, zischte Mercedes jetzt, »setze dich nackt aufs Bett<br />

und beantworte seine Fragen.«<br />

»Sie sind Georg Follmann?«<br />

»Ja, bin ich. Woher kennen Sie mich?«<br />

Sir Alec lächelte: »Ich kenne Sie nicht. Ich weiß aber, dass Sie bei der<br />

Transtecco GmbH in Frankfurt einer von drei Geschäftsführern sind.<br />

Stimmt das?«<br />

139


»Ja, das stimmt«, sagte Follmann, nun im Schneidersitz auf einem der<br />

beiden Kopfkissen des Bettes sitzend. Das andere hielt er umarmend<br />

vor seinen Bauch.<br />

Dann sagte der Sir klar und akzentfrei: »Hallo, Banallo!« Dabei hob er<br />

seine Pistole wieder etwas an und augenblicklich schwitzte Follmann,<br />

als säße er in einer Sauna.<br />

»Ich habe nichts getan«, wehrte er sich. Zappelnd und zitternd streckte<br />

Follmann seine Hände abwehrend nach vorn: »Ich habe mit niemandem<br />

gesprochen, noch nicht einmal mit meiner Frau. Das können Sie mir<br />

glauben. Ich habe auch diese Nummer in Palma nicht mehr angerufen,<br />

ehrlich. Ich erzählte überall, dass man mich überfallen hätte.«<br />

Sir Alec lächelte sanft und senkte seine Pistole ab. Im stillen Raum<br />

hörte man das zittrige Aufatmen von Georg Follmann. Dann warf ihm<br />

Mercedes sein Unterhemd zu und sagte unschuldig: »Wie kann man nur<br />

so schwitzen, wir haben doch noch gar nicht.«<br />

»Darf ich fragen«, fuhr Sir Alec fort, »was Sie annehmen falsch gemacht<br />

zu haben?«<br />

Diesen Satz verstand Follmann nicht. Mercedes übersetzte auf<br />

Deutsch.<br />

»Das wissen Sie doch«, meinte Georg Follmann, »ich hatte mich darüber<br />

empört, dass man mich über ganz bestimmte Vorgänge in der Firma<br />

nicht verständigte, und damit gedroht, einen Wirtschaftsprüfer einzuschalten.«<br />

»Über welche Vorgänge wurden Sie nicht informiert? Sagen Sie mir<br />

bitte Beispiele.«<br />

»Was fragen Sie denn mich? Sie müssen das doch besser wissen. Wir<br />

haben überall in Europa Filialen, die nur Geld kosten, aber keinen Cent<br />

einbringen. Manche Filialen unterhalten zwei Autos, alles Luxusmarken<br />

und ich frage mich, wer damit fährt. Auf der anderen Seite werden<br />

die entsprechenden vakanten Bilanzpositionen mit Mitteln aufgefüllt,<br />

deren Herkunft mir unklar ist. Das kann doch alles nicht wahr sein. Unser<br />

Geschäft ist heiß genug, da machen solche Aktivitäten nur unnötigen<br />

Wind.«<br />

»Welcher Art sind diese ominösen Aktivitäten?«<br />

Follmann zuckte mit den Schultern: »Mafia, Schutzgelderpressung. Ich<br />

weiß es doch nicht.«<br />

Mercedes belohnte Georg mit seinem Oberhemd.<br />

Sir Alec wechselte das Thema: »Ihr Unternehmen handelt mit Technologie.<br />

Unterbrechen Sie mich bitte, wenn ich mich irre. Sie sind eine<br />

Art Broker von High-Tech-Produkten. Sie tätigen Ihre An- und Ver-<br />

140


käufe jedoch meist nicht materiell, sondern handeln lediglich mit entsprechenden<br />

Zertifikaten. Unter dem Begriff Zertifikat fasse ich das gesamte,<br />

für ein Projekt notwendige technische Know-how zusammen.«<br />

Follmann nickte und schaute zu Mercedes hinüber, offenbar erwartete<br />

er demnächst seine Unterhosen.<br />

Doch Sir Alec stemmte sich lediglich auf den kleinen Schreibtisch, der<br />

hinter ihm dem Bett direkt gegenüber stand. Immer noch hielt er mit<br />

beiden Händen seine Pistole fest, nur dass deren Lauf jetzt schräg vor<br />

ihm auf den Boden gerichtet war.<br />

»Das besonders Heiße an Ihrem Unternehmen ist, dass die von Ihnen<br />

verkauften Zertifikate, also die Pläne und Unterlagen für die High-<br />

Tech-Produkte, nur selten von der Konstruktionsfirma erworben wurden,<br />

sondern gestohlen sind.«<br />

»Wir stehlen nicht«, erregte sich Follmann.<br />

»Juristisch haben Sie Recht. Sie sind nicht der Dieb, sondern der Hehler.«<br />

Der Freier blickte zuerst ertappt auf die Bettdecke, doch dann wehrte<br />

er sich: »Wir kaufen legal von Firmen und verkaufen an andere Firmen.<br />

Man wird uns strafrechtlich...«<br />

Follmann unterbrach sein Geschwätz, weil Sir Alec seine Pistole hoch<br />

nahm.<br />

»Herr Follmann, ich denke, Sie machen sich falsche Vorstellungen<br />

über unsere Möglichkeiten und Ihre Chancen.« Er schüttelte langsam<br />

sein Haupt und fuhr fort: »Legalistische Ausführungen Ihrerseits bringen<br />

Ihnen eventuell bei einem deutschen Staatsanwalt Punkte. Ich<br />

selbst bin damit nicht zu beeindrucken. Ich möchte Sie deshalb herzlich<br />

bitten, uns allen Ihre kindlichen Ausreden zu ersparen.«<br />

»Mehr als Erschießen können Sie mich nicht«, trotzte der Halbnackte.<br />

»Sie irren!« Die Stimme des Alten klang schneidend und eisig. »Meine<br />

Drohung besteht ausschließlich darin, Sie NICHT zu erschießen. Ich<br />

befürchte, Sie machen sich kein Bild darüber, was einem einzelnen<br />

Mann und seiner Familie alles vor seinem, ihn erlösenden Tod zustoßen<br />

kann.<br />

Vielleicht schlägt man Sie in den nächsten Tagen zum Krüppel, Sie<br />

verlieren Ihr Augenlicht, man schneidet Ihnen ein Ohr ab. Wer weiß?<br />

Dann werden Sie auf den Gedanken kommen zu flüchten, vielleicht ins<br />

Ausland...« Sir Alec machte eine weit ausholende Handbewegung.<br />

»...ohne Geld? Nach meinen Informationen wohnen Sie in Königstein<br />

in einem eigenen, schönen Haus. Das alles können Sie vergessen. Man<br />

wird Sie rund um den Globus jagen wie einen räudigen Hasen. Sie wer-<br />

141


den Ihr gesamtes Vermögen innerhalb kürzester Zeit aufbrauchen, aufbrauchen<br />

müssen. Reisen bildet nicht nur, es kostet ein Vermögen, ist<br />

man auf der Flucht. Bestechungsgelder, Schutzgelder, Transaktionskosten<br />

für Strohleute, Krankenhauskosten. Ich frage Sie, Herr Follmann,<br />

wie beweglich Sie sich in einem Rollstuhl fühlen, wie sich Ihr<br />

Leben darstellt, wenn Sie niemandem mehr vertrauen können? Aus den<br />

Schränken kommen bewaffnete Männer, an den Fernsprechern lauern<br />

dumme Schläger, im Restaurant infizieren Sie sich mit Hepatitiserregern<br />

und beim Liebesspiel beißt die Hure in Ihre Männlichkeit...«<br />

Follmann nickte: »Ja, ja, schon...«<br />

Sir Alec lächelte: »Sie Dummkopf! Sie glauben, es würde alles nicht<br />

so schlimm werden wie von mir dargestellt. Sie irren sich! Ich bin ein<br />

äußerst phantasieloser, alter Mann. Sie aber werden in einen Zustand<br />

versetzt werden, in dem Sie vor Ihren eigenen Gedanken flüchten. Und<br />

immer wenn es ruhig wird, hören Sie im ungewissen Hintergrund mein<br />

Lachen. Sie werden sich bewaffnen, doch Sie werden nie ein konkretes<br />

Ziel haben. Dann verlässt Sie Ihr Mut, Sie kapitulieren, wollen alles sagen,<br />

alles gestehen, alles wieder gutmachen... Aber Sie werden niemanden<br />

finden, bei dem Sie Ihr volles Herz ausschütten können. Die<br />

Polizisten dieser Welt werden Sie als armen Verrückten mit Verfolgungswahn<br />

ansehen und Ihren Geschichten keinen Glauben schenken.<br />

Am Schluss schlafen Sie unter Brücken, trinken sauren Landwein aus<br />

Papiertüten, haben die Krätze und Ihre eigene Tochter wird diesen Penner<br />

nicht wiedererkennen. Haben Sie mich verstanden?«<br />

Follmann nickte.<br />

»Ob Sie mich verstanden haben?«, wurde der Alte laut.<br />

»Yes, Sir!«<br />

»Deshalb erhängen sich in solchen Hotelzimmern wie diesem hier bedauerlicherweise<br />

immer wieder Geschäftsführer ähnlicher Unternehmen,<br />

weil sie keinen Ausweg mehr wissen. Zugegeben, dann haben die<br />

Erhängten das Spiel gewonnen. Aber zu welchem Preis?«<br />

Der Geschäftsführer der Transtecco sagte nichts mehr. Er konnte auch<br />

nicht mehr denken. Sein Mund war trocken und seine Zunge fühlte sich<br />

dick und pelzig an. Sein Herz jagte im Galopp und seine Halsschlagadern<br />

quollen hervor, als würden sie seinen Kopf mit Blut aufpumpen<br />

wollen, bis er platzte.<br />

Sir Alecs Stimme wurde wieder sanft: »Sie und Ihre Partner sind Wirtschaftskriminelle<br />

der ganz besonders gefährlichen Sorte. Eine Zunft,<br />

die den Strafverfolgungsbehörden um Längen voraus sind. Trotzdem<br />

fühle ich mich moralisch dazu verpflichtet, Sie vor potentiellem Unheil<br />

142


zu schützen, wenn Sie sich freiwillig dazu bereit erklären könnten, mit<br />

mir zusammenzuarbeiten.«<br />

Mercedes hatte den letzten Satz wie selbstverständlich ins Deutsche<br />

übersetzt. Es wäre der Sache nicht gedient, dass auf Grund von semantischen<br />

Missverständnissen die Operation Schieflage bekäme.<br />

»Ja«, sagte Georg heiser, »ich mache alles, was Sie wollen.«<br />

»Das ist sehr liebenswürdig«, lächelte der Engländer. »Fangen wir<br />

gleich damit an. Sie haben vor zwei Jahren Kompasskreiselanlagen an<br />

eine pakistanische Firma verkauft?«<br />

Follmann wurde hellhörig: »Ja, aber wir hatten eine offizielle Ausfuhrgenehmigung<br />

der hiesigen Behörden.«<br />

Sir Alec verzog sein Gesicht. »Was sind Sie nur für kleiner Wicht? Sie<br />

hatten diese Technik von einem britischen Unternehmen gestohlen und<br />

diesen Diebstahl über eine schwedische Briefkastenfirma verdunkelt.«<br />

»Wir haben nichts gestohlen, das war die SloTrade in Bratislava. Die<br />

hat die Unterlagen an die Schweden verkauft...«<br />

»Damit Sie das Geschäft machen können«, bestätigte der Sir.<br />

»Ja, so machen wir das immer. Wenn die SloTrade kauft, verkaufen<br />

wir und umgekehrt. Aber die Sache hat nur im Dreiecksgeschäft Sinn,<br />

sonst läge die Beziehung SloTrade und Transtecco offen...«<br />

»Der Dritte im Bunde ist in der Regel eine sehr kurzlebige Briefkastenfirma«,<br />

bestätigte der Engländer. »Es ist Ihnen aber auch bewusst,<br />

dass, bevor die Pakistaner die Kreiselanlagen hatten, eine amerikanische<br />

Firma weltweit baugleiche Kreisel zu Spottpreisen anbot. Die Pakistaner<br />

hatten so nur für wenige Wochen ihre Freude am Handelsgeschäft,<br />

dann holten die Amerikaner den Hund aus der Tüte...«<br />

Mercedes übersetzte mit: »Die Katze aus dem Sack.«<br />

Sir Alec war nicht sonderlich beeindruckt über die sprachliche Richtigstellung<br />

und fuhr fort: »Wie erklären Sie sich das? Sagen Sie nicht, dass<br />

die Amerikaner die Technik in Pakistan abgeschöpft hatten, sie war zuvor<br />

bereits verraten. Das ergibt sich aus der Chronologie der Ereignisse.«<br />

Der Mann auf dem Bett nickte: »Genau, so war es. Wir haben selbst<br />

gestaunt...«<br />

Sir Alec blitzschnell: »Sie, Follmann, haben gestaunt? Oder war die<br />

übrige Geschäftsführung der Transtecco gar nicht überrascht?«<br />

»Seidler, der zweite Geschäftsführer, hat nur gesagt, dass uns dies<br />

nichts anginge. Das Geschäft wäre ja im Kasten.«<br />

Mercedes wollte Follmann seine Unterhose zuwerfen, doch Sir Alec<br />

hob die Hand und damit gleichzeitig wieder seine Pistole: »Und nun er-<br />

143


zählen Sie mir offen die derzeitigen Transaktionen mit diverser Atomwaffentechnologie.«<br />

Mercedes war genau so erstaunt wie der Befragte selbst. »Wie bitte?«,<br />

fragte dieser zurück, »Sir, wir haben derzeit nur ein einziges Geschäft<br />

in Aussicht. Es handelt sich um Hochleistungsventile für die NASA.<br />

Ich wusste nicht, dass diese auch bei Atomwaffen Verwendung finden...«<br />

Sir Alec wusste zu genau, dass Menschen auch in höchster Not lügen,<br />

heucheln und die Wahrheit verdrehen konnten. Doch Follmanns bedingungsloser<br />

Rückzug, nachdem man ihn in der Telefonzelle zusammengeschlagen<br />

hatte, das heutige Gespräch und die es begleitenden Umstände<br />

brachten ihn zu der Überzeugung, dass Follmann die Wahrheit<br />

sagte.<br />

Trotzdem hakte er nach: »Und die SloTrade, Ihre zweieiige Zwillingsschwester?<br />

Macht sie die Geschäfte, von denen Sie nichts wissen wollen?«<br />

»Die SloTrade schöpft im Falle dieser Ventile ab und wir verkaufen.<br />

Sonst ist mir nichts bekannt. Ehrlich...« Follmann stockte.<br />

»Was noch?«<br />

»Eigentlich nichts. Nur irgendwann hat mir Jozef Babic, der technische<br />

Geschäftsführer der SloTrade, erzählt, dass sie aus Russland irgendwelche<br />

Kunstgegenstände schmuggeln wollen, weil einer ihrer<br />

Kunden Kunstliebhaber wäre.«<br />

Sir Alec wollte diese Erzählung eben abtun, steckte seine Pistole in<br />

den Schulterhalfter zurück und schaute Mercedes, die mit Follmanns<br />

Unterhose in der Hand ihn irritiert anschaute, fragend an. In der Ecke<br />

knackte leise das Kühlrelais der hoteleigenen Minibar. Sir Alec war zu<br />

alt, um noch an die reine Vernunft glauben zu können. Follmann schaute<br />

hilflos zu Mercedes, dann wieder zu dem Alten hinüber.<br />

Der sagte nun vorsichtig und sehr leise: »Sagen Sie mir doch einmal<br />

wörtlich, was dieser Babic in diesem Zusammenhang erzählte.«<br />

»Weiß ich nicht mehr... Irgendetwas von Millionen und <strong>Eier</strong>n. Ein General<br />

wolle diese <strong>Eier</strong> haben, kosten sie, was sie wollen.«<br />

»Sie sprachen am Telefon?«<br />

»Ja, natürlich. Wir kennen uns nicht persönlich.«<br />

»In welcher Sprache telefonieren Sie mit diesem Babic?«<br />

»In Deutsch und Englisch, wie es gerade kommt. Babic spricht keine<br />

der beiden Sprachen gut.«<br />

»Sie sind sich sicher«, so der Alte lauernd, »dass es sich um Kunstgegenstände<br />

handelte.«<br />

144


»Ja, natürlich. Irgendwelche vergoldeten Ostereier oder so.«<br />

Mercedes warf Follmann seine Unterhose zu.<br />

»Wo ist dieser General?«<br />

Follmann war ratlos: »Keine Ahnung, aber ich kann Babic beim nächsten<br />

Gespräch danach fragen. Nur wie erreiche ich Sie, Sir?«<br />

»Sie erreichen mich nie wieder und werden in der Rückschau dafür<br />

dankbar sein«, erklärte Sir Alec, »aber wir werden uns wieder mit Ihnen<br />

in Verbindung setzen. Das Stichwort heißt: Wie geht es Sonja? und<br />

Sie antworten darauf: Ich weiß es nicht, ihre Tochter hatte einen Unfall,<br />

seitdem habe ich sie nie wieder gesehen.«<br />

Follmann zog seine Unterhose an.<br />

»Wie geht es Sonja?« fragte Mercedes lächelnd.<br />

Irritiert schaute Follmann zu ihr hinüber, dann sagte er schnell: »Ich<br />

weiß es nicht, ihre Tochter hatte einen Unfall, seitdem habe ich sie nie<br />

wieder gesehen.«<br />

Sir Alec war zufrieden, trotzdem ergänzte er: »Es ist klar, dass die<br />

wirkliche Sonja, diese dubiose Dame, von uns nichts weiß und mit uns<br />

nicht in Verbindung steht. Für die wirkliche Sonja hatten Sie heute<br />

Abend einen wichtigen Geschäftstermin wahrnehmen müssen und sind<br />

entschuldigt. Also: Sie führen weiterhin das Leben, das Sie schon immer<br />

gelebt haben. Diese Unterredung hat nie stattgefunden. Kein Wort<br />

zu Seidler, zu Ihrer Gattin, zu Huren, Pfarrern oder Polizisten. Wir werden<br />

Sie immer persönlich ansprechen und nie am Telefon. Wir sprechen<br />

Sie an, geben Ihnen Instruktionen und Sie befolgen diese exakt.<br />

Haben Sie dies verstanden und sind Sie freiwillig willens und in der<br />

Lage, mit uns zusammenzuarbeiten?«<br />

»Ich habe wohl keine andere Wahl.«<br />

»Doch!«, widersprach Sir Alec messerscharf, zynisch aber eindeutig.<br />

»Ja, Sir. Ich wollte sagen, ich habe keine vernünftige andere Wahl.«<br />

»Der Mensch hat Jahrmillionen überlebt, obwohl er die Gefahren verdrängte«,<br />

dozierte Sir Alec überraschend, »Belohnungen sind ein besseres<br />

Mittel der Konditionierung. Sie arbeiten mit uns zusammen und ich<br />

werde versuchen, Ihre Person und Ihr Vermögen vor weiterem Unbill<br />

zu schützen. Sollte man mit Ihnen in Kontakt treten und Sie anweisen,<br />

sofort unterzutauchen, dann setzen Sie sich bitte in die nächste Bahn<br />

und fahren ohne Verzug bis nach Gibraltar. Dort würden wir Sie wieder<br />

ansprechen.<br />

Wäre dieser Moment jetzt, würden Sie also umgehend zum Hauptbahnhof<br />

gehen, in den nächsten Zug einsteigen und aus Frankfurt verschwinden.<br />

Wichtig dabei ist, dass Sie Ihr Mobiltelefon bereits auf dem<br />

145


Weg zum Bahnhof in die nächste Abfalltonne werfen. Da die Züge alle<br />

nach Rom fahren, aber nicht unbedingt nach Gibraltar, werden Sie immer<br />

wieder umsteigen, bis Sie richtig sind. Die Fahrkarten lösen Sie<br />

bitte stets im Zug, nie an Fahrkartenschaltern und immer nur für kleine<br />

Etappen. Aber wie gesagt, das wäre der Notfall, um Ihr Leben zu retten.<br />

Ich hoffe, wir können die Sache ohne diese Umstände zu einem glücklichen<br />

Abschluss führen. Das bedeutet, dass Sie Ihr privates Vermögen<br />

nicht verlieren werden.«<br />

»Yes, Sir.«<br />

Sir Alec schwang sich vom Schreibtisch. »Sie nehmen natürlich jetzt<br />

an, dass ich eine Bedrohung für Sie darstelle. Das bleibt Ihnen unbenommen.<br />

Zu einem späteren Zeitpunkt werden Sie erkennen, dass ich<br />

Ihr Freund bin.«<br />

Mercedes legte Follmanns Hose und Jackett über ihren Arm und stand<br />

ebenfalls auf: »Tut mir Leid«, sagte sie lächelnd, »aber du wirst jetzt<br />

keine Lust mehr haben. Dusche dich nochmals in aller Ruhe, ein Hotelpage<br />

bringt dir deine Sachen in einer Stunde wieder hoch. Denke an<br />

deinen Mantel, er hängt noch unten an der Bar. Ach so, die Getränke<br />

der Minibar wurden von meinem Papa bezahlt. Bediene dich also«,<br />

schmunzelte die Frau, »du kannst die gesamte Minibar austrinken.«<br />

Sir Alec hatte die Zimmertür geöffnet und ging wortlos auf den Flur<br />

des Hotels voran.<br />

»Bleibe stark«, lächelte Mercedes und küsste Georg mit ihren roten<br />

Lippen sachte, zärtlich und in sicherer Entfernung. Dann fiel die Tür<br />

hinter ihr ins Schloss.<br />

Unten im Hotel stiegen die beiden in zwei Taxis und fuhren davon.<br />

Mercedes hielt vor dem Shilu. Der schöne Eddy hatte bereits auf sie<br />

gewartet. Die Agentin übergab ihm wortlos Hose und Jackett von Follmann.<br />

Eddy würde die Sachen in einem Karton verstauen und diesen<br />

im Hotel abgeben. An der Rezeption war für ihn ein Kuvert hinterlegt<br />

und der schöne Eddy würde dies dankend in Empfang nehmen und verschwinden.<br />

Follmann hingegen würde nicht einfach das Hotel verlassen. Zu brennend<br />

würde er sich dafür interessieren, wer dieses Zimmer angemietet<br />

hatte. Der Mann an der Rezeption würde nicht verstehen: »Sie, Herr<br />

Follmann, vielen Dank, es ist alles bezahlt. Beehren Sie uns bald wieder.«<br />

Das wäre für Follmann dann der letzte Versuch, hinter die Dinge<br />

blicken zu wollen.<br />

146


In einem kleinen, unscheinbaren Hotel traf Mercedes wieder auf Sir<br />

Alec, der eben dabei war, seine Tasche zu packen.<br />

»Was hätten Sie gemacht, Sir, wenn er sich gewehrt hätte?«<br />

Sir Alec lächelte vieldeutig: »Vielleicht hätte ich ihn gehen lassen<br />

müssen.«<br />

»Glauben Sie nicht, Sir, dass solche Vernehmungsmethoden Borderlinefälle<br />

von Folter sind?«<br />

»Analysieren Sie bitte meine Ausführungen. Ich selbst drohte ihm mit<br />

keinem Wort. Ich zeigte ihm lediglich Möglichkeiten auf, wie sich sein<br />

Leben ohne meinen Schutz negativ verändern könnte. Mit keinem Wort<br />

behauptete ich, dass dies so sein würde.«<br />

»Das einzige Unrecht in dieser Operation«, fuhr Sir Alec fort, »bestand<br />

lediglich darin, dass Sie ihm seine Hose und sein Jackett wegnahmen.<br />

Alles andere hat sich Follmann in seiner Angst selbst zusammengereimt.<br />

Es muss doch einem älteren Herrn noch erlaubt sein, zu jemanden<br />

zu sagen, dass seine einzige Drohung in dieser Sache darin bestände,<br />

ihn nicht zu erschießen.«<br />

Mercedes musste noch etwas los werden: »Dieser Eddy benutzt als feste<br />

Begrüßungsformel dieses Hallo, Banallo. Ich gehe recht in der Annahme,<br />

dass aber Sie, Sir, diesen Typen damals nicht beauftragten,<br />

Follmann krankenhausreif zu schlagen?«<br />

Sir Alec war ehrlich erstaunt, dann sagte er ernst: »Ich wusste sofort,<br />

dass der schöne Eddy hier tätig geworden war. Aber eben nicht in meinem<br />

Auftrag. Wir haben mit dieser Untat nichts zu tun. Es zeigt uns<br />

nur, dass wir es mit gleichwertigen Gegnern zu tun haben. Dieser Eddy<br />

führt für viele Leute diverse Aufträge aus. Follmann ist das Opfer. Nun<br />

habe ich ihn überredet, sich zwischen den Stühlen zu platzieren und so<br />

werden wir ihn ausbeuten. Die Transtecco ist mehr als ein betrügerisches<br />

Handelsunternehmen. Follmann weiß derzeit weniger als wir. Ich<br />

werde ihn lehren, die richtigen Fragen zu stellen.«<br />

»Wenn Eddy aber auch für die Gegenseite arbeitet«, überlegte Mercedes,<br />

»ist er für uns ein Sicherheitsrisiko.«<br />

Sir Alec winkte ab. »Eddy ist eine Hure. Er weiß ja nicht, dass er heute<br />

für uns und gestern für einen anderen Auftraggeber gearbeitet hat.«<br />

»Ihr Wort in Gottes Ohr.«<br />

»Hat der denn Ohren?«, fragte der Alte etwas erschrocken.<br />

*<br />

147


Zürich, in der Klinik für Suchtkranke, zwei Wochen nach Einlieferung<br />

von Frank W. »Oh, die werte Gattin«, schmalzte Prof. Dr. Jürgen<br />

Obersdorf und musste sich für den Handkuss ungewöhnlich tief verbeugen.<br />

Madame Agnieszka Meister-Novak verzog derart angewidert<br />

hochnäsig ihr Gesicht, dass es wohl für den Professor besser war, im<br />

Moment gegen den Fußboden blicken zu müssen.<br />

Der Herr Chefarzt, der sich bei Richards letztem Besuch in der privaten<br />

Heilanstalt am Haustelefon entschieden hatte, nicht im Hause zu<br />

sein, war entweder heute besonders freundlich oder verstand es meisterhaft,<br />

seinen Ärger über die zufällige Begegnung zu verbergen. »Herr<br />

Harriott und Gemahlin« hatten ihn nämlich auf dem Flur des Verwaltungstraktes<br />

abgefangen.<br />

Trotzdem konnte er sich die Frage »Wie kommen Sie hier denn herein?«<br />

nicht verkneifen.<br />

»Der Verwaltungsdirektor war so freundlich«, log Richard, denn er<br />

wollte den Tamilen, der mit einem Karren dreckiger Wäsche des Weges<br />

gekommen war und für zehn Franken die Hintertür aufgeschlossen hatte,<br />

nicht anschwärzen.<br />

»Ja, immer hilfsbereit, unser Herr Schnürli«, fauchte der Chefarzt und<br />

Agnieszka grinste derart unverschämt, dass man ihr eigentlich eine Papiertüte<br />

über den Kopf hätte ziehen müssen.<br />

Bei Papageien wird das ja auch gemacht. Will man sie zum Tierarzt<br />

bringen, begrüßen sie diesen ohne Tüte mit »<strong>Eier</strong>kopf« oder schlimmer<br />

und mit Tüte kann man dem Tierarzt gesprächsweise selbst sagen, was<br />

man von ihm hält. Das hatte Richard auch in diesem Falle vor.<br />

»Wie geht es meinem Schützling?«<br />

Obersdorf war für Bruchteile einer Sekunde etwas irritiert, dann sagte<br />

er mit geschwellter Brust: »Gut! Den Umständen entsprechend sogar<br />

sehr gut. Wir haben die Inkontinenz in den Griff bekommen...«, er<br />

machte eine gönnerhafte Handbewegung, »Sie wissen ja, ich habe den<br />

Fall zur Chefsache erklärt.«<br />

»Und geistig...?«<br />

»Ja, da kann man ohne weiteres von einer gewachsenen Stabilität sprechen.<br />

Also, wenn ich da nur den geringsten Zweifel gehabt hätte, hätte<br />

ich ja rechtzeitig interveniert.«<br />

»Dann kann er nun wieder arbeiten?«, fragte Richard mit wachsendem<br />

Unbehagen.<br />

Prof. Dr. Jürgen Obersdorf lachte herzlich: »Guter Witz! Also dann,<br />

alles Gute. Und grüßen Sie mir Ihre Frau Mutter, ich schaue heute<br />

Abend nochmals zu ihr rein.«<br />

148


Mit fliegendem weißen Kittel drehte er sich um, schlug einen Haken<br />

und verschwand in einem Treppenhaus.<br />

Agnieszka puffte Richard derart stark in die Seiten, dass es weh tat.<br />

»Was, deine Mutter liegt hier auch noch?«<br />

Richard wich weiteren Schlägen aus.<br />

»Immerhin hat der Herr Chefarzt irgendeine Inkontinenz bei irgendjemandem<br />

in den Griff bekommen.«<br />

»Wie bekommt man denn eine Inkontinenz in den Griff, Herr Doktor?«,<br />

frotzelte Agnieszka spitz.<br />

»Mit einer Windel für fünfzig Cent vom Drogeriemarkt gegenüber«,<br />

ärgerte sich Richard.<br />

Sie liefen nun ebenfalls die Treppen des Verwaltungstrakts hinunter,<br />

quer über den gepflegten Rasen direkt zum halbrunden Empfangsschalter.<br />

Die Schwester hatte nichts gegen den Krankenbesuch, wollte aber die<br />

Aktentasche von Richard auf alkoholische Getränke kontrollieren.<br />

»Was ist denn das?«, fragte die Gute, als sie den Laptop in seiner Tasche<br />

entdeckte. »Der darf im Spital aber nicht in Betrieb genommen<br />

werden. Auch Ihr Handy müssen Sie ausschalten, mein Herr.«<br />

»Sehr wohl«, sagte Richard und machte eine kleine Verbeugung, »der<br />

Herr Professor hat mich schon darüber unterrichtet, welch komplizierte<br />

Operationen Sie in diesem Hause vornehmen, die wir durch unsachgemäßen<br />

Gebrauch von nur schwach abgeschirmten elektronischen Geräten<br />

sicher nicht beeinträchtigen wollen.«<br />

»Liebling«, dehnte Madame ihre Worte, »wann gibt es etwas zu trinken?«<br />

Jetzt puffte Richard zurück.<br />

Als Agnieszka den bulligen Pfleger kommen sah, war ihr nun nicht<br />

mehr zum Lachen. Dieser nickte flüchtig, sagte: »Kommen Sie mit!«,<br />

drehte sich um und lief voraus.<br />

Der Weg war derselbe wie letztes Mal, nur dass sie an der besagten<br />

Wachstation vorbeigingen. In einer Art Gemeinschaftsraum saßen an<br />

kleinen Vierertischen mit Stahlrohrrahmen Männer unterschiedlichen<br />

Alters. Zwei spielten Halma, einer las in einem Comicheft, die meisten<br />

starrten jedoch nur so aus sich heraus.<br />

»Die warten aufs Nachtessen«, sagte der Riese, weil er sich offenbar<br />

genötigt sah, das versammelte Panoptikum zu erklären. »Wann gibt’s<br />

denn hier Abendbrot?«, fragte Richard verwundert. Der Bulle schaute<br />

auf die Uhr: »In zwei Stunden.«<br />

149


Klammheimlich beobachtete Richard das Gesicht seiner Begleiterin<br />

und glaubte, unter dem Make-up einen leichten Grünschimmer zu erkennen.<br />

Da sie selbst den Wodka aus Wassergläsern trank, sollte sie<br />

auch mal die hier gestrandeten Genießer kennen lernen. Nur schade,<br />

dass man nicht die Frauenstation besuchen durfte, die es hier sicher<br />

auch gab.<br />

»Pah!«, machte Agnieszka, zündete sich eine Zigarette an, machte einen<br />

tiefen Zug und fand offenbar ihren Frieden. »Sie, junger Mann,<br />

führen mich bitte hier wieder raus. Ich warte in der Cafeteria vis-a-vis.«<br />

Dann drehte sie sich zu Richard um, machte einen Kussmund und lächelte:<br />

»War nicht die beste Idee von Frauchen, dich bei deiner Arbeit<br />

zu begleiten.« Sie packte den Pfleger: »Los, junger Mann, wir gehen.«<br />

Und tatsächlich trottete der Pfleger folgsam mit ihr davon.<br />

»He, Sie«, rief Richard hinterher, »wo ist mein Patient?« Vergebens,<br />

der Eisvogel hatte den Bullen fest im Griff.<br />

»Grübeln Sie über Ihre begangenen Verbrechen gegen die Menschlichkeit<br />

nach?«<br />

Richard schaute hoch. Frank W. war mit einem Pott Kamillentee in der<br />

Hand angeschlurft gekommen. Er trug braune, viel zu große Cordhosen<br />

mit Hosenträgern und ein schrecklich kariertes Hemd.<br />

Der Programmierer, der vom Alkohol, besser vom Alkoholentzug, derart<br />

aus der Bahn geworfen wurde, dass er vor knapp einer Woche nicht<br />

mehr seinen eigenen Namen wusste, war also nicht nur nicht inkontinent,<br />

sondern auch wieder einigermaßen hergestellt, aber ausgesprochen<br />

schlecht gekleidet.<br />

Frank zog ein Päckchen Tabak aus einer seiner Hosentaschen, die bestimmt<br />

ganze Einkaufsbeutel ersetzen konnten und fing mit zittrigen<br />

Fingern an, den Tabak in ein Zigarettenblättchen zu drehen. Das war<br />

sichtlich ein schwieriges Unterfangen. Richard stützte seinen Kopf in<br />

eine Handfläche und schaute interessiert zu. Das erste Blättchen ging<br />

kaputt. Mit Hilfe des zweiten kam etwas zustande, das allerdings nicht<br />

wie eine Zigarette aussah.<br />

Frank W. schaute erstaunt hoch: »Nein, das liegt nicht am Alkohol. Ich<br />

habe in meinem Leben noch nie Zigaretten gedreht, aber dieser Tabak<br />

kommt der Marke, die ich in Ungarn rauchte, am nächsten.«<br />

»Na, dann«, lachte der Agent und kam zur Sache: »Wie geht es Ihnen<br />

denn? Können Sie schon arbeiten?«<br />

150


»Ich habe das Gefühl«, sagte der Programmierer, »dass ich noch nicht<br />

einmal mehr die Tastatur beherrsche. Geschweige, dass ich irgendeinen<br />

einzigen logischen Schritt programmiert bekomme.«<br />

Richard verzog sein Gesicht: »Schöne Aussichten.«<br />

»Weiß ich nicht. Ich habe eben das Gefühl, dass ich zuletzt vor einem<br />

Jahr an einem Computer gesessen habe, dabei sind es noch keine 14<br />

Tage.«<br />

Richard packte seinen mitgebrachten Laptop aus der Tasche und stellte<br />

ihn auf den Tisch: »Bitte schön! Den habe ich für Sie mitgebracht.«<br />

Frank W. suchte den Schalter. Dann surrte das Gerät nach oben und<br />

verlangte ein Kennwort. Er schaute fragend zu Richard: »Gerade<br />

durch!«, schmunzelte der.<br />

»Nicht schlecht«, murmelte der Alkoholiker. Dann staunte er: »Es sind<br />

ja die gleichen Programme aufgespielt, die ich in Budapest auf meiner<br />

Maschine hatte...«<br />

»Schönen Gruß von Ihrem Chef«, lachte Richard, »wir machen ganze<br />

Arbeit.«<br />

»Sehr gut!« Dann rief er ein Programm auf, rückte seinen Stuhl zurecht,<br />

nahm seinen Glimmstängel in den Mundwinkel und hämmerte<br />

mit affenartiger Geschwindigkeit irgendwelche Zahlenfolgen in das Gerät.<br />

Richard glotzte mit offenem Mund, doch Frank W. hörte nicht mehr<br />

auf. Nach drei Minuten hätte er sich beinahe die Lippen verbrannt,<br />

drückte die Kippe aus, sagte »Entschuldigung« und hämmerte noch<br />

fünf Minuten irgendetwas herunter. Dann lehnte er sich zurück und sagte:<br />

»Mal schauen, ob’s läuft.«<br />

Der Agent rückte mit seinem Stuhl, damit er auf den Bildschirm schauen<br />

konnte. Ein stilisiertes Flugzeug startete und flog über eine abstrakte<br />

Landschaft, dann setzte es zur Landung an, wühlte den Acker auf, überschlug<br />

sich und vier Strichmännchen entstiegen dem Schrotthaufen:<br />

»Hurra, wir leben noch!«, stand auf dem Bildschirm eingefroren.<br />

Richard war begeistert, gesagt hat er aber: »Die Geschichte ist natürlich<br />

frei erfunden.«<br />

»Völlig aus der Luft gegriffen!«, schmunzelte der Patient.<br />

»Aber Sie sehen«, meinte er ernsthaft, »ich bin langsam wie eine<br />

Schnecke und mache noch tausend Fehler.«<br />

»Das glaube ich Ihnen gerne«, sagte Richard und hätte vor Freude fast<br />

geweint, »ich hätte in dieser Zeit keine zehn Fehler machen können,<br />

weil ich in acht Minuten wohl so viel schreibe wie Sie in ein paar Sekunden.«<br />

151


Richard holte ein Bündel Geldscheine aus seiner Tasche. »Hier sind<br />

2.000 Franken. Laptops sind hier verboten. Ich vermute, Sie arbeiten<br />

auf Ihrem Zimmer. Immer dann, wenn vom Personal sich jemand beschwert,<br />

stecken Sie ihm einen Geldschein zu. Für Geld gibt’s hier alles.<br />

Sie befinden sich schließlich in der vornehmsten Klinik der Alpennordseite.<br />

Beim Chefarzt geht das natürlich nicht, dem sagen Sie, Sie<br />

hätten eine Sondererlaubnis vom Verwaltungsdirektor. Der Mann heißt<br />

Schnürli, mit seiner Hilfe kommt man hier überall hin.«<br />

Frank schaute ungläubig.<br />

»Ach so, beinahe hätte ich es vergessen. Hier ist ein Handy. Wenn<br />

kein Geld und keine guten Worte mehr helfen, rufen Sie mich an. Dann<br />

telefoniere ich tatsächlich einmal mit diesem Schnürli.«<br />

»Na dann. Vielen Dank für alles. Ich schaue mir die Unterlagen einmal<br />

an.«<br />

Die Männer schüttelten sich die Hand.<br />

»Und wie komme ich hier wieder raus?«, fragte Richard.<br />

»Warum sollte es Ihnen besser gehen als mir?«<br />

152<br />

*<br />

Zürich, am nächsten Tag. Um 9.59 Uhr betätigte Richard die Klingel<br />

von Dr. Kropfs Anwaltskanzlei genau eine Sekunde lang. Der Kanzleidiener<br />

hatte offensichtlich schon bei der Tür gestanden, denn er öffnete<br />

nach einer weiteren Sekunde.<br />

»Guten Tag, Herr Generalmajor!«, bellte das schwabbelige Bleichgesicht.<br />

»Hören Sie doch mit diesem Unsinn auf, ich hatte nie einen solchen<br />

Dienstgrad«, versetzte Richard leise, einen konspirativen Ton anschlagend.<br />

Das Bleichgesicht lächelte achselzuckend, zeigte mit dem Finger<br />

in Richtung Kropfs Büro und flüsterte: »Er verkehrt nur mit Generälen.<br />

Wer noch keiner ist, kommt in den Genuss einer Instant-Promotion. Für<br />

den Sold müssen Sie aber selber sorgen.«<br />

Bahnte sich hier in Kropfs Festung ein Leck an? Ein spontaner Austausch<br />

von Visitenkarten, bevor er bei Kropf eintrat, konnte nicht schaden.<br />

Es boten sich drei Sekunden, um die Karte des Kanzleidieners zu<br />

lesen: Reinhold Reinhold, cand. iur., Assistent Büro Dr. W. H. K.<br />

Richard las ein zweites Mal mit demselben Ergebnis.


»Der eine braucht Reizwäsche, der andere eben Uniformen oder beides<br />

gleichzeitig«, fügte Richard hinzu. Das Bleichgesicht verfärbte sich augenblicklich<br />

zur reifen Tomate.<br />

Kropf hockte wie letztes Mal wie ein sprungbereiter Gorilla hinter seinem<br />

Schreibtisch, Hände und Stirn voller Runzeln. Und das Fensterlicht<br />

durchstrahlte seine weiten Ohrenflügel. Richard hatte sich auf alle<br />

Eventualitäten mental eingestellt. Wenn Kropf in Erfahrung gebracht<br />

hatte, dass der Eisvogel aufgetaut wurde, so würde dies abgestritten<br />

werden. Dabei befand man sich allerdings schneller im legendären Gefangenendilemma<br />

der Spieltheorie, als einem lieb war.<br />

Würde Kropf behaupten, dass Agnieszka ihm alles gestanden hätte,<br />

hätte er bei Richard schlechte Karten. Denn Richard beschloss stets in<br />

eigener Unabhängigkeit, was stattgefunden hat und was nicht. Und so<br />

konnte sich der Agent an das Auftauen des Eisvogels mit bestem Willen<br />

nicht mehr erinnern. Aber wusste das Agnieszka?<br />

War Kropf schlau - und dumm war er sicher nicht -, so erwähnte er<br />

ihm gegenüber den Eisvogel mit keinem Wort, benutzte aber das Treffen<br />

an sich als Isolationsinstrument gegenüber Agnieszka. Kropf würde<br />

ahnen, dass Richard das Gefangenendilemma kannte. Wusste er auch,<br />

dass Richard annahm, dass er es anwenden würde? Und ahnte Kropf,<br />

dass Richard diesen Umstand mit einkalkulierte?<br />

Richard lächelte in sich hinein. Bereits vom Hotel aus hatte Richard<br />

bei Caratus angerufen und die schöne Frau über den Termin an sich informiert.<br />

Nach der Besprechung würde er sich sofort wieder melden<br />

und Kropf hätte das Spiel verloren. Denn das Gefangenendilemma<br />

funktioniert nur, wenn die Gefangenen nicht kommunizieren, aber diese<br />

Freude wollte er dem Winkeladvokaten nicht machen.<br />

Unabhängig aller List und Tücke würde die Ermittlung selbst beweisen,<br />

dass Kropf zumindest den Braten roch, wenn er auch vielleicht das<br />

Fleisch nicht beweisen konnte. Damit würde so oder so die Position der<br />

Frau Direktorin erheblich wackeln. Und Richard konnte das aufgetaute<br />

Vögelchen nicht retten, weil er gegen Kropf nichts in der Hand hatte.<br />

Kropf begrüßte Richard aber mit den Worten: »Was wissen Sie von<br />

der SloTrade?«<br />

Nichts! wäre die ehrliche, spontane Antwort gewesen, doch Richard<br />

erinnerte sich daran, dass eine solche Firma vor Jahren in sein Visier<br />

gekommen war.<br />

Richard machte ein wichtiges Gesicht: »Ich habe vermutlich über die<br />

SloTrade, Sie meinen doch die slowakische Tradingfirma, die Informationen,<br />

soweit sie öffentlich zugänglich sind.«<br />

153


»Pah«, machte Kropf, »Sie wissen doch genau, dass ich mit dieser<br />

Firma Geschäftsbeziehungen unterhalte.«<br />

Kropf schmiss ihm einen Aktendeckel zu. Richard wich aus und die<br />

Pappe traf ein Generalsbild an der rückliegenden Wand und klatschte<br />

danach hinter die lederne Chaiselongue.<br />

Bevor nun dieser Dummkopf sich empören konnte, sagte Richard sanft<br />

lächelnd: »Ich nehme zu Ihrer Entschuldigung gerne an, dass Sie für<br />

kurze Momente nicht vollkommen bei Sinnen waren. Ich bin weder Ihr<br />

Hund noch gehöre ich zu Ihrem Personal. Ich bin einen höflichen, zivilisierten<br />

Umgangston gewöhnt. Sollten Sie an einem weiteren Termin<br />

mit mir Interesse haben, so fragen Sie sich bitte, ob Sie mit diesen Bedingungen<br />

einverstanden sind. Guten Tag!«<br />

Richard drehte sich um, machte die Tür auf, kollidierte mit dem Schädel<br />

des Reinhold und verließ das Büro.<br />

Das hatte Albert Einstein gemeint, als er seine Theorie formulierte,<br />

dass die Zeit stehen bliebe, wenn man sich nur schnell genug bewegte.<br />

Denn für ein paar Augenblicke rührte sich nichts mehr. Dann schrie<br />

Kropf und ein Poltern begleitete sein Gebrüll: »Richard! Verdammt,<br />

Richard, hören Sie doch. Ich entschuldige mich ja. Richard, ich habe<br />

doch einen Auftrag für Sie. Verdammt noch mal, bleiben Sie stehen.«<br />

Diesen Effekt hatte allerdings Albert Einstein nicht berechnet gehabt.<br />

Richard drehte sich um und tatsächlich kam ihm Kropf ins Treppenhaus<br />

nachgerannt. Höchstpersönlich und selbst gehend.<br />

»Mann, Richard, ich behandle doch alle gleich. Ich wusste ja nicht,<br />

dass Sie so sensibel sind.«<br />

Das konnte Richard als Entschuldigung anerkennen, obwohl er viel lieber<br />

zuerst einmal Mercedes kontaktiert hätte, um seine Wissenslücken<br />

mit der SloTrade aufzufüllen. Jetzt hatte ihm Kropf auf die Schulter geschlagen,<br />

war die Herzlichkeit in Person und Richard blieb nichts anderes<br />

übrig als beizugeben.<br />

»Wir sind doch Soldaten«, erinnerte Kropf und die beiden gingen an<br />

dem mit großen Augen dastehenden Bürodiener vorbei an Kropfs<br />

Schreibtisch zurück.<br />

Die SloTrade, klärte Kropf auf, wäre ein Unternehmen, das aus der<br />

ehemaligen Notwendigkeit hervorging, westliche Technologie gegen<br />

harte Devisen in den Ostblock zu schmuggeln, weil das sozialistische<br />

Paradies gewisse Mängel hatte. Fast schon aus Gewohnheit entspräche<br />

ihr heutiges Geschäftskonzept in auffälliger Weise jenem früheren Verhaltensmuster.<br />

154


»Diese Leute halten sich systematisch informiert über Bedarf von<br />

High-Tech-Komponenten bei Herstellern von Waffensystemen, Raumfahrttechnik,<br />

Robotik, Präzisionsoptik, Bionik und Medizinaltechnik.<br />

Sie wissen dann, wie sie rasch und kostengünstig an diese Dinger herankommen<br />

und verdienen sich damit eine goldene Nase. Mitunter gehen<br />

sie auch umgekehrt vor. Sie verschaffen sich exklusive Teile und<br />

suchen dafür Kundschaft«, erklärte Kropf, sichtlich bemüht, einen<br />

freundlichen Ton beizubehalten, und ergänzte: »Bei der SloTrade sind<br />

Könner am Werk. Möglicherweise sind sie ab und zu in einer rechtlichen<br />

Grauzone tätig. Wer ist das nicht?«<br />

»Natürlich«, meinte Richard. »Eine andere Frage: Prozessieren Sie für<br />

oder gegen diese netten Leute?«<br />

Kropf schüttelte sorgenvoll sein Haupt: »Weder noch!«<br />

Dann erklärte Kropf, dass er mit seinen vielseitigen Beziehungen zur<br />

Industrie der SloTrade schon bald nach dem Fall des Eisernen Vorhangs<br />

Hinweise über Bedarfssituationen geliefert hätte. Nicht ganz gratis,<br />

wie er meinte. Seit einiger Zeit nun verringerten sich die Gutschriften<br />

von Mal zu Mal. Dies, obschon er, wie er zu wissen glaubte, nach<br />

wie vor wertvolle Tipps zuspielte, die kaum mit Gold aufgewogen werden<br />

könnten. Er hege deshalb den Verdacht, dass ihm seine bisherigen<br />

Freunde bedeutende Geschäfte unterschlugen. Und eben das sollte Richard<br />

nachprüfen. Technische Handelsfirmen lägen ja auch in seinem<br />

Spektrum, hätte er doch gestern versichert.<br />

»Das wäre Ihr Auftrag!«, rief Kropf, als hätte er gerade verkündet,<br />

dass zur Überraschung der gesamten christlichen Welt der Papst Weihnachten<br />

und Ostern auf den 1. Mai verlegt hätte.<br />

Richard machte den Mund wieder zu. »Und was ist mit dem Ei?«<br />

»Richtig«, meinte Kropf, »den Babic, das ist der Chef des Ladens, habe<br />

ich ebenfalls beauftragt, das Ei zu suchen. Und hier können Sie ansetzen,<br />

so nach dem Prinzip: <strong>Eier</strong>sucher der Welt vereinigt euch. Das ist<br />

doch eine gute Idee!«, stellte der Gauner hinter dem Schreibtisch fest<br />

und lehnte sich zurück. Dann zog er seine Schreibtischschublade auf,<br />

holte ein Kuvert heraus und reichte es Richard rüber: »Hier sind fürs<br />

Erste 50.000 Franken. Ich zahle besser als der Kessler. Wann fahren Sie<br />

los?«<br />

»Übermorgen!«, quittierte Richard und streckte dem Kropf die Hand<br />

hin.<br />

Und als Richard an diesem Morgen zum zweiten Mal das Büro verließ,<br />

nahm im Flur der Kanzleidiener Haltung an, soweit dies physikalisch<br />

einem Griespudding überhaupt möglich war.<br />

155


Kaum zurück im Hotel bekam Richard die Nachricht, dass ein Bote<br />

ihm etwas zustellen wolle. Wie es sich schnell herausstellte, war der<br />

Bote weder ein Meuchelmörder noch brachte er ein Paket mit einer<br />

Bombe, sondern einen mehrseitigen Bericht von Mercedes. Alle möglichen<br />

Namen und Daten waren verschlüsselt und Richard kam überhaupt<br />

nicht dazu, die eben bekommenen schönen Schweizer Franken zu<br />

zählen.<br />

Richard versuchte, die Symbiose, mit der die Transtecco und die<br />

SloTrade verbunden waren und sich die Bälle zuspielten, genauer zu<br />

durchschauen. Kropf hatte Richard eine Liste mit fünf Firmennamen<br />

übergeben. Aus dieser ging hervor, dass sich Kropf bei mehreren Geschäften<br />

der SloTrade mit der Transtecco um seine Provision betrogen<br />

fühlte. Keine einzige Firma auf Kropfs Provisionsliste war anscheinend<br />

ein Endabnehmer, wie es zum Beispiel die NASA wäre. Kropf müsste<br />

bekannt sein, dass die Transtecco ein Zwischenhändler ist und alles nur<br />

ankauft, um es weiterzuverkaufen genau wie die SloTrade auch. Diese<br />

Zwischenhändler standen über Briefkastenfirmen zueinander in Verbindung.<br />

Briefkastenfirmen werden ja ausschließlich aus diesem Grund<br />

konstruiert. Nicht nur in der Schweiz leben Armeen von Anwälten davon.<br />

Die Transaktionen zwischen ihnen sind nur getarnt dokumentiert.<br />

Kropf konnte doch nicht erwarten, dass jeder Handelsschritt vom Diebstahl<br />

bis zum Endabnehmer provisionsberechtigt war.<br />

Interessant in Mercedes’ Dossier war, dass Follmann bezüglich der<br />

neuen Hochleistungsventile von Greves bereits von einem laufenden<br />

Geschäft sprach. Die Transtecco hatte folglich von der SloTrade signalisiert<br />

bekommen, dass die Unterlagen von der Greves so gut wie sicher<br />

geklaut werden können und man sich um den Weiterverkauf kümmern<br />

müsse. Das gab Sinn.<br />

Wäre aber Kropf der offenkundige Vermittler dieses Geschäfts, würde<br />

er von Greves Provision verlangen und es der SloTrade überlassen, wie<br />

und mit wem sie danach das Geschäft versilbern würde. Die beiden<br />

Thesen standen somit in Widerspruch zueinander.<br />

Frustriert über den Wirrwarr öffnete Richard die Minibar. Beim Anblick<br />

der verschiedenen Fläschchen gelüstete es ihn aber nach einem<br />

Kaffee. Am Haustelefon bestellte sich Richard ein Kännchen, das auf<br />

einem silbernen Tablett alsbald serviert wurde.<br />

Für Mercedes und den Alten war die Greves-Angelegenheit klar, man<br />

musste nur noch den Spion innerhalb der Greves finden, welcher der<br />

SloTrade die Unterlagen zuspielte.<br />

156


Richard schrieb alle Varianten auf ein Papier mit Spion Greves, Vermittler<br />

Kropf, SloTrade, Briefkastenfirmen, Transtecco, Endabnehmer<br />

NASA.<br />

Kein Wunder, dass Raumfahrt so teuer war.<br />

Andere Möglichkeiten, schrieb Richard: Fragezeichen!<br />

Dazu kam immer noch die Tatsache, dass sie, Mercedes und Richard,<br />

observiert wurden oder es zumindest versucht wurde. Das gesamte Greves-SloTrade-Transtecco-Briefkastenfirmengeschacher<br />

warf einige<br />

hundert Tausender Gewinn ab. Vielleicht für alle. Das war für Isabella<br />

viel Geld, für ein Unternehmen aber recht wenig, berücksichtigte man<br />

die unterschiedlichen Risiken. Die Observation von ihm und Mercedes<br />

mit je vier Mann, die sich abwechselten, kostete in einem Monat mindestens<br />

50.000 Euro. Nonsens!<br />

Was wäre aber, wenn wesentlich mehr Geld im Spiel wäre? Aber wie<br />

und wo denn?<br />

Es war unbedingt erforderlich, den Follmann einige Fragen beantworten<br />

zu lassen und Richard hatte nicht die geringste Lust, seine tausend<br />

Fragen nun auch noch zu verschlüsseln. Deshalb riss er eine Seite aus<br />

der NZZ und markierte irgendeinen Artikel über Katzenfutter mit Kugelschreiber.<br />

Danach unterstrich er einige Wörter und schrieb auf den<br />

Rand der Zeitung: »Sehr interessant! Mich würde interessieren, ob<br />

Kropf bei T. bekannt und welche Geschäfte zwischen S. und T. konkret<br />

gemacht wurden? Fahre weg und bin in ein paar Tagen wieder hier.<br />

Küsschen!«<br />

So! Diese ganze Geheimniskrämerei lähmte nämlich den gesamten<br />

Dienst. Sollten doch alle schlau werden und einen Zusammenhang zwischen<br />

dem markierten Artikel über Katzenfutterproduktion und seinen<br />

Bemerkungen herausfinden.<br />

Dann klopfte es an der Tür. Brachten die jetzt noch einen Kaffee hoch?<br />

»Ja!«<br />

Die Tür ging auf und Agnieszka kam hereingeflogen. Die Bewegung<br />

des Eisvogels ließ keinen Zweifel aufkommen, sie hatte an ihrem Kostüm<br />

bereits die oberen beiden Knöpfe geöffnet. Es war ihr folglich eindeutig<br />

zu heiß.<br />

So war das eben mit dem polnischen Federvieh. Bis der hart gefrorene<br />

Vogel aus der Tiefkühltruhe aufgetaut ist, dauert es eine halbe Ewigkeit.<br />

War es aber endlich soweit, gab es kein Zurück mehr.<br />

»Wie siehst du denn aus?«, hatte Agnieszka gefragt und Richard noch<br />

mehr zerzaust, als er schon war.<br />

»Hat sich Kropf bei dir gemeldet?«, fragte Richard zurück.<br />

157


»Ja, das übliche. Eigentlich war er ungewöhnlich umgänglich. Und ich<br />

erzählte ihm, dass mein Telefon zu Hause kaputt sei. Nicht dass der<br />

sich morgen früh wundert, wenn ich wieder nicht den Hörer abnehme.«<br />

»Du willst die Nacht hier bleiben?«, fragte Richard und versuchte, auf<br />

seine Uhr am linken Handgelenk zu schauen, Madame hatte sich nämlich<br />

bei ihm auf den Schoß gesetzt.<br />

»Wie? Hast du mich schon satt?«, zürnte sie sofort.<br />

»Was heißt hier satt? Wir haben jetzt 13 Uhr mitteleuropäischer Zeitrechnung<br />

und ich muss noch ein paar Stunden arbeiten. Gestern bekam<br />

ich einen Rüffel von der Greves, dann überhäuft mich mein Büro mit<br />

tausend Fragen...«<br />

»Die du sämtliche mit einem ausgeschnittenen Artikel über Katzenfutter<br />

beantwortet hast«, unterbrach sie ihn und versuchte mit langem<br />

Hals, das Gekritzel am Rand zu entziffern.<br />

»Ja, sicher«, sagte Richard, »ich bin auch ein Genie.«<br />

Madame war von der Selbstdarstellung wenig beeindruckt, beugte sich<br />

zu seinem Ohr und hauchte: »Du hast einen Vogel!«<br />

»Der muss übermorgen nach Bratislava fliegen«, bestätigte Richard.<br />

Sie biss in sein Ohrläppchen und flüsterte: »Warum denn das?«<br />

Und Richard sagte im gleichen schwulstigen Tonfall zurück: »Weil<br />

mir dein Kropf fünfzig Tausender bezahlt hat, irgendeinen Mist zu eruieren...«<br />

Schlagartig war Schluss mit dem Liebesspiel.<br />

Agnieszka zuckte zusammen, als hätte sie in eine Steckdose gegriffen.<br />

Dann sprang sie von seinem Schoß hoch, ihre Kostüm war offen, die<br />

Bluse hing halb heraus, ihre Augen hatten sich angstvoll geweitet, sie<br />

verkrampfte die rechte Hand zu einer starren Kralle, als wolle sie ihm<br />

das Gesicht zerkratzen, immer noch starr vor Schrecken, Wut und Empörung<br />

lief sie einen Schritt rückwärts, dann beugte sie sich nach vorn<br />

und schrie: »Du Idiot, der lässt dich umbringen und du transportierst<br />

das Geld des Killers.«<br />

158<br />

*<br />

Zu irgendeinem nächtlichen Zeitpunkt fiel der Direktorin des Caratus<br />

ein, dass sie auch noch einen Job hatte. Richard wurde deshalb am<br />

Morgen des nächsten Tages bereits um 6 Uhr früh verlassen. Hatte man<br />

den halben gestrigen Tag an der Seite der neuen Liebe verbracht und


das eigene Geschäft vernachlässigt, wollte man am nächsten Tag in der<br />

Früh zumindest den obligatorischen Anruf von Kropf nicht verpassen.<br />

Agnieszka hatte getobt, weil sie glaubte, Richard von seiner Reise<br />

nach Bratislava abbringen zu müssen. Der alltägliche Mord funktionierte<br />

aber, außerhalb von James Bond-Filmen recht einfach: Man erschießt<br />

sein Opfer, wenn es die Tür öffnet. Wollte Kropf ihn also vom<br />

Leben in den Tod befördern, könnte er dies in Zürich ohne Umstände<br />

erledigen lassen. Und hätte er einen preiswerten slowakischen Killer,<br />

killte der als Tourist in der Schweiz wesentlich lieber als in seinem<br />

Heimatland. Denn bis die Kriminalpolizei ihre ersten Ermittlungsansätze<br />

erarbeitet hätte, hätte der Killer das Land schon längst wieder verlassen.<br />

Richard schlief trotzdem noch zwei Stunden. Dann signalisierte er<br />

beim Frühstück Sir Alec über sein offizielles Handy, das immer noch in<br />

Frankfurt Taxi fuhr, dass er in Prag oder Umgebung einen Kontaktmann<br />

benötigte. Zu einem ungelegenen Moment erreichte ihn dann Sir<br />

Alecs Anordnung, eine bestimmte Nummer zurückzurufen. Dazu musste<br />

Richard aber eine Vertretung des Königreichs aufsuchen, was im<br />

Morgenmantel nicht denkbar war. Und so dauerte es geraume Zeit, bevor<br />

er beim Generalkonsulat klingelte.<br />

Viele Hintergrundinformationen über die SloTrade hatte Sir Alec nicht<br />

zu bieten. Richard war ob der erfolglosen Suche in den Londoner Archiven<br />

nicht erstaunt. So war es eben. Während Jahrzehnten wurden<br />

über sämtliche Militärkommandanten, Politiker, Polizeioffiziere und<br />

natürlich über Nachrichtendienstler dicke Dossiers angelegt. Die Informationsbeschaffung<br />

war primär auf den militärstrategischen Komplex<br />

ausgerichtet und der Abwehr dieser Beschaffung. Die Wirtschaft<br />

war nur ein zweitrangiges Beobachtungsobjekt, obwohl sie die unabdingbare<br />

Basis für die Hochrüstung und die Kriegsbereitschaft war.<br />

Dass es sogenannte fliegende Beschaffer wie diesen Babic von der<br />

SloTrade gab, war zwar bekannt, wurde aber eher als Kuriosum eingestuft.<br />

Dass diese jedoch damals institutionelle Gradmesser von Knappheit<br />

und Fehlplanung darstellten, wurde nicht erkannt. Dabei wären deren<br />

Anzahl und Stossrichtungen interessant gewesen und ihre Personalien<br />

heute von größtem Nutzen. Wirken sie doch seit der Wende vielfach<br />

als Kristallisationskerne mafioser Gruppen und als Scharniere zu<br />

den Geheimdiensten.<br />

»Ja, ja«, sagte der Sir gelangweilt, »die Löcher im Fell erkennt man<br />

bei den anderen eben leichter. Wenn ich aber schon einmal die Ehre<br />

habe, mich mit dem Herrn persönlich zu unterhalten, möchte ich mir er-<br />

159


lauben, einige unbeantwortete, offene Fragen in Erinnerung zu bringen.«<br />

»Die gibt es nicht«, stellte Richard sofort auf Durchzug.<br />

»Welche Kontakte hatten Sie in den vergangenen Wochen mit Russen<br />

oder anderen Gestalten des ehemaligen Ostblocks?«<br />

»Keine!«<br />

»Mir liegt hier ein Foto vor, das Sie in enger Umarmung mit Ucastok<br />

Popfalushi zeigt.«<br />

»Ach was? Vielleicht eine Fotomontage?«<br />

»Das denke ich nicht. Popfalushi arbeitete von 1975 bis in die späten<br />

achtziger Jahre bei einem Moskauer Kombinat für Wiederaufarbeitung<br />

von Brennstäben. Ich muss Sie nicht darauf hinweisen, dass Ihre lückenhafte<br />

