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m - Wirtschaftspolitisches Seminar - Prof. Dr. Ralph Anderegg

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Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Univ.-<strong>Prof</strong>essor <strong>Dr</strong>. <strong>Ralph</strong> <strong>Anderegg</strong><br />

<strong>Wirtschaftspolitisches</strong> <strong>Seminar</strong> der Universität zu Köln (CMR)<br />

________________________________________________________________<br />

Die Geldtheorie<br />

§ 1. Einleitung<br />

1.1. Einführung: Ziel der Vorlesung, Gliederung und Literaturgrundlagen<br />

1.1.1. Ziel der Vorlesung<br />

Geldtheorie Theorie der Geldpolitik Institutionen<br />

Geldpolitik (Ziele, Instru- der Geld-, Kredit- und<br />

(Theorie- mente) Währungsordnung<br />

geschichte)<br />

Hauptaspekte Nebenaspekt<br />

- Erläuterung wesentlicher Theorien der Geldtheorie und –politik.<br />

- Beurteilung der Anwendbarkeit dieser Theorien aus empirischer Sicht.<br />

- Kritische Beurteilung der Geldpolitik der EZB.<br />

1.1.2. Gliederung<br />

Siehe die Gliederung.<br />

1.1.3. Literaturgrundlagen<br />

Grundlegend:<br />

- Görgens, Egon et al., Europäische Geldpolitik, Düsseldorf 1999.<br />

- Issing, Otmar, Einführung in die Geldtheorie, 11. Auflage, München 1998.<br />

- Felderer/Homburg, Makroökonomik und neue Makroökonomik, Berlin 2003.<br />

1


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

1.2. Die Einordnung der Geldwirtschaft<br />

Theorien<br />

Reale Theorien Monetäre Theorien<br />

z.B. Mikroökonomie z.B. Geldtheorie<br />

Reale Außenwirtschafts- Monetäre Außenwirtschafts-<br />

theorie theorie.<br />

Wirtschaftswissenschaften<br />

Volkswirtschafts- Wirtschafts- Lehre der Wirtschafts-<br />

theorie politik Institutionen geschichte<br />

Geldtheorie Geldpolitik Institutionen Geschichte des Geldes,<br />

(Geld, Geld- der Geldordnungen<br />

u. Währungs- u. deren Institutionen.<br />

Verfassung)<br />

2


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

1.3. Die Methoden der geldtheoretischen Betrachtung<br />

1.3.1. Grundsätze<br />

- Das (erweiterte) Walrasianischen Gleichgewichtsmodell als Grundmodell.<br />

- Einfaches, klares Denken in preistheoretischen Modellen (Grenzkosten/Grenznutzen).<br />

- Die Quantitätstheorie als Basistheorie.<br />

- Denken in geldtheoretischen Schulen und geldtheoretischen Bereichen. Dies<br />

zeigt die Entwicklung sowie das Spektrum des möglichen geldtheoretischen<br />

Denkens.<br />

1.3.2. Geldtheoretische Schulen<br />

- Vorklassik<br />

Merkantilismus (Richard Cantillon), Physiokratismus, vorklassischer Liberalismus<br />

(David Hume, John Locke).<br />

- Klassik<br />

Currency Theorie (u.a. David Ricardo); Banking Theorie<br />

(u.a. John Stuart Mill).<br />

- Neoklassik<br />

Österreichische Schule (Eugen von Böhm-Bawerk), Cambridge Schule (Alfred<br />

Marshall und Arthur C. Pigou), Schwedische Schule (Knut Wicksell),<br />

Amerikanische Schule (Irving Fisher), Lausanner Schule (Léon Walras),<br />

Weiterentwicklung der österreichischen Schule (u.a. Friedrich August von<br />

Hayek), Zinstheorie (Friedrich A. Lutz).<br />

- Keynesianismus<br />

John M. Keynes, Keynesianismus (John R. Hicks), Postkeynesianismus<br />

(William Baumol), Neokeynesianismus (James Tobin, sog. Yale School,<br />

Vermögenstheorie des Geldes (Don Patinkin).<br />

- Monetarismus und neoquantitätstheoretische Schule<br />

Milton Friedman, Karl Brunner und Allan Meltzer.<br />

- Entwicklung der Portefeuilletheorie zum Capital Asset Pricing Modell<br />

u. a. Harry M. Markowitz, James Tobin.<br />

- Neuklassische Theorie<br />

Thomas J. Sargent, Robert E. Jun. Lucas, Robert J. Barro.<br />

3


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

1.1.3. Bereiche geldtheoretischen Denkens<br />

- Geldmengentheorie (Wesen und Erscheinungsformen des Geldes),<br />

- Geldnachfragetheorie,<br />

- Geldangebotstheorie,<br />

- Zinstheorie (monetäre Zinstheorie, Theorie des Kreditzinses, Theorie des Kapitalzinses,<br />

Zinsstrukturtheorie),<br />

- Geldeffekte und Transmissionsmechanismen,<br />

- Inflationstheorie,<br />

- Geld und Beschäftigung (Phillipskurven-Diskussion),<br />

- Monetäre Wachstumstheorie,<br />

- Monetäre Außenwirtschaftstheorie/monetäre Integrationstheorie,<br />

- Theorie der Geldpolitik.<br />

4


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

1.1.4. Matrix der Geldtheorien (unvollständig)<br />

Vorklassik/Klas<br />

sik<br />

Neoklassik <br />

Keynesianism<br />

us<br />

Monetarismus <br />

Portefeuille-<br />

theorie <br />

Neuklassik<br />

Weitere:<br />

Geldmengentheorie<br />

Banking<br />

Curren-<br />

cy<br />

Enge<br />

Geldm.<br />

Enge<br />

Geldm.<br />

Geldnachfrage-<br />

theorie<br />

Geld-<br />

angebots-<br />

theorie <br />

Zinstheorie <br />

Geldeffekte<br />

5.1. / 5.2. 6.1. / 6.2. 7.2. 8.2. / 8.3.<br />

/ 8.6.<br />

5.3. 6.1. 7.3. 8.4. / 8.6.<br />

/ 8.7.<br />

Inflationstheorie <br />

Phillipskurvendiskus-<br />

sion<br />

9.3. / 9.4. 10.1. /<br />

10.2.<br />

Mon.<br />

Wa.<br />

theorie<br />

9.5. 10.3. 11.1.<br />

5.4. 6.2. 7.4. 8.5. / 8.6. 9.6. 10.4. 11.1.<br />

4.1. 5.5. 6.1. / 6.5. 7.5. 8.7. 9.7. 10.5.<br />

Breite<br />

Geldm.<br />

Enge<br />

Geldm.<br />

5.4.3. 6.2.<br />

5.6. 6.1. 8.8. 9.8. 10.6.<br />

6.3. Die<br />

Geldschöpfung<br />

und -<br />

vernichtung,<br />

die multiple<br />

Geldschöpfung<br />

6.4. Der<br />

traditionelle<br />

Geldschöpfungsmultiplikator<br />

(der<br />

Phillips-<br />

Multiplikator)<br />

etc. (6.6. 6.7.)<br />

7.7. Die Zinsstrukturtheorie<br />

Weitere<br />

Ursachen der<br />

Inflation<br />

10.7.<br />

Phillipskurv<br />

en-Loop<br />

11.3. /<br />

11.4.<br />

Taylor-<br />

Regel<br />

5


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

1.3.5. Die Bedeutung der einzelnen Theorien<br />

Eine in sich geschlossene Geldtheorie fehlt bis heute. Vielmehr stehen zahlreiche<br />

geldtheoretische Ansätze einander gegenüber. Die Verschiedenheit der einzelnen<br />

Theorien ist oft auf unterschiedliche Prämissen (Modellannahmen) zurückzuführen.<br />

Meist löst sich die Widersprüchlichkeit zwischen den einzelnen Modellen<br />

und deren Ergebnissen auf, wenn deren Prämissen und unterschiedliche Fragestellungen<br />

miteinander verglichen werden.<br />

Die geldtheoretischen Ansätze haben sich im Verlaufe von Jahrzehnten und<br />

Jahrhunderten entwickelt. Die zahlreichen und in ihrer Zahl kaum zu überblickenden<br />

geldtheoretischen Modelle und Ansätze sind von unterschiedlicher theoretischer<br />

Eleganz und empirischer Robustheit. Einzelne Theorien sind seit langer<br />

Zeit von großer Bedeutung, andere sind zum vorneherein wenig relevant,<br />

wieder andere verblassen im Verlaufe der Zeit, und erleben später möglicherweise<br />

wieder eine Renaissance. Einige Theorien haben eine große theoretische Ausstrahlung,<br />

jedoch eine geringe empirische Relevanz. Diese bilden oft die Grundlage<br />

ganzer Generationen nachfolgender Theorie (beispielsweise der Pigou-<br />

Effekt als Grundlage der Realkassen- und Vermögenseffekte). Andere Theorien<br />

mit einer groβen Ausstrahlung, wie beispielsweise die Quantitätstheorie des<br />

Geldes, lassen sich immer wieder umformen und neu interpretieren, wodurch deren<br />

Aktualität bestehen bleibt. Schwierig einzuordnen sind die zahlreichen Ansätze,<br />

welche aus empirischen Untersuchungen entstehen und damit empirisch<br />

robust sind, denen jedoch die theoretischen Grundlage und Eleganz fehlen.<br />

Geldtheoretische Ansätze sollten – methodisch betrachtet - intersubjektiv überprüfbar<br />

sind (Kriterium der Falsifizierbar von Karl Popper). Zur ökonometrischen<br />

Überprüfung dient der umfassende und fast unerschöpfliche Werkzeugkasten<br />

statistischer Analysen. Eine Geldtheorie kann zwar kaum je verifiziert,<br />

aber doch – in unterschiedlichen Abstufungen – falsifiziert werden. Auf diese<br />

Weise lassen sich die verschiedenen geldtheoretischen Ansätze nach ihrer empirischen<br />

Robustheit und aktuellen Relevanz beurteilen sowie ggf. weiterentwickeln.<br />

Die praktische Bedeutung der einzelnen Theorien ist unterschiedlich und zudem<br />

im zeitlichen Verlauf Schwankungen in der empirischen Relevanz unterworfen.<br />

Als Vortests eignen sich beispielsweise Test auf Kointegration der Daten und der<br />

Granger-Kausalitätstest des E‘Views-Programms. Mit dem Granger-<br />

Kausalitätstest lässt sich erkennen, ob es sich um Scheinkorrelationen handelt,<br />

oder ob einer Variablen eine gewisse Wirkung auf eine andere Variable zugeschrieben<br />

werden kann.<br />

6


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Verlaufen diese beiden Vortests erfolgreich, können weitere Tests erfolgen, um<br />

die einzelnen Theorien hinsichtlich ihrer empirischen Relevanz zu prüfen und<br />

modelltheoretisch zu spezifizieren. Weitere, einfach durchzuführende Tests dienen<br />

beispielsweise der Ermittlung der Korrelationskoeffizienten, des statistischen<br />

Bestimmtheitsmaβes, der Signifikanz (beispielsweise der t-Test), der Verteilung<br />

der Residuen (Durbin-Watson-Test) sowie der Analyse von nicht bedingten<br />

und bedingten Varianzen der Residuen (exogenen Schocks) mit der Hilfe der<br />

Familien ARCH- und GARCH-Modelle.<br />

Abb. 1<br />

Der Bereich der empirisch relevanten Theorien<br />

Signifikanz (z.B. DW-Koeff., Inf.krit.)<br />

Nicht sig-<br />

nifikanter<br />

Bereich<br />

Statistisches Bestimmtheitsmaß (R 2 ) und<br />

Korrelationsraten (β-Koeffizienten)<br />

Sehr gering gering mittel hoch sehr hoch<br />

Bereich der empi-<br />

Signifikan- risch relevanten BBereich<br />

ter Bereich<br />

Theorien<br />

Nicht sig-<br />

nifikanter<br />

Bereich<br />

Hinzu kommt die Analyse homo- und heteroskedastischer Prozesse.<br />

2. Das Wesen des Geldes<br />

2.1. Die historische Entwicklung der Geldinnovationen und deren Ursachen<br />

Die lange vorherrschende Auffassung, wonach die Menschen das Geld bereits zu<br />

Beginn als allgemeines Tauschmittel einsetzten, um den Wirtschaftsverkehr zu<br />

erleichtern, die bereits erwähnte Konventionstheorie, 1 gilt seit einiger Zeit als<br />

1 Vgl. Schmölders, Günter, Psychologie des Geldes, München 1966, S. 19.<br />

7


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

widerlegt. 2 Am Anfang der Entwicklung des Geldes standen offensichtlich<br />

vielmehr Wertgegenstände, welche sakralen Zwecken dienten sowie als Zeichen<br />

des Ranges und Schmuckes Bedeutung bekamen (Schmuckgeldtheorie). In der<br />

Folge kam es zu langen und noch stets andauernden Entwicklungsprozessen des<br />

Geldes. Dabei lassen sich Vorformen des Geldes und drei Entwicklungsstufen<br />

des Geldes feststellen:<br />

- Vorformen des Geldes (z.B. Muscheln, Schmuck, Tiere als Währung).<br />

- Materiales Geld (Metallgeld, z.B. Münzen bzw. Gold- und Silberwährungen<br />

seit der Antike bis in die Neuzeit, das Münzwesen in der modernen Zeit;<br />

vgl. Ziffer 1.).<br />

- Papierwährungen (seit der Antike Depotscheine für Geld, seit der<br />

Frührenaissance zudem Checks und Wechsel, seit dem 18. Jh. Banknoten;<br />

vgl. Ziffer 2.).<br />

- Immaterielles Geld (Giralgeld seit der Renaissance, Kreditkarten,<br />

elektronisches Geld, pay cards; vgl. Ziffer 3.).<br />

Die Tendenzen verlaufen in Richtung einer Dematerialisierung des Geldes vom<br />

Metallgeld und Papiergeld zum stofflosen, „unsichtbaren“ Geld, wonach der<br />

substantielle Wert des Geldes ohne Bedeutung ist.<br />

(1.1.) Die Vorgänger des Metallgeldes: Das Schmuck- und Nutzgeld<br />

Vor dem Metallgeld gab es bereits Ur- oder Vorformen des heute bekannten Metallgeldes.<br />

3 Die einzelnen Völker und Stämmen betrachteten als Geld, was wesensmäßig<br />

den jeweiligen religiösen Auffassung sowie der Landesnatur angepasst<br />

erschien und für die damaligen Menschen einen allgemeinen praktischen<br />

Nutzen hatte. Bei den Naturvölkern gab es Dinge, die jeder gerne erwarb und<br />

hortete. Es handelte sich zumeist um das wertvollste Gut im Volksstamm, den<br />

sog. Zentralwert. Beispiele sind:<br />

- Schmuckgeld (Amerika, Südsee, Afrika, Süd- und Südostasien),<br />

- Kaurimuscheln (Süd-/Südostasien, Ostafrika, später auch in Westafrika),<br />

- Ring- und Zahngeld (Neuguinea, Melanesien),<br />

- Steingeld und<br />

- Federgeld.<br />

2 Vgl. Issing, Otmar, Geldtheorie, 1988, S. 1 ff.<br />

3 Diese Ausführungen sind entnommen aus: Hartlandt Hans, Die Evolution des Geldes, Heidelberg 1989, S. 16 ff.<br />

8


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Beim Übergang vom Schmuckgeld zum Nutzgeld traten das sog. Kleidergeld und<br />

das Nutzgeld in der Form von Nahrungs- und Genussmitteln (zumeist in Mexiko,<br />

Zentralasien, Äthiopien, und Island) auf. Das Rind erfüllte im antiken Griechenland<br />

wichtige Anforderungen an das Geld wie eine gewisse Haltbarkeit, Transportfähigkeit<br />

und Teilbarkeit. Auch bei den Römern galt das Vieh als Zahlungsmittel<br />

(daher das lateinische Wort für Geld „pecunia“ von pecus das Vieh). Dieses<br />

Warengeld (Nutzgeld) wurde erstmals auch zu einseitigen Zahlungen verwendet,<br />

wie beispielsweise bei Geschenken, Steuern, Strafen oder anderen Abgaben.<br />

4 Eine Übergangsform vom Nutzgeld zum Metallgeld sind auch Ringe aus<br />

Gold oder Silber (Afrika); Nebenformen des Geldes sind Warenwährungen in<br />

Kriegszeiten (beispielsweise die Zigarettenwährung).<br />

(1.2.) Das Metallgeld<br />

In der Antike verdrängte das Metallgeld nach und nach die primitiven Geldformen.<br />

Hauptursachen waren Vorzüge wie die Haltbarkeit, Beständigkeit und<br />

Gleichartigkeit des Metallgelds gegenüber dem Nutzgeld. Mit dem Begriff des<br />

Metallgelds verbindet sich in der Antike auch das Metallgeld, welches gewogen<br />

wurde (Begriffe wie das Pfund erinnern daran). Im Verlaufe der Zeit kam es zum<br />

staatlichen Monopol der Münzprägung, dem Münzregal.<br />

Das erste Münzmetall soll etwa 1700 v. Chr. in Babylon entstanden sein. Gestempelte<br />

Metallscheiben gab es 1500-1000 v. Chr. in Troja, auf Kreta und in Mykene<br />

(1500-1000 v. Chr.). Zur Prägung der ersten Goldmünzen kam es ca. 670 v. Chr. im<br />

Lyder- und Perserreich, ebenfalls im 7. Jh. v. Chr. im antiken Griechenland, wobei<br />

diese Münzen auch in Kleinasien auftauchten. 5 Um ca. 650 v. Chr. lieβ Krösus,<br />

König der Lydern in Kleinasien, vorerst Kurantmünzen (vollwertige Münzen)<br />

aus Gold und Silber prägen, später Scheidemünzen (=unterwertige Münzen) zur<br />

Erzielung von Einnahmen.<br />

Zur Prägung von Münzen wurde in der Antike vor allem Silber verwendet. Basis<br />

der römischen Silberwährung wurde 187 der Denar. Kupfermünzen gab es als<br />

Kleingeld, Goldmünzen mit dem Beginn der Kaiserzeit rund 200 Jahre später.<br />

Das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber schwankte vorerst. Im spätrömischen<br />