Berichterstattung unsere bisherige vertrauensvolle Zusammenarbeit<br />

auf eine harte Probe stellt.«<br />

Das war ja nun eine bodenlose Frechheit. »Ich kenne keinen Hubsi Popolutschi<br />

oder wie das Arschgesicht heißt, auch wenn Sie mir die<br />

Freundschaft kündigen, Sir. Mit mir macht man die Spiele wie mit Mercedes<br />

nicht. Mit Verlaub, Sir, wenn Sie glauben, mich zur Rede stellen<br />

zu müssen, dann legen Sie Ihre Karten auf den Tisch und ich werde<br />

mich dazu offen äußern.«<br />

»Sie bestimmen hier nicht die Spielregeln, sondern wir«, sagte der Alte<br />

scharf.<br />

»Dann müssen die Spielregeln eben geändert werden, Sir. Ich halte<br />

hier, weitestgehend auf eigene Rechnung, meinen Arsch in die ausländische<br />

Luft und werde zum Dank von der eigenen Abwehr belästigt.<br />

Sie können den nächsten Schnüffler bereits warnen, bekomme ich ihn<br />

in die Finger, fällt er vom Balkon. Wäre ich in Palma bei Mercedes dabei<br />

gewesen, wären die beiden Typen bis Gibraltar geschwommen. Wir<br />

werden dann ja sehen, welcher Dienst welche Beerdigung bezahlt. Ich<br />

könnte wetten, dass es nicht der eidgenössische Geheimdienst ist, sondern<br />

dass die Witwe Englisch spricht.«<br />

Sir Alec schnaubte: »Sie werden mit Ihrer Vermutung sogar Recht haben,<br />

trotzdem sind die Anschuldigungen an meine Person unhaltbar. Ich<br />

sitze mit Ihnen im gleichen Boot, wenn ich mich einmal so ausdrücken<br />

darf. Sollten wir das Problem nicht vollständig lösen, geht es an unsere<br />

Existenz. Richard, Sie gefährden durch Ihr Verhalten unsere gemeinsame<br />

Zukunft.«<br />

Das hatte Richard ja noch nie gehört. Die allmächtige, graue Eminenz<br />

hatte selbst Existenzängste. Sonst hörte er solche Töne nur bei seiner<br />

Spesenabrechnung. Man hatte ihm einmal vorgeworfen, einen Zehner-<br />

160


pack ausländischer Briefmarken gekauft zu haben, obwohl er nur eine<br />

einzelne Postkarte verschickt hatte.<br />

»Ich habe mit keinem Russen Kontakt, ich habe hier einen polnischen<br />

Vogel aufgetaut und arbeite mit einem aus Ungarn importierten Deutschen<br />

zusammen, der zu viel Tee mit Rum getrunken hat. Das dürfte<br />

Ihnen, Sir, ja bekannt sein.«<br />

Sir Alec hatte die Anspielung sehr gut verstanden und war schlau genug,<br />

nicht darauf einzugehen.<br />

»Ich will offen zu Ihnen sein«, überwand sich der alte Habicht, »man<br />

nimmt an, dass Sie sich in einen Transfer erster Priorität verstrickt haben.<br />

Und man verdächtig uns, dass wir im günstigsten Falle zu dumm<br />

wären, dies zu erkennen oder selbst in die Sache verwickelt sind.«<br />

Daher wehte also der Wind. Bereits Mercedes hatte ihm angedeutet,<br />

dass Sir Alec diesen Follmann plötzlich nach Atomwaffentechnologie<br />

befragt hatte.<br />

»Das bringt mich nun keinen Schritt weiter, Sir. Sollten diese Hochleistungsventile<br />

der G. dafür Verwendung finden, wäre das für mich<br />

neu, aber Ihre Sache, mich entsprechend anzuweisen«, meinte Richard.<br />

»Richtig erkannt«, kam es verzögert durch die angeblich abhörsichere<br />

Leitung, »es geht hier nicht um kleine Ventile, sondern um Apparate,<br />

die bis zu einer Tonne wiegen können.«<br />

»Ach so«, wurde Richard sarkastisch, »da hat mir bestimmt ein kleiner<br />

Russe unbemerkt so ein Ding zugesteckt und ich habe es nicht bemerkt.«<br />

»Es ist leider nicht zum Lachen, Richard. Was hat es mit diesem<br />

Schmuggel von Kunstgegenständen auf sich?«<br />

»Da hat man mir eine Million als Belohnung ausgesetzt...«<br />

»Pfund oder Franken?«<br />

»Dollar!«, stellte Richard klar, »und es handelt sich um ein Fabergé-<br />

Ei, etwas größer als die üblichen, immer noch kleiner als eine Artilleriegranate.<br />

Und als man für den Zar das Prunkstück anfertigen ließ, war<br />

der schrecklichste der Schrecken in Armeekreisen die Syphilis. In der<br />

Zwischenzeit sind drei Leute damit beauftragt, das Ei zu suchen. Wie<br />

die russischen Kontaktleute des Schmuckhändlers heißen und ob es<br />

überhaupt bereits diesbezügliche Anbahnungen gibt, weiß ich nicht. Ich<br />

habe schließlich mit dem Auftrag der G. genug zu tun.«<br />

»Kann es sein, dass dieses Kunstraubgeschäft nur vorgeschoben ist?«<br />

Richard schüttelte den Kopf, was am Telefon nicht zur Verständigung<br />

beitrug: »Dieser K. ist der Osterhase. Ich habe selbst die <strong>Eier</strong> von ihm<br />

besichtigt und in der Mitte der Vitrine ist bereits für das zu beschaf-<br />

161


fende größere Ei ein Platz freigehalten. Sir, ich brauche Ihnen doch<br />

nicht zu sagen, dass man mit Legenden nicht hausieren geht. Wäre die<br />

Beschaffung dieses Eies nur zur Tarnung einer anderen Aktion, also eine<br />

Legende, würde man das Objekt der Legende nicht ausloben.«<br />

»Sie sagen es. Der Plan ist entweder derart dumm, dass er bereits wieder<br />

genial ist, oder wir sind zu dumm, die Dinge hinter den Schatten zu<br />

sehen. Wann fliegen Sie?«<br />

»Morgen früh bis Prag«, bestätigte Richard. »Dann geht’s weiter.«<br />

»Ich werde Ihnen die Adresse unseres Mannes in Prag und weitere Instruktionen<br />

zukommen lassen. Auf Grund der verworrenen Lage und<br />

um Sie zu erinnern, dass meine Sorgen nicht auf die leichte Schulter<br />

genommen werden dürfen, schlage ich folgende Kontaktaufnahmeprozedur<br />

vor: Großvater ist schwer erkrankt - und die Antwort lautet: Ich<br />

werde ihm eine Flasche Rum mitbringen.«<br />

»Ist ja phantastisch. Ich denke, folgende Prozedur könnte ich mir leichter<br />

merken: Ich habe im Dienste Ihrer Majestät ein Flugzeug zerschrottet<br />

- und die Antwort lautet: Opa wird das Flugzeug bezahlen.«<br />

Es knackte in der Leitung, der Alte hatte aufgelegt.<br />

162<br />

*<br />

Am Abend vor dem Abflug traf sich Richard mit Agnieszka in einem<br />

französischen Restaurant außerhalb des Hotels. Das Wetter war trocken<br />

und ein laues Lüftchen hatte zu einem kleinen Spaziergang eingeladen.<br />

So war man am Opernhaus vorbei am Zürichsee entlang gewandelt und<br />

Richard hatte bei der Gelegenheit ohne Erfolg versucht, irgendwelche<br />

Schatten zu eruieren.<br />

Das Restaurant machte einen guten Eindruck. Madame setzte sich<br />

übertrieben aufrecht an den Tisch, beachtete den Kellner trotz des vertikalen<br />

Höhenunterschiedes von oben herab und sagte: »Mein Liebling,<br />

das musst du probieren!«<br />

»Von mir aus«, knurrte dieser und Madame bestellte für sich und ihn<br />

das aktuelle Drei-Gänge-Menü. »Du weißt, ich mache gerade eine Diät.<br />

Mussten es nun drei Gänge sein?«<br />

»Das ist alles sehr leicht und ganz mager«, flötete das Vögelchen und<br />

hatte Recht.<br />

Es gab als Vorspeise köstliche drei Salatblätter mit etwas Roquefort<br />

und Walnüssen und als Hauptgericht etwas Hase mit etwas weniger<br />

Estragonsauce bei einem Teelöffel Karottengratin. »Köstlich«, gestand


Richard und winkte dem Kellner. Der setzte sofort das Beschwerdemanagementgesicht<br />

auf, das ja auch Bestandteil der entsprechenden Ausbildung<br />

ist. Gute Kellner erkennen bereits am Winken des Gastes, aus<br />

welcher Richtung das Lüftchen weht oder der Sturm tost.<br />

»Darf ich bitten, die Menüfolge auszusetzen«, sagte Richard.<br />

»Was hast du denn? Es war ja nun wirklich nicht so viel«, empörte<br />

sich seine Begleiterin.<br />

»Eben«, sagte Richard, »bringen Sie mir bitte jetzt ein Schnitzel mit<br />

einer Portion Bratkartoffeln.«<br />

»Und das Menü?«, war der Kellner irritiert.<br />

»Den letzten Gang bringen Sie bitte, wenn ich das Schnitzel gegessen<br />

habe.«<br />

»Bitte schön, der Herr!«<br />

»Der macht eine Diät!«, prustete Madame über den Tisch und konnte<br />

sich vor Lachen kaum auf dem Stuhl halten.<br />

Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, ging man zum gemütlichen<br />

Teil über, den Agnieszka mit den Worten eröffnete: »Das war ja wohl<br />

jetzt deine Henkersmahlzeit.«<br />

»Warum? Wirst du die Rechnung bezahlen?«<br />

»Wie kommst du darauf?«<br />

»Weil die letzte Mahlzeit vor der Hinrichtung vom Henker bzw. seinem<br />

Auftraggeber bezahlt wird«, analysierte Richard. »Du bist natürlich<br />

nicht der Henker, aber dein Geld ist vom Auftraggeber.«<br />

»Das ist ja eine Logik«, wurde sie ernst, »ich habe schon drei Monate<br />

kein Gehalt mehr bekommen. Und bei dir schmeißt dieser Menschenschinder<br />

mit dem Geld um sich.«<br />

»Ja, ja«, sagte Richard, der die Sache nicht ernst nahm, »wir können ja<br />

hier beim Personal, anstatt Trinkgeld zu geben, fragen, ob sie für dich<br />

ein paar Franken übrig haben.«<br />

»Sehr witzig«, verzog der Eisvogel das Gesicht und pickte noch nicht<br />

einmal zurück. Was für Richard das Zeichen war, die Sache nicht als<br />

Witz abzutun. Und tatsächlich, Caratus hatte seine Direktorin bereits<br />

den dritten Monat nicht bezahlt.<br />

»Bist nicht du diejenige, die die Geschicke des Ladens bestimmt? Da<br />

würde ich mir eine Überweisung ausstellen und fertig.«<br />

»Tja«, erklärte die Frau, »meine Buchhalterin weist sämtliche Zahlungen<br />

an. Aber die Sammelüberweisungen müssen von Kropf gegengezeichnet<br />

werden. Da er als Verwaltungsrat auch haftet, hat er sich von<br />

163


Anfang an vorbehalten, alles gegenzuzeichnen. Er traute der polnischen<br />

Hure nicht über den Weg. Ist ja auch verständlich...«<br />

»Wie sprichst du denn über dich?«, schüttelte Richard den Kopf.<br />

»Nur die Wahrheit«, sagte sie ärgerlich und schaute mürrisch zu Richard,<br />

»ich kannte Kropf schon, als er Offizier bei der Armee war. Da<br />

sind Dinge passiert, die niemand wissen darf...«<br />

Sie trank einen Schluck Mineralwasser, sagte: »Pahh« und fuhr fort:<br />

»Und da ich dabei war und kein Engel bin, habe ich mich anschließend<br />

bei ihm beworben...« Sie zögerte etwas, dann rückte sie mit dem Stuhl<br />

näher zu ihm heran: »Ich wollte es dir schon früher sagen, aber ich bekam<br />

die Kurve nicht. Ein anderer Offizier kam damals auf die gleiche<br />

Idee. Wir hatten uns zufällig irgendwo wieder getroffen. Ich hätte ihn<br />

nicht erkannt, aber er sprach mich an und meinte, Kropf wäre nun nicht<br />

mehr bei der Armee, sondern Rechtsanwalt mit zahlreichen Beratungsmandaten.<br />

Während der auf die Füße gefallen wäre, wäre er nun arbeitslos...«<br />

»Und du sagtest: Schätzchen, da lässt sich etwas machen«, grinste Richard.<br />

»Genau! Nur mit dem Unterschied, dass dieser Leutnant den Kropf angehimmelt<br />

hatte und ich ihn hasste. Trotzdem haben wir ihn gemeinsam<br />

überfallen und ein Gespräch gesucht. Aber die Erpressung brauchte<br />

nicht ausgesprochen zu werden, Kropf war schlau genug zu wissen,<br />

dass, wenn sich bei ihm privat Leute aus der damaligen Kloake meldeten,<br />

das kein Zufall sein könnte.«<br />

Da war für Richard nicht viel Neues dabei und er lächelte lieb und<br />

griff nach ihrer Hand. Sie zog die Hand weg: »Du hast ja keine Ahnung,<br />

was damals gelaufen ist.«<br />

»Doch«, sagte Richard trocken, »dieser Offizier heißt Urs Flückiger<br />

und arbeitet seit dieser Zeit bei der Greves als Betriebsleiter und was du<br />

seither machst, weißt du ja.«<br />

»Du weißt das alles?«, fing sie an sprachlos zu werden.<br />

»Ja, ich habe das schon gewusst, da konnte ich dich noch gar nicht zuordnen.«<br />

»Und jetzt?«<br />

»Was jetzt? Der Mensch ist mehr als die Summe seiner Schandtaten«,<br />

lachte Richard, »lass uns einmal erforschen, warum du nun kein Gehalt<br />

bekommst.«<br />

Der Eisvogel war sichtlich erleichtert. »Die Mitarbeiterinnen bekommen<br />

ebenfalls seit letztem Monat 500 Franken weniger, nur meine<br />

Buchhalterin bekommt ihr volles Gehalt. Also laut Gehaltsabrechnung<br />

164


ekommen alle ihr Geld korrekt, nur bei manchen kommt weniger auf<br />

dem Konto an und bei mir gar nichts.«<br />

»Hast du Kropf zur Rede gestellt?«<br />

»Ich habe einmal etwas gemurrt. Es gab schon früher eine Zeit, ich<br />

glaube, zwei Monate lang, da bekamen alle nur 200 Franken überwiesen.<br />

Aber dann im dritten Monat wurde alles auf den Franken genau<br />

nachbezahlt.«<br />

»Na, dann lass mich einmal meine Reise überleben, dann gehe ich der<br />

Sache auf den Grund. Gibt es Anzeichen dafür, dass Kropf mit deiner<br />

Buchhalterin irgendetwas schiebt?«<br />

Agnieszka schüttelte den Kopf. »Die macht die Lohnbuchhaltung, die<br />

Kassenabrechnung und kontiert die Belege vor. Dann gehen die Papiere<br />

zu Kropf, ich zeichne seit Jahren eine Rechnungslegung ab, die ich<br />

nicht überprüfen kann. Wenn ich von Leibeigenschaft rede, meine ich<br />

das auch so.«<br />

Richard schaute auf die Uhr, es war noch nicht spät. »Gib mir bitte mal<br />

dein Handy.«<br />

»Was jetzt?«<br />

»Ich telefoniere auf deine Kosten mit meinem Büro.« Madame schüttelte<br />

den Kopf, lachte aber wieder. Der Agent wählte die Nummer seiner<br />

Putzfrau. »Isabella?«<br />

»Ohhh!«, sagte diese, »ich Ihnen geben Mercedes.«<br />

»Ja«, machte die und ein Rauschen im Hintergrund stellte Richard vor<br />

ein Rätsel.<br />

»Ich dachte, du freust dich. Ist meine liebe Mercedes im Schwimmbad?«<br />

»Ich liege in der Badewanne, mein großer Aufklärer«, flirtete Mercedes.<br />

»Mit der Putzfrau?«<br />

»Jawohl!«, log Mercedes, »und was geht dich das an?«<br />

»Setz dich doch bitte morgen früh mit dieser Nummer in Verbindung.<br />

Lasse dir den Sachverhalt erklären und sämtliche Daten und Adressen<br />

geben, die du benötigst, das ganze Bild zu bekommen.«<br />

»Aha«, plätscherte Mercedes, »mein Held sitzt beim Speisen mit einer<br />

Dame und bot ihr seine uneigennützige Hilfe an.«<br />

»Gut kombiniert!«, konterte Richard, »solange ich nicht mit dem Kellner<br />

des Restaurants in der Badewanne sitze, besteht kein Grund zur Besorgnis.«<br />

165


Agnieszka machte große Augen und schaute ihn, nachdem er aufgelegt<br />

hatte, fragend an.<br />

»Nicht auf die Texte hören«, klärte Richard auf, »Mercedes ist absolut<br />

zuverlässig und kennt sich darin aus, wie die notwendige Recherche<br />

durchzuführen ist. Tut mir nur einen Gefallen und verkratzt euch nicht<br />

bereits am Telefon die hübschen Gesichter. Kümmert euch um die Sache.«<br />

»Du hast von Frauen keine Ahnung«, schmollte sie.<br />

»Ja«, stimmte Richard zu, »aber von Katzen, und den Rest habe ich<br />

mir zusammengereimt. Sollte man mich also in den nächsten Tagen<br />

ermorden, so werden zumindest deine Probleme mit Kropf aufgeklärt<br />

werden.«<br />

166<br />

*<br />

Prag und Bratislava. Am nächsten Morgen auf dem Flughafen Zürich<br />

schaute sich Richard nach irgendeiner Person um, die ihm die versprochene<br />

Unterlagen von Sir Alec zustecken würde. Vergebens. Dann<br />

stellte er fest, das er am falschen Check-in anstand. Als das Problem<br />

mit einem kleinen Fußmarsch überbrückt war, meldete sich immer noch<br />

niemand im Lodenmantel und mit dunkler Sonnenbrille. Dafür sagte<br />

die charmante Hostess der Fluggesellschaft mit einem strahlenden Lächeln:<br />

»Oma ist tot!« Und Richard konterte augenzwinkernd: »Dann<br />

braucht sie auch keinen Rum mehr.«<br />

Die Hostess schmunzelte und übergab Richard mit der Bordkarte die<br />

entsprechenden Unterlagen. Ohne geheimdienstliche Agententätigkeit<br />

lief eben nichts. Doch man konnte nicht überall sein.<br />

Dieser Aktion haftete das Risiko des Scheiterns an und die Gründe waren<br />

vielfältig. Ein unentschuldbarer Grund war und blieb in jedem Fall<br />

eine mangelhafte Vorbereitung. Würde man ihn ermorden, wäre die<br />

Aktion natürlich auch gescheitert, aber diese Möglichkeit betrachtete<br />

der Agent als wenig wahrscheinlich.<br />

Wie auch noch einmal aus dem Dossier von Sir Alec hervorging, war<br />

die Rolle der SloTrade in Bezug auf die Industriespionage durch das<br />

Ausquetschen von Follmann weitestgehend geklärt. Gemäß seiner Aussage<br />

war die SloTrade im Falle Greves in der Rolle des Agentenführers.<br />

Irgendjemand verkaufte die Unterlagen von Greves an die SloTrade,<br />

entweder direkt oder über einen Mittelsmann. War dieser Mittelsmann<br />

Kropf, so wäre es die Dummheit des Jahrhunderts, dass Kropf nun Richard<br />

zum eigenen Hehler schickte.


Die Liste von Kropf führte eine angeblich provisionspflichtige Transaktion<br />

von der SloTrade zur Transtecco an. Nach dem Abgleich der<br />

neusten Daten von Follmann über Sir Alec handelte es sich um das damalige<br />

gescheiterte Geschäft der Greves AG an die Space & Co. AG,<br />

mit dem bereits Richard beschäftig gewesen war. Die Greves wurde<br />

von der Transtecco ausgetrickst und letztere machte das Geschäft mit<br />

der Space & Co. AG.<br />

Wäre Frank W. mit seinem Programm erfolgreich, so offenbarte sich<br />

beim Endabnehmer der geklauten Technik, wer der Spion in der Greves<br />

war. Da war sich Richard vollkommen sicher. Der einprogrammierte<br />

Fehler wäre so gravierend, dass ohne die sachverständige Intervention<br />

von Richard die gekaufte Technik zum Schrott verkommen würde. Das<br />

wussten die beiden Kesslers und Rüegg natürlich nicht. Der Greves AG<br />

wäre nämlich nicht geholfen, führte man den Spion einem schweizerischen<br />

Staatsanwalt vor. Der Auftrag wäre dann ja wieder weg und eine<br />

Klage im Ausland gegen den Hehler bzw. den arglosen Endabnehmer<br />

würde Jahre dauern, wobei der Erfolg in den Sternen stände. Der Greves<br />

AG war nur dann gedient, wenn sie quasi mit der Reparaturdienstleistung<br />

bzw. einer Nachlieferung den erlittenen Verlust und den entgangenen<br />

Gewinn kompensieren konnte. Richard schmunzelte, die<br />

werden Augen machen.<br />

So gesehen, bestand für einen Besuch bei der SloTrade für Richard<br />

kein Anlass, gleich wie man die Transtecco links liegen lassen könnte,<br />

würden die unbekannten Herrschaften nicht ständig hinter Mercedes<br />

und ihm herlaufen.<br />

Nur Kropfs Auftrag führte ihn zur SloTrade und dieser würde dann<br />

auch lediglich Kropf be- bzw. entlasten. Sollte man dabei noch die Provisionsstreitigkeiten<br />

schlichten können, war das für Richard ein willkommenes<br />

Zubrot im kargen Agentengeschäft.<br />

Da Richard bei dem jetzigen Flug von Zürich nach Prag über Wien<br />

fliegen musste, saß er über eine Stunde in Wien fest. Er prägte sich die<br />

Telefonnummer und Adresse des Kollegen und »Fremdenführers« in<br />

Prag ein, zeriss die Unterlagen von Sir Alec in kleine Stücke und entsorgte<br />

diese in der Transittoilette des Wiener Flughafens.<br />

In Prag fuhr Richard vom Flughafen mit einem Taxi zum Hotel Intercontinental.<br />

Dort schauten sie ihn fragend an, denn niemand nahm ihm<br />

ab, dass er gebucht hätte. Hatte er auch nicht, aber das brauchten die<br />

nicht zu wissen. Und quasi zur Entschuldigung für die behauptete Panne<br />

machte man Richard für die eine Nacht einen Sonderpreis.<br />

167


Bei dem Fremdenführer aus Prag handelte es sich um einen »Operateur«,<br />

wie Sir Alec diese Spezies nannte. Während bei Richards Tätigkeit<br />

der Schwerpunkt auf dem Auskundschaften lag, arbeiteten Operateure<br />

mit meist illegalen Mitteln, um anstehende Probleme zu richten.<br />

Natürlich sollte man sich überhaupt nicht kennen, doch bei Sir Alecs<br />

relativ kleiner Gruppe an Mitarbeitern blieb derzeit nichts anderes übrig.<br />

Der Mann hatte sein Büro an der Bilkovastraße. Es wären nur »five<br />

minutes«, meinte der Hotelpage und für Richard stellte sich die Frage,<br />

ob die fünf Minuten zu fahren oder zu laufen wären. Da Richard Zeit<br />

und Durst hatte, lief er einfach mal los. Es ergäbe sich der Weg und irgendwo<br />

ein Café. Gleichzeitig konnte man sich mit dieser Methode<br />

nach Verfolgern umschauen.<br />

Spätestens am Altstädterring war Richard bereits davon überzeugt,<br />

dass ihn ein etwa 40-jähriger, als Tourist getarnter Mann mit leichtem<br />

Übergewicht verfolgte. Und er war sich auch fast sicher, dass er diesem<br />

Menschen bereits im Waschraum des Wiener Airports begegnet war.<br />

Richard lief an der alten Synagoge vorbei, die Pariserstraße weiter,<br />

nach rechts auf die Barockkirche Sankt Nikolaus zu. Natürlich laufen<br />

Touristen derartige Strecken auch, aber beim initiierten Ringelpietz um<br />

die Kirche herum hatte Richard seinen Verfolger voraus.<br />

Der Agent drehte wieder um, Schatten überholt man nicht. Zur vorübergehenden<br />

Flucht wählte er den Durchgang zum Ungeltplätzchen und<br />

rannte durch die abendlichen Nebelschwaden, die nur gedämpft vom<br />

Licht der Gaslaternen durchdrungen wurden. Richard steuerte ein Café<br />

an und platzierte sich am Fenster. Irgendwann müsste der Halbdicke die<br />

Gasse herunter kommen. Und tatsächlich kam er angerannt, was man<br />

von der Bedienung des Cafés nicht sagen konnte.<br />

Nun stand sein Verfolger mitten auf dem Platz und suchte ihn. Umspült<br />

von ausgelassenem Jungvolk, gut gewandeten Herren mit Hut und<br />

Mappe, eleganten Damen im ständigen Kampf mit Handtasche, Paketen,<br />

Schirm, Pelzmütze, Schal, Frisur, oftmals einen neugierigen Dackel<br />

hinter sich herziehend, und armselig gekleideten Rentnern. Immer wieder<br />

kamen auch Gruppen von erbärmlich aussehenden Lohnarbeitern<br />

aus dem Osten gelaufen, die Hände in den Taschen ihrer ausgefransten<br />

Hosen. Es waren wohl Ukrainer und Rumänen, welche hier die zahlreichen<br />

Baustellen bemannten.<br />

Dann kam die Bedienung und machte Richard durch ihren Gesichtsausdruck<br />

deutlich, dass er störte und es völlig unnötig wäre, dass<br />

168


er sich hier nun platziert hätte. Schließlich würde sie sich ja auch nicht<br />

zu ihm nach Hause an einen Tisch setzen und etwas zu trinken wollen.<br />

Gesagt hatte sie: »Kaffee?« Und Richard fragte auf Englisch: »Entschuldigen<br />

Sie bitte vielmals. Haben Sie rote Limonade mit Brausepulver<br />

und einer in Senfsoße eingelegten Olive, gnädige Frau?«<br />

Sie: »Limonade?«<br />

Er: »Nein, danke.«<br />

Sie: »Was?«<br />

Er: »Kaffee!«<br />

Nach weiteren 15 Minuten wurde ihm ein lauwarmer Kaffee serviert<br />

und der Engländer ließ sich auf einen 5.000-Kronen-Schein, etwa 150<br />

Euro, passend herausgeben. Man musste der Alten ja schließlich einen<br />

Grund geben, warum sie schlechte Laune hatte.<br />

Durch den ganzen Ärger hatte Richard nun seinen Verfolger aus den<br />

Augen verloren. Aber irgendwann steuerte dieser ahnungslos auf das<br />

Café zu und erschrak sichtlich, als er darin Richard entdeckte. So musste<br />

der nur noch warten, bis sich sein halbdicker Schatten etwas bestellt<br />

hatte. Als ihm das Getränk serviert wurde, stand Richard flugs auf und<br />

verließ eilig die gastliche Stätte.<br />

Es sind die kleinen Freuden, die englische Agenten erfreuen. Nun hatte<br />

die Bedienung den Ärger, dass sie sofort abkassieren musste, und der<br />

Verfolger, dass er keine Zeit hatte, auf das Wechselgeld zu warten.<br />

Prag war doch eine schöne Stadt. Da das Manöver so gut funktionierte,<br />

wartete Richard im toten Winkel der Cafétüre, ließ seinen Schatten passieren<br />

und ging zur Überraschung des herauseilenden Halbdicken wieder<br />

in dieses zurück. Dort setzte er sich an den noch nicht abgeräumten<br />

Platz mit der leeren Tasse und machte es sich gemütlich.<br />

Leider machte der Typ das böse Spiel nicht ein zweites Mal mit, sondern<br />

stand sich irgendwo vor dem Café die Beine in den Leib.<br />

Nahe der Küche stand eine Bedienstete mit dunkelblau karierter Kittelschürze.<br />

Mit einem Fünfzig-Kronen-Schein verschaffte sich Richard<br />

eine Wegbeschreibung in die Bilkovastraße auf Tschechisch. Da die<br />

Frau in eine bestimmte Richtung zeigte, war zumindest diese klar. Vollkommen<br />

unverständlich blieb der Küchenhilfe, dass Richard nun die<br />

gezeigte Richtung auch ansteuerte und sich durch allerlei Geschrei<br />

nicht aufhalten ließ. Wer sich die Situation nicht vorstellen kann, muss<br />

einfach beim nächsten Besuch eines Caféhauses dieses durch das rückwärtige<br />

Küchenfenster verlassen.<br />

Nachdem damals das Verlassen des Bürogrundstücks bei Kropf bereits<br />

ein voller Erfolg war, diente auch in Prag eine Mülltonne dazu, die Um-<br />

169


friedung zu überwinden. Der angrenzende Hinterhof wurde allerdings<br />

nicht von einem Dienstmädchen observiert und so betrat der Engländer<br />

bald darauf die rückliegende Straße und verschwand.<br />

Da die verabredete Zeit bereits überschritten war, beeilte sich Richard<br />

und kam auf Nebengassen zur Bilkovastraße. Ein Durchgang führte in<br />

den Hof, der einigen Autos eine Abstellfläche bot und mehrere Häuser<br />

bediente. Der Wagenpark wies auf Besitzer der gehobenen Mittelklasse,<br />

keine Rosthaufen, aber auch keine Nobelkarossen. Die Tür zum<br />

Hof war nicht verschlossen, und Richard ersparte sich die Benutzung<br />

des Haupteinganges. Wer wusste schon so genau, wer da nun wieder<br />

lauerte.<br />

Der klapprige Aufzug aus sozialistischer Vorzeit war verschlossen. Richard<br />

stieg die drei Treppen bis zum Emailleschild »Victor Havlicek,<br />

Soukromy Detektiv«. Auf dem Geschoss waren im Ganzen vier Geschäftsadressen<br />

zu erkennen. Victor öffnete die Tür, bevor Richard die<br />

Klingel gefunden hatte.<br />

Der Kontaktmann war Anfang fünfzig, groß, schlank, sportlich, durchtrainiert.<br />

Man sah ihm an, dass er nicht erst seit der Wende diesen Job<br />

machte und Richard vermutete, dass er ein äußerst tüchtiger und korrekter<br />

Offizier der dortigen Geheimpolizei gewesen sein musste.<br />

Wie das Türschild verriet, betrieb er jetzt eine Privatdetektei. Dem<br />

Vernehmen nach spezialisiert auf die Überprüfung der Kreditwürdigkeit<br />

und auf das Eintreiben von Schulden, was auf amtlichem Weg ein<br />

langwieriges und oftmals hoffnungsloses Unterfangen ist.<br />

»Großvater ist sehr krank«, sagte Victor zur Begrüßung und Richard<br />

wusste vor lauter Treppensteigen und Verfolger ärgern nicht mehr die<br />

richtige Ergänzung. Deshalb sagte er: »Der soll nicht soviel Rum saufen,<br />

sondern mir lieber das Flugzeug bezahlen.«<br />

Victor schüttelte lachend den Kopf. »Was kann ich für Sie tun, Richard?<br />

Haben Sie bei der Arbeit ein Flugzeug zerschrottet und der Alte<br />

will es nicht bezahlen?«<br />

Richard grinste: »Über drei Ländergrenzen unterm Radar durch und<br />

dann ging mir der Sprit aus.«<br />

Victor zeigte nach oben und machte mit dem Zeigefinger eine kreisende<br />

Bewegung in der Luft: »Wären Sie über einer Großstadt gewesen,<br />

würden Sie jetzt nicht mehr hier sitzen.«<br />

Richard winkte ab: »Jetzt hat mir so ein Schrumpfkopf Geld dafür gegeben,<br />

die SloTrade zu durchleuchten. Das Flugzeug ist deshalb zur<br />

Hälfte bezahlt. Sprechen Sie Deutsch?«<br />

»Sehr gut sogar«, bejahte der Gesprächspartner.<br />

170


»Die dümmsten Kälber wählen ihre Schlächter selber«, gab Richard einen<br />

der wenigen Sätze zum Besten, die er auf Deutsch kannte und der<br />

Tscheche lachte herzlich. »Sind Sie dabei, Ihren eigenen Auftraggeber<br />

zu schlachten«, fiel er wieder ins Englische zurück, »damit Sie die Provision<br />

nicht zurückbezahlen müssen.«<br />

Richard nahm in dem winzigen Büro Platz. Victor meinte erklärend,<br />

dass er seine Tätigkeit vorwiegend im Felde, also außerhalb dieses<br />

Raumes abwickeln würde.<br />

Der Engländer ging nicht darauf ein und setzte sich. »Tja, dieser Typ<br />

ist der Hauptverdächtige im aktuellen Fall, aber offensichtlich weiß er<br />

das nicht. Vermögend, allmächtig, größenwahnsinnig und hässlich, eine<br />

gute Mischung.«<br />

»Sie möchten Informationen über die SloTrade«, kam der Operator zur<br />

Sache.<br />

Richard nickte.<br />

Es gäbe drei Geschäftsführer, erklärte Richards Kontaktmann und ergänzte:<br />

»Ich kenne nur den Jozef Babic. Aber das dürfte genügen. Früher<br />

ein Kollege von mir. Bestens ausgebildeter KGB-Mann im Sektor<br />

Wirtschaft des Ostblocks. Heute ein Hansdampf in allen Gassen. Er arbeitet<br />

weder für noch mit der Mafia. Er kocht sein eigenes Süppchen.<br />

Er benutzt sie und setzt sie mal situativ ein. Babic tanzt auf hohem und<br />

schwankendem Seil. Bis jetzt hat er dank seiner überragenden Cleverness<br />

bestens überlebt. Der Kerl muss reich geworden sein.«<br />

»Geschäftlich tut er also genau das, was Sie bekämpfen?«, quittierte<br />

Richard seine Beschreibung.<br />

»Richtig! Und nun gebe ich Ihnen eine sehr ernsthafte Warnung mit<br />

auf den Weg. Der Babic hat eine ausgeprägte Stärke, für welche ihn der<br />

gesamte Dienstzweig bewunderte. Der Kerl ist in der Lage, intuitiv,<br />

spontan und blitzartig jede Cover-story zu durchschauen. Bei Verhören<br />

hat er den Angeschuldigten jeweils den wahren Sachverhalt so kühl und<br />

direkt und mit vollendeter Höflichkeit mitten ins Gesicht gesagt, dass<br />

sie alsbald in ein Gestammel ausbrachen und nach wenigen Minuten alles<br />

gestanden.<br />

Wenn heute Mafiosi oder Einzeltalente versuchen sollten, ihn mit<br />

Tarngeschichten hinters Licht zu führen, so steckt er ihnen das Messer<br />

zwischen die Rippen, bevor sie mit ihrer Saga zu Ende gekommen sind.<br />

Je nach Situation ist das mit dem Messer durchaus wörtlich gemeint.<br />

Richard, seien Sie vorsichtig.«<br />

171


Der Engländer winkte ab: »Der auch noch? Nach der Befürchtung einer<br />

Bekannten habe ich eigentlich diesen Auftrag nur erhalten, um ermordet<br />

zu werden.«<br />

»Na ja, ein Berufskiller ist Babic nicht. Der macht sich für Fremde<br />

nicht die Finger schmutzig. Nur vielleicht konnte Ihr Auftraggeber ihm<br />

schlüssig erklären, dass man im gleichen Boot säße«, spekulierte Victor.<br />

»Hören Sie auf, ich bin noch nicht einmal bewaffnet. Aber mal etwas<br />

anderes.«<br />

Richard kniff die Augen zusammen: »Mein Auftraggeber ist ein <strong>Eier</strong>mann...«<br />

Richard erklärte die Sache mit der Suche nach diesem Fabergé-Ei<br />

und die entsprechende Auslobung von Kropf. »Für irgendeinen<br />

Graf Witte hatte der Zar das Ei 1905 anfertigen lassen. Und nun<br />

bringt der alte Habicht das Ei in eine mögliche Verbindung zu Atomwaffentechnologie<br />

und deren Schmuggel. Haben Sie in Bezug auf dieses<br />

Ei irgendwann einmal etwas gehört?«<br />

»Witte und Fabergé... ?«<br />

Richard lachte: »Dass nun dieses Ei nicht die Legende für einen Atomwaffenschmuggel<br />

ist, brauche ich Ihnen nicht zu erklären. Aber der Alte<br />

zog auch dies in Erwägung. Ich dürfte eigentlich überhaupt nicht<br />

darüber reden.«<br />

»Richard, möchten Sie einen Tee?«<br />

»Mit Rum?«<br />

»Wenn Sie wünschen?«, lachte Victor und ging in den hinteren Raum.<br />

Als er mit zwei Gläsern zurückgewackelt kam und das eine auf Richards<br />

Schreibtischseite stellte, sagte er: »Der Alte hat gar nicht Unrecht...«<br />

Victor setzte sich wieder und kratzte sich die dunklen Haare: »Da war<br />

etwas. Eine alte Ente aus dem Ostblock...«<br />

Der Tee schmeckte scheußlich. Richard sagte: »1905 gab es ja wohl<br />

noch keine Atombomben und diese haben nicht die Bezeichnung von<br />

Fabergé-<strong>Eier</strong>n.«<br />

»Ja, nein, doch, eben... Das war es. Irgendwie kommt mir die Sache<br />

bekannt vor«, sinnierte der ehemalige Geheimpolizist.<br />

»Erinnern Sie sich bitte. Ich bin gerne bereit, die Million zu teilen«,<br />

lachte Richard.<br />

»Ja«, sagte Victor, »ich bin gerne bereit, die Million zu nehmen. Aber<br />

es fällt mir nicht ein. Überlegen Sie mal mit. Ich war damals höchstens<br />

Offiziersanwärter... aber so einem werden doch keine Operationen erzählt...«<br />

Victor trank einen Schluck und verzog verächtlich die Mund-<br />

172


winkel: »Der Zucker ist mir ausgegangen... Nein, die Sache ist ganz anders.<br />

Lassen Sie mich mal raten: Die Sache schlägt hohe Wellen, ich<br />

würde mich nicht wundern, wenn bereits ganze Kompanien der Abwehr<br />

unterwegs sind...«<br />

Richard stellte seine Tasse auf den Tisch zurück: »Ja, genau! Victor,<br />

das ist ein Déjà-vu. Man stellt mir hochprofessionell nach und scheut<br />

keine Mittel. Nur heute ist mir einer nachgeschlichen, der war nicht von<br />

dieser Truppe, das war ein Laie.«<br />

»Hier?«<br />

»Machen Sie sich keine Gedanken«, winkte Richard ab und lachte,<br />

»ich hoffe nur, er findet mich wieder, es macht mir eine Menge Spaß,<br />

den Vogel hinter mir zu haben. Erinnern Sie sich lieber an die Geschichte.«<br />

Victor schüttelte resignierend seinen Kopf: »Die Juristen müssen ja<br />

während ihres Studiums ein Fallbeispiel nach dem anderen lösen. Und<br />

mir kommt es gerade so vor, als wäre das so ein Fallbeispiel für das<br />

Studium. Der Haken ist nur: Ich habe überhaupt nicht Jura studiert.«<br />

Richard stand auf. »Rufen Sie mich an, wenn es Ihnen wieder einfällt?«<br />

»Das darf ich gar nicht. Rufen Sie meine Nachrichtenbox an. Das ist<br />

eine informelle Nummer, auf die ich bei Bedarf irgendwelche Nachrichten<br />

aufspreche. Stets informell verschlüsselt. Nichts Großes, aber<br />

um die Kommunikation mit einigen meiner Männern aufrechtzuerhalten.<br />

Das Ganze ist lediglich ein Anrufbeantworter, der auf Ansagemodus<br />

gestellt ist. Wenn es mir einfällt, spreche ich unter dem Stichwort:<br />

Und hier noch eine Geschichte, die Geschichte von diesem Ei drauf.<br />

Sie, Richard, können Tag und Nacht immer mal wieder anrufen.<br />

Manchmal spreche ich auch die Börsenkurse drauf, wenn nichts anliegt.«<br />

»Unverschlüsselt wollen Sie diese hochbrisante Geschichte auf einen<br />

Anrufbeantworter sprechen?«, zweifelte Richard.<br />

»Ja, natürlich. Die Geschichte, die ich kenne, verdient keinerlei Mühe,<br />

geschweige denn eine Codierung.«<br />

»Gibt es das Ei eventuell überhaupt nicht?«<br />

Victor verzog unlustig sein Gesicht: »Keine Ahnung. Das Ei hatte man<br />

bisher noch nicht gefunden, trotzdem gab es da einen Zusammenhang<br />

zu einer Atombombe und davon gibt es ja bekanntlich viele.«<br />

Damit war die Begegnung zu Ende. Zusammen durften sie sich ohnehin<br />

nirgends sehen lassen. Und so verließ Richard das Haus, wie er gekommen<br />

war. Er schlenderte kreuz und quer durch die schummrig mit<br />

173


Gaslaternen beleuchteten Gassen und atmete tief die nächtlich neblige<br />

Luft ein. Der halbdicke Verfolger war nirgends zu finden.<br />

174<br />

*<br />

Babic stach, ohne ein Wort zu sagen, mit einem Messer in Richards<br />

Eingeweide, während dieser vergebens seine Pistole suchte. Richard<br />

flüchtete, so schnell er konnte, schwamm über die Donau nach Ungarn<br />

hinüber, entstieg dem Fluss mit Müh und Not und wurde von ungarischen<br />

Grenzbeamten verhaftet. »Ich bin Offizier der Heilsarmee und<br />

bitte meine Offiziersehre zu beachten.«<br />

»Nichts da. Mit solchen Typen machen wir kurzen Prozess«, sagte der<br />

Grenzer.<br />

»Ich bin unschuldig!«, log Richard.<br />

»Sehen Sie hier die Reifenspuren? An dieser Stelle sind Sie links nach<br />

Wien geflogen. Wo ist unser Flugzeug?«<br />

»Fliegende Flugzeuge hinterlassen keine Reifenspuren.«<br />

»In Ungarn schon. Zahlen Sie 5.000 Kronen und wir lassen Sie zurückschwimmen.«<br />

Diese Verbrecher, dachte Richard. Was wollen die mit Kronen? Dann<br />

fiel ihm ein, dass das Flugzeug ja ursprünglich viel teurer gewesen war<br />

und er zückte seine Brieftasche. Die Bedienung aus Prag kassierte den<br />

5.000 Kronen Schein und lachte schallend.<br />

Dann wachte Richard auf, erreichte nur mit Mühe das weckende Handy<br />

und fand die Taste nicht, um den Alarm zu quittieren. So fiel das<br />

Handy auf den Zimmerboden und verstummte. Dafür klopfte es an der<br />

Tür. »Wer ist da?«, rief er verschlafen.<br />

»Der Zimmerservice!«<br />

»Scheren Sie sich zum Teufel!«<br />

Doch da ging schon die Tür auf und ein zierliches Mädchen rollte einen<br />

Servierwagen herein. Das Frühstück kam eine ganze Stunde zu<br />

früh. Das Mädchen verstand kein Englisch, aber Richards Zustand und<br />

seine Handbewegungen, alles stehen zu lassen, er würde sich selbst bedienen.<br />

Richard schlurfte ins Bad. Kaum hatte er die Dusche wieder abgestellt,<br />

hörte er, wie im benachbarten Zimmer einer im breitesten Bronx schrie:<br />

»Where the fuck is my breakfast?«


»Das steht bei mir im Zimmer und wird kalt«, gurgelte Richard mit<br />

Zahnpasta im Mund. Dieser Tag fing ja gut an.<br />

*<br />

Vier Stunden später saß Richard im Linienbus von Wien nach Bratislava.<br />

Von Prag wieder nach Wien zu fliegen und mit dem Bus zu fahren,<br />

ging schneller, als von Prag direkt nach Bratislava zu jetten.<br />

Bereits im Flugzeug und natürlich hier im Bus hatte Richard nach seinem<br />

leicht übergewichtigen Verfolger gespäht, aber der war nirgendwo<br />

auszumachen. Vollkommen unbeschattet traf der Agent in der slowakischen<br />

Hauptstadt ein und blickte sich staunend um.<br />

Gleich nach der Wende war von dem alten Pressburg nur noch wenig<br />

übrig geblieben. Jetzt aber erschien die Jahrhunderte alte Nahtstelle<br />

böhmischer, habsburgischer und ungarischer Kultur in neuem Glanz<br />

auferstanden. Am Horbanovo-Platz angelangt, hörte es zu nieseln auf<br />

und die Stadt wirkte noch freundlicher. Die prächtige Dreifaltigkeitskirche<br />

blickte zwar sorgenvoll auf den lauten Verkehr, wo viele Autos und<br />

fast alle Lastkraftwagen und öffentlichen Busse noch immer ihre erstickende<br />

Rauchfahne ausstießen.<br />

Eigentlich musste Richard sich eingestehen, dass der sympathische<br />

Eindruck der Stadt wesentlich von der Widerwärtigkeit der Begegnung<br />

getrübt wurde, die ihm unmittelbar bevorstand. Noch verdrießlicher<br />

machte ihn die Tatsache seiner Konzeptlosigkeit. Zusätzliche Beweise<br />

gegen die SloTrade nutzten vielleicht Sir Alec, doch diese ließen sich ja<br />

schlecht vor Ort sichern. Und für Kropfs eigentlichen Auftrag galt das<br />

Gleiche. Natürlich hatte Kropf Richard bei Babic angekündigt und bevollmächtigt,<br />

doch was nutzte das, sagte Babic: »Raus hier!«, Richard<br />

ärgerte sich insgeheim, überhaupt hier hergekommen zu sein. Doch die<br />

fünfzigtausend Franken konnte er einfach nicht ablehnen. Und so fabulierte<br />

man den selbst inszenierten Bullshit zum geheimdienstlichen<br />

Auftrag um.<br />

Richard setzte seinen Weg zur SloTrade fort, die ihren Standort in einem<br />

älteren Bürogebäude unweit des Forumhotels hatte. Im Zwischengeschoss<br />

glänzte das Firmenschild »SloTrade«. Auf sein Klingeln wurde,<br />

wie ihm schien, die Türe nicht sofort geöffnet. Es zeigte sich<br />

schließlich eine rundliche Frau mittleren Alters, welche mit offensichtlichem<br />

Appetit an einem belegten Brot kaute. Sie wies ihm den Weg in<br />

ein geräumiges, im Stil eines Amtes sachlich eingerichtetes Büro. Der<br />

175


große Händler telefonierte gerade. Nach einer kurzen Minute wurde das<br />

Telefongespräch beendet.<br />

Babic, Mitte fünfzig, Ringerfigur, rundes, glattrasiertes Gesicht, weit<br />

auseinander liegende, etwas wässrige Augen, hatte einen Bürstenschnitt<br />

auf dem runden Schädel. Wie zufällig streckte er den Arm aus, damit<br />

die kostbaren Manschettenknöpfe zum Vorschein kamen und hängte<br />

dann den Hörer ein. Als der Großmogul aufstand, konnte Richard auch<br />

den sehr teuren grauen Anzug aus dem Hause Brioni besichtigen und<br />

eine rote Fliege setzte einen passenden Akzent.<br />

»Guten Tag, Mister Harriott«, begrüßte der massige Bulle seinen Gast<br />

und lächelte freundlich. Er machte eine einladende Handbewegung in<br />

Richtung Stuhl und wartete selbst, bis Richard sich gesetzt hatte. Der<br />

Agent checkte blitzschnell, ob ihm vielleicht noch etwas eingefallen<br />

wäre, wie er hier vorzugehen hätte, da sagte Babic schon: »Kropf hat<br />

Sie also hergeschickt, um herauszufinden, ob und wie ich ihn bescheiße?«<br />

»Herr Kropf mag seine Anliegen haben. Ich habe meine Interessen.<br />

Vielleicht wird er mir bei Gelegenheit Fragen stellen, die ich beantworten<br />

kann, falls ich will und wie ich will. Ich bin ein Kenner der britischen<br />

Industrie und möchte mit Ihnen die Ausweitung Ihres Nischengeschäftes<br />

auf dieses Marktgebiet erörtern.«<br />

Babic lachte nur. »Das mögen Sie selbst so glauben wollen. Ich glaube,<br />

dass Kropf, diese hohle Nuss, Sie vorgeschickt hat. Hat er Ihnen eigentlich<br />

gesagt, dass er mir noch 100.000 Dollar schuldet?«<br />

»Really?«<br />

»Really!«<br />

Richard musste ebenfalls lachen. »Vielleicht beauftragen Sie nun<br />

mich, bei Kropf Ihre Interessen zu vertreten. Ohne entsprechende Unterlagen<br />

werde ich beide Aussagen nicht verifizieren können. Kropf hat<br />

übrigens seine Forderungen an Sie bei mir nicht beziffert.«<br />

»Das glaube ich Ihnen gern. Er wird Ihnen drei Namen auf einen Zettel<br />

geschrieben haben und aus Geschäften mit diesen drei Firmen beansprucht<br />

der Winkeladvokat etwa 300.000 Dollar Provision. Zwei Drittel<br />

davon sind aus einem Geschäft mit der Transtecco. Die verkauften damals<br />

in unserem Auftrag an die Space & Co. Kropfs Provisionsanspruch<br />

resultiert aus der Tatsache, dass er mir erzählte, die Space & Co.<br />

hätte an dieser Technik Interesse...«<br />

Babic schlug mit der flachen Hand auf seinen Schreibtisch und lehnte<br />

sich empört zurück. »Die Space & Co. war der einzige Nachfrager in<br />

der damaligen Zeit. Und dass das so war, wusste ich bereits, als ich<br />

176


noch beim KGB war. Dazu brauchte ich keinen Kropf und deshalb gibt<br />

es auch keine Provision.«<br />

»Und die Hunderttausend haben Sie gegen Ihre Forderung gegengerechnet?«,<br />

folgerte Richard.<br />

Der ehemalige KGB-Mann lachte: »Da hatte mich nämlich Kropf reingelegt.<br />

Er kassierte diese Provision damals für einen Typen, den er mir<br />

als Mitarbeiter empfohlen hatte. Doch der Typ schiss in die Hose, anstatt<br />

zu arbeiten.«<br />

»Wollen Sie mir dessen Namen verraten?«<br />

»Nein, würde ich nicht wollen, wenn ich den Namen noch wüsste«,<br />

Babic winkte ab, »das war einer von Kropfs Soldaten gewesen, also ein<br />

Schweizer. Ein kleiner Scheißer, der von Kropf manipuliert wurde. Hören<br />

Sie! Wenn mir einer 100.000 Dollar schuldet, tut er das nicht lange.<br />

Dass ich also diesen Kropf nicht in Zürich besuchen ließ, liegt nur daran,<br />

dass wir quitt sind. Fair, wohlgemerkt!«<br />

Etwas Ähnliches hatte Richard erwartet und anstatt sich nochmals als<br />

Kontaktmann für die britische Industrie in Erinnerung zu rufen, schnitt<br />

er ein anderes Thema an: »Kropf hat Ihnen, aber auch mir, eine Provision<br />

von einer Million für ein bestimmtes großes Fabergé-Ei ausgelobt.<br />

Was halten Sie von diesem Wettbewerb?«<br />

Babic wurde ruhiger: »Das Ei wird es schon geben. Aber ich bezweifle,<br />

dass Kropf die Million bezahlen könnte. Ich glaube viel mehr,<br />

dass er versuchen wird, sich das Ei irgendwie so unter den Nagel zu<br />

reißen. Und bevor ich diesen Typen umbringen muss, suche ich das Ei<br />

selbst und verkaufe es zum Höchstpreis.«<br />

»Es wird keine Million wert sein«, gab Richard zu bedenken, »Kropf<br />

ist ein Liebhaber. Aber natürlich bestimmt gerade auf schmalen<br />

Schwarzmärkten das Gesetz von Angebot und Nachfrage die Preise.«<br />

»Ja, ja, natürlich, das könnte hier der Fall sein. Wenn Kropf nicht bezahlen<br />

kann, so findet sich ein anderer Träumer und Schwarzmarktteilnehmer.«<br />

Richard lächelte: »Gibt es noch irgendwelche Geschichten um das<br />

Ei?«<br />

»Was für Geschichten?«<br />

»Keine Ahnung, irgendwelche eben. Wo wäre Ihr Ansatzpunkt?«,<br />

schob der Engländer frech nach.<br />

Babic gähnte. »Ich kenne die halbe Sowjetunion, also suchen Sie oder<br />

der andere Clown, den Kropf auf das Ei angesetzt hat. In dem Moment,<br />

wo einer das Ei gefunden hat, weiß ich Mittel und Wege, die Sache in<br />

meinem Sinne zu regeln...«<br />

177


Im Treppenhaus entstand Unruhe. Babic öffnete seine Schreibtischschublade,<br />

ruhig, fast unbemerkt, aber Richard erkannte sofort die Gefahr.<br />

So rückte er sich mit seinem Stuhl demonstrativ aus der Schusslinie.<br />

Babic war zu angespannt, Gefühl zu zeigen, doch Richard glaubte,<br />

in seinem Gesicht so etwas wie Anerkennung zu sehen. Dann sprang<br />

die Tür auf. Zwei Männer in dunkelblauen Anzügen schleppten in ihrer<br />

Mitte einen Dritten. Dieser war wohl nicht ohnmächtig, trotzdem zog er<br />

seine Beine nach.<br />

Die Typen ließen ihre Fracht fallen und sie landete mit dem Kopf dort,<br />

wo noch vor wenigen Augenblicken Richards Stuhl gestanden hatte.<br />

Einer der Männer legte eine silbermetallic glitzernde Schreckschusspistole<br />

auf den Schreibtisch. Dann sagten sie etwas auf Slowakisch.<br />

Babic drückte seine Schreibtischschublade wieder zu. Lauernd fragte<br />

er Richard: »Gehört der zu Ihnen? Der hat das Haus beobachtet und<br />

zeitweise hier oben an der Tür gestanden und zu lauschen versucht.«<br />

Richard machte große Augen. Einer der Männer drehte den am Boden<br />

liegenden Mann mit einem Fußtritt auf den Rücken.<br />

Sie hatten dem armen Kerl schwer zugesetzt. An seiner Stirn klaffte<br />

eine Platzwunde, so groß wie ein Silberdollar. Seine Nase war gebrochen<br />

und blutete langsam, sein linkes Auge war eben im Begriff zuzuschwellen.<br />

»Kennen Sie den?«, fragte einer der Schläger auf Englisch.<br />

Richard nickte: Es war der Halbdicke.<br />

Dieser Dilettant am Boden, der seine Hände nun schützend über dem<br />

Kopf verschränkt hatte, wurde für Richard zum Problem, je mehr er<br />

darüber nachdachte. Viel Zeit zum Grübeln gab es allerdings nicht.<br />

Wer, mit einer Schreckschusspistole bewaffnet, ehemaligen Geheimpolizisten<br />

auflauerte, war von einem Kaliber, welches Richard nicht<br />

überschätzen durfte. Die ersten zehn Antworten, die der angeschleppte<br />

Typ auf entsprechende Fragen gäbe, würden ihn die Schneidezähne<br />

kosten und man bräche ihm drei bis vier Finger. Das alles unabhängig<br />

des Wahrheitsgehaltes der gegebenen Antworten. Deshalb würde der<br />

Mann darum auf Knien flehen, sein gesamtes bisherige Leben zu erzählen<br />

und das zukünftige noch obendrein. Dabei hätte er völlig überflüssige<br />

Todesangst, denn niemand würde sich wegen so eines Dilettanten<br />

die Finger wirklich schmutzig machen wollen.<br />

Was wusste ein normaler Bürger schon über den professionellen<br />

Wahnsinn innerhalb mafioser Strukturen, die in fast allen Geheimdiensten<br />

zweifelsfrei herrschten. So sicher es war, dass der Typ nicht<br />

von der eigenen britischen Abwehr kam noch von den angeblichen<br />

178


Mitarbeitern der Transtecco, so sicher würde er erzählen, dass er zumindest<br />

seit Wien, dann in Prag hinter Richard her war. Mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit konnte er über den Kontakt Richards mit Victor in<br />

Prag nichts erzählen, weil ihn Richard rechtzeitig abgehangen hatte.<br />

Aber was erzählte er über seinen Auftraggeber?<br />

Andererseits konnte Richard den Halbdicken auch nicht schützen, indem<br />

er ihm eine wie immer konstruierte Beziehung andichtete. Warum<br />

wollte er ihn überhaupt schützen? Vielleicht deshalb, weil er den<br />

Standpunkt vertrat, dass intelligente Vernehmer und Agenten auf blanke<br />

Gewalt verzichten konnten. Das machte die Notsituation der Zielpersonen<br />

nicht erträglicher. Follmann hatte es mit Mercedes und Sir<br />

Alec erleben müssen. Der Einsatz eines Hallo Banallo aber war das unzivilisierte<br />

Hauen und Stechen, das zumindest zur Hälfte als Beweis der<br />

Ohnmacht der Auftraggeber zu werten war.<br />

Richard atmete tief durch. »Der Typ ist mir bereits in Wien aufgefallen.<br />

Wenn es ein Schweizer ist, ist es ein Privatdetektiv meiner eifersüchtigen<br />

Frau«, sagte er deshalb leichthin und lachte. Wenn es so etwas<br />

gab wie ein professionelles Lachen, das da ausdrücken konnte,<br />

dass es für unsereins wohl eine Kleinigkeit wäre, die Welt zu retten,<br />

aber man eben gegen die Dummheiten einer Frau nichts machen konnte,<br />

dann hatte Richard passgenau gelacht.<br />

Aber Babic stellte leider die falschen Fragen. »Seit wann bist du hinter<br />

ihm her?«<br />

»Seit Zürich«, jammerte der Halbdicke auf dem Boden, weil die Frage<br />

von Babic mit einem Fußtritt einer der Männer verbunden war.<br />

»Wo ging’s dann hin? Lasse dir nicht jedes Wort aus der Nase ziehen.«<br />

Wieder ein Fußtritt. Dieses Mal in den Nacken des Mannes. Richard<br />

schaute weg. Der Mann am Boden keuchte: »In Prag habe ich ihn<br />

aus den Augen verloren. Er hat mit mir Fangen gespielt...«<br />

»Oh«, sagte Babic, »Sie waren in Prag und kommen gar nicht direkt<br />

aus Zürich.« Und zu seinen Schlägern sagte Babic: »Was hat er gespielt?«<br />

Die Schläger schlugen zu und wiederholten die Frage auf Tschechisch,<br />

was natürlich keinen Erfolg haben konnte.<br />

»Fangen!«, lachte Richard übersetzend, »also Katz und Maus.«<br />

»Wo hast du ihn in Prag verloren?«, kam die kühle Frage von Babic.<br />

»Antworte!«, sagte einer der Schläger und trat mit dem Fuß noch einmal<br />

nach.<br />

»Am Ungeltplätzchen, hören Sie doch auf zu schlagen. Ich sage ja alles.«<br />

179


Babic lehnte sich zurück, kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen,<br />

fixierte Richard mit säuerlicher Miene und kombinierte dann<br />

völlig ruhig und entspannt: »Ja, unser Mister Harriott erkennt nicht nur,<br />

dass man ihn observiert, sondern er findet auch einen Weg, zum richtigen<br />

Zeitpunkt seine Verfolger abzuhängen. Ich würde doch sagen, dass<br />

unser Besucher, bevor er hierher kam, bei meinem Freund Victor in der<br />

Bilkovastraße war. Was macht mein tschechischer Freund denn so?«<br />

Richard könnte sich jetzt dumm stellen. Bereits solche erbärmlichen,<br />

lächerlichen Gedanken zu haben, ist in solchen Situationen lebensgefährlich.<br />