Reich unter Diokletian wurden die Währungsverhältnisse durch das Gesetz<br />

geregelt. Die Goldmünze, der „aureus solidus nummus“ (kurz Solidus genannt),<br />

wurde zur Hauptwährung mit einem Goldgehalt von 4,4 g; das Wertverhältnis<br />

zwischen dem Solidus und den Silber- und Kupfermünzen wurde verbindlich<br />

festgelegt. 6<br />

4 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 18.<br />

5 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 21 ff.<br />

6 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 24 ff.<br />

9


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Im frühen Mittelalter wurde in den Germanenreichen noch stets der Solidus geprägt<br />

(auch als Besant bezeichnet). Der Goldgehalt nahm immer mehr ab und es<br />

entstand vorübergehend der <strong>Dr</strong>ittelsolidus. Karl der Große lieβ mit einer großen<br />

Münzreform das Prägen von Goldmünzen einstellen und führte mit dem Silberdenar<br />

eine Silberwährung ein. Dessen Silbergehalt verkleinerte sich bis ins 13.<br />

Jh. auf rund ein Viertel.<br />

Im Orient gab es durch den Handel mit Indien und China erhebliche Goldvorräte,<br />

wobei die orientalischen Städte das Gold horteten und Silber als Währung in<br />

Umlauf brachten. Im späteren Mittelalter kam es erneut zur Prägung von Goldmünzen;<br />

zu den bedeutendsten zählt der seit 1294 in Florenz geprägte Florin,<br />

welcher den Besant bzw. Gold-Denar verdrängte. Die italienischen Münzen fanden<br />

in Europa Anwendung und wurden auch nachgeprägt. In Frankreich und<br />

England kam es zur Prägung eigener Goldmünzen. Bis 1664 hatte England eine<br />

Doppelwährung aus Gold- und Silbermünzen. Die Probleme der Doppelwährung<br />

(der sog. Bimetallismus) waren vorerst insofern gering, als das Werteverhältnis<br />

nur geringen Schwankungen unterworfen war. 7<br />

In der Neuzeit begann vorerst das Gold-, später gegen Ende des 16. Jh. das Silberzeitalter.<br />

Die Spanier brachten Gold und anschlieβend immer mehr Silber nach<br />

Europa. Bis zum Ende des 16. Jahrhunderts entstanden in Deutschland zahlreiche<br />

Münzverordnungen. Mit der Reichsmünzordnung von 1559 wurde eine Vereinheitlichung<br />

angestrebt (72 Kreuzer je Taler). 8 Bereits vor und in den Wirren des<br />

<strong>Dr</strong>eiβigjährigen Krieges (1618-1648) wurde der Münzwert durch vielfältige Manipulationen<br />

verschlechtert, um Münzgewinne und dadurch Staatseinnahmen als<br />

Beitrag zur Deckung des hohen Finanzbedarfs zu erzielen (Zeitalter der „Kipper<br />

und Wipper“). Es wurden minderwertige Münzen geprägt, die Münzränder abgefeilt<br />

und die Münzen falsch gewogen. Der reale Wert der Münzen wurde gegenüber<br />

dem nominellen Wert immer tiefer.<br />

Nach dem Ende des <strong>Dr</strong>eißigjährigen Krieges verbesserte sich die Prägung. War<br />

der Florin bisher nur eine Verrechnungswährung, so wurde er 1691 in groβen Teilen<br />

Europas Kurantgeld. Ende des 17. Jh. gab England seine Doppelwährung<br />

(Gold und Silber) auf und beschränkte sich auf eine reine Silberwährung. Bereits<br />

im 18. Jh. kam es zu groβen Goldfunden in Brasilien (mit einer Förderung von<br />

rund 900 Tonnen Gold) und viele Länder führten erneut die Doppelwährung ein.<br />

1717 kehrte auch England wieder zur Doppelwährung zurück und regelte 1773<br />

durch Gesetz das Wertverhältnis zwischen Gold und Silber. Man passte nunmehr<br />

den Nennwert der Münzen deren Materialwert (innerer Wert) ständig an. Diese<br />

7 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 28.<br />

8 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 32.<br />

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Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

gesetzlichen Regelungen waren notwendig, da Preisschwankungen für Edelmetalle<br />

die gesamte Münzordnung stören oder durcheinander bringen. Schon bei<br />

geringen Unterschieden zwischen dem Nominalwert und dem Metallwert wirkt<br />

beim Bimetallismus unweigerlich das Greshamsche Gesetz (nach Sir Thomas<br />

Gresham, 1519-1579): Das schlechte Geld verdrängt das gute Geld aus dem Verkehr.<br />

In der ersten Hälfte des 18. Jh. trat in Deutschland eine starke Verknappung der<br />

Silbervorräte ein, so dass der Gehalt der Münzen nicht beibehalten werden konnte.<br />

Doch blieben die alten Münzen, die nach dem sog. Leipziger Münzfuβ geprägt<br />

wurden, als Handelsmünzen erhalten. Das heiβt, diese Münzen dienten dem<br />

Auβenhandel und waren nicht auf die inländische Währung beschränkt. Von<br />

einzelnen Staaten wurden eigens für den Auβenhandel Währungen geprägt. Beispiele<br />

sind die Victoriaten der römischen Republik, die Kölner Pfennige (10./11.<br />

Jh.), das englische Pfund Sterling, zudem der Maria-Theresien-Taler, welcher mit<br />

ihrem Münzbild bis 1780 als Handelsmünze und danach noch bis ins 20. Jh. in<br />

Wien weitergeprägt wurde. 9<br />

Nach den riesigen Goldfunden des 19. Jh. führten nach und nach fast alle europäischen<br />

Länder, die Hansestadt Hamburg, 1873/75 das Deutsche Reich, 1875 die<br />

Niederlande, 1897 Japan und 1900 die USA eine reine Goldwährung ein. Diese<br />

Zeit endete mit dem Beginn des Ersten Weltkrieges vorerst jäh.<br />

(1.3.) Die Papierwährung<br />

Frühe Formen des Papiergeldes sind schriftliche Aufzeichnungen zur Regelung<br />

des damaligen Geldverkehrs; solche bestanden bereits im 17. Jh. v. Chr. in Babylon<br />

unter König Hammurabi. Als eine Art von Bankiers funktionierten die damaligen<br />

Tempelherren: Für hinterlegte Waren wurden Depotquittungen als eine<br />

Vorform des Papiergeldes ausgestellt. Vorerst war das Papiergeld eine Quittung<br />

des Bankiers für hinterlegte Waren, später für hinterlegtes Metallgeld. 10<br />

Die Chinesen verwendeten Papier erstmals etwa im 1. Jh. v. Chr. zu<br />

Urkundszwecken. Im 7. Jh. n. Chr. kam das Papier über das Osmanische Reich<br />

auf die Iberische Halbinsel nach Europa. Die Produktion von Papier erfolgte erst<br />

im 12. Jh. in Italien, später auch in Frankreich und in England. Die ersten Bankiers<br />

waren Kaufleute, welche im Verlaufe der Zeit zu Kreditgebern wurden<br />

(„Lombarden“). 11<br />

9 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 36 ff.<br />

10 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 54 ff.<br />

11 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 57 ff.<br />

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Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zu dieser Zeit entstand auch die Berufsbezeichnung der Lombarden. Dies waren<br />

die ersten Bankiers. Ursprünglich waren es Kaufleute, die nach und nach zu<br />

Kreditgebern wurden. Die Depoteinlagen (gegen Depotquittungen) wurden für<br />

Darlehen verwendet, welche vorerst in Metall und später ebenfalls gegen Depotquittungen<br />

ausgezahlt wurden. Auf diese Weise entstand das erste Papiergeld in<br />

Italien und später auch in anderen Staaten. „Den Bedürfnissen des Handels und<br />

der Wirtschaft, ein metallloses Geld zu verwenden, genügte in zunehmendem<br />

Umfange das Papiergeld, nämlich Banknoten“. 12<br />

Reine Banknoten wurden erstmals in groβen Mengen von der 1694 gegründeten<br />

Bank of England ausgegeben. 13 Die Bank von England bekam das Recht zur Notenemission<br />

für das gesamte Aktienkapital. Diese Banknoten wurden 1834 zum<br />

gesetzlichen Zahlungsmittel erklärt. Das Recht zur Notenemission wurde durch<br />

die Peelschen Bankakte von 1844 mengenmäβig begrenzt (mit Gold- und Silberdeckung).<br />

Die Ausgabe von Banknotenausgabe wurde immer mehr auf die Staatsbanken<br />

konzentriert. Bis zum ersten Weltkrieg hatten fast alle Notenbanken in Europa<br />

und auch die amerikanische Zentralbank das Monopol der Notenausgabe.<br />

Ein gewisser Anteil der Notenemission musste durch Gold und andere Werte gedeckt<br />

sein (in England, Frankreich und Deutschland beispielsweise ein <strong>Dr</strong>ittel, in<br />

den USA 40 Prozent Golddeckung). Das Gold bildete damit noch stets die Grundlage<br />

der Notenemission und zudem bestand die Einlösepflicht für Noten gegen<br />

Gold. Mit Beginn des ersten Weltkrieges stieg der Geld- bzw. Finanzbedarf der<br />

kriegsbeteiligten Länder stark und die Golddeckung brach zusammen. 14<br />

Die Entwicklung zum Papiergeld setzte sich nach dem ersten Weltkrieg weltweit<br />

durch; dieses wurde in den 1920er und 1930er Jahre in vielen Ländern zum gesetzlichen<br />

Zahlungsmittel. Das Gold wurde zum internationalen Zahlungsmittel und<br />

zur Währungsreserve der Zentralbanken.<br />

Mit dem Abkommen von Bretton Woods wurde 1944 der Internationale Währungsfonds<br />

(IWF) gegründet. Die Quoten der einzelnen Mitgliedsländer waren<br />

zu einem Anteil in Gold einzubezahlen und der Wert des Goldes wurde mit 35<br />

Dollar je Goldunze festgelegt. Auf dieser Wertbasis erfolgten die gegenseitigen<br />

Interventionen zur Stabilisierung der Währungskurse. Dieses Festkurssystem,<br />

welches unter anderem auf der Pflicht des US-amerikanischen Federal Reserve<br />

Systems beruhte, Dollars gegen Gold einzulösen, endete Anfang der 1970er Jahre<br />

mit der Erschöpfung der amerikanischen Goldreserven. Es kam der Übergang zu<br />

12 Hartlandt, 1989, S. 102.<br />

13 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989, S. 68 ff.<br />

14 In Frankreich beispielsweise stiegt den Notenumlauf von 1914 bis 1924 um das Zehnfache. Vgl. Hartlandt H., Geld-<br />

evolution, 1989, S. 73.<br />

12


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

flexiblen Wechselkursen; das Gold verlor weiterhin an Bedeutung. 15 Mit der<br />

zweiten Statutenrevision des IWF von 1976 wurde das Gold als Recheneinheit<br />

abgeschafft. Noch halten zahlreiche Länder groβe Goldreserven, welche zwar<br />

tendenziell abgebaut werden, eines Tages jedoch auch wieder monetisiert werden<br />

könnten.<br />

(1.4.) Immaterielles Geld<br />

Seit dem 14. Jh. entstand der Scheckverkehr in Italien. Dieser entwickelte sich im<br />

15. Jh. komplementär zum Depositengeschäft in Italien. In der Renaissance erfolgten<br />

Überweisungen auf Konten von Kaufleuten vor allem in Genua und Venedig.<br />

Ursprünglich gaben viele Kaufleute ihr Geld den Bankiers aus Sicherheitsgründen<br />

zur Verwahrung. Dieses wurde gutgeschrieben und lieβ sich gegen<br />

Forderungen anderer Kaufleute verrechnen (diskontieren). Die zahlreichen Münzen<br />

mit oft fragwürdigem Gewicht und Feingehalt förderten die Entwicklung<br />

zum stofflosen Geld.<br />

Aus dem Werk von Adam Smith ist die Bank von Amsterdam bekannt, welche<br />

1609 den bargeldlosen Zahlungsverkehr einführte. Dieser folgte 1619 die Hamburgische<br />

Bank. Mit der industriellen Revolution um 1740 kam es zu einem starken<br />

Aufschwung des Scheckverkehrs in England und danach zur Verbreitung<br />

über die ganze Welt. Mit dem Check als bargeldlose Zahlung wird eine gegen eine<br />

Bank oder ein anderes Geldinstitut gerichtete, täglich fällige Forderung auf<br />

Bargeld an ein anderes (drittes) Rechtssubjekt abgetreten. Immaterielles Geld ist<br />

stofflos und unsichtbar. Bis Mitte des 19. Jh. änderte sich wenig bei diesem Giroverkehr.<br />

Ausgelöst durch die Peelschen Bankakten von 1844 mit den strengen Golddeckungspflichten<br />

konnte die Emission von Banknoten dem wirtschaftlichen<br />

Wachstum nicht entsprechen, womit ein Bedarf nach zusätzlichem Girogeld entstand<br />

und sich der bargeldlose Zahlungsverkehr unter den Banken nach Mitte<br />

des 19. Jh. rasch entwickelte. Bis zum 19. Jh. diente das immaterielle Geld meist<br />

nur der Verrechnung von finanziellen Verbindlichkeiten, jedoch noch nicht zum<br />

direkten Kauf von Gütern. Zu den Instrumenten des immateriellen Zahlungsverkehrs<br />

zählen beispielsweise die Schecks, Überweisungen und seit vor und nach<br />

dem zweiten Weltkrieg auch die Kreditkarten. Diese können beim Kauf von Waren<br />

und Dienstleistungen zur sofortigen Bezahlung verwendet werden.<br />

Neuere Entwicklungstendenzen des immateriellen Zahlungsverkehrs sind das<br />

Internet bzw. das Home-Banking bzw. das online-Banking bzw. die Bezahlung<br />

durch „electronic cash“ (eine einmalige Einzugsermächtigung über das Konto).<br />

15 Vgl. Hartlandt H., Geldevolution, 1989 S. 82 ff.<br />

13


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Betreiber von Automaten errichten Geräte für Kredit- und EC-Karten. Eine<br />

weitere Form des immateriellen Geldes sind die sog. Debitkarten bzw. die prepaid-card<br />

(Chipkarte) mit im voraus bezahlten Zahlbeträgen, welche sich als<br />

elektronisches Geld verwenden lassen sowie das Point-of-Sale-System, bei welchem<br />

die Zahlung mit einer Euro- oder Bankkarte und eines elektronischen Kassenterminals<br />

erfolgt.<br />

2.2. Die Geldinnovationen<br />

Geldinnovationen erfolgen in ähnlicher Weise wie die Innovationen im realen<br />

Bereich. 16 Eine pragmatische Definition wählt die Federal Reserve Bank of Chicago:<br />

„Financial innovations are new ways to make money“, 17<br />

wobei nicht ganz eindeutig ist, ob es sich dabei um die Geldschöpfung oder ganz<br />

allgemein das Erzielen von Gewinnen handelt.<br />

Bei heutigen Finanzinnovationen handelt es sich um „neue Finanzierungsinstrumente<br />

… , die abrupte Veränderungen der Portfolioentscheidungen von Teilnehmern<br />

an Geld- und Kreditmärkten herbeiführen“. 18 Es kommt zu einem stärker<br />

differenzierten Leistungsangebot des Finanzsektors, einem breiteren Angebot<br />

an Anlagevarianten sowie neuen Finanzierungs- und Transaktionstechniken.<br />

Dies verkleinert die Substitutionslücken und verbessert die Allokationsleistung<br />

der Märkte, führt jedoch auch zu einer gröβeren Verwundbarkeit des monetären<br />

Bereichs. 19<br />

Oft geht es um die Substitution von Bankeinlagen (beispielsweise durch Geldmarktfondsanteile<br />

und Geldmarktkonten), die Substitution von Bargeld (beispielsweise<br />

durch Kreditkarten und Zahlungskarten) sowie die Substitution von<br />

Anleihen und Krediten (beispielsweise durch eine variable Geldmarktfinanzierung).<br />

Es gibt kontinuierliche innovatorische Entwicklungen, welche in kleinen Schritten<br />

verlaufen sowie diskontinuierliche, ruckartige Innovationen, welche die eigentlichen<br />

Innovationen darstellen. 20 Die Innovationszyklen können unabhängig<br />

16 Vgl. Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 8. Aufl., Berlin 1952, S. 100.<br />

17 Federal Reserve Bank of Chicago, Regulatory Innovations: The New Bank Accounts. In: Economic Perspektives, Nr.<br />

8/1984, S. 12.<br />

18 Streit, Joachim, Die Relevanz monetärer Innovationen in den USA für die Geldpolitik. In: Kredit und Kapital, 17. Jg.,<br />

1984, S. 559. ff.<br />

19 Vgl. Timmermann, Vincenz, Finanzinnovationen und Globalisierung aus volkswirtschaftlicher Sicht. In: Jahrbuch<br />

für Sozialwissenschaft, 40. Jg., Nr. 3, 1989, (S. 279-286), S. 279.<br />

20 Vgl. Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 8. Aufl., Berlin 1952, S. 93.<br />

14


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

von den realen Innovationszyklen entstehen, sich aber auch parallel zu jenen<br />

des realen Bereichs entwickeln (beispielsweise die Entstehung des elektronischen<br />

Geldes). Zudem können Finanzinnovationen durch eine starke Konzentration<br />

von Risiken und Inflationspotentialen zu Instabilitäten des Geldsystems<br />

führen.<br />

Bemerkenswert ist zudem, dass die früheren Erscheinungsformen des Geldes oft<br />

noch weiter bestehen, während die nachfolgende Geldinnovation bereits einen<br />

Durchbruch erleben.<br />

„Es ist in keinem Fall leicht, das Element der Innovation unter der Masse<br />

ausgelöster, abgeleiteter und hinzukommender Phänomene zu erkennen,<br />

die es überdecken. Aber in der Sphäre des Geldes und des Kredits ist die<br />

Schicht so dick und die Oberfläche so völlig im Widerspruch zu den darunter<br />

vor sich gehenden Prozessen, dass der erste Eindruck des Lesers leicht<br />

ein vernichtender sein kann“. 21<br />

Beim Begriff der Finanzinnovationen hat sich keine allgemeingültige Definition<br />

durchgesetzt. Wesentlich erscheinen jedoch zwei Aspekte: Erstens werden neue<br />