Man würde den Halbdicken befragen und dieser würde erzählen,<br />

dass er gegen Richard zu keinem Zeitpunkt eine Chance gehabt<br />

hatte. Reagieren so Ehemänner, werden sie von Privatdetektiven verfolgt?<br />

Und was hatte Richard in Prag zu suchen? Auch der Dicke wusste,<br />

dass der Engländer weder zum Biertrinken dort war noch um sich<br />

die Stadt anzuschauen. So war es ein verdammt kleiner Schritt, bis man<br />

selbst am Boden lag und gar nicht so viele Hände hatte, wie man benötigte<br />

alle Körperteile zu schützen.<br />

Deshalb sagte Richard: »Victor hat Sie genau so eingeschätzt, wie Sie<br />

sind: scharfsinnig und ein Genie in der Kombinationskunst.«<br />

»Danke«, lächelte Babic, »der Kenner der britischen Industrie ist also<br />

folglich ein britischer Agent.«<br />

Richard lächelte zurück. Was sollte er darauf sagen? Auch Babic erwartete<br />

in Wirklichkeit keine Antwort, sondern sagte nur: »Eigentlich<br />

zu viel der Ehre für mein kleines Büro.«<br />

»Das Zielobjekt ist Kropf«, stellte Richard klar. »Da dieser mich jedoch<br />

in seiner Sache beauftragte, musste ich wohl oder übel zu Ihnen.<br />

Sich lediglich das Geld einzustecken, hätte nicht meinen Prinzipien der<br />

Fairness entsprochen. Immerhin kannte ich die Verwandtschafts- und<br />

Freundschaftsgrade nicht.«<br />

Das war logisch und natürlich auch wahr. Und wieder bestätigte sich<br />

die Weisheit, dass intelligente Feinde weitaus besser sind als dumme<br />

Freunde. Denn Babic entspannte sich vollkommen, nickte verständnisvoll<br />

und meinte: »Da ist der Geheimdienst Ihrer Majestät der Königin<br />

von England aber auf dem vollkommen falschen Dampfer... Moment<br />

mal!«<br />

Babic sagte etwas auf Slowakisch zu seinen Männern und machte eine<br />

wegwischende Handbewegung. Die Herrschaften in ihren blauen, in der<br />

Zwischenzeit leicht mit Blut bespritzten Anzügen packten den Halbdicken<br />

und schleiften ihn zur Tür hinaus.<br />

180


Wieder Richard zugewandt, schmunzelte Babic: »Wo war ich stehen<br />

geblieben? Ach so, Kropf. Solltet ihr den der Wirtschaftsspionage beschuldigen,<br />

seid ihr ihm aber schön auf den Leim gegangen.« Amüsiert<br />

schüttelte Babic seinen runden Kopf und die leicht wässrigen Augen<br />

tränten etwas vor Vergnügen. »Wenn ich bedenke, welche Not überall<br />

auf der Welt herrscht, aber die Geheimdienste werfen ihr Geld mit vollen<br />

Händen zum Fenster hinaus. Im Westen wie im Osten, überall die<br />

gleiche Ausbildung, die gleichen <strong>Eier</strong>köpfe, die gleiche Vorgehensweise,<br />

der gleiche Dilettantismus.«<br />

»Dann helfen, Sie Geld zu sparen«, konterte Richard, »und erzählen<br />

Sie mir, was Sie über Kropf wissen.«<br />

Babic lachte: »Wer ist hier beim Geheimdienst? Sie oder ich? Ich jedenfalls<br />

bin in Frührente.«<br />

Richard konnte und musste gehen. Er hatte hier von Babic und seiner<br />

SloTrade nichts in Erfahrung bringen können, was Babic gefährlich<br />

werden konnte. Der war schlau genug zu wissen, dass er Aktivitäten im<br />

westlichen Europa, die seine Geschäfte beeinträchtigen konnten, nicht<br />

dadurch verhindern könnte, indem er Richard bedrohte oder gar beseitigen<br />

ließe. Und Babic war sich sicher, dass er in der Slowakei vor ausländischen,<br />

staatsanwaltschaftlichen Ermittlungen relativ geschützt war.<br />

Bevor sich Richard verabschiedete, zeigte er auf das Modell eines<br />

Mercedes, welches den Schreibtisch zierte. Als Babic nickte, nahm er<br />

es in die Hand und las auf der Grundplatte »Mercedes 500, Guard«,<br />

womit gepanzerte Fahrzeuge bezeichnet werden.<br />

»Fahren Sie so ein Auto?«, wollte er wissen.<br />

Babic bestätigte dies voller Stolz. Alle Achtung, dachte Richard.<br />

Schon die Normalversion eines 500er stellte in der Slowakei ein Riesenvermögen<br />

dar. Solche Sonderschutzfahrzeuge, wie sie in Stuttgart<br />

genannt werden, sind Einzelanfertigungen und können nicht einfach irgendwo<br />

nachgerüstet werden. Rück- und Stirnwände, Seitenteile und<br />

das Dach werden im Werk in die Karosse unauffällig und technisch<br />

einwandfrei integriert. Wer als Privatmann so etwas fährt, hat erstens<br />

Geld und zweitens Angst.<br />

»Wollen Sie ihn sehen? Ich fahre Sie zum Flughafen, wenn Sie möchten.«<br />

Babic schwelgte in seinem Besitzerglück. Sein Gesicht hatte sich<br />

völlig verändert. Aus dem unterkühlten KGB-Apparatschik war ein<br />

strahlender Junge geworden, der gerade unter dem Weihnachtsbaum<br />

seine elektrische Eisenbahn hervorgezogen hat.<br />

181


Richard blickte aus dem Fenster. Schon war es dunkel geworden und<br />

der Regen hatte wieder eingesetzt. »Bitte gern. Es geht aber leider nur<br />

zum Autobusbahnhof.«<br />

Unten im Hof stand das Ungetüm. Das Heck zeigte keine Typenbezeichnung.<br />

Dafür merkte sich Richard die Immatrikulation - BAA 24<br />

00 22. Die Scheiben waren deutlich dicker als normal. Die schweren<br />

Türen waren so gut ausbalanciert, dass man es schaffte, sie ohne besondere<br />

Kraftanstrengung zu öffnen. Beim Anfahren und Beschleunigen<br />

machten sich die mehr als drei Tonnen trotz der gewaltigen Antriebskraft<br />

bemerkbar. Dafür glitt der Panzer fast geräuschlos über die<br />

schlechten Straßen.<br />

Aus Gründen der Diskretion unterscheiden sich Sonderschutzfahrzeuge<br />

dieser Marke optisch kaum von Serienmodellen, weder innen<br />

noch außen. Trotzdem gab es einige Details, die Richard nachfragte<br />

und die Babic mit Freuden erklärte. Dann verabschiedeten sich die<br />

Männer vordergründig freundlich und kollegial.<br />

Babics Arm, der eben beim Öffnen der Tür zur Hilfe kam, würde bestimmt<br />

bis nach Zürich reichen, auch nach Mallorca, wenn es sein<br />

musste. Hätte Babic nicht kombiniert, auf welcher Lohnliste Richard<br />

geführt wurde, der Abschied hätte einen bitteren Beigeschmack bekommen.<br />

So jedoch war von Babic nichts zu befürchten. Der ehemalige<br />

KGB-Mann wusste, dass die Richards eines Geheimdienstes nachwuchsen<br />

wie die Tentakel an einem Oktopus. So gesehen, hatte die Panne<br />

mit dem Halbdicken auch etwas Gutes.<br />

Gefährlicher war die Lage für Babic selbst. Seine Situation wurde<br />

wahrscheinlich durch den Besuch Richards nicht brisanter, barg aber<br />

den Hinweis, dass er Teil einer Krake war, ohne es zu wissen. Somit<br />

konnte er nicht deren Kopf sein. Schon allein dieser Schluss stellte ihn<br />

vor Fragen der eigenen Sicherheit. Vielleicht funktionierte er ferngesteuert<br />

als Greifarm oder Giftdrüse, vielleicht war er aber nur Teil des<br />

nachwachsenden Schwanzes, den man jederzeit opfern konnte...<br />

182


VIII<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

St. Petersburg und Umgebung, Anfang November. Sergej Juljewitsch<br />

Witte war 1905 Ministerpräsident und beendete in dieser Funktion den<br />

Russisch-Japanischen Krieg. Dafür war ihm der Zar zutiefst dankbar,<br />

denn der jahrelange Krieg hatte das russische Reich an den Rand des<br />

Ruins gebracht. Die diplomatische Großtat wäre wahrlich ein kaiserliches<br />

Geschenk wert gewesen. Aber das war reine Hypothese. Nachforschungen<br />

in allen Nachlässen der Familie Witte blieben erfolglos. Das<br />

Geschenk galt als verschollen.<br />

Pjotr Alexandrowitsch Carlin, der Kunsthistoriker aus St. Petersburg,<br />

war dabei, bereits die neunte Route in Angriff zu nehmen.<br />

Die ganze Arbeit basierte aber auf einer doppelten Spekulation. Witte<br />

war beim Zaren in Ungnade gefallen und dieser wollte erstens seine in<br />

Auftrag gegebene Perle nicht vor die Sau werfen und zweitens, dass der<br />

Zar das für Witte angefertigte Prunkstück damals seinem Hauspriester<br />

übergeben oder gar geschenkt hätte. Andere Wege schieden aus. Weder<br />

hatte der Zar die Pretiose verkauft oder in der Rüstkammer verstaut -<br />

man hätte davon erfahren - noch hätte er das Ei einfach dem kaiserlichen<br />

Schredder übergeben.<br />

Manchmal konnte Pjotr Alexandrowitsch die Jagd nach wenigen Stunden<br />

abbrechen, weil die Spur offensichtlich im Sande verlief. In anderen<br />

Fällen investierte er Tage mit intensiven Kontakten, die oftmals<br />

vielversprechend anfingen und dann doch plötzlich ein enttäuschendes<br />

Ende nahmen.<br />

In den vergangenen acht Wochen hatte er die St. Petersburger Region<br />

kreuz und quer durchfahren. In einem Gebiet so groß wie Dänemark<br />

hatte er jedes frühere Kloster und fast jede Kirche kennen gelernt und<br />

auch einige wertvolle Bekanntschaften mit geistlichen und weltlichen<br />

Verwaltern der Museen gemacht, wie säkularisierte Gotteshäuser heute<br />

genannt werden.<br />

Pjotr Alexandrowitschs Spannung stieg. Es war die Spannung und die<br />

Lust des passionierten Spielers, was ihn trieb. Sobald die Kugel rollt,<br />

vergisst der Roulettespieler die vorherigen Verluste und schwelgt in<br />

seinem kurz bevorstehenden Reichtum, bis die Kugel zunächst un-<br />

183


schlüssig, dann fatal entschlossen doch wieder auf der falschen Nummer<br />

zum Stehen kommt.<br />

Selbst die brave Putzfrau, die den ausgefüllten Zettel des Zahlenlottos<br />

eingereicht hat, malt sich bis zur Ziehung ihr illusionäres Dasein als zukünftige<br />

Millionärin aus. Das an sich irrationale Glücksspiel wird so<br />

zum ökonomisch sinnvollen Unterfangen, weil man den Wert des Tagtraums<br />

zur geringen Chance addieren muss. So würden dies zumindest<br />

Ökonomen formulieren, doch davon wusste Pjotr Alexandrowitsch<br />

nichts.<br />

Die Suche nach dem Ei, das wöchentliche Aufarbeiten vermeintlicher<br />

Spuren und Vermutungen war dann auch getrieben von der Hoffnung,<br />

dass sich der Traum erfüllte. Jedes Mal fand Pjotr Alexandrowitsch genügend<br />

Gründe, warum es diesmal klappen musste. Und jedes Mal löste<br />

sich der Traum schließlich in Luft auf.<br />

So wie Pjotr Alexandrowitsch das Gespräch jeweils einleitete und situativ<br />

weitergeführt hatte, war nie der geringste Hauch in den Augen oder<br />

hinter der Stirn der Angesprochenen zu erkennen oder auch nur fühlbar.<br />

Allesamt waren die Ansprechpartner alte Männer, die an ihrem Lebensabend<br />

ihren kleinen Verrichtungen nachgingen und mental gar nicht<br />

mehr imstande waren, ein schwerwiegendes Geheimnis mitzuschleppen.<br />

Sollte Pjotr Alexandrowitschs kühne, aber einzig gangbare Annahme,<br />

dass der Zar das Paket mit dem kostbaren Inhalt einem Hauspriester zur<br />

Aufbewahrung übergeben hatte, überhaupt zutreffen? Aber wenn nur<br />

etwas daran stimmte, dann kam jenen Seelsorgern eine höhere Wahrscheinlichkeit<br />

zu, deren Amtszeit am Zarenhof dem Schicksalsjahr<br />

1905 möglichst nahe lag.<br />

Diese Woche war Pater Gawriil der Jüngere an der Reihe. Das Attribut<br />

verdankte dieser dem Umstand, dass ein Pater gleichen Namens einige<br />

Jahrzehnte früher durch die Verfassung bedeutender theologischer Abhandlungen<br />

nicht berühmt, doch bekannt wurde. Wegen der Entsendung<br />

ins Herrscherhaus wurde die nähere Bezeichnung nötig, um Verwechslungen<br />

auszuschließen.<br />

Gawriil Pawlowitsch Jelisejew war zehn Jahre älter als der Zar. Während<br />

sieben Jahren, nämlich von 1900 bis 1907, betreute er die Zarenfamilie.<br />

Als in diesem Jahr Rasputin am Hof auftauchte, wurde er in den<br />

Augen der Zarin überflüssig. Noch im gleichen Jahr bat er höflich um<br />

seine Versetzung. Natürlich hatte ihn der sonst so gesunde Luftwechsel<br />

nicht bis ins 21. Jahrhundert überleben lassen. Der Schatzsucher hoffte,<br />

184


dass Gawriil Pawlowitsch würdige Nachfolger hätte, welche die Kirche<br />

seines letzten Aufenthaltes noch unterhielten.<br />

Aus den lückenhaften und ungenauen Unterlagen, die Pjotr Alexandrowitsch<br />

zur Verfügung standen, entnahm er eine Reihe von Stationen.<br />

Einige Hinweise waren allerdings widersprüchlich. Dann erblickte er<br />

auf der Rückseite eines Papiers einen in alter Schreibweise und in zittriger<br />

Schrift niedergeschriebenen Bibelvers, mit welchem Pjotr weiter<br />

nichts anfangen konnte. Umso bedeutender erwies sich der kaum mehr<br />

lesbare Schluss des Skriptums: »Schlüsselburg 1917«, es war das Jahr<br />

der Ermordung der Zarenfamilie.<br />

Pjotr Alexandrowitsch packte das Schriftstück in seine Aktenmappe.<br />

Dann machte sich der Antiquitätenjäger mit seinem Volvo auf in Richtung<br />

Osten. So nahe an der Lösung war er noch nie.<br />

Endlich nach über zwei Stunden überquerte er die Newa, welche bei<br />

Schlüsselburg aus dem Ladogasee fließt. Die alte Stadt und Festung<br />

kannte er sehr wohl. Als Historiker wusste er, dass sich Schweden und<br />

Russen während Jahrhunderten darum gestritten hatten. Schon die<br />

Schweden nannten sie Schlüsselburg, ihr Besitz war der Schlüssel zum<br />

Ladogasee und damit der Zugang zum Osten Finnlands.<br />

Am anderen Ufer der Newabrücke standen noch immer einige verbogene<br />

und verrostete kleinkalibrige Feldgeschütze, welche die deutsche<br />

Wehrmacht im Februar 1942 zurücklassen musste. Natürlich, der todbringende<br />

Würgegriff um Leningrad umfasste Schlüsselburg als östlichen<br />

Angelpunkt.<br />

Heute war die strategische Bedeutung der Stadt wahrscheinlich gering.<br />

Als erstes fuhr Pjotr Alexandrowitsch zur Stadtverwaltung und erkundigte<br />

sich dort nach Kirchen und Klöstern. Als ihn die dortigen Beamten<br />

immer misstrauischer beäugten, wies er sich als früherer Kurator im<br />

Kulturministerium aus. Das erklärte sein Interesse an derartig verstaubtem<br />

Gemäuer. Natürlich hat es hier schon immer die bekannte<br />

Verkündigungskirche mit den langen Kolonnaden gegeben, die längstens<br />

schon ein Museum war.<br />

»Zwei Kirchen sind noch vorhanden, oder was von ihnen übrig blieb.<br />

Eine ist so zerfallen, dass sie nicht einmal mehr als Museum taugt.<br />

Wenden Sie sich dort an den Popen oder seinen Stellvertreter, falls es<br />

die überhaupt noch gibt«, wurde ihm gesagt.<br />

Pjotr Alexandrowitsch bedankte sich höflich. Dann fuhr er die Hauptstraße<br />

hinauf, bog in die eine und andere Nebenstraße ein, um sich ein<br />

Bild von dieser kleinen Stadt zu machen. Die Schlaglöcher verlangten<br />

oftmals Schritttempo. Einige Häuser zeugten noch von ihrer schwedi-<br />

185


schen Vergangenheit. Aber der Krieg hatte der Bausubstanz teilweise<br />

übel zugesetzt und die sozialistische Misswirtschaft hat die Wunden nur<br />

oberflächlich überkleistert.<br />

Viele Leute befanden sich nicht auf den Straße. Die wenigen trugen alle<br />

Stiefel, wattierte Jacken oder Mäntel und irgendeine Kopfbedeckung<br />

mit Ohrenschutz, alles grau in grau. Schließlich lud das Wetter nicht<br />

gerade zum Schlendern ein.<br />

Schon etwas außerhalb der dichten Besiedlung sah Pjotr Alexandrowitsch<br />

endlich die weitgehend zerfallene kleine Kirche, von welcher<br />

der Bürokrat gesprochen hatte. Hier war offenbar niemand mehr anzutreffen.<br />

Er änderte die Richtung und erblickte bald die klassische Silhouette<br />

einer kleinen, scheinbar gut erhaltenen orthodoxen Kirche mit<br />

zentraler Kuppel und vier Türmchen auf den Ecken. Je näher man kam,<br />

desto deutlicher wurden ihre Alterserscheinungen. Die Kuppel glänzte<br />

nur noch an wenigen Stellen, die Fassaden blätterten besonders an der<br />

Westseite unaufhaltsam ab und das Dach war an einzelnen Stellen nur<br />

behelfsmäßig geflickt. Aber selbst mit all den Makeln strahlte das<br />

Kirchlein eine ans Herz gehende Wärme aus.<br />

Vor der Türe angekommen, wischte sich der Kunsthistoriker so gut<br />

wie möglich den Schmutz von seinen Schuhen. Dann drückte er die<br />

derbe Klinke, die nur noch locker in der Fassung saß und zog langsam<br />

die Tür auf. Im Hintergrund die Stimmen gregorianischer Choräle, der<br />

Duft von Weihrauch und sparsames Kerzenlicht schufen eine entrückende<br />

Atmosphäre. Im ganzen Städtchen hatte er nicht so viele Leute<br />

gesehen, wie sich hier zur Andacht eingefunden hatten. Jeder betete für<br />

sich und vor seiner Lieblingsikone.<br />

Ganz hinten im Halbdunkel der Kirche saß eine gebückte Gestalt in<br />

langer, schwarzer Kutte. Der Pater war dabei, den Vorrat an Kerzen zu<br />

zählen, die sich in mehreren Schachteln befanden. Sorgfältig und umständlich<br />

notierte der alte Mann die verschiedenen Größen in ein Taschenbuch.<br />

Ab und zu richtete er sich auf, um den Rücken zu entlasten.<br />

Dann ragte der schüttere Kinnbart fast waagerecht in den Raum. Um in<br />

keiner Weise des Paters Unmut zu erregen, wollte ihn der Schatzsucher<br />

in seiner Tätigkeit nicht stören. Endlich schien der Kerzenhaushalt unter<br />

Kontrolle zu sein. Pjotr Alexandrowitsch näherte sich dem Pater und<br />

blickte ihm bereits aus der Distanz so offen und so freundlich ins Gesicht,<br />

wie ein gelernter Christ das nur konnte.<br />

»Pater Grigorij«, eröffnete Pjotr Alexandrowitsch im Flüsterton das<br />

Gespräch »Ihre Nikolauskirche ist die schönste und lieblichste in ganz<br />

St. Petersburg, Nowgorod und Ladoga.«<br />

186


»Sie sind ein Kenner, mein Sohn, was führt Sie hierher?«<br />

Der Besucher zeigte ihm wie beiläufig mit der linken Hand seinen früheren<br />

Ausweis als Kurator und die Visitenkarte seines heutigen Geschäftes<br />

in St. Petersburg und ließ dabei fachmännisch seinen Blick<br />

über die baulichen Schadstellen gleiten. Schließlich blieb sein kritisches<br />

Auge auf einem Wassereimer stehen, in welchen es langsam, aber stetig<br />

vom Dach herunter tropfte. Scheinbar entrüstet faltete er seine Stirne<br />

und zeigte wortlos mit der Hand vom Dach zum Kübel. Die Papiere<br />

hatte er achtlos wieder eingesteckt. Dann drehte er den Kopf zum Priester<br />

und flüsterte völlig tonlos:<br />

»Unvorstellbare Schlamperei von Staat und Kirche!«<br />

»Wie bitte, mein Sohn, ich höre so schlecht.«<br />

Pjotr Alexandrowitsch machte ein Handzeichen in Richtung Türe, die<br />

offenbar in die hinteren Gemächer führte. Der Priester nickte und ging<br />

voran in ein mehr als bescheidenes Arbeitszimmerchen. Er knipste eine<br />

Glühbirne ohne Schirm an, welche gleichzeitig leuchtete und blendete.<br />

Ein Tisch, zwei Stühle, volle Bücherregale, ein offen stehender Schrank<br />

mit zwei abgetragenen Messkleidern. Eine Petroleumlampe mit bereitliegenden<br />

Streichhölzern wartete auf einen etwaigen Einsatz.<br />

Es war bitterlich kalt, so dass sie es vorzogen, im Stehen zu sprechen.<br />

Der Kunstjäger bekundete noch einmal sein Entsetzen über den Staat<br />

und die Kirche, die so ein schöne Gotteshaus dem Verfall preisgaben.<br />

Dann fütterte er unvermittelt an: »Was würde eine vollständige Renovierung<br />

denn etwa kosten?«<br />

»Du lieber Gott, das wäre eine astronomische Summe, mein Sohn! Die<br />

Renovierung vergleichbarer Kulturgüter in St. Petersburg hat gegen<br />

hunderttausend amerikanische Dollar verschlungen. So viel ist unsere<br />

ganze Stadt nicht wert.«<br />

Pjotr Alexandrowitsch Carlin beschloss aufs Ganze zu gehen. »Pater<br />

Grigorij, Sie sind ein unerschrockener Diener der heiligen russischen<br />

Kirche. Seit wann ist dieses wundervolle Gotteshaus Ihre Wirkungsstätte?«<br />

»Seit der Entsetzung von St. Petersburg, durch die Rote Armee im Jahre<br />

1942, will sagen Leningrad, wie unsere große Stadt damals unglücklicherweise<br />

hieß.«<br />

Der Pater konnte Gawriil also nicht persönlich gekannt haben.<br />

»Im Jahre 1935 verstarb Pater Gawriil, der bekannte frühere Priester<br />

am Hof des Zaren«, erklärte der Kunsthistoriker. »Er verbrachte hier<br />

seinen wohlverdienten Lebensabend. Bevor er starb, überreichte er Ihrem<br />

Vorgänger ein Paket zur treuhänderischen Aufbewahrung. Von<br />

187


diesem ging es an Sie weiter. Sehen Sie hier den vom Verstorbenen<br />

niedergeschriebenen Bibelvers und sein Hinweis, dass er hierher nach<br />

Schlüsselburg ziehe. Das Paket hat er dabei mitgenommen.«<br />

Er zeigte ihm das Schriftstück. Der Priester wagte kaum, es anzufassen.<br />

Seine Hände zitterten und er stieß hervor: »Eine Schrift vom großen<br />

Pater Gawriil, wer hätte so etwas erwartet!«<br />

Jede Euphorie in sich unterdrückend, setzte Pjotr Alexandrowitsch unverzüglich<br />

in gemessenem Ton zum Schlussakkord an: »Mein hochverehrter<br />

Pater Grigorij, Ihre aufopfernde Treue wird heute belohnt. Sie<br />

sollen das Geld für Ihre Kirche bekommen, wenn das Paket enthält, was<br />

ich vermute.«<br />

Der Pater war einer Ohnmacht nahe und rang nach Luft. Als er sich<br />

wieder gefasst hatte, wurde Pjotr Alexandrowitsch sachlich: Ȇber den<br />

Inhalt wissen wir beide nichts. Ich habe aber einen verschlossenen Brief<br />

bei mir, der darüber Aufschluss gibt. Brief und Paket müssen gleichzeitig<br />

geöffnet werden. Die Überprüfung soll ich in Ihrer Anwesenheit<br />

durchführen, aber ohne dass Sie den Inhalt zu Gesicht bekommen. Das<br />

Paket wird wieder verschlossen und versiegelt und bleibt vorerst hier.<br />

Wenn ich es in ein paar Tagen abhole, bringe ich Ihnen die hunderttausend<br />

amerikanischen Dollar bar auf die Hand. Überlegen Sie schon<br />

heute, wo Sie das viele Geld verstecken wollen. Pater Grigorij, so wie<br />

Sie bisher geschwiegen haben, werden Sie bitte weiterhin schweigen.<br />

Denn sonst riskieren Sie, dass Ihnen der Staat oder gar die Kirchenverwaltung<br />

Ihren - weiß Gott wohlverdienten - Lohn einfach wegnehmen.«<br />

»Das schwöre ich Ihnen mit Vergnügen!« Der Pater konnte wieder lächeln.<br />

»Jetzt möchten Sie bestimmt die Schachtel sehen, Sie Wundernase,<br />

Sie. Der Herr möge Ihnen verzeihen.«<br />

Zu Pjotrs größtem Erstaunen machte sich der Pater an seinen Bücherregalen<br />

zu schaffen. Er baute verschiedene Lagen um, versetzte Bücher<br />

der vorderen Reihe in die hintere, schob einige herum und zeigte im<br />

Licht der dürftigen Glühbirne auf eine dreibändige Bibel imposanten<br />

Ausmaßes. Darauf umfasste er alle drei gleichzeitig und zog sie auf die<br />

Regalkante. Von dort kippte er die Bände nach vorne und konnte sie so<br />

anpacken und auf den Tisch stellen.<br />

Einen langen Moment lang fürchtete der Kunstjäger wiederum eine<br />

fürchterliche Enttäuschung und schloss wankend die Augen. Dann aber<br />

entfernte der Pater die Buchdeckel und die drei Buchrücken, welche nur<br />

aus einem Stück bestanden. Zum Vorschein kam ein Behälter aus Blech<br />

mit versiegelter Abdeckung.<br />

188


Mit letzter Beherrschung bat Pjotr den Pater, sich abzuwenden. Zuerst<br />

zerriss er eine Seite aus seinem Taschenkalender, um das Geräusch<br />

beim Öffnen eines Briefes nachzuahmen. Dann brach er mit seinem<br />

Autoschlüssel das Siegel auf. Nun rückte er den blechernen Deckel vorsichtig<br />

an einer Ecke, dann an der gegenüberliegenden, dann beide<br />

gleichzeitig. Millimeter um Millimeter gelang es, ihn hinaufzuwiegen,<br />

bis er sich mit einem Mal abheben ließ.<br />

»Jetzt nicht durchdrehen! Bloß nicht durchdrehen!«, sagte sich Pjotr<br />

Alexandrowitsch und zwang sich, regelmäßig kräftig zu atmen.<br />

Der Behälter enthielt eine rotbraune Kapuze, in der ein silberner Bilderrahmen<br />

eingewickelt war. Die Fotographie zeigte eine blasse Frau in<br />

jüngeren Jahren. Weiter unten lag ein ledernes Etui. Pjotr Alexandrowitsch<br />

öffnete es und erblickte ein Bartschneideset. Am Rande des<br />

Blechkastens lag eine Pfeife. Drei Dokumente belegten, dass ihr Besitzer<br />

die kirchlichen Weihen empfangen hätte. Nichts, aber auch gar<br />

nichts, was den Antiquitätenfachmann erfreuen konnte. Am liebsten<br />

hätte er den blechernen Kasten einfach auf den Boden geschmissen.<br />

Tränen der Enttäuschung flossen über sein Gesicht mit den sonst so<br />

harten Gesichtszügen: »Nichts, gar nichts, alles vorbei...«<br />

Immer wieder schüttelte der Kunstjäger den Kopf. Was war das nur für<br />

eine verdammte Scheiße? Warum kümmerte er sich nicht um sein Geschäft<br />

in St. Petersburg, sondern jagte hier einem gottverdammten<br />

Phantom nach?<br />

Der Pater hatte sich wieder umgedreht und schaute interessiert auf die<br />

Habseligkeiten, die die Kiste offenbarte.<br />

»Mein Sohn, Sie brauchen mir das Geld nicht in bar zu übergeben, es<br />

geht auch einfacher. Die St. Petersburger Sparkasse führt hier in<br />

Schlüsselburg eine Filiale. Meine Kirchgemeinde unterhält dort ein<br />

Konto.«<br />

Der Pater überreichte dem am Boden zerstörten Kunstjäger einen Zettel<br />

mit der Kontonummer und auch der Telefonnummer seiner Pfarrei.<br />

»Überweisen Sie das Geld dorthin. Erwähnen Sie als Kennwort Stiftung<br />

St. Nikolaus. Und rufen Sie mich gelegentlich mal an. Sie können<br />

die Kiste gleich mitnehmen. Ich vertraue Ihnen.«<br />

Waren es die tröstenden Worte des Priesters oder eine übernatürliche<br />

Erscheinung? Denn plötzlich strahlte der am Boden zerstörte Kunsthistoriker<br />

wie eine goldene Monstranz.<br />

*<br />

189


Palma de Mallorca, ein paar Tage vorher. Richard war aus der Slowakei<br />

zurück, vom herbstlichen Wien nach Palma de Mallorca geflogen.<br />

Sonniges Wetter und Temperaturen um die 18 Grad bestärkten ihn in<br />

der Freude, hier zu residieren. Aber auch das schönste Wetter konnte<br />

nicht über die Tatsache hinwegtäuschen, dass dieser Flug eine Ausweichhandlung<br />

darstellte. Die Probleme gab es in Zürich. Aber vielleicht<br />

brachte ihm ein Gedankenaustausch mit Mercedes mehr Licht.<br />

»Mehr Licht!«, lachte sie eine Spur zu spöttisch, »wirklich sehr originell.<br />

Auf die Idee ist schon mancher gekommen.«<br />

Richard winkte verärgert ab. »Ja, ja, ja, meine Mercedes ist eben perfekt<br />

und ich bin hier der Schuhputzer, der die Kastanien aus dem Feuer<br />

fischt.«<br />

»Oh, entschuldige, mein großer Held. Welche Kastanien hast du denn<br />

bisher aus den lodernden Flammen gerettet? Habe ich da etwas übersehen?«<br />

Richard schaute seine Partnerin groß an. Mercedes lachte und Richard<br />

kam auf den Boden der Tatsachen zurück. Nichts war geklärt, kein<br />

Problem war gelöst, der Auftrag der Greves nicht erfüllt, geschweige<br />

denn, dass die Täter überführt waren. Und die heißen Kastanien lagerten<br />

unberührt in Bratislava.<br />

Mercedes beugte sich nach vorne, als wolle sie ihm im benachbarten<br />

Sessel einen Nasenstüber geben: »Ich will den Teufel nicht an die untapezierte<br />

Wand malen. Aber hast du schon einmal darüber nachgedacht,<br />

dass alles umsonst war, wenn dein genialer Plan mit dem Supervirus in<br />

der Software bei Greves nicht klappt?«<br />

»Das klappt! Du hättest einmal diesen Frank sehen sollen, wie er auf<br />

meinen mitgebrachten Laptop einhämmerte. In kürzester Zeit hat der<br />

ein Programm geschrieben. Phantastisch«, strahlte Richard.<br />

Die Agentin war höchst amüsiert: »Wenn ein Mann einen Entschluss<br />

gefasst hat, wird dieser zum Teil des Mannes. Aber Entschlüsse sind<br />

nur gedankliche Konstruktionen, weniger als Seifenblasen. Bei denen<br />

gibt es immer noch die Seife und das entspannte Wasser.«<br />

Richard pustete sich in die Wangen: »Dann sage mir, was man anders<br />

machen kann.«<br />

»Das weiß ich auch nicht«, bekannte Mercedes, »aber ich brauche mal<br />

deinen Frank. Sir Alec will nämlich in die Geschichte mit der Transtecco<br />

nicht noch jemanden einweihen.«<br />

»Ah!«, durch Richard ging ein Ruck. »Daher weht der Wind! Die große<br />

Geheimdienstzentrale weiß nicht mehr weiter und klaut meine Mit-<br />

190


arbeiter. Nur geht das nicht, mein Schätzchen. Frank sitzt in einer mit<br />

meterhohen Mauern umfriedeten Klinik für Alkoholsüchtige und<br />

kommt da nicht raus.«<br />

Mercedes lächelte mild und nachsichtig. »Das geht schon. Wir holen<br />

ihn da nach dem Abendbrot raus und zum Frühstück ist er wieder drin<br />

und kann für dich weiterarbeiten.«<br />

»Auf keinen Fall! Wenn der einen einzigen Schluck Alkohol trinkt, ist<br />

der Rest seines Hirns ebenfalls abgesoffen und ich verliere die entscheidenden<br />

Tage, die man für die Entwässerung braucht«, hatte Richard<br />

nicht so ganz unrecht.<br />

»Papperlapp«, Mercedes nahm ihr Glas und trank einen Schluck Apfelsaft,<br />

»wenn wir den holen, bekommt der nur Wasser zu trinken und<br />

pollenfreie Luft zum Atmen.«<br />

»Ihr holt den nicht, bevor ich fertig bin«, wurde Richard ärgerlich.<br />

»Wir holen ihn ja auch nicht, sondern wir leihen ihn uns für eine Nacht<br />

aus.«<br />

»Nein!«, nahm sich Richard das letzte Wort, aber Mercedes lächelte<br />

weise.<br />

Richard zeigte auf den Kater, der eben mit erhobenem Schwanz über<br />

den Tisch stolzierte und an den Erdnüssen herumschnupperte. »Als ich<br />

Kind war, hatten wir auch eine Katze. Die war nie auf dem Tisch und<br />

im Gegenzug fraß keiner von uns Kindern aus ihrem Napf.«<br />

»Du warst auch schon besserer Laune. Was ist denn los?«<br />

»Wo ist eigentlich meine Pistole?«, wechselte Richard das Thema und<br />

kramte in allen möglichen Schubladen herum.<br />

»Du sollst mit dem Kater reden und ihn nicht erschießen.«<br />

»Die Pistole lag hier immer unter dem Stapel Zeitungen. Ich möchte<br />

nicht, dass diese Isabella meine Sachen wegräumt. Sage ihr das, wenn<br />

du das nächste Mal mit ihr badest.«<br />

Mercedes setzte sich an ihren Schreibtisch, es galt, die entsprechenden<br />

Berichte zu schreiben, um den Stand der Operation nach London zu<br />

melden. »Du sagst, dieser Babic hat von vorneherein ausgeschlossen,<br />

dass Kropf der Hintermann der Spionagetätigkeit bei Greves ist?«<br />

»Ja, er behauptete auch, dass Kropf ihm einen Mitarbeiter andienen<br />

wollte, der dann nichts getaugt hätte. Das kann nur dieser Flückiger<br />

sein, der unter Kropf bei der Armee diente.«<br />

Mercedes verzog ihr Gesicht, als hätte sie auf eine Zitrone gebissen.<br />

»Du hast deine Selbstsicherheit wohl vom Kater abbekommen? Der<br />

Flückiger ist der einzige, von dem wir wissen, dass er unter Kropf diente.<br />

Die Schweizer Armee ist doch weit überdimensioniert...«<br />

191


»Na, eine Million Mann sind da schon unter Waffen«, meinte der Engländer.<br />

»Quatschkopf! Haben die überhaupt noch eine Armee? Oder diente<br />

Kropf bei den Deutschen?«<br />

»Hätte er wohl gerne, jedenfalls hört und singt er den ganzen Tag das<br />

Lied vom Landser. Aber im Ernst«, Richard schüttelte den Kopf, »deinen<br />

Bericht darf niemand aus der Schweiz in die Finger bekommen,<br />

sonst lassen die mich da wegen Spionage und Staatsbeleidigung nicht<br />

mehr einreisen.«<br />

»Testen wir eben, ob sie den abfangen können. Wenn ja, so steht es<br />

morgen in der Zeitung. Das dürfte doch vielerorts interessieren. Er geht<br />

als Geheimbericht verschlüsselt nach London«, erinnerte Mercedes,<br />

»normalerweise müsstest du den selbst schreiben und verschlüsseln.«<br />

»Ich kenne Geheimberichte, die sind unverschlüsselt als Roman veröffentlicht<br />

worden. Und vor drei Tagen kam im Fernsehen ein Tatsachenbericht<br />

über die internationale Zusammenarbeit der Geheimdienste in<br />

Bezug auf den internationalen Terrorismus...«<br />

»Auf welchem Sender?«<br />

»Auf Cartoon Network, diesem Kinderkanal.«<br />

»Das ist doch nicht dein Ernst?«<br />

»Doch«, murrte Richard, »das war zur Tarnung so ein Zeichentrickfilm<br />

mit einer Maus, einem Geier und einem Schwein. Es kam alles<br />

darin vor, was ich in meiner Tätigkeit im Geheimdienst bisher erlebt<br />

habe.«<br />

Mercedes prustete los: »Nimm die Erkenntnisse aus dem Kinderkanal<br />

und der einzige Verdächtige nach wochenlanger, streng geheimer, operativer<br />

Tätigkeit ist unschuldig...«<br />

»...entlastet von einem ehemaligen KGB-Offizier und Schwerverbrecher«,<br />

ergänzte Richard.<br />

Da dies alles nicht sein konnte, kam man zu dem Entschluss, dass Babic<br />

in dieser Sache nur ablenken wollte. Zuerst glaubten die beiden dies<br />

wohl selbst nicht, doch als der Bericht an Sir Alec fertig war, klang das<br />

so: »Jozef Babic versuchte beim Treffen in Bratislava aus nahe liegenden<br />

Gründen, seinen Geschäftspartner Kropf zu entlasten.«<br />

»Fehlt nur noch der Vermerk, dass der Auftraggeber Willy Kessler<br />

schon vor Wochen gesagt hat, du sollst den Kropf als Verdächtigen von<br />

der Liste streichen«, erinnerte Mercedes.<br />

»Ja«, murrte Richard, »der hat doch keine Ahnung.«<br />

»Aber er zahlt deine Spesenrechnung.«<br />

192


»Ach so«, fiel Richard ein, »warum zahlt Kropf seine Mitarbeiter<br />

nicht? Hast du das herausbekommen?«<br />

»Das hätte ich beinahe vergessen«, gab Mercedes zu, »also hör’ zu...«<br />

Mercedes rief die entsprechende Datei in ihrem Computer auf: »Kropf<br />

ist nach meinen Recherchen bereits drei Monate mit der Bezahlung von<br />

Sozialbeiträgen im Rückstand. Das, mein lieber Engländer, sind die<br />

Beiträge, die Firmen im sozialistischen Europa für ihre Mitarbeiter an<br />

die Kranken- und Rentenversicherung abführen müssen...«<br />

»Also Steuern?«<br />

»Nein, Sozialbeiträge. Und diese machen je nach Alter der Beschäftigten<br />

in der Schweiz etwa 7,5 Prozent aus. Das heißt, man zieht dies den<br />

Leuten zwangsweise vom Gehalt ab und muss etwa den gleichen Betrag<br />

als Arbeitgeber bezahlen. Kropf ist etwa 38.800 Franken im Rückstand.<br />

Das sind die Sozialabgaben der Caratus-Mitarbeiter und der seiner<br />

Kanzlei für drei Monate. Kropf ist noch im Verwaltungsrat bei vier<br />

anderen Unternehmen, teilt sich dort jedoch die Verantwortung mit anderen<br />

Persönlichkeiten...«<br />

»Nur dort, wo er selbst und alleine zeichnet, macht er also Schulden?«,<br />

fragte Richard.<br />

»Du sagst es. Normalerweise müssten mindestens ein Drittel dieser<br />

Verbindlichkeiten zur Vollstreckung ausgesetzt sein. Doch das ist nicht<br />

der Fall. Ich konnte nicht klären, warum die entsprechende Einzugsstelle<br />

bei Kropf die Beiträge nicht vollstreckt, sondern auflaufen lässt.«<br />

»Vetternwirtschaft?«<br />

Mercedes zuckte mit den Schultern. »Kropf hat vier Bankkonten, die<br />

zusammen umgerechnet fünf Millionen Euro Guthaben ausweisen. Die<br />

Caratus AG hat jedoch keinerlei Liquidität. Im Gegenteil, das eine<br />

Konto ist bei einem Zinssatz von sagenhaften neun Prozent um über<br />

drei Millionen überzogen.«<br />

»Konntest du die Transaktionen einsehen? Hat Kropf Geld von den<br />

Caratus-Konten auf seine Privatkonten überwiesen?«<br />

»Das ist zu vermuten, aber ich habe darüber keine Erkenntnisse. Doch<br />

Kropf hat noch ein Wertpapierkonto. Rate mal, was sich dort befindet.«<br />

»Ich rate nicht, ich ermittle.«<br />

»Falsch«, grinste Mercedes, »ich habe ermittelt und du hörst zu. Also:<br />

Kropf hat für etwa 1,9 Millionen Euro Termingeschäfte für Aktien abgeschlossen.<br />

Bekanntlich können mit Optionen wegen der Hebelwirkung<br />

mit kleinen Einsätzen große Gewinne, aber genauso große Verluste<br />

eingefahren werden. Stimmt die Hauptspekulationsrichtung, ist al-<br />

193


les klar, umgekehrt droht schnell Totalverlust. Kropf setzt auf steigende<br />

Kurse. Und Kropf hat die Optionen geschrieben, also herausgegeben.«<br />

Die Agentin drückte auf die Fernbedienung des Fernsehgerätes und<br />

schaltete ihren Computer auf das TV-Gerät. »Hier, mein großer Held,<br />

der Basispreis einer dieser Optionen liegt bei 20 und die Aktie ist in der<br />

Zwischenzeit auf 13 gefallen. Bei dem anderen Titel ist das Bild nicht<br />

besser...«<br />

»Verstehe, aussteigen kann er nicht, da er Emittent ist und die Laufzeit<br />

bis Dezember geht.«<br />

»Stimmt! Kropf kann nicht raus. Ende Dezember kommen die Optionskäufer<br />

und wollen, dass Kropf ihnen die an der Börse erworbenen<br />

Aktien zum Basispreis von 20 Euro abnimmt. Und: Bingo!«<br />

»Das gibt für ihn sieben Euro Verlust pro Aktie... Ja und?« Richard<br />

blickte sie fragend an.<br />

»Ausmultipliziert ergibt das einen Verlust von etwa 2,4 Millionen Euro.<br />

Fällt die Aktie noch um einen Euro - und es sieht derzeit so aus -,<br />

hat Kropf kein Geld mehr.«<br />

»Das heißt, Kropf ist jetzt schon pleite...«<br />

Isabella kam aus ihrem Zimmer. Im Slip. Als sie Richard erblickte,<br />

schrie sie grell auf und rannte zurück.<br />

»Ich habe jetzt überhaupt keinen Nerv für nackte Frauen«, stellte Richard<br />

fest, »sie braucht sich nichts anzuziehen, sondern soll mir einen<br />

Kaffee machen.«<br />

»Erkennt mein starker Kopfrechner, was das bedeutet?«, ging seine<br />

Partnerin nicht auf die Bemerkung ein. »Kropf hat auf seinen Konten<br />

fünf Millionen Guthaben. Hat er die drei Millionen von diesem Juwelier<br />

unterschlagen, besitzt er aber tatsächlich nur zwei Millionen. Diese<br />

sind jedoch bereits heute verspekuliert.<br />

Und die Bank lässt natürlich nicht zu, dass er irgendwelches Geld abzieht.<br />

Sie verlangt nämlich Sicherheit für den Fall, dass am Verfallstag<br />

die Aktie noch weiter gefallen ist. Theoretisch müsste Kropf für 11,4<br />

Millionen Sicherheit gut sein. So groß ist das Risiko.<br />

Kropf kann den verhältnismäßig kleinen Franken-Betrag an Sozialabgaben<br />

und Löhnen nicht bezahlen, weil er wahrscheinlich bei der Caratus<br />

AG das Konto um drei Millionen überzogen hat und davon auch<br />

schon 400.000 verspekuliert.«<br />

Richard machte eine Schnute: »Das ist ja überhaupt keine Spekulation,<br />

das ist Selbstmord. So dumm ist der nicht. Irgendwas ist oberfaul...«<br />

Mercedes schaute zu Isabella, die sich ein kurzes Röckchen und ein<br />

enges T-Shirt übergezogen hatte. »Schätzchen, so ist es nicht besser!<br />

194


Du verstehst ja überhaupt nichts von Männern. Deine Klamotten geilen<br />

ihn mehr auf, als wenn du nackt bist. Mache ihm bitte einen Kaffee.«<br />

»Mir auch!«, rief Richard hinterher.<br />

»Habe ich doch eben geordert«, verstand Mercedes nicht.<br />

»Ich dachte, du meintest den Kater und wunderte mich schon, dass dieser<br />

Kaffee trinkt.«<br />

»Erstens«, dozierte Mercedes, »ist das meine Isabella und zweitens die<br />

Putzfrau. Denn wäre es deine, würde sie bald wieder die Flucht ergreifen.«<br />

»Ja, ja, ja, ja...«<br />

Der Kaffee kam und wurde schüchtern lächelnd serviert.<br />

»Sage ihr mal, dass ich hier nicht der eingedrungene Gorilla und Frauenschänder<br />

bin, für den sie mich jetzt hält«, ärgerte sich Richard, »ich<br />

bin hier mindestens gleichberechtigt und Hausherr.«<br />

»Sage ihr das selbst, du kannst ja Französisch«, lächelte Mercedes süffisant.<br />

»Isabella«, ließ sich Richard nicht zwei Mal bitten, »where is my shotgun?«<br />

»Das war Englisch«, machte Mercedes auf die Sprachverwirrung aufmerksam,<br />

»und eine Flinte ist dir ja nicht abhanden gekommen.«<br />

Richard winkte ab: »Wenn sie mich nicht versteht, dann ist das doch<br />

eh wurscht, was man sagt.«<br />

Isabella lächelte schüchtern und sagte im unsicheren Englisch: »Ihre<br />

Pistole habe ich in den Safe gelegt, Sir.«<br />

Und während Richard die Kinnlade herunterfiel, hörte man im Raum<br />

das schallende Lachen von Mercedes.<br />

*<br />

Frankfurt, zwei Tage später. Es war ein Donnerstag, da meldete sich<br />

ein älterer Mann beim Transtecco-Geschäftsführer Follmann gegen<br />

zehn Uhr früh.<br />

»Wie geht es Sonja?«, fragte der Mann mit Spazierstock, ohne sich zu<br />

setzen.<br />

Follmann erschrak, schaltete jedoch schnell und antwortete: »Ich weiß<br />

es nicht, ihre Tochter hatte einen Unfall, seitdem habe ich sie nie wieder<br />

gesehen.«<br />

Der alte Mann lächelte verständnisvoll: »Mein Sohn Frank arbeitet bei<br />

einem High-Tech-Unternehmen in Zürich. Er wollte mit Ihnen persön-<br />

195


lich etwas besprechen und würde Sie gerne heute Abend gegen neun<br />

Uhr hier im Büro treffen.«<br />

Follmann machte sofort einen gehetzten Eindruck: »Was wollt ihr<br />

denn hier?«<br />

Der Unbekannte lächelte ruhig: »Die Frage ist doch nur, ob man sich<br />

gegen 21 Uhr in Ihren Räumen ungestört unterhalten kann.«<br />

Follmann atmete tief durch, dann sagte er: »Eigentlich schon, ich muss<br />

nur wissen...«<br />

»Selbstverständlich«, bestätigte der Besucher, »Sie wissen, wie man<br />

einen Gast empfängt und dass es nicht ungewöhnlich ist, gute Geschäftsabschlüsse<br />

auch noch spät abends anzubahnen, wenn der Kunde<br />

vielversprechende Informationen hat.«<br />

»Ja, natürlich«, sagte Follmann und nickte zögernd.<br />

196<br />

*<br />

Zürich. In Anbetracht der hochkarätigen Patientenschaft des Klinikunternehmens<br />

kam es nicht selten vor, dass ein Hubschrauber innerhalb<br />

der Mauern des Sanatoriums landete. Das Leben als Star und Sternchen<br />

mit einem Glas Weinbrand in der Hand endete eben oft mit einer leeren<br />

Pulle unterm Bett und Wahnvorstellungen im Kopf. Die Patienten wurden<br />

also gebracht und mit den Füßen voraus wieder entsorgt oder es<br />

ging in Wagen mit abgedunkelten Scheiben wieder zurück vor die<br />

Filmkameras und hinein in die Bussi-Gesellschaft. Nach ein paar Monaten<br />

wurde man dann wieder zurückgeflogen und das Spiel begann<br />

von vorne.<br />

Dass Patienten aber nur für eine Nacht mit dem Hubschrauber abgeholt<br />

wurden, hatte Verwaltungsdirektor Schnürli noch nie erlebt, doch in<br />

Anbetracht der reichlich bemessenen Zuwendung, die er dafür verbuchen<br />

konnte, genehmigte er sich noch ein kleines Schnäpperchen aus<br />

dem versilberten Flachmann.<br />

Bald darauf startete auf dem Flughafen in Zürich ein Flugzeug der Europäischen<br />

Krankenrettungsgesellschaft mit Ziel Frankfurt. Der den Patienten<br />

während des Fluges begleitende Arzt trug eine braune Bomberjacke<br />

und hatte eine Nahkampfausbildung. Der Patient wunderte sich<br />

dann auch über die Frage des angeblichen Arztes sehr, ob es denn in<br />

den Alkoholentziehungsanstalten auch etwas Ordentliches zu trinken<br />

gäbe oder nur Kamillen- und Pfefferminztee serviert würde.


Auf dem Vorfeld des Frankfurter Airports stand ein Krankenfahrzeug<br />

und holte den Patienten samt dessen Begleiter ab.<br />

»Feierabend«, atmete der Co-Pilot des Rettungsfliegers auf. Der Kommandant<br />

schaute auf seine Armbanduhr: »Ich würde eher sagen, Pause.<br />

In drei, vier Stunden müssen wir die Typen wieder zurückfliegen.«<br />

»Was? Das hat mir ja keiner gesagt«, empörte sich der Mann.<br />

»Ich sag’s dir doch«, bemerkte sein Vorgesetzter und legte den Hauptschalter<br />

des Düsenklippers auf »Off«.<br />

»Furchtbare Schicksale, diese Alkoholiker«, kommentierte der Co-Pilot,<br />

»besonders der Typ mit der Bomberjacke, macht’s wohl nicht mehr<br />

lange.«<br />

»Das war doch der Arzt!«<br />

»Was, das war der Arzt? Ich dachte, der Typ mit dem Laptop war der<br />

Arzt.«<br />

»Wenn du selbst nicht so viel saufen würdest, wäre dir das vollkommen<br />

klar. Die mit den roten Nasen, den gelblichen Augäpfeln und den<br />

feinen Äderchen im Gesicht sind die Gesunden. Die anderen sind die<br />

Alkoholiker.«<br />

»Dann arbeitet ja in unserer Gesellschaft kein einziger Alkoholiker.«<br />

»Richtig, zumindest nicht beim fliegenden Personal.«<br />

*<br />

Palma de Mallorca. Zur gleichen Zeit fuhr Richard seinen Computer<br />

herunter. »Was hältst du von einem erlesenen Abendessen im Koldo<br />

Royo?«<br />

Mercedes schaute nervös auf den sich träge dahinschleppenden Sekundenzeiger<br />

der Bürouhr. »Ich habe keinen Hunger. Zudem kommt für<br />

mich gleich ein Gespräch rein.«<br />

»Ich merke schon, in der letzten halben Stunde hast du bestimmt zehn<br />

Mal auf die Uhr geschaut. Ist es etwas Ernstes oder muss ich mir Sorgen<br />

machen?«, war Richard erstaunt.<br />

»Ich möchte doch, mein treuer Helfer, sichergehen, dass dein Frank<br />

wohlbehalten in Frankfurt angekommen ist«, lächelte Mercedes.<br />

»Verrat!«, schrie Richard halblaut, denn er wusste, dass er keine<br />

Chance hatte. »Wehe, ihr bringt mir meinen Programmierer in Gefahr.«<br />

»In die größte Gefahr hast du ihn gebracht, als du mit ihm auf einem<br />

Acker in der Schweiz gelandet bist«, nahm Mercedes ihrem Partner die<br />

Luft aus der Argumentationskette.<br />

197


»Das sehe ich nicht so«, trotzte Richard, »wenn du nicht mitkommst,<br />

gehe ich mit Isabella essen. Das Mäuschen soll auch mal in einem erlesenen<br />

Restaurant speisen wie eine Königin.«<br />

»Das Mäuschen hat sich vorhin bereits eine Büchse Ölsardinen aus<br />

Marokko mit einer Scheibe Toast zum Gesamtwert von 59 Cent einverleibt<br />

und ist satt...«<br />

»Ist denn noch eine Büchse da?«, fragte Richard zurück.<br />

»Lecker!«, bejahte Mercedes und verzog ihr Gesicht.<br />

»Gut«, war Richard sichtlich zufrieden, »dann esse ich nun auch eine<br />

Dose Ölsardinen und das Koldo Royo kann sein Fünf-Gänge-Menü<br />

dem Haushund verfüttern.«<br />

Dann klingelte das Telefon.<br />

Nach dem kurzen Gespräch sagte Mercedes: »Alles bestens. Wenn<br />

dein Frank so gut ist, wie du behauptest, haben wir in zwei, drei Stunden<br />

die gesamte Finanzbuchhaltung dieser Transtecco auf DVD. Für<br />

die Spezialisten in London bestimmt spannender als jeder Film.«<br />

»Mhhh«, gab Richard laut, »also diese preiswerten Ölsardinen in Sonnenblumenöl<br />

sind ein Genuss. Deine Putzfrau hat Geschmack, das muss<br />

man ihr lassen.«<br />

198<br />

*<br />

Madame Meister-Novak hatte versucht, Mercedes auszuquetschen.<br />

Nicht, wie zu vermuten gewesen wäre, über den Stand der Ermittlungen<br />

im Falle der ausstehenden Gehaltszahlungen, sondern über den<br />

Verbleib von Richard.<br />

Mercedes hatte charmant wie immer eine diesbezügliche Auskunft verweigert,<br />

doch die Dame auch dahingehend zu trösten versucht, dass es<br />

Richard gut gehe. Das beunruhigte die Polin noch mehr, wähnte sie ihn<br />

doch immer noch in Bratislava.<br />

»Die machte gerade den Eindruck, als hätte sie erwartet, dass man dich<br />

im Zinksarg nach Hause transportiert hatte«, bemerkte Mercedes später.<br />

Frank W. war in der damaligen Nacht wie geplant in sein Sanatorium<br />

zurücktransportiert worden und grübelte seit diesem Einsatz bereits die<br />

ganze Zeit darüber nach, worin das angebliche Problem bestanden hatte,<br />

für das man einen Spezialisten benötigte. Ein derart schlecht gesichertes<br />

Netzwerk brauchte er nur böse anzuschauen und schon gab es<br />

ihm seine Daten preis.


Auf Grund dieser Kleinigkeit für einen Computerspezialisten konnte<br />

Sir Alec bereis nach einer Woche von der Analyseabteilung in London<br />

ein umfangreiches Dossier in Empfang nehmen. Die Transtecco war<br />

wie erwartet gespiegelt und vergleichbar mit einer Würstchenbude.<br />

Vorne wurden offiziell Würstchen verkauft und hinter der Fassade gab<br />

es ein florierendes Unternehmen mit zwanzig Fahrzeugen, zwei Helikoptern,<br />

einer Turboprop-Maschine und etwa sechzig Mitarbeitern. Das<br />

bedeutete nicht, dass das Personal der Würstchenbude von der Existenz<br />

einer gewaltigen Infrastruktur im Rücken des Unternehmens nur die geringste<br />

Ahnung hatte.<br />

Für einen Augenblick hatte Sir Alec noch überlegt, diese Erkenntnisse<br />

seinen beiden Mitarbeitern auf Mallorca mitzuteilen und seine daraus<br />

gezogenen Schlüsse zu erklären, doch dann fiel ihm ein, dass seit einiger<br />

Zeit weder Mercedes noch Richard observiert wurden, offenbar waren<br />

sie aus der diesbezüglichen Schusslinie. Und warum sollte er dann<br />

die beiden informieren? Hätte er es getan, die Geschichte wäre anders<br />

verlaufen.<br />

So aber beschloss Richard, einen Tag frei zu nehmen und den schönen<br />

Tag mit Golfspielen totzuschlagen. Bereits beim ersten Abschlag klingelte<br />

das Handy.<br />

»Ja?«<br />

»Hier Reinhold Reinhold, good morning, Sir«, meldete sich der Assistent<br />

von Kropf.<br />

»Welche Überraschung und Ehre«, schrie Richard gegen das penetrante<br />

Windgeräusch an.<br />

»Kropf hat das Ei gefunden. Ich wusste das gestern schon, habe Sie<br />

aber nicht erreicht. Der Meister soll es holen, er wartet nur noch auf das<br />

Visum.«<br />

»Das sind ja wirklich überraschende Neuigkeiten«, bestätigte der<br />

Agent, »ich danke Ihnen fürs Erste recht herzlich und werde mich erkenntlich<br />

zeigen. Kann der General denn bezahlen?«<br />

»Ja, selbstverständlich. Was glauben Sie denn? Ich habe eben fünfhunderttausend<br />

von der Bank abgeholt. Vierhundert Tausender liegen jetzt<br />

in seinem Tresor. Hundert hat er dem Meister gegeben.«<br />

Es knackte furchtbar in der Leitung. Richard schrie: »Herr Reinhold,<br />

Sie hören von mir.« Dann legte er auf. Die Golfpartie war beendet.<br />

Zurück im Büro packte Richard seine Tasche, holte die Pistole aus<br />

dem Waffenschrank und gab Mercedes einen Kuss. »Kropf hat Geld.<br />

Irgendetwas stimmt mit deinen Ermittlungen nicht. Eben gerade hat<br />

sein Assistent fünfhunderttausend von der Bank abgeholt.«<br />

199


Mercedes schaltete den Fernseher ein. Sie zeigte mit dem Finger auf<br />

das Gerät, auf Bloomberg lief das Band des Deutschen Aktienindex. Es<br />

dauerte geraume Zeit, dann sagte Mercedes: »Kropf ist seit unserem<br />

letzten Gespräch um ca. 234.000 Euro ärmer geworden.«<br />

»Offenbar eben nicht«, widersprach Richard.<br />

»Doch, ist er! Die Finanzmathematik ist die härteste Wissenschaft, die<br />

es gibt. Sind 100 Euro in der Kasse drin und du entnimmst 110, musst<br />

du zehn Euro wieder reinlegen, damit in der Kasse nichts drin liegt.«<br />

»Kropf ist dann wohl ein Zauberkünstler«, tat Richard kopfschüttelnd<br />

ab.<br />

200<br />

*<br />

Zürich, am nächsten Tag. Das Essen im Restaurant Français schmeckte<br />

vorzüglich. Trotzdem war die Stimmung getrübt. Einerseits hatte Richard<br />

das beklemmende Gefühl, wieder beobachtet zu werden und andererseits<br />

fühlte Agnieszka, dass er sie irgendwie nicht beachtete.<br />

»Hast du mir etwas Wichtiges zu sagen?«, fragte Richard und tupfte<br />

sich mit der Serviette die Lippen.<br />

»Es freut mich, dass wir wieder zusammen sind«, meinte sie verlegen<br />

und wich seinen Blicken aus.<br />

»Du wolltest mich umbringen lassen«, schoss der Agent aus der Hüfte.<br />

Madame war sichtlich geschockt: »Wie kannst du denn so etwas sagen,<br />

Richard. Was ist denn los?«<br />

»Wer war der Clown, den du mir auf den Hals schicktest?« Richard<br />

hatte wohl nur so einen Verdacht, doch wollte er diese einmalige Chance<br />

wahrnehmen. Hätte sie etwas damit zu tun, so würde sie vielleicht<br />

jetzt umkippen und auspacken. War sie unschuldig, so war das auch ein<br />

Teil der Lösung.<br />

Agnieszka war ratlos und traurig zugleich. »Jetzt habe ich mich so gefreut,<br />

dass du wieder hier bist. Und nun verdächtigst du mich, dir einen<br />

Killer auf den Hals geschickt zu haben. Wie kannst du denn von mir so<br />

etwas denken?«<br />

Richard schaute verärgert auf die Seite. An der rechts liegenden Bar<br />

langweilte sich ein Typ im schimmernden Anzug. Und obwohl viele<br />

schöne Tische im Restaurant frei waren, hatte sich ein Pärchen, um die<br />

dreißig an den Tisch in Front ihres Platzes gesetzt. Ein Tisch, halb in<br />

der Mitte des Raumes, an den man sich nur platzierte, waren die Fensterplätze<br />

und seitwärts liegenden Tische belegt.


Der Engländer nahm sein Glas und sagte recht vernehmlich: »Schatz,<br />

lass’ uns von hier verschwinden, ich mag nicht, wenn ich von irgendwelchen<br />

dummen Affen ständig belauscht werde.« Unvermittelt war er<br />

aufgestanden und mit dem Glas in der Hand davongegangen.<br />

»Richard!«, rief Agnieszka und rannte ihm ohne Glas hinterher.<br />

»Wie soll ich das verstehen?«, fragte der Oberkellner, als sich Richard<br />

an einen weit entfernten, aber nicht eingedeckten Tisch, ohne zu fragen<br />

niederließ. Der Engländer zeigte mit ausgestrecktem Arm auf das nach<br />

seiner Ansicht falsch platzierte Pärchen: »Dieser amerikanische Rüpel<br />

da vorne hat meiner Gattin zugeblinzelt. Die Hure, mit der er sich hier<br />

aufzuhalten pflegt, genügt ihm wohl nicht.«<br />

»Aber ich bitte Sie, sich zu mäßigen«, war der Kellner weniger über<br />

den Inhalt als über die Lautstärke von Richards Rede empört. Madame<br />

reagierte sofort auf die neue Situation und sagte spitz und laut: »Und an<br />

der Garderobe hat er mich angefasst. Ich möchte sofort die Geschäftsleitung<br />

sprechen.«<br />

Nachdem sich der mäßige Tumult etwas gelegt hatte, gab man Richard<br />

und seiner Begleiterin mit vielerlei Entschuldigungen einen neuen<br />

Tisch in gebührender Entfernung zum potentiellen Gegner. Doch das so<br />

auf Verdacht beschuldigte Pärchen machte keine Anstalten, sich zu<br />

wehren, sondern stand auf, legte einen Geldschein auf den Tisch und<br />

verließ das Restaurant.<br />

»Wären sie unschuldig gewesen, sie hätten sich gewehrt«, lachte Richard<br />

und stand auf. Auf dem Weg zu den Waschräumen passierte er<br />

den alleinstehenden Herrn im seidenen Anzug. »Mach’, dass du zum<br />

Teufel gehst, sonst bist du der Nächste«, zischte er im Vorbeigehen.<br />

Als Richard das Restaurant wieder betrat, war der Typ an der Bar<br />

ebenfalls verschwunden.<br />

Agnieszka schüttelte den Kopf: »Bist du denn vollkommen übergeschnappt?<br />

Obwohl ich eben mitgemacht habe, aber die Herrschaften<br />

hatten uns doch nichts getan.«<br />

»Ich werde wieder observiert. Es kann natürlich auch sein, dass das<br />

Pärchen trotzdem unschuldig war.«<br />

»So wie ich. Vielleicht hat mein Retter aus tiefer Bedrängnis Verfolgungswahn?«<br />

»Habe ich nicht«, er schaute seine Begleiterin streng an, »der Clown,<br />

der mich ab Wien und in Prag observierte, lag in Bratislava blutüberströmt<br />

neben meinem Stuhl. Er hatte sich in eine derart missliche Lage<br />

manövriert, dass ich ihm noch nicht einmal mehr helfen konnte. Vielleicht<br />

ist er schon kalt und nicht nur tot.«<br />

201


»Welcher Clown denn?«<br />

»Der Mann, den man mir nachgeschickt hatte. Wahrscheinlich nicht,<br />

um mich zu killen, sondern vielleicht, um mich zu beschützen, wie ich<br />

heute zu wissen glaube.«<br />

»Ein Schutzengel?«<br />

»Eine blöde Sau, die mich in Lebensgefahr brachte«, schimpfte Richard.<br />

Der Eisvogel fasste nach seiner Hand: »Jetzt hör mal zu. Ich mag dich<br />

sehr und gleichzeitig bist du der einzige, der eventuell Kropf das Handwerk<br />

legen kann, ohne dass auch ich erledigt bin. Aber ich bin nicht<br />

dumm. Ich weiß, wo meine Grenzen sind. Wenn du also vermutest, ich<br />

hätte dir aus Liebe einen Bewacher nachgeschickt, dann ehrt mich das<br />

sehr, doch ich muss dich enttäuschen. Ich habe mich um dich gesorgt<br />

und war auch etwas eifersüchtig auf diese Mercedes. Aber bitte glaube<br />

mir, ich habe niemanden beauftragt, dich zu begleiten.«<br />

»Und wer war es dann?«<br />

»Kropf! Nur er wusste doch, wohin die Reise ging. Oder deine Leute«,<br />

spekulierte Agnieszka.<br />

Richard atmete tief durch. »So blöd stellen sich meine Leute sicher<br />

nicht an, und Kropf hatte keinen Grund, mich heimlich observieren zu<br />

lassen.«<br />

Sie bestellten sich noch einen Nachtisch und zwei Tassen Kaffee.<br />

Richard erklärte: »Ich bekomme heraus, wer für die letzte Misere verantwortlich<br />

ist. Aber jetzt etwas anderes: Ich brauche Kontakt zu deinem<br />

geschiedenen Mann.«<br />

Die Geschiedene war erstaunt: »Nichts leichter als das. Friedrich Meisters<br />

Galerie und Kunsthandel liegt in der Strehlgasse. Es ist leicht zu<br />

finden, ein Geschäft im besterhaltenen Jugendstil, fünf Minuten von<br />

hier.«<br />

Richard lehnte sich zurück, denn das Dessert wurde serviert. Als das<br />

Personal wieder gegangen war, sagte Richard: »Ich vermute, dass sein<br />

Geschäft verwanzt ist und ringsum Regimenter von Ratten lauern. Er<br />

wird keinen unbeobachteten Schritt mehr machen können.«<br />

»Aber wer soll ihn denn observieren? Mein Mann hat mit Kropf nichts<br />

zu tun, er versucht nur, durch ihn Geld zu verdienen und krümmt sich<br />

deshalb wie ein Wurm.«<br />

»Er würde auch ein Verbrechen begehen? Zum Beispiel Atomtechnologie<br />

von Russland herausschmuggeln, um sie an Dritte zu verkaufen?«,<br />

fragte Richard leise.<br />

202


Agnieszka schaute wie ein kleines Schulmädchen, für einen Eisvogel<br />

eine recht überraschende Mimik: »Tja, so gut kenne ich ihn auch nicht.<br />

Wenn Meister meint, er bekäme dafür viel Geld, dann schmuggelt der<br />

auch so eine kleine Atomwaffe im Aktenkoffer. Bisher hat er für Geld<br />

alles gemacht. Ich glaube, mich hatte er auch verkauft. Nach einem Gespräch<br />

mit Kropf hat er damals sofort in die Scheidung eingewilligt.«<br />

»Dann sei bitte so gut«, bat Richard, »und stelle mich morgen früh<br />

dem Meister vor. Ich will ihm klar machen, dass auch kleine Atombomben<br />

nicht in Aktentaschen passen.«<br />

»Wenn du dich für deine haltlosen Verdächtigungen von vorhin entschuldigst.«<br />

»Ja.«<br />

»Was, ja?«<br />

»Entschuldigung.«<br />

»Das ist alles?«<br />

»Mehr?«<br />

»Ja!«<br />

»Entschuldigung, Entschuldigung.«<br />

»Du Rindvieh!«<br />

In der Nacht sprach das Rindvieh mit dem Eisvogel recht wenig. Obwohl<br />

sich Richard fast sicher war, dass das Hotelzimmer nicht verwanzt<br />

war. Der Hotelgast hatte nämlich für das Personal vollkommen unverständlich<br />

kurz vor Mitternacht darauf bestanden, eine Etage tiefer zu<br />

ziehen, weil das zugewiesene Nichtraucherzimmer nach »Permafrost«<br />

röche.<br />

»Was zum Teufel ist Permafrost?«, hatte der Angestellte an der Rezeption<br />

gefragt und der Pförtner hatte geantwortet: »Die spinnen, die Engländer!«<br />

Als am nächsten Morgen das Frühstück auf das Zimmer kam, blieb der<br />

Servierwagen dann auch wie zufällig auf dem Zimmer stehen. Während<br />

Agnieszka im Bad verweilte, deckte der Agent den Wagen ab und stellte<br />

ihn bei leichter Musik aus dem Radio auf den Kopf. Nichts war zu<br />

sehen. Mit Hilfe eines kleinen Werkzeugs, das er aus einem Schweizer<br />

Offiziersmesser klappte, schraubte er die vier Rollen unterhalb der Servierwagenbeine<br />

ab und leuchtete mit einer kleinen Taschenlampe in die<br />

entsprechenden Hohlräume. Und tatsächlich war ein Hohlraum der verchromten<br />

Beine nicht hohl, sondern in ihm steckte auf halber Höhe ein<br />

Gegenstand. Am liebsten hätte Richard den gesamten Wagen zertrümmert<br />

und in seine Einzelteile zerlegt. Doch er bändigte seine Wut<br />

und schraubte alles wieder zusammen.<br />

203


Als die Dame seines wütenden Herzens sich gerichtet hatte, durfte der<br />

präparierte Servierwagen auch einmal lange und ergiebig duschen und<br />

würde erst fertig sein, wenn sie beide das Hotelzimmer verließen.<br />

»Warum, Liebling, duscht der Servierwagen?«, fragte Agnieszka wie<br />

beiläufig.<br />

»Er hat gesündigt, der Hohle, und bestand darauf, seine Sünden abzuwaschen«,<br />

erklärte Richard und war sich sehr wohl bewusst, dass Abhörabwehr<br />

und Verfolgungswahn eng beieinander lagen.<br />

»In der Ämtlerstraße befindet sich ein Friedhof«, antwortete Madame<br />

auf eine entsprechende Frage, »möchte mein Liebling den Servierwagen<br />

des Hotels beerdigen?«<br />

»Du hast es erfasst«, lächelte Richard und spreizte nun etwas das kleine<br />

Fingerchen beim Halten des belegten Brötchens ab. »Ich möchte<br />

gerne, dass dein werter Gatte bei den Beisetzungsfeierlichkeiten dabei<br />

ist.«<br />

»Und ich?«<br />

»Du bist natürlich ebenfalls eingeladen, wirst dich aber beim Gespräch<br />

der Männer etwas außer Hörweite halten müssen.«<br />

Sie schmollte sofort, musste dann aber lachen: »Ich habe eigentlich<br />

überhaupt keine Zeit, ich muss in den Laden.«<br />

»Aber zuerst fährst du bitte zu deinem ehemaligen Meister und übergibst<br />

ihm diesen Zettel.« Richard schrieb auf ein Blatt Papier einige<br />

Sätze. »Sage ihm, es ist lebenswichtig. Aber sage vor allem nicht die<br />

hier notierten Angaben über Ort und Zeit. Sonst brauchte ich sie hier<br />

nicht zu notieren. Kann man mit der Straßenbahn...«<br />

Agnieszka nickte: »Vor dem Friedhof ist ein kleiner Park. Stehst du<br />

mit dem Rücken zu den Gräbern, müssen meines Mannes Verfolger erst<br />

einmal den Park passieren, laufen also über einen Präsentierteller.«<br />

»Du wirst mal eine gute Detektivin«, schmunzelte Richard.<br />

»Was ist eigentlich mit Kropfs Liquidität? Hat deine Kollegin etwas<br />

herausbekommen?«, wechselte Agnieszka im eigenen Interesse das<br />

Thema.<br />

Richard erklärte ihr schemenhaft die Situation. »Mercedes meint, er<br />

wäre bankrott. Wer ist eigentlich der Hauptanteilseigner bei der Caratus<br />

AG?«<br />

»Ein Herr Schmied aus Herisau. Kropf meint immer, der Herr wäre eine<br />

verdammte Sau, aber kein Investor.«<br />

»Wie meint er das?«<br />

204


»Er hat Kropf vor drei Jahren die Verwaltungsratsbezüge auf einen<br />

Franken gekürzt. Weil Caratus Verluste machte, anstatt Gewinne abzuwerfen.«<br />

»Und Kropf ließ sich das gefallen?«, staunte Richard.<br />

Die Direktorin bejahte diesen Umstand: »Er betrügt durch seine<br />

Schwarzgeldgeschäfte mit den Russen sowieso. Und ich halte den Kopf<br />

hin, wie du weißt. Herr Schmied wollte mich einmal zum Nachtessen<br />

einladen, wie man das Abendbrot in der Schweiz nennt. Aber ich dachte,<br />

mit dem auch noch, irgendwann möchte ich heiraten und dann bin<br />

ich keine Jungfrau mehr... und gab ihm einen Korb. Das war vielleicht<br />

ein Fehler.«<br />

»Das war vielleicht auch gut so. Mercedes wird dich zum richtigen<br />

Zeitpunkt anleiten, das Nachtessen nachzuholen...«<br />

»Moment!«, empörte sich der Eisvogel, »ich bestimme immer noch<br />

selbst über meinen Unterleib.«<br />

Richard schaute verdutzt: »Mir doch egal, dann isst du eben nichts.<br />

Sondern gehst mit ihm hungrig ins Bett.«<br />

Jetzt schmiss die Dame mit dem Brotkorb nach ihm und traf den Fernsehapparat.<br />

»Du Scheusal, du! Ich gehe jetzt. Denke lieb an mich, bleibe<br />

mir verbunden und Mercedes wird sich ja melden.«<br />

Dann klingelte Richards Handy einmal kurz. Über das Haustelefon<br />

kontaktierte Richard seinen Taxifahrer in Frankfurt, der Interessantes<br />

zu berichten wusste: »Opa möchte nicht, dass die Hasenaktion unterbunden<br />

wird. Er möchte die <strong>Eier</strong> feierlich zurückgeben und damit die<br />

grenzenlose Freundschaft festigen. Könnten Sie mir mal sagen, was ich<br />

immer für eine gequirlte Scheiße an Sie durchgeben muss.«<br />

Richard lachte: »Der Alte hat einen Codierungsfimmel. Die Nachricht<br />

bedeutet, dass er sich in seinem Altersheim, in dem man ihn zwangsweise<br />

untergebracht hat, an die zu harten <strong>Eier</strong> zum Frühstück gewöhnt<br />

hätte und ich mich nicht bei der Heimleitung beschweren solle.«<br />

»Wer’s glaubt, wird selig«, lachte der Freund und Taxifahrer und legte<br />

auf.<br />

Richard atmete tief durch. Sir Alec hatte also beschlossen, den Kunstraub<br />

des Kropf nicht zu unterbinden. Wäre das Fabergé-Ei bei Kropf<br />

erst einmal angekommen, gäbe es Mittel und Wege, das Ei wieder zu<br />

konfiszieren und es den Russen zurückzugeben. Offenbar gab es in russischen<br />

Archiven noch ein paar Objekte, die man gerne gegen das Ei<br />

ausgetauscht hätte. Aber das war nicht des alten Habichts Motivation,<br />

er wollte unbedingt herausbekommen, was wirklich hinter der ganzen<br />

Scharade verborgen war.<br />

205


Richard wählte wie schon oft in diesen Tagen anschließend die Nummer<br />

von Victors Anrufbeantworter in Prag. Die Stimme einer alten Frau<br />

sagte zur Einleitung: »Lisa, bist du es?« Anschließend hörte man Börsenkurse.<br />

Richard wollte schon wieder auflegen, als die Stimme sagte:<br />

»Mein Lieber, mir ist die Geschichte immer noch nicht eingefallen und<br />

jetzt ist das Band voll. Wenn wir uns in Kürze treffen, können wir uns<br />

darüber ja nochmals unterhalten.«<br />

Der Agent legte auf. Offenbar hatte Sir Alec den tüchtigen Victor eingesetzt.<br />

Es fragte sich nur, wohin die Reise ging und ob Friedrich Meister<br />

mitmachen würde.<br />

Richard ging ins Bad und stellte die Dusche ab. »Du bist ja ganz nass«,<br />

sagte er zu dem Servierwagen, »komm, lass’ uns ins Zimmer gehen, ich<br />

trockne dich ab. Sonst erkältest du dich noch.«<br />

Eines war sicher, die Herrschaften von der anderen Feldpostnummer<br />

konnten nach Abschluss dieser Operation die Palma Management nicht<br />

mehr richtig leiden.<br />

206<br />

*<br />

Als Friedrich Meister den etwa 100 Meter im Quadrat großen Park gegenüber<br />

des Friedhofes an der Ämtlerstraße betrat, hatte er alles andere<br />

als gute Laune. Trotzdem war er pünktlich.<br />

Richard auch, denn er stand bereits geraume Zeit mit dem Rücken zu<br />

dem etwa gleich großen, gegenüberliegenden Gräberfeld auf der anderen<br />

Straßenseite. Nervös schaute sich der Kunsthändler um. Richard<br />

stand wohl nicht verdeckt, aber bewegungslos vor den grünbraunen<br />

Friedhofshecken. Meister schaute nun die Straße nach rechts und links,<br />

überquerte diese und befand sich an der Tür des Parks.<br />

Wie vermutet, fuhr alsbald ein Porsche Cayenne mit gemäßigtem Tempo<br />

die Ämtlerstraße entlang, wendete offensichtlich außerhalb von Richards<br />

Blickfeld, denn das Fahrzeug glänzte bald silbermetallic auf der<br />

anderen Straßenseite.<br />

Richard nahm sein Handy und wählte eine Nummer: »Polizei? Hören<br />

Sie bitte. In der Ämtlerstraße, Ecke Zypressenstraße haben gerade zwei<br />

Typen eine Frau überfallen. Der Wagen der Täter steht noch da. Es ist<br />

ein silbergrauer Porsche Cayenne. Achtung, die Kerle sind bewaffnet.«<br />

Richard legte wieder auf und schaltete sein Handy ab, nahm die SIM-<br />

Karte heraus und ersetzte sie durch eine andere Prepaid-Karte. Solchen<br />

und ähnlichen Aktionen ist es übrigens zuzuschreiben, dass gegen zahl-


eiche britische, völlig unbescholtene Hausfrauen Ermittlungsverfahren<br />

eingeleitet werden.<br />

Mit einer vorgefertigten SMS bediente er Mercedes mit der neuen<br />

Nummer, den Rest würde sie veranlassen.<br />

Obwohl der Meister am Friedhofsparkeingang zunehmend unruhiger<br />

von einem Bein aufs andere hüpfte, vertraute Richard darauf, dass er<br />

noch etwas warten würde, bis die Polizei eintraf. Nach fünf Minuten<br />

kam diese dann auch mit insgesamt vier Fahrzeugen aus drei Richtungen<br />

angebraust.<br />

Richard trat einen Schritt vor, solange die Herrschaften im Porsche einen<br />

Abwehrkampf gegen die unhaltbaren Verdächtigungen der Schweizer<br />

Polizei führten, hatten sie keine Zeit, auf seinen Gesprächspartner<br />

zu achten. Richard pfiff und Meister drehte sich suchend um. Und während<br />

ein Sanitätsfahrzeug mit Blaulicht und Sirene die Zypressenstraße<br />

herunterfuhr, kam Meister mit seinen Allen-Edmonds-Schuhen diagonal<br />

über die Grünfläche gestiefelt.<br />

»Sie haben sie ja wohl nicht alle«, schrie er Richard von weitem entgegen.<br />

»Ficken mit meiner Frau rum und geben mir auf einem Schmierzettel<br />

Order.«<br />

Richard ließ ihn nahe genug an sich herankommen, sollte er sich genötigt<br />

fühlen, den Weltmeister auf sein großes Maul zu schlagen, dann<br />

wollte er ihm nicht auch noch hinterherrennen müssen. Aber noch lächelte<br />

der Agent am Rande der Gräberreihen, was sich ändern konnte.<br />

»Es freut mich für Sie trotzdem, dass Sie meiner Empfehlung Folge<br />

leisteten...«<br />

»Los, raus mit der Sprache. Zeit ist Geld, mein Geld. Hätte das verhurte<br />

Weib nicht wieder so ein Theater gemacht, hätten Sie hier lange<br />

warten können.«<br />

Richard wandte sich ab und ging zwei Schritte seitwärts zurück. Friedrich<br />

Meister holte auf und sie standen jetzt auf der anderen Seite der<br />

Hecke, auf dem hinteren Weg, der die Grabstellen umschloss. »Ich<br />

möchte Ihnen meine Zusammenarbeit anbieten. Denn Ihre werte Persönlichkeit<br />

wird dem Ansturm der vielen Aasgeier, die sich in Ihrer<br />

Umgebung tummeln, nicht gewachsen sein...«<br />

Meister kam einen halben Schritt näher, wollte mit der rechten Hand<br />

nach Richards Mantelkragen greifen und sagte noch: »Hören Sie,<br />

Freundchen...«<br />

Richard schlug ihm kurz, aber kräftig seine Faust in die Magengrube.<br />

Der Weltmeister unterbrach seine Rede und machte mit hochrotem<br />

Kopf vor dem Engländer eine kleine Verbeugung. Obwohl sich das<br />

207


Großmaul noch nicht völlig von dem unerwarteten Magenkrampf erholt<br />

hatte, griff er bereits unter sein Jackett.<br />

Richard wich auf seine linke Seite aus, packte den Arm seines Gegners,<br />

riss ihn in die Höhe und drehte ihn nach hinten. Die Waffe fiel in<br />

den Kies des Friedhofweges. Der Agent kickte sie ins nahe liegende<br />

Gebüsch.<br />

»Mund auf«, befahl Richard und streckte dem Kunsthändler seine eigene<br />

Pistole in das große Maul. Dann war Ruhe. Durch die lichten Hecken<br />

sah man das hektische Blinken des Sanitätswagens. Die Straße<br />

war jetzt abgesperrt, denn rund um den Porsche hatten sich zahlreiche<br />

Polizeifahrzeuge formiert. Waren die Herrschaften in dem Observationsfahrzeug<br />

wirklich bewaffnet, so hatten sie nun eine Menge Ärger.<br />

Immerhin würde die Polizei erst einmal die angeblich überfallene Frau<br />

suchen.<br />

Zu Meister sagte Richard, weil man mit einer Pistole im Mund besonders<br />

gut hört: »Sie sind ja ein selten dummes Wildschwein. Sie werden<br />

von einer Armada von Leuten verfolgt, ohne es zu merken. Haben eine<br />

Pistole, ohne sie gebrauchen zu können und bilden sich ein, russische<br />

<strong>Eier</strong> quer durch Europa transportieren zu können, ohne behelligt zu<br />

werden.«<br />

Friedrich Meister wollte etwas sagen, doch seine wackelnde Zahnprothese<br />

klapperte nur auf dem metallenen Lauf von Richards Pistole herum.<br />

Richard drehte etwas an des Meisters Schusshand, so dass sich der Body<br />

mit dem Bierbauch noch ein wenig streckte und die feisten Äuglein<br />

aus dem Kopf traten, der so fein nach Aramis duftete. »Hören Sie! Ohne<br />

meine Hilfe werden Sie weder Ihr Lieblingsei aus Russland transportieren<br />

können noch Ihre eigenen <strong>Eier</strong>. Sie haben also zwei Möglichkeiten:<br />

Sie können mein Angebot ablehnen und man wird Ihre korrupte<br />

Existenz irgendwo in der russischen Tundra begraben.«<br />

Und während Richard seine Pistole etwas stärker in des Meisters große<br />

Fresse drückte, dachte er an seine selige Mutter: Dicky, hatte sie immer<br />

gesagt, sei kultiviert. Grobe und unflätige Menschen gibt es bereits genug.<br />

Deshalb ergänzte Richard folgsam: »Wie viel Erde braucht der<br />

Mensch? Lesen Sie bei Tolstoi nach, wie es Bauer Pachom ergangen<br />

ist, Sie Narr.<br />

Die zweite Möglichkeit ist meine Hilfe und Zusammenarbeit anzunehmen.<br />

Ich beanspruche nicht Kropfs Provision, lediglich meine Auslagen<br />

208


und Spesen. Und Sie überleben!« Dabei schüttelte er den Typ, als wolle<br />

er ihn wachrütteln.<br />

Richard vernahm auf dem Kiesweg hinter sich Schritte. Er drehte sich<br />

samt Meister etwas herum. Eine alte Frau kam auf die beiden zu. In ihrer<br />

Hand hatte sie einen kleinen Rechen und einen leeren Blumentopf.<br />

»Sind die Herren von der Friedhofsverwaltung?«, fragte sie zitternd.<br />

Richard verstand nicht und drehte den Meister in Richtung Frau mit<br />

Rechen. In der Drehung nahm er die Pistole aus der feuchten Höhle und<br />

stieß sie in des Meisters Rücken. Denn der gerade ernannte Friedhofsverwalter<br />

konnte mit dem Eisen im Mund ja schlecht sprechen.<br />

Ohne Schrecksekunde, als wäre nichts geschehen, erzählte nun das<br />

Großmaul der alten Dame sofort, dass die Reihen 9, 10 und 35 im Januar<br />

aufgehoben würden und im Zuge dieser Umbaumaßnahmen auch<br />

sämtliche Grabsteine wieder in die Senkrechte gestellt würden.<br />

»Warum werden denn die Gräber aufgehoben?«, war die Frau irritiert.<br />

»Die werden nach Mekka ausgerichtet. Das ist eine Vorschrift der<br />

UNO, da können wir nichts daran ändern.«<br />

Die Frau bedankte sich und lief gebückt und kopfschüttelnd mit ihrem<br />

Zeug in der Hand weiter.<br />

»Los, Sie Meisterschwätzer«, zischte Richard und steckte seine Pistole<br />

weg.<br />

»Woher weiß ich, dass ich Ihnen trauen kann?«, fragte der Kunsthändler,<br />

nun überhaupt nicht mehr vorlaut, und griff sich ans Kinn.<br />

»Ich weiß, dass ich Ihnen trauen kann, wenn Sie, anstatt wie von Ihnen<br />

geplant, erst am nächsten Montag nach St. Petersburg fliegen.«<br />

»Das lässt Kropf nicht zu!« Meister hatte einen Hang zum sinnlosen<br />

Widerspruch.<br />

»Sagen Sie ihm einen schönen Gruß von mir und er wird erfreut sein,<br />

dass zwei Spezialisten in seinem Sinne zusammenarbeiten.«<br />

»Ehrlich?«<br />

»Sie sollten wissen, dass meine Fähigkeit zu Späßen eng begrenzt ist.«<br />

Meister wollte durch die Hecke zurück in den Park. »Hier geht’s raus«,<br />

dirigierte ihn der Agent in Richtung des auf der anderen Seite des<br />

Friedhofes liegenden städtischen Kindergartens. »Sie haben wohl immer<br />

noch nicht kapiert, dass man Ihnen auf Schritt und Tritt folgt. Und<br />

ab der tschechischen Grenze sind es ein paar Verbrecher mehr. Die haben<br />

Sie allerdings Kropf zu verdanken, denen dieser ebenfalls eine Million<br />

versprochen hat.«<br />

Richard verließ die unruhige Ruhestätte mit Meister in südöstlicher<br />

Richtung, lief mit ihm drei Querstraßen weiter und kehrte mit seinem<br />

209


Opfer in eine Bäckerei mit einem kleinen Stehcafé nahe eines Schulgebäudes<br />

ein. Der etwa ein Kilometer lange Fußmarsch setzte dem Kunsthändler<br />

bereits zu. »Sie haben überhöhte Cholesterinwerte und sind<br />

übergewichtig, wenn Sie so weitermachen, beschränkt sich das erlebte<br />

Glück über das russische Ei drastisch auf Ihren verkürzten Zeithorizont.«<br />

Der Meister schnaufte: »Woher wissen Sie das alles? Was hat Ihnen<br />

dieses Weib denn erzählt?«<br />

»Nichts«, sagte der Agent wahrheitsgemäß, »ich habe eine gute Beobachtungsgabe<br />

und mache mir ernsthaft Sorgen, dass Sie die anstehenden<br />

Strapazen nicht überleben.<br />

Apropos Agnieszka. Kropf bezahlt unregelmäßig Gehalt. Genauer gesagt,<br />

er zahlt überhaupt nicht. In Anbetracht dessen, dass Sie eben hunderttausend<br />

von Kropf als Vorschuss kassierten, können Sie Ihrem geschiedenen<br />

Weib noch heute Zehntausend vorbeibringen...«<br />

»Wie komme ich denn...?«<br />

»Ehrensache, für einen Mann Ihres Formats«, unterbrach Richard.<br />

Meister überlegte, erkannte die Zwangslage und nickte schließlich:<br />

»Selbstverständlich!«<br />

Der nun einen Kaffee schlürfende Meister gehörte zur Sorte, die nur<br />

unter permanenter Furcht spurte. Sollte die von Kropf angeordnete<br />

Zweckgemeinschaft funktionieren, so musste er diesem Faktotum den<br />

Tarif in aller Deutlichkeit durchgeben. Richard sagte deshalb über seine<br />

Kaffeetasse hinweg: »Sollten Sie irgendeinmal doch noch auf den Gedanken<br />

kommen, mich täuschen zu wollen oder mich gegen Kropf auszuspielen...«,<br />

Richard lächelte in der gewollten Pause besonders herzlich,<br />

»...dann sehen wir uns danach am offenen Grab.«<br />

Richard deutete mit der Hand an, dass er noch nicht fertig war: »Das<br />

war eine blanke Drohung, verehrter Herr Meister. Sie werden verzeihen,<br />

doch ich hasse Missverständnisse. Spielen Sie jedoch mit offenen<br />

Karten, werden Sie nach der Operation um einige Grade wohlhabender<br />

sein. Das verspreche ich Ihnen ebenso. Haben wir uns verstanden?«<br />

»Ja«, sagte Meister knapp. »Ich möchte mal wissen, was meine Frau<br />

an Ihnen findet?«<br />

War das ein Idiot.<br />

»Sie überschätzen mich in dieser Beziehung gewaltig«, erklärte Richard,<br />

»lassen Sie die Frau aus dem Spiel. Ist das mit den russischen <strong>Eier</strong>n<br />

erledigt, sehen Sie mich hier nie wieder und können Ihre nachehelichen<br />

Probleme selbst lösen.«<br />

210


Richard legte des Meisters Pistole, die er beiläufig aufgehoben hatte,<br />

auf den kleinen Tisch der Stehbar. Das Metall auf dem Stein erzeugte<br />

ein ungesundes Geräusch. »Sie bezahlen, ich bin in Russland dran.«<br />

Dann ließ Richard den Typen einfach in der Bäckerei stehen. Er ging<br />

durch das gegenüberliegende Schulgebäude hindurch, verließ den Hinterhof<br />

des Gebäudekomplexes rückseitig, rannte durch die angrenzenden<br />

Gärten, dann durch die Grabreihen des Friedhofes, um im Anschluss<br />

gemächlich durch den Park zu schreiten. So kam Richard wieder<br />

auf die Ämtlerstraße.<br />

Die Aufregung um das Porschefahrzeug hatte sich gelegt, es war verschwunden.<br />

Und in der Querstraße stand ein einzelnes Polizeifahrzeug,<br />

offenbar hatte man die Täter verhaftet und suchte nun noch nach der<br />

Straftat.<br />

*<br />

St. Petersburg, Mitte November. Trotz des Austausches von zahlreichen<br />

Freundlichkeiten auf dem Friedhof in Zürich war sich Richard<br />

nicht sicher, ob Friedrich Meister in seinem Sinne funktionieren würde.<br />

Aber immerhin war dieser unter großen seelischen Schmerzen bereit<br />

gewesen, Richard den Namen seines Kontaktmannes in Russland preiszugeben.<br />

Und eben dieser Pjotr Alexandrowitsch Carlin in St. Petersburg merkte<br />

die Wandlung des Großmaules sofort. Irgendetwas stimmte nicht mehr<br />

mit seinem alten Geschäftspartner.<br />

Aber auch der Russe selbst war bedrückt. Stets hatte er in seinem Leben<br />

versucht, die sieben Todsünden zu vermeiden. Da gab es die Völlerei,<br />

Pjotr Alexandrowitsch war schlank. Die Wolllust, aber der Mann<br />

war verheiratet und aß grundsätzlich zu Hause. Auch habsüchtig oder<br />

zornig war Pjotr Alexandrowitsch nicht sowie er auch niemand etwas<br />

neidete, geschweige denn hochmütig auf diejenigen herabblickte, die<br />

ihm geringer dünkten. Letztlich konnte man ihm auch keine Trägheit<br />

nachsagen, denn in den letzten Wochen hatte er sich gar übermenschlich<br />

angestrengt und die Sache zum Erfolg geführt. Und die Stiftung St.<br />

Nikolaus würde den versprochenen Teil der Provision bekommen, Ehrensache<br />

- und aus Überzeugung. Allerdings hatte sein bisheriger Erfolg<br />

in seiner Selbsteinschätzung eine leichte Delle. Der ehemalige Kurator<br />

schaute in den Spiegel, nein, einen Heiligenschein hatte er noch<br />

nicht.<br />

211


Das musste vor allen Dingen daran liegen, weil er zunehmend berechtigte<br />

Angst hatte, dass man ihm im letzten Augenblick die wohlverdienten<br />

Früchte seiner Arbeit streitig machen könnte. Hatte er doch in<br />

den endlosen Wochen der Nachforschungen und immer wiederkehrenden<br />

Enttäuschung so viele Pläne geschmiedet, was er mit der Belohnung<br />

alles machen könnte.<br />

Und so bedrückte ihn die Sorge, das Großmaul und seine Hintermänner<br />

spielten ein falsches Spiel und er wäre am Schluss der Dumme. Unabhängig<br />

davon stieg die Wahrscheinlichkeit, dass seine potentiellen<br />

Geschäftspartner überhaupt nichts oder nur ein Bruchteil der vereinbarten<br />

Summe bezahlten, weil ihre Vorstellungen von diesem Ei vollkommen<br />

andere waren. Pjotr Alexandrowitsch kratzte sich am Kopf.<br />

Sicher war nämlich, dass er auf dem freien Kunstmarkt, z. B. bei einer<br />

Auktion, nie und nimmer eine Million Dollar bekommen könnte.<br />

Karl Marx hatte allerdings geschrieben, dass in dem Gut an sich die<br />

Arbeit codiert wäre und dies tröstete den Russen ungemein. Hatte er<br />

doch seit Wochen und Monaten an der Sache gearbeitet. Und je mehr er<br />

darüber nachdachte, desto natürlicher erschien Pjotr Alexandrowitsch<br />

sein eigener Preisfeststellungsmechanismus. Was kümmerten ihn die<br />

Verhältnisse zu anderen <strong>Eier</strong>n, die Isolation der anderen Marktteilnehmer,<br />

die eigenen miserablen Möglichkeiten, Wertbezüge herzustellen.<br />

Dieses Objekt hatte einen Sonderwert und dieser lag bei einer Million<br />

Dollar, Punkt und Schluss.<br />

Sollte er von den russischen Behörden bei der Ausfuhr ertappt werden,<br />

so sah man dem Ei die in ihm codierte Arbeit bestimmt nicht an und<br />

andererseits gab es berechtigte Hoffnung, dass die Beamten das Ei nicht<br />

als Kulturgut einschätzten. Wäre es aber außer Landes, sollte des Kurators<br />

Legende den Preis schon rechtfertigen...<br />

Vielleicht konnte man auch weitaus mehr erzielen, vielleicht war er<br />

auf das meisterliche Großmaul gar nicht angewiesen?<br />

»Wirklich?«, fragte eine innere Stimme.<br />

»Ja, natürlich«, murmelte Pjotr Alexandrowitsch seinem Gewissen zu,<br />

»dieses ganz spezielle Fabergé-Ei ist Millionen wert.«<br />

Es musste einfach eine Million wert sein. Heilige, das war dem Atheisten<br />

nun klar, hatten es schwer, sehr schwer. Jetzt hieße es zugreifen, wo<br />

doch der Preis so nahe war.<br />

212<br />

*


Zur gleichen Zeit beendete Sir Alec mit dem ehemaligen Geheimpolizisten<br />

Victor Havlicek ein Telefonat.<br />

»Also denken Sie daran, dieser St. Petersburger ist davon zu überzeugen,<br />

dass dieses Geschäft sein letztes gewesen war, kooperiert er nicht<br />

mit uns. Und lassen Sie sich von dem Ei nicht blenden, die Sache ist<br />

eventuell lediglich ein Vorwand, eine andere Schweinerei durchzuziehen....«<br />

Sir Alec schnaufte verärgert. Dachte er daran, dass plötzlich seine eigene<br />

Existenz von diesem Victor aus Prag und Richard abhing, schnürte<br />

es ihm die Luft ab. Gepresst und streng sagte er: »Keine Fehler, keine<br />

Unaufmerksamkeit, keine Toleranz... und viele Grüße an die Oma.«<br />

Dann legte er auf.<br />

Victor beugte sich dem Marschbefehl. Weder hatte er in Russland im<br />

Falle eines Falles Rückendeckung noch wusste er, warum der Alte unbedingt<br />

darauf bestand, diesen Schwarzhandel zu schützen. Ein Hinweis<br />

an die russischen Kollegen hätte die gesamte Aktion gestoppt, bevor<br />

sie überhaupt begonnen hätte. Und hätte man das nicht gewollt, der<br />

offizielle Weg der grenzüberschreitenden, polizeilichen Zusammenarbeit<br />

würde die Übergabe ebenfalls platzen lassen wie eine Seifenblase.<br />

Die Angelegenheit auf der Ebene der Geheimdienste regeln zu wollen,<br />

war die schlechteste aller denkbaren Lösungen. Doch Victor musste das<br />

ausführen, was man ihm anordnete. Aber für Sir Alec bestände die<br />

Möglichkeit, die Operation zu veröffentlichen. Ist nämlich etwas öffentlich,<br />

so schrecken sämtliche Geheimdienste sofort zurück wie Kakerlaken,<br />

wenn das Licht angeht.<br />

Die hohen Wellen, die die Sache zu schlagen anfing, waren so unnütz<br />

wie Rasierschaum auf einer Marmorstatue, da war sich Victor vollkommen<br />

sicher. Nur heute, nach dem Wegfall der Ost-West-Konfrontation,<br />

rasierte man grenzüberschreitend mit High-Tech-Apparaturen natürlich<br />

auch Marmorstatuen.<br />

Victor wusste, dass die Sache verdammt viel mit des Kaisers neuen<br />

Kleidern zu tun hatte und nichts weiter als ein Missverständnis war, das<br />

sich hier jetzt zur Schimäre entwickelte. Ein einziges Stichwort und die<br />

ganze Aufregung löste sich in Luft auf.<br />

Sein ehemaliger Ausbilder beim KGB war tot, ein ihm noch mit Namen<br />

erinnerlicher Professor an der Militärakademie lebte in einem Altersheim<br />

bei Moskau und war an Demenz erkrankt.<br />

In seiner Verzweiflung tat Victor etwas, was ihn um Kopf und Kragen<br />

bringen könnte, aber er wollte das Déjà-vu beenden, bevor es eine für<br />

alle Beteiligten vielleicht bedrohliche Wendung bekam.<br />

213


Der Agent verließ sein Büro und schlenderte zum Postamt. Dort ließ er<br />

sich eine Leitung geben und wählte die Nummer der SloTrade.<br />

»Ich hätte gerne den Chef gesprochen.«<br />

»Worum geht es?«, fragte eine Frau mit vollem Mund.<br />

»Um Mettwurststullen.«<br />

»Moment, ich verbinde.«<br />

Nach einem Knacken in der Leitung hörte er ein »Ja?« brummen.<br />

»Hallo, ich rufe aus Prag an. Kennst du mich noch?«<br />

»Oh«, zog Babic in die Länge, »du schicktest mir neulich einen Touristen<br />

vorbei und willst dich erkundigen, wo ich ihn verscharrt habe.«<br />

»Nein, mein Freund«, lachte Victor über seinen ehemaligen KGB-Kollegen,<br />

»ich habe eine Erinnerungslücke. Und zwar handelt es sich um<br />

eine Geschichte, die früher einmal bei uns hohe Wellen schlug. Irgendetwas<br />

Semantisches, das eine ist eine Bedrohung, das andere ist nichts.<br />

Hilf mir mal auf die Sprünge.«<br />

Victor hörte Babic schnauben: »Bei uns hat alles hohe Wellen geschlagen.<br />

Was ist denn das für ein blöder Trick. Hast du getrunken? Dein<br />

Tourist fragte diesbezüglich auch schon, ob mir dazu noch etwas einfiele.<br />

Und wenn, meinst du, ich würde es euch sagen?«<br />

So gestalten sich böse Alpträume. Jeder versteht einen falsch, unterstellt<br />

böse Absichten, weist einen ab. Beinahe hätte Victor diesen Babic<br />

beim Namen genannt und vergessen, dass die Kontaktaufnahme ohne<br />

Order ein schwerer Verstoß gegen alle Regeln seines Arbeitgebers war.<br />

»Ja, sicher, du würdest es mir sagen, es ist vollkommen banal. Und<br />

wenn dir das einfällt, ist dir vollkommen klar, weshalb es besser ist,<br />

wenn wir beide von dieser Sache wissen.«<br />

»Na, ich habe ja schon einmal dich gegen mich. Da mache ich mir nun<br />

nicht in die Hosen«, lachte Babic, »sage deinen Leuten, sie möchten<br />

diese Spielchen lassen. Zusammenarbeit sieht anders aus.«<br />

»Niemand will mit dir zusammenarbeiten. Ich rufe dich an, um mir<br />

und dir unnötige Arbeit zu ersparen, verstehst du denn nicht? Alter sturer<br />

Bock!«<br />

Babic gähnte kräftig und unflätig: »Du warst auch schon mal besser.<br />

Mach’s gut.« Dann legte er auf.<br />

Victor bezahlte das Ferngespräch, schlug seinen Mantelkragen hoch<br />

und verließ das Postamt: Sollten sie ihn doch alle kreuzweise.<br />

214


IX<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Zürich, Ende Oktober.<br />

Wovon kann der Landser denn schon träumen,<br />

Er träumt von seinem Mägdelein,<br />

Das er küsste unter beiden Bäumen,<br />

Beim ganz verliebten Stelldichein.<br />

Hat sie ja so gerne,<br />

Und aus weiter Ferne<br />

Denkt er nur an sie.<br />

Wovon kann der Landser denn schon träumen,<br />

Er träumt vom nächsten Wiedersehen<br />

Unter den verschwieg'nen beiden Bäumen,<br />

Wo stets Verliebte geh'n.<br />

Kropf spielte das alte deutsche Soldatenlied bereits zum vierten Mal,<br />

sang den Refrain mit und Assistent Reinhold war froh, dass es an der<br />

Tür geklingelt hatte.<br />

Der selbst ernannte Weltmeister stand in voller Größe und hellbraunem<br />

Kamelhaarmantel höchstpersönlich im Treppenhaus und schnaubte<br />

wie ein Stier. »Ich muss ihn dringend sprechen!«<br />

Das Bleichgesicht beachtete den aufdringlichen Schweizer überhaupt<br />

nicht, sondern strahlte den etwas abseits stehenden Engländer an, als<br />

wäre der die Lottofee mit dem Geldkoffer. Irritiert blickte sich Meister<br />

um, schaute wieder zu Reinhold und sagte dann zu Richard: »Waren<br />

Sie mit dem da auch schon auf dem Friedhof?«<br />

»Was zum Teufel unterhaltet ihr euch im Treppenhaus?«, schrie Kropf<br />

und stellte die Musik ab.<br />

Der Assistent zuckte zusammen und machte den Weg frei. Meister hatte<br />

wieder Oberwasser und streifte im Gehen seinen Mantel ab, den<br />

Reinhold im letzten Moment auffangen konnte.<br />

»Es wäre angebracht, Herr Generalfeldmarschall«, sagte Richard, »die<br />

Musik wieder anzustellen.«<br />

Kropf stutzte einen Augenblick, dann meinte er barsch: »Eigentlich<br />

sind Sie mir eine Erklärung schuldig.«<br />

215


»Sicherlich!«, nickte Richard in aller Ruhe, »aber ich denke nicht, dass<br />

ich diese Erklärung den Männern im unten stehenden Kastenwagen<br />

schulde.«<br />

»Wo?«, fragte Kropf und teilte sich die Aussicht hinunter auf die Straße<br />

mit dem Kunsthändler. Auch ein stark Sehbehinderter erkannte, dass<br />

der an der gegenüberliegenden Straßenseite parkende weiße Lieferwagen<br />

mit vier Antennen auf dem Dach keinen Fisch in das Geschäft zwei<br />

Straßen weiter liefern wollte.<br />

Kropf wusste es natürlich besser und sagte: »Der steht hier schon seit<br />

Wochen regelmäßig da und seit drei Tagen ununterbrochen. Da ist gar<br />

nichts.«<br />

»Eben!«, machte der Engländer.<br />

Mit hochrotem Kopf wählte Kropf eine Nummer: »Das werden wir<br />

gleich sehen.« Wie es schien, wurde er sehr schnell an einen leitenden<br />

Polizeioffizier verbunden. Den barschen Ton schminkte Kropf sich augenblicklich<br />

ab, erklärte die Situation und forderte, dass man den Wagen<br />

vor seinem Haus einer polizeilichen Überprüfung unterzöge.<br />

Mit einer kleinen Verbeugung legte er den schwarzen Hörer auf die<br />

Gabel zurück. »So, schauen Sie auf die Uhr, in fünf Minuten ist ein<br />

Streifenwagen vor Ort. Dann werden wir ja sehen, wer wen abhört.«<br />

Richard hatte seinen Mantel auch abgelegt und diesen neben sich auf<br />

das lederne Sitzmöbel gelegt. Dann schwang er ein Bein quer über seinen<br />

Mantel und die Wade auf die Armlehne. »Hätten Sie die Musik wie<br />

empfohlen wieder aufgelegt, wäre das ein guter Schachzug gewesen. So<br />

aber wird das nichts«, langweilte sich Richard.<br />

»Na, lassen Sie mich mal machen«, prahlte Kropf und Meister schaute<br />

keck. Das war für ihn ein unerwarteter Hochgenuss, jetzt konnte er<br />

selbst erleben, wie sein Bezwinger selbst wieder bezwungen wurde.<br />

Ähnliche Szenen, natürlich ohne Telefon, spielen sich auf den Pavianfelsen<br />

in zoologischen Gärten ab. Steht der Anführer nach langen Auseinandersetzungen<br />

fest, darf er sich nicht die geringste Blöße erlauben,<br />

weil es sonst die Halbstarken sofort wieder wissen wollen.<br />

Und während der Meister sein Maul vom permanenten Grinsen nicht<br />

mehr zubekam, wippte Richard mit der hoch gelegten Schuhspitze, die<br />

sich so gut geeignet hätte, den beiden Besserwissern hinten rein zu treten.<br />

Kropf ging wieder ans Fenster: »He«, brüllte er langgezogen und empört.<br />

Der Weltmeister rannte sofort vor Neugier platzend zu ihm.<br />

»Lassen Sie mich raten«, lächelte Richard hämisch, »der Kastenwagen<br />

blinkt links, parkt aus und fährt davon.«<br />

216


»Himmelherrgottsakrament«, fluchte Kropf, »woher wussten Sie das?«<br />

»Bei aller Bescheidenheit, ich verstehe mein Handwerk«, erklärte der<br />

Agent. Hatte seine Schuhspitze doch noch die richtigen Hintern getroffen.<br />

»War ich vorhin nicht deutlich genug?«<br />

Richard atmete tief durch. Solche Schüsse konnten auch als Rohrkrepierer<br />

nach hinten los gehen. Doch für dieses Mal war das Spiel gewonnen<br />

und der Weltmeister fiel ihm, einem ausgestopften Säbelzahntiger<br />

gleich, als Bettvorleger vor die Füße.<br />

»Und jetzt? Können wir reden?«, fragte Kropf und legte die Schallplatte<br />

wieder auf. Wovon kann der Landser denn schon träumen? Er<br />

träumt von einem Luftballon, ergänzte Richard in Gedanken.<br />

Kleinlaut setzte sich der Meister vor des Advokaten Büromöbel. »Oder<br />

wollen Sie, Sir?«, fragte er untertänigst den aufgezwungenen Berater in<br />

Sachen Kunstraub. Der winkte ab: »Ihr Job!«<br />

Friedrich Meister erklärte, dass er sich mit Richard verständigt hätte,<br />

den <strong>Eier</strong>deal zusammen zu machen. »Sie haben ja selbst gesehen, welches<br />

Wissen und welche Erfahrung Mister Harriott im operativen Bereich<br />

mitbringt«, entschuldigte er die Entscheidung wohl eher vor sich<br />

selbst, als dass dies Kropf interessiert hätte.<br />

Im Vorfeld dieser Unterredung hatte Richard Sir Alec darüber in<br />

Kenntnis gesetzt, dass Victor den Kunsthistoriker in St. Petersburg unbedingt<br />

davon zu überzeugen hätte, fünfhunderttausend Dollar kassieren<br />

zu müssen.<br />

Nach allem, was er über den Russen wusste, war dieser nicht von der<br />

Mafia und ohne kriminellen Hintergrund. Der britische Geheimdienst<br />

hatte Pjotr Alexandrowitsch Carlin ehemals als informellen Mitarbeiter<br />

des KGB geführt, aber das mochte nichts heißen. In diesen<br />

»Dienstrang« kam jeder, der einmal einen Brief des KGB in einen<br />

Briefkasten des westlichen Auslandes geworfen hatte.<br />

Victor bekam seine Instruktionen, solange er sich in Russland aufhielt,<br />

direkt aus London über einen Kurzwellensender. Die Frequenz diente<br />

unterschiedlichsten britischen Agenten auf der ganzen Welt. So konnte<br />

es schon vorkommen, dass man zur verabredeten Zeit eine Stunde am<br />

Kurzwellenradio lauschte, aber London quakte lediglich Unverständliches<br />

für die Kollegen. Dass Victor bereits auf Pjotr Alexandrowitsch<br />

Carlin Einfluss genommen hatte und die entsprechende Weisung befolgte,<br />

hatte Richard daran erkannt, dass der Russe den Meister heute<br />

kontaktierte und dieser an der unerwarteten Forderung der Vorauszahlung<br />

beinahe verzweifelt wäre.<br />

217


Diese Forderung von 500.000 Dollar berichtete nun der Weltmeister<br />

seinem Gebieter, was der mit »Man hat Ihnen wohl ins Gehirn geschissen<br />

und vergessen umzurühren?« quittierte.<br />

Selbstredend war Meister gefragt. Kropf hatte ja bereits erfahren dürfen,<br />

wie man mit dem Engländer umzugehen hatte.<br />

Nicht dass das kleinlaute Großmaul genügend Widerstandskraft gehabt<br />

hätte, gegen den Schreihals anzukommen, aber er hatte überhaupt keine<br />

Wahl. »Wenn der Russe das Ei ohne diese Zahlung nicht verkauft, was<br />

soll ich machen?«<br />

»Geben Sie mir den Namen und die Adresse von diesem Schwein, dem<br />

schicke ich meine Leute auf den Hals«, brüllte der Advokat. »Los, her<br />

damit!«<br />

Hilflos drehte sich der übergewichtige Weltmeister halb zu Richard<br />

um. Dieser hatte ihm eingeschärft, dass er das ganze Geschäft an den<br />

Nagel hängen könnte, würde er seine Trumpfkarte, die da »unbekannter<br />

<strong>Eier</strong>mann« hieß, ausspielen.<br />

»War nun eine Million Dollar ausgelobt oder nicht?«, fragte Richard<br />

ohne sich aufzurichten.<br />

»Ein Scheiß war«, flippte Kropf aus, wurde etwas ruhiger und sagte:<br />

»Entschuldigen Sie, Richard. Wir sind hier in der Schweiz. Franken,<br />

Schweizer Franken waren ausgelobt.«<br />

Richard erinnerte sich genau. Je nach Wechselkurs war Kropf eben dabei,<br />

den Preis um dreihunderttausend Franken herunter zu handeln. Eine<br />

immense Summe für die britischen Hausfrauen, von denen die Palma<br />

Management ihre Prepaid-Karten besorgte. Für jemand, der mit<br />

Millionen jonglierte, lag die Preisschwankung bei etwa 30 Prozent und<br />

dürfte ihn von seiner Obsession nicht abhalten. Für einen Bankrotteur,<br />

dem das Wasser bereits bis zum Halse stand, war dieser Umstand aber<br />

ein nicht lösbares Problem.<br />

Obwohl Richard die diesbezüglichen Ausführungen von Mercedes im<br />

letzten Moment angezweifelt hatte, würde sich auf Grund dieses Druckes<br />

sehr schnell entscheiden, wer welche Karten in der Hand hatte und<br />

wer welche im Ärmel.<br />

»Hören Sie zu«, sagte Kropf, zu Meister gewandt, »ich hole das Ei<br />

selbst ab. Ihr Mann soll mit dem Ei nach Prag kommen und ich komme<br />

mit dem Geld. Dann machen wir die Übergabe Zug um Zug und Sie<br />

werden sehen, wie der Russe wachsweich wird, sieht er das Geld vor<br />

seiner Nase.«<br />

Offenbar strahlte Friedrich Meister keine große Zuversicht aus. Denn<br />

Kropf fragte: »Ist noch was?«<br />

218


»Natürlich, können wir das versuchen. Wenn Sie jedoch nicht mehr<br />

bezahlen wollen als eine Million Franken und der Russe auf seiner halben<br />

Million Dollar besteht, dann bleiben mir von der Million Franken<br />

nur noch 350.000. Und davon sind die Spesen abzuziehen.«<br />

»Meister!«, wurde Kropf jovial, »350.000 Franken für drei Reisen<br />

nach dem Ostblock und ein Gutachten, das ist doch viel Geld. Sie werden<br />

nur selten ein Fabergé-Objekt finden, für das jemand 350.000 bezahlt.<br />

Den Richard brauchen Sie überhaupt nicht zu bezahlen, klappt der<br />

Deal, so helfe ich dem in der anderen Sache, an der er schon Monate<br />

herumkaut und alle sind bestens bedient.«<br />

»Halt!«, dachte Richard und zwang sich unter nahezu körperlichen<br />

Schmerzen dazu, lässig auf der Chaiselongue liegen zu bleiben. Egal,<br />

was hier auch immer verhandelt wurde, das Ei wäre am Ende des Spiels<br />

wahrscheinlich weder bei Kropf noch bei Meister. Doch jetzt durfte<br />

man den Advokaten nicht von seiner Arroganz herunter holen und<br />

musste gleichzeitig dem Meister den Rücken stärken. Deshalb sagte Richard<br />

und schwang sich auf: »Meine Herren, ich schätze, dass wir am<br />

Ende einen guten Kompromiss finden werden.«<br />

»Das nützt mir nichts, ohne mindestens eine substantielle Anzahlung<br />

rührt sich der Russe nicht aus St. Petersburg weg«, erklärte Meister seinen<br />

Wissensstand.<br />

Kropf lachte mitleidig: »Sie sind doch Geschäftsmann genug, Friedrich.<br />

Wir pumpen da 500.000 Dollar nach Russland und anschließend<br />

liefern uns diese Mongolen ein Hühnerei.«<br />

Da hatte Kropf natürlich Recht. Doch Richard wollte unbedingt, dass<br />

sich Kropf nochmals Geld besorgen musste, wusste er doch bereits<br />

nicht, wo die letzten 500.000 Franken hergekommen waren, von denen<br />

er über Reinhold erfahren hatte. Auf keinen Fall durfte nun Meister in<br />

dieser Sache einknicken, indem er zum Beispiel von seinem Geld zuschoss.<br />

»Machen wir eine Bankbürgschaft«, kam dem Agenten der rettende<br />

Einfall. »Der Russe bekommt 350.000 Dollar auf ein Sperrkonto in St.<br />

Petersburg einbezahlt. Als Anzahlung bringt Friedrich Meister 150.000<br />

Dollar, wenn Existenz und Verfügbarkeit des Prunkeies erwiesen ist.<br />

Das Sperrkonto wird bei der Übergabe telegraphisch freigegeben. Geht<br />

alles schief, ist die Anzahlung verloren. Die Aktion hätte dann 150 Tausender<br />

gekostet, für die ich selbst nicht bürgen möchte, die aber diesen<br />

Versuch wert sein müssten.«<br />

219


Kropf schnalzte vernehmlich: »Einverstanden, so machen wir das im<br />

Prinzip, aber anders aufgeteilt. Hunderttausend Franken - ich habe<br />

Franken gesagt - haben Sie schon, Meister, weitere hunderttausend bekommen<br />

Sie, wenn ich von diesem Ei ein Bild gesehen habe. Den Rest<br />

gibt’s dann in Prag bei der Übergabe.«<br />

Das war wohl nicht das Stichwort, doch ein großer Zufall, dass es in<br />

diesem Moment an der Tür klingelte. Kropf erschrak sichtlich.<br />

»Das wird für mich sein«, meinte Richard, als Reinhold seinen Kopf<br />

durch die gepolsterte Chefzimmertür streckte. Kropf gab seinem Kalfaktor<br />

ein Zeichen, die Tür zu öffnen und drückte eine Taste des<br />

Schallplattenspielers. Der Sänger des Soldatenliedes war inzwischen<br />

schon ganz heiser geworden.<br />

Aber das Klingeln hatte nicht Richard gegolten. Zwei uniformierte Beamte<br />

wollten Herrn Dr. Kropf sprechen. »Grüezi«, tippte der kleinere<br />

der beiden an seine Mütze, »um welches verdächtige Fahrzeug handelt<br />

es sich?«<br />

Der Mann mit den besten Beziehungen zur Zürcher Ordnungsmacht<br />

schaute auf die Uhr. Man sah, wie ihm das Blut in seinen Schädel<br />

schoss. Über eine halbe Stunde hatte sich die Polizei Zeit gelassen, seinen<br />