Problemlösungen angeboten und zweitens erfolgt eine Nachfragereaktion:<br />

„Erst wenn beide Seiten zur Deckung gebracht werden, also eine Anwendung<br />

bzw. Verwendung durchgesetzt wird, wobei auf mindestens einer Seite<br />

etwas ‚Neues’ auftritt, liegt eine Innovation vor“. 22<br />

Die Entwicklung von Finanzinnovationen erfolgt aus unterschiedlichen Gründen.<br />

Die auslösenden Faktoren lassen sich sowohl der Angebots- als auch der<br />

Nachfrageseite zuordnen (Demand-and-Supply-Approach“), wobei die Finanzinnovationen<br />

aus dem Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage entstehen.<br />

- Auf der Angebotsseite spielen der technologische Fortschritt (beispielsweise im<br />

Bereich der Informatik und Telekommunikation), die Intensivierung des Wettbewerbs<br />

und das regulatorische Umfeld (beispielsweise Liquiditäts- und Eigenkapitalvorschriften<br />

sowie Kapitalverkehrsbeschränkungen) eine Rolle.<br />

- Nachfrageseitig werden Innovationen ausgelöst, wenn veränderte Bedürfnisse<br />

für Transaktions- und Wertaufbewahrungsmittel entstehen, um die Relation zwischen<br />

dem Nutzen und den Kosten für das Halten von Liquidität zu verbessern,<br />

die Risiken an die individuellen Präferenzen anzupassen, die Transaktionskosten<br />

zu senken und regulatorische Eingriffe zu umgehen.<br />

Es lassen sich – mit einem speziellen Blick auf die USA – vier Typen von Finanzinnovationen<br />

unterscheiden: 23<br />

21 Vgl. Joseph A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 8. Aufl., Berlin 1952, S. 117.<br />

22 Vgl. Hantke, Monika, Der Einfluss von Finanzinnovationen auf der Wirksamkeit der Geldmengensteuerung, Dusi-<br />

burg, 1991 S. 4.<br />

15


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Finanzinnovationen, welche die Bargeldhaltung verkleinern, z.B. Geldautomaten,<br />

Automated Teller Machines (ATM) für Bargeldeinzahlungen und<br />

Giralgeldverfügungen, Kreditkarten, ec-Karten, Chip-Karten, Point of Sale-<br />

Kassen, Homebanking mit dem BTX-Verfahren).<br />

- Finanzinnovationen, welche die Transaktionskasse verzinsen, z.B. der Automatik<br />

Transfer Service (ATS) zwischen einem konventionellen Sparkonto und einem<br />

besonderen Girokonto; Negotiable Orders of Withdrwal (NOWs) als verzinsliche<br />

Sparkonten für natürliche Personen, über welche höchstens dreimal pro<br />

Monat mit einer übertragbaren Zahlungsanweisung verfügt werden kann; Super-<br />

NOW-Accounts (SNAs) für natürliche Personen, ohne Begrenzung der Zahl der<br />

Transaktionen pro Monat; Money Market Deposit Accounts (MMDAs) mit bis zu<br />

sechs Verfügungen pro Monat; Cash Management Accounts (CMAs) und Sweep<br />

Accounts (SAs) mit einem automatischen Transfer von überschüssigen Kassenbeständen<br />

über einem fixen Betrag hinaus auf Investitionskonten.<br />

- Geldnahe Finanzaktiven mit geringen Umtauschkosten in Transaktionskasse,<br />

z.B. Geldmarktfonds, Certificates of Deposit (CDs) mit Laufzeiten von einem<br />

Monate bis zu fünf Jahren mit festen oder variablen Zinsen, und einer jederzeitigen<br />

Verkäuflichkeit; Euronote Facilities als revolvierende Schuldverschreibung<br />

mit Laufzeiten bis sechs Monaten; Euro Medium Term Notes (EMTNs) als börsennotierte<br />

Inhaberschuldverschreibungen mit Laufzeiten von einem bis zu fünf<br />

Jahren und festen oder variablen Zinssätzen; EuroCommercial Papers (ECPs) mit<br />

einer Laufzeit von etwa einem Monat und einem um den Zinsbetrag abgezinsten<br />

Emissionspreis.<br />

- Risikotransferierende Finanzinnovationen dienen<br />

- dem Transfer von Liquiditätsrisiken (durch die Verbesserung der<br />

Transaktionsfähigkeit von Finanzaktiven),<br />

- dem Transfer von Bonitätsrisiken (beispielsweise durch Kreditausfalloptionen<br />

und die zunehmende Substitution von Bankkrediten durch Anleihen auf den<br />

internationalen Finanzmärkten seitens der Banken bzw. der Desintermedia<br />

tion),<br />

- dem Transfer von Zinsänderungsrisiken: Floating Rate Notes, Zerobonds,<br />

Zinsswaps, Zinsfutures, Zinsoptionen, Forward Rate Agreements, Caps,<br />

- dem Transfer von Aktienrisiken: Aktienindexfutures, Aktienindexoptionen,<br />

Aktienoptionen.<br />

- dem Transfer von Wechselkursrisiken: Doppelwährungsanleihen,<br />

Währungsswaps, Währungsfutures, Währungsoptionen.<br />

23 Vgl. Wende, Steffen, Finanzinnovationen und Geldpolitik: eine geldtheoretische Problemanalyse anhand ausgewählter<br />

Finanzinnovationen, Frankfurt a.M. 1990, S. 60 f.; vgl. Smeets, Heinz-Dieter, Finanzinnovationen und Geldpolitik.<br />

In: Lenel, H.O. u.a. (Hrsg),, ORDO, Jahrbuch für Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 38, Stuttgart/New<br />

York 1987, (S. 91-112), S. 93.<br />

16


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zu den Ursachen von Finanzinnovationen zählen neben den Innovationen im<br />

realen Bereich (Informatik und Telekommunikation) auch die Erhöhung der<br />

Wettbewerbsintensität auf dem Finanzsektor, die Umgehung von Regulierungen<br />

(beispielsweise Zinsobergrenzen und Mindestreservepflicht) sowie die Volatilität<br />

der Zinsen, Aktienkurse und Inflationsraten.<br />

Zu den Finanzinnovationen der 1970er Jahre und danach zählen unter anderem<br />

auch<br />

- neue Anlageformen, wie beispielsweise Terminkontrakte und Optionen sowie<br />

strukturierte Finanzprodukte mit speziellen Risiko-Ertrags-Charakteristiken.<br />

- Produktinnovationen wie beispielsweise roll-over-Kredite (längerfristiger Kreditrahmen<br />

mit kurzfristiger Finanzierung), die Projektfinanzierung, floating rate<br />

notes (Anleihen jeweils den Marktbedingungen angepassten Zinsen), Doppelwährungsanleihen<br />

(geschuldeter Betrag in der Währung A, Zinszahlungen in der<br />

Währung B), Warrants (längerfristige Anleihen mit Bezugsrecht für Aktien) sowie<br />

Zins- und Währungsswaps (Schuldentausch).<br />

- Verfahrensinnovationen wie beispielsweise Kassenautomaten bei Banken (automatic<br />

tellar machines), die elektronische Abbuchung von Beträgen an Kassen<br />

(point of sale Systeme), das home banking und cash management Systeme.<br />

- Innovationen im Bankenmanagement wie beispielsweise die Optimierung von<br />

Bankenportefeuilles (asset und liability management sowie das<br />

Portfoliomanagement).<br />

- Elektronische Zahlungsverkehrssysteme beim Interbankensystem (nationale<br />

und internationale Girosysteme für den Interbankenverkehr) und der kundenorientierte<br />

Zahlungsverkehr (Geldausgabeautomaten, ec-Karten, Pay-Cards, Point<br />

of Sale-Terminals und Electronic Banking mit Home Banking und Cash Management-Systeme<br />

mit Informationsleistungen und Transaktionsmöglichkeiten).<br />

Finanzinnovationen führen oft zu einer Verkleinerung des Bargeldbedarfs, einer<br />

Verzinsung der Transaktionskasse, geringeren Umtauschkosten zwischen Finanzaktiven<br />

und einem Risikotransfer zwischen den Wirtschaftssubjekten.<br />

2.3. Nutzen und Kosten des Geldes<br />

Ökonomische Anreize beeinflussen die Entstehung und Verbreitung von Geldinnovationen.<br />

Dazu zählen<br />

17


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- der Nutzen Geldes bzw. dessen Grenznutzen (ggf. auch der Zusatznutzen wie<br />

beispielsweise die Sicherheit und der Ausweis der Kreditwürdigkeit bei Kreditkarten).<br />

- Die Kosten für die Bereitstellung der einzelnen Geldarten. Von Bedeutung sind<br />

die Fixkosten einzelner Zahlungssysteme, die Kostendegression bei einer zunehmenden<br />

Zahl von Zahlungsvorgängen sowie die Grenzkosten für die einzelnen<br />

Zahlungsvorgänge.<br />

Der Nutzen und die Kosten einzelner Zahlungssysteme<br />

Geldangebot Geldnachfrage<br />

Fixkosten Grenzkosten der Grenznutzen Zusätzlicher<br />

der Zah- Transaktion der Transaktion Grenznutzen<br />

lungs-<br />

systeme<br />

Münzen gering gering mäßig/groß z. B. Verwendung bei<br />

Kassenautomaten<br />

Noten mäßig gering mäßig/groß z. B. Diskretion<br />

Wechsel gering gering groß z. B. Umkehr der<br />

Beweislast<br />

Checks gering gering gering/mäßig .<br />

Kreditkarte gering mäßig groβ z.B. Hinweis auf Kreditwürdigkeit<br />

Elektroni- groß gering gering z. B. Raschheit der<br />

Über-.<br />

sches Geld weisung.<br />

Die Geldinnovationen entwickeln und verbreiten sich, solange der Grenznutzen<br />

gröβer ist als die Grenzkosten der einzelnen Zahlungssysteme. Im Gleichgewicht<br />

entsprechen sich die Grenzkosten und der Grenznutzen der einzelnen Geldarten.<br />

Zudem müssen die Gesamtkosten der Zahlungssysteme gedeckt sein, wobei die<br />

Skalenerträge (die Kostendegression bei einer zunehmenden Zahl von Zahlungsvorgängen)<br />

für deren Verbreitung eine erhebliche Rolle spielen.<br />

18


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abb. 2<br />

Die Innovationen bei den Zahlungssystemen (Geldarten)<br />

Langfristige<br />

Durchschnitts-<br />

kostenentwick-<br />

lung bei einer<br />

zunehmenden<br />

Zahl von Zah-<br />

lungstransak-<br />

tion<br />

Beispiel<br />

A B C A, B, C = Zahlungssysteme<br />

Als Beispiel ist die Schaffung des elektronisch gespeicherten Geldes zu nennen,<br />

welches heute in vielfältiger Form in Erscheinung tritt (z.B. pay cards, point of<br />

sale-Kassen mit automatischer Abbuchung, Kreditkarten mit elektronischer Abbuchung,<br />

Geldautomaten und das cyber money im Internet). Das elektronisch<br />

gespeicherte Geld verursacht relativ hohe Fixkosten für die Zahlungssysteme in<br />

Folge der erforderlichen Informatik- und Telekommunikationssysteme, jedoch<br />

geringe Grenzkosten bei den einzelnen Zahlungsvorgängen.<br />

Weitere Entwicklungstendenzen<br />

Zahl der Transaktionen<br />

Zu den besonderen Ursachen der Entwicklung von Finanzinnovationen zählen<br />

die wirtschaftlichen Entwicklungen seit den 1970er Jahren, welche zu starken Risiken<br />

führten; ein bedeutender Teil der Finanzinnovationen dient der Reallokation<br />

von Zinsänderungs-, Bonitäts- und Wechselrisiken, indem Terminkontrakte<br />

sowie Kauf- und Verkaufoptionen (Calls und Puts) gehandelt werden. Weitere<br />

Motive sind die Erhöhung der Informationseffizienz und die Senkung von<br />

Transaktionskosten. Die Möglichkeit, vorhandene Finanzaktiven jederzeit gegen<br />

Kasse oder auf Termin verkaufen oder doch Teilrechte (Optionen) veräuβern zu<br />

können, erhöht die Liquidität der Marktteilnehmer. Zahlreiche Formen dieser<br />

Transaktionen und Kontrakte entstehen aus Marketingüberlegungen und ver-<br />

19


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

schwinden bei mangelndem Erfolg auch wieder vom Markt, andere behaupten<br />

sich, indem sie marktlichen Bedürfnissen entsprechen.<br />

Für die Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte sind unter anderem folgende Entwicklungstendenzen<br />

typisch: 24<br />

- Internationalisierung/Globalisierung der Märkte<br />

Grundlage der Internationalisierung/Globalisierung der Märkte bildet der Einsatz<br />

von Systemen der elektronischen Datenverarbeitung und –übertragung,<br />

durch welche die Finanzzentren der Welt miteinander vernetzt wurden und ein<br />

weltumfassender Geld-, Kredit- und Kapitalmarkt entstand. Die Banken und internationalen<br />

Unternehmen können während 24 Stunden, also rund um die Uhr,<br />

auf den Finanzmärkten operieren sowie Hanels- und Arbitragemöglichkeiten<br />

ausnutzen. Daraus entwickelt sich eine globale Integration der Finanzmärkte.<br />

- Securitization<br />

Unter der Securitization ist die zunehmende Tendenz zur Verbriefung von<br />

Schuldverhältnissen (Kredite und Einlagen) zu verstehen. Mit der Securitization<br />

werden die Schuldverhältnisse handelbar (fungibel). Dabei stellt der reine Vorgang<br />

der Verbriefung noch keine Securitization dar, sondern erst die Transformation<br />

einer bilateralen Forderung in ein handelbares Recht, ähnlich wie bei den<br />

Wertpapieren. 25<br />

- Marketization und Futurization<br />

Es besteht die Tendenz, vor allem Geld-, Kapital- und Wechselkurstransaktionen<br />

über hiefür geeignete Marktkontrakte (Termin- und Optionskontrakte) abzuwickeln.<br />

Hinzu kommt der Transfer von Zins-, Kredit-, Aktienkurs-, Wechselkurs-,<br />

Katastrophen- und Rohstoffpreisrisiken über Terminkontrakt- und Optionsmärkte.<br />

Dadurch ergibt sich unter anderem auch eine groβe Substitutionalität der<br />

Währungen.<br />

- Institutionalization<br />

Mit der Institutionalization wird die Tendenz zu einer verstärkten Konzentration<br />

der Transaktionen der Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte auf institutionelle<br />

Groβanleger bezeichnet. Groβe Umsätze und vor allem sehr rasche Transaktionen<br />

24 Vgl. Heischkamp, Volker, Finanzinnovationen. Der Konflikt zwischen mikro- und makroökonomischer Optimalität.<br />

Diss. Köln 1989, S. 63 ff.<br />

25 Vgl. Heischkamp, Volker, Finanzinnovationen. Der Konflikt zwischen mikro- und makroökonomischer Optimalität.<br />

Diss. Köln 1989, S. 68.<br />

20


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

bei sich ändernden Informationen setzen die Märkte schnellen Reaktionen der<br />

Marktteilnehmer aus.<br />

- Desintermediation<br />

Die Tendenz zur Desintermediation bezieht sich auf sog. bilanzneutrale Geschäfte<br />

(off balance sheet Aktivitäten), bei welchen die Geschäftsbanken beispielsweise<br />

Kreditbeziehungen vermitteln. Die Desintermediation ist auch ein Mittel zur<br />

Gestaltung der Bilanzstruktur und Vermeidung einer Unterlegungspflicht der<br />

Kredite mit Eigenkapital.<br />

Weitere Entwicklungstendenzen in den vergangenen Jahren sind das verzinsliche<br />

Geld (beispielsweise durch Geldmarktpapiere, Geldmarktfonds, Certificates of<br />

Deposit und Euronotes) und Kreditswaps (als Schuldentausch von Forderungen<br />

in zwischen einzelnen Währungen und Schuldnern unterschiedlicher Bonität).<br />

3. Das Geldbegriff und die Geldfunktionen<br />

3.1. Das Geld als soziales Phänomen<br />

3.1.1. Der subjekte Liquiditätsbegriff und das Geld als kultursoziologisches Phänomen<br />

Günter Schmölders geht von einem subjektiven Liquiditätsbegriff aus; danach<br />

zeichnet sich das Geld durch die individuelle Akzeptanz aus. Innerhalb einer arbeitsteiligen<br />

Gesellschaft besteht ein enger Zusammenhang zur sozialen Akzeptanz;<br />

das Geld ist eine „Schöpfung sozialen Handels“ 26 (Geld als kultursoziologisches<br />

Phänomen):<br />

„Wo immer sich ein Güterverkehr entwickelt … da sind die Voraussetzungen<br />

für die Entstehung des Geldes gegeben, d.h. eines Gutes, das den Charakter<br />

eines allgemein geschätzten und beliebten Entgeltmittels gewinnt“. 27<br />

3.1.2. Die Konventions- und die Funktionstheorie des Geldes<br />

Bei der Konventionstheorie wird die Tauschmittelfunktion des Geldes auf gesetzlichem<br />

Wege geregelt (Aristoteles, Platon). Oft erhält das Geld auf diesem<br />

Wege ein Zeichen oder einen Wert aufgeprägt. Schreibt der Staat zudem vor, wel-<br />

26 Gerloff, Wilhelm, Die Entstehung des Geldes und die Anfänge des Geldwesens, 3. Auflage, Frankfurt a.M., 1947, S.<br />

201.<br />

27 Gerloff, Wilhelm a.a.O., S. 26.<br />

21


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

ches Geld bzw. welche Währung als Transaktionsmittel dienen darf, wird das<br />

Geld zum legalen Zahlungsmittel mit einer gesetzlichen Grundlage ausgestattet.<br />