Anweisungen Folge zu leisten. Ein undefinierbarer Laut entwich<br />

seiner Kehle. Richard schaltete etwas schneller, als Kropf die Beamten<br />

zu beleidigen in der Lage war: »Vielen Dank, die Herren«, sagte er auf<br />

Französisch, »es hat sich in der Zwischenzeit erledigt. Und herzlichen<br />

Dank für Ihre Mühe.«<br />

»Ja, merci!«, quetschte Kropf widerwillig aus sich heraus.<br />

Und während sich die Polizisten in Richtung Treppenhaus bewegten,<br />

zog der gute Reinhold an Richards Ärmel. »Das wurde vorher für Sie<br />

abgegeben«, flüsterte er konspirativ.<br />

Da hatte der Agent nun auf heißen Kohlen gelegen und das Kuvert, auf<br />

das er gewartet hatte, lag bereits im Vorzimmer herum. Doch er lächelte<br />

und ließ sich nichts anmerken. Den braunen Umschlag hatte Agnieszka<br />

per Boten geschickt. Richard überzeugte sich, dass an dem Fax<br />

keinerlei Kennung mehr war. Sowohl Meister als auch Kropf brauchten<br />

nicht zu wissen, mit welchen Verbündeten er in dieser Sache operierte.<br />

»Hier«, verkündete der Engländer nun, »eine Fotographie des gesuchten<br />

Prunkstückes.« Natürlich grapschte Kropf wie wild nach dem Fax.<br />

Richards Kollegen Victor sei Dank, dass es möglich war, das entsprechende<br />

Bild an Caratus zu faxen. Natürlich hätte die Sache auch noch<br />

bis Morgen Zeit gehabt, doch so konnte er Friedrich Meister noch ein-<br />

220


mal vorführen, dass seine Mittel und Möglichkeiten andere waren, als<br />

die eines selbst ernannten Weltmeisters.<br />

»Haben Sie denn mit meinem Verbindungsmann telefoniert?«, konnte<br />

dieser seine Verwunderung nicht zügeln.<br />

»Aber, aber«, tat Richard entrüstet, »es ist Ihr Mann und ich habe zu<br />

Ihrem Mann keinen Kontakt.«<br />

Man konnte dem Meister förmlich ansehen, wie sein Gehirn arbeitete.<br />

Entweder dieses Fax war eine Fälschung, um Kropf zu beeindrucken,<br />

oder dieser Engländer hatte einen anderen, besseren Zugang zu dem Ei.<br />

Der Taschendieb schaut eben bei dem Heiligen zuerst auf die Taschen.<br />

Und nach dieser Logik war es dem Meister vollkommen klar, dass er an<br />

diesem Deal nur auf Grund eines Gnadenerweises des Engländers partizipieren<br />

konnte. Offenbar war dieser Typ zu jeder Zeit in der Lage, das<br />

Geschäft mit Kropf alleine durchziehen.<br />

»Genau so ist es, verehrter Herr Meister«, traf Richard ins Schwarze<br />

beim Gedankenlesen, »ich hoffe, Sie wissen meine Güte und Großzügigkeit<br />

zu schätzen.«<br />

»Wie bitte?«, fragte Kropf, der in seinen Büroräumen offenbar keine<br />

Privatgespräche duldete.<br />

»Nichts, gar nichts!«, beschwichtigte der Weltmeister.<br />

»Tja«, sagte Kropf fasziniert, »das ist das gesuchte Ei. Richard, Sie<br />

sind der eigentliche Weltmeister.«<br />

Richard lächelte gequält. Ohne den Namen des Russen, der sich Meister<br />

hatte abpressen lassen, wäre auch für ihn nichts zu machen gewesen.<br />

Und ohne Sir Alecs Weisung über Victor hätten seine Möglichkeiten<br />

enge Grenzen gehabt. Doch das wussten die beiden Kunstkenner nicht.<br />

*<br />

St. Petersburg. Unterdessen saß Victor Havlicek, der wahre Operateur,<br />

mit Pjotr Alexandrowitsch, dem Heiligenscheinanwärter, beim Essen<br />

im Grandhotel Europa zu St. Petersburg.<br />

Victors hervorragenden Kenntnissen der russischen Sprache und Mentalität<br />

hatte es der britische Geheimdienst zu verdanken, dass der Kurator<br />

und Kunsthistoriker folgsam wie ein Lamm war. Denn mit Pjotr<br />

Alexandrowitsch musste man keinen Friedhof besuchen, es bedurfte<br />

keines weiteren Beweises, dass Victors Aussagen glaubwürdig waren,<br />

denn kommt ein Fremder des Weges und lächelt, ist eventuell größte<br />

Vorsicht geboten. Sagt dieser Fremde dann noch Namen, Daten und<br />

221


Fakten des bevorstehenden Geschäftes, als hätten sie eben in der Zeitung<br />

gestanden, kann man sich ganz entspannt zurücklehnen. Denn<br />

dann galten die Worte von der Kanzel, die da lauten: »Diese Botschaft<br />

mag manchem Furcht einflößen, doch sie ist letztlich eine Rettungsbotschaft<br />

der Kirche, die nicht will, dass ihr verloren geht, sofern ihr tätige<br />

Reue tut.«<br />

Der gelernte Sowjetbürger wusste, dass man das Wort Kirche durch<br />

Partei und Kanzel durch KGB bzw. FSB ersetzen musste und man hatte<br />

genau die richtige Einstellung zum Überleben.<br />

Pjotr Alexandrowitsch hätte sogar die Aussage genügt, dass der Deal<br />

verbrannt sei, hätte dies zugetroffen. Er würde deshalb Victor weder<br />

fragen, wer in dieser Sache falsch gespielt hätte, noch ob das Spiel in irgendeiner<br />

Weise noch zu gewinnen wäre, obwohl sich sein Gegenüber<br />

äußerst offen und freizügig zeigte.<br />

»Und das besagte Objekt steht bei diesem Priester immer noch ungesichert<br />

im Regal herum?«, fragte Victor ungläubig.<br />

Der Russe nickte freudig: »Versteckt und versiegelt waren irgendwelche<br />

persönlichen Dinge dieses Paters Gawriil: ein Bartschneideset, ein<br />

Bild, eine Pfeife und persönliche Dokumente. Ich war einer Ohnmacht<br />

nahe, als ich feststellen musste, dass meine gesamten Recherchen vergebens<br />

gewesen waren. Der Priester dieser Kirche konnte meine Enttäuschung<br />

überhaupt nicht verstehen, offenbar hatte er nichts anderes<br />

erwartet. Und dann sah ich das gesuchte Objekt im offen stehenden<br />

Schrank des spärlich eingerichteten Raumes, zwischen Messingglocken,<br />

einer ausgedienten, beschädigten Monstranz, Kerzenständern und<br />

allerlei anderem Zeug. Sicher hätten auch diese Sachen noch einen gewissen<br />

Metallwert, aber natürlich keine hunderttausend Dollar...« Victor<br />

schüttelte amüsiert den Kopf.<br />

»Selbstverständlich benachrichtigte ich sofort den Meister in Zürich.<br />

Als ich vor dem großen Schnee noch einmal hinfuhr, untersuchte ich<br />

unter den verständnislosen Blicken des Priesters den Gegenstand genauer<br />

und machte das Foto, das Ihnen dann so gelegen gekommen ist.<br />

Den Rest wissen Sie ja.«<br />

»Na, dann wollen wir einmal hoffen, dass jeder das bekommt, was er<br />

verdient«, lächelte Victor und aß noch einen Happen.<br />

222<br />

*


Zürich, im Nebel. Irgendwie fühlte Richard, dass nun alle Aktionen<br />

auf einmal in die entscheidende Phase aufliefen. Solche Krisen waren<br />

ihm nicht fremd. Jetzt galt es, durchzuhalten und den Überblick zu<br />

wahren. Frank W. hatte angerufen und ihm die frohe Botschaft verkündet,<br />

dass er mit dem Kontaktmann der Greves nur noch ein paar Absprachen<br />

zu treffen hätte, dann aber soweit wäre.<br />

Richard erinnerte Frank daran, dass auch Rolf Kessler nicht alles wissen<br />

durfte. »Keine Angst«, hatte der Programmierer gewitzelt, »ich darf<br />

ja auch nicht alles trinken und lebe trotzdem noch.«<br />

Die Verbindung zu Rolf bei der Greves AG funktionierte natürlich<br />

nicht. Dafür hatte Richard Samuel Rüegg am Apparat, der sich hörbar<br />

freute. »Was machen die Gummibootmeisterschaften?«, machte sich<br />

Richard zu Beginn des Gespräches beliebt.<br />

»Sie sind ein Banause«, konterte Rüegg, »das sind Kanumeisterschaften.<br />

Ein Kanu war ursprünglich die Bezeichnung für ein kleines Einbaumfahrzeug.«<br />

»Sage ich doch«, frotzelte der Engländer, »ein Boot aus einem Gummibaum.<br />

Na ja, ich muss das auch nicht wissen«, lenkte er dann ein,<br />

»wir haben bald November. Dann wird es Allerheiligen. Ich habe dem<br />

großen Vorsitzenden der Greves AG versprochen, ihm spätestens im<br />

November meinen Plan offen zu legen...«<br />

»Sie machen sich ja keine Vorstellung darüber, welche Mühe ich hatte,<br />

Willy Kessler davon zu überzeugen, Ihnen den Auftrag nicht zu entziehen«,<br />

unterbrach ihn Rüegg.<br />

»Das kann ich mir gut vorstellen. Wir haben nun bei allen potentiellen<br />

Abnehmern und Zwischenhändlern der Ventile einen virtuellen Maulwurf<br />

implantiert. Gleichzeitig wird die Software mit einem Sicherheitscode<br />

versehen und ich hoffe, dass man bei der Greves das Passwort<br />

nicht ans Schwarze Brett heftet. Ich müsste nur noch Rolf sprechen,<br />

weil er mir dabei helfen müsste, die Software entsprechend zu konfigurieren.«<br />

»Sie sind ein Meister der Konspiration«, lachte Rüegg, »aber wenn Sie<br />

dem Chef das Codewort nicht sagen, wird er seinen Sohn weder schalten<br />

noch walten lassen. Ich brauche es ja nicht zu wissen, aber Sie wissen<br />

ja, der alte Kessler ist eigen.«<br />

»Ich weiß«, bestätigte Richard kleinlaut, »im Fach Diplomatie und<br />

Menschenführung war ich noch nie eine besondere Leuchte.«<br />

»Na ja«, lachte Rüegg, »gefährden Sie nicht meine Position. Sie wissen<br />

ja, dass ich es war, der Ihnen den Auftrag zugeschanzt hatte. Geht<br />

223


die Sache schief, sind Sie, Richard, über alle Berge und ich immer noch<br />

mit dem Alten zusammen.«<br />

»Ich tue mein Bestes«, versprach Richard und wurde sodann mit Rolf<br />

Kessler verbunden.<br />

Dieses Gespräch war denkbar kurz, denn sie verabredeten sich in der<br />

Cafébar vis-a-vis des Caratus. Immerhin hatte Richard da noch einige<br />

Tassen Kaffee gut.<br />

Rolf war dann auch schneller vor Ort als vermutet. Die beiden Männer<br />

setzten sich an den Platz, an dem Richard bereits vor Wochen gesessen<br />

hatte. Mit dem Unterschied, dass der Agent nun gängige Zahlungsmittel<br />

in der Tasche hatte und nicht wieder von der Gunst russischer Touristen<br />

abhängig war, die ihm den Kaffee bezahlten...<br />

Da fiel es Richard wie Schuppen von den Augen. Natürlich, in dieser<br />

Cafébar war er zufällig mit diesen Russen zusammengetroffen und offenbar<br />

hatte man sie in dem Momente fotographiert, als der Russe ihm<br />

auf die Schulter klopfte.<br />

Manche Erleuchtungen kommen spät. Vom Telefon der Bar wählte Richard<br />

die Nummer von Mercedes. »Sage dem alten Habicht, dass ich<br />

nun weiß, woher das Bild stammt, auf dem mich ein Russe umarmt.«<br />

»Und jetzt möchtest du ihn bitten, als Trauzeuge zu fungieren.«<br />

»Wenn du erlaubst, meine Liebe!«, lachte der Engländer und erklärte<br />

den Sachverhalt.<br />

»Banaler Zufall also. Und was machte der Alte für einen Aufstand?«,<br />

ärgerte sich Mercedes, die ja einen Großteil dieser Konfusion zu spüren<br />

bekommen hatte.<br />

»In der Sache G. kommt ein dicker Auftrag auf dich zu«, wechselte Richard<br />

das Thema, »und ich glaube, ich werde hier die beiden Sachen<br />

nicht allein zu einem Abschluss bringen können.«<br />

»Beim nächsten Auftrag sitze ich einmal wochenlang im teuren Hotel<br />

herum und du machst die Arbeit«, frotzelte Mercedes. Dann machte der<br />

hauseigene Münzfernsprecher klick und die Verbindung war unterbrochen.<br />

»Weiber!«, tat Richard ab und schaute Rolf Kessler ernst ins Gesicht:<br />

»Gilt unsere Verabredung noch? Oder haben Sie sich bereits entschlossen,<br />

mich zu verraten?«<br />

Rolf gefiel diese englische Art und er konterte: »Ja, ich bin fest entschlossen,<br />

mir und meiner Zukunft das Wasser abzugraben. Besonderes<br />

Interesse habe ich daran, meinem Vater zum Munde zu reden. Als Sozialrentner<br />

und künftiger Bankrotteur braucht er ja jemanden, mit dem<br />

er sich über alles mal offen aussprechen kann.«<br />

224


»Sehr gut«, nickte Richard. »Besuchen Sie bitte morgen Frank W. in<br />

der Klinik, er hat noch ein paar Fragen. Dann wird es wohl höchste<br />

Zeit, dass Sie die Print-Pläne und Softwareprogramme nach Franks Anweisungen<br />

ändern und die entsprechenden Updates von Frank einspielen...«<br />

Das Mädchen hinter der Espressomaschine reichte die Tassen rüber.<br />

»Noch ein Stück Kuchen dazu?« Rolf bedankte sich und Richard bat<br />

das Schicksal um die Gunst, einmal in seinem Leben etwas erörtern zu<br />

können, ohne dass ständig jemand dazwischen quatschte. Hätte er zuviel<br />

Geld, er würde ein Restaurant aufmachen, in dem das Bedienungspersonal<br />

stumm wäre. Und endlich könnten die Gäste einmal essen und<br />

trinken und reden, ohne dass ständig jemand sich verbeugte, aus dem<br />

Hinterhalt die kaum angenippten Gläser auffüllte und fragte: »Ist es<br />

recht so? Darf ich Ihnen nochmals die Karte bringen? Bitte, danke,<br />

nichts zu danken, danke, schmeckt‘s? Bitte, danke« und so fort.<br />

»Darum hat McDonald’s so großen Erfolg. Man holt den Fraß selbst<br />

ab und hat dann seine Ruhe«, schnaufte Richard sichtlich verärgert und<br />

Rolf verstand nichts.<br />

Der Agent winkte ab. »Bekommen Sie die ganze Sache mutiert, ohne<br />

dass irgendjemand im Betrieb darauf aufmerksam wird und am Schluss<br />

alle raunen, der junge Kessler verändert nun die Software und Print-<br />

Pläne, weil er uns nicht vertraut.«<br />

»Offenbar haben Sie keine Vorstellung von meiner Arbeit. Wenn des<br />

Nachts in der Greves das Licht verlöscht, brennt es in meinem Büro<br />

noch zwei, drei Stunden länger. Vater meint, das wäre selbstverständlich<br />

und kanzelt mich dann zum Dank dann und wann vor den Mitarbeitern<br />

noch ab, wenn etwas nicht fertig ist. Nur in der letzten Woche<br />

saß ich zugegebenermaßen des Nachts im Büro und surfte im Internet<br />

herum. Ich wollte keinen Verdacht erregen, dass ich nichts mehr zu tun<br />

hätte, weil ich auf Ihre Weisung wartete.«<br />

»Sie werden noch einmal ein richtiger Undercovermann«, lobte Richard.<br />

»Die Pläne von Frank werden ja nicht auf Papier geliefert. Wahrscheinlich<br />

wird das Überspielen der Software das geringste Problem<br />

sein, das man in einer Nacht erledigen kann...«<br />

»Sagen wir an einem Wochenende«, korrigierte der Fachmann.<br />

»Auch gut. Vergessen Sie aber bitte nicht, die alten Blaupausen zu vernichten,<br />

wenn die neuen in der Anlage sind.«<br />

»Das ist das geringste Problem«, beruhigte Rolf, »die Mitarbeiter sind<br />

es gewohnt, dass fast täglich neue Teilpläne die alten ersetzen.«<br />

»Wem trauen Sie in der Firma am meisten?«<br />

225


Der Ingenieur überlegte.<br />

»Nichts sagen«, bat der Engländer, »ich möchte nur noch einmal in Erinnerung<br />

rufen, dass Sie niemanden trauen dürfen. Sie sollten sich noch<br />

nicht einmal selbst trauen. Leben Sie also in der Legende, dass wir in<br />

die Software einen elektronischen Kopierschutz eingebaut hätten und<br />

dass die Maschinen nur noch funktionierten, gäbe man ein Passwort<br />

ein.«<br />

Rolf Kessler schaute seinen ehemaligen Lebensretter skeptisch an:<br />

»Den ganzen Kram, wie Sie ihn darstellen, hat jedes Handy. Zugegebenermaßen<br />

hätte ich das so auch zu programmieren gewusst. Richard,<br />

ich bin heilfroh, dass ich den Umfang Ihrer geplanten Manipulation<br />

nicht weiß.«<br />

»Wir haben ja bald Weihnachten«, grinste der Agent. »Haben Sie eigentlich<br />

einen guten Draht zu einer Dame der Lohnbuchhaltung?«<br />

»Nein, aber Vater. Vor Jahren behauptete dies jedenfalls meine Mutter<br />

und machte wochenlang Theater.«<br />

Richard verzog das Gesicht. »Wie kommen wir an die Kopfdaten aller<br />

Mitarbeiter heran, die nur im Entferntesten verdächtig sein können. Also<br />

auch die Putzfrau, die in Ihren Räumen den Papierkorb leert.«<br />

»Gar nicht«, sagte Rolf, »das gesamte Lohnbüro ist in der Zwischenzeit<br />

outgesourced.«<br />

»Aber doch nicht die Personalabteilung.«<br />

»Die nicht, aber die arbeiten noch mit Karteikästen und Hängeordnern.<br />

Die lassen sich elektronisch nicht abkopieren.«<br />

»Und mit dem Generalschlüssel des Nachts?«<br />

Rolf wiegte mit dem Kopf hin und her: »Vielleicht?«<br />

»Rolf, machen Sie bitte gedanklich eine Liste dieser Mitarbeiter, schätzen<br />

Sie deren Gehälter und sortieren Sie die Namen nach den Einkommen.<br />

Wer steht dann ganz oben?«<br />

»Mein Vater.«<br />

»Und weiter?«<br />

»Keine Ahnung«, bekannte Rolf, »vielleicht Flückiger, dann der Personalchef,<br />

Kropf bekommt wahrscheinlich auch noch ein Proforma-Gehalt,<br />

dann die beiden Ingenieure der Fertigung, die Sekretärin von Vater,<br />

dann werde ich kommen. Den Rüegg habe ich ganz vergessen. Der<br />

steht weit oben, Verkäufer sind immer überbezahlt.«<br />

»Die Sekretärin vom Vater bekommt mehr als der Softwareentwickler<br />

und der eigene Sohn?«, wunderte sich Richard.<br />

226


»Sicher«, bestätigte Rolf Kessler, »bis vor einem Jahr hatte ich das Gehalt<br />

eines Betriebsmeisters und die Sekretärin von Vater bekommt ja<br />

keinen Lohn, sondern Schweigegeld.«<br />

»Gute Voraussetzungen«, sagte Richard, »und genau in dieser Reihenfolge<br />

sind die Herrschaften verdächtig. Legen Sie heute eine Nachtschicht<br />

ein, ich brauche von allen die Kopfdaten, die etwaige Höhe der<br />

Löhne und die entsprechenden Bankverbindungen...«<br />

Rolf machte ein skeptisches Gesicht.<br />

»Ja«, erklärte Richard, »wer die Stellen sucht, an denen es geregnet<br />

hat, sollte nicht auf die Wolken achten, sondern auf die Pfützen...«<br />

Am Schluss des Gesprächs folgte eine längere Auseinandersetzung um<br />

sieben Franken und achtzig Rappen, weil Richard die beiden Kaffee<br />

nicht bezahlen wollte. Gleichzeitig verbot er Rolf, für ihn die Rechnung<br />

zu begleichen. Das Personal konnte sich aber beim besten Willen nicht<br />

mehr daran erinnern, dass dieser Engländer noch ein paar Tassen Kaffee<br />

gut hatte.<br />

*<br />

St. Petersburg, Anfang November. Pjotr Alexandrowitsch saß bereits<br />

eine gute Weile in der Lobby des Grandhotels Europa. Aus Gründen<br />

der Diskretion hatte er seinen Besucher aus Zürich nicht am Flughafen<br />

Pulkowo abgeholt. Dort standen stets genug Taxis, die den anspruchsvollen<br />

Fahrgast ins Zentrum bringen konnten. Es war gut möglich, dass<br />

der Flugbetrieb bei dem Schneefall die Landungen verzögerte.<br />

Die vornehm gediegen gestalteten Räume des Grandhotels, die erlesenen<br />

dunklen Hölzer, das reichlich polierte Messing, geschliffene Glasscheiben,<br />

die überall vorhandene geschmackvolle Eleganz im Stil der<br />

Jahrhundertwende gaben eine Ahnung davon, wie es immer sein könnte.<br />

Aber der sich im gebührenden Abstand im Hintergrund aufhaltende<br />

Victor aus Prag gab die Gewissheit, dass die Bäume nicht in den Himmel<br />

wachsen würden.<br />

Der Kunsthistoriker hatte von Victor strikte Anweisungen bekommen,<br />

wie er sich zu verhalten hatte und verschwendete keinen Gedanken daran,<br />

dass er gegen diese Anweisungen verstoßen könnte.<br />

Dann stand er da, der Weltmeister. Sie umarmten sich wie gewohnt in<br />

slawischer Manier. Aber Pjotr Alexandrowitsch fühlte sofort, dass auch<br />

sein Besucher nicht mehr der alte war.<br />

227


Meister wackelte mit seinem mitgeführten Attachéköfferchen: »Kein<br />

Mensch wollte bei der Einreise etwas sehen. An Devisen und Wertgegenständen<br />

interessiert sind die Grenzer also nur beim Verlassen eures<br />

Territoriums.«<br />

»Gehen wir zu dir nach Hause?«, fragte Friedrich Meister, nachdem<br />

sie einen Drink an der englischen Bar des Hotels zu sich genommen<br />

hatte.<br />

»Du meinst doch nicht etwa, dass ich dir ein paar Spiegeleier braten<br />

solle«, lächelte der Russe gequält, »lass’ uns hier beim Essen alles besprechen.<br />

Es wurde mir geraten, einen Tisch zufällig auszuwählen und<br />

auf keinen Fall den zu nehmen, den man uns anbietet.«<br />

»Du hast Berater?«, meinte Meister beinahe nebenbei und wich dem<br />

Blick seines Gastgebers aus.<br />

Pjotr Alexandrowitsch lachte: »Ich hatte schon immer Berater. Oder<br />

glaubst du, dass man in Russland ohne Rückendeckung überleben<br />

könnte.«<br />

Obwohl dies dem Meister immer irgendwo dem Grunde nach klar war,<br />

hatte er sich stets gescheut, den jeweiligen Grad zu hinterfragen. Vielleicht<br />

wäre der Spieß umzudrehen, könnte man mit dem Russen und<br />

seinen KGB-Hintermännern zusammenarbeiten. Dann hätte dieser widerliche<br />

Engländer, der sich in sein Geschäft gedrängt hatte, keine<br />

Chance. Warum war dieser Richard nicht mitgekommen? Das konnte<br />

doch nur heißen, dass hier seine Grenzen waren.<br />

»Hör’ zu«, packte das Großmaul den Kunsthistoriker in alter Manier<br />

am Arm und zischte in sein Ohr: »Wir machen das Geschäft unter uns<br />

aus ohne diese ganzen Schmarotzer im Hintergrund. Hüben wie drüben.<br />

Verstehst du?« Dabei rüttelte er den Russen unangemessen. Der versuchte,<br />

sich zu befreien: »Ja, verstehe ich.« Er machte eine repetierende<br />

Handbewegung: »Nur wir zwei!«<br />

»Genau!«<br />

»Du, der Meister, zahlt eine Million Dollar und ich, der Russe, gibt dir<br />

das Ei.«<br />

Das rüttelte nun den Meister, denn so hatte er das natürlich nicht gemeint.<br />

Unwillkürlich fasste er sich an sein Kinn und strich sich kräftig<br />

mit der Hand über die Bartstoppeln und den halben Mund. Nie wieder<br />

wollte er in eine Situation wie auf diesem Friedhof kommen. »Nein,<br />

verstehst du denn nicht. Man wollte mir drohen...« Meister machte eine<br />

Handbewegung mit dem Daumen, offensichtlich zeigte er symbolisch<br />

in Richtung Ämtlerstraße in Zürich, denn dort, wo der Daumen tatsächlich<br />

hinzeigte, stand lediglich ein Blumenkübel. »Aber denen habe<br />

228


ich es gegeben. Ein Weltmeister lässt sich nicht einschüchtern.« Wieder<br />

zerrte er den Russen am Arm. »Wir tricksen das ganze habgierige Pack<br />

aus. Ich gebe dir jetzt fünfhunderttausend Franken, du mir das Ei und<br />

keiner weiß was davon.« Der Verschwörer blickte sich verstohlen um.<br />

»Das ist unsere Chance! Kapiere das doch endlich.«<br />

Pjotr Alexandrowitsch setzte sich unaufgefordert an einen Tisch des<br />

Restaurants, das sie in der Zwischenzeit erreicht hatten. Meister zog<br />

seinen Mantel aus und reichte diesen dem herbeieilenden Tischchef, der<br />

das Kleidungsstück wie eine heiße Kartoffel sofort an eine Bedienstete<br />

weiterreichte.<br />

»Bestehen die Herrschaften auf diesen Platz?«, ärgerte sich der Mann,<br />

weil solche Eskapaden seinen Reservierungsplan durcheinander warfen.<br />

»Ja«, sagte der Meister knapp und drückte ihm eine Zehn-Dollar-Note<br />

in die Hand.<br />

»Ich habe dich schon verstanden, großer Meister. Du willst deine Auftraggeber<br />

hintergehen und mit mir einen winzig kleinen Preis aushandeln.«<br />

»Wenn du mich nicht verstehen willst, dann eben nicht«, wurde der<br />

Schweizer mürrisch, »dann sage mir wenigstens, welchen Kontakt du<br />

mit diesem Richard hast, dass du ihm ein Fax schicken kannst.«<br />

Der Russe lehnte sich zurück und blickte interessiert in die Speisekarte.<br />

Was sollte er sich nur einen einzigen Gedanken machen. Hinter<br />

ihm hatte sich dieser Victor platziert und der Tischchef hätte beinahe<br />

seinen Job für heute an den Nagel gehangen. »Das ist hier ein Restaurant<br />

der Spitzenklasse, mein Herr, und kein Wartesaal.«<br />

»Weiß ich«, hatte Victor gesagt und zwanzig Dollar bezahlt. Victor<br />

vertraute auf sein Gesicht, seine Art, seine Kleidung und all die weiteren<br />

Attribute, welche den untertänigen, gelernten Sowjetbürgern signalisierten,<br />

wer vom Geheimdienst war und wer sich zum Schikanieren<br />

eignete. Natürlich hätte in der Sowjetunion kein Geheimdienstmann<br />

Trinkgeld bezahlt, aber auch kein Hotelangestellter würde sich heute<br />

erlauben, einen zahlenden Gast schikanieren zu wollen.<br />

Und so saß der Russe mit seinem aufgezwungenen Tschechen wie zufällig<br />

Rücken an Rücken. Der eine las Zeitung und trug die Verantwortung<br />

und der andere sprach mit einem selbst ernannten Weltmeister,<br />

ohne den geringsten Freiraum zu haben.<br />

»Ich kenne keinen Richard und habe niemandem ein Fax geschickt«,<br />

antwortete deshalb der Kurator und hatte noch nicht einmal gelogen.<br />

Und Meister schluckte trocken.<br />

229


»Hier ist das Bild.« Mit diesen Worten nahm der Russe eine Farbfotographie<br />

aus der Tasche. Das Bild zeigte ein kobaltblaues Fabergé-Ei auf<br />

goldziselierten Füßchen. Eine Hand mit einem großen Universitätsring<br />

hielt ein Lineal. Das Ei war genau fünfundzwanzig Zentimeter hoch.<br />

Pjotr Alexandrowitsch streckte dem Schweizer Großmaul seine rechte<br />

Hand hin, an der er genau diesen Universitätsring mit dem dunklen<br />

Stein trug, der auf der Fotographie das Lineal hielt.<br />

Meister räusperte sich und resignierte: »Das bedeutet wohl, dass ich<br />

dieses Ei heute nicht mehr zu Gesicht bekommen werde.«<br />

Bedienungspersonal brachte die Getränke. Der Kellner machte Anstalten,<br />

die Speisenbestellung aufzunehmen. Doch die beiden Gäste hatten<br />

nur mäßigen Appetit und keine Lust mehr, hier vortrefflich zu dinieren.<br />

Pjotr Alexandrowitsch übergab dem Schweizer die Geschichte und Legende<br />

des Prunkstückes. Er schilderte ihm den vollständigen historischen<br />

Hintergrund, die Psychogramme des Zaren Nikolaus II und von<br />

Sergej Witte. Er erläuterte die gezielte Hypothese um die Entstehung<br />

und das rätselhafte Verschwinden des großen blauen Paradestückes.<br />

Der Kurator hatte alles fein säuberlich dokumentiert.<br />

Meister konnte die kyrillische Schrift nicht lesen und sein Gegenüber<br />

hatte dies mit einkalkuliert. »Wenn das mit dem Geld klappt, bekommst<br />

du eine Übersetzung.«<br />

»Das mit dem Geld kann nicht klappen«, ließ Meister die Katze aus<br />

dem Sack. »Du willst allein eine Million Dollar kassieren und ich habe<br />

stets von einer Million Schweizer Franken für uns beide gesprochen.«<br />

Der Russe kreuzte Messer und Gabel und schluckte den letzten Bissen<br />

hinunter. »Hast du nicht! Du sprachst von einer Million Dollar für<br />

mich. Das Krönungsei kostet 24 Millionen. Dieses Ei hier steht ihm<br />

nach, da es nicht mit Diamanten besetzt ist. Dafür ist es größer und in<br />

einem einzigartigen Blau. Vielleicht hat dieses Ei nur einige Tausender<br />

Materialwert. Ich weiß es nicht. Aber seit wann bemisst sich ein einmaliges<br />

Kunstwerk nach seinem Materialwert?«<br />

Diese Rede festigte beidseitig das Vertrauen in das Kunstobjekt. Sie<br />

würden wieder ruhig schlafen können.<br />

Pjotr Alexandrowitsch zückte den bereits vorgefertigten Vertrag. Dank<br />

der sachkundigen Mithilfe von Victor war darin festgehalten, dass es<br />

sich hier um die Dienste eines im Auftrag arbeitenden Wissenschaftlers<br />

handelte und keinerlei spekulative Elemente eines freien Beschaffers<br />

enthielt. Dafür würde er Geld berechnen und den Priester abfinden,<br />

damit dieser seine Kirche renovieren könnte. Vertraglich beteiligte er<br />

230


sich aus guten Gründen an keiner Spekulation, denn er dachte bereits<br />

mit Schrecken an die illegale Übergabe des Kunstwerkes.<br />

»Du kannst machen, was du willst, mehr als fünfhunderttausend Dollar<br />

gibt es nicht, und zwar Zug um Zug«, trotzte Meister. Ökonomisch befanden<br />

sie sich in einem bilateralen Monopol, des einen Vorteil war des<br />

anderen Nachteil. So zogen beide am gleichen Strick, der Stärkere hätte<br />

am Schluss einen größeren Anteil für sich gewonnen und Meister wusste,<br />

dass bereits ein beachtliches Stück seines Profits verspielt war.<br />

Der Kurator wusste, dass des Meisters Angebot sein letztes Wort wäre.<br />

Einerseits hatte der nicht mehr Geld dabei, andererseits hatte Victor,<br />

ganz nach der Unsitte des alten KGBs, das Verhandlungsergebnis bereits<br />

befohlen.<br />

Pjotr Alexandrowitsch lehnte sich zurück und lächelte beinahe gutmütig:<br />

»Ich bin nicht geldgierig. Lass’ uns 350.000 Dollar auf das vorbereitete<br />

Bankkonto einzahlen. Und 150.000 zahlst du in bar und sofort.<br />

Dann sind wir für heute quitt. Ich bringe das Ei nach Prag und dein<br />

Auftraggeber gibt telegraphisch das Konto frei. Kommt die Bestätigung<br />

von der Bank, könnt ihr das Ei nehmen und damit machen, was ihr<br />

wollt. Was du dann noch daran verdienst oder nicht, soll mich nicht<br />

weiter interessieren.«<br />

»Wenig genug«, sagte der Weltmeister, »aber das ist ein Wort«, und<br />

streckte dem Russen die schwulstige Hand hin.<br />

Pjotr Alexandrowitsch schlug ein: »Bescheiße nie einen Russen<br />

nicht!«<br />

*<br />

Zwei Tage später telefonierte Sir Alec mit Richard auf einer abhörsicheren<br />

Leitung. Eine Telefonkonferenz mit Victor verbot sich, weil alles<br />

unterlassen werden musste, was den Tschechen in Russland gefährdet<br />

hätte.<br />

Victor hatte vorgeschlagen, mit einer russischen Militärmaschine von<br />

St. Petersburg nach Prag zu fliegen. Sowohl Sir Alec als auch Richard<br />

konnten sich schlecht vorstellen, dass man einen Militärpiloten einfach<br />

mit Geld und guten Worten davon überzeugen konnte, mit seiner<br />

Transportmaschine mal kurz ein paar tausend Meilen eine Privatreise<br />

zu unternehmen und sich den Sprit vom Arbeitgeber bezahlen zu lassen.<br />

231


»Sollte es klappen«, so Sir Alec, »wäre das natürlich die sauberste Lösung.<br />

Wir sind aus Russland raus und müssen nicht befürchten, dass unsere<br />

Leute prophylaktisch mit Giftgas behandelt werden.«<br />

Dann nuschelte der Alte etwas, was Richard nicht verstand. So fragte<br />

Richard: »Sir, erwarten Sie, dass sich im Zuge der Transaktion das Rätsel<br />

um die Aufgeregtheit der Kollegen von der anderen Feldpostnummer<br />

auflöst?«<br />

»Darum machen wir doch die gesamte Aktion. Ich darf gar nicht darüber<br />

nachdenken«, nuschelte der alte Habicht, als wäre er ein Käuzchen.<br />

»Dieser Pjotr Alexandrowitsch ist nicht der Mann, der uns etwas<br />

vormachen könnte. Er versucht überhaupt kein doppeltes Spiel, sondern<br />

hatte bis dato nicht die geringste Vorstellung darüber, wie er das Objekt<br />

aus Russland herausschaffen könnte. Aber wir helfen ja nun beiden Seiten<br />

für einen glücklichen Ausgang der Operation. Wie Sie mir berichteten,<br />

schwirrt man um Sie herum wie die Motten ums Licht. Und<br />

Mercedes hat neue Schlapphüte vor ihrer Tiefgarage stehen.<br />

Victor hat mich nun noch einmal gewarnt und dringend darum gebeten,<br />

den ganzen Deal auffliegen zu lassen und den zuständigen Polizeibehörden<br />

anzuzeigen. Für die ist es ja nur ein wie immer wertvoller<br />

Kunstraub, wenn überhaupt... wenn überhaupt.«<br />

Richard konnte sich aus all den kryptischen Wortfetzen keinen Reim<br />

machen. »Was hat Victor denn? Ist ihm die Geschichte eingefallen?«<br />

»Eben nicht, Richard«, sagte der Alte, »würde er mir ein einziges Argument<br />

an die Hand geben, ich würde mich noch heute mit der schweizerischen<br />

und russischen Polizei in Verbindung setzen. An dummen<br />

Streichen habe ich nun wirklich keinen Bedarf.«<br />

»Wer steckt hinter dieser Transtecco?«<br />

»Die Damen und Herren sind Angestellte unseres mächtigen Onkel<br />

Sam, wie zu vermuten war. Aber ich kann die Herrschaften nicht anrufen<br />

und ihnen die Bedenken eines unter Gedächtnisschwund leidenden<br />

Mannes erzählen. Die drehen den Spieß sofort um. Würden mir nämlich<br />

die angeblichen Beweise, die Daten und Fakten dieser Herrschaften<br />

offen gelegt werden, bin ich mir sicher, dass unserem Victor seine Geschichte<br />

sofort wieder einfallen würde.«<br />

»Vielleicht löst sich das Rätsel und Sie können noch beizeiten über<br />

den Teich telefonieren. Und wenn es nur dazu dienen würde, die Schärfe<br />

aus der Konfrontation zu nehmen.«<br />

»Sie sagen es, Richard. Können wir den gordischen Knoten durchschlagen,<br />

so machen wir die Aktion trotzdem. Ich kann die britisch-russischen<br />

Beziehungen anfüttern und Sie erledigen Ihren Part in der<br />

232


Schweiz. Bekommen wir den Knoten jedoch nicht rechtzeitig zerschlagen,<br />

besteht höchste Lebensgefahr. Je wichtiger die Beteiligten eine<br />

Operation einschätzen, desto nervöser ist ihr Finger am Abzug.«<br />

»Ich bitte um Erlaubnis, als Erster zurückschießen zu dürfen«,<br />

schmunzelte Richard.<br />

»Tja, ich hoffe, uns wird das Lachen nicht vergehen.«<br />

»Okay, Sir.«<br />

»Bevor ich es vergesse. Mit viel Mühe habe ich mit dem Verbindungsmann<br />

der Amerikaner ein operatives Codewort vereinbaren können.<br />

Damit man sich nicht noch aus Versehen gegenseitig umbringt.«<br />

»Ich höre, Sir.«<br />

»Moooment...«<br />

Nach über einer halben Minute fast hörbarem Grübeln fragte Sir Alec:<br />

»Habe ich Ihnen das nicht bereits gesagt?«<br />

»Nein, Sir«, grinste Richard.<br />

»Na ja, ist auch egal. Jedenfalls bitte ich die restlichen Formalitäten<br />

genauestens einzuhalten.«<br />

»Sehr wohl, Sir«, freute sich Richard riesig, dass der Alte auch einmal<br />

etwas vergessen hatte.<br />

Dann knackte es und die Leitung war tot.<br />

*<br />

Palma de Mallorca. Mercedes hatte erhebliche Schwierigkeiten, den<br />

breiten Dialekt des Hausmädchens am Telefon zu verstehen. Doch irgendwie<br />

hatte sie es trotzdem geschafft, den Chef dieser Angestellten<br />

ans Telefon zu bekommen.<br />

»Herr Schmied! Sie sind Hauptaktionär der Caratus AG in Zürich? Bitte<br />

entschuldigen Sie die Störung. Ich bin Beauftragte der Palma Management,<br />

Agency for Competitive Intelligence Services.«<br />

»Ich verbitte mir solche Anrufe«, brüllte der Mann und knallte den Hörer<br />

auf die Gabel.<br />

2. Versuch. Das Telefon wurde nicht mehr abgenommen.<br />

3. Versuch. Das Telefon wurde abgenommen und sofort wieder aufgelegt.<br />

So ging es also nicht.<br />

»Schätzchen«, rief Mercedes zu Isabella, »ich muss mal kurz weg.«<br />

233


Der Verbindungsmann im Britischen Konsulat verzog zur Begrüßung<br />

sein hageres Gesicht. »Ich komme nicht umhin, mit Ihrer werten Person<br />

ein gerütteltes Maß von Ärger und Schwierigkeiten zu assoziieren.«<br />

Mercedes lächelte sanft: »Aber, aber! Sie müssen mich verwechseln.«<br />

»Gehen wir heute Abend zusammen essen?«, verlor der Mann seine<br />

Contenance.<br />

»Warum nicht?«, schmunzelte Mercedes scheinbar unerschrocken und<br />

schmiegte sich an ihn, dann fasste sie ihm unvermittelt an den Oberschenkel.<br />

»Es wäre mir ein Leichtes gewesen, mit sicherem Griff das<br />

Körperteil, mit dem Sie zu denken pflegen, fest zu umklammern.«<br />

»Ja«, schrie der Mann auf, denn die Frau hatte sich äußerst schmerzhaft<br />

verkrallt. »Sollte es also beim Essen nicht bleiben, werden sich die<br />

Schwierigkeiten für Sie potenzieren.«<br />

»War doch nur eine Frage«, keuchte der Adjutant und rieb sich den<br />

Oberschenkel.<br />

»War ja nur eine Antwort«, lächelte die Agentin charmant wie immer.<br />

Von diesen kleinen Auseinandersetzungen hatte der Herr Konsul nicht<br />

die geringste Ahnung. Im Gegenteil, er freute sich offenbar ehrlich,<br />

einmal etwas Nützliches tun zu dürfen und wählte die Nummer dieses<br />

Herrn Schmied aus Herisau in der Schweiz.<br />

Natürlich hatte auch der Herr Konsul das Problem, die Sprachbarriere<br />

des Dienstmädchens zu überwinden, aber erwischte dann doch irgendwann<br />

den Besitzer des Telefonanschlusses selbst am Apparat.<br />

»Ich darf im Namen Ihrer Majestät der Königin von England untertänigst<br />

anfragen, ob Sie, werter Herr Dr. Schmied, eventuell zur Verfügung<br />

stehen würden, das Britische Empire in der Schweiz konsularisch<br />

vertreten zu wollen«, wuchs der Konsul über sich hinaus. Wusste er<br />

doch selbst, wie die damalige diesbezügliche Anfrage auf ihn gewirkt<br />

hatte.<br />

Im nicht gerade einwandfreien BBC-Englisch machte der Herr<br />

Schmied dann eine ehrfürchtige verbale Verbeugung und Mercedes lächelte<br />

mitleidig.<br />

Als der Smalltalk beendet war und der Herr Konsul mehrfach die Unverbindlichkeit<br />

seiner Anfrage wiederholt hatte, schiffte er mit prallem<br />

Focksegel in Richtung des Büros der Agency for Competitive Intelligence<br />

Services, das angeblich solche hoheitsrechtlichen Angelegenheiten<br />

vorbereitete. »Sie werden verstehen, dass wir unsere Konsule einer<br />

Prüfung unterziehen müssen, wobei ich persönlich in Ihrem Falle diese<br />

Prozedur als reine Formsache verstanden haben wollte. Wäre es Ihnen<br />

234


echt, verehrter Herr Schmied, wenn sich unsere Madame de Cárdenas<br />

mit Ihnen demnächst in Verbindung setzen würde?«<br />

»Sehr, sogar sehr«, stotterte Schmied und man beendete das verlogene<br />

Gespräch.<br />

Der Konsul strahlte, blickte irritiert zu seinem Mitarbeiter und sagte<br />

sehr verwundert: »Arthur, können Sie mir bitte sagen, warum Sie sich<br />

andauernd den Oberschenkel reiben. Auch ist Ihr Anzug völlig zerknittert.«<br />

Am anderen Tag wurde das Telefon sofort von Schmied persönlich abgehoben.<br />

Zahlreiche Ehrenämter und einen entsprechend hohen Dienstgrad<br />

in der Schweizer Armee machte der Geehrte geltend, als Mercedes<br />

diesbezügliche Fragen stellte. Dann meinte sie, es wäre nun soweit alles<br />

klar und versprach, dass man sich ja bei der anstehenden »Inthronisationsfeier«<br />

sicher persönlich kennen lernen würde.<br />

Schmied, der meist in einer grauen Strickjacke im überdimensionierten<br />

Wohnzimmer sich RTL II-Serien anschaute, hatte zur Feier des Tages<br />

extra seinen schwarzen Anzug angezogen. Das konnte Mercedes nicht<br />

sehen, aber sie merkte, wie die Bombe einschlug, als sie beiläufig folgenden<br />

Satz zum Besten gab: »Wir sahen uns natürlich verpflichtet, Sie<br />

vor der Kontaktaufnahme einer Bonitätsprüfung zu unterziehen. Ihr<br />

Bonität ist erwartungsgemäß erstklassig. Darf ich trotzdem fragen, wie<br />

Sie die bevorstehende Insolvenz der Caratus AG in Zürich abwenden<br />

wollen? Ich schätze, mit einer Kapitalerhöhung.«<br />

»Was?«, hatte es dem Hauptaktionär die Sprache verschlagen. »Das<br />

muss ein Irrtum Ihres Büros sein. Die Caratus AG steht bestens da.«<br />

Mercedes widersprach kühl und flüsterte die beunruhigenden Zahlen<br />

durch. Schmied fragte nicht, woher die Frau am anderen Ende dies alles<br />

wusste. Das vielgerühmte Schweizer Bankgeheimnis glich entweder einem<br />

Emmentaler Käse oder die Frau hatte diese Zahlen von einem vereidigten<br />

Astrologen erhalten.<br />

»Das ist doch eine Veruntreuung der geschäftsführenden Direktorin«,<br />

schrie er nahe dem Herzinfarkt.<br />

»Ich bedaure sehr, werter Herr Konsul Schmied, aber Ihre Frau Direktorin<br />

Meister-Novak hat bereits seit drei Monaten selbst kein Gehalt<br />

mehr bekommen. Nach unseren Erkenntnissen tut die Dame im Rahmen<br />

ihrer Möglichkeiten ihr Bestes.«<br />

»Sie irren, die hätte sich doch zuerst bei mir gemeldet.«<br />

»Leider war dies auch in der Vergangenheit nie der Fall. Die Angestellten<br />

der Caratus AG beschweren sich, wenn überhaupt, nur bei Ihrem<br />

Verwaltungsrat Dr. Kropf. Nach meinen bescheidenen Erkenntnis-<br />

235


sen ist dieser jedoch für die latente Insolvenz Ihres Unternehmens der<br />

Hauptverantwortliche.«<br />

»Das ist bestimmt ein großes Missverständnis«, tröstete sich Schmied.<br />

Mercedes gab ihm vollkommen Recht und bot ihm an, unter dem Siegel<br />

der größten Verschwiegenheit Daten und Fakten zu nennen, die belegen,<br />

dass die von Kropf auf sein Privatkonto transferierten Millionen<br />

wohl noch auf dessen Konto sind, aber seit über vier Monaten verpfändet.<br />

Am Schluss erklärte Mercedes dem am Boden zerstörten designierten<br />

Konsul, was eine geschriebene Verkaufsoption ist und welche Risiken<br />

der Schreiber damit einginge. Allein heute hätte Herr Kropf wieder etwa<br />

70.000 Franken verloren. Mercedes schaute auf ihren Kalender.<br />

»Der diesbezügliche Verfallstag ist Freitag vor Weihnachten. Nach<br />

meiner unmaßgeblichen Schätzung, verehrter Herr Konsul, hat Herr Dr.<br />

Kropf bis dahin ca. fünf Millionen Schulden angehäuft.«<br />

Schmied widersprach und bekundete, dass er den Bankdirektor persönlich<br />

kennen würde. Doch Mercedes hatte einfach die besseren Argumente.<br />

Nach zwei Stunden war das Gespräch beendet. Schmied hatte<br />

eine Menge dazugelernt.<br />

So kramte er an diesem Tag noch sehr lange in einem sündhaft teuren,<br />

aber für Büroarbeiten vollkommen ungeeigneten Möbelstück, das man<br />

ihm von einem Einrichtungshaus als Schreibtisch verkauft hatte. Dann<br />

fand er die entsprechenden Unterlagen über die Caratus AG.<br />

Nachts um zehn klingelte dann bei seinem Rechtsanwalt das Telefon<br />

ohne Erfolg. Der angerufene Bankdirektor, der in einem Zürcher Vorort<br />

residierte, hatte weniger Glück und schnappte nach den ersten Sätzen<br />

von Schmied bereits nach Luft.<br />

Schmied war durch Mercedes schlau geworden. Wenn er nur daran<br />

dachte, welche Pfeifen und Versager schweizweit noch sein Vermögen<br />

veruntreuten, hätte der mehrfache Millionär in der Nacht zum Mörder<br />

werden können.<br />

»Sag’ mir mal der Herr, was eine Put-Option ist.«<br />

»Ja, Herr Dr. Schmied, wollen Sie mich mitten in der Nacht auf die<br />

Probe stellen?«<br />

»Das habe ich nicht gefragt!«, schrie der umgehend.<br />

»Ja, eine Put-Option ist ein Derivat. Ich kann Ihnen gerne eine diesbezügliche<br />

Broschüre zukommen lassen.«<br />

»Und wenn einer so einen Scheißdreck machen will, dann verlangt<br />

doch Ihr wertes Haus Sicherheiten. Wie hoch sind diese?«<br />

236


»Das ist eine gute Frage, Herr Schmied. Wir müssten eigentlich das<br />

gesamte Risiko abdecken oder eben die entsprechende Bonität prüfen...«<br />

»Reden Sie nicht«, unterbrach ihn sein Bankkunde und kramte nach<br />

seinen Notizen, die er sich im Laufe des Telefonats mit Mercedes gemacht<br />

hatte. »Verkauft einer z. B. 500.000 dieser Teufelspapierchen<br />

zum Basispreis von 20 Euro, weil er sich drei Euro pro Schein Provision<br />

verspricht, dann fängt der Verlust an, wenn der Bezugswert, also<br />

die Aktie auf unter 17 Euro fällt. Bei einem Aktienkurs von 15 Euro hat<br />

man die erste Million Verlust, bei 13 über zwei Millionen, beim Kurs<br />

von 11 fast vier Millionen und so weiter und so fort. Das gesamte Risiko<br />

liegt also bei über zehn Millionen Euro! Verstehen Sie das?«<br />

»Ja, das ist ein alter Hut.«<br />

»Ich sage Ihnen jetzt, wer morgen seinen Hut nimmt. Das sind nämlich<br />

Sie. Sie haben sich bei diesem Risiko mit fünf Millionen Franken Sicherheit<br />

abspeisen lassen. Die Bank haftet für die Deckung der Differenz.<br />

Das wäre Ihre Sache und Ihr Kopf, aber drei Millionen dieser Sicherheit<br />

sind von der Caratus AG und das haben Sie gewusst...«<br />

Schmied hätte weiter geredet, doch er bekam keine Luft mehr. Dieser<br />

Zustand verschlechterte sich noch, als der Bankdirektor jetzt sagte: »Ja,<br />

die Börsen sind im Sommer gefallen, wer hätte schon gedacht, dass die<br />

Weltmärkte zu spinnen anfangen. Man hat allgemein auf eine Sommerrallye<br />

gesetzt.«<br />

Schmied atmete schwer. Er würde dieser Bank mit allen rechtlichen<br />

Mitteln drohen und sie würde letztendlich ohne Prozess, versuchen die<br />

Angelegenheit zu bereinigen. Ob er, Schmied, drei Millionen mehr oder<br />

weniger Vermögen besäße, war zweitrangig. Auch hatte er heute Mittag<br />

noch nicht einmal gewusst, was eine Put-Option sein soll. Aber das<br />

blöde Geschwätz dieses Dummkopfes mit seiner Bankkaufmannslehre<br />

raubte ihm den Atem.<br />

»Hören Sie«, drohte Schmied nun heiser, »es gibt noch eine Möglichkeit,<br />

wie Sie Ihren Hals aus der Schlinge ziehen und Ihren Hut retten<br />

können...«<br />

*<br />

Zürich, Mitte Dezember. Rolf Kessler hatte in den vergangenen zehn<br />

Tagen ganze Arbeit geleistet. Erstens hatte er die Kopfdaten aller Mitarbeiter,<br />

die auf sensible Daten der Greves-Technik nur im entferntesten<br />

Zugriff haben konnten, an Mercedes übermittelt und zweitens<br />

237


wurde die geheime Software für die Hochleistungsventilherstellung drei<br />

Mal kopiert. Frank W. hatte auf diese Prozedur bestanden, damit die<br />

entsprechenden Backups ebenfalls die präparierte Software enthielten.<br />

Quasi in letzter Sekunde war dem deutsch-ungarischen Programmierer<br />

nämlich eingefallen, dass er selbst immer nur ein Backup stehlen und<br />

nie die Originalsoftware kopieren würde. Die ganze geheime Welt der<br />

Greves war damit auf einem Datenträger, der bequem in jede Aktentasche<br />

passte.<br />

»Prost«, lächelte Frank gequält und hob die Tasse mit dem Hagenbuttentee<br />

an.<br />

»Mein Gott«, sagte Richard, »Sie sehen schrecklich aus. In solch einem<br />

Zustand ist ein Engländer, wenn er zehn Tage durchgesoffen hat.«<br />

Rolf Kessler fühlte sich innerlich wie James Bond, nachdem er die<br />

Welt vor dem Untergang gerettet hatte, und sagte nichts.<br />

»Es war ein verdammter Stress«, bekannte Frank und öffnete das Fenster<br />

seines Krankenzimmers. Nur Insider konnten dieses noch als solches<br />

erkennen. Der Laptop, den Richard zu Beginn der Aktion in die<br />

Klinik geschmuggelt hatte, war schnell mit zwei parallel geschalteten<br />

Hochleistungscomputern ergänzt worden. Dazu kam eine ganze Batterie<br />

weiterer Gerätschaften. Gegen eine entsprechende Zulage hatte der<br />

Pfleger sogar eine Sichtblende gegen neugierige Blicke hergezaubert.<br />

Chefarzt Oberdorf litt offenbar an partiellem Gedächtnisverlust, wurde<br />

doch der Patient auf keinem seiner Rundgänge mehr aufgesucht.<br />

Und während die Rauchschwaden von Franks Zigaretten aus dem<br />

Krankenzimmer in die kalte Novemberluft entwichen, sagte Richard:<br />

»Ich habe mir vorgestellt, dass dieser Laptop für so eine Arbeit ausreichen<br />

würde. Da klimpert man ein bisschen darauf herum und schon hat<br />

man seinen Virus. Also, wenn irgendjemand wieder einmal das Pentagon<br />

elektronisch ausspioniert, dann war das doch meist ein Pennäler<br />

und der Virus als Anhang in einer E-Mail versteckt.«<br />

»Ja«, atmete Frank tief durch, »solche Viren sind dann auch mit einfachen<br />

Programmen wieder unschädlich zu machen. Zwischen einem Virus<br />

und meiner Software liegen Welten.«<br />

Frank zeigte auf Rolf: »Es ist übrigens seine Software. Mit viel Mühe<br />

konnte er nur wenige Veränderungen feststellen. Erzählen Sie, Rolf!«<br />

Der lachte: »Ich entdeckte tatsächlich irgendwelche unsinnigen<br />

Schrittfolgen. Entfernt man sie jedoch, funktioniert das gesamte Programm<br />

nicht mehr. Ich kann mir theoretisch vorstellen, wie dies funktioniert,<br />

doch programmiert würde ich die Sache nie bekommen.«<br />

238


»Es ist wie gewünscht eine Maschine in der Maschine. Ein Parasit, der<br />

nicht von den Einzelteilen des Wirts lebt, sondern durch diese... Etwa<br />

wie eine Krebszelle.«<br />

»Bedrohlich«, sagte Richard, »kann man das Monster auch irgendwann<br />

wieder entfernen?«<br />

Frank schüttelte den Kopf: »Nur in dem Sie Soft- und Hardware in einen<br />

Hochofen stecken oder den beiden Maschinen einige richtige Befehle<br />

geben.«<br />

»Na, dann ist ja alles klar.«<br />

»Ich benötige noch einige Tausender. Die Krankenhausverwaltung ist<br />

der Auffassung, dass das gesamte Mobiliar durch meine Zigaretten entsorgt<br />

und das Zimmer renoviert werden müsse.«<br />

»Warum dies, die anderen Patienten rauchen doch auch«, wunderte<br />

sich Richard, »aber wenn’s sein muss. Früher hatte man die Zimmerwände<br />

gleich gelb gestrichen. Aber Sie bleiben ja noch, die Alkoholentziehungstherapie<br />

hat noch gar nicht begonnen. Wenn ich mich erinnere,<br />

wie Sie sich in Ungarn zum Penner heruntergesoffen haben...«<br />

»War’s denn so schlimm?«<br />

»Schlimmer!«, bestätigte Richard.<br />

*<br />

Gegen zehn Uhr am anderen Morgen war bei der Greves AG eine Besprechung<br />

angesetzt. Geladen waren Samuel Rüegg, Urs Flückiger, Dr.<br />

Kropf, natürlich Rolf Kessler und die beiden Betriebsleiter der Produktion.<br />

Die Leitung hatte der Chef, Willy Kessler.<br />

»Meine Herren«, begann der alte Kessler, »Richard hat sich schon bei<br />

denen vorgestellt, die ihn noch nicht kannten. Ich kann mich deshalb<br />

kurz fassen. Er wird Ihnen nun die neuen, angeblich besseren Sicherheitsvorkehrungen<br />

erklären, die wir für die Drehfräsemaschinen implantieren<br />

wollen. Ich stelle fest, dass über dieses Projekt mit zwei Wochen<br />

Verspätung endlich berichtet wird. Bitte, Richard!«<br />

Kessler war derart verärgert und nervös, dass er am liebsten Richard<br />

Hausverbot erteilt hätte und seinen Sohn entlassen. Erstens hatte er darauf<br />

bestanden, vorab in die vorgesehenen Maßnahmen eingeweiht zu<br />

werden und zweitens betrachtete er diese als derart banal, dass er sich<br />

fest vorgenommen hatte, Richards horrende Kostennote nicht zu bezahlen,<br />

sondern es auf einen Rechtsstreit ankommen zu lassen. Natür-<br />

239


lich war er erfahren genug, dies hier nicht kundzutun, man würde ja<br />

noch früh genug erleben können, wie die Sache zum Reinfall würde.<br />

Richard stand auf, bedankte sich für das Vertrauen und fing an zu dozieren.<br />

Auf dem Tisch lag ein Stapel CDs in Coverhüllen und Richard<br />

verkündete, dass dies das mühsam konstruierte Codewortprogramm<br />

wäre, das Rolf, wenn das Hauptprogramm in drei, vier Tagen Produktionsreife<br />

hätte, in die Anlage zusätzlich einspielen würde.<br />

»Lässt sich das auch wieder entfernen?«, fragte Flückiger. »Und vor<br />

allen Dingen darf es die Funktionsweise nicht beinträchtigen.«<br />

Richard beruhigte: »Selbstverständlich wird hier ein Cleanprogramm<br />

hinterlegt, das spätestens dann gebraucht wird, wenn die Maschinen bei<br />

den zahlenden Endkunden aufgestellt wurden. Denn wir wollen ja keine<br />

Software herausgeben, die mit einem Virus verseucht ist.« Richard<br />

lachte, doch niemand lächelte mit. Kropf war vollkommen ruhig,<br />

träumte wohl von seinem Ei und hatte nicht vor, hier durch Aussagen<br />

zu verdeutlichen, dass er von Technik keine Ahnung hätte.<br />

»Nun zum eigentlichen Aspekt«, erklärte Richard wichtig und holte zu<br />

einem ellenlangen, gestelzten Vortrag an. Schon nach wenigen Minuten<br />

schnappten die Zuhörer nur noch einzelne Fetzen auf: »Die Software<br />

selbst ist ja bereits Kennwort geschützt und darüber hinaus... Auch dieser<br />

Mikrochip muss jedoch hergestellt und programmiert werden... nur<br />

das Operatorpasswort... entsprechende Umschläge mit einer CD... die<br />

Software kann nur mit meinem zusätzlichen Sicherheitsprogramm betrieben<br />

werden... also keinesfalls verlieren...«<br />

Auch Willy Kessler hatte sich schläfrig zurückgelegt und sagte nun<br />

halblaut zu Rüegg: »Da kann ich dann so einen armen Betriebsleiter auf<br />

Schadenersatz verklagen, weil er seine CD verlegt hat. Wenn er kein<br />

Geld hat, wird das unserem Unternehmen auch nichts mehr nützen.«<br />

Rolf hatte den Stapel Umschläge genommen und wahllos Namen und<br />

Operatorkennzahl oben rechts vermerkt und teilte sie wieder aus.<br />

»Besonders die Herren vom Vorstand sollten nun nicht ihre Kuverts in<br />

den firmeneigenen Tresor legen. Denn stets dann, wenn ein Dritter zu<br />

diesem Entschlüsselungscode Zugang hat, kann nicht mehr gewährleistet<br />

werden, dass der Kopierschutz funktioniert«, warnte Richard der<br />

Unternehmensberater.<br />

Urs Flückiger bemerkte gähnend: »Sollte ich ein Problem haben, werde<br />

ich sofort den Rolf holen und mich diskret abwenden. Da können Sie<br />

sicher sein. Ich lasse mir doch nichts anhängen.«<br />

»Ich bin mir sicher«, log Richard, »dass niemand von hier ein Problem<br />

haben wird. Weil niemand der Anwesenden ein Interesse daran haben<br />

240


könnte, das Unternehmen zu ruinieren. Ich rate deshalb den Herren, die<br />

diesen Entschlüsselungscode sowieso nie benötigen werden, ihn in ein<br />

Bankschließfach zu legen.«<br />

»Was sagen Sie dazu, Urs?«, fragte der alte Kessler seinen Betriebsleiter<br />

Flückiger.<br />

Der schüttelte zweifelnd den Kopf: »Ich weiß nicht. Geben Sie mir eine<br />

Woche Zeit und ich habe das zusätzliche Kennwort auch geknackt.<br />

Aber mir soll’s recht sein. Wenn nun jemand die fast fertige Software,<br />

wie sie derzeit installiert ist, bereits kopiert hat, ist sowieso alles zu<br />

spät. Wäre ich der Täter, würde ich ja nicht warten, bis einer die Selbstschussanlage<br />

montiert hätte, sondern die Juwelen klauen, bevor alles<br />

gesichert ist.«<br />

»Das ist natürlich eine mögliche Sicherheitslücke«, räumte Richard<br />

verlegen ein, »doch ich gehe davon aus, dass der Täter nur an fertiger<br />

Software Interesse hat.«<br />

Richard bemerkte, wie Willy Kessler verärgert und enttäuscht sein Gesicht<br />

verzog. Irgendwann sagte er dann genervt: »Gut oder schlecht, der<br />

Täter ist ja keine Putzfrau und wenn mir die Prints gestohlen werden,<br />

schreiben Fachleute die Softwarelücke nach, die sich durch dieses zusätzliche<br />