Kommt dem Geld nur durch eine gesetzliche Ermächtigung Zahlungsmittelfunktion<br />

zu, handelt es sich beim Geld um ein staatliches Zahlungsmittel. 28<br />

Zu den frühen Theorien zur Entstehung des Geldes zählt auch die Funktionstheorie,<br />

welche ursprünglich ebenfalls auf Aristoteles zurückgeht und auch von<br />

Adam Smith vertreten wird: 29<br />

„In den Anfängen der Arbeitsteilung muss der Tausch häufig noch sehr<br />

schleppend und stockend vor sich gegangen sein. … Um nun solche misslichen<br />

Situationen zu vermeiden, musste eigentlich jeder vernünftige Mensch<br />

auf jeder Entwicklungsstufe seit dem Aufkommen der Arbeitsteilung bestrebt<br />

gewesen sein, es so einzurichten, dass er ständig auβer dem Produkt<br />

seiner eigenen Arbeit einen kleinen Vorrat der einen oder anderen Waren<br />

bereit hatte, von der er annehmen konnte, dass andere sie im Tausch gegen<br />

eigene Erzeugnisse annehmen werden“. 30<br />

Nach einer neueren Darstellung lässt sich als Geld bezeichnen, was Gelddienste<br />

leistet: „Money is, what money does“. 31 Während in einer<br />

Naturaltauschwirtschaft Güter gegen Güter getauscht werden, erfolgt dieser<br />

Tausch in einer Geldwirtschaft Güter gegen Geld (und umgekehrt). Indem das<br />

Geld als Tauschmittel dient, ermöglicht es eine Zweiteilung des Tauschprozesses,<br />

und dient in der Zwischenzeit als Wertaufbewahrungsmittel. 32<br />

Schumpeter weitet den Funktionskatalog des Geldes durch die Aufgabe aus,<br />

Leistungsstandards („standard of deffered payments“) zu setzen. 33 Danach lässt<br />

sich das Geld auch zu anderen als Tauschzwecken verwenden, so beispielsweise<br />

für Opfergaben, Buβleistungen und zum Schenken. Zudem können wertvolle<br />

Schmuckgegenstände, ähnlich wie wertvolle Vermögensstücke, Rang und Reichtum<br />

signalisieren. 34<br />

28 Vgl. Schmölders, Günter, Geldpolitik, Tübingen 1962, (S. 9-41), S. 10.<br />

29 Weitere Vertreter sind Ferdinando Galiani und Francis Hutcheson. Bereits Galiani äuβerte jedoch die Kritik, dass<br />

sich die Funktionstheorie nur auf die Transaktionsfunktion des Geldes bezieht, nicht jedoch die Wertaufbewahrungsfunktion.<br />

Vgl. Ganzoni, E., Ferdinando Galiani, Zürich 1938 S. 50.<br />

30 Smith Adam, Der Wohlstand der Nationen, München 1974, S. 23.<br />

31 Schmölders, Günter, Geldpolitik, 2. Aufl., Tübingen/Zürich 1968, S. 17.<br />

32 Vgl. Mill, John St., Grundsätze der politischen Őkonomie mit einiger ihrer Anwendungen auf die Sozialphilosophie,<br />

2. Bd. 2, Jena 1921, hrsg. von Heinrich Waentig, übersetzt nach der 7. Aufl 1871 von Wilhelm Gehrig, S. 2 f.<br />

33 Vgl. Schumpeter, Joseph Alois, Das Wesen des Geldes – Aus dem Nachlass herausgegeben und mit einer Einführung<br />

versehen von Fritz Karl Mann, Göttingen 1970, S. 19 und 36.<br />

34 Vgl. Schmölders, Günter, Gutes Geld und schlechtes Geld; Geld, Geldwert und Geldentwertung, Frankfurt a.M.<br />

1968, S. 18.<br />

22


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

3.2. Die Funktionen des Geldes<br />

Nach der funktionalen Theorie des Geldes bestehen die Motive des Geldes in<br />

den produktiven Diensten, welche das Geld leistet. Der Geldbegriff knüpft an<br />

die Funktionen des Geldes an, allerdings ohne zu erklären, warum ein Medium<br />

gewisse Geldfunktionen erfüllt. 35 Bereits Knut Wicksell 36 erkannte die Triade der<br />

Geldfunktionen“, 37 bestehend aus der Transaktionsfunktion, der Wertaufbewahrungsfunktion<br />

und der Rechenmittelfunktion. 38 Geld erfüllt mindestens eine dieser<br />

Funktionen.<br />

In einer arbeitsteiligen Wirtschaft bewirkt das Geld eine Senkung der Transaktionskosten.<br />

Dadurch sinken die Transaktionskosten und der Austauschprozess<br />

wird vereinfacht.<br />

- Bei Naturaltausch und 1.000 Gütern bestehen<br />

n(<br />

n −1)<br />

2<br />

= 499.500 „Preise“.<br />

- Bei Geldwirtschaft und 1.000 Gütern gibt es 1.000 Preise für die einzelnen Güter,<br />

was eine wesentliche Vereinfachung darstellt.<br />

Sofern auch auβenwirtschaftliche Funktionen des Geldes einbezogen werden<br />

(beispielsweise beim USD, dem € und dem Yen), ergeben sich folgende Geldfunktionen:<br />

35 Vgl. Borchert, Manfred, Geld und Kredit, Stuttgart und Berlin, 1982, S. 21.<br />

36 Vgl. Wicksell, Knut, Vorlesungen über die Nationalökonomie auf Grundlage des Marginalprinzipes – Theoretischer<br />

Teil, Zweiter Band: Geld und Kredit, Jena 1922, S. 6 ff.<br />

37 Vgl. Altmann, Jörn, Volkswirtschaftslehre, UTB-Taschenbücher, Stuttgart 1988, S. 1.<br />

38 Vgl. Wicksell, Knut, Vorlesungen über Nationalökonomie auf Grundlage des Marginalprinzipes – Theoretischer<br />

Teil, II. Band, Geld und Kredit, Jena 1922 S. 6 ff.<br />

23


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Binnenwirtschaftliche Auβenwirtschaftliche<br />

Funktion Funktion<br />

Transaktionsfunktion Transaktionsmittel Transaktionsmittel<br />

im internationalen Han<br />

del<br />

Wertaufbewahrungsmittel Binnenwirtschaftliche Internationale Geld- und<br />

Geldmärkte Kapitalmärkte/multiple<br />

Währungsreserven der<br />

Zentralbanken<br />

Recheneinheitsfunktion Recheneinheit Denominationswährung<br />

im internationalen Handel<br />

und den internationalen<br />

Geld-, Kredit- und<br />

Kapitalmärkten.<br />

In einem weiteren Sinne dient das Geld, binnenwirtschaftlich und<br />

auβenwirtschaftlich), auch als Transaktionsmittel zur Umschichtung von Vermögen<br />

und zur Umschichtung von Schulden.<br />

3.3. Geld und Geldsubstitutionen<br />

Entfällt.<br />

24


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 4. Die volkswirtschaftliche Geldmenge<br />

„Die grundsätzlichen Ähnlichkeiten des Geldes und der anderer Güter<br />

drückte Roscher am klarsten in seinem berühmten Ausspruch aus, dass sich<br />

die falschen Definitionen des Geldes einteilen lieβen in jene, die es für<br />

mehr, und jene, die es für weniger halten als die kurrenteste Ware“. 39<br />

4.1. Geld als temporäres Wertaufbewahrungsmittel<br />

(Jürg Niehans)<br />

Geld ist ein Transaktionsmittel und gleichzeitig ein vorübergehendes (temporäres)<br />

Wertaufbewahrungsmittel:<br />

„ … Geld ist ein Begriff, welcher nicht nur für ein Transaktionsmittel verwendet<br />

wird, sondern auch, und dies nach unserer Auffassung noch viel<br />

grundsätzlicher, für ein vorübergehendes Wertaufbewahrungsmittel verwendet<br />

wird, welches eine zeitliche Trennung zwischen Kauf- und Verkaufsakten<br />

ermöglicht“. 40<br />

Geld kann jedoch auch als relativ dauerhaftes Wertaufbewahrungsmittel dienen.<br />

Damit sind die Grenzen zwischen dem Geld und dem Kapital als Erscheinungsformen<br />

des Finanzvermögens fließend.<br />

Es gibt zahlreiche Geldarten, so beispielsweise Münzen und Banknoten, Sichtguthaben<br />

(zwischen den Banken sowie den Banken und den Nichtbanken), Terminguthaben,<br />

Sparguthaben, Geldmarktpapiere und Geldmarktfonds sowie<br />

Schuldverschreibungen und andere Liquiditätspapiere. Die einzelnen Geldmengenbegriffe<br />

sind vor allem nach der Liquiditätsnähe gegliedert. Bei der Konzeption<br />

der Geldmengenbegriffe geht die Grundfragestellung dahin, wie viel finanzielle<br />

Liquidität bei den Unternehmen und Haushalte vorhanden ist und deshalb<br />

ggf. nachfrageaktiv werden kann.<br />

Diese Auffassung ist allerdings nicht unkritisch zu sehen. Besonders die sog.<br />

New View von James Tobin 41 geht von weit gefassten Geldmengenbegriffen aus:<br />

39 Vgl. Roscher, Wilhelm, Grundlagen der Nationalökonomie. System der Volkswirtschaft 1, 15. Aufl., Stuttgart 1880,<br />

S. 263. Zitat von Niehans, Jürg, Theorie des Geldes, a.a.O. S. 24. Vgl. auch Fisher, Irving, The theory of interest as determined<br />

by impatience to spend income and opportunity to invest it. New York, 1930, S. 216.<br />

40 Friedman, Milton, und Schwartz, Anna, A Monetary History of the United States 1867-1960, Published by Princeton<br />

University Press, Princeton, 1963, S. 650 (Fuβnote, freie Übersetzung).<br />

41 Vgl. Tobin, James (1963, 1974). Die „New View“ grenzt sich von der „Old View“ unter anderem insofern ab, als<br />

nicht nur die herkömmlichen Geldmengenbegriffe betrachtet, sondern sämtliche geldnahe Finanzaktiven.<br />

25


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

„Geld ist nur einer der Maβstäbe, ob eine Unternehmung liquide ist … .<br />

Auch ist vom Liquiditätsstatus oder gar vom Kassenbestand nicht einseitig<br />

auf die anschlieβenden Ausgaben zu schlieβen, denn die Liquidität ist<br />

höchstens eine unter mehreren Einflussgröβen der Ausgaben“. 42<br />

4.2. Die statistischen Geldmengenkonzepte<br />

Die statistischen Geldmengenkonzepte sind von Land zu Land unterschiedlich<br />

und verändern sich im Verlaufe der Zeit:<br />

„Wo die Linie zwischen den einzelnen Geldmengenbegriffen zu ziehen ist,<br />

bzw. was als Geld, und … als near-money oder einfacher als ‚andere Finanzaktiven’<br />

betrachtet wird, sollte nie endgültig oder auf der Grundlage<br />

verbaler Überlegungen entschieden werden.“ 43<br />

Die einzelnen Geldmengenbegriffe hängen mit dem Verwendungszweck, der<br />

empirischen Bedeutung und der Stabilität der einzelnen Geldarten zusammen. Es<br />

können sich auch qualitative Veränderungen ergeben, so beispielsweise, wenn<br />

auf Termineinlagen (in einem gegebenen Rahmen) Checks gezogen werden können.<br />

44<br />

Die Geldmengenbegriffe werden ad hoc für die Bedürfnisse der Geldpolitik<br />

festgelegt und basieren unter anderem auch auf den Möglichkeiten, Gelddaten<br />

statisch zu erheben. Im Vordergrund stehen folgende Fragen:<br />

- Welche Geldmengenaggregate stehen in einer besonderen Relevanz zu den<br />

geldpolitischen Zielen?<br />

- Welche Geldmengenaggregate sollen als monetäre Indikatoren beobachtet<br />

werden und welche geldpolitische Referenzwerte (monetäre Zwischenziele)<br />

gesteuert werden?<br />

Die in der geldtheoretischen Literatur bestehende Diskussion um die richtige Definition<br />

des Geldbegriffs wurde vor allem durch unterschiedliche Auffassungen<br />

über die Abgrenzung der volkswirtschaftlichen Geldmenge ausgelöst. 45 Dabei<br />

gibt es bei der Abgrenzung Schwierigkeiten: So haben beispielsweise geldnahe<br />

42 Kaldor, Nicholas, Die neue Geldlehre. In: Ifo-Studien, 16. Jg., 1970, S. 48 f.<br />

43 Friedman, Milton, und Schwartz, Anna, A Monetary History of the United States 1867-1960, Published by Princeton<br />

University Press, Princeton, 1963, S. 650 (Fuβnote, freie Übersetzung).<br />

44 Vgl. Friedman, Milton, und Schwartz, Anna, A Monetary History of the United States 1867-1960, Published by<br />

Princeton University Press, Princeton, 1963, S. 650 (Fuβnote, freie Übersetzung).<br />

45 Vgl. Issing, Geldtheorie, 1998 S. 1.<br />

26


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Finanzaktiven wie Sparguthaben und Wertpapiere eine Wertaufbewahrungsfunktion<br />

und können nicht unmittelbar zu Zahlungszwecken verwendet werden.<br />

Zwischen den verschiedenen Bankeinlagen und den kurzfristigen Finanzinstrumenten<br />

ist hinsichtlich ihres Geldcharakters keine befriedigende Trennung möglich,<br />

der Übergang von den einzelnen Geldmengen zum Geldkapital ist flieβend.<br />

Deshalb kann es keinen eindeutigen, allgemeinverbindlichen Geldbegriff und<br />

auch keine eindeutige Auffassung darüber geben, welche Größe jeweils als richtige<br />

Geldmenge anzusehen ist. Die Definition der Geldmenge wird damit eine<br />

Frage Zweckmäβigkeit, d.h. die sinnvolle Abgrenzung der Geldmenge hängt von<br />

dem Zweck ab, den man mit einer bestimmten Analyse verfolgt. In der praktischen<br />

Geldpolitik steht meist derjenige Geldmengenbegriff im Vordergrund, der<br />

den Notenbanken zur Erfüllung ihrer Aufgabe der Geldwertstabilisierung am<br />

hilfreichsten erscheint.<br />

Das ursprüngliche, theoretische Konzept (von ca. 1970) enthielt etwa folgende<br />

Elemente:<br />

M0<br />

M1<br />

M2<br />

M3<br />

= Monetäre Basis (oder Basisgeld), welche durch die Zentralbank<br />

(Staat) zur Verfügung gestellt wird (Münzen, Banknoten, Zentralbankliquidität<br />

der Geschäftsbanken).<br />

= M0 + (täglich fällige) Sichtguthaben des Publikums (Nichtbanken)<br />

bei den Geschäftsbanken.<br />

= M1 + Termineinlagen des Publikums (Nichtbanken) bei den<br />

Geschäftsbanken.<br />

= M2 + Spargelder des Publikums (Nichtbanken) bei den Geschäftsbanken.<br />

M3 er- = M3 + Geldmarktpapiere/Geldmarktfonds beim .<br />

weitert Publikum (Nichtbanken).<br />

bzw. M4<br />

bzw. Mn = alles, was als Geld betrachtet werden kann (sehr weiter Geldmengenbegriff).<br />

4.3. Das Geldmengenkonzept der Europäischen Zentralbank<br />

Monetäre Aggregate sind<br />

27


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

„die Summe des Bargeldumlaufs zuzüglich der ausstehenden Beträge bestimmter<br />

Verbindlichkeiten von Finanzinstituten, die einen hohen<br />

‚Geldgrad‘ oder eine hohe Liquidität im weitesten Sinne aufweisen“. 46<br />

Die einzelnen monetären Aggregate (M1, M2 und M3) unterscheiden sich hinsichtlich<br />

ihrer Liquiditätsnähe. Die einzelnen monetären Aggregate sind wie<br />

folgt festgelegt:<br />

Abgrenzungen monetärer Aggregate im Euro-Währungsgebiet *<br />

M1 M2 M3<br />

Bargeldumlauf x x x<br />

Täglich fällige Einlagen x x x<br />

Einlagen mit einer vereinbarten Laufzeit von bis zu 2 Jahren x x<br />

Einlagen mit vereinbarter Kündigungsfrist von bis zu 3 Monaten x x<br />

Repogeschäfte x<br />

Geldmarktfonds und Geldmarktpapiere x<br />

Schuldverschreibungen bis zu 2 Jahren x<br />

* Quelle: EZB, Monatsbericht vom Febr. 1999, Textteil, S. 35.<br />

Das Geldmengenkonzept der Europäischen Zentralbank weicht vom ursprünglichen,<br />

theoretischen Konzept ab und versucht, auch die neueren Erscheinungsformen<br />

des Geldes wie beispielsweise die Geldmarktpapiere, Geldmarktfonds,<br />

Schuldverschreibungen und Repokredite der Geschäftsbanken<br />

(Rückkaufsvereinbarungen bzw. Beleihung von Wertpapieren des Publikums<br />

bzw. der Nichtbanken) im Euro-Währungsgebiet zu erfassen.<br />

Das Geldmengenkonzept der EZB stellt eine ad hoc-Konstruktion dar und dient<br />

den geldpolitischen Entscheidungen des Eurosystems. Besonders zwischen der<br />

weit gefassten Geldmenge M3 und dem Preisniveau (als geldpolitische Zielvariable)<br />

wird ein enger Zusammenhang unterstellt, zu den enger gefassten Geldmengen<br />

eine eher lockere Beziehung.<br />

46 EZB, Monatsbericht vom Febr. 1999, Textteil, S. 29.<br />

28


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geldmengenstatistik für Juni 2012 (Monatsbericht vom August 2012 der EZB)<br />

Mrd. Euro*<br />

Bargeldumlauf 861,0<br />

+ Sichteinlagen von Nicht-MFIs bei MFIs 4032,0<br />

= M1 4893,0<br />

+ Termineinlagen von Nicht-MFIs bei MFIs (Laufzeit bis 2 Jahre) 1877,3<br />

+ Spareinlagen von Nicht-MFIs bei MFIs (Künd. bis 3 Monate) 2006,9<br />

= M2 8777,2<br />

+ Repogeschäfte** 416,7<br />

+ Geldmarktfonds/Geldmarktpapiere*** 500,8<br />

+ Schuldverschreibungen von MFIs (urspr. Laufzeit bis 2 Jahre) 232,6<br />

= M3 9927,3.<br />

* Die Geldmengenaggregate umfassen die monetären Verbindlichkeiten der MFIs und der<br />

Zentralstaaten (Post, Schatzämter) gegenüber im Euro-Währungsgebiet ansässigen Nicht-MFIs<br />

(ohne Zentralstaaten).<br />

** Befristete Transaktion zwischen Finanzinstituten und Nichtbanken (Unternehmen, Haushalte)<br />

auf der Grundlage einer Rückkaufsvereinbarung.<br />

*** Im Euro-Währungsgebiet.<br />

4.4. Die statistischen Grundlagen der Geldmengenstatistik (EZB)<br />

4.4.1. Die Monetären Finanziellen Institutionen (MFIs)<br />

Die Geldmengenstatistik geht von den geld- und kreditschaffenden Institutionen,<br />

den sog. monetären finanziellen Institutionen, sowie den Nichtbanken<br />

(Nicht-MFIs), dem geldhaltenden Sektor aus. Zu den monetären finanziellen Institutionen<br />

(MFIs) zählen alle Finanzinstitute, welche zum Geldschöpfungssektor<br />

des Euro-Währungsgebietes zählen. 47 Dazu gehören: 48<br />

- Das Eurosystem (die EZB und die nationalen Zentralbanken).<br />

- Die Geschäftsbanken (Kreditinstitute), welche im Eurowährungsgebiet ansässig<br />

sind. Bei diesen MFIs, ohne die Zentralbanken, lässt sich auch von<br />

„OMFIs“ sprechen (Monetäre Finanzielle Institutionen ohne Zentralbanken).<br />

Die Geschäfts- bzw. Kreditbanken nehmen Publikumsgelder entgegen, geben<br />

Bankschuldverschreibungen aus und gewähren Kredite.<br />

47 Ende 2001 gab es rund 8.800 MFIs im Euro-Währungsgebiet: Die EZB, 12 nationale Zentralbanken, ca. 7.200 Kreditinstitute,<br />

ca. 1.600 Geldmarktfonds und 6 sonstige Finanzinstitute.<br />

48 Vgl. u.a. EZB, Monatsbericht vom Februar 1999, S. 29 ff.<br />

29


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Die sonstigen gebietsansässigen Finanzinstitute, welche Einlagen und Einlagensubstitute<br />

im engeren Sinne von den Nicht-MFIs entgegen nehmen und<br />

auf eigene Rechnung Kredite gewähren und/oder in Wertpapiere investieren<br />

(vor allem Geldmarktfonds, Postbanken, Bausparkassen, Versicherungen,<br />

Broker, Kreditkartenunternehmen, bestimmte staatliche Einrichtungen<br />

(Treasuries).<br />

Der geldhaltende Sektor umfasst:<br />

- Alle Nicht-MFIs („Nichtbanken“), welche im Euro-Währungsgebiet ansässig<br />

sind, so beispielsweise die privaten Haushalte, die Unternehmen (nichtfinanzielle<br />

Kapitalgesellschaften) und die Pensionskassen.<br />

- Teile des Staatssektors (Länder, Gemeinden und Sozialversicherungsträger).<br />

Die Zentralregierungen zählen nicht zu den Nicht-MFIs, sondern gelten als<br />

„geldneutral“. Eine Ausnahme bilden Einlagenverbindlichkeiten der Zentralregierung<br />

mit monetärem Charakter (Einlagen bei Postämtern und Sparkassen),<br />

welche innerhalb der monetären Aggregate erfasst werden.<br />

Die Geldmengenstatistik basiert auf der konsolidierten Bilanz der Monetären Finanzinstitute<br />

(MFIs) im Euro-Währungsgebiet. In der konsolidierten Bilanz der<br />

MFIs werden die Inter-MFI-Positionen saldiert. Auf diese Weise werden die Forderungen<br />

und Verbindlichkeiten zwischen den MFIs und den Nicht-MFIs innerhalb<br />

und auβerhalb des Euro-Währungsraumes abgebildet.<br />

In der Geldmengenstatistik erfolgt eine Abgrenzung der vom Publikum (den<br />

privaten Nichtbanken) gehaltenen Geldern nach der Art und der Laufzeit; in der<br />

Regel werden nur Finanzaktiven mit einer ursprünglichen Laufzeit bis zu zwei<br />

Jahren erfasst. Nicht berücksichtigt werden Transaktionen zwischen den Nicht-<br />

MFIs (dem Publikum), welche Geldcharakter haben und teilweise auch gehandelt<br />

werden (z.B. Euronotes, Certificates of Deposit, Schuldbriefe).<br />

4.2.2. Die konsolidierte Bilanz des Eurosystems<br />

Konzeptionell basieren die Geldmengenaggregate auf dem konsolidierten Ausweis<br />

des Eurosystems (EZB und nationale Zentralbanken) sowie der konsolidierten<br />

Bilanz sämtlicher übriger MFIs im Eurogebiet. Die nachfolgend erwähnten<br />

Konten widerspiegeln nur zum Teil unmittelbar die Geldmengen: diese Konten<br />

müβten noch gegliedert werden (beispielsweise die Termingelder nach Laufzeiten<br />

bis zwei Jahre und darüber oder die Schuldverschreibungen nach der ursprünglichen<br />

Laufzeit von bis zu zwei Jahren und darüber).<br />

30


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Konsolidierter Ausweis des Eurosystems<br />

(prov. Werte für Ende Juli 2012, in Mrd. Euro)<br />

Gold und Goldforderungen 433 Banknotenumlauf 897<br />

Forderungen in Fremdwährung an Verbindlichkeiten in Euro<br />

Ansässige außerhalb des gegenüber MFIs im<br />

Eurogebiet 260 Eurogebiet 1066<br />

do., im Eurogebiet 57 Sonst. Verbindlichkeiten geg.<br />

Kreditinstituten Euro-W. 3827<br />

Forderungen in Euro an Ansässige Schuldverschreibungen 0<br />

außerhalb Eurogebiet 15 Verbindl. in Euro gegenüber<br />

sonst. Ansässigen im Eurogeb. 152<br />

Forderungen an MFIs in Euro im<br />

Eurogebiet (Ref. der EZB) 1207 Verbindlichkeiten in Euro gegen-<br />

über Ansässigen außerhalb<br />

Wertpapiere in Euro von Ansässigen Eurogebiet 184<br />

im Eurogebiet 601<br />

Verbindlichkeiten in Fremdwäh-<br />

Forderungen in Euro an öffentliche rung gegenüber Ansässigen im<br />

Haushalte 30 Eurogebiet 5<br />

Sonst. Ford. in Euro an Kredin. 225<br />

Sonstige Aktiven 261 do., außerhalb Eurogebiet 9<br />

Etc. Ausgleichsposten für SZR (zu-<br />

geteilt vom IWF) 56<br />

Sonstige Passiva 222<br />

Ausgleichsp. Neubewertung 409<br />

Kapital und Rücklagen 85<br />

Insgesamt 3094 Insgesamt 3094<br />

31


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

4.4.3. Die aggregierte Bilanz der MFIs im Euro-Währungssystem<br />

Aggregierte Bilanz der MFIs im Eurowährungsgebiet<br />

(prov. Werte für Ende Juni 2012, in Mrd. Euro)<br />

Kredite an Nicht-MFIs im Bargeld .<br />

Eurowährungsbiet<br />

- öffentliche Haushalte 1168 Einl. von Zentralstaaten 191<br />

- sonstige Nicht-MFIs 11188 Einlagen von MFIs 6628<br />

- MFIs 6315 Einlagen von sonstigen öff.<br />

Wertpapiere ohne Aktien von Haushalten und sonstigen<br />

Nicht-MFIs im Eurogebiet Nicht-MFIs im Eurogebiet 10838<br />

- öffentliche Haushalte 1587 - täglich fällig<br />

- sonstige Nicht-MFIs 1453 - mit vereinbarter Laufzeit<br />

- MFIs 1867 - mit vereinbarter Künd.frist<br />

Aktien und sonstige Div.werte - Repogeschäfte<br />

an Nicht-MFIs im Eurogebiet 1203 Geldmarktfondsanteile 560<br />

Aktiva gegenüber Ansässigen Geldmarktpapiere und<br />

außerhalb des Eurogebietes 4295 Schuldverschreibungen 4995<br />

Geldmarktfondsanteile 63<br />

Sachanlagen 220 Kapital und Rücklagen 2282<br />

Sonstige Aktivpositionen 4847 Verpfl. gegenüber Ansässigen<br />

außerhalb Eurogebiet 3880<br />

Sonstige Passiven 4835<br />

Insgesamt 34211 Insgesamt 34211<br />

32


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

4.4.4. Die „Gegenposten zur Geldmenge M3“<br />

Die einzelnen Geldmengenaggregate werden im Rahmen der konsolidierten Bilanz<br />

des Eurosystems und der MFIs erfasst. Zu jeder Position gibt es auch eine<br />

Gegenpositionen und jede Veränderung einer Position führt zu einer entsprechenden<br />

Gegentransaktionen. Typische Gröβen der Gegenpositionen sind längerfristige<br />

Verbindlichkeiten wie Termingelder über 2 Jahre, Spargelder über 3<br />

Mt. und Schuldverschreibungen über 2 Jahre und auch Kredite der MFIs an die<br />

Nichtbanken.<br />

4.5. Empirische Ergebnisse zu den einzelnen Geldmengenaggregaten<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (2009-2012):<br />

M1 + 3,5 %<br />

M2 + 3,0 %<br />

M3 + 3,2 %.<br />

§ 5. Die Geldnachfrage<br />

Wachstumsrate<br />

(Juni 2011-Juni 2012)<br />

Die Theorie der Geldnachfrage beschäftigt sich unter anderem mit den folgenden<br />

Fragestellungen:<br />

1. Welche Geldmengenaggregate und welche Geldmengen wünschen die<br />

Wirtschaftssubjekte zu halten?<br />

2. Warum sind die Wirtschaftssubjekte dazu bereit, einen Teil ihres Vermögens<br />

in Form von Geld zu halten?<br />

Die Theorie der Geldnachfragetheorie weist eine lange Tradition auf. In der theoriegeschichtlichen<br />

Entwicklung sind dazu zahlreiche Ansätze entstanden. Ausgangspunkt<br />

der theoretischen Überlegungen bildet die Quantitätstheorie der<br />

33


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Klassik. Eine erste Weiterentwicklung erfolgte durch den neoklassischen Kassenhaltungsansatz<br />

der Cambridge Schule, weitere Ansätze entstanden durch<br />

Keynes, den Postkeynesianismus, die monetaristische Geldlehre und die Modelle<br />

der Neue Klassische Makroökonomiker (neue klassische Makroökonomie).<br />

Beispiele für einzelne Geldnachfragetheorien<br />

Geldnachfrage = Geldnachfrage = Geldnachfrage =<br />

Bedarf an Bedarf an Transaktionskasse Geld als Vermögen/<br />

Transaktionskasse und Spekulationskasse Teil des Kapitals<br />

Klassische Geldnach- Keynesianische Geld- Portefeuilletheorie<br />

fragetheorie (Quanti- nachfragetheorie (§ 4/II.)<br />

tätstheorie bzw. Fisher- (ISLM)<br />

sche Verkehrsgleichung (§ 4/II.)<br />

(§ 4/I.)<br />

Neoklassische Geld-<br />

nachfragetheorie (Cam-<br />

bridge Gleichung und<br />

Cambridge Cash Balance<br />

Approach) (§ 4/I.)<br />

Das Sägezahnmodell Monetaristische Geldnachfrage-<br />

(§ 4/II.) funktion (§ 4/III.)<br />

Neue Klassische Makroökonomik (§ 4/IV.)<br />

5.1. Die Vorklassik<br />

In der Vorklassik wird die Geldnachfrage in Abhängigkeit zum Transaktionsvolumen<br />

und zur Umlaufgeschwindigkeit des Geldes gesehen;<br />

es werden vor allem die sog. Zirkulationsmittel betrachtet. Den sich im<br />

Umlauf befindlichen Gold- und Silbermünzen steht die Geldnachfrage<br />

(Bedarf an Zirkulationsmitteln) gegenüber. Zu einer Anpassung von<br />

Geldnachfrage und Geldangebot kommt es über die Güterpreise. Die<br />

vorklassische Geldnachfragetheorie steht in einem engen Zusammenhang<br />

mit der Quantitätstheorie des Geldes. 49<br />

Sir William Petty (1623-1606) kam bereits 1682 zur Erkenntnis, die umlaufende<br />

Geldmenge müsse den Zahlungsgewohnheiten eines Landes<br />

49 Vgl. Hume David Political Discourses, 1752, S. 41 ff. und 82 f.<br />

34


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

entsprechen, wobei das Geld je nach der Art der Ausgaben in periodischen<br />

Abständen erfolgt. Die erforderliche Geldmenge ist damit kleiner<br />

als die jährlichen Einkommen. 50 John Locke (1632-1704) spricht im<br />

Zusammenhang mit der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes von der<br />

„quickness of circulation“, 51 welche ebenfalls bei Richard Cantillon<br />

(1680-1734) eine zentrale Rolle spielt. 52 Cantillon geht unter anderem<br />

auch vom Vermögensmotiv der Geldhaltung aus.<br />

5.2. Die Klassik (die neoklassische Quantitätstheorie als Inbegriff der<br />

klassischen Geldnachfragetheorie)<br />

Die Geldhaltung ist in der klassische Nationalökonomie vorwiegend einkommensmotiviert.<br />

Das Geld dient als Zahlungsmittel; die Geldnachfrage entsteht<br />

aus der Notwendigkeit, die zeitlichen Abstände zwischen den Einnahmen und<br />

den Ausgaben zu überbrücken. 53 Das Geld hat nur eine Zahlungsmittel- und keine<br />

(längerfristige) Wertaufbewahrungsfunktion:<br />

„Die Quantitätstheorie des Geldes weist eine grundsätzliche Besonderheit<br />

auf, welche unter allen Gütern nur dem Gelde innewohnt, die Tatsache,<br />

dass es keine Bedürfnisse der Menschen befriedigen kann, auβer Güter zu<br />

kaufen, welchen diese Eigenschaft innewohnt. 54<br />

Die Prämissen<br />

An und für sich bezieht sich Irving Fisher auf einen sehr engen Geldmengenbegriff:<br />

„ … two kinds of currency, viz. banknotes – which are money; and bank<br />

deposits (or rights to draw) – which are not money“. 55 Die Fishersche Verkehrsgleichung<br />

– als Inbegriff der klassischen Geldtheorie – umfasst jedoch auch das<br />

Buchgeld, wobei Fisher grundsätzlich von einer proportionalen Entwicklung des<br />

Bargeldes und des Buchgeldes ausgeht: 56<br />

( 1)<br />

G × U + G'×<br />

U'<br />

= P×<br />

H,<br />

50 Vgl. Petty, William, Qantulumcunque concerning Money, 1682.<br />

51 Vgl. Schumpeter, Joseph A., Das Wesen des Geldes, Göttingen 1970, S. 50.<br />

52 Vgl. Cantillon, Richard, Essay on the Nature of Trade. Englische Übersetzung aus dem Jahre 1931 des 1755 erstmals<br />

veröffentlichten französischen Werkes: Essai sur la nature du commerce en général. In: Dean, Edwin (Hrsg.), The Controversy<br />

over the Quantity Theory on Money. Reihe: Studies in Economics, Boston, 1965, S. 2-8. S. 4.<br />

53 Vgl. Felderer/Homburg, Makroökonomie und neue Makroökonomie, 1994, S. 80.<br />

54 Vgl. Fisher Irving, Die Kaufkraft des Geldes. Ihre Bestimmung und ihre Beziehung zu Kredit, Zins und Krisen. Berlin<br />

1916, S. 39. Vgl. auch The Purchasing Power of money, Its determination and Relation to Credit, 1911, S. 32.<br />

55 Vgl. Fisher, Irving, The Purchasing Power of Money, 1911, S. 53.<br />

56 Vgl. Fisher Irving, The Purchasing Power of money, Its determination and Relation to Credit, 1911, S. 151.<br />

35


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

wobei:<br />

G = Bargeldsumme,<br />

U = Umlaufsgeschwindigkeit des Bargeldes,<br />

G’ = Buchgeldmenge,<br />

U’ = Umlaufsgeschwindigkeit der Buchgeldmenge,<br />

P = Preisniveau,<br />

H = Handelsvolumen.<br />

Oder, in vereinfachter Form,<br />

M × v = T ×<br />

p.<br />

Die Gleichung bringt zum Ausdruck, dass die Gesamtheit aller in einer Volkswirtschaft<br />

gehandelten Güter (Transaktionsvolumen T), multipliziert mit dem<br />

Preisniveau P, der Summe aller Zahlungen für Güterkäufe bzw. der Geldmenge<br />

M, multipliziert mit der Geldumlaufsgeschwindigkeit v, entspricht. 57<br />

Kernstück dieser Gleichung bildet die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes (v).<br />

Darunter ist die Häufigkeit zu verstehen, mit der die einzelnen Geldeinheiten<br />

innerhalb einer Periode im Durchschnitt benutzt werden, um Gütertransaktionen<br />

zu finanzieren.<br />

Eine besondere Schwierigkeit besteht darin, das Transaktionsvolumen als statistische<br />

Gröβe aufgrund des verfügbaren Datenmaterials zu erfassen. So bleibt unklar,<br />

ob beispielsweise auch die Geschenke oder die Kapitaltransfers darunter<br />

fallen und wie Vermögenskäufe behandelt werden sollen. 58<br />

Eliminiert man aus dem Transaktionsvolumen all diejenigen Umsätze, die nicht<br />

Bestandteil der gesamtwirtschaftlichen Endnachfrage sind, wie z.B. die Vorleistungen<br />

und Finanztransaktionen, so geht die Verkehrsgleichung in die sog.<br />

Quantitätsgleichung über. Dabei wird das Transaktionsvolumen zur Vereinfachung<br />

durch das Volkseinkommen (Y) ersetzt, wodurch sich eine etwas abstraktere<br />

Form der Fisherschen Verkehrsgleichung ergibt:<br />

( 1)<br />

M × v = Y × p.<br />

57 Wicksell definiert „ … die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes einfach so: die Anzahl Male, welche die vorhandenen<br />

Geldstücke im Wege des Kaufs und Verkaufs (also nicht im Wege des Darlehens) während der gewählten Zeiteinheit,<br />

z.B. eines Jahres durchschnittlich die Hände wechseln“. Wicksell, Knut, Geldzins und Güterzins, Jena 1898,<br />

berichtigter Neudruck der Ausgabe Jena 1898, Aalen 1968, S. 204.<br />

58 Vgl. Friedmann, Milton, Die Quantitätstheorie. In Badura, Geldtheorie, 1979, S. 18.<br />

36


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

M × v beschreibt die Einkommenskreislaufgeschwindigkeit des Geldes und<br />

Y × P stellt eine Abbildung des nominellen Volkseinkommens dar, was sich statistisch<br />

relativ einfach erfassen lässt.<br />

Die Fischersche Verkehrsgleichung ist an und für sich eine Tautologie (Identitätsgleichung),<br />

indem diese nicht verhaltenslogisch bzw. mikroökonomisch begründet<br />

wird. Sie gilt als Inbegriff der neueren Quantitätstheorie, mit deren Hilfe<br />

vor allem das Preisniveau erklärt werden soll. Die Fishersche Verkehrsgleichung<br />

lässt sich jedoch auch zu einer Geldnachfragefunktion, der sog. klassischneoklassischen<br />