Kennwort eventuell ergibt. Hier haben Sie meinen Umschlag,<br />

nicht dass ich noch aus meinem eigenen Betrieb entlassen werde.«<br />

Richard lehnte ab: »Es steht Ihnen frei, Ihr Kuvert hier zu schreddern.<br />

Aber ich denke, das ist nicht der richtige Weg.«<br />

»Das müssen Sie mir überlassen«, murrte Kessler feindlich und ging<br />

mit dem Umschlag in Richtung Schredder, winkte dann aber ab und<br />

steckte ihn doch ein. Damit war die Besprechung dann auch beendet.<br />

Da hatte Richard schon angenehmere und weniger peinliche Vorträge<br />

gehalten und machte, dass er davon kam.<br />

Kropf rannte ihm nach: »Richard, bleiben Sie stehen, ich möchte Sie<br />

küssen. Sie sind ja ein Genie, das mit der Bankbürgschaft in Prag ist gelaufen.«<br />

»Dann können Sie auch seine Rechnung bezahlen«, murrte der alte<br />

Kessler im Vorbeigehen. Nie wieder, das hatte er sich bereits vor Wochen<br />

geschworen, käme ihm so ein versnobter Unternehmensberater ins<br />

Haus.<br />

Kessler war schon halb den Flur hoch gelaufen, da drehte er sich nochmals<br />

um, das Klicken seines Feuerzeuges hallte im Flur. Mit der brennenden<br />

Zigarette in der Hand kam er auf Richard und Kropf zu und<br />

fuchtelte mit dieser vor Richards Gesicht herum: »Wissen Sie was? Da<br />

ihr beiden euch so gut versteht... Ich lasse mich nicht länger verarschen<br />

241


und schmeiße dem schlechten Geld nicht noch gutes hinterher. Sie sind<br />

gekündigt! Geben Sie mir sofort die dreizehn CDs. Und Sie, Kropf,<br />

machen mit ihm einen Auseinandersetzungsvertrag. Sonst müssen wir<br />

uns ebenfalls trennen. Zuerst hat der Herr Privatdetektiv nämlich Sie<br />

verdächtigt. Nur sich selbst verdächtigt er nicht. Ich habe jedoch die<br />

Vermutung, dass der englische Gentleman nur im Rechnungen schreiben<br />

ein besonders gutes Händchen hat, ansonsten produziert er lediglich<br />

Bullshit, mit dem man mein Dienstmädchen und meinen Herrn<br />

Sohn beeindrucken und abschrecken kann, aber keine Kriminellen.«<br />

Richard erinnerte sich daran, dass er schon ganz anderen Figuren aufs<br />

Maul gehauen hatte, fuchtelten sie zu nahe vor seinem Gesicht herum.<br />

Doch in diesem Falle entschloss er sich zu einem Lächeln, öffnete seine<br />

Tasche und übergab die restlichen CDs.<br />

»Ja«, sagte Kessler mit dem Stapel Umschläge in der Hand, »im Spesen<br />

machen ist er der Herr ein Genie.«<br />

Richard hatte volles Verständnis dafür, dass keiner ihn verstanden hatte<br />

und gähnte unangemessen laut. Und Kropf war die ganze Angelegenheit<br />

erkennbar peinlich gewesen, doch er würde natürlich einen Teufel<br />

tun, in dieser Sache nicht voll und ganz Kesslers Interessen zu vertreten.<br />

Und so musste Kropfs Kanzleidiener einen entsprechenden Standardvertrag<br />

umarbeiten und fragte bei jeder Klausel, die Richard ein Stück<br />

an den Galgen heranführte, nochmals bei seinem Chef nach.<br />

Der Engländer wartete unterdessen zahm auf dem schwach gepolsterten<br />

Mandantenstuhl ohne Armlehne wie ein Sünder auf das Urteil. Die<br />

sogenannte Auseinandersetzungsvereinbarung war dann auch um einige<br />

Grade schrecklicher als ein Todesurteil durch Erhängen.<br />

»Also«, entschuldigte sich Kropf, »wenn Sie einer langwierigen Schadensersatzklage<br />

von der Greves entgehen wollen, dann müssen Sie das<br />

unterschreiben. Immerhin bekommen Sie so noch zehntausend Franken<br />

in bar. Kessler meint, er bezahle nur dann das ursprünglich vereinbarte<br />

Honorar, wenn sämtliche Aufträge, nämlich der NASA, der Chemotechnica<br />

in Kiew und der Insektikill bezahlt würden. Spätestes im März<br />

nächsten Jahres wird er ja wissen, ob er die 740 Millionen im Kasten<br />

hat oder die Herrschaften bei der Konkurrenz Kunden geworden wären...«<br />

Der Advokat schaute Richard wissend an: »Der Kessler braucht die<br />

Bestellungen, sonst macht es Peng und die Klitsche meldet Insolvenz<br />

an. Was präsentieren Sie da auch für einen Mumpitz. Wenn Ihre Methode<br />

dann doch nicht funktioniert und das Geschäft platzt, sind Sie<br />

242


über alle Berge in England, haben aber das Honorar kassiert. Und ist<br />

das Unternehmen erst einmal insolvent, bin ich der Insolvenzverwalter...«<br />

Kropf dachte weiter: »Ich würde doch dann nicht nach englischem<br />

Recht jahrelang dem bezahlten Honorar nachklagen wollen.«<br />

»Einmal fängst du den Bären, ein anderes Mal er dich«, lächelte Richard<br />

gequält und unterschrieb. Kropf gab ihm einen bereits von Kessler<br />

unterschriebenen Barscheck über zehn tausend Franken und Richard<br />

quittierte den Empfang.<br />

»Ich habe Sie allerdings nicht gekündigt, Richard«, versuchte Kropf zu<br />

trösten. »Sie machen bei der Fabergé-Sache natürlich noch mit.«<br />

»Sicherlich!«, sagte Richard und stand auf.<br />

»Ich habe mir überlegt«, erklärte Kropf, »wir machen die Übergabe am<br />

24. Dezember. Ich hasse Weihnachten. Diese innigliche Wärme, dieser<br />

vorgeschobene Friede unter den Menschen und das ganze übrige Geklingel<br />

hängt mir zum Halse raus. Ich habe ja schon lange eine gute<br />

Freundin...« Der Schrumpfkopf kam näher heran und flüsterte: »Es ist<br />

die Geschiedene vom Weltmeister. Die hängt an Weihnachten regelmäßig<br />

durch und da tue ich dem Weib einen Gefallen und nehme sie mit<br />

nach Prag. Was halten Sie davon? Ich bekomme das Ei am Abend im<br />

Hotel und besorge es ihr mal wieder so richtig, dann fühlt die sich wie<br />

die Jungfrau Maria kurz vor der Empfängnis - vielleicht nicht ganz so<br />

unbefleckt...«<br />

Kropf schlug sich vor Lachen auf den Oberschenkel. Auch eine Version<br />

der Weihnachtsgeschichte, dachte der Agent und hätte liebend<br />

gerne zur Überbrückung noch eine Weile den heiligen Josef, diesen<br />

Zimmermann, gespielt.<br />

»Juristisch«, fragte Richard, »ist dieser Josef aus Nazareth der Scheinvater?«<br />

»Volltreffer!«, lachte Kropf, »Sie sind schon ein halber Jurist. Aber sagen<br />

Sie mal, wie kommen Sie nun gerade auf den?«<br />

»Die Geschichte haben Sie angeschnitten. Eine freudsche Verirrung?«,<br />

lachte Richard und ging zur Tür.<br />

Im Treppenhaus tänzelte Reinhold um ihn herum. »Warum haben Sie<br />

das denn unterschrieben? Hätten Sie sich Bedenkzeit erbeten, ich hätte<br />

Ihnen heute Nacht helfen können, die Sache in Ihrem Sinne hinzubiegen«,<br />

flüsterte das Bleichgesicht.<br />

243


»Das weiß ich zu schätzen«, lachte Richard. »Ist eigentlich Ihr Freund,<br />

den Sie mir als Schatten nach Prag und Bratislava hinterher geschickt<br />

haben, wohlbehalten zurück?«<br />

Der Kanzleigehilfe war geschockt, lächelte dann verlegen und sagte<br />

kleinlaut: »Ich wollte Sie doch schützen...«<br />

»Ist er nun zurück oder nicht?«, kürzte Richard die Diskussion ab.<br />

Reinhold nickte: »Gesehen habe ich ihn noch nicht, aber wir haben erst<br />

gestern miteinander telefoniert.«<br />

Für einen Augenblick wurde Richard skeptisch, kratzte sich verlegen<br />

am Kopf, wollte noch etwas fragen, winkte dann aber ab und mahnte<br />

ärgerlich: »Auf mich aufpassen kann ich allein. Spielen Sie nicht meine<br />

Mutter.«<br />

Und bevor Reinhold etwas erwidern konnte, drückte ihm der Agent<br />

den eben erhaltenen Scheck in die schwulstigen Finger. »Für Ihre Hilfe!<br />

Und ich hoffe, Sie informieren mich auch die nächsten Tage über alles<br />

Wesentliche. Keine Schutzengel! Sie konzentrieren sich bitte auf die<br />

Informationsbeschaffung.«<br />

Reinhold wäre beinahe in Ohnmacht gefallen. Und bei Kropf im Büro<br />

hörte man eben den Refrain der nächsten Strophe des Soldatenliedes:<br />

»Wovon kann der Landser denn schon träumen,<br />

Er träumt von seiner Jugendzeit,<br />

Wo in seinen liebvertrauten Räumen<br />

Die Mutter ihn betreut.«<br />

So war der Fall endlich auf gutem Weg und es blieb gar noch ein wenig<br />

Zeit übrig. Richard rief den aufgetauten Eisvogel im Geschäft an:<br />

»Maria? Hier ist der heilige Josef. Es weihnachtet sehr.«<br />

Agnieszka verstand den Witz nicht und es wäre der gebürtigen Polin<br />

nie im Traum eingefallen, dass dieser biblische Josef vielleicht doch eine<br />

andere Rolle gespielt haben könnte, wie in der Bibel dokumentiert.<br />

»Mein Liebes«, ging deshalb Richard nicht näher auf ihre Fragen ein,<br />

»ich muss dich eine gewisse Zeit verlassen. Man hat mir den Greves-<br />

Auftrag gekündigt und das Geld ist mir auch ausgegangen.«<br />

»Ich kann dir gerne aus einer Verlegenheit helfen«, sagte Agnieszka<br />

sofort, was Richard nicht schlecht gefiel, »der Meister hat mir nämlich<br />

vor ein paar Tagen 10.000 Franken vorbei gebracht. Er machte wohl einen<br />

sehr zerknirschten Eindruck, aber immerhin.«<br />

»Ich weiß«, lächelte Richard.<br />

244


»Ach so, du stecktest dahinter. Dann ist es doch nicht mehr als Recht,<br />

wenn ich dir nun auch aushelfe...«<br />

Der Agent sagte, in Anbetracht dessen, dass er eben selbst eine solche<br />

Summe verschenkt hatte, nichts mehr.<br />

Bis Madame im Hotel vorbei rauschen konnte, dauerte es noch etwas<br />

und Richard nutzte die Zeit, mit Mercedes zu telefonieren. Sie selbst<br />

hatte noch ein paar Mal mit Schmied, dem Hauptaktionär der Caratus<br />

AG und Honorarkonsul in spe, gesprochen und war nun vollkommen<br />

von dessen Kooperationsbereitschaft begeistert.<br />

»Wenn ihr heiratet, sagst du mir Bescheid«, murrte Richard.<br />

»Solltest du die Frau Direktorin nochmals treffen, dann unterrichte sie<br />

bitte entsprechend«, bat Mercedes.<br />

»Pah«, nörgelte Richard gequält, »dann muss ich da jetzt auch noch<br />

vorbei gehen und ich wollte doch morgen früh abreisen.«<br />

»Mein großer Siegfried im Untergrund, du hast mein volles Mitgefühl.«<br />

*<br />

St. Petersburg, Mitte Dezember. Nach dem entscheidenden Deal mit<br />

Friedrich Meister besuchten der Kunsthistoriker Pjotr Alexandrowitsch<br />

und sein Schatten Victor den greisen Pater Grigorij in Schlüsselburg.<br />

Die St. Nikolauskirche war durch den immensen Schneefall der letzten<br />

Tage nicht zusammengebrochen.<br />

Als der Pater jedoch Victor an der Seite seines potentiellen Wohltäters<br />

entdeckte, ging ein Beben durch seinen Körper. Ihm war klar, dass dieser<br />

Begleiter vom Geheimdienst war und dass nun für ihn und seine<br />

Kirche kein Geld mehr übrig sein würde. Doch aus für den Pater unerfindlichen<br />

Gründen lächelte der Fremde freundlich. Auch der ihm bekannte<br />

Pjotr Alexandrowitsch machte einen entspannten und keinen erpressten<br />

Eindruck. Viele Bekannte des Paters waren in der dunklen Zeit<br />

der Sowjetherrschaft plötzlich bei ihm mit einem Fremden erschienen<br />

und allen hatte man angesehen, dass jedes ihrer geäußerten Worte abgepresst<br />

war.<br />

Offensichtlich war es dieses Mal nicht so, obwohl Pater Grigorij seine<br />

Kutte verwettet hätte, dass dieser Unbekannte ein, zumindest ehemaliger,<br />

KGB-Offizier war.<br />

Auch Victor war der Schock, der durch den Pater ging, nicht entgangen.<br />

Aber was sollte er machen. Der Priester hatte vor allem nichts zu<br />

245


efürchten. Im Gegenteil. Der ehemalige Kurator übergab dem Pater<br />

den Einzahlungsbeleg über 100.000 Dollar mit dem Vermerk »Stiftung<br />

St. Nikolaus«. Das war mehr als ein Wunder, das war ein Gottesbeweis.<br />

Endlich konnte das Kirchlein renoviert werden und in die Sakristei eine<br />

Heizung eingebaut. Ehrwürdig verbeugte sich der Pater vor diesen Heiligen<br />

Drei Königen und es störte ihn keineswegs, dass diese nur zu<br />

zweit kamen und einige Wochen vor der Zeit.<br />

»Dürfen wir nun, verehrter Pater, das Objekt unseres Interesses mitnehmen?«,<br />

fragte Pjotr Alexandrowitsch demütig. In der letzten Zeit<br />

hatte er immer wieder erfahren müssen, dass die Dinge erstens anders<br />

und zweitens als man dachte abliefen.<br />

»Ich weiß nicht«, meinte der Pater nachdenklich. »Eigentlich ist die<br />

Blechbüchse trotz ihres wenig spektakulären Inhalts ein wertvolles Andenken<br />

an der großen Pater Gawriil. Ich wollte zumindest die Dose behalten.«<br />

Der Kunsthistoriker war planmäßig entsetzt.<br />

»Möchten Sie nicht lieber einen anderen Gegenstand auswählen?«,<br />

meinte der Pater.<br />

Die beiden nickten achselzuckend mit Pokergesicht und zeigten anscheinend<br />

wahllos auf ein verstaubtes Objekt.<br />

»Bitte schön, das Stück ist nicht geweiht, es steht hier sowieso nur<br />

herum. Haben der Herren daran einen Gefallen gefunden?«<br />

»Na ja... Hauptsache, wir tun Ihrer Kirche etwas Gutes», lachte Victor<br />

vergnüglich und nahm sich das lange gesuchte Ei aus dem Regal, in<br />

dem auch allerlei anderes Blech achtlos gelagert war, »der Kapitalismus<br />

ist die christliche Legitimation des Faustrechts. Gehört man zu den<br />

Gewinnern wie Sie, Pater, dann ist er auch ein Segen.«<br />

»Das ist beim Faustrecht aber ebenso«, murmelte der Pater und schaute<br />

mit einer Mischung zwischen Angst und List zu den beiden Besuchern<br />

hoch.<br />

Doch diese verabschiedeten sich höflich mit einem »Grüß Gott«, bestiegen<br />

ihr Auto und fuhren davon. Während der Pater mit wehender<br />

Kutte, mehr rutschend als rennend, die Straße hoch rannte, um sich zu<br />

vergewissern, dass die 100.000 Dollar auch tatsächlich auf sein Stiftungskonto<br />

einbezahlt worden waren, sagte Pjotr Alexandrowitsch zu<br />

Victor: »Dieser Pater hatte Angst!«<br />

Victor lachte schallend: »Ja, natürlich, mein lieber Pjotr Alexandrowitsch,<br />

der befürchtet, dass wir es uns noch einmal anders überlegen<br />

würden. Und diese Befürchtung kann ich im Angesicht der Tatsachen<br />

gut verstehen.«<br />

246


Victor holte das Ei aus seiner weiten Manteltasche, warf es von einer<br />

Hand in die andere und sagte: »Dieses Ding sieht aus wie eine große<br />

Handgranate, nur dass kein Sicherungsstift den großen Knall verhindern<br />

kann.«<br />

Pjotr Alexandrowitsch trank den Rest aus seinem großen, silbernen<br />

Flachmann. »Ahh«, machte er, »Sie, Victor, schauen, dass uns niemand<br />

verfolgt und ich fahre uns durch die Hölle.«<br />

»Ja«, lachte der ehemalige Geheimpolizist, »Sie brauchen aber deshalb<br />

keine Haken wie ein Hase zu schlagen.«<br />

»Ich fahre gerade«, beteuerte Pjotr Alexandrowitsch und steckte sich<br />

den leeren Flachmann in die Manteltasche.<br />

*<br />

Palma de Mallorca, Mitte Dezember. Obwohl der theoretisch bankrotte<br />

Kropf für die Anzahlung in St. Petersburg 150.000 Dollar hatte aufbringen<br />

müssen, zeigten sich auf den beobachteten Bankkonten keinerlei<br />

Transaktionen. Wider Erwarten hinterließen die Gelder keine Schleifspuren.<br />

Richard hatte erwartet, dass von irgendwo diese Beträge auf<br />

Kropfs Konten überwiesen würden, doch Fehlanzeige auf der ganzen<br />

Linie. Kropf schien die Franken und Dollar selbst zu drucken, von der<br />

Bank kamen sie jedenfalls nicht.<br />

Sir Alec meldete, dass bei der durch Follmann ausspionierten<br />

Transtecco GmbH ebenfalls keine Anzeichen zu verzeichnen waren,<br />

dass von dort das Geld transferiert wurde.<br />

Über Reinhold, den Assistenten, war man sich beinahe sicher, dass<br />

Kropf keine weiteren Bankkonten unterhielt. Denn eine über zehnjährige<br />

Assistententätigkeit hinterlässt Marken, die sich besonders schikanierte<br />

Mitarbeiter gelegentlich auch notieren.<br />

Richard hieb mit der Hand auf den Tisch. »Da muss eine Stange Bargeld<br />

die Hand gewechselt haben. Sonst ist mir der Geldsegen nicht erklärbar.«<br />

»Und wer ist der uneigennützige Sponsor?«<br />

»Warum uneigennützig? Kropf hat das Geld als Vorschuss von dem<br />

Spion innerhalb der Greves erhalten. Besonders nach meinem Vortrag,<br />

wusste der Spion, dass die Sicherheitsmaßnahmen ihn nicht davon abhalten<br />

könnten, sein mieses Geschäft abzuschließen.«<br />

»Das würde bedeuten, dass der Spion von Kropf abhängig ist«, analysierte<br />

Mercedes.<br />

247


»Okay, machen wir eine kleine Rechnung«, nahm Richard den Faden<br />

auf. »Ich schätze das Geschäftsvolumen der neuen Produktlinie auf 500<br />

Millionen Euro. Daraus deckt die Greves vor allem die horrenden Entwicklungskosten<br />

und erzielt den überlebenswichtigen Gewinn. Zusammen<br />

müssen so über 150 Millionen Euro zusammenkommen.«<br />

Mercedes atmete tief und spitzte den Mund. »Der Handelsspielraum<br />

zwischen Dieb und Endabnehmer beträgt demnach 150 Millionen oder<br />

auch mehr, weil der Forschungsaufwand für die Kopisten ja nicht anfällt.<br />

Aber bereits ein Bruchteil davon genügt, um die Greves entscheidend<br />

zu unterbieten.«<br />

»Und da liegen natürlich erhebliche Provisionen an Spion, Hehler und<br />

Makler drin. Da kann man schon einmal eine Million Vorschuss zahlen«,<br />

ergänzte Richard die Logik und klopfte vor allem sich selber auf<br />

die Schulter.<br />

»Aber gehen wir zurück zu den uns bekannten Bankverbindungen.<br />

Gibt es da etwas Neues?«<br />

»Noch nicht wirklich«, lachte Mercedes. »Der Hauptanteilseigner von<br />

Caratus, dieser Schmied, dem wir eine Honorarkonsulstelle des Britischen<br />

Empires angeboten haben, versucht übrigens, den verantwortlichen<br />

Bankdirektor auszunehmen. Man nennt das in bestimmten Kreisen<br />

auch Erpressung.«<br />

»Ja«, bestätigte Richard, »bei Caratus hat sich Schmied in der Zwischenzeit<br />

persönlich gemeldet und die ausstehenden Löhne aus der Hosentasche<br />

bezahlt.«<br />

»Er hat sich bereit erklärt, insoweit mit uns zusammenzuarbeiten, wie<br />

es ihm dabei hilft, diesen Kropf zu entmachten«, ergänzte Mercedes.<br />

»Das Essen ist fertig!«, strahlte Isabella und stieß die Schwingtür von<br />

der Küche zum Büro auf.<br />

»Nein, nicht schon wieder Ölsardinen!«<br />

248<br />

*<br />

Eine Woche vor Weihnachten sagte die gleiche Isabella an der Tür der<br />

Palma Management übrigens zu einem älteren, gutsituierten Herrn:<br />

»Wir geben nichts!«, und drückte die Tür wieder ins Schloss zurück.<br />

Sir Alec war überhaupt nicht amüsiert und es dauerte einige Zeit, bis<br />

Richard und Mercedes den Alten wieder beruhigt hatten.


»Sie müssen verstehen, Sir«, meinte Richard, »hierzulande kommen<br />

die Sternsinger hintereinander zum Singen und in England in Gruppen.«<br />

»Was sind das überhaupt: Sternsinger? So etwas wie Astrologen?«,<br />

fragte der Alte.<br />

»Yes, Sir!«, sagten Mercedes und Richard wie aus der Pistole geschossen.<br />

Dann packte Sir Alec ein merkwürdiges Geschenk aus.<br />

»Ich werde aber kein Gedicht aufsagen wollen«, frotzelte Richard.<br />

»Und wenn wir dich sehr darum bitten?«, feixte Mercedes. »Wie hieß<br />

doch das schöne Lied von Kropf?«<br />

Das konnte Richard fast auswendig. Es war wohl in Deutsch, aber<br />

zwei Stunden bei Kropf und 30-maliges Anhören hinterlassen auch bei<br />

Engländern ihre Spuren.<br />

»Wovon kann der Landser denn schon träumen,<br />

da, da, da,<br />

dann wird auch schon gebummert,<br />

BUMS! Dann heißt es raus...«<br />

»Sehr gut, Richard«, lobte der Sir, entfernte einen Rest Papier von seinem<br />

Mitbringsel und sagte: »Hier ist nun das BUMS, vor dem die<br />

Himmel erzittern und die Erden sich neigen...«<br />

»Großer Gott«, entfuhr es Richard und konnte es kaum fassen, was der<br />

Sir da ausgepackt hatte.<br />

*<br />

Einen Bums ganz anderer Art machte es am Verfallstag der geschriebenen<br />

Verkaufsoptionen zwei Tage später. Die Aktien, auf die Kropf<br />

seine 600.000 Verkaufsoptionen geschrieben hatte, notierten durchschnittlich<br />

mit 9,40 Euro Differenz unter dem Basispreis. Kropf hatte<br />

damit 3,84 Millionen Euro verzockt und in der Gegenrechnung 1,84<br />

Millionen des unterschlagenen Geldes der Caratus AG. Denn die eigenen<br />

zwei Millionen waren damit weg.<br />

Doch still ruhte der See, der Eisvogel schlief ruhig, weil Hauptaktionär<br />

Schmied ihm die Treue geschworen hatte, nur hätte die Palma Management<br />

gerne ein kaum hörbares Flüstern in Form einer Geldtransaktion<br />

wahrnehmen wollen. Vergebens.<br />

Laut Reinhold spielte Kropf sein Soldatenlied weiter, sang kräftig mit<br />

und war guter Dinge.<br />

249


Irgendwann muss der Eisvogel dann aufgewacht sein und hatte Richard<br />

angerufen. »Liebling«, eröffnete Agnieszka das Gespräch, »dieser<br />

fürchterliche Kropf will mich am Heiligen Abend nach Prag verschleppen.<br />

Ich muss kotzen, wenn ich nur daran denke.«<br />

»Womit sich die Weisheit bestätigen sollte, dass Frauen immer nur an<br />

das eine denken«, schloss Richard messerscharf, denn neu war die<br />

Nachricht für ihn ja nicht.<br />

»Warum legt ihr ihm nicht das Handwerk? Und jetzt machst du auch<br />

noch Späße mit mir.«<br />

»Ich spaße nicht, mein kleines, aufgetautes Eisvögelchen, sondern sagte<br />

dir bereits vor Tagen, ich bin der Josef und Kropf spielt am Heiligen<br />

Abend den lieben Gott.«<br />

Agnieszka wurde ärgerlich: »Höre mit dem Quatsch auf. Ich verstehe<br />

das nicht. Was erzählst du denn stets für Geschichten?«<br />

»Wovon soll der Landser da schon träumen? Er wartet, bis dass Urlaub<br />

ist, weil er dann, statt nur davon zu träumen, die Liebste selber küsst«,<br />

kannte Richard inzwischen auch die letzten Sätze des Soldatenliedes.<br />

»Kennt das Kropf auch?«<br />

»Ja, natürlich, von ihm habe ich ja das Liedchen.«<br />

»Du bist gemein!«<br />

250<br />

*<br />

Victor besuchte derweil in Prag die russische Sauna. Er hatte Pjotr<br />

Alexandrowitsch versprochen, rechtzeitig zum vereinbarten Termin<br />

nach Russland zurückzukommen.<br />

Im Dampfbad setzte sich dann ein Bulle neben seinen gestählten Körper<br />

und sagte: »Victor? Du hier?«<br />

Da Victor den Bullen nicht kannte, ihn aber sofort richtig einschätzte,<br />

fragte er nur: »Was gibt’s?«<br />

»Ich soll dir schöne Grüße von Babic bestellen.«<br />

Daher wehte also der Wind. Als hätte Victor auf diese Überraschung<br />

nur gewartet, sagte er ohne Schrecksekunde: »Ist es dem alten Walross<br />

doch noch eingefallen?«<br />

»Babic fragt an, ob du wieder nüchtern bist. Noch ist er bereit halbehalbe<br />

zu machen, fair und ohne doppelten Boden«, dampfte der Bulle<br />

nebenan.<br />

»Sag’ ihm, es geht um maximal 500 Dollar. Wenn er wirklich darauf<br />

besteht, kann er von mir die Hälfte abhaben«, grinste Victor.


»Du hast wohl zu den Schlaumeiern gewechselt. Es geht um 500.000<br />

Dollar, wohlgemerkt für jeden. Und Babic hat schon wegen weit geringeren<br />

Beträgen einem Bären das Fell durchschossen.«<br />

»Eben«, sagte Victor, »dann soll er mir glauben und wegen der paar<br />

Cent nicht mit der gesamten Armee anrücken. Wenn alle zu spinnen anfangen,<br />

kommt nichts Gutes dabei heraus.«<br />

Der Bulle schnaubte und schüttelte seinen fetten Kopf: »Diese blöde<br />

Geschichte glaubt dir Babic bestimmt nicht. Du kannst es dir ja noch<br />

einmal überlegen.«<br />

Die Dampfbaderscheinung stand auf und hielt ihr Handtuch fest: »Frohe<br />

Weihnachten!«<br />

»Auch das noch!«<br />

*<br />

St. Petersburg, 23. Dezember. Zur Bescherung war Victor dann rechtzeitig<br />

nach St. Petersburg zurückgekehrt. Im Europa-Hotel, wo der<br />

Tscheche übernachtete, herrschte bereits festliche Stimmung. Nirgends<br />

sind Weihnachtsbäume so wundervoll wie in Hotels. Man sitzt an der<br />

Hotelbar und weiß genau, dass unter dem nebenstehenden Baum weder<br />

eingepackte Herrensocken liegen noch angebliche Seidenkrawatten aus<br />

Polyester.<br />

Auch ruft in der Regel keine beleidigte Schwiegermutter an, um ihr<br />

Leid zu klagen, dass sie dieses Jahr wieder nicht kommen durfte, wo sie<br />

doch so gerne einmal wieder die Enkelkinder gesehen hätte.<br />

»Oma«, hatte Victor gesagt, »erstens bin ich Heiligabend überhaupt<br />

nicht da, zweitens weiß ich nicht, ob ich die Festtage überlebe und drittens<br />

sind deine Enkelkinder seit drei Jahren außer Haus und melden<br />

sich bei mir nur noch, wenn sie Geld brauchen.«<br />

Jetzt meldete sich ein russischer Offizier in prächtiger Uniform der<br />

Luftwaffe bei Victor, indem er sich zu ihm an die Bar setzte. »Wann<br />

kommst du morgen mit deinem Passagier?«, sagte der Hüne unvermittelt<br />

und machte dem Barkeeper drei Finger. Das bedeutete nicht, dass<br />

der Russe eine Runde schmiss, sondern dass er einen dreifachen Wodka<br />

wollte.<br />

Victor trank einen Schluck Cola. »Ich komme überhaupt nicht, den<br />

Tausender Anzahlung schenke ich dir.«<br />

»Seit wann verschenkst du Geld?«<br />

251


»Weil morgen Weihnachten ist. Die Kapitalisten wollen es nächstes<br />

Jahr verbieten. Coca-Cola hat das Wort Weihnachten als Trademarke<br />

eintragen lassen. Kommt im Fernsehen das Wort Weihnachten, müssen<br />

jetzt alle an die Amerikaner Schutzgeld bezahlen. So wie bei der Bandenwerbung<br />

im Fußball. Das ist aber zu teuer, deshalb hat Putin jetzt<br />

das ganze Theater verboten.«<br />

»Red keinen Quatsch, morgen früh holen wir dich ab«, sagte der Offizier<br />

und trank seinen Wodka aus.<br />

Victor schüttelte den Kopf: »Im Ernst, ich fliege wohl noch nach Prag<br />

und mein Mann fliegt mit, aber ich kann sehr gut mit der Linienmaschine<br />

fliegen. Also spekuliere nicht auf die restlichen vier Tausender.<br />

Ich zahle nicht, weil sich die ganze Aktion in Luft aufgelöst hat.«<br />

Der Offizier lachte: »Blauer Dunst? Ja? Oder willst du den Preis handeln?«<br />

Victor drehte sich energisch zu diesem Typen um. Das war ja noch eine<br />

üblere Gesellschaft als die eigene Schwiegermutter. »Hör zu! Wie<br />

lange kennen wir uns? Zwanzig Jahre! Habe ich dich schon einmal<br />

betrogen? Also! Dann lass mich in Ruhe. Die Aktion ist abgeblasen und<br />

ich kann normal durch den Zoll gehen. Was soll ich dir dann noch viertausend<br />

bezahlen? Hast du das verstanden?«<br />

»Rege dich nicht auf«, beschwichtigte der Pilot, »aber wir fliegen sowieso<br />

nach Prag, hätten dich auch umsonst mitnehmen können.« Dabei<br />

grinste der Goldfasan wie ein Lebkuchenpferd.<br />

Victor zeigte dem Barkeeper nun auch drei Finger. »Also wolltest du<br />

mich betrügen?«<br />

Der Wodka kam und Victor kippte ihn in sein Glas mit der Limonade.<br />

»Dann sind wir quitt«, sagte der Offizier, »wir holen euch morgen früh<br />

ab und fliegen euch umsonst.«<br />

»Und der Tausender?«<br />

»Den hast du mir eben geschenkt.«<br />

252<br />

*<br />

In den 60er Jahren baute das tschechoslowakische Flugzeugwerk LET<br />

das zivile Passagierflugzeug L-410 Turbolet für Kurzstreckenverbindungen.<br />

Später entwickelte man daraus ein leichtes Transportflugzeug,<br />

für das auch das russische Militär Verwendung fand. Und ein solches<br />

Flugzeug stand auf dem hinteren Teil des St. Petersburger Flughafens<br />

bereit.


»Seit wann fliegt ihr denn tschechische Kisten?«, fragte Victor den Piloten<br />

und Quälgeist von gestern, als er und der Kurator dem Militärjeep<br />

entstiegen waren.<br />

»Ist kleiner als die Antonow und wir fliegen schon seit drei Jahren für<br />

die Tschechen.«<br />

»Die An-26 hätte ich ja zur Not noch herunter bekommen, aber mit so<br />

einem Vogel flog ich noch nie«, bekannte Victor und fragte dann: »Seit<br />

wann fliegt das russische Militär für die EU?«<br />

»Was glaubst du, warum wir Kampfanzüge ohne Rangabzeichen tragen?<br />

Wir fliegen privat!«<br />

»Ihr habt heute gar keinen Dienst?«, verstand Victor nicht.<br />

Der Pilot schüttelte den Kopf und streckte beide Hände aus: »Wenn<br />

hier der General kommt, dann entschuldigen wir uns, dass die Rangabzeichen<br />

fehlen...« Er winkte ab. »Aber der General ist weit. Wenn ein<br />

tschechischer Polizist oder tschechisches Militär kommen, sind wir ohne<br />

Rangabzeichen eine Privatgesellschaft für Transport, die sich das<br />

Flugzeug geliehen hat.«<br />

»Und wer bezahlt den Treibstoff?«, lachte Victor.<br />

»Niemand«, sagte der Russe. »Die Maschine ist vollgetankt und der<br />

Treibstoff reicht für hin und zurück im Prinzip nicht. Aber wir tanken<br />

in Minsk als Militär und lassen anschreiben.«<br />

»Na, toll«, lachte Victor und schob Pjotr Alexandrowitsch mit seiner<br />

Reisetasche beiseite. Um ein Haar hätte ihn ein Gabelstapelfahrer auf<br />

seine Hörner genommen.<br />

Wie Victor feststellte, war auch der Co-Pilot nüchtern. Denn den fragte<br />

er nun: »Was ladet ihr da?«<br />

Der Co-Pilot war wesentlich kleiner als Victors Bekannter und hatte<br />

einen verwegen erscheinenden, slawischen Gesichtsausdruck. »Chemie,<br />

irgendwas«, gab er zur Antwort.<br />

Am Rumpf des Flugzeugs unter der Tragfläche stand in russischer<br />

Schrift »Rauchen verboten«. Victor zündete sich eine Zigarette an. Es<br />

war als Tscheche auch von Vorteil, heute kein Russisch mehr können<br />

zu müssen. Trotzdem war der ehemalige KGB-Offizier alarmiert. Das<br />

waren keine Bomben, aber eine kleinere hätte man leicht darin verstecken<br />

können.<br />

Der Kunsthistoriker bemerkte Victors sorgenvolles Gesicht. »Das sind<br />

Zwischenablaufbehälter von einem Chemiewerk«, erklärte Pjotr Alexandrowitsch.<br />

»Da läuft oben die Flüssigkeit hinein, kann gestaut werden<br />

und unten wieder hinaus. Solche Behälter gibt es in entsprechenden<br />

Werken hunderte.«<br />

253


»Und die sind etwas Wert?«, wollte Victor wissen.<br />

»Schrottwert, da werden einige darunter sein, die sind aus Chrom-Nickel-Stahl<br />

und ich kann mir denken, dass die bei uns achtlos irgendwo<br />

herumlagen. Da sie außen grün angestrichen sind, kümmert sich doch<br />

niemand darum, dass da ein paar Tausender vor sich hingammeln. Rosten<br />

tun sie ja nicht.«<br />

Bald darauf flog man mit zehn dieser Chemiegefäße mit Sichtglas in<br />

Richtung Süden. Eine Strecke war ca. 1.400 Kilometer lang. Die reine<br />

Flugzeit hätte vier Stunden betragen, doch man musste mit etwa einer<br />

Stunde Aufenthalt in Minsk rechnen.<br />

»Wir fliegen immer geradeaus. Militärische Sperrbezirke gelten für<br />

uns nicht und zivile Vorschriften sind uns egal. Die sollen das Kennzeichen<br />

aufschreiben, großer Bruder zahlt nie«, schrie der Pilot nach hinten.<br />

Bis Minsk ging es denkbar schnell, denn Victor war eingeschlafen.<br />

Kaum waren sie in Minsk wieder gestartet und Victor wach, fing Pjotr<br />

Alexandrowitsch an zu gähnen.<br />

»Jetzt schlafen Sie hier mir nichts vor«, schimpfte der Tscheche, »dann<br />

ist es ja noch langweiliger.«<br />

Der Kurator streckte sich und gähnte noch einmal. »Jetzt habe ich an<br />

der Sache etwa 40.000 Dollar verdient, wenn ich die Kosten abziehe.<br />

Auch gut. Der Weltmeister wird Augen machen, wenn er sein großes<br />

Kobalt-Ei in Prag zu Gesicht bekommt.«<br />

Victor nickte.<br />

Dann schreckte er hoch und schrie: »Was haben Sie eben gesagt?«<br />

Pjotr Alexandrowitsch lehnte sich etwas nach vorn: »Ich sagte, dass<br />

der Weltmeister Augen machen wird...«<br />

»Nein«, sagte der Tscheche, »das haben Sie nicht gesagt.«<br />

»Wie? Ich weiß doch, was ich gesagt habe«, widersprach der Kurator.<br />

Victor winkte ab: »Sagen Sie bitte nochmals den ganzen Satz, was war<br />

mit Kobalt?«<br />

»Ich sagte: Der Weltmeister wird Augen machen, wenn er sein großes<br />

Kobalt-Ei zu Gesicht bekommt.«<br />

»Ja«, erschrak Victor und starrte seinen Begleiter an, als wäre das<br />

Flugzeug ins Trudeln gekommen. »Sie und dieser Meister sprachen untereinander<br />

von einem Kobalt-Ei? Ist das richtig?«<br />

»Natürlich«, lachte der Russe, »dieser Schweizer sprach laufend von<br />

der Kobaltbombe oder dass das Ei wie eine solche einschlagen würde.<br />

254


Er ist eben ein Großmaul. Er hat mich da hineingezogen, am Schluss<br />

war ich selbst total auf diese Million fixiert.«<br />

»Warum nannte der Weltmeister dieses Fabergé-Ei das Kobalt-Ei?«<br />

»Das Große Kobalt-Ei! Es ist größer als alle <strong>Eier</strong> dieser Zeit und es ist<br />

kobaltblau, deshalb«, erklärte Pjotr Alexandrowitsch und verstand die<br />

Aufregung nicht.<br />

Victor befürchtete, dass jetzt alles zu spät war.<br />

»Und dieser Weltmeister sprach auch am Telefon vom großen Kobalt-<br />

Ei«, versicherte sich Victor noch einmal.<br />

»Ja natürlich«, freute sich Pjotr Alexandrowitsch, »beim ersten Telefonat<br />

habe ich erschrocken wieder aufgelegt und ihm gesagt, er solle hier<br />

nicht von einer Bombe reden. Aber er hat nur herum geschrien und sich<br />

bereits als ungekröntes Oberhaupt der Kunstwelt verstanden.«<br />

Der Agent schüttelte verständnislos den Kopf. Am liebsten hätte er<br />

diesem Schöngeist eine reingehauen und dieses Schweizer Großmaul<br />

erwürgt.<br />

Victor zog sein Handy aus der Tasche, aber man hatte keinen Empfang.<br />

Das war es also, was ihm die ganze Zeit im Kopf herum ging, was<br />

ihm nicht einfiel, je mehr er darüber grübelte. Die sprachliche Nähe des<br />

Begriffes Kobalt-Ei mit Kobaltbombe.<br />

»Ihr Idioten! Solche Schlüsselworte werden von der CIA mit einem<br />

elektronischen Filtersystem namens Echelon aus dem Äther abgefischt<br />

und automatisch weiter verfolgt. Daher die ganze Scheiße. Wenn wir da<br />

heil rauskommen, ist dies ein Gottesbeweis. Verstehen Sie?«<br />

Dann tauchte die alte Geschichte in seinem Gedächtnis auf.<br />

Unter Breschnew hatte der KGB ein ähnliches Telefonat abgefangen.<br />

Auch damals wurde der Begriff Kobalt-Ei im Zusammenhang mit einer<br />

Fabergé-Antiquität genannt und die Militärs, die die aufgezeichneten<br />

Gespräche auswerteten, konnten mit diesem Begriff nichts anfangen.<br />

<strong>Eier</strong> sind in militärischen Köpfen Handgranaten. Kobalt steht für Militärs<br />

in keinem Zusammenhang mit einer Farbe, sondern mit einer besonders<br />

schmutzigen Nuklearwaffe. Im Protokoll der Auswerter hatte<br />

dann gestanden, dass das Zielobjekt im Begriff wäre, sich eine Kobaltbombe<br />

zu beschaffen. Und alle mitgeschnittenen Gesprächsprotokolle<br />

berichteten von Kobaltbomben, bzw. von Kobaltbomben, obwohl die<br />

Zielpersonen immer nur von einem Kobalt-Ei gesprochen hatten.<br />

Als Victor dann auf die KGB-Schule kam, berichtete ein Lehrer diesen<br />

Fall exemplarisch und sagte: »Es gab zahlreiche Tote und Verletzte.<br />

Die einen waren arglos, weil sie einen Kunstgegenstand suchten, die<br />

anderen hatten den Finger am Abzug, weil es galt, die ruhmreiche Sow-<br />

255


jetunion zu verteidigen. Beide Seiten verhielten sich rational und beide<br />

Seiten konnten das Missverständnis nicht begreifen...«<br />

Und das alles deshalb, weil irgendein Auswerter nicht das niederschrieb,<br />

was er gehört, sondern was er glaubte verstanden zu haben. Ein<br />

wesentlicher Unterschied!<br />

Jetzt hatte der russische Geheimdienst den Zusammenhang zwischen<br />

Pjotr Alexandrowitsch und dem Schweizer Kunsthändler verstanden.<br />

Wahrscheinlich hatte man den Ausländer bereits auf Herz und Nieren<br />

überprüft und man wusste, dass er ein Großmaul war. Das Große Kobalt-Ei<br />

blieb so das, was es war, eine Antiquität. Wäre das nicht so gewesen,<br />

man wäre dem Kunsthistoriker schon lange auf den Leib gerückt<br />

und hätte dem Schweizer die Daumenschrauben angelegt.<br />

Der CIA aber machte aus dem Mitschnitt eine Atombombe, schaute in<br />

der Kartei nach und stellte fest, dass Pjotr Alexandrowitsch ein ehemaliger<br />

KGB-Mitarbeiter war und sein Bruder ein Ingenieur für Nukleartechnik.<br />

Fazit: Ein ehemaliger KGB-Mann möchte für eine Million Dollar einem<br />

Schweizer General eine Atombombe verkaufen.<br />

Dann strecken sich manche neugierige Hälse in die Luft, schnuppern<br />

ein wenig und stellen fest, dass neben anderen auch der britische Geheimdienst<br />

an der Sache dran ist. Dass Richard etwas ganz anderes bearbeitete,<br />

blieb verborgen oder wurde als plumpe Tarnung verstanden.<br />

Das Ganze verrührt man nun mit der latenten Angst vor nuklearen Gefechtsköpfen<br />

der Miniklasse in Terroristenhänden und anderen illegalen<br />

Transfers und schon war die Giftbrühe angerichtet. Nun geht es um die<br />

Existenz der ganzen Menschheit.<br />

Wenn Victors Schwiegermutter der Ansicht wäre, dass etwas um die<br />

Existenz der ganzen Menschheit ginge, würde sie es erst einmal ihrer<br />

Nachbarin erzählen. Glaubt ein Geheimdienst, dass es um die Existenz<br />

der gesamten Menschheit geht, wird dies geheim gehalten. Deshalb<br />

heißt die Bratkartoffel Bratkartoffel und ein Geheimdienst Geheimdienst.<br />

Die Angelegenheit bleibt so geheim, dass noch nicht einmal die engsten<br />

Mitarbeiter über die ganze Tragweite des Auftrages aufgeklärt werden.<br />

Am Schluss beschäftigen sich vierzig oder fünfzig Mann mit der<br />

Rettung der Menschheit und nur die Führungsoffiziere kennen die<br />

Tragweite der Operation.<br />

Da auch der eigene Präsident meistens nicht zum Geheimdienst gehört,<br />

wird auch er nicht unterrichtet. Schließlich möchte man so eine streng<br />

256


geheime, existenzielle Angelegenheit sich nicht durch blöde Fragen von<br />

Politikern kaputt machen lassen.<br />

Und natürlich verdächtigt man jeden anderen Geheimdienst, der in dieser<br />

Sache nicht tätig wird, sofort der Unfähigkeit. Da man jedoch unfähigen<br />

Kollegen streng geheime Dinge nicht anvertrauen darf, werden<br />

sie folglich auch nicht unterrichtet.<br />

Beschäftigt sich jedoch ein anderer Geheimdienst ebenfalls mit der Sache,<br />

bezichtigt man ihn oder zumindest seine Mitarbeiter sofort der<br />

Kollaboration.<br />

Und weil dies so ist, saß nun Victor hier in der Falle und konnte sich<br />

an drei Fingern abzählen, dass sie ein Heer bis an die Zähne bewaffneter,<br />

paranoide Idioten empfangen würde.<br />

Eine schöne Bescherung!<br />

*<br />

Die Piloten der L-410 drückten die Maschine von Flugfläche 100<br />

durch die Wolken und fingen sie in ca. 2.000 Fuß über Grund wieder<br />

ab. Diese Prozedur blieb Victor nicht verborgen. Und während Pjotr<br />

Alexandrowitsch lediglich die Trommelfelle schmerzten, kombinierte<br />

Victor, dass dieses Flugmanöver nicht dem standardisierten Instrumentenlandeverfahren<br />

entsprach.<br />

Der ehemalige KGB-Offizier schnallte sich ab und ging in gebückter<br />

Haltung nach vorn. »Was macht ihr denn da?«<br />

Im Winkel von etwa vierzig Grad näherte sich die Maschine einer<br />

gelblich grauen Betonpiste, die sich zwischen zwei Wäldern von Osten<br />

nach Westen zog. Keine Frage, auf einer solchen Betonpiste konnte<br />

man ohne Probleme landen, aber dies war zum Teufel alles andere als<br />

der internationale Airport von Prag.<br />

Der Pilot hatte mit der rechten Hand die beiden Triebwerkshebel umfasst.<br />

Der Co-Pilot drehte eben die Trimmung nach vorn. Einer fachgerechten<br />

Landung stand nichts mehr im Wege. Dass diese Landung aber<br />

gegen die internationalen Luftverkehrsvorschriften verstieß, bewies allein<br />

die Tatsache, dass beide Piloten ihre Kopfhörer nicht auf dem Kopf<br />

hatten, sondern auf den Schultern liegen ließen.<br />

»Ein ehemaliger Flugplatz unseres Arbeitgebers«, erklärte der Kapitän<br />

der Transportmaschine und rief zu seinem Kollegen: »Flapps!«<br />

Während er selbst die Triebwerkleistung auf ein Minimum reduzierte,<br />

brachte er die Maschine recht unsanft auf der Betonpiste runter.<br />

257


»Wir haben nicht viel Zeit. Hoffentlich schießt mir keiner Löcher ins<br />

Blech.«<br />

Victor verstand. »Ihr Schweinehunde. Wer wartet da draußen auf<br />

mich?«<br />

»Deine Freunde!«, sagte der Hüne zu Victor und zum Co-Piloten:<br />

»Übernimm!«<br />

»Soll ich dir eine Maschinenpistole geben, mein lieber Victor?«<br />

Victor sah, wie auf dem seitlichen Rollweg parallel zur Landebahn ein<br />

schwarzer Daimler-Benz und ein grauer Lieferwagen der Marke Ford<br />

Transit zu dem immer noch rollenden Flugzeug mitfuhren. »Wer ist<br />

das?«<br />

»Wer soll das schon sein? Babic natürlich. Er hat gesagt, es gibt eine<br />

Million Dollar und wir teilen uns das bisschen Geld.«<br />

»Weißt du, wie oft diese beschissene Millionen in der Zwischenzeit<br />

bereits aufgeteilt und versprochen wurden?«, schrie Victor, vor Wut<br />

schäumend.<br />

Das kümmerte den russischen Militärflieger wenig. So winkte er auch<br />

ab und sagte vollkommen gelassen: »Kann ich mir vorstellen. Ich will<br />

10.000 Dollar, zahlt Babic nicht, mache ich ihn fertig.«<br />

Das Flugzeug kam zum Stillstand. Die beiden Piloten kippten den<br />

Hauptschalter der Avionik auf »Off« und schalteten die Triebwerke<br />

aus. Nach dem Unterbrechen der Treibstoffzufuhr und dem Ausschalten<br />

der übrigen Elektronik sagte der Russe: »Am besten du gehst raus. Sie<br />

werden dir nicht glauben, dass du nichts dabei hast, was von Wert ist.«<br />

Victor schnaufte. Ein Wesensmerkmal des dauerhaften Erfolges ist die<br />

Fähigkeit, Tatsachen zu akzeptieren. »Kommen Sie«, sagte er deshalb<br />

zu Pjotr Alexandrowitsch, »wir müssen hier aussteigen und heben Sie<br />

schon einmal prophylaktisch die Arme über den Kopf.«<br />

Der Co-Pilot stieß die Tür auf und ließ die Treppe nach unten. Victor<br />

schmiss seine Reisetasche auf die Landebahn hinunter und die seines<br />

russischen Schützlings ebenfalls. Dann gingen die beiden mit erhobenen<br />

Armen die paar Stufen hinab und liefen über die Landebahn in<br />

Richtung Rollweg, auf dem der Mercedes 500 von Babic zum Stehen<br />

gekommen war.<br />

Jetzt ließ Babic die gepanzerte Seitenscheibe herunter und rief: »Oh,<br />

Victor und der Kunstheini. Und beide begrüßen mich mit erhobenen<br />

Armen. Aber ich bin unbewaffnet und als Freund gekommen. Nehmt<br />

die Hände wieder runter.«<br />

258


Babic stieg aus seiner gepanzerten Limousine. Ein dunkler Zweireiher<br />

mit Weste kleidete seinen bombastischen Körper, auf dem der runde<br />

Kopf beinahe lächerlich wirkte.<br />

»Mein Freund«, prahlte er siegesgewiss, »ich hatte dir angeboten, das<br />

Geschäft brüderlich zu teilen. Aber du wolltest alles. Jetzt bekommst du<br />

gar nichts!«<br />

Victor war von dieser Logik weder überrascht noch verwundert. Über<br />

den Umweg des Überlegens hätte er selbst darauf kommen können, als<br />

gestern der Pilot an der Hotelbar ihn unbedingt umsonst mitfliegen lassen<br />

wollte.<br />

»Babic«, sagte Victor, »du bist das Krokodil unserer Branche. Sicher<br />

sitzen in diesem Lieferwagen vier, fünf Freunde von dir, bis an die<br />

Zähne bewaffnet und streiten sich bereits, wer mich als erster erschießen<br />

darf.«<br />

»Wo denkst du hin? Hast du mir doch den englischen Agenten nur deshalb<br />

geschickt, dass ich Bescheid weiß. Du gibst mir jetzt das Ei und<br />

dann nehmen wir dich sogar noch mit bis nach Prag. Als Lebensversicherung<br />

sozusagen.«<br />

»Babic, es gibt kein Ei. Vielleicht hat der Pilot <strong>Eier</strong> auf seinem Butterbrot,<br />

ich aber habe noch nicht einmal ein Butterbrot dabei.«<br />

»Was redest du da? Willst du mich verarschen? Los, pack’ deine Sachen<br />

aus?«<br />

Victor öffnete seine Reisetasche und kippte ihren Inhalt achtlos auf<br />

den betonierten Weg. Pjotr Alexandrowitsch machte es ihm nach, konnte<br />

er sich die Situation doch gut zusammenreimen.<br />

Babic stieß wie wahnsinnig mit dem Fuß in die Klamotten. Dann<br />

machte er eine Handbewegung und aus dem Kastenwagen stiegen vier<br />

Figuren: »Rodja, komm her, die anderen bleiben, wo sie sind.«<br />

Der Angesprochene kam auf seinen Chef zu. Dann sagte Babic zu seinem<br />

ehemaligen KGB-Kollegen: »Hör’ zu. Ich will dich nicht umbringen,<br />

ich will auch diesem Russen nichts antun. Dann will ich auch nicht<br />

das Flugzeug auseinandernehmen. Also: Ich befrage nun deinen Freund<br />

nach dem Verbleib des Schatzes, ohne dass du weißt, was er erzählt.<br />

Dann frage ich dich. Stimmen die beiden Aussagen überein, so muss<br />

ich diese glauben. Gibt es Abweichungen, so erschieße ich zuerst deinen<br />

Reisebegleiter und zwar sofort. Verstanden? Der Kunstheini hat<br />

keine zweite Chance.«<br />

Victor nickte Pjotr Alexandrowitsch aufmunternd zu.<br />

»Es gibt nichts zu lügen«, sagte er zu Babic.<br />

259


Aber natürlich verlief die Sache nicht so human, wie sie hätte verlaufen<br />

können. Als Victor von diesem Rodja außer Hörweite gebracht war,<br />

schlug Babic dem russischen Kurator, ohne etwas zu fragen, mit der<br />

linken Hand eine Ohrfeige, so dass sich dieser um seine eigene Achse<br />

drehte und umfiel. Als er wieder aufgestanden war, folgte der zweite<br />

Schlag mit der rechten Hand. Victor atmete tief durch. Das tat ihm für<br />

Pjotr Alexandrowitsch sehr Leid, doch es war nicht zu ändern.<br />

Victor griff in seine Hemdtasche und nahm sich eine Zigarette, nicht<br />

bevor er seinem Bewacher ebenfalls eine anbot. »Feuer?« »Danke.«<br />

Babic wusste, dass er ihn, Victor, über Stunden hätte foltern müssen<br />

und dann eventuell erst recht angelogen worden wäre. So kürzte er das<br />

Verfahren ab und schlug den Sack, weil ihm der Esel zu widerspenstig<br />

erschien. Nach der zehnten Ohrfeige hatte Pjotr Alexandrowitsch nicht<br />

mehr die Kraft, sich zu erheben. Babic sprach mit ihm. Fünf, sechs, sieben<br />

Sätze. Und der Kurator antwortete, ängstlich seinen Ellenbogen<br />

vors Gesicht haltend.<br />

Diese brutale Gewalt erscheint vielleicht so manchem westlichen Zeitgenossen<br />

abstoßend. Bedachte man aber, dass in den sozialistischen<br />

Staaten solche Methoden bis vor wenigen Jahren von den Sicherheitskräften<br />

regelmäßig eingesetzt wurden, war Babics Verhalten schon fast<br />

zivilisiert.<br />

Jetzt winkte der Bulle mit dem noblen Anzug Victor zu sich heran und<br />

gab dessen Bewacher ein Zeichen. Der lud seine Pistole durch und hielt<br />

sie dem am Boden sitzenden Kurator an den Kopf.<br />

»Ich höre«, sagte Babic.<br />

»Das Ei ist wenig wert. Wir haben es vor ein paar Tagen beim Britischen<br />

Konsulat in St. Petersburg abgegeben. In meiner Brieftasche befindet<br />

sich noch die amtliche Empfangsbestätigung. Der Kunsthistoriker<br />

weiß nicht, für wen das Ei bestimmt war, aber er war dabei, als ich<br />

es ins Konsulat brachte.«<br />

Babic gab seinem Gehilfen ein Zeichen. Pjotr Alexandrowitsch durfte<br />

weiterleben. »Zeige mir diesen Empfangsschein.«<br />

Victor griff nach seiner Brieftasche und suchte den entsprechenden<br />

Beleg. Babic warf einen scharfen Blick darauf und murmelte mit rot anlaufendem<br />

Kopf: »Kunstgewerblicher Gegenstand aus Metall in der<br />

Form eines Eies mit unbekanntem Wert.« Dann überschlug sich seine<br />

Stimme: »Und was hat dieser runzelige Schweinekopf in Zürich mir erzählt?«<br />

Victor machte ein fragendes Gesicht.<br />

260


»Ihr habt 500.000 Dollar für das Ei bekommen. Was erzählt ihr mir<br />

jetzt, dass das Ei Schrott wäre«, wusste Babic Bescheid.<br />

»Ja«, sagte Victor, »500.000 Dollar sind ausgemacht, aber das Geld<br />

muss freigegeben werden. Zug um Zug. Ohne Ei wird es nichts mit<br />

dem Geschäft.«<br />

»Was ist dieser Kropf für ein Idiot? Weiß er nicht, für wen du arbeitest?«<br />

»Er kennt mich noch nicht einmal«, lachte Victor, »aber es ist ja schon<br />

einmal ein Forschritt, dass du erkennst, dass ich nicht auf eigene Rechnung<br />

arbeite, mir somit auch das Geld nicht hätte in die Tasche stecken<br />

können.«<br />

Vom Flugzeug herunter schrie nun der Pilot: »He, Babic! Wie lange<br />

soll ich noch auf mein Geld warten?«<br />

»Leck’ mich am Arsch!«, schimpfte Babic zurück, ging dann aber zum<br />

Flieger und bezahlte offenbar die vereinbarte Summe. Denn kurz darauf<br />

ließen die Piloten die Triebwerke an und zogen die Behelfstreppe nach<br />

oben.<br />

Victor ging einen Schritt auf Babic zu und schrie: »Lass’ uns mal in<br />

dein Fahrzeug steigen.«<br />

Babic machte mit dem Kopf eine einladende Bewegung und Victor<br />

stieg in den gepanzerten Mercedes ein.<br />

»Verschwinde!«, sagte Babic zu dem Halunken am Steuer.<br />

»Ich erzähle dir jetzt diese Geschichte, so von Kollege zu Kollege, die<br />

mir nicht eingefallen ist...«, grinste Victor und erzählte vom großen Kobalt-Ei.<br />

»Die Bombe!«, erinnerte sich Babic und schimpfte dann: »Du Arschloch,<br />

warum ist dir das nicht früher eingefallen? Jetzt ist der CIA hinter<br />

uns her.«<br />

»Fürs nächste Mal«, meinte Victor und stieg wieder aus.<br />

In den Lärm des anrollenden Flugzeuges hinein rief Babic aus dem offenen<br />

Seitenfenster: »Nichts für ungut, Bruder.« Dann lehnte er sich in<br />

seinen gepanzerten Daimler-Benz zurück und fuhr davon. Und hinter<br />

ihm folgte der graue Ford-Transit in gebührendem Abstand.<br />

Pjotr Alexandrowitsch hatte die Taschen wieder gepackt. Mit ohrenbetäubendem<br />

Lärm startete die Transportmaschine auf dem stillgelegten<br />

russischen Militärflughafen in den dunkel werdenden blaugrauen Himmel.<br />

»Und jetzt? Wissen Sie, wo wir sind?«<br />

261


»Wir leben noch«, sagte Victor und hob seine Tasche hoch. »Irgendwo<br />

da vorn gibt es eine Zufahrtstraße und dann geht es vermutlich in südlicher<br />

Richtung weiter.«<br />

»Sind Sie sicher?«, fragte der Russe leicht lallend, denn seine Lippen<br />

schwollen langsam an.<br />

»Für ein paar tausend Dollar kann man ja auch mal in eine falsche<br />

Richtung laufen.«<br />

Doch wer einmal seines Verkehrsmittels verlustig ging und das leichte<br />

Reisgepäck selbst tragen musste, wird beim nächsten Packen den Begriff<br />

»leicht« relativieren. Nach etwa vierhundert Metern sagte Victor zu<br />

seinem Schützling: »Ich glaube, das ist der falsche Weg.« Dabei setzte<br />

er sich auf seine Reisetasche, wechselte die Karte seines Handys aus<br />

und rief Sir Alec an.<br />

Etwa zur gleichen Zeit bemerkte der Co-Pilot der russischen Transportmaschine<br />

eine Phantom F4-F an seiner Seite. Der Abfangjäger<br />

überholte und ein zweiter folgte schräg unter ihm.<br />

Fast gleichzeitig setzten sich die beiden Piloten ihre Headsets auf. Der<br />

Kapitän schaltete das Funkgerät ein und klickte auf die voreingestellte<br />

Frequenz von »Prag, Radar Control«.<br />

»Wir haben hier zwei Phantom-Flugzeuge an unserer Seite. Darf ich<br />

fragen was los ist?«<br />

»Sie dürfen«, sagte die Stimme des Controllers gleichgültig, »wir haben<br />

Sie von unserem Schirm verloren. Schalten Sie Transponder seven,<br />

seven, zero, three.«<br />

»Transponder 7703. Wir hatten ein Problem mit der Avionik. Sorry!«<br />

»Die Luftwaffe wird Ihnen helfen. Wechseln Sie auf Frequenz ...«<br />

»Scheiße!«, sagte der Kapitän ohne Rangabzeichen zu seinem Kollegen,<br />

»die wollen uns helfen.«<br />

262<br />

*<br />

Victor saß mit Pjotr Alexandrowitsch unterdessen immer noch auf seiner<br />

Reisetasche am stillgelegten russischen Militärflugplatz vor Prag.<br />

Es war Nacht geworden und gewaltige Wolken gaben ab und zu einen<br />

für Stadtmenschen unbekannten klaren Sternenhimmel frei. »Haben Sie<br />

die Sternschnuppe gesehen?«<br />

»Nein«, sagte der Russe, am Boden zerstört, »ich wünsche mir, dass<br />

man uns von hier abholt.«


Dieser Wunsch würde in Erfüllung gehen. Es fragte sich nur wann.<br />

Der Taxifahrer, der versprochen hatte, Victor abzuholen, fuhr etwa<br />

zwei Stunden von Prag zu ihnen hinaus. Rechnet man noch eine Stunde<br />

Verzögerung, weil sich der Driver verfahren würde, so wäre jetzt noch<br />

eine halbe Stunde zu warten.<br />

Die Rechnung ging auf, denn nach etwa zwanzig Minuten bog ein<br />

Fahrzeug langsam auf das Flughafengelände ein.<br />

»Dem Himmel sei Dank«, begrüßte Victor seinen Bekannten auf<br />

Tschechisch. »Jetzt fährst du uns bitte ungewaschen, hungrig und etwas<br />

durchfroren in das Interconti in Prag.«<br />

»Was machst du denn für Sachen?«, sagte der Fahrer und verfrachtete<br />

der beiden Gepäck.<br />

Die Fahrt ging über eine Landstraße, durch einen langgezogenen,<br />

dunklen Laubwald. Nur selten begegnete ihnen ein Fahrzeug und bald<br />

war der lädierte Kunsthistoriker auf der Rückbank des Fahrzeuges eingeschlafen.<br />

Auch gut, das Schlimmste würde er hinter sich haben.<br />

Kurz vor Ende des Waldes, an der Stelle, an der die Landstraße in freie<br />

Felder mit nur vereinzelt dastehenden Bäumen überging und man von<br />

Ferne die Silhouette der Millionenstadt Prag erkannte, standen zahlreiche<br />

Fahrzeuge mit eingeschalteter Warnblinkanlage.<br />

Leicht konnte man einen Lieferwagen erkennen. Victor sagte: »Fahr’<br />

langsamer!«<br />

Der Taxifahrer bremste ab. Tatsächlich standen hier Babics gepanzerte<br />

Limousine und der Ford Transit. Dazwischen parkten Militärjeeps und<br />

zwei silbergraue, offenbar private Offroaders der obersten Preisklasse<br />

mit sog. Hirschfängern am Kühlergrill. Bis hierher wäre man also gekommen,<br />

hätte sie Babic freundlicherweise mitgenommen. Victor kurbelte<br />

das Fenster herunter. Auf der Wiese am Waldrand stand noch ein<br />

Atemschutzfahrzeug des Militärs und ein Sanitätswagen.<br />

»Frohe Weihnachten, bald ist Feierabend«, lachte Victor burschikos zu<br />

einem Soldaten rüber. Es war ihm nicht entgangen, dass dieser den<br />

schweren ABC-Kampfanzug trug. Allerdings hing die Gasmaske auf<br />

die Brust herunter.<br />

»Go ahead«, rief ein kurzgeschorener Typ in zivil.<br />

Genau, das konnte sich Victor lebhaft vorstellen, denn er war der einzige<br />

der, den Hintergrund ahnen konnte. Zwanzig Soldaten mit schwerem<br />

Atemschutz und Maschinengewehren »kämpften« Seite an Seite<br />

mit acht amerikanischen Zivilisten ohne Schutzkleidung, aber mit einer<br />

Pistole bewaffnet, gegen ein Phantom an. Und natürlich sprachen die<br />

263


Amerikaner kein Tschechisch und von den Soldaten nur der Leutnant<br />

etwas Schulenglisch.<br />

In einwandfreiem Englisch rief Victor deshalb einem Amerikaner zu:<br />

»Das Manöver mit der Kobaltbombe ist abgesagt worden!«<br />

»Manöver?«, fragte der Amerikaner. »Why the fuck we’re here?«<br />

»Ja, Manöver«, schrie Victor, »man machte einen Intelligenztest im<br />

Rahmen der NATO-Operation Blaue russische <strong>Eier</strong>.«<br />

Der in der Zwischenzeit eingetroffene Leutnant war auch noch keine<br />

fünfundzwanzig Jahre alt. »Manöver?«, fragte er auf Tschechisch, »wir<br />

wollten gerade die beiden Dörfer, die dort hinten in Windrichtung liegen,<br />

evakuieren. Kinder und Frauen zuerst. Nur das Vieh sollte dort<br />

bleiben.«<br />

»Na, die werden sich freuen, dass daraus nichts wird. Ja, es ist wirklich<br />

eine Übung«, wiederholte Victor herzlich lachend.<br />

»Habe ich doch gewusst«, meinte der Leutnant, »und wir stehen uns<br />

hier am Heiligen Abend ein Loch in den Bauch.«<br />

»Gib Gas«, sagte Victor zum Taxifahrer, »wir essen zeitig.«<br />

»Funny Christmas!«<br />

»Schöne Bescherung!«<br />

X<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Prag, Heiligabend. Madame hatte sich bereits für den Flug nach Prag<br />

in ihre feinsten Kleider geschmissen und einen gerüttelten Anteil ihres<br />

Schmucks angehangen. Ihr Näschen trug sie zwei Zentimeter höher als<br />

sonst und ihr Gang ging von der üblichen Aufrechten in bornierte Steifheit<br />

über. Das war ein deutliches Zeichen der Irritation und der Unsicherheit<br />

über das zu Erwartende. Selbstbewusstsein war schon immer<br />

eine Folge des Begreifens komplexer Zusammenhänge und die Sicherheit,<br />

das Kommende zu meistern. Mangelt es an Erkenntnissen und<br />

dem Interesse, diese zu gewinnen, bildet sich ein verheerendes Zwillingspaar<br />

von Arroganz und Ignoranz.<br />

Noch immer wollte sie der Leibeigenschaft entkommen und war nun<br />

gezwungen, mit diesem verhassten Kropf aufzutreten. Den Satz »Lieber<br />

tot, als in Knechtschaft zu leben« wollte sie aber doch nicht gelten lassen.<br />

264


So hatte sich Agnieszka Meister-Novak bei Kropf untergehakt. Und<br />

verspürte sie ein Brechgefühl, verstand sie dieses vortrefflich zu verbergen.<br />

Instinktiv löste sie sich von Kropf, als ihr ehemaliger Mann, der selbst<br />

ernannte Weltmeister, den Gang zum Flughafenterminal herunter geschritten<br />

kam.<br />

Immerhin waren nun schon drei Personen derart overdressed, dass Richard<br />

mit seinem 1.000-Dollar-Anzug äußerst bescheiden und ärmlich<br />

wirkte. Die Linienmaschine war anscheinend ausgebucht und Richard<br />

vermutete, dass die letzten freien Plätze von Mitarbeitern der Transtecco<br />

belegt waren. Anhaltspunkte dafür konnte man unter den Passagieren<br />

des Geschäftsfliegers allerdings nicht finden.<br />

Das Business as usual zwingt die Herren der Wertschöpfung in Straßenanzüge<br />

ähnlicher Farbgattung und Qualität. Nur Kenner vermögen<br />

die so entstehende Uniformität noch zu graduieren, weil Rangabzeichen<br />

tabu sind, die Angelegenheit jedoch erleichtern würde.<br />

Da gibt es die an den Seiten der Jackettärmel aufgenähten Zierknöpfe<br />

und den tatsächlich geknöpften Knopf, Armbanduhren zum Preis eines<br />

Autos der gehobenen Mittelklasse, und es gibt als untrügliches Zeichen<br />

des Erfolgs die Qualität des Schuhwerks. Überschwänglicher Luxus<br />

wird in uniformierten Kohorten eben nur noch an Extremitäten verdeutlicht.<br />

Im Flugzeug platzierte sich Richard neben Meister. Seit dem Friedhofbesuch<br />

wussten beide, wer des Weltmeisters eigentlicher Meister war,<br />

was den Kunsthändler nicht daran hinderte, sogar beim Smalltalk sein<br />

Maul weit aufzureißen.<br />

Richard hätte sich lieber neben die Stewardess gesetzt, hätte es nicht<br />

Gründe dafür gegeben, dem Weltmeister durch die Blume noch etwas<br />

zu flüstern.<br />

»Haben Sie denn das Ei gesehen und für gut befunden?«, provozierte<br />

Richard die Unwahrheit.<br />

»Selbstverständlich! Erste Sahne, dieses Kobaltblau gibt dem Kunstwerk<br />

den ihm gebührenden majestätischen Ausdruck«, erklärte Friedrich<br />

Meister, ohne rot zu werden.<br />

Richard machte mit der Handfläche eine Bewegung, die seinem Gesprächspartner<br />

signalisieren sollte, etwas leiser zu reden.<br />

»Es könnte ja sein, dass Sie bei Ihrem Besuch in St. Petersburg zwecks<br />

Geldübergabe nur das Bild gesehen haben, das Ihnen dieser Pjotr Alexandrowitsch<br />

zeigte«, tastete sich Richard an die Wahrheit.<br />

265


Meister schaute sich verstohlen nach Kropf und seiner geschiedenen<br />

Ehefrau um, die hinter ihnen saßen.<br />

»Wenn ich’s Ihnen sage«, beharrte der Meister, »ich bin hier der Fachmann.<br />

Glauben Sie denn, ich hätte nur einen Cent bezahlt, hätte ich das<br />

Objekt nicht auf Herz und Nieren einer Prüfung unterziehen können.«<br />

»Das glaube ich«, schlug Richard einen anderen Ton an und verspürte<br />

augenblicklich das animalische Verlangen, diesen Typen ohne Fallschirm<br />

aus dem Flieger zu werfen. »Sie haben das Ei nicht gesehen,<br />

weil Pjotr Alexandrowitsch Ihnen verdeutlicht hat, wer hier die besseren<br />

Karten hat.«<br />

Der Meister kratzte sich am Hinterkopf. »Es blieb mir doch nichts anderes<br />

übrig. Sie sagten doch selbst, dass die halbe Million Dollar unbedingt<br />

übergeben werden müsste.«<br />

»Ich mache Ihnen ja auch keinen Vorwurf. Ich möchte nur, dass Sie<br />

mit Ihrem angeberischen Lügengeschwätz aufhören.«<br />

Meister schluckte trocken und sagte unvermittelt mit rauer Stimme zu<br />

Agnieszka: »Schatz, soll ich dir einen Kaffee bestellen.« Das war eine<br />

typische Übersprungshandlung. Richard schüttelte verzweifelt den<br />

Kopf und Agnieszka säuselte: »Aber, mein Meisterchen, wir trinken<br />

doch jetzt Champagner.«<br />

Da das Meisterchen zwischen den Sessellehnen durchlugte, wusste er<br />

es besser und zischte: »Du trinkst doch schon wieder Wodka und kommen<br />

wir in Prag an, bist du besoffen.«<br />

»Kümmern Sie sich um Ihre eigene Frau«, krächzte Kropf und seine<br />

abstehenden Ohren machten deutlich, dass er so schnell nichts überhören<br />

konnte.<br />

»Das ist meine Frau!«, widersprach Meister und zu Richard gewandt:<br />

»Sagen Sie doch auch mal was.«<br />

»Denke an den armen Frank«, tat Richard seinem Sitznachbarn den<br />

Gefallen.<br />

»Nein, ihr beiden da vorn müsst mir diesen Spaß nicht auch noch verderben.«<br />

»Wer ist Frank?«, maulte der Meister sofort.<br />

»Nur so«, spielte Richard den Unwissenden.<br />

»Diese Hure!« Der Weltmeister war verstimmt.<br />

Nur Kropf war glücklich und bestellte für sich noch eine Flasche<br />

Champagner und für sein Vögelchen einen Pappbecher voll Wodka.<br />

Löschte sie nämlich jetzt ihren Durst, hätte sie heute Nacht auch keine<br />

Migräne mehr.<br />

266


»Wenn du dich besäufst«, sagte Richard wieder nach hinten, »kannst<br />

du auf den heiligen Josef heute Abend lange warten.«<br />

»Sagen Sie nur«, so Kropf, »Sie glauben an den Weihnachtsmann?«<br />

Es war zwecklos. Richard wandte sich wieder zum Meisterschüler an<br />

seiner Seite. Diesmal flüsternd: »Jetzt passen Sie mal auf. Wenn man<br />

ein Bild von einem Apfel sieht, bedeutet das noch lange nicht, dass er<br />

auf seiner Rückseite nicht verfault ist. Und nicht alles, was glänzt, ist<br />

Gold.«<br />

»Was soll das heißen?«, erschrak das Großmaul.<br />

»Es besteht die Möglichkeit«, raunte Richard, »dass dieses verdammte<br />

Ei bereits überzahlt ist. In Kenntnis Ihrer Person habe ich die Befürchtung,<br />

dass Sie das Projekt in den Sand setzen. Kropf ist aber nicht<br />

dumm. Mehr als die 350.000 Dollar wird er vermutlich nicht freigeben.<br />

Gibt er diese überhaupt frei, verspreche ich Ihnen Ihren angemessenen<br />

Anteil von 150.000 Dollar - steuerneutral aus St. Petersburg zurück. Sie<br />

verstehen?«<br />

»Haben Sie das Ei denn gesehen?«, stutzte Friedrich Meister.<br />

Richard nickte: »Deshalb meine Rede...«<br />

»Dann ist das alles ein ausgemachter Schwindel?«, schrie Meister empört,<br />

mäßigte sich wieder und flüsterte im anderen Extrem: »Da ist ja<br />

der Kropf angeschissen.«<br />

Richard schüttelte den Kopf: »Nein, glücklich, mein Lieber, glücklich.<br />

Und glauben Sie mir, das ist die letzte Freude, die wir ihm in diesem<br />

Jahr bereiten können.«<br />

»Na, wenn das so ist«, kapitulierte der Weltmeister und stieß seinen<br />

halb vollen Pappbecher Kaffee von der Tischklappe der Sessellehne am<br />

Vordersitz.<br />

*<br />

Der riesige Kasten an der Moldau aus dem Jahr 1975 hatte Platz für<br />

360 Zimmer und Suiten, von denen die meisten einen schönen Ausblick<br />

zur Moldau und zum Hradschin boten. Das Hotel Intercontinental Praha<br />

war ein Fünf-Sterne-Hotel und vor allem bei westeuropäischen Einzelreisenden<br />

und Geschäftsleuten beliebt. Es bot allen erdenklichen Komfort,<br />

obwohl das Schwimmbad wegen irgendwelcher Umbauarbeiten<br />

geschlossen war.<br />

267


Sicher war für die Bediensteten des Hotels die illustere Gesellschaft,<br />

die eben eincheckte, nichts außergewöhnliches, aber sie hätten angenehmere<br />

Gäste verdient.<br />

Gebucht wurden fünf Junior-Suiten und Agnieszka schrie längs des<br />

Tresens der Rezeption: »Fünf, das sind ja zehn Betten. Liebling, wer<br />

kommt denn noch alles?«<br />

Sofort fühlten sich drei Männer angesprochen, wovon zwei von ihnen<br />

die Frage überhaupt nicht beantworten konnten. So blieb sie unbeantwortet,<br />

weil Richard sich rechtzeitig auf die Zunge biss.<br />

Auf der Dachterrasse befand sich ein Restaurant und Richard reservierte<br />

vorsorglich für acht Personen einen Tisch. Es war nun 17 Uhr,<br />

die Sonne war untergegangen und Kropf zog fürs Erste Agnieszka mit<br />

sanfter Gewalt in seine Suite. Da aber der geschiedene Meister seiner<br />

Verflossenen die Koffer getragen hatte, empörte sich der mit einem:<br />

»So geht das aber nicht, Herr Doktor.«<br />

Das kümmerte Kropf wenig und er schmiss dem Kunsthändler die Tür<br />

vor der Nase zu.<br />

Richard atmete tief durch, fing an zu husten und warf sich in seinem<br />

Zimmer rücklings aufs Bett. Warum hatte er sich das angetan? Mit jeder<br />

einzelnen dieser Figuren konnte man trefflich auskommen, zusammen<br />

waren sie der Vorgeschmack der Hölle.<br />

Dann klingelte Richards Mobiltelefon. »Oh«, sagte er, »welch eine Ehre<br />

am Heiligen Abend.«<br />

Es war Reinhold, der Kanzleidiener von Kropf.<br />

»Die Staatanwaltschaft rückt hier ein. Stellen Sie sich einmal vor, am<br />

Heiligen Abend kommen die mit drei Bussen angefahren, um die Akten<br />

abzuholen.«<br />

»Weiß der Kropf das schon?«<br />

»Na, hören Sie, man konnte euch doch nicht erreichen...«<br />

»Kropf darf das auf keinen Fall erfahren«, entschied Richard. »Und ich<br />

weiß auch schon, wie wir das machen...«<br />

Richard sprang auf. Es kam nun auf Sekunden an. Als er auf den Flur<br />

hinausging, kam doch tatsächlich Meister im samtnen Bademantel mit<br />

einem farblich abgestimmten Handtuch an der Tür vorbei.<br />

»Der Weltmeister!«, strahlte Richard, »lassen Sie sich das denn gefallen?«<br />

Richard zeigte auf Kropfs Zimmertür. »Ich glaube, sie hat vorher<br />

um Hilfe geschrien.«<br />

»Was? Und da sind Sie nicht eingeschritten? Das ist Ihre Pflicht als<br />

britischer Staatsbürger«, schwätzte Friedrich und bummerte wie wild an<br />

Kropfs Tür.<br />

268


»Was ist?«, hörte man den Gewalttäter und schon war die Tür offen.<br />

Meister drang ein, Richard stiefelte hinterher und Kropf stotterte, im<br />

Hemd mit gelockerter Krawatte bekleidet und in langen Unterhosen dastehend:<br />

»Brennt's?«<br />

Madame war allerdings nicht zu finden. Die suchte Richard wohl nur<br />

mittelbar, aber ohne sie waren die Chancen geringer, an das gesuchte<br />

Objekt heranzukommen.<br />

»Was haben Sie mit meiner Frau gemacht?«, insistierte Meister.<br />

»Ich habe sie in den Kühlschrank gesteckt, damit sie frisch bleibt«,<br />

zeigte sich Kropf von der humorvollen Seite. Und auf Meisters Bademantel<br />

deutend: »Wie laufen Sie denn hier durch die Gegend? Wenn<br />

Sie mit Ihrer geschiedenen Frau baden wollen, dann nicht in meiner Suite,<br />

sondern diskret in Ihrem eigenen Zimmer.«<br />

»Mit Verlaub, Herr Generalfeldmarschall, ein Mann in langen Unterhosen<br />

braucht mich nicht zu belehren, wie ich herumzulaufen habe.«<br />

Wider Erwarten hatte Richard nun doch noch Kropfs Handy gefunden.<br />

Es lag in dessen linker Jackentasche. Richard angelte es blitzschnell<br />

heraus und steckte es ein: Kropf war unerreichbar!<br />

Agnieszka kam zur Tür herein und flötete: »Was ist denn nun, Josef?«<br />

Richard schüttelte den Kopf: »Als ich dich gebraucht hätte, warst du<br />

nicht zu finden. Jetzt ist alles erledigt.«<br />

»So schnell? Mit wem denn?«<br />

Kropf schrie nun: »Raus aus meinem Zimmer. Wir treffen uns, wie<br />

vereinbart, in einer Stunde im Restaurant.«<br />

Als Richard mit dem Weltmeister im Trockenschwimmen wieder auf<br />

dem Flur stand, sagte er: »Kropf hat Recht. So können Sie schlechterdings<br />

nicht ins Restaurant gehen.«<br />

»In Unterhosen aber auch nicht«, blieb der Schweizer trocken und<br />

schlappte davon. Als er dann am Ende des langen Ganges gerade im<br />

Aufzug verschwinden wollte, rief Richard hinterher: »Das Schwimmbad<br />

ist wegen Umbauarbeiten geschlossen!«<br />

»Das hätten Sie mir auch gleich sagen können.«<br />

*<br />

Der Weltmeister nörgelte in der Zwischenzeit an seinem Essen herum.<br />

»Das essen Sie jetzt und basta«, befahl Kropf, »das soll hier das beste<br />

Restaurant der Stadt sein. Das billigste ist es vor allen Dingen nicht.«<br />

269


»Ach, darum hat sich der Herr nur eine Suppe bestellt?«, sagte seine<br />

Direktorin und trank noch einen Schluck aus dem Mineralwasserglas.<br />

»Dich macht offensichtlich dieses Wasser immer mehr besoffen«,<br />

meinte Kropf verwundert.<br />

Agnieszka lehnte sich nach hinten und streckte alle Viere von sich. In<br />

der linken Hand hatte sie mit einer Gabel ein gerolltes Teigwarenbällchen<br />

aufgespießt, in der rechten das Messer. »Wenn du mich ficken<br />

willst, dann tue es jetzt...«, sagte sie lauter werdend, schwang sich wieder<br />

nach vorn und forderte: »Aber sofort, wenn ich bitten darf! Das traust<br />

du dich nicht? Ja! Komm’ her und besorg's mir hier auf dem<br />

Stuhl. Der... der Josef hat schon. Los!«<br />

»Du blöde Kuh«, drohte Kropf, »hättest du mir das vor Jahren gesagt,<br />

dann...«<br />

»Was war denn vor Jahren?«, stocherte Meister in den alten Besitzansprüchen<br />

herum. »Sie haben meine Frau in einem Geräteschuppen der<br />

Armee missbraucht! Ja? Ist das die Wahrheit?«<br />

Meister hatte nun auch schon eine Flasche Wein getrunken und davor<br />

zwei Bier.<br />

»Ich, missbraucht«, prahlte Kropf, »ich habe es bei meinem Vermögen<br />

und meiner Macht überhaupt nicht nötig, ein Weib zu missbrauchen.<br />

Ich kaufe sie! Alle!« Dabei machte er eine weit ausholende Handbewegung<br />

und hätte dabei dem hinter ihm stehenden Kellner beinahe mit<br />

dem Handrücken auf die Brust geschlagen.<br />

»Ah, die engen Freunde, die sich die polnische Hure gekauft haben,<br />

streiten jetzt um den Dingsbums...« Agnieszka trank noch einen<br />

Schluck aus dem Wasserglas. »Herr Geheimagent, Sie Schwein«, sagte<br />

sie dann zum Kellner, »bringen Sie mir noch ein Glas, aber schnell.«<br />

»Ich brauche mich doch mit diesem Ausbeuter und Fronherrn keinen<br />

Dingsbums zu teilen. Ich habe meinen eigenen!«, schimpfte Meister.<br />

Agnieszka steckte sich eine Zigarette in den Mund: »Stimmt, einen<br />

ganz kleinen, den man unter dem fetten Wanst kaum sehen kann. Gebe<br />

man mir mal Feuer!«<br />

Niemand fühlte sich angesprochen. Eine Bedienstete eilte herbei und<br />

reichte Madame mittels eines Stabfeuerzeuges eine Flamme. »Danke,<br />

mein Liebes!« Die Polin lehnte sich nach hinten, um das junge Mädchen<br />

besser im Blick zu haben. »Was verdienst du so... pro Nacht?«<br />

Da die Bedienstete kein Deutsch verstand, half Agnieszka in schlechtem<br />

aber verständlichem Tschechisch aus. Die Antwort nicht abwartend,<br />

sagte sie dann auf Englisch: »Da ist sie ja immer noch besser dran<br />

270


als die Direktorin der noblen Firma Caratus, die bekommt nämlich gar<br />

nichts. Versteht ihr mich?«<br />

»Ich habe dir doch 10.000 gebracht«, meldete sich ihr Geschiedener<br />

völlig überflüssig.<br />

»Wie kommen Sie dazu, meiner Angestellten Geld zu bringen«, sagte<br />

Kropf, »die wird ihr Geld schon bekommen.«<br />

Das Personal wollte abräumen. Auch Richard hatte die Hälfte seines<br />

Essens stehen lassen, in der hochexplosiven Lage hatte es ihm den Appetit<br />

verschlagen.<br />

Meister war immerhin noch so bei Verstand, dass er sein Geplapper<br />

bereute. »War nur ein Witz.«<br />

»War aber nicht lustig«, bemerkte Kropf, »lasst uns von etwas anderem<br />

reden. Herr Ober, bringen Sie uns bitte noch eine Flasche Champagner.«<br />

Der Oberkellner kredenzte der Dame am Tisch eben gerade ein Glas<br />

verdächtig stilles Mineralwasser. Mit ein paar Scheinen könnte man das<br />

latent unterbezahlte Bedienungspersonal weltweit wohl auch dazu bekommen,<br />

dass sie puren Gin servierten, bestellte man augenzwinkernd<br />

ein Tonic Water.<br />

Agnieszka zwinkerte Richard verschwörerisch zu. Aber der Meister<br />

sah das und kommentierte sofort: »Du bist eben eine gottverdammte<br />

Hure. Und mit diesem Frank hast du es auch getrieben.«<br />

»Eher nicht!«, lächelte Richard. Männer waren eben in ganz bestimmten<br />

Situationen stark behindert.<br />

»Siehst du...« In diesem Augenblick bemerkte sie, dass man ihr den<br />

Teller abräumen wollte. »Was erlauben Sie sich? Ich habe ja noch keinen<br />

Bissen gegessen.«<br />

Dann klingelte Richards Handy. Kropf und Meister suchten sofort das<br />

ihre. Richard stand auf und lief wenige Schritte bis zum Fenster des<br />

Terrassenrestaurants.<br />

Mercedes war dran. Kurz und knapp berichtete sie von Victors Bericht<br />

an Sir Alec und den Ereignissen der letzten Stunden, vom großen Kobalt-Ei<br />

und dem semantischen Missverständnis der CIA zu einer Bombe.<br />

Richard schlug sich an die Stirne. Er erfuhr von Victors ungewollter<br />

Zwischenlandung und was man in Zürich veranlasst hatte. Die Frage<br />

war nur, ob die Aktionen der CIA so schnell abgeblasen wurden, wie<br />

sich das Missverständnis aufklären ließe. Dass Babic keine Gefahr<br />

mehr darstellte, war beruhigend, dass man ihn in der Zwischenzeit verhörte,<br />

konnte Mercedes noch nicht wissen. Gierige Halunken metzelten<br />

auch hin und wieder eine illustre Gesellschaft aus Versehen nieder.<br />

271


Doch Babics KGB-Vergangenheit war eher ein Garant dafür, dass solches<br />

nicht passieren würde.<br />

Richard hätte den Transfer des sagenhaften Eies auf morgen verschoben,<br />

doch die Umstände in Zürich verboten eine weitere Verzögerung.<br />

Als Richard zum Tisch zurückkehrte, sangen Kropf und Meister zusammen:<br />

»Von was kann der Landser schon träumen? Er träumt vom<br />

großen Kobalt-Ei. Versteckt es hinter Tannenbäumen...«<br />

Hätten diese Idioten irgendwann früher von einem Kobalt-Ei geredet,<br />

die Geschichte wäre anders verlaufen. »Sagen Sie mal, mein Freund,<br />

haben Sie mein Handy gesehen?«, fragte Kropf, als Richard an den<br />

Tisch zurück kam.<br />

»Ich!«, lallte Agnieszka, »ich habe das Ding auf Vibrationsalarm gestellt...<br />

und jetzt warte ich... nur noch auf einen Anruf...«<br />

Eine halbe Stunde vor Mitternacht war Pjotr Alexandrowitsch im Hotel<br />

eingetroffen. Einen Teil der Verspätung erklärte sein verschwollenes<br />

Gesicht, die gebrochene Nase und die beiden blauen Augen. Ein anderer<br />

Teil begründete sich durch die Tatsache, dass trotz einwandfreier<br />

Absprache der Bankdirektor der nahen Privatbank um 22 Uhr zu Frau<br />

und Kindern gegangen war, weil er nicht die gesamte Heilige Nacht in<br />

den verwaisten Bankräumen sitzen bleiben wollte.<br />

Auch für einen ehemaligen Geheimpolizisten wie Victor war es nicht<br />

einfach, die Privatadresse dieses Herrn ausfindig zu machen, ihn herauszuklingeln<br />

und zu überzeugen, dass der geplante Deal, wie großzügig<br />

bezahlt, nun doch noch ablaufen würde.<br />

Victor selbst hatte aus verständlichen Gründen natürlich keine Lust auf<br />

weitere großartige Bekanntschaften und überredete den Taxifahrer, Feierabend<br />

zu machen, aber ihm das Fahrzeug noch eine Weile zu überlassen.<br />

So wartete er nun unten vor dem Hotel und mimte den Chauffeur.<br />

Da man auch das Schmuckkästchen noch präparieren musste, hatte Richard<br />

darauf bestanden, Agnieszka ins Bett zu bringen. Wider Erwarten<br />

war die Polin nämlich nicht am Tisch eingeschlafen, sondern wartete<br />

wohl immer noch auf den Anruf.<br />

Alle Beteiligten waren mit der Aktion einverstanden, weil die Betrunkene<br />

nicht in Kropfs Zimmer, sondern in einer eigenen Suite entsorgt<br />

wurde. Nach langem Palaver hatte es Richard dann auch geschafft, Agnieszka<br />

zu verlassen, ohne dass sie ihm wieder hinterher gerannt kam.<br />

Dann ging Richard in sein Zimmer und holte das Fabergé-Ei. Das gute<br />

Stück stand bereits die ganze Zeit wie eine Urne aus dem Krematorium<br />

auf dem Kamin in seiner Suite. Sir Alec hatte es ja vor einer Woche<br />

272


nach Palma mitgebracht, worauf es Richard völlig problemlos in seiner<br />

aufgegebenen Reisetasche über die Grenzen hinweg von Mallorca nach<br />

Zürich und von dort nun nach Prag transportiert hatte.<br />

Mit dem Ei in einer weißen Tüte stürmte jetzt der Agent zu seinem vor<br />

dem Hotel wartenden Kollegen hinunter. »Schön, Sie wiederzusehen.«<br />

»Gleichfalls!«, grinste Victor. »Ich hätte Sie ja verständigt, aber auf<br />

Grund von Geheimhaltung und anderem Kleinkram ist ja eine Verbindung<br />

per Handy zwischen uns nicht erlaubt.«<br />

»Tja, die Welt geht unter, aber Hauptsache, alle haben den Dienstweg<br />

eingehalten. Wie lange brauchen Sie, um das Ei ins edle Gehäuse zu<br />

stellen und im Bankschließfach zu deponieren?«<br />

»In einer Stunde stehe ich wieder hier. Der Bankdirektor ist bereits vor<br />

Ort.«<br />

»Glück auf!«<br />

Und so konnte sich jeder noch etwas frisch machen, Kropf die Hände<br />

reiben und Richard nochmals nach dem aufgetauten, arg mitgenommenen<br />

Eisvogel schauen. Der lag dann auch nicht mehr im Bett, sondern<br />

zusammengerollt auf dem vorderen Bettvorleger. Richard nahm die<br />

Decke vom Bett und legte sie über das Vögelein, auf dass es sich nicht<br />

erkältete.<br />

Dann ging es zum bereitstehenden Taxi. Kropf setzte sich nach vorne.<br />

Richard und der Russe nahmen den Meister in die Mitte und ab ging die<br />

Fahrt direkt in das Eingemachte des Bankhauses, an die Stelle, an der<br />

normalerweise die Geldtransporter einfuhren und abgefertigt werden.<br />

Richard puffte den angetrunkenen Meister in die Seite: »Ich hoffe, Sie<br />

sind im Begutachten so sicher wie im Saufen.«<br />

Meister zeigte mit dem Daumen nach oben und Kropf stimmte wieder<br />

das Soldatenlied an. In Anbetracht der Sicherheitsschleusen und dem<br />

kalten Interieur der Tresorräume wurde man dann doch etwas nüchterner.<br />

»Sagen Sie mal«, fragte Kropf den aufrechten, aber recht schweigsamen<br />

Bankdirektor, der sich viel Mühe gab, die ganzen Knöpfe und<br />

Schalter der Sicherheitsschleuse selbst zu bedienen, »wann ist eigentlich<br />

Verfallstag für sechsmonatige Optionsscheine?«<br />

Der Bankdirektor kratzte sich am Kinn: »Das ist der letzte, börsenoffene<br />

Freitag vor Ablauf des Halbjahres.«<br />

»Sehr interessant«, sagte Kropf, »so deutlich konnte mir das noch niemand<br />

sagen. Dann ist ja noch ein bisschen Zeit.«<br />

Der Bankdirektor überlegte kurz, entschied sich dann aber dafür, dass<br />

man dem Kunden nicht widersprechen sollte.<br />

273


Feierlich öffnete Pjotr Alexandrowitsch das überdimensionierte Bankschließfach<br />

und entnahm eine samtblaue Schatulle, die Victor zuvor<br />

dort deponiert hatte.<br />

Während der Bankmann diskret den Raum verlassen hatte, standen<br />

Kropf, Meister und Richard um die vordere Hälfte des Tisches, während<br />

von der hinteren Hälfte der Kurator die goldfarbenen Häkchen löste<br />

und langsam den Deckel nach oben nahm.<br />

So einen spannenden Weihnachtsabend hatten Kropf und Meister noch<br />

nie erlebt. Es fehlte nur, dass aus der Schachtel jetzt ein Clownskopf<br />

hochgesprungen und wie wild auf seiner stählernen Feder hin- und her<br />

gesprungen wäre. Doch nichts dergleichen geschah.<br />

Das Große Kobalt-Ei aus dem Hause Fabergé lag in seiner ganzen<br />

Pracht im samtenen Bett der Schmuckschatulle. In Front der Einbettung<br />

war ein goldenes Schildchen angebracht worden, auf dem in kursiver<br />

Schrift das Wort »Fabergé« stand und darunter die Jahreszahl 1905.<br />

Zugegeben, der beauftragte Schlüsseldienst, der dieses goldene Schildchen<br />

geprägt hatte, verstand sein Handwerk.<br />

Bevor man überhaupt von dem Ei an sich einen Eindruck bekommen<br />

konnte, sagte der Weltmeister mit getragener Stimme: »Das Original,<br />

welch schicksalhafte Begegnung!«<br />

Feierlicher konnte auch der heilige Josef zur Jungfrau Maria im Stall<br />

von Bethlehem das »Es ist ein Junge!« nicht verkündet haben. Und wie<br />

die biblische Maria sagte Kropf: »Meine Herren, ich habe nichts anderes<br />

erwartet.«<br />

Dem Russen schwoll das Gesicht noch etwas stärker an. Mit schwulstigen<br />

Lippen sagte der heilige Pjotr Alexandrowitsch in die Runde: »Es<br />

handelt sich um das unvollendete Original des vom Zaren Nikolaus<br />

dem Zweiten für Sergej Juljewitsch Witte in Auftrag gegebene Fabergé-Eies<br />

aus der St. Petersburger Meisterwerkstatt. Die Auslassungen<br />

auf der Rückseite des Prachtstückes bestätigen den künstlerischen, filigranen<br />

Aufbau der <strong>Eier</strong> dieser Zeit.«<br />

Besser hätte dies Meister in seinem Suff auch nicht formulieren können.<br />

Und so sagte er: »Genau so ist es!«<br />

Kropf nahm das Ei vorsichtig hoch. Von vorne sah es ja recht gut aus,<br />

nur die Rückseite bestand lediglich aus einem halben Kupfermantel.<br />

Das Ganze war eigentlich überhaupt kein Ei, sondern die bloße Idee davon,<br />

ein halbfertiges Ding aus einem eiförmigen Gerüst und lückenhaften<br />

Kupferschalen, an denen man die Klumpen des nicht verflossenen<br />

Lötzinns noch nicht einmal entfernt hatte.<br />

274


Richard war sich sicher, dass dieser Versuch, ein Fabergé-Ei zu fertigen,<br />

nur aus der Lehrwerkstatt gekommen war und von Carl Peter Fabergé,<br />

dem großen Goldschmied und Hoflieferanten der Zaren, als untauglicher<br />

Versuch, ein Ei zu basteln, verworfen wurde.<br />

»Na, ja...«, gab Kropf Laut, »ich weiß nicht.«<br />

»Also«, prahlte der Weltmeister, »wenn Sie nicht wissen, was so ein Ei<br />

wert ist, dann kann ich Ihnen auch nicht helfen.«<br />

»Doch, doch«, versicherte der Sammler und Kunstliebhaber, »von vorne<br />

sieht es ja ganz schön aus.« Kropf drehte das Ei. Aus einem bestimmten<br />

Winkel sah diese hohle Nuss auch so aus wie auf dem Farbfoto.<br />

Und Teile der Vorderseite, also die Zwischenräume der nicht einwandfrei<br />

angebrachten Email-Platten, waren auch vergoldet.<br />

»Ich kann Ihnen das Ei selbstverständlich für ein paar Tausender noch<br />

fertig stellen. Nur dann hat es seine Einmaligkeit mit Millionenwert natürlich<br />

verloren«, sagte der Scheinheilige mit dem geschwollenen Gesicht.<br />

»Kommt überhaupt nicht in Frage«, schrie Meister geistesgegenwärtig,<br />

»wenn er das Ei nicht will, kaufe ich es. Das bekomme ich für fünf Millionen<br />

sofort wieder verkauft.«<br />

»Wenn nicht noch mehr«, meinte der Russe. »Unvollendete Kunstwerke<br />

sind wegen ihrer Einmaligkeit oft noch wertvoller und vor allem<br />

fälschungssicher.«<br />

»Sie wollen mich wohl verarschen. Ich weiß genau, was so etwas wert<br />

ist, nämlich exakt eine Million«, sagte nun Kropf und legte das Ei vorsichtig<br />

wieder in die Schmuckschatulle zurück. Dann blickte er auf die<br />

edlen Dokumente, die Pjotr Alexandrowitsch selbst geschrieben und<br />

übersetzt hatte. Alles Echtheitszertifikate, mit rotem Lack gesiegelt und<br />

mit einem Mont Blanc Füllhalter unterschrieben, der bestimmt mehr<br />

wert hatte als das Dokument. Von der Wertdifferenz zum Ei ganz zu<br />

schweigen.<br />

»Ich war der Auftraggeber und ich habe mit meiner Anzahlung somit<br />

auch die Eigentumsrechte erworben. Also gehört mir auch das Ei«, dozierte<br />

der Advokat.<br />

»Nicht solange Sie es nicht vollständig bezahlt haben«, widersprach<br />

Friedrich Meister und bekundete damit, dass er auch vom Vertragsrecht<br />

keine Ahnung hatte.<br />

Kropf schaute ihn nur widerwillig an. Dann nahm er seinen Kugelschreiber<br />

und annullierte die vorgesehene, telegraphische Freigabe der<br />

350.000 Dollar in St. Petersburg. Keck blickte er auf, sah zuerst Richard<br />

und dann Meister und den totenbleichen Pjotr an und verkündete:<br />

275


»Ihr seid doch alle nicht meine Nummer.« Dabei zog er aus dem Attachékoffer<br />

etliche beschriftete Bündel von Hundert-Dollar-Scheinen und<br />

errichtete damit zwei beachtliche Stöße. Der größere war für Pjotr und<br />

zählte 350.000 Dollar der kleinere für Meister mit exakt 115.000 Dollar,<br />

die er nach Belieben in seine 150.000 Franken wechseln könne, wie<br />

Kropf spöttisch anfügte. Der Bankdirektor zählte minutiös, aber maschinenschnell<br />

nach.<br />

Der Weltmeister machte eine Verbeugung und quittierte den Empfang<br />

des Geldes. »Nein, nein«, sagte er dabei, »das war mir klar, dass ich da<br />

ein schlechtes Geschäft gemacht habe.« Pjotr Alexandrowitsch hatte<br />

seine Gesichtsfarbe wieder.<br />

»Sie können am Dienstag Ihre Wertgegenstände hier wieder abholen«,<br />

meinte nun der Bankdirektor, der, nachdem das Schmuckkästchen geschlossen<br />

war, wieder auftrat.<br />

»Sehr aufmerksam«, lächelte Richard.<br />

»Kann man hier nicht irgendwo«, fragte Kropf, »die Aufregung, Sie<br />

verstehen.«<br />

»Die Waschräume für die Angestellten sind...«<br />

»Ja, danke«, sagte Kropf, »los, schließt das Ei weg und gebt mir den<br />

Schlüssel. Ich lasse mich nur ungern noch im letzten Moment betrügen.«<br />

Hilfreiche Hände schoben den samtblauen Kasten zurück in das Tresorschließfach.<br />

Pjotr Alexandrowitsch schloss ab und überreichte Kropf<br />

den Schlüssel.<br />

Als Kropf verschwunden war, kitzelte Richard mit dem Finger in seine<br />

eigene Richtung und lächelte: »Also, ich bekomme 150.000 Dollar und<br />

zwar jetzt sofort.« Und zu dem Russen gewandt, sagte er: »Ihnen ist<br />

doch klar, dass Sie ohne unsere umsichtige Mithilfe überhaupt nichts<br />

mehr bekommen hätten.«<br />

Der nickte zaghaft. »Folglich bekommt Victor von Ihnen ebenfalls<br />

150.000 Dollar. Der hat eine Frau, eine Schwiegermutter und zwei Kinder.<br />

Zusammen mit der Anzahlung in St. Petersburg haben Sie dann<br />

immer noch am meisten von uns vieren bekommen.«<br />

»Ist das nicht...?«<br />

»Zahlen Sie«, murrte Meister, »dass der nur 150.000 von der Beute<br />

kassiert, ist, glaube ich, fair.« So ganz verblödet schien der Weltmeister<br />

dann doch nicht zu sein.<br />

Richard gab das Geld dem Bankdirektor: »Sie können uns sicher<br />

Barschecks dafür ausstellen?«<br />

276


»Ja, natürlich. Einen Augenblick bitte. Zwei Schecks? Sehr wohl, die<br />

Herren.«<br />

Nach fünf Minuten hatten Meister und Richard ihre Schecks eingesteckt.<br />

»Was braucht er denn so lange?«, fragte Meister.<br />

»Ältere Herren haben öfters ein kleines Prostataleiden«, klärte Richard<br />

auf, »das ist auch der Grund dafür, dass Sie wahrscheinlich Ihre geschiedene<br />

Frau unbesorgt bei dem Alten schlafen lassen können.«<br />

*<br />

Am nächsten Morgen, es war der 25. Dezember, verpassten alle das<br />

Frühstück. Madame entstieg gegen Mittag ihrem Hotelzimmer,<br />

schmuck gekleidet und geschminkt und zeigte keinerlei Krankheitssymptome.<br />

Im Gegenteil, das Näschen hatte immer noch die gleiche<br />

Höhe und frau hätte einen Teufel dafür getan, sich irgendwo für ihre<br />

Eskapaden des Vortages zu entschuldigen.<br />

Richard legte den größten Wert darauf, dass die Herrschaften noch<br />

zwei Tage das schöne Prag besichtigen sollten. Gleichzeitig kam Kropf<br />

ja auch nicht an sein erworbenes Schmuckstück heran.<br />

So geschah es dann auch und jeder schwelgte in seinen eigenen Vorstellungen<br />

über das glückliche und erfolgreiche Jahr. Richard merkte,<br />

dass Agnieszka zu ihrem geschiedenen Mann weit freundlicher war als<br />

noch am Vortag. Aber noch war Kropf unter den Lebenden und der<br />

Ausgang der Geschichte stand in den Sternen.<br />

Würde Meister sie mit Richard erwischen, so konnte sie sich an den<br />

Vogelbeinchen abzählen, dass die Chancen beim Weltmeister beeinträchtigt<br />

würden. Würde sie sich aber mit Ihrem Geschiedenen in der<br />

Abgeschiedenheit des Hotels mal so richtig aussprechen, wusste sie<br />

nicht, wie Richard reagieren würde. Immerhin brauchte man diesen<br />

noch, solange Kropf Verwaltungsrat der Caratus AG war. Mochte<br />

Schmied sagen, was er wollte. Denn dass Kropf nun wider Erwarten<br />

das Ei vollständig und in bar bezahlt hatte, bewies, dass dieser noch arg<br />

potent war.<br />

Natürlich war dem englischen Agenten ebenfalls wichtig, dass ihn das<br />

Eisvögelchen in guter Erinnerung behalten würde. Denn dann hatte<br />

man eine robuste Frau in Zürich, würde die, sollte man hier wieder etwas<br />

zu ermitteln haben, immer von Nutzen sein. Dabei konnte aus der<br />

nachrichtendienstlichen Anlaufstelle jederzeit auch ein erotischer<br />

Stützpunkt werden.<br />

277


So hatte dann auch der listige Eisvogel in der kommenden Nacht<br />

»furchtbare Kopfschmerzen« und am Tag vor der Abreise nahm sie Richard<br />

in einem unbeobachteten Moment beiseite und sagte: »Du bist<br />

mir doch nicht böse? Aber es ist einfach zu gefährlich...«<br />

Richard legte seinen Zeigefinger auf ihre roten Lippen: »Aber, mein<br />

Liebes, du brauchst dein Verhalten nicht zu rechtfertigen. Mache einfach,<br />

was dir gut tut.«<br />

Danach verschwand Richard in Kropfs Suite. Der summte gerade das<br />

Soldatenlied und sagte frohgelaunt zu seinem Schlächter: »Herr Generalmajor,<br />

was verschafft mir die Ehre?«<br />

»Ich wollte den zweiten Teil meiner Belohnung abholen. Das Prunkstück<br />

ist ja jetzt Ihr Eigentum.«<br />

Kropf stutzte einen Augenblick. Dann fiel ihm der Satz wieder ein, den<br />

er vor Tagen in seinem Büro dem Weltmeister an den Kopf geworfen<br />

hatte: »...den Richard brauchen Sie überhaupt nicht zu bezahlen, klappt<br />

der Deal, so helfe ich dem in der anderen Sache, an der er schon Monate<br />

herumkaut und alle sind bestens bedient.«<br />

»Sie haben ein gutes Gedächtnis«, sagte Kropf und schaute eher skeptisch<br />

als bewundernd seinen Gast an. »Wie bekomme ich das Prunk-Ei<br />

von Prag in die Schweiz?«<br />

»Ich werde für den Transport Sorge tragen. Unmittelbar nach der<br />

Schweizer Zollgrenze händige ich Ihnen die Schatulle samt Ei aus.«<br />

»Na dann. Ich weiß, dass Sie immer Ihr Wort gehalten haben. Sie sind<br />

eigentlich so gut, dass Sie meinen Judasdienst überhaupt nicht nötig haben.<br />

Aber wenn Sie den Typen erledigen, dann kann mir das nur zum<br />

Vorteil gereichen.«<br />

Er gab sich einen sichtbaren Ruck. »Also hören Sie zu, bei der Greves<br />

läuft die Industriespionage schon seit Jahren. Dem alten Kessler sagt ja<br />

auch keiner etwas. Sie wissen ja, wie er Sie behandelt hat. Und da<br />

macht man sich Feinde, wo man überhaupt nicht vermutet, dass da welche<br />

sitzen. Als ich damals den Kontakt zu Babic von dieser SloTrade in<br />

Bratislava hergestellt hatte, dachte ich doch nicht im Traum daran, dass<br />

dies einmal um ein Haar dem ganzen Betrieb das Genick brechen würde...«<br />

Kropf zeigte mit dem Finger auf Richard: »Als Sie, Richard, dann zum<br />

zweiten Mal bei mir im Büro erschienen, dachte ich mir, so frech wie<br />

der kann doch eigentlich überhaupt niemand sein. Aber es war so. Und<br />

bei Ihrer letzten Präsentation bei Greves sind die Ihnen dann alle auf<br />

den Leim gegangen. Ich weiß nicht genau, was Sie gemacht haben, aber<br />

ich weiß, dass Sie sich von Rolf nicht einen banalen Virus mit Code-<br />

278


wort haben programmieren lassen. Sie sind ein durchtriebener Fuchs.<br />

Ich bin nicht blöd, obschon ich von Software und diesem Zeug keine<br />

Ahnung habe. Und ich bin sicher, dass mein Richard nur darauf wartet,<br />

dass man die Software und die Blaupausen klaut. Sie haben Ihre Vorkehrungen<br />

getroffen. Und dann...« Kropf machte eine schneidende Bewegung<br />

mit der Handkante quer zu seinem faltigen Hals. »So ist das.<br />

Aber ich weiß noch mehr, nur ein bisschen arbeiten sollten Sie auch...«<br />

*<br />

Zürich, am 27. Dezember. Noch im Flugzeug hatte Richard das Handy<br />

von Kropf in dessen Tasche zurück lanciert. Kropf passierte nach Richard<br />

die Zollkontrolle des Zürcher Airports. Dann ging Richard auf<br />

ihn zu und sagte: »Ihr Prunkstück, Herr Dr. Kropf. Vielen Dank für alles<br />

und bleiben Sie stark.«<br />

Der Advokat nahm die Tüte mit dem samtenen Schmuckkasten in<br />

Empfang. »Ich habe zu danken, Richard.«<br />

Sie schritten die letzten Meter zum Ausgang noch gemeinsam, dann<br />

wurde Kropf von zwei Herren im grauen Anzug flankiert und sanft,<br />

aber bestimmt in einen Nebenraum geleitet. Als die Tür wieder schloss,<br />

sah man als Letztes die weiße Plastiktüte, in die Richard das Ei samt<br />

Kasten aus seiner Reisetasche umgepackt hatte.<br />

»Wohin ist denn nun unser Kröpfchen verschwunden?«, fragte das Vögelchen.<br />

»Der legt jetzt eine Denkpause ein«, sagte Richard.<br />

»Wegen dem Ei?«<br />

»Wegen des Eies!«, meldete sich der Weltmeister.<br />

»Sicherlich nicht«, lachte Richard.<br />

XI<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Am 4. Januar des neuen Jahres präsentierte dann die Greves AG ihre<br />

Drehfräsemaschine in den Räumen einer Zürcher Maschinenbaufirma,<br />

die die Endfertigung der Nullserie übernommen hatten.<br />

Die Maschine funktionierte einwandfrei und übertraf die Erwartungen<br />

der potentiellen Kunden und typischen Repräsentanten des Weltmarktes.<br />

Nach ein paar Gläschen Prosecco unterschrieben die NASA, die<br />

279


Chemotechnica aus Kiew und die Insektikill & Co. KG die entsprechenden<br />

Kaufoptionen. Superoptimistische Hochrechnungen der neuen<br />

Produktfamilie beliefen sich insgesamt auf über 1,4 Milliarden Schweizer<br />

Franken und Willy Kessler hatte wohl verdrängt, dass durch diese<br />

Aktion ihm lediglich die entsprechenden Optionsgebühren der heutigen<br />

Bestellungen zustanden und gerade die Greves AG bei ähnlichen Projekten<br />

stets den Kürzeren gezogen hatte. Zwölf Wochen hatten nämlich<br />

jetzt die Auftraggeber Zeit, sich nach einer Alternative umzusehen bzw.<br />

günstigere Angebote einzuholen.<br />

Kessler nahm seinen Sohn und Rüegg beiseite: »Jetzt seht ihr mal, was<br />

für eine weise Entscheidung es war, diesen englischen Pfuscher rauszuschmeißen.<br />

Nirgendwo kann einer bei diesen Preisen mithalten und natürlich<br />

ist die Technik derart ausgefeilt, dass sich ein Nachbau auch<br />

nicht lohnen würde. Also, Junge«, und er klopfte seinem Sohn auf die<br />

Schulter, »du hast gesehen, dass du noch kräftig Erfahrung sammeln<br />

musst, bis du in die oberen Etagen aufrücken kannst. Und du, Samuel,<br />

übernimmst eines Tages meinen Posten.«<br />

Die beiden lächelten freundlich. »Tja, Vater«, sagte Rolf, »aber ich<br />

glaube immer noch, dass du Richard Unrecht getan hast.«<br />

Willy Kessler hob den Zeigefinger: »Davon möchte ich nie mehr etwas<br />

hören. Verstanden?«<br />

280<br />

*<br />

Zuerst wollte man es nicht wahrhaben, dann wurde es als Witz abgetan,<br />

aber letztendlich musste man nach nur acht Wochen zur Kenntnis<br />

nehmen, dass die CincinatTec Tools in Ohio ein Angebot auf den<br />

Markt schmiss, das um nahezu 40 Prozent preiswerter war als das Angebot<br />

der Greves.<br />

Der Bevollmächtigte der NASA meldete sich zwei Wochen später als<br />

erster bei Kessler und legte den Prospekt des Konkurrenten vor. »Sie<br />

müssen verstehen«, sagte der Amerikaner, »aber wenn Sie uns nicht<br />

mindestens um 35 Prozent entgegenkommen, müssen wir die Option<br />

verfallen lassen.«<br />

Willy Kessler hatte sich bei diesem Gespräch noch unter Kontrolle.<br />

Dann aber verlor er die Nerven und hätte beinahe seinem auch schon<br />

fast vierzigjährigen Sohn eine Ohrfeige gehauen. »Von wegen Virus.<br />

Wo ist denn nun dieser verdammte Virus? Hä?«<br />

Auch Rüegg regte sich furchtbar auf und sagte dann: »Ich kann meine<br />

Aktien der Greves heute Abend im Kamin verheizen. Mal was Neues.«


Rolf traute sich nach dem Eklat noch nicht einmal mehr, den Namen<br />

von Richard zu denken, geschweige denn, dem Herrn Papa nahe zu legen,<br />

dass es jetzt Zeit wäre, Richard zu kontaktieren.<br />

*<br />

Frankfurt. Einen Tag später meldete sich bei Follmann der bereits bekannte<br />

ältere Mann mit dem Spazierstock. »Schöne Grüße von Sonja,<br />

sie hofft, dass Sie einen erholsamen Urlaub gehabt haben.«<br />

»Danke«, sagte Follmann missmutig, »seit ihre Tochter einen Unfall<br />

hatte, ist meine Ehe auch wieder besser geworden.«<br />

Der Besucher lächelte und meinte: »Schön für Sie, na dann.«<br />

Schon auf dem Flur rief Follmann ihm hinterher: »Mein Herr, Sie haben<br />

Ihren Schirm vergessen.«<br />

»Oh, vielen Dank«, meinte der Herr, »ich gehe jetzt in Rente, da wird<br />

man vergesslich.«<br />

Und so wechselte mit dem Schirm der USB-Stick den Besitzer, auf<br />

dem Follmann die neuen Daten der Transtecco aufgespielt hatte.<br />

Kurze Zeit darauf wurde Richard von London bestätigt, dass die Andeutungen<br />

zutrafen, die ihm Kropf in Prag in Bezug auf die Greves-Industriespionage<br />

gemacht hatte.<br />

Dann klingelte das Telefon und Rolf meldete sich, am Boden zerstört.<br />

»Richard, er will von Ihnen nichts hören. Er war gestern bei der Staatsanwaltschaft<br />

und hat eine Anzeige gegen Sie aufgegeben wegen vorsätzlichen<br />

Betrugs und Beihilfe zur Industriespionage. Mutter ist zu ihrer<br />

Schwester gezogen, sie sagt, sie könne den alten Narren nicht mehr<br />

ertragen.«<br />

Richard schmunzelte und zeigte siegessicher Mercedes den erhobenen<br />

Daumen. »Wann verfallen die Kaufoptionen?«<br />

»Ich weiß es nicht. Ich glaube in vierzehn Tagen. Die Firma in Kiew<br />

hat noch nicht von einem besseren Angebot gesprochen, das liegt aber<br />

auch daran, dass die Amerikaner die Maschine auf die Liste der Industriegüter<br />

gesetzt haben, die Ausfuhrbeschränkungen unterliegen.«<br />

»Dann habt ihr ja zumindest einen Auftrag«, folgerte Richard.<br />

»Der rentiert sich nicht, Kiew optierte lediglich auf eine abgespeckte<br />

Version«, erklärte Rolf.<br />

»Na, dann lassen wir doch erst einmal die Optionen verfallen.«<br />

»Und bis dahin?«<br />

281


»Bis dahin spielen wir mit den Fingern an den Händen und behalten<br />

die Nerven.«<br />

282<br />

*<br />

Zürich, Mitte März. Als alle Optionen verfallen waren und nur die<br />

Chemotechnica aus Kiew ihr Optionsrecht wahrgenommen hatte, beschloss<br />

Richard, sich beim leitenden Staatsanwalt in Zürich persönlich<br />

vorzustellen.<br />

Sir Alec hatte über die richtigen Kanäle ein wenig mitwirken lassen,<br />

dass der Herr Staatsanwalt für einen Engländer, gegen den immerhin<br />

ein Ermittlungsverfahren lief, ein offenes Ohr hatte.<br />

Am darauf folgenden Dienstag meldeten sich nun morgens um sieben<br />

Uhr acht Mann der Kriminalpolizei durch Klingeln an der Pforte eines<br />

beachtlichen Anwesens in einem Zürcher Vorort.<br />

Zur gleichen Zeit bat der federführende Staatsanwalt um ein Gespräch<br />

mit den Herren des Vorstands der Greves AG sowie mit einem Rolf<br />

Kessler und Urs Flückiger.<br />

Willy Kessler, ein notorischer Frühaufsteher, empörte sich lautstark<br />

und sagte: »Da müssen sich die Herrschaften einen Termin geben lassen,<br />

vielleicht habe ich nächste Woche Zeit.«<br />

»Nächste Woche ist jetzt«, sagte der Staatsanwalt süßsauer und präsentierte<br />

gleich mehrere Durchsuchungsbefehle.<br />

Streng darauf achtend, dass niemand mehr den Besprechungsraum verließ,<br />

saßen nun Willy Kessler, Samuel Rüegg, Rolf Kessler, Urs Flückiger<br />

und der eingedrungene, keinen Spaß verstehende Staatsanwalt<br />

am Tisch zusammen. Eine etwa zwanzigjährige Protokollführerin hatte<br />

man ebenfalls mitgebracht, in weiser Voraussicht, dass Willy Kessler<br />

das Aufzeichnen der Gespräche mit einem Tonband untersagen würde.<br />

Was der auch prompt tat.<br />

Zwei uniformierte Polizisten hatten sich an der Tür postiert.<br />

»Es dreht sich um das Ermittlungsverfahren gegen den englischen<br />

Staatsbürger Richard Harriott«, leitete der Staatanwalt das Gespräch<br />

ein. »Ich denke, es ist im Sinne des Unternehmens, dass ich die Herrschaften<br />