Geldnachfragefunktion, umformen.<br />

Weitere Prämissen<br />

- Das Geld dient – als Annahme – nur für Transaktionszwecke im Volkseinkommensbereich<br />

bei der Entstehung und Verwendung des Volkseinkommens,<br />

nicht jedoch für die Wertaufbewahrung. Die Geldnachfrage ist damit<br />

volkseinkommens- und nicht zinsabhängig M = M (Y ).<br />

- Es wird vorerst unterstellt, dass die Einkommenskreislaufgeschwindigkeit des<br />

Geldes v kurzfristig unveränderlich ist, da davon auszugehen ist, dass sich ihre<br />

Determinanten auf kurze Sicht nicht ändern. Wesentliche Einflussfaktoren<br />

der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes sind institutioneller Art; im Einzelnen<br />

nennt Fisher folgende Einflussgröβen: (1) Die Kassenhaltungsgewohnheiten<br />

der individuellen Wirtschaftssubjekte (die Gewohnheit zu horten, Kredite<br />

aufzunehmen und Checks zu gebrauchen), (2) die Zahlungsgewohnheiten der<br />

Gesellschaft (Frequenz der Zahlungseingänge und –ausgänge) und (3) allgemeine<br />

Umstände (Bevölkerungsdichte und Schnelligkeit des Transports von<br />

Gütern). Bei diesen Einflussfaktoren handelt es sich um Strukturparameter<br />

bzw. exogene Gröβen, welche längerfristig eine Veränderung der<br />

Umlaufsgeschwindkeit bewirken können, kurzfristig und im konjunkturellen<br />

Gleichgewicht jedoch konstant sind.<br />

- Es wird ein kurzfristig konstantes Einkommen Y (Output) angenommen.<br />

- Die Einkommenskreislaufgeschwindigkeit v und das reale Volkseinkommen<br />

bleiben von den Geldmengenänderungen völlig unberührt. Hier zeigt sich eine<br />

der grundlegenden Annahmen des klassischen Modells, die Vorstellung<br />

einer Dichotomie zwischen dem monetären und dem realen Sektor einer<br />

Volkswirtschaft, die sich gegenseitig nicht beeinflussen (Neutralität des Geldes).<br />

37


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Bei einem Ungleichgewicht von Geldangebot und Geldnachfrage wird – bei<br />

Konstanz von Y und v – das als überschüssig empfundene Geld unendlich<br />

rasch abgebaut (und umgekehrt). Unter der Annahme von Vollbeschäftigung<br />

und vollkommen flexibler Preise (und Löhne) entsteht ein Kasseneffekt, welcher<br />

zu einem proportionalen Preiseffekt führt. Es gilt das Saysche Theorem,<br />

wonach das Güterangebot über eine entsprechende Güternachfrage und flexible<br />

Preise stets und unverzüglich geräumt wird. Dies bewirkt eine unendlich<br />

schnelle Anpassung auch von Geldnachfrage und Geldangebot.<br />

- Die Geldmenge M wird von der Zentralbank bestimmt und ist exogen gegeben.<br />

Das Modell<br />

Bei der Ableitung einer Geldnachfragefunktion aus der Fisherschen Verkehrsgleichung<br />

darf nicht übersehen werden, dass diese eine Identität (Tautologie)<br />

darstellt, womit auch die Ableitung einer Geldnachfragefunktion tautologisch ist,<br />

d.h. zu keiner Verhaltensgleichung führt. Zudem ist die strikte Aussage der<br />

Fisherschen Verkehrsgleichung preistheoretischer Natur, indem der Zusammenhang<br />

zwischen Geldmengen- und Preisänderungen zur Darstellung gebracht<br />

werden soll (vgl. § 7/I.).<br />

Es lässt sich jedoch davon ausgehen, dass die Wirtschaftssubjekte Geld für<br />

Transaktionszwecke nachfragen. Die Umformung der Fischerschen Verkehrsgleichung<br />

zu einer Geldnachfrage ergibt nach dieser Fragestellung folgende Gleichung:<br />

( 2)<br />

M<br />

D<br />

=<br />

Y × P<br />

v<br />

bzw. als Geldnachfragefunktion für die reale Geldmenge:<br />

( 3)<br />

M<br />

D<br />

P<br />

=<br />

Y<br />

v<br />

wobei v als konstant angenommen wird.<br />

Wird nun – als Annahme – auch das Preisniveau konstant gesetzt, ergibt sich die<br />

Geldnachfrage als Funktion des Volkseinkommens.<br />

38


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

( 4)<br />

M = M ( Y ).<br />

D D<br />

Diese Formel führt zum Ergebnis einer einkommensabhängigen Geldnachfrage<br />

für die Transaktionskasse. Die Geldnachfrage MD wird – bei Konstanz des Preisniveaus<br />

(P) und der Umlaufsgeschwindkeit des Geldes (v) – durch das Volkseinkommen<br />

(Output bzw. Y) bestimmt. 59<br />

Mit der Annahme eines kurzfristig konstanten Volkseinkommens v und einer<br />

konstanten Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes Y wird auch von einer stabilen<br />

Geldnachfrage (als Funktion von Y/v) ausgegangen. 60<br />

e. Kritik<br />

Theoretisches Beispiel:<br />

Gegeben: Y = 100, P = 1, v = 4<br />

Gesucht: MD<br />

100×<br />

1<br />

Lösung<br />

: M<br />

D<br />

= =<br />

4<br />

25.<br />

Die Geldnachfrage wird aus einer makroökonomischen Perspektive heraus erklärt,<br />

daher bildet die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes in diesem Kontext eine<br />

rein technische, notwendige Größe, in der die Zahlungssitten einer Volkswirtschaft<br />

Eingang finden. 61<br />

Da die Verkehrsgleichung stets eine Identitätsgleichung darstellt, ist es nicht<br />

möglich, aus dieser Bezeichnung kausale Aussagen oder Prognosen abzuleiten.<br />

In dieser Form stellt sie eine Tautologie dar. Eine weniger strikte Aussage bezieht<br />

59 Nach klassischer Modellauffassung wird jedes sich ergebende Realeinkommen Yr als ein bestimmtes Vollbeschäftigungseinkommen<br />

angesehen, das sich auf dem Arbeitsmarkt bildet, und kann daher als konstant und unabhängig<br />

von den drei anderen Größen betrachtet werden.<br />

60 Eine solche Stabilität der Geldnachfrage bildet auch die Grundlage der monetaristischen Geldnachfragetheorie. Vgl.<br />

Friedman, Milton, und Schwartz, Anna, A Monetary History of the United States, 1867-1960, 1963.<br />

61 Dabei zählt Irving Fisher zu den Pionieren eines verhaltenstheoretischen Ansatzes, indem er bereits sehr früh die<br />

Zeitpräferenz und die Frage der Geldillusion analysiert. Vgl. Fisher, Irving, Mathematical investigations in the theory<br />

of value and prices. Transactions of the Connecticut Academy of Arts and Sciences, Nr. 9, New Haven CT, 1892. repr.<br />

New York, 1892.<br />

39


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

sich deshalb auf die kurzfristigen Auswirkungen einer Geldmengenerhöhung<br />

sowohl auf die Preise als auch den Output bzw. die Einkommen (vgl. § 7/I.).<br />

Die neuere Tendenz, die Quantitätstheorie des Geldes als eine allgemeine Form<br />

der Geldnachfragetheorie zu betrachten, 62 entspricht nach Niehaus nicht der Tradition<br />

klassischen Denkens. 63 Seit der monetaristischen Lehre von Milton Friedman<br />

besteht jedoch wieder die Tradition, die Fishersche Verkehrsgleichung von<br />

„links nach rechts zu lesen“. 64<br />

Empirische Beispiele für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. MD=YxP)/v Diese These ist theoretisch konsistent, lässt sich jedoch empirisch<br />

nicht bestätigen.<br />

2. Die Geldumlaufsgeschwindig- Diese These trifft nicht zu.<br />

Keit (v) ist konstant.<br />

3. Die Geldnachfrage M1 steht in Diese These lässt sich nicht signifikant bestätigen.<br />

einem Zusammenhang zum<br />

nom. Volkseinkommen (= BIP.<br />

nom.)<br />

4. Die Veränderung der Geld- Diese These trifft nicht zu (die Analysen ergeben für<br />

nachfrage steht in einem Zu- d BIP real und die Inflationsrate negative Koeffizienten).<br />

sammenhang mit der Ver-<br />

änderung des realen Volks-<br />

einkommens (d BIP real), der<br />

Veränderung des Preisni-<br />

veaus und der Umlaufsge-<br />

schwindigkeit des Geldes<br />

5.3. Die Neoklassik<br />

„Encaisse Désirée“ (Léon Walras)<br />

Die marginalistische Revolution der Neoklassik entwickelt mit dem ersten und<br />

zweiten Gossenschen Gesetz theoretische Grundlagen für die Nachfrage nach re-<br />

62 Der Ursprung dieser Überlegung liegt offenbar bei Milton Friedman (vgl. Friedman, Milton, The quantity theory of<br />

money – a restatement. In: Studies in the Quantity Theory of Money. University Chicago Press, Chicago 1956, S. 3-24).<br />

63 Vgl. Niehans, Jürg, Theorie des Geldes. Synthese der monetären Mikro- und Makroökonomik, Bern 1980, S. 16 f.<br />

(Fn. 14).<br />

64 Vgl. Robinson, Joan, Quantity Theories Old and New. In: Journal of Money, Credit and Banking, Jg. 2, 1969, S. 504-<br />

512. Wiederabgedruckt und zitiert nach: Quantitätstheorie, Alt und Neu. In: Kalmbach, Peter (Hrsg.): Der neue Monetarismus,<br />

München 1973, (S. 130-141), S. 138.<br />

40


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

alen Gütern, nicht jedoch ähnliche Ansätze für die Nachfrage nach Geld. Der<br />

Kassenhaltungsansatz von Léon Walras (1834-1910) schlieβt in gewisser Weise<br />

diese Lücke.<br />

Geld hat bei Walras andere Eigenschaften als die üblichen realen Güter; vielmehr<br />

erbringt das Geld eine „Dienstleistung“, indem es der zeitlichen Überbrückung<br />

zwischen der Entstehung von Kaufkraft und der Güternachfrage dient 65 und zudem<br />

zu einer Senkung der Transaktionskosten führt, indem der Naturaltausch<br />

überwunden wird. Mit diesen Überlegungen gelangt Walras zur Wertspeicherfunktion<br />

als einer Dienstleistungsfunktion des Geldes. Bei Fortsetzung dieser<br />

Überlegungen wird die Kasse ähnlich einem Konsumgut, indem dieses einen<br />

Konsum in der Zukunft ermöglicht. Im Produktionsbereich dient das Geld den<br />

Unternehmen dazu, nicht synchronisierte Zahlungsein- und –ausgänge zu überbrücken,<br />

wobei gegenüber einem Naturaltausch ebenfalls die Transaktionskosten<br />

gesenkt werden können.<br />

Die gewünschte Kasse („encaisse désirée“) ist so groβ, bis der Grenznutzen der<br />

Wertspeicherfunktion den marginalen Kosten der Kassenhaltung (im Wesentlichen<br />

die Opportunitätskosten der Kassenhaltung in Form von Zinsverlusten gegenüber<br />

einer Anlage in Kapital) dem marginale Grenzstromnutzen der Kassenhaltung<br />

entsprechen.<br />

Bei Annahme gegebener Preise lässt sich der Grenznutzen des Geldes durch eine<br />

fallende Kurve darstellen. Danach sinkt der marginale Vorteil der fortgesetzten<br />

Zunahme der Kassenhaltung und erreicht schlieβlich, wenn das Individuum mit<br />

Kassenmitteln gesättigt ist, einen Wert von null. Im Gleichgewicht, der optimalen<br />

Kassenhaltung, sind die Grenzkosten der Kassenhaltung (beispielsweise durch<br />

entgangene Zinsen) identisch mit dem Grenznutzen der Kassenhaltung, welche<br />

sich mit der Zeitpräferenzrate θ ausdrücken lässt.<br />

65 Walras, Léon, Elements of Pure Economics, 1874, S. 267 und insbesondere die Überarbeitungen in der 4. Auflage,<br />

1900, S. 297 ff.<br />

41


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Kritik:<br />

Grenznutzen der Kassenhaltung<br />

(N’)<br />

- Mit diesem Ansatz wird noch nicht klar, warum die Individuen gerade Kasse<br />

und nicht ein anderes Transaktionsmittel halten.<br />

- Wäre der Zeitpunkt der Ein- und Auszahlungen exakt bestimmt, so könnte die<br />

verfügbare Kaufkraft besser verwendet werden, indem diese nicht als Kasse gehalten<br />

würde, sondern beispielsweise als terminlich fixiertes Darlehen mit Zinserträgen<br />

vergeben würde.<br />

- Das Kassenhaltungskonzept von Walras ist mit seinen Vorstellungen vom Geld<br />

als einem Schleier unvereinbar.<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These:<br />

N’<br />

0 m* m<br />

Eine höhere Güternachfrage (d BIP real) - Diese These trifft für d M1 zu, nicht<br />

führt (vorübergehend) zu einer Dämpfung jedoch für d M2 und d M3.<br />

des Geldmengenwachstums (als Kasseneffekt),<br />

und später wieder umgekehrt.<br />

θ<br />

42


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

5.3.1. Die Cambridge-Gleichung<br />

Ein gegenüber der Quantitätstheorie und der Kassenhaltungstheorie von Walras<br />

modifizierter Ansatz wird von der Cambridge Schule des Geldes entwickelt. Die<br />

Arbeiten der Cambridge-Schule gehen zum groβen Teil auf Alfred Marshall<br />

(1842-1924) 66 und seinen Schüler sowie Lehrstuhlnachfolger Arthur C. Pigou<br />

(1877-1959) 67 zurück.<br />

Die heutige lehrbuchmäβige Darstellung der Cambridge-Gleichung von Marshall<br />

und Pigou entspricht – bei einer formalen Betrachtung – im Wesentlichen der<br />

Fisherschen Verkehrsgleichung. Dabei wird die Einkommenskreislaufgeschwin-<br />

digkeit des Geldes durch den inversen Kassenhaltungskoeffizienten<br />

k<br />

v<br />

1<br />

= (das<br />

sog. Cambridge k) ersetzt wird. Es wird nicht mehr nach der Umlaufsgeschwindigkeit<br />

des Geldes, sondern der proportionalen Kassenhaltung in Relation zum<br />

Volkseinkommen (Output) gefragt.<br />

Prämissen<br />

- Indem der Kauf und Verkauf von realen Gütern oft zeitversetzt stattfindet,<br />

müssen die Handelspartner über ein Gut – das Geld – verfügen, welches ihnen<br />

zumindest temporär als Speicher von Vermögen dient (dies wird auch von Irving<br />

Fisher angedeutet). Zudem kann mit dem Vermögen auch zukünftigen Unsicherheiten<br />

über Zahlungseingänge und –ausgänge besser begegnet werden. 68<br />

- Die Prämissen entsprechen jenen der Fischerschen Verkehrsgleichung (Quantitätstheorie).<br />

Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes (v) wird durch den rezipro-<br />

1<br />

ken Wert ersetzt, woraus sich der sog. Kassenhaltungskoeffizienten (k) ergibt.<br />

v<br />

Dieser gibt an, welcher Teil des Volkseinkommens als Transaktionskasse gehalten<br />

wird.<br />

- Als entscheidende Faktoren für das Ausmaβ der Kassenhaltung spielen neben<br />

dem Volkseinkommen (Output) und der Höhe des Vermögens auch die Präferenzen,<br />

die Opportunitätskosten (in der Form entgangener Zinsen) und die erwartete<br />

Preisentwicklung eine Rolle. Diese Determinanten gehen jedoch nur in vereinfachender<br />

Weise in die Funktion mit ein, indem Pigou kurzfristig die Annahme<br />

trifft, dass diese Einflussgröβen entweder kurzfristig konstant sind oder in einem<br />

66 Vgl. Marshall, Alfred, Money, Credit and Commerce, London, 1929, S. 41 ff.<br />

67 Vgl. Pigou, A.C. 1917, The Value of Money. In: Quarterly Journal of Economics 32, November 1917.<br />

68 Vgl. Pigou, A.C. 1917, The Value of Money. In: Quarterly Journal of Economics 32, November 1917. Vgl. auch Hicks,<br />

John R., A Suggestion for Simplifying the Theory of Money. In: Econometrica, Vol. 2, 1935, S. 186-195.<br />

43


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

gewissen Verhältnis zum Volkseinkommen stehen. 69 Daraus folgt, dass das<br />

Volkseinkommen letztlich der entscheidende Faktor für die Bestimmung der<br />

Geldnachfrage ist und ein proportionaler Zusammenhang besteht.<br />

Das Modell<br />

Die Cambridge Gleichung lässt sich zu einer neoklassischen Geldnachfragefunktion<br />

umformen. Aus<br />

1<br />

M × v = Y × P wird M = Y × P×<br />

bzw.<br />

v<br />

( 5)<br />

M = Y × P × k.<br />

Der Kassenbestand bzw. die Geldnachfrage wird damit – bei einer von der Zentralbank<br />

exogen vorgegebenen Geldmenge - durch die Kassenhaltungsgewohnheiten<br />

(k) und das nominelle Volkseinkommen ( Y × P)<br />

bestimmt. Sowohl eine<br />

Veränderung der Kassenhaltungsgewohnheiten (k) als auch des nominellen<br />

Volkseinkommens (Y) und des Preisniveaus (P) führen zu einer veränderten<br />

Geldnachfrage.<br />

Die Relation zwischen dem Volkseinkommen und der Kassenhaltung wird durch<br />

den Kassenhaltungskoeffizienten ausgedrückt. Dahinter steckt die Aussage, dass<br />

die Kassenhaltung in einem bestimmten Verhältnis zum Volkseinkommen Y<br />

steht. Die Geldnachfrage wird vom Volkseinkommen (Output) bestimmt, der<br />

Kassenhaltungskoeffizient von weiteren Faktoren wie u.a. dem Vermögen, den<br />

Zinsen und den wirtschaftlichen Erwartungen.<br />

Aus der Cambridge-Gleichung lässt sich auch eine Nachfragefunktion nach realer<br />

Kasse ableiten:<br />

M<br />

( 6)<br />

D =<br />

Y × k.<br />

P<br />

69 Vgl. Duwendag, S. 88; vgl. Siebke, 1987, S. 47.<br />

44


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Ergebnis<br />

Diese Geldnachfragefunktion ist zwar nicht besonders typisch für die eher vorwiegend<br />

preistheoretisch orientierte konzipierte Cambridge-Gleichung, welche<br />

eher der Ableitung des Preisniveaus dient, wird aber vor allem von Friedman in<br />

erster Linie als Geldnachfragefunktion betrachtet. 70 Beim Cambridge-k handelt<br />

es sich um den präferierten Kassenhaltungskoeffizienten und M stellt die präferierte<br />

Geldmenge dar.<br />

Im Unterschied zur Fisherschen Verkehrsgleichung, welche den Zusammenhang<br />

zwischen den Transaktionen und der Geldnachfrage zu Transaktionszwecken<br />

bringt, zeigt die aus der Cambridge-Gleichung abgeleitete Geldnachfragefunktion<br />

nach Auffassung von Friedman den Zusammenhang zwischen dem Volkseinkommen<br />

Y und der Geldnachfrage als Summe der temporär gespeicherte Kaufkraft<br />

(einschlieβlich der Termingelder). 71 Dabei umfasst das k alle Einflussfaktoren,<br />

welche – auβer dem Volkseinkommen – auf die Geldnachfrage einwirken.<br />

Theoretisches Beispiel:<br />

Die Erweiterung der Aussagen der Cambridge-Gleichung durch einen nichtkonstanten<br />

Kassenhaltungskoeffizient<br />

Nur wenn die Preise als gegebenen und der Kassenhaltungskoeffizient als konstant<br />

angenommen würden, ergäbe sich die Geldnachfrage wiederum als Funktion<br />

des Volkseinkommens (Output). Die Annahme eines konstanten Kassenhaltungskoeffizienten<br />

ist eine in den Lehrbüchern oft vertretene Auffassung und<br />

führt bei der Cambridge-Gleichung zu demselben Ergebnis wie bei der<br />

Fisherschen Verkehrsgleichung. Werden nun die Aussagen der Cambridge-<br />

Gleichung erweitert, indem ein nicht konstanter Kassenhaltungskoeffizient eingeführt<br />

wird, kommt es zu veränderten Ergebnissen. Besonders wenn die Kasse<br />

auch Wertaufbewahrungsfunktion hat, lautet die Fragestellung nun nicht mehr,<br />

70 Vgl. Friedman, Milton, A Theoretical Framework for Monetary Analysis. In: Journal of Political Economy, Vol. 78/1,<br />

1970, S. 200.<br />

71 Vgl. Friedman, Milton, A Theoretical Framework for Monetary Analysis. In: Journal of Political Economy, Vol. 78/1,<br />

1970, S. 201.<br />

Gegeben: Y = 100, p = 1, k = 1/4<br />

Gesucht: MD<br />

M<br />

100 1<br />

Lösung<br />

:<br />

D<br />

= × =<br />

P 1 4<br />

25.<br />

45


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

wie viel Geld ein Wirtschaftssubjekt als Transaktionsmittel halten muss, sondern<br />

wie viel es zu halten wünscht.<br />

Der Cambridge Cash-Balance Approach<br />

Formalanalytisch betrachtet sind die aus der Fisherschen Verkehrsgleichung und<br />

der Cambridge-Gleichung abgeleiteten Geldnachfragefunktionen zwar identisch,<br />

die beiden Ansätze gehen jedoch von zwei verschiedenen Betrachtungsweisen<br />

aus. Während bei der Fischerschen Verkehrsgleichung meist ein fester Koeffizient<br />

für die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes unterstellt wird, betrachtet der<br />

Cambridge Cash Balance Approach das Cambridge k als variabel und fundiert<br />

diesen Ansatz mikroökonomisch. 72 Die grundlegende Frage bei der Cambridge<br />

Gleichung ist nicht, wie viel Geld ein Wirtschaftssubjekt aus institutionellen und<br />

technischen Gegebenheiten halten muss, sondern wie viel es an Kasse zu halten<br />

wünscht. 73 Es wird soviel Geld nachgefragt, bis die Grenzkosten dem Grenznutzen<br />

der letzten, als Kasse gehaltenen Geldeinheit entsprechen, was das Wesen<br />

des zweiten Gossenschen Gesetzes widerspiegelt. Diese Überlegungen führen zu<br />

einer Kassenhaltungstheorie, dem Cambridge Cash Balance Approach, welcher<br />

die Geldnachfrage verhaltenslogisch erklären möchte.<br />

Der Unterschied ist damit mehr als lediglich eine mathematische Umformung der<br />

Fisherschen Verkehrsgleichung, indem die Kassenhaltung verhaltenstheoretisch<br />

erklärt wird. 74 Nachdem das Geld aus der Sicht der Cambridge Schule nicht nur<br />

aus dem Transaktionsmotiv, sondern auch aus dem Vermögensmotiv heraus gehalten<br />

wird, ergibt sich ein Wandel in der geldnachfragetheoretischen Betrachtung.<br />

Marshall und Pigou haben den Wahlhandlungscharakter der Geldnachfrage,<br />

symbolisiert durch das Cambridge k, ausdrücklich betont und verschiedene<br />

Bestimmungsgründe dazu untersucht: 75<br />

- Die Kassenhaltung bzw. die Geldnachfrage werden – bei einer durch die Zentralbank<br />

exogen vorgegebenen Geldmenge – unter anderem die Kassenhaltungspräferenzen<br />

(k) beeinflusst.<br />

- Nach Auffassung der Cambridge Schule entfaltet das Geld einen Nutzen, welcher<br />

über den reinen und unmittelbaren Transaktionsnutzen hinausgeht, indem<br />

das Geld nicht nur als dem Transaktionsmotiv, sondern auch aus dem Vermögensmotiv<br />

gehalten wird. Im Gegensatz zur Auffassung von Fisher hat das Geld<br />

72 Zur Cambridge Schule zählen Arthur C. Pigou (1917), Alfred Marshall (1923) und D. H. Robertson (1922) und<br />

John Maynard Keynes (1923), <strong>Ralph</strong> G. Hawtrey und Frederick Lavington (1921, 1922).<br />

73 Vgl. Bechler E. a.a.O., S. 112.<br />

74 Vgl. zum Unterschied vgl. auch Felkel, S. 130, sowie Felderer/Homburg, Makroökonomik, 1994, S. 80 ff.<br />

75 Vgl. Pigou A.C., The Value of Money. In: Quarterly Journal of Economics, Vol. 32 (1917/18) und Marshall A. Credit<br />

and Commerce, 1923.<br />

46


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

nicht nur einen Transaktionsnutzen, sondern auch einen Nutzen als Vermögensgut.<br />

- Die von den Klassikern unterstellte Konstanz von v ist weitgehend auf andere<br />

Gründe zurückzuführen als die oft unterstellte Unveränderlichkeit des Cambridge<br />

k, welches als das Ergebnis vielfältiger Kassenhaltungsmotive anzusehen ist.<br />

Das k hängt unter anderem von der von Einflussfaktoren wie der Liquiditätspräferenz,<br />

dem Zinsniveau (Opportunitätskosten der Geldhaltung) und der Vermögenssituation<br />

der Wirtschaftssubjekte ab. Zudem wird in die Überlegung eingebracht,<br />

dass die Geldnachfrage auch von der Zinsentwicklung und Zukunftserwartungen<br />

beeinflusst wird.<br />

Diese Überlegungen führen zur Kassenhaltungstheorie bzw. zum Cambridge<br />

Cash Balance Ansatz. Bereits Wicksell stellt die Nichtkonstanz der Umlaufsgeschwindigkeit<br />

des Geldes fest; diese ist eine Größe, welche „in Wirklichkeit teils<br />

rein automatisch sich ausdehnt und zusammenzieht, teils und vor allem in Folge<br />

wirtschaftlicher Fortschritte fast jeder beliebigen Erweiterung fähig ist, so wie sie<br />

in theoretischer Hinsicht sogar eine rein unbegrenzte Elastizität besitzt“. 76<br />

76 Wicksell, Knut, Geldzins, 1898, S. 37.<br />

47


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Beispiele für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These:<br />

1. Der Kassenhaltungskoeffizient - Diese These trifft zu.<br />

ist nicht konstant - Tendenziell nimmt der Kassenhaltungskoeffizient im<br />

Verlaufe der Zeit (1999-2012) zu.<br />

Einflussfaktoren, welche zu einem erhöhten Kassenhaltungskoeffizienten (+) oder einem geringeren Kassenhaltungskoeffizienten<br />

(-) hinsichtlich des Volkseinkommens Y (Output) führen. Der „Kassenhaltungskoeffizient“<br />

bezieht sich auf die Nachfrage nach Geld (M1-M3).*<br />

Diese Überlegungen führen zur Kassenhaltungstheorie bzw. zum Cambridge<br />

Cash Balance Ansatz. Auch Wicksell stellt die Nichtkonstanz der Umlaufsgeschwindigkeit<br />

des Geldes fest; diese ist eine Größe, welche<br />

„in Wirklichkeit teils rein automatisch sich ausdehnt und zusammenzieht,<br />

teils und vor allem in Folge wirtschaftlicher Fortschritte fast jeder beliebigen<br />

Erweiterung fähig ist, so wie sie in theoretischer Hinsicht sogar eine<br />

rein unbegrenzte Elastizität besitzt“. 77<br />

77 Wicksell, Knut, Geldzins, 1898, S. 37.<br />

v (M1) v (M2) v (M3)<br />

d BIP nom (Wachstumsrate) + (-2) + (2) + (4)<br />

d BIP real + . .<br />

Inflationsrate + (2) . .<br />

d EUR-USD . - (1) .<br />

d Arbeitslose - (2) M . .<br />

d Löhne + (1) . .<br />

d M1 - M . .<br />

d M2 . - - M<br />

d M3 . - M -<br />

d Aktienindex + (-3) . .<br />

d Kredite MFI + . .<br />

Geldmarktzinsen (Mind.bietsatz) + . .<br />

Kapitalmarktzinsen (Zins 2 Jahr) + . .<br />

d Mind.res. . . .<br />

d Liq.zuf. EZB - (1) . .<br />

Signifikante Störterms (exoge-<br />

ne Schocks) . . .<br />

r2 korr. 0,99 0,99 0,99<br />

Schwarz citerion - 3,48 - 5,83 -6,14<br />

* Nicht signifikante Ergebnisse sind mit „.“ markiert.<br />

M In der Referenzperiode stärkste Einflussfaktoren (bei einer multiplen Korrelationsanalyse).<br />

48


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

5.3.2. Das Sägezahnmodell<br />

Zu den Geldnachfragemodellen zählt das sog. Sägezahnmodell. Dieses wurde<br />

von William J. Baumol und James Tobin entwickelt und galt während langer Zeit<br />

als Inbegriff eines repräsentativen Geldnachfragemodells. 78<br />

Die <strong>Dr</strong>eiteilung der Kassenhaltung bleibt im Postkeynesianismus erhalten. In<br />

den bisher vorgestellten Ansätzen hängt die Geldnachfrage zu Transaktionszwecken<br />

vom Einkommen und den Zahlungssitten ab. James Tobin und William J.<br />

Baumol weisen jedoch darauf hin, dass auch die Nachfrage nach Transaktionskasse<br />

zinsbedingt ist. Zudem werden durch die Entwicklung der Finanzmärkte<br />

immer mehr geldnahe Typen von Finanzaktiven geschaffen werden, die einen<br />

Zins erbringen und risikoarm sind. Es ist daher ökonomisch sinnvoll, zumindest<br />

einen Teil der Transaktionskasse zinsbringend anzulegen.<br />

Bereits Léon Walras geht davon aus, dass die Geldnachfrage nach ähnlichen Gesetzmäßigkeiten<br />

wie die Lagerhaltung von Gütern zustande kommt. 79 Es wird<br />

soviel Geld nachgefragt, bis die Grenzkosten dem Grenznutzen der letzten, als<br />

Kasse gehaltenen Geldeinheit entsprechen, was das Wesen des zweiten<br />

Gossenschen Gesetzes widerspiegelt. Das „Sägezahmodell“ entstand auf der<br />

Grundlage dieser Lagerhaltungstheorie und ist mikroökonomisch fundiert. Analog<br />

zur betriebswirtschaftlichen Lagerhaltungstheorie versucht dieses Modell<br />

den optimalen Kassenbestand zu ermitteln. Das Sägezahnmodell zeichnet sich<br />

dadurch aus, dass es einerseits die Abwicklung der laufenden Transaktionen sicherstellt<br />

und andererseits die Opportunitätskosten (durch den Verlust von Zinseinnahmen)<br />

minimiert.<br />

Die Prämissen<br />

Es wird vereinfachend angenommen, dass ein Wirtschaftssubjekt einmal pro Periode<br />

eine Einkommenszahlung in Höhe von T in Form von geldnahen Finanzaktiven<br />

erhält und die Ausgaben C kontinuierlich erfolgen, was Umwandlungskosten<br />

von b entstehen lässt (durch Transaktionskosten). Die Entscheidung, ob temporär<br />

nicht benötigtes Geld aus der Transaktionskasse zinsbringend angelegt<br />

wird, treffen die Wirtschaftssubjekte durch einen Vergleich des Zinsertrages i<br />

mit den Umwandlungskosten b. Umgekehrt erhalten die Unternehmen kontinuierliche<br />

Einnahmen und transferieren einmal pro Periode eine Zahlung von T in<br />

78 Vgl. Baumol W.J., The Transactions Demand for Cash: An Inventory Theoretical Approach. In: Quarterly Journal of<br />

Economics, Vol. 66, 1952, S. 545-556.<br />

79 Die Lagerhaltungstheorie von Walras bildet die Grundlage des sog. „Sägezahnmodells“, der Geldnachfrage nach<br />

W. Baumol.<br />

49


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

geldnahe Finanzaktiven. Die Entscheidung bezieht sich auf die Frage, bei welcher<br />

Höhe die Kasse in geldnahe Finanzaktiven umgewandelt wird.<br />

Die nachfolgenden Ausführungen beziehen sich auf die Haushalte, lassen sich<br />

jedoch sinngemäß auch auf die Unternehmen anwenden.<br />

Das Modell (einfache Version)<br />

Prämissen<br />

Die Transaktionskasse dient den laufenden Ausgaben der Haushalte und der Unternehmen.<br />

Beim Umwandeln von Transaktionskasse in Finanzanlagen entstehen<br />

auf der einen Seite Fixkosten, auf der anderen Seite sind die Finanzanlagen im<br />

Gegensatz zur Transaktionskasse verzinslich.<br />

Das Modell<br />

Die Formel zeigt die „optimalen Schaltpunkte“ der Umwandlung von Transaktionskasse<br />

in Finanzanlagen.<br />

( 16)<br />

Ausgaben<br />

und Einnahmen<br />

K<br />

=<br />

b×<br />

A<br />

.<br />

2r<br />

Einnahmen<br />

Ausgaben<br />

Durchschnittlich gehaltene<br />

Kasse<br />

Zeit<br />

50


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

wobei:<br />

K = optimale Höhe der im Periodendurchschnitt gehaltenen<br />

Transaktionskasse<br />

b = Fixkosten bei der Umwandlung von Transaktionskasse in<br />

Finanzanlagen (und umgekehrt)<br />

r = Zinsrate<br />

A = kumulierte Auszahlungen für Güterkäufe im Planungszeitraum.<br />

Ergebnis (Beispiel für ein Unternehmen)<br />

Die kumulierten Auszahlungen eines Unternehmens im Planungszeitraum eines<br />

Jahres betragen € 1.000.000.-. Die Fixkosten bei der Umwandlung von Transaktionskasse<br />

in Finanzanlagen liegen bei € 100.-, die Zinsrate der Finanzanlagen beträgt<br />

2 Prozent. Die optimale Höhe der im Periodendurchschnitt gehaltenen<br />

Transaktionskasse lässt sich wie folgt errechnen:<br />

K<br />

=<br />

5.4. Die keynesianische Geldnachfragetheorie<br />

5.4.1. Das ISLM-Modell<br />

100×<br />

1.<br />

000.<br />

000<br />

=<br />

2×<br />

0,<br />

02<br />

50.<br />

000.<br />

Die Liquiditätspräferenztheorie von John M. Keynes stellt eine Weiterentwicklung<br />

des Kassenhaltungsansatzes der Cambridge-Schule dar. Seine Geldnachfragetheorie<br />

ist unter anderem als Kritik an der klassischen und neoklassischen<br />

quantitätstheoretischen Geldlehre zu verstehen. So lehnt Keynes die Quantitätstheorie<br />

zwar nicht ab, geht davon aus, dass v bzw. k instabile Gröβen sind. 80<br />

Die Geldnachfragetheorie von Keynes steht in der Tradition der Banking Theorie.<br />

Sie geht vom Vermögenscharakter des Geldes aus, wobei Keynes erste Ansätze<br />

einer Portefeuilletheorie entwirft. Das Geld steht in einem Substitutionsverhältnis<br />

zu anderen Finanzaktiven (Sichteinlagen und Consols 81); die Geldnachfrage<br />

ist zinselastisch.<br />

80 Vgl. dazu: Friedman, Milton, Die Gegenrevolution in der Geldtheorie. In: Der neue Monetarismus, München 1973.<br />

81 Als Annahme handelt es sich um Consols (Anleihen mit ewiger Laufzeit und konstanten, nominal festgelegten Einkommensströmen).<br />

Dies hat der Vorteil, dass die nominellen Zinsen der effektiven Rendite entsprechen, indem keine<br />

Kursgewinne oder –verlust auf Verfall (Rückzahlung zu 100 Prozents) kalkuliert werden müssen.<br />

51


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

J. R. Hicks hat die geldtheoretischen Ansätze von Keynes 1937 zum ISLM-<br />

Modell weiterentwickelt. 82 Hicks geht in seiner Liquiditätstheorie davon aus,<br />

dass das Geld einen bestimmten Grenznutzen hat, wobei das Geld, abgesehen<br />

von inflatorischen Wertveränderungen, ein risikofreies Aktivum darstellt:<br />

„Individuen wählen Geld anstelle anderer Dinge, weshalb Geld einen marginalen<br />

Grenznutzen haben muss“. 83<br />

Im ISLM-Modell widerspiegelt der LM-Teil das Gleichgewicht des Geldmarktes.<br />

L bedeutet die Geldnachfrage (Liquiditätspräferenz), M die exogen gegebene<br />

Geldmenge. Der IS-Part steht nach keynesianischer Interpretation für den Gütermarktgleichgewicht<br />

(I= Injektionen und S=Sickerverluste bei der effektiven<br />

Nachfrage); nach klassisch-neoklassischer Auffassung enthält IS den Kapitalmarkt<br />

(I=Investitionen, S=Sparen).<br />

Das ISLM-Modell ist ursprünglich ein keynesianisches Modell zur Bestimmung<br />

des simultanen Gleichgewichts des Güter- und Geldmarkts, nach der hier betrachteten<br />

klassisch-neoklassichen Interpretation die Darstellung des simultanen<br />

Gleichgewichts des Geld- und Kapitalmarktes.<br />

Prämissen<br />

- Die LM-Kurve<br />

Die keynesianische Geldnachfragetheorie geht von drei Kassen aus, der Nachfrage<br />

nach Transaktionskasse, nach Vorsichtskasse und nach Spekulationskasse. 84<br />

Die einkommensabhängige Transaktionskasse LT dient der Durchführung der<br />

laufenden Transaktionen; die Geldnachfrage entsteht durch das Auseinanderfallen,<br />

d.h. die fehlende Synchronisierung von Einzahlungs- und Auszahlungsströmen.<br />

Maβgeblich für die Geldnachfrage zu Transaktionszwecken sind das Einkommen<br />

Y sowie die Länge des Intervalls zwischen den Einnahmen und den<br />

Ausgaben. Es wird von sicheren Erwartungen über den Zeitpunkt der Ein- und<br />

Auszahlungen ausgegangen:<br />

( 7)<br />

L<br />

T<br />

+<br />

= L ( Y),<br />

T<br />

82 Vgl. Hicks, John R., Mr. Keynes and the ‘Classics’: A Suggested Interpretation. In: Econometrica 5, 1937, S. 147-159.<br />

Reprinted in: Hicks, John R., Critical Essays in Monetary Theory.<br />

83 Hicks, John R., A Suggestion of Simplifying the Theory of Money. In: Economica 2, S. 1-19. Wiederabgedruckt in:<br />

Readings in Monetary Theory, hrsg. Von F. A. Lutz und L. W. Mints, 2. Aufl., London 1956, (S. 13-32), S. 15.<br />

84 Vgl. Keynes, John M., The General Theory of Employment, Interest and Money, 1936. Hrsg. Von Macmillan and Co.,<br />

London/Melbourne/Toronto 1967, S. 195 ff.<br />

52


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Vorsichtskasse LV erfolgt aus dem Bedürfnis, über eine Liquiditätsreserve<br />

zu verfügen. 85 Die Vorsichtskasse schützt das Wirtschaftssubjekt vor Insolvenz,<br />

zumal die Höhe und der Zeitpunkt einzelner Ein- und Auszahlungen nicht mit<br />

Sicherheit vorausgesagt werden kann. Zudem gibt es unvorhergesehene Gelegenheiten<br />

für vorteilhafte Käufe.<br />

Die Vorsichtskasse ist einkommens- und zinsabhängig 86<br />

( 8)<br />

L<br />

V<br />

+ −<br />

= L ( Y , i )<br />

V<br />

und optimal, wenn die Grenzkosten der Vorsichtskasse (aus entgangenen Zinsen)<br />

gleich den Grenzerträgen (aus verhinderter Illiquidität) sind. 87<br />

Die Spekulationskasse LS ist eine Form der Vermögensanlage. 88 Diese soll dazu<br />

dienen, um günstige Marktbedingungen zur Erzielung von Gewinnen nutzen zu<br />

können, so beispielsweise um in Phasen mit Zinssenkungen längerfristige Anleihen<br />

zu kaufen, um Kapitalgewinne zu erzielen:<br />

( 9)<br />

L<br />

S<br />

−<br />

= L ( i ).<br />

S<br />

Jedes Wirtschaftssubjekt hat eine individuelle Vorstellung über den „normalen“<br />

Zinssatz. Liegt der Zinssatz i unter diesem Zinssatz, wird es keine Anleihen kaufen,<br />

sondern den gesamten Betrag in der Spekulationskasse halten. Das einzelne<br />

Individuum trifft eine „Alles oder Nichts-Entscheidung“.<br />

85 Vgl. Keynes, John M., General Theory, S. 196 f.<br />

86 Die Zinsabhängigkeit ergibt sich aus den Opportunitätskosten der Vorsichtskasse, welche anfallen, indem die Vorsichtskasse<br />

liquide gehalten wird, und auf eine Anlage in länger laufende Finanzaktiven verzichtet wird.<br />

87 Vgl. Baumol, William J., The Transactions demand for Cash: An Inventory Theoretic Approach. In: The Quarterly<br />

Journal of Economics, Vol. 66, 1952, S. 545.<br />

88 Vgl. Keynes, John M., General Theory, S. 199.<br />

53


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die individuelle Nachfrage nach Spekulationskasse<br />

Nun haben die einzelnen Individuen unterschiedliche Auffassungen zur Höhe<br />

des kritischen Zinssatzes. Daraus ergibt sich gesamtwirtschaftlich ein diskreter<br />

Verlauf der Nachfrage nach Spekulationskasse. Niedrigere Zinsen bewirken eine<br />

höhere Nachfrage nach Spekulationskasse als höhere Zinsen.<br />

Zins<br />

Zins<br />

kritischer<br />

Zins<br />

Die gesamte Nachfrage nach Spekulationskasse<br />

0<br />

0 Nachfrage nach Spekulationskasse<br />

Nachfrage nach Spekulationskasse<br />

54


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Insgesamt ergibt sich folgende Geldnachfragefunktion LD (Nachfrage nach<br />

Transaktions-, Vorsichts- und Spekulationskasse):<br />

( 10)<br />

L<br />

D<br />

+ −<br />

= L ( Y,<br />

i ).<br />

D<br />

Es werden die einzelnen „Kassen“ in einer einzigen Liquiditätsposition gehalten;<br />

diese lassen sich nicht in „wasserdichte Abteilungen“ unterteilen. 89 Zur Vereinfachung<br />

wird die Vorsichtskasse nicht mehr weiter betrachtet, zumal diese – wie<br />

die Transaktions- und die Spekulationskasse – einkommens- und zinsabhängig<br />

ist.<br />

Eine weitere Prämisse ist die exogen gegebene Geldmenge, wobei das Geldangebot<br />

absolut zinsunelastisch ist:<br />

( 11)<br />

M = M .<br />

S exogen<br />

Im Gleichgewicht des Geldmarktes besteht eine Übereinstimmung von Geldnachfrage<br />

und Geldangebot:<br />

( 12)<br />

L ( Y,<br />

i)<br />

= M<br />

D S<br />

.<br />

In einer veränderten Leseart – bei Berücksichtigung des Preisniveaus (P) – gilt<br />

auch:<br />

L ( Y,<br />

i)<br />

=<br />

D<br />

M<br />

P<br />

.<br />

Aus den vorangehenden Ausführungen ergibt sich die folgende graphische Darstellung<br />

für die Geldnachfrage und das Geldangebot.<br />

89 „Money is not earmarked“; vgl. Keynes, John M., General Theory, 1936, S. 195.<br />

55


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geldnachfrage und Geldangebot<br />

ns<br />

Zins MS<br />

der horizontalen Differenz (Strecke) zwischen LT und LD.<br />

i1<br />

0 LT Geldangebot/Geldnachfrage<br />

Die Geldnachfrage LD trifft auf das Geldangebot MS. Es kommt zu einem<br />

Gleichgewichtszins i1. Der Geldmarkt ist geräumt, es existieren keine Angebotsüberschüsse<br />

oder Nachfragelücken. LT stellt die einkommensabhängige Transaktionskasse<br />

dar, welche unabhängig vom Zins gehalten wird. Der horizontale Abstand<br />

zwischen der LD- und der LT-Kasse gibt die eigentliche Liquiditätspräferenz<br />

wieder, ist zinsabhängig und wird als Spekulationskasse gehalten.<br />

Steigt das Volkseinkommen, erhöht sich die Geldnachfrage (bei konstantem<br />

Geldangebot und einer unveränderten Liquiditätspräferenz). Die LD-Kurve verschiebt<br />

sich von LD,1 zu LD,2 und LD,3. Der Zins steigt von i1 zu i2 sowie i3. Die<br />

Nachfrage nach Transaktionskasse erhöht sich zu Lasten der Spekulationskasse.<br />

Nach der Liquiditätspräferenztheorie ergibt sich das Geldmarktgleichgewicht<br />

durch eine Übereinstimmung von Geldnachfrage (LD,1-3) und Geldangebot (MS).<br />

Je höher das Volkseinkommen ist, desto größer ist die Geldnachfrage für die<br />

Transaktionskasse (LD,T1-3) und desto höher der Zins (i1-3). Auf diese Weise flieβt<br />

Geld aus der Spekulationskasse in die Transaktionskasse; steigt die Geldnachfrage,<br />

muss die Spekulationskasse c.p. geringer werden. 90<br />

90 In der keynesianischen Liquiditätspräferenztheorie treffen die Wirtschaftssubjekte – unter der Annahme völliger<br />

Gewissheit über die Zinssätze und Kurse der Wertpapiere – eine Entscheidung in Bezug auf ihre Spekulationskasse.<br />

Die negativ ansteigende Präferenzfunktion kann nur auf makroökonomischer Ebene durch die divergierenden Zinserwartungen<br />

erklärt werden, nicht aber für die Geldnachfrage eines einzelnen Individuums, welches eine „Alles-odernichts-Entscheidung“<br />

trifft.<br />

LD<br />

56


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Diesen Vorgang kann man in der nachfolgenden Abbildung beobachten. Durch<br />

das steigende Volkseinkommen erhöht sich entsprechend die Nachfrage nach<br />

Transaktionskasse und der Zins.<br />

Zins<br />

i3<br />

i2<br />

i1<br />

i3<br />

i2<br />

i1<br />

Führt man diese Überlegung weiter, so erhält man für jeden Y-Wert jeweils einen<br />

Zins (i1-3), bei dem die Geldnachfrage und das Geldangebot übereinstimmen.<br />

Überträgt man diese Werte in ein Koordinatensystem, so ergibt sich die LM-<br />

Kurve in der nachfolgenden Abbildung mit sämtlichen Kombinationen von Zins<br />

und Volkseinkommen, bei denen die Gleichgewichtsbedingungen<br />

L ( Y,<br />

i)<br />

= M erfüllt sind.<br />

D<br />

S<br />

LD,1 LD,2 LD,3 Ms<br />

0 LD,T1 LD,T2 LD,T3 Geldangebot/Geldnachfrage<br />

Die LM-Kurve ist der geometrische Ort aller Kombinationen von Y und i, bei<br />

welchen ein Gleichgewicht zwischen einer exogen gegebenen Geldmenge (M)<br />

und der Geldnachfrage (L) besteht. Wird die Vorsichtskasse vernachlässigt, ergibt<br />

sich die Geldnachfrage aus der volkseinkommensabhängigen Nachfrage nach<br />

Transaktionsmitteln (Transaktionskasse) und der zinsabhängigen Spekulationskasse.<br />

Mit höherem Volkseinkommen steigt der Bedarf an Transaktionskasse,<br />

mit tieferen Zinsen die Nachfrage nach Spekulationskasse (und umgekehrt).<br />

Die LM-Kurve ist bei sehr niedrigen Zinsen, welche im theoretischen Grenzfall<br />

null betragen können, völlig zinselastisch (sog. Liquiditätsfalle) 91. Dies lässt sich<br />

durch die geringen Opportunitätskosten erklären. Zudem erwarten die Wirt-<br />

91 Die Liquiditätsfalle wird erstmals durch John Hicks identifiziert. Vgl. Hicks, John R., Mr. Keynes and the Classics. A<br />

suggested simplification. In: Econometrica, 1937, S. 109.<br />

57


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

schaftssubjekte steigende Zinsen und verzichten bei zusätzlicher Kasse (vorerst)<br />

auf den Kauf von Wertpapieren, um keine Kursverluste erleiden zu müssen.<br />

Bei einem hohen Zins kommt es zu einer völlig zinsunelastischen Geldnachfrage<br />

(sog. klassischer Bereich), indem die gesamte Liquidität zu Transaktionszwecken<br />

gebraucht wird. Dazwischen liegt der „normale Bereich“ mit einer begrenzten<br />

Zinselastizität der Geldnachfrage.<br />

Zins<br />

Liquiditätsfalle<br />

0 Volkseinkommen<br />

Die Liquiditätsfalle widerspiegelt den keynesianischen Bereich, der zinselastische<br />

Bereich ist der „normale“ und der zinsunelastische der klassische Bereich.<br />

Der Zins verändert sich im klassischen Bereich nicht mehr, da die Spekulationskasse<br />

leer ist.<br />

Die Liquiditätsfalle stellt einen Extrembereich der Nachfrage nach Spekulationskasse<br />

bei einem sehr niedrigen Zinsniveau dar (für Keynes ist dies vor allem bei<br />

einem Unterbeschäftigungsgleichgewicht denkbar). Das Zinsniveau ist bei einer<br />

Liquiditätsfalle so tief gesunken, dass jedes Wirtschaftssubjekt eine Erhöhung<br />

des Marktzinses erwartet, und vor allem Spekulationskasse hält. Die Geldnachfrage<br />

ist hier vollkommen zinselastisch. In diesem Fall ist es unmöglich, den<br />

Marktzins mit Hilfe der Geldpolitik zu verändern, da zusätzliches Geld in die<br />

Spekulationskasse flieβt. Nach Auffassung von Keynes könnte eine absolute Liquiditätspräferenz<br />

als „Grenzfall in der Zukunft praktisch wichtig werden“, es<br />

ist ihm aber „kein bisheriges Beispiel dafür bekannt“. 92<br />

92 Vgl. Keynes J.M., Allgemeine Theorie, S. 173.<br />

LM<br />

„normaler Bereich“<br />

Klassischer Bereich<br />

58


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zins LM1 LM2<br />

Eine Expansion der Liquiditätsnachfrage bewirkt, wie in der Abbildung dargestellt,<br />

c.p. eine Rechtsverschiebung der LM-Kurve (das Geldangebot ist hier nicht<br />

eingezeichnet).<br />

- Die IS-Kurve<br />

Die IS-Kurve zeigt nach klassisch-neoklassischer Auffassung den Kapitalmarkt<br />

mit Sparen und Investieren. Die Investitionen stehen in einer inversen Beziehung<br />

zur Höhe der Zinsen. Im Gegensatz zum klassischen Modell sind die Investitionen<br />

von den in der Zukunft erwarteten Erträgen abhängig („Grenzleistungsfähigkeit<br />

des Kapitals“).<br />

( 13)<br />

Liquiditätsfalle<br />

−<br />

I = I ( i ).<br />

„normaler“<br />

Bereich<br />

0 Volkseinkommen<br />

Bei einem hohen Zins werden nur relativ wenige Investitionen durchgeführt,<br />

nachdem in diesem Fall nicht viele Investitionen rentabel erscheinen (und umgekehrt).<br />

Die Investitionen erfolgen nach Maßgabe der sog. Grenzleistungsfähigkeit des<br />

Kapitals (diskontierte Ertragserwartungen). Erzielt eine Investition eine höhere<br />

Verzinsung als eine alternative Form der Geldanlage, wird sie durchgeführt. Das<br />

Abwägen zwischen den Investitionen und einer alternativen Anlage am Kapital-<br />

59


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

markt geschieht solange, bis die letzte Investition eine etwas höhere Rendite als<br />

eine alternative Anlage bringt.<br />

Die Ersparnis wird über das Einkommen bestimmt<br />

( 14)<br />

Zins<br />

+<br />

S = S(<br />

Y ).<br />

Die nachfolgende Abbildung zeigt die I-Kurve in Abhängigkeit vom Zins und<br />

die vom Einkommen abhängigen S-Kurven (dabei gilt Y1 < Y2 < Y3. Die jeweiligen<br />

Schnittpunkte der beiden Kurven geben die Übereinstimmung der Ersparnis<br />

mit der Investition bei alternativer Höhe des Zinses und des Volkseinkommens<br />

wieder.<br />

Zins<br />

i1<br />

i2<br />

i3<br />

0 Investitionen<br />

I S(Y1) S(Y2) S(Y3)<br />

I<br />

60


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die I-Kurve und die S-Kurve zusammen ergeben die IS-Kurve bzw. den Gleichgewichtslokus<br />

von Sparen und Investieren für unendlich viele Kombinationen<br />

von Zins und Volkseinkommen. Dies lässt sich aus der nachfolgenden Abbildung<br />

ersehen.<br />

Zins<br />

2. Das Modell<br />

Die Abstimmung zwischen Sparen und Investieren findet über den Zins (Investitionen)<br />

und den Einkommens-(Multiplikator-)Prozess (Sparen) statt. 93<br />

Bringt man die IS- und LM-Kurve zusammen, so gilt<br />

( 15)<br />

IS = LM.<br />

IS<br />

0 Volkseinkommen<br />

Auf diese Weise erhält man im Schnittpunkt der Kurven einen Punkt, bei welchem<br />

das Gleichgewicht auf dem Geldmarkt und dem Gütermarkt gleichzeitig<br />

hergestellt ist.<br />

93 Vgl. Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, 5. Auflage, Darmstadt 1974, S. 149.<br />

61


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zins<br />

I1<br />

In der Abbildung werden die Bedingungen der vorangestellten IS-LM-Gleichung<br />

gleichzeitig erfüllt. Die IS- und LM-Kurve beschreiben nun einen Schnittpunkt<br />

in Y1 und i1.<br />

Erhöht sich die Nachfrage nach Investitionen, kommt es zu einer Rechtsverschiebung<br />

der IS-Kurve von IS1 zu IS2 und IS3. Gleichzeitig