nicht vorladen ließ, sondern Sie, Herr Kessler, mich bevollmächtigen,<br />

diesen Raum als Vernehmungszimmer umzufunktionieren.«<br />

»Das hätten Sie auch gleich sagen können«, schimpfte der alte Kessler,<br />

»selbstverständlich gestatte ich das, wenn es gilt, diesem Rosstäuscher<br />

und Lackaffen das Handwerk zu legen.«


»Sehr freundlich! Dann darf ich Mister Harriott herein bitten.«<br />

In Begleitung eines Kriminalbeamten kam Richard ins Zimmer. Rolf<br />

Kessler war den Tränen nahe. Nun hatte es Vater doch geschafft, seinen<br />

Freund und Inspirator ans Messer zu liefern, anstatt auf seine Hilfe zu<br />

vertrauen.<br />

»Na dann«, verzog der Staatsanwalt das Gesicht und eine abgrundtiefe<br />

Widerwärtigkeit prägte seinen Ausdruck.<br />

Eine Sekretärin streckte den Kopf durch die Tür und deutete an, dass<br />

für Rüegg ein dringendes Telefonat gekommen wäre. Der Staatsanwalt<br />

hob die Hand: »Jetzt nicht!« Dann sagte er den beiden Polizisten, sie<br />

möchten bitte auf der anderen Seite der beiden Türen wachen, das wäre<br />

effizienter.<br />

»Herr Urs Flückiger?«, fragte der Staatsanwalt und schaute in die Runde.<br />

»Sie sind Betriebsleiter bei der Greves AG und für die Sicherheit<br />

der in der Forschung und Entwicklung verwendeten EDV-Technik zuständig?«<br />

»Ja, schon«, zögerte der Angesprochene, »aber Rolf hat überall, wo ich<br />

Zutritt habe, auch einen Schlüssel. Es gibt auch Generalschlüssel und<br />

wer einen solchen hat, weiß ich überhaupt nicht.«<br />

»Mit dem Generalschlüssel lassen sich die Stahlschränke öffnen, in denen<br />

zum Beispiel die Datensicherungsspeicher gelagert werden?«,<br />

murrte der Staatsbeamte.<br />

»Bitte?«, fragte Flückiger zurück.<br />

»Quatsch«, mischte sich Willy Kessler ein, »für die Datensicherung<br />

und die Computeranlagen, soweit sie nicht elektronisch gesichert sind,<br />

habe noch nicht einmal ich einen Schlüssel. Nur Urs und mein Sohn.«<br />

»Ist das so?«, wollte der Untersuchungsleiter wissen.<br />

»Ja, so ist das. Damit habt ihr ja jetzt einen, den ihr schlachten könnt.<br />

Das habe ich gleich geahnt«, sagte Flückiger.<br />

»Sie sind hier als Zeuge, Herr Flückiger. Für den Fall, dass ich mich<br />

nicht unmissverständlich ausgedrückt habe.«<br />

Der Betriebsleiter nickte zögernd. Doch der Staatsanwalt ließ nicht von<br />

ihm ab: »Gibt es in Bezug auf die Sicherungseinrichtungen von Ihnen<br />

noch etwas mitzuteilen?«<br />

»Nein, was denn?«<br />

»Zum Beispiel, dass Sie oder Herr Kessler junior diese Schlüssel einmal<br />

verlegt hatten, sie abhanden kamen oder Sie in anderer Weise<br />

Grund zu der Vermutung gehabt haben könnten, dass der oder die<br />

Schlüssel in die Hände Dritter gelangt sind.«<br />

283


»Hören Sie«, sagte Urs Flückiger, »ich bin Techniker. Ich verstehe das<br />

Juristendeutsch nicht und ich möchte jetzt einen Anwalt sprechen.«<br />

»Das können Sie nach dieser Befragung gerne tun.« Der Staatsanwalt<br />

verzog sein Gesicht, als müsste er mit einem Blinden einen Sehtest machen.<br />

Nun schlug der alte Kessler mit der Hand auf den Tisch: »Mensch Urs,<br />

Sie Memme, der Engländer ist doch verhaftet und nicht Sie. Sage diesem<br />

Staatsanwalt schon, dass Sie den Schlüsselbund bei Kropf haben<br />

liegen lassen. Ich habe noch etwas anderes zu tun.«<br />

»Hier redet nur, wer gefragt wird«, wurde der Staatsanwalt nun äußerst<br />

scharf und schneidend, »noch eine solche Bemerkung und ich lasse Sie<br />

abführen.«<br />

Allgemeines betretenes Schlucken. Richard grinste und Rolf wäre am<br />

liebsten unter den Tisch gekrochen.<br />

»Ja, nein, schon«, sagte Flückiger betreten und kleinlaut, »aber jetzt<br />

geht es Dr. Kropf bereits an den Kragen. Ihr habt ihn doch verhaftet<br />

und nun schlage ich da auch noch oben drauf...«<br />

Nach zähen Sekunden fuhr er fort: »Also, ich war vor etwa drei Jahren<br />

einmal bei Dr. Kropf im Büro...«<br />

»Wer ist Dr. Kropf?« fragte der Staatsanwalt fürs Protokoll.<br />

»Das ist der Justiziar der Firma oder war es zumindest bis Weihnachten.«<br />

»Fahren Sie bitte fort.«<br />

»Na ja«, stotterte Flückiger, »und da habe ich meinen gesamten<br />

Schlüsselbund bei dem auf dem Schreibtisch liegen lassen. Am nächsten<br />

Morgen, als ich zur Arbeit wollte, habe ich das gemerkt und, soviel<br />

ich weiß, sofort bei Kropf angerufen. Ich weiß nicht mehr, was der gesagt<br />

hat, am Nachmittag konnte ich mir den Schlüsselbund dann hier<br />

oben abholen. Das ist alles.«<br />

»Was heißt hier oben?«, nörgelte der Beamte.<br />

»Hier bei der Sekretärin, die eben den Kopf durch die Tür gestreckt<br />

hat«, antwortete Flückiger.<br />

Wie ein Schuljunge hob der alte Kessler den Zeigefinger. Der Staatsanwalt<br />

zeigte seine Abscheu über die notwendige Prozedur, machte einen<br />

weiteren Haken in ein mitgebrachtes Aktenstück, ließ aber die Bemerkung<br />

zu.<br />

»Flückiger kam ein paar Tage später zu mir und teilte mir den Vorgang<br />

mit. Ich glaube, er fragte an, ob man nicht jetzt die ganze Schließanlage<br />

ersetzen müsse. Wir sind nämlich diesbezüglich versichert. Aber den<br />

284


Schlüsselbund hatten ja nur Kropf und die Sekretärin. Und deshalb<br />

winkte ich ab. Der Kropf war doch immer ein integrer Mann.«<br />

Der Staatsanwalt blätterte in seiner Akte. »Die Aussage des Herrn<br />

Kropf gestern Nachmittag bei einer entsprechenden Vorführung aus der<br />

Untersuchungshaftanstalt widerspricht aber Ihren Einlassungen. Nicht<br />

Kropf hat den Schlüsselbund der Sekretärin... Moment... einer Frau<br />

Fallhuber gebracht, noch hat sie diesen bei ihm abgeholt. Sondern der<br />

Untersuchungshäftling Kropf hat den Schlüsselbund anlässlich eines<br />

Empfanges...«, der Staatsanwalt blätterte in seiner Akte. »...eines Empfanges<br />

in der Galerie Meister entweder selbst oder durch seine Lebensgefährtin<br />

Herrn Samuel Rüegg übergeben bzw. übergeben lassen. Erst<br />

danach kam der Schlüsselbund am nächsten Morgen in den Betrieb und<br />

wurde gegen Mittag durch die Sekretärin des hier anwesenden Rüegg<br />

ausgehändigt. Ist das so, Herr Rüegg?«<br />

Samuel Rüegg hatte sich weit zurückgelehnt und richtete sich nun wieder<br />

kurz vor dem Einschlafen auf. »Das mag so gewesen sein. Da kann<br />

ich mich nicht mehr daran erinnern.«<br />

»Das ist doch dasselbe«, murrte Willy Kessler, »natürlich hatte Kropf<br />

der Sekretärin diesen blöden Schlüsselbund nicht persönlich und eigenhändig<br />

gebracht.«<br />

Nun lächelte der Herr Staatsanwalt überraschenderweise und sagte:<br />

»Herr Rüegg, ich mache Sie darauf aufmerksam, dass ich nun gegen<br />

Sie ein Ermittlungsverfahren wegen gewerbsmäßigem Diebstahl, Hehlerei,<br />

Bandenhehlerei, Unterschlagung sowie Agententätigkeit für eine<br />

fremde Macht einleite. Das ist damit gegen Sie eine Einvernahme als<br />

Beschuldigter und Sie haben das Recht, die Aussage zu verweigern.«<br />

Kessler fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf. Rüegg lachte<br />

lauthals: »Genau, ich säge mir hier meinen eigenen Ast ab. Fragen Sie<br />

doch einmal Richard, wer ihn die ganze Zeit beauftragt hatte, dass er<br />

die Spionage unterbinden solle. Und fragen Sie den Kessler, der ist mir<br />

ja immer noch böse, dass ich diesen Richard angeschleppt habe.«<br />

Ein weitere Beamter trat ins Zimmer und legte dem Staatsanwalt einen<br />

schmalen Hefter hin. Der nickte und wandte sich wieder an Rüegg: »Ja,<br />

das ist ein Phänomen, das wir auch bei Brandtstiftern beobachten können.<br />

Diejenigen, die zuvor das Feuer gelegt haben, helfen anschließend<br />

der Feuerwehr beim Löschen und kommen in den Regionalnachrichten<br />

als Augenzeugen.«<br />

Rüegg blieb amüsiert.<br />

Der Staatsanwalt ließ sich nicht beeindrucken und die anderen Beteiligten<br />

saßen da, als hätte sie der Blitz getroffen. »Jetzt sag’ doch end-<br />

285


lich etwas!«, zischte Willy Kessler und sein Sohn flüsterte zu Richard:<br />

»Das können Sie doch nicht zulassen.«<br />

»Nun eine Frage an Sie, Herr Kessler«, wurde der Vorsitzende des<br />

Vorstandes angesprochen, »was verdient Herr Rüegg. Wenn Sie es<br />

nicht aus dem Kopf wissen, schätzen Sie bitte.«<br />

»Etwa 300.000 im Jahr«, zuckte der Alte mit den Schultern.<br />

»Bekommt er Sonderzahlungen, Prämien, Dividenden?«<br />

»Wo denken Sie hin? Uns steht das Wasser bis zum Hals. Ich denke,<br />

dass man mit dem Geld gut leben kann, was man hier verdient.«<br />

»Herr Rüegg! Kennen Sie die Firma Transtecco?«<br />

»Sicher, durch die Ermittlungen von Richard.«<br />

»Und wie erklären Sie sich die Zahlungen der Transtecco an Sie vom<br />

3. Mai vorletzten Jahres bis einschließlich heute von monatlich 20.000<br />

Schweizer Franken, zuzüglich zwei Sonderzahlungen im September des<br />

vorletzten Jahres und vor drei Wochen in Höhe von sieben Millionen<br />

resp. zwölf Millionen Franken?«<br />

»Da kann ich nur lachen«, kommentierte der Verdächtigte.<br />

»Das können Sie halten, wie Sie wollen. Ich habe die entsprechenden<br />

Unterlagen einer Liechtensteiner Bank und Kopien der diesbezüglichen<br />

Überweisungsträger der Firma Transtecco. Herr Harriott war so freundlich,<br />

mir seine Unterlagen zur Verfügung zu stellen und den Rest haben<br />

wir bei der Hausdurchsuchung heute Morgen in Ihren Wohnräumen gefunden.<br />

Eine Vernehmung in einem solchen Kreis kann ich mir nur erlauben,<br />

wenn sämtliche relevanten Tatsachen und Beweise bereits anderweitig<br />

gesichert sind.<br />

Wie wollen Sie, Herr Rüegg, es beispielsweise darstellen, dass Sie<br />

dem Kropf einmal fünfhunderttausend und zuletzt mindestens drei Millionen<br />

Dollar geliehen haben?«<br />

»Das habe ich dem Kropf nicht geliehen, sondern zurückbezahlt«,<br />

meinte Rüegg.<br />

»Ach so!«, griente der Staatsanwalt, »dann haben also Sie mit Spekulationen<br />

an der Börse Ihr Geld zum Fenster hinausgeworfen? Und<br />

zuletzt in Prag für eine Million ein Fabergé-Ei gekauft? Ich will Ihnen<br />

sagen, wie es war. Und sämtliche Aussagen decken sich mit den Aussagen<br />

des Herrn Harriott und des Untersuchungshäftlings Kropf.<br />

Kropf bekam eines Tages von einem gewissen Jozef Babic Besuch.<br />

Die beiden hatten Streit um Provisionszahlungen, die hier nicht zur Debatte<br />

stehen. Dieser Babic, ein slowakischer Staatsbürger, bot für einen<br />

Informanten innerhalb der Greves beträchtliche Summen. Der Untersu-<br />

286


chungshäftling Kropf hatte sich wieder einmal an der Börse verspekuliert<br />

und benötigte Geld.<br />

So wurde vor etwa drei Jahren Herr Urs Flückiger angeworben und<br />

Kropf kassierte angeblich für diese Mitarbeitervermittlung 100.000<br />

Dollar von Babic. Herr Flückiger sollte erst Geld bekommen, wenn er<br />

brisante Informationen aus der Greves lieferte. Doch Herr Flückiger lieferte<br />

nichts, obwohl er seinen ehemaligen Vorgesetzten aus der Armee<br />

hoch verehrte und dies bis heute noch tut.<br />

Anlässlich der Veranstaltung in dieser Galerie kam nun Kropf mit Rüegg<br />

ins Gespräch und sagte ihm sinngemäß, dass er alle Sorgen los wäre,<br />

könnte er die Unterlagen der Greves an diese ominöse SloTrade<br />

verkaufen. Man müsse nur die Schlüssel dieses Schlüsselbundes kopieren...«<br />

»Das habe ich sofort abgelehnt«, unterbrach Rüegg die Rede des<br />

Staatsanwaltes.<br />

»Richtig! Sie erinnern sich also doch. Mit Empörung wiesen Sie nämlich<br />

das Ansinnen Kropfs ab. Dann aber, Sie hatten den Schlüssel zur<br />

Geldquelle bereits in der Tasche, überlegten Sie sich, wie Sie das Geschäft<br />

alleine machen könnten. Offenbar gingen Sie in der Frühe des<br />

nächsten Tages zu einem Schlüsseldienst und wollten die Schlüssel<br />

nachgemacht bekommen. Doch dieser muss ihr Ansinnen abgelehnt haben<br />

beziehungsweise fragte er nach den erforderlichen Bescheinigungen.<br />

Nun wussten Sie, dass die Lebensgefährtin von Kropf bei der Caratus<br />

AG arbeitete und dass an den Maschinen einer Goldschmiedewerkstatt<br />

die zwei Schlüssel, um die es letztendlich ging, ebenfalls nachgemacht<br />

werden könnten. Eine Frau...«, der Mann blätterte, »...Meister-Novak<br />

tat Ihnen den Gefallen, nahm aber an, dass sie dies für Kropf, dem damaligen<br />

Verwaltungsrat der Caratus, tun müsste.<br />

Als nun das Gespräch zwischen den beiden auf diese Aktion kam, erfuhr<br />

Kropf quasi zufällig, dass Sie, Herr Rüegg, Schlüssel anfertigen<br />

ließen und zog seine eigenen Schlüsse daraus. Ohne sich bei seiner Lebenspartnerin<br />

etwas anmerken zu lassen, wartete Kropf mit dieser Information,<br />

bis er meinte, dass Sie sich damit Geld verdient hätten. Und<br />

tatsächlich, Sie stritten das bei Kropf wohl empört ab, borgten ihm aber<br />

Geld und forderten dies nie mehr zurück.«<br />

Die Luft war trocken und nach Kaffee wollte der Staatsanwalt nicht<br />

fragen. Er räusperte sich deshalb nur und fuhr, zu Rüegg gewandt fort:<br />

»Bei dem ersten diesbezüglichen Geschäft vor ein paar Jahren mit der<br />

SloTrade in Bratislava bekamen Sie es dann mit der Angst zu tun. Mit<br />

287


diesem Babic war nicht zu verhandeln und Sie befürchteten, dass ein<br />

solcher Geschäftspartner für Sie leicht zur Bedrohung werden könnte.<br />

Deshalb schalteten Sie damals die Palma Management ein und damit<br />

Herrn Harriott. Sie wollten Informationen über die SloTrade gewinnen<br />

und diesem Babic signalisieren, dass Sie, Rüegg, nicht alleine wären.<br />

Der Auftrag war sehr begrenzt und das sprichwörtliche Kind bereits in<br />

den besagten Brunnen gefallen. Herr Harriott lieferte Ihnen jedoch<br />

mehr, als Sie wünschten: den Zwischenhändler der SloTrade, die<br />

Transtecco in Frankfurt. Diesen Herrschaften statteten Sie alsbald persönlich<br />

einen Besuch ab und boten Ihre Dienste an. Darüber gibt es eine<br />

mir in Kopie vorliegende Gesprächsnotiz der Transtecco.<br />

Die Transtecco lehnte aber Ihr Ansinnen ebenso empört ab wie Sie<br />

selbst ein diesbezügliches Angebot von Kropf. Ein paar Wochen später<br />

meldete sich jedoch ein amerikanischer Staatbürger bei Ihnen und bot<br />

Ihnen zu besten Konditionen eine Position als freier Mitarbeiter und<br />

festen Bezügen an. In Anbetracht des großzügigen Angebotes und dem<br />

seriösen Auftreten der neuen Geschäftspartner willigten Sie ein. Seither<br />

lieferten Sie über einen Kontaktmann der Transtecco alles, was in der<br />

Greves AG jemals entwickelt und geplant wurde.<br />

Das stellte sich für Sie denkbar einfach dar, da Sie lediglich das entsprechende<br />

Backup liefern mussten. Dazu benötigte man weder spezielle<br />

Kenntnisse noch große kriminelle Energie. Sie tauschten in Folge<br />

das erste Backup lediglich gegen leere Datenspeicher aus und die weiteren<br />

Datensicherungen gegen die von den Transtecco-Leuten zurückgebrachten<br />

alten.<br />

Da bei der Transtecco die rechte Hand nicht weiß, welche Geschäfte<br />

die linke tut, wurde mit der SloTrade die Geschäftsbeziehung mit minimalen<br />

Beträgen aufrechterhalten. Kropf bemerkte, dass Geld floss und<br />

stellte neuerliche Ansprüche auf Provisionen, mit denen er jedoch nicht<br />

das Geringste zu tun hatte.«<br />

Der Staatsanwalt atmete tief durch: »Sollte die Sekretärin noch einmal<br />

herein wollen, lassen Sie die Frau bitte einen Kaffee bringen.«<br />

Diese höfliche Andeutung verstand der im Raum verbliebene Polizeibeamte<br />

vollkommen falsch. Er öffnete die Tür zum Sekretariat und rief<br />

hinaus: »Zwei Kaffee!«<br />

Trotz der Katastrophe und der vor allem menschlichen Abgründe, die<br />

sich hier auftaten, lachte nun Willy Kessler und sagte: »Mit Verlaub,<br />

Herr Staatsanwalt, so geht es nicht.«<br />

288


Der lächelte gequält und nickte. Kessler gab seinem Sohn einen Wink<br />

und der bestellte nun durch den Türspalt für alle Kaffee und entschuldigte<br />

sich augenzwinkernd bei der Sekretärin von Rüegg.<br />

Der Staatsanwalt informierte weiter: »Herr Rüegg gab dann Ende August<br />

an die Palma Management einen neuerlichen Auftrag. Auf Grund<br />

verschiedener, hier nichts zur Aufklärung beitragenden Umständen<br />

zeigten die Leute der Transtecco aber großes Interesse an der Tätigkeit<br />

des Herrn Harriott in Zürich.<br />

Da der eigentliche Auftrag nicht derart brisant war, dass er die Mühen<br />

der Transtecco gerechtfertigt hätte, versuchte Mister Harriott also, in<br />

Deutschland den eigentlichen Beweggründen der Transtecco auf die<br />

Spur zu kommen. Ohne die aufdringlichen Aktivitäten der Transtecco<br />

hätten sich die Aktivitäten und Ermittlungsarbeiten der Palma Management<br />

vermutlich wieder in engen Grenzen gehalten. Das hatten Sie,<br />

Herr Rüegg, auch so geplant. Wieder wären die SloTrade und die<br />

Transtecco verdächtigt worden, doch der Informant hier in der Firma<br />

wäre nicht zu ermitteln gewesen.<br />

Kropf, jetzt in Untersuchungshaft, beauftragte nun ebenfalls Mister<br />

Harriott in Sachen SloTrade. Und während Sie, Herr Rüegg, vermutlich<br />

darauf spekulierten, dass Mister Harriott den Advokaten Kropf ausschalten<br />

würde, was vorübergehend auch gelungen ist, ergaben die Ermittlungen<br />

sehr schnell, dass in der Greves jemand anderer das große<br />

Geschäft machen würde und eben nicht die Herren Kropf oder Flückiger.<br />

Das alles, Herr Kessler, hätte die Staatsanwaltschaft Zürich nie ermitteln<br />

können. Das nur nebenbei bemerkt.<br />

Sie, Herr Rüegg, wussten übrigens, dass der Engländer zuerst den Vorstandvorsitzenden<br />

Kessler fragen musste, bevor etwas an der Software<br />

verändert würde. Sie konnten also die noch unbehandelte Software<br />

leicht an sich nehmen, bevor das in Auftrag gegebene Schutzprogramm<br />

in Einsatz kam.<br />

Da nun Kropf sich wieder einmal an der Börse verspekuliert hatte und<br />

in finanziellen Schwierigkeiten war, gaben Sie ihm wieder Geld. Mindestens<br />

die erwähnten drei Millionen.«<br />

Der Kaffee wurde serviert und dankend nahm der Staatsanwalt das Getränk<br />

an.<br />

»Wenn ich Ihnen einen Rat geben darf, in Anbetracht dessen, dass die<br />

Aussage dieses Gentleman hier neben mir mit den Aussagen des Untersuchungshäftlings<br />

Kropf, den mir vorliegenden Dokumenten und unseren<br />

eigenen Erkenntnissen vollkommen widerspruchsfrei sind: Man<br />

289


sollte keinen Fuchs in den Hühnerstall laden, wenn die Gefahr besteht,<br />

dass man selbst gerupft wird.<br />

Ich vermute, Herr Kessler, dass Sie als Privatkläger ebenfalls Strafantrag<br />

stellen?«<br />

Der alte Kessler nickte.<br />

»Herr Rüegg«, sagte der Staatsanwalt, »Sie sind verhaftet.« Mit diesen<br />

Worten zog er den bereits mitgebrachten Haftbefehl aus der Tasche.<br />

Als Rüegg, flankiert von zwei Polizeibeamten, das Besprechungszimmer<br />

verließ, traf sein Blick Richard. Als wolle er sagen »Dumm gelaufen!«<br />

hob er die Schulter und machte einen eher belustigten Eindruck.<br />

»Ich werde, Ihnen, meine Herren, nicht ersparen können, in mein Büro<br />

zu kommen und die entsprechenden Aussagen zu unterschreiben.«<br />

Dann stand der Staatsanwalt auf und trank seinen Kaffee aus. »Sie<br />

werden wieder mit rauskommen müssen«, meinte er zu Richard. »Der<br />

Fuchs hat hier Hausverbot«.<br />

»Hat er nicht!«, riefen Willy und Rolf Kessler im Chor.<br />

EPILOG<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

Der Greves AG war mit der Verhaftung ihres zweiten Vorstandes, Samuel<br />

Rüegg, natürlich nur wenig gedient. Die Aufträge waren wieder<br />

weg. Willy Kessler war in seiner ausgesprochenen Schrulligkeit auf die<br />

Idee gekommen, dass Rüegg die Kostennote der Palma Management ja<br />

bezahlen könnte, von dem wäre ja schließlich auch der Auftrag gekommen.<br />

Das war dann Rolf Kessler doch zuviel und er drohte seinem Vater mit<br />

allen möglichen Konsequenzen. Doch der alte Kessler blieb stur. Das<br />

änderte sich im Herbst des Jahres, als die CincinatTec Tools in Ohio einen<br />

Generalbevollmächtigten zur Greves AG schickte. Der Mann<br />

sprach ein ausgezeichnetes Deutsch und konnte sich sehr gut ausdrücken.<br />

Das war auch notwendig, denn man wollte zu einem Gentlemans<br />

Agreement kommen und sich kein grenzüberschreitendes Gerichtsverfahren<br />

von internationaler Tragweite mit allen erdenklichen Imageschäden<br />

einhandeln.<br />

Die mustergleiche Anlage, welche die CincinatTec Tools völlig legal<br />

beschafft und nun zu Dumpingpreisen anbot und verkaufte, war nicht<br />

zum Laufen zu bringen. In der Zwischenzeit waren zehn Anlagen aus-<br />

290


geliefert und zeigten die merkwürdigsten Symptome, die auch mit den<br />

besten Analyseverfahren nicht auszumerzen waren. Aus heiterem<br />

Himmel und völlig unberechenbar bohrte sich die Fräse einmal durch<br />

das eigene Backenfutter, ein anderes Mal lief sie rückwärts.<br />

Die Analyse der Software verlief jedes Mal ergebnislos. Als an einem<br />

Tag an allen zwanzig Maschinen die Software den Drehstrom des<br />

Werkzeugmotors auf die Elektronik umleitete, waren sämtliche Prints<br />

und Leiterplatten verschmort.<br />

»Unsere Ingenieure sind nun bereits allesamt abergläubisch und wir<br />

bekommen leider die ersten Schadensersatzansprüche«, meinte der Generalbevollmächtigte.<br />

Dass diese zu astronomischen Summen auflaufen<br />

konnten, behielt er für sich.<br />

Bei Willy Kessler dämmerte es. Der Kalk in seinem eigensinnigen<br />

Schädel verhinderte noch einige Tage, die richtigen Schlüsse und Konsequenzen<br />

zu ziehen, dann aber sollte Richard eingeschaltet werden.<br />

Als Gesandter des guten Willens kam Rolf Kessler extra nach Mallorca<br />

geflogen, um im Namen seines Vaters Abbitte zu tun. Denn jetzt<br />

ging es um dreistellige Millionenbeträge, welche der Raubkopierer und<br />

Dumpinganbieter an die Greves zu zahlen bereit wäre, würde man helfen<br />

können.<br />

Richard fragte nach Kesslers Name. »Na, Kessler, wir kennen uns<br />

doch«, lachte der.<br />

»Vornamen?«<br />

»Mensch, Richard, Rolf Kessler, ich bin’s, machen Sie hier keine Späße<br />

mit mir.«<br />

Richard fragte Mercedes: »Steht dieser Name auf unserem Zettel?«<br />

»Nein, mein großer Held.«<br />

»Hat der Kater noch etwas zu fressen?«<br />

»Ja, mein großer Held.«<br />

»Dann, mein lieber Rolf, können wir noch etwas warten.«<br />

Es half nichts. 16 Tage und acht Stunden später kam Willy Kessler<br />

persönlich. Davor hatte er bereits Richards Kostennote per Überweisung<br />

beglichen.<br />

»Tja«, sagte Richard, »ich höre.«<br />

»Entschuldigung. Aber ich brauche Ihre Hilfe.«<br />

»Das sagen sie alle, bis die Probleme gelöst sind und dann muss man<br />

die Honorare einklagen. Das ungarische Flugzeug ist immer noch nicht<br />

bezahlt.«<br />

291


»Aber Richard, wenn wir das erledigt haben, bezahle ich das selbstverständlich.«<br />

»Hat der Kater noch etwas zu fressen?«, wurde Mercedes gefragt.<br />

»Ja, mein großer Held«, sagte die.<br />

Richard hob die Schulter. »Sehen Sie, Kessler, Not leiden wir nicht.«<br />

»Sagen Sie, was Sie wollen und ich schlage ein«, machte er auf Mann<br />

zu Mann.<br />

»Ich will gar nichts. Es gibt eine ungarische Fluggesellschaft, die<br />

möchte ein neues Flugzeug, weil man mit dem Schrottwert des alten<br />

nicht in der Luft herumfliegen kann. Mit der Entlassung Ihres Freundes<br />

und Spions Rüegg haben Sie ja 300.000 Franken Gehalt gespart. Also<br />

ist die Bezahlung des neuen Fliegers fast kostenneutral.«<br />

»Ja, dann sollen die mir ein Angebot schicken«, winkte Kessler ab.<br />

»Und dann gibt es noch einen Programmierer, der hat eine Sanatoriumsrechnung<br />

von 80.000 Franken hinterlassen.«<br />

»Was habe ich mit dem zu tun?«<br />

»Das ist dieser Künstler, der dieses stümperhafte Bullshit-Programm<br />

geschrieben hat, das zu knacken Ihnen nun soviel Profit einbrächte, wie<br />

alle zusammen beim Erledigen Ihres Auftrages nicht verdient haben.<br />

Sagen wir, die Sanatoriumsrechnung und einen Anstellungsvertrag als<br />

freier Mitarbeiter mit 20.000 pro Monat fest für die nächsten drei Jahre.«<br />

»Sie spinnen!«<br />

»Auch gut! Fragen Sie Ihren Sohn und dann kommen Sie wieder. Guten<br />

Tag!«<br />

Dann hatte Kessler das Prinzip von Macht und Ohnmacht begriffen.<br />

»Gut, einverstanden. Ich zahle dieses verdammte Flugzeug aus meiner<br />

Tasche, und wenn ich zurück bin, übergebe ich Rolf den Laden und trete<br />

ab. Ich glaube, ich hatte in meinem Leben die falschen Freunde und<br />

auf die falschen Pferde gesetzt. Tut mir Leid. Aber ich kann mich nicht<br />

häuten.«<br />

»Ihr Unternehmen wäre jetzt bankrott, hätte Ihr Herr Sohn von Ihnen<br />

den Starrsinn geerbt«, trat Richard nach.<br />

Der Alte stand auf und verließ grußlos das Büro. Drei Tage später rief<br />

Rolf an. Er hatte seines Vaters Stelle angenommen und gab Frank W.<br />

selbstverständlich den entsprechenden Vertrag.<br />

Nachdem die Prints an den Maschinen wieder erneuert waren, reiste<br />

Frank W. sämtliche Standorte ab und gab der virtuellen Maschine in<br />

der Maschine seine entsprechenden Befehle. Wohlgemerkt, das Pro-<br />

292


gramm, das im Programm eine eigene Intelligenz entwickelte, wurde<br />

nicht entfernt. Es schläft nur.<br />

Und wenn manche Roboter plötzlich aus heiterem Himmel zu »spinnen«<br />

anfangen, sollte man eventuell nicht den Softwarespezialisten fragen,<br />

sondern sich erkundigen, ob der Systemprogrammierer ordentlich<br />

behandelt wurde und die Rechnungen bezahlt sind.<br />

*<br />

Frank W. hatte die Klinik verlassen, den Auftrag der Greves erledigt<br />

und war nach Ungarn zurückgeflogen. Seine Firma hatte ihm sein Gehalt<br />

weiterbezahlt und freute sich über einen leistungsfähigen Programmierer.<br />

Obwohl die Vorgesetzen des wiederhergestellten Kreativdirektors<br />

vermutet hatten, dass seine recht gewöhnungsbedürftige Kleidung<br />

der Trunksucht geschuldet war, mussten sie feststellen, dass da<br />

kein Zusammenhang bestand. Mit den viel zu weiten Cordhosen aus der<br />

Säuferanstalt lief Frank durch den Betrieb und dachte nicht daran, sich<br />

neue zu kaufen, solange er in den alten Hosen noch genügend Platz hatte.<br />

*<br />

Kropf bezahlte die drei Millionen, die er bei Caratus unterschlagen<br />

hatte, aus einer Schreibtischschublade und wurde umgehend aus der<br />

Untersuchungshaft entlassen. Es war ihm nicht nachzuweisen, dass<br />

auch dieses Geld von Rüegg »geborgt« war. Damit nahm Kropf seine<br />

Rechtsberatung - eine Weile ohne Anwaltspatent - wieder auf und stellte<br />

das Große Kobalt-Ei auf den bereits seit langem reservierten Platz in<br />

der Mitte seiner Vitrine. Zum Jahreswechsel schreibt er Richard regelmäßig<br />

eine Ansichtskarte, auf der das große Ei in wunderbarem Kobaltblau<br />

leuchtet.<br />

Für ein Honorar von 4,5 Millionen Franken übernahm er die Verteidigung<br />

von Samuel Rüegg, hatte damit wahrscheinlich seine Schulden<br />

beglichen und noch etwas Profit gemacht. Die immensen Börsenverluste<br />

waren aber keineswegs ausgeglichen. Aber Kropf war frei, nicht<br />

völlig ruiniert und spezialisierte sich alsbald auf die Vermögensverwaltung<br />

anderer Leute.<br />

Rüegg wurde nach sechs Monaten aus der Untersuchungshaft entlassen<br />

und wartet immer noch auf ein Urteil. Das Anwesen lief auf den Namen<br />

seiner Frau, doch das sonstige Vermögen war weg. Die Greves stellte<br />

293


Schadensersatzansprüche in dreistelliger Millionenhöhe. Und natürlich<br />

ist der Mann auch ohne Urteil gesellschaftlich ruiniert.<br />

294<br />

*<br />

Babic und seine Mordgesellen wurden nach fünf Tagen Vernehmung<br />

durch amerikanisches Zivilpersonal aus der Haft entlassen. Babic war<br />

einem Nervenzusammenbruch nahe, weil die Vernehmungsspezialisten<br />

seine Geschichte nicht glauben wollten. Dann war offenbar der Bericht<br />

von Sir Alec an den Verbindungsmann zur CIA ausgewertet und der<br />

entsprechende Abteilungsleiter in Amerika befahl nach einer Woche,<br />

dass das Ganze ein Manöver gewesen wäre.<br />

So wurde die Vernehmung abgebrochen und Babic ohne Kommentar<br />

an die Luft gesetzt. Nach einer zeitaufreibenden bürokratischen Prozedur<br />

mit dem tschechischen Militär bekam Babic seinen Mercedes 500<br />

wieder ausgehändigt. Wenn man nördlich von Prag zwischen dem stillgelegten<br />

russischen Militärflughafen und der Stadt an dem östlichen<br />

Flügel des tschechischen Militärareals (fotographieren verboten!) vorbeigeht,<br />

steht dort immer noch ein grauer Ford Transit. Babic war es zu<br />

blöd gewesen, auch darauf Ansprüche zu erheben.<br />

Der tschechische Offizier der Materialverwaltung wartet nämlich noch<br />

auf den Antrag in siebenfacher Ausfertigung von Babic zur sofortigen<br />

Herausgabe des von fremden Streitkräften im Rahmen eines Manövers<br />

beschlagnahmten ausländischen Eigentums, gemäß der neu überarbeiteten<br />

Ausführungsbestimmungen des Materialherausgabebeschleunigungsgesetzes<br />

in der Fassung vom 11. November 1969.<br />

*<br />

Als Babic in Bratislava zurück war, öffnete ihm seine Sekretärin mit<br />

vollem Mund die Tür. »Hast du dem Halbdicken im Keller auch etwas<br />

zu Essen gebracht?«, war seine erste Frage. »Haben Sie mir nicht gesagt,<br />

Chef«, war die beleidigte Antwort.<br />

Babic rannte in den Keller hinunter. Getrunken hatte der Gefangene<br />

wohl aus der Toilettenschüssel. Aber am Verhungern war er trotzdem.<br />

So war der Halbdicke nicht mehr halb dick, sondern abgemagert. Babic<br />

kannte aus seiner KGB-Zeit die damit verbundenen Gefahren und sorgte<br />

dafür, dass der Gefangene nur langsam und mit kleinen Häppchen<br />

hochgepäppelt wurde. Dann wurde ihm Wasch- und Rasierzeug gebracht<br />

und ein Taxifahrer fuhr ihn zum Flughafen. Das Rückflugticket<br />

hatte er ja noch.


Babic hätte ihm auch noch einen Tausender gegeben, doch die Informationen,<br />

die der Halbdicke in seinem Keller über Reinhold telefonisch<br />

aus Kropfs Büro abfischen musste, taugten ja nur für eine Menge Ärger.<br />

Reinhold war dann auch die erste Adresse, die der Freigelassene aufsuchte.<br />

Kropfs Assistent hätte ihn beinahe nicht wiedererkannt. »Mein<br />

Gott, hast du eine Abmagerungskur gemacht?«<br />

»Ich wurde zusammengeschlagen und wochenlang in einem Keller in<br />

Bratislava gefangen gehalten!«<br />

»Quatsch nicht«, sagte Reinhold, »wir haben doch fast täglich miteinander<br />

telefoniert.«<br />

»Egal«, sagte der abgemagerte Halbdicke, »ich beschütze jedenfalls<br />

niemand mehr, auch wenn du noch so sehr in ihn verknallt bist. Besonders<br />

keine englischen Spinner und sei es James Bond persönlich.«<br />

»Warum?«, fragte Reinhold, »war doch schön! Dank deines Einsatzes<br />

hat mein Richard überlebt. Eines Tages kommt er zu mir zurück.«<br />

»Und ihr heiratet?«<br />

»Vielleicht!«<br />

*<br />

Die beiden russischen Piloten waren mit ihrer Maschine auf einen Militärflughafen<br />

der NATO-Teilstreitkräfte eskortiert worden. Nach entsprechenden<br />

Strahlenschutzmaßnahmen befragte man sie nach ihrer<br />

Ladung.<br />

»Das ist Schrott aus einem Chemiewerk in St. Petersburg«, antwortete<br />

der Kommandant des Flugzeuges. Ein Wachmann des Militärflughafens<br />

bestätigte diese Aussage mit den Worten: »Die gleichen Behälter<br />

liegen bei uns außerhalb des Zauns hinten auf dem Acker herum.«<br />

Das glaubte man nicht und ließ aus Detroit einen vereidigten Sachverständigen<br />

einfliegen. Da man sich das russische Flugzeug auf Grund<br />

der Freundschaft mit Russland nicht so lange festzuhalten traute, gestattete<br />

man der Maschine aber den Weiterflug. Die landete dann in Prag<br />

und die Behälter wurden an ein ehemaliges Altmetallverwertungskombinat<br />

verkauft.<br />

Als der Sachverständige aus Detroit endlich eintraf, führte man ihn<br />

nach entsprechenden Ermittlungen über den Verbleib der Behälter letztlich<br />

auf den Schrottplatz. Auf entsprechende Fragen, meinte der Sachverständige,<br />

er könne jetzt noch gar nichts sagen, man solle abwarten,<br />

bis das entsprechende Gutachten vorläge.<br />

295


Das 16seitige Gutachten mit Kostennote kam dann auch nach drei Monaten<br />

und wird seitdem als geheime Verschlusssache behandelt.<br />

296<br />

*<br />

Victor bekam von Pjotr Alexandrowitsch Carlin die versprochenen<br />

150.000 Dollar überwiesen. Er versteuerte das Geld ordnungsgemäß,<br />

kaufte seinem Sohn ein Auto und legte das restliche Geld aufs Sparbuch.<br />

Der Überweiser des Geldes schaute täglich in den Spiegel, ein Heiligenschein<br />

war auch dann nicht zu sehen, wenn man das Licht ausmachte.<br />

*<br />

Isabella war noch ein paar Monate eine nette, etwas undurchsichtige<br />

Putzfrau, die sich mit der Zeit auch an Richard gewöhnt hatte. Sehr<br />

schnell hatte sie ordentlich Englisch gelernt und ausreichend Spanisch.<br />

Dann schrieb sie sich an einer Schule ein und holt jetzt ihren Schulabschluss<br />

nach. Mercedes hatte ihr versprochen, nach bestandenem Abitur<br />

einen Studienplatz in Paris zu besorgen.<br />

*<br />

Follmann bekommt immer noch die Frage gestellt, wie es Sonja ginge.<br />

Und immer noch antwortet er: »Ich weiß es nicht, ihre Tochter hatte einen<br />

Unfall, seitdem habe ich sie nie wieder gesehen.«<br />

In der Zwischenzeit wird Follmann von London bezahlt. Natürlich<br />

nicht direkt. Frau Follmann hatte ein Gedichtbändchen an einen deutschen<br />

<strong>Verlag</strong> geschickt. Das Manuskript wurde von London abgefangen.<br />

Sir Alec hatte sich den Text einmal von Mercedes übersetzen lassen.<br />

»Ist das deutsche Literatur?«, hatte er irritiert gefragt. Trotzdem<br />

bekommt Frau Follmann regelmäßig Autorenhonorare überwiesen. Der<br />

entsprechende <strong>Verlag</strong>svertrag war von einer Sonja unterzeichnet.<br />

Wer nämlich glaubt, dass es die Transtecco nicht mehr gäbe oder dass<br />

man über deren Existenz je etwas in der Presse lesen müsste, hat immer<br />

noch nicht verstanden, wie Geheimdienste funktionieren. Können sie<br />

doch jede Tarnung in Form von Unternehmen, Organisationen resp. Positionen<br />

aufbauen.<br />

*


Der Bankdirektor, dem Schmied die Hölle heiß gemacht hatte, kam auf<br />

Grund Kropfs wunderbaren Schuldenausgleichs mit einem blauen Auge<br />

davon. Das mit diesem Schreiben von Verkaufsoptionen war natürlich<br />

eine rentierliche Sache, wenn die entsprechende Aktie nicht fallen würde.<br />

Schade, dass er solche Geschäfte nicht selbst tätigen durfte. Er wäre<br />

nämlich schlauer als dieser Kropf, dachte er wenigstens.<br />

*<br />

Schmied selbst wartet immer noch auf die Ernennung zum britischen<br />

Honorarkonsul in Appenzell Ausserrhoden. Der Konsul in Palma stand<br />

zu seinem gegebenen Wort, betonte aber, dass er kein Datum erwähnt<br />

hätte. Als Mercedes Sir Alec darauf ansprach, dass dieser Schmied ja<br />

schließlich entscheidend zur Aufklärung des Falles beigetragen hätte,<br />

sagte der alte Habicht: »Aber meine Liebe, Sie waren doch dabei, als<br />

ich diesen Follmann zur freiwilligen Mitarbeit überredet habe. Musste<br />

man dem die Position eines Honorarkonsuls versprechen? Sehen Sie,<br />

und der hilft uns immer noch.«<br />

*<br />

Agnieszka Meister-Novak, der so schön aufgetaute Eisvogel, war wieder<br />

eingefroren. Schmied hatte ihr Gehalt etwas erhöht und endlich<br />

stimmten auch die Bilanzen. Tja, Madame führt ein strenges Regiment<br />

und ist für jedes Unternehmen ein großer Gewinn. Obwohl man es<br />

nicht für möglich gehalten hatte, trägt sie ihr Näschen jetzt nochmals<br />

ein bisschen höher.<br />

Eigentlich hatte sie sich fest vorgenommen, sich mit ihrem geschiedenen<br />

Mann auszusprechen und wieder zusammenzugehen. Als sie eines<br />

Sonntags, bereits wieder Händchen haltend, an einem Friedhof vorbeiliefen,<br />

bekam diese Null von Weltmeister Schweißausbrüche und zitterte<br />

am ganzen Leib. »Na ja!«, hatte sie die Nase gerümpft, »aufgewärmter<br />

Kaffee schmeckt eben nicht«, und ihn stehen lassen.<br />

- ENDE -<br />

Heinrich Eichenberger: <strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>, <strong>Agentenroman</strong>; © 2009 by Hubert W. <strong>Holzinger</strong> <strong>Verlag</strong>, <strong>Berlin</strong>. Alle Rechte,<br />

auch die der auszugsweisen Veröffentlichung, vorbehalten.<br />

297


Interview<br />

Der Autor des <strong>Agentenroman</strong>s »<strong>Faule</strong> <strong>Eier</strong>« ist promovierter Ökonom und<br />

ehemaliger Mitarbeiter eines Geheimdienstes. Sein Roman setzt sich augenzwinkernd<br />

mit den Strukturen von Geheimdiensten auseinander und<br />

gibt Einblicke in die Organisation der Industriespionage. Hinterfragt man<br />

Eichenbergers dahinter stehende Überlegungen und realen Bezüge, ist die<br />

Sache weniger zum Lachen<br />

Das Gespräch führte der Publizist und Medienberater Stefan L. Bornemann.<br />

»Auch das Absurde ist geheime Verschlusssache!«<br />

B.: Herr Dr. Eichenberger, nach dem Roman »Der Siegermacher«, der<br />

sich mit den Machenschaften im Profiradsport beschäftigt, überraschen<br />

Sie jetzt mit einer Geschichte über Industriespionage. Besteht hier ein<br />

Bezug zu Ihrer früheren Tätigkeit?<br />

Eichenberger: Ja. Ich war jahrelang mit der legalen Beschaffung von<br />

Wirtschaftsinformationen und der Abwehr von Industriespionage befasst.<br />

B.: Dann plaudern Sie in diesem Roman sozusagen aus dem Nähkästchen?<br />

Eichenberger: (lacht) Wahrscheinlich... Was die wirklichen Spione<br />

und deren Auftraggeber noch falsch machen, können sie in meinem<br />

Roman dazulernen. Aber ernsthaft. Der Roman beschreibt Prinzipien<br />

heutiger Industriespionagetätigkeit, aber selbstverständlich keinen konkreten<br />

Fall einer meiner ehemaligen Mandanten.<br />

B.: Wenn ich die Struktur richtig erkannt habe, so sitzen die echten<br />

Spione in den Leitungsfunktionen der Unternehmen.<br />

Eichenberger: Das ist nicht zwangsläufig der Fall. Im ausspionierten<br />

Unternehmen sitzen ja nur die handwerklichen Spione, also die Operateure.<br />

Die eigentlichen Auftraggeber bleiben unsichtbar.<br />

B.: Sie wollen nicht, dass Ihre <strong>Agentenroman</strong>e in die Ecke der Krimis<br />

gestellt werden?<br />

Eichenberger: Tja, sonderbarerweise behandelt der typische Kriminalroman<br />

Tötungsverbrechen auf hohem sozialen Niveau. Der Millionär<br />

verschwört sich z. B. zum Nachteil seiner Gattin mit der Krank-<br />

298


schwester, die ursprünglich mit dem Gärtner liiert war. Dieser wird<br />

verdächtigt und eingesperrt. Doch der schlaue Kriminalkommissar klärt<br />

dann den Fall in letzter Minute doch noch auf...<br />

B.: Wie im wahren Leben!?<br />

Eichenberger: Im wahren Leben sind Mord, Totschlag, Raub etc. im<br />

unteren sozialen Milieu angesiedelt. Dagegen ist die Wirtschaftskriminalität<br />

sozial sehr hoch angesiedelt und gehört auch zum wahren Leben.<br />

In meinen Romanen geht es um organisierte Kriminalität, vernetzte<br />

Strukturen also, die sich epidemisch ausbreiten und meist nur mit nachrichtendienstlichen<br />

Methoden bekämpft werden können.<br />

B.: Bei den Wirtschaftsdelikten müsste so eine unterbezahlte Putzfrau<br />

eigentlich anfällig sein, sich mit etwas Industriespionage das Salär aufzustocken.<br />

Immerhin sind in den meisten Betrieben die Putzfrauen und<br />

Nachtwächter mit einem Generalschlüssel bewaffnet...<br />

Eichenberger: Generell ist im Bereich der Wirtschaftsspionage keiner<br />

zu klein, Helfer zu sein. Bei den Haupttätern heißen die Waffen aber<br />

nicht Generalschlüssel, sondern Wissen, Reputation und erschlichenes<br />

Vertrauen.<br />

B: Wie müssen wir uns die Auftraggeber vorstellen?<br />

Eichenberger: Es bedarf im Bereich der Industriespionage eines potenten<br />

Handelspartners, der direkt oder über einen Hehler tätig wird.<br />

Dieser Mittelsmann steht nicht im Halbdunkel an der Straßenecke oder<br />

ist der Nachbar der Putzfrau, sondern brilliert im 1.000 Dollar-Anzug<br />

beim Neujahresempfang des Industrie- und Handelskammerpräsidenten<br />

oder dergleichen.<br />

B.: Das wird in Ihrem Roman verdeutlicht. Nur wird sich tatsächlich<br />

nicht die CIA um eine Schweizer Maschinenbaufirma kümmern...<br />

Eichenberger: Was glauben Sie, um was die sich kümmert? Um rumänische<br />

Kleinkriminelle, um orientalische Teppichhändler...? Natürlich<br />

hat man den Eindruck, dass derzeit die Bekämpfung des Terrorismus<br />

und der dazugehörenden Finanztransaktionen Vorrang haben. Die<br />

Abschöpfung von Know-how war aber schon immer originäre Aufgabe<br />

des Dienstes und dabei handelt es sich nicht nur um militärisches Wissen.<br />

Die Strukturen, die ich in meinem Roman aufzeige, existieren real,<br />

hier und heute und sind nicht einfach erfunden...<br />

B.: Aber Sie müssen doch zugeben, dass ein chinesischer oder russischer<br />

Industriespion wahrscheinlicher ist als ein amerikanischer.<br />

299


Eichenberger: Ein chinesischer oder russischer Industriespion erfüllte<br />

eher die in der Gesellschaft vorhandenen Vorstellungen. Würde man<br />

einen chinesischen Küchenhelfer beim Ablichten eines Risottorezeptes<br />

ertappen, stände es morgen in der Zeitung. Haben aber die eigenen Geheimdienste<br />

den dringenden Verdacht, dass bestimmte Handelsfirmen<br />

getarnte Zweigniederlassungen des CIA sind, so würden die Staatsanwaltschaften<br />

noch nicht einmal ermitteln. Und wenn, liefen die Ermittlungen<br />

ins Leere - wie in meinem Roman.<br />

B.: Der Täter wird in Ihrem Roman verhaftet...<br />

Eichenberger: In meinem Roman wird der angeheuerte Operateur<br />

verhaftet, der in diesem - fiktiven - Unternehmen die Daten klaut. Diejenigen,<br />

die diese Informationen kaufen, weitergeben und verwerten,<br />

werden noch nicht einmal vernommen.<br />

B.: Und das ist realistisch oder schriftstellerische Freiheit?<br />

Eichenberger: Das ist die kafkaeske Realität. Sie können diesen Roman<br />

einem Staatsanwalt zur Prüfung geben. Er wird keine Stelle finden,<br />

in der er gegen die eigentlichen Anstifter, Auftraggeber und Hehler<br />

einen Ermittlungsansatz fände, der von hinreichendem Erfolg wäre.<br />

Deshalb schreibe ich im Epilog sinngemäß, wer glaubt, dass es Firmen<br />

wie die in Frankfurt nicht gäbe oder man darüber etwas in einer Zeitung<br />

lesen müsste, hat immer noch nicht verstanden, wie Geheimdienste<br />

funktionieren.<br />

B.: Das ist im Grund genommen ungeheuerlich. Und geht man davon<br />

aus, dass Ihr Sir Alec nicht überall sein kann...<br />

Eichenberger: (lacht) ...Sir Alec ist natürlich eine fiktive Figur. Und<br />

wie ich ebenfalls einige Male durchblicken lasse, wäre es diesem<br />

Mastermind ebenfalls nicht möglich gewesen, zu einem Ermittlungsergebnis<br />

zu kommen, hätte sich die Gegenseite nicht aus anderen Gründen<br />

auffällig verhalten. In Wirklichkeit würden Geheimdienste unterschiedliche<br />

Operation nicht personell verknüpfen.<br />

B.: Ihre Geschichte in der Geschichte behandelt dann den Schmuggel<br />

von Atomwaffentechnologie. Ein absurdes Theater, das mich am<br />

Schluss köstlich amüsierte. Gibt es hier ebenfalls reale Parallelen?<br />

Eichenberger: Wenn morgen irgendwo ein paar islamische Terroristen<br />

verhaftet werden, dann gibt es genau zwei Möglichkeiten. Das Volk<br />

will natürlich glauben, dass es ein paar Bösewichter weniger gebe. Und<br />

wir wollen einmal hoffen, dass dies sehr oft so ist. Die zweite Variante<br />

ist die, die ich in diesem Roman beschreibe...<br />

B.: Man verhaftet die <strong>Eier</strong>diebe?<br />

300


Eichenberger: Man verhaftet den selbst aufgebauten Verdächtigen.<br />

Beobachtungsdruck nennen dies Psychologen. Paul Watzlawick hat<br />

dies einmal treffend beschrieben. Je höher der Wert der subjektiven<br />

Wahrnehmung eingeschätzt wird, desto weiter entfernt sich der Beobachter<br />

im Zweifel von den objektiven Tatsachen. Betrachten Sie einmal<br />

die Tür zu Ihrer Wohnung und berücksichtigen Sie dabei die Tatsache,<br />

dass ein professioneller Einbrecher die Fähigkeit besitzt, keine Spuren<br />

zu hinterlassen. Wenn überhaupt finden Sie deshalb nur leichte Kratzer<br />

in der Nähe des Schließzylinders. Und genau diese minimalen Spuren<br />

werden Sie heute Abend finden. Und befragen Sie daraufhin Ihren<br />

Nachbarn, wird dieser jede diesbezügliche Beobachtung abstreiten.<br />

Klar: Der Typ wird ja nicht zugeben wollen, dass er mit diesen Einbrechern<br />

unter einer Decke steckt....<br />

B.: ...ich hatte ihn schon immer in Verdacht...<br />

Eichenberger: (lacht) ...in meinem Roman klärt sich das alles auf. In<br />

der Realität ist es denkbar, dass man als Betroffener eine Menge Glück<br />

braucht, um nicht irgendwo auf der Welt in eine legale oder illegale<br />

Untersuchung gezogen zu werden und über Wochen, Monate, ja, Jahre<br />

von Vernehmer zu Vernehmer gereicht.<br />

B.: Die Methoden sind nicht fein, wenn ich mich an die Szene auf dem<br />

Flugplatz erinnere...<br />

Eichenberger: Was ich dort beschreibe, ist eine mögliche Methode,<br />

die ein Profi anwendet, um eine Aussage zu erzwingen. In Afghanistan,<br />

dem Irak oder im Nahen Osten verhören meist keine intelligenten Geheimagenten,<br />

sondern irgendwelche kleinen Apparatschiks. Und irgendein<br />

beschränkter Auswerter eines Geheimdienstes sitzt eine Etage<br />

höher und bringt Erfolgsstorys zu Papier, die er an seine Zentrale weiterleitet.<br />

Und wohlgemerkt, es geht in diesen Fällen nicht um Kernwaffen<br />

und andere existentielle Bedrohungen. Wer zur falschen Zeit am<br />

falschen Ort vielleicht noch das Falsche sagt, hat schon verloren. Und<br />

am Schluss unterschreiben die zufällig Beschuldigten falsche Geständnisse.<br />

Die Geheimdienste sehen ihre Verdachtsmomente bestätigt und<br />

ihren staatserhaltenden Nutzen nachgewiesen...<br />

B: ...und die Richter?<br />

Eichenberger: Im Rechtsstaat gehen die Geständnisse kaum an die<br />

Richter, da diese ahnen, wie solche Geständnisse zustande gekommen<br />

sind. Statt dessen wird die Absurdität zur geheimen Verschlusssache<br />

erklärt. Die Beweisführung der Staatsanwaltschaften werden zum mystischen<br />

Fingerzeig auf den unsichtbaren Zeugen hinter dem unsichtba-<br />

301


en Agenten. Und was nicht ins Bild passt, wird aus der Akte frühzeitig<br />

entfernt und geschreddert.<br />

B.: Gibt es absurde Erkenntnisse?<br />

Eichenberger: Erkenntnis ist eine Folge intelligenter Informationsverarbeitung.<br />

Falsche Informationsverarbeitung führt zu absurden<br />

Verdächtigungen und in Folge zu eben solchen Ermittlungsergebnissen.<br />

Diese Variante habe ich den Lesern deutlich an die Wand<br />

gemalt.<br />

B.: Zurück zur Industriespionage. Für ein Unternehmen ist die Gefahr,<br />

ausspioniert zu werden größer, als in Terrorismusverdacht zu geraten.<br />

Eichenberger: Es gibt weniger potentiell interessante Unternehmen<br />

als Reisende, die man auf Grund irgendwelcher Banalitäten verdächtigen<br />

kann. Ein Grenzbereich, da würde ich also nicht wetten.<br />

B.: Wie sind Aufklärungsquoten bei Industriespionage?<br />

Eichenberger: Kaum quantifizierbar. Bei der Prophylaxe ist es wie<br />

beim Brandschutz. Sie können nicht sagen, wie viel Brände verhindert<br />

worden sind. Doch die Vorbeugung als auch die operative Bekämpfung<br />

von Industriespionage bleibt erst einmal Privatsache. Es gibt einen vagen<br />

Anfangsverdacht, aber nicht die Spur eines Beweises. Gleichzeitig<br />

zerschlägt jede offene Ermittlung eine Unmenge an Porzellan. Denken<br />

Sie an Korruption, Diebstahl oder ungetreue Geschäftsführung. Da gibt<br />

es staatlicherseits eine Handvoll Ermittler, die unter irgendwelchen Aktenbergen<br />

versunken sind. Und wenn Sie als Unternehmenslenker aktiv<br />

werden und private Ermittler im eigenen Unternehmen beauftragen,<br />

stehen Sie schnell einmal außerhalb des Gesetzes oder mindestens im<br />

Visier eifriger Datenschützer, auch wenn Sie lediglich gewählte Telefonnummern<br />

des Vorstandskollegen oder Verwaltungsratsmitglieds mit<br />

dem öffentlichen Telefonbuch abgleichen.<br />

B.: Das ist vielleicht ein Verstoß gegen die Privatsphäre!?<br />

Eichenberger: Sollte man tatenlos zusehen, bis man auf Grund von<br />

Korruption und Spionage ruiniert ist? Und warum? Weil bestimmte Datenschutzheilige<br />

ihre Existenzberechtigung nachweisen müssen.<br />

B.: Herr Dr. Eichenberger, ich danke Ihnen für dieses Gespräch.<br />

302


Unsere Buchempfehlung:<br />

Heinrich Eichenberger:<br />

»Der Siegermacher«<br />

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- Inhalt -<br />

Mercedes, Undercover-Agentin des englischen Nachrichtendienstes<br />

MI6, erhält einen Spezialauftrag, während ihr Partner Richard im getarnten<br />

Büro auf Mallorca sich langweilt und die Katze füttert.<br />

Als am 29. Januar nahe der Stadt Rheinsberg bei <strong>Berlin</strong> der Leichnam<br />

einer blonden Frau aus einem Unfallwagen geborgen wird, findet der<br />

Rettungsdienst den britischen Diplomatenpass der Frau. »Mercedes de<br />

Cárdenas, geboren am 29. 01. 1964« lesen die Beamten und benachrichtigen<br />

die Britische Botschaft.<br />

Während die Botschaft nicht reagiert, findet der Beerdigungsunternehmer<br />

den Vater der Toten. Der alte Herr reist von Madrid an und identifiziert<br />

die Tote als seine Tochter. Als der geschockte Vater empört das<br />

Verbindungsbüro des MI6 anruft, reagiert man dort nicht nur ausgesprochen<br />

kühl, sondern man leugnet jede Beziehung zu dieser Frau.<br />

»Wer sich mit einem Geheimdienst einlässt, ist verraten und verkauft«,<br />

resigniert der ermittelnde Kriminalkommissar, ohne zu ahnen, dass dies<br />

der Anfang einer tragischen Odyssee ist.<br />

Agentenkollege Richard macht unterdessen die Bekanntschaft mit spanischen<br />

Kriminellen aus dem Rotlichtmilieu, die damit prahlen, seine<br />

Partnerin liquidiert zu haben und er möchte »in der Sache mit den Radfahrern«<br />

nicht weiter ermitteln. Doch Richard weiß nichts von »Radfahrern«,<br />

noch glaubt er, dass Mercedes in dieser Richtung ermittelt<br />

303


hatte. Sein Dienstherr gibt keine Auskunft, ignoriert die Fakten und gibt<br />

seinem verbliebenen Agenten ungerührt den Auftrag, sich um einen italienischen<br />

Generalmajor zu kümmern.<br />

Der Agent verweigert diesen Befehl wohl nicht, aber der Tod seiner<br />

langjährigen Partnerin lässt ihm verständlicherweise keine Ruhe. Bald<br />

schon stellt der Agent fest, dass seine Mercedes vor ihrem Tod ebenfalls<br />

in Italien war und dass der offizielle Auftrag mit der moralischen<br />

Pflicht, das vermeintliche Verbrechen aufzuklären, irgendwie zusammenhängt.<br />

Über die Schulter des Agenten erfahren die Leser viel und ausgesprochen<br />

sachkundig vom perfiden Spiel der Geheimdienste »Spion gegen<br />

Spion«. Richard stößt bei seinen Ermittlungen auf eine alte Seilschaft<br />

des ehemaligen DDR-Nachrichtendienstes (STASI), lernt die teilweise<br />

mafiosen Strukturen des Profiradsports kennen, die am Schluss den gesamten<br />

Fall dominieren.<br />

»Sport ist Mord«, meint auch der Engländer Richard und wird bei seiner<br />

informellen Ermittlungsarbeit immer wieder bestätigt.<br />

Der Autor Heinrich Eichenberger, der die Grundlage für diesen spannenden<br />

<strong>Agentenroman</strong> von einem ehemaligen Mitarbeiter des aufgelösten<br />

DDR-Geheimdienstes geliefert bekam, deckt die eigentlichen<br />

Skandale um den Profiradsport nicht völlig auf. Eichenberger: »Jeder<br />

Laie kann meinen Roman lesen und die Dopingskandale im Profisportbereich<br />

der Vergangenheit und der Zukunft entsprechend meiner Berichte<br />

analysieren. Dabei wird vieles durch die heutige Presseberichterstattung<br />

bestätigt. Wer dann immer noch der Ansicht ist, dass das nicht<br />

organisiert ist, sondern so etwas wie ein moralisches Versagen des jeweiligen<br />

Sportlers, der kann auch an den Weihnachtsmann glauben.«<br />

Warum der Autor seine Unterlagen nicht an ein Nachrichtenmagazin<br />

für teures Geld verkaufte, sondern sie in einen <strong>Agentenroman</strong> verpackte,<br />

beantwortet der promovierte Ökonom und ehemalige Geheimdienstmitarbeiter<br />

so: »Alle Personen, die in dieser Geschichte vorkommen,<br />

gibt es tatsächlich. Aber es sind aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes<br />

und vielerlei Rücksichtnahmen Personen, Institutionen, Orte<br />

und bestimmte Zusammenhänge so verändert worden, dass eine Ähnlichkeit<br />

mit den tatsächlichen Akteuren rein zufällig wäre. Alles andere<br />

wäre gefährlich.«<br />

Und wie im tatsächlichen Leben hat man als Leser den Verdacht, dass<br />

man die Kleinen hängt, während die anderen weiter machen: gestern,<br />

heute und in aller Zukunft.<br />

304

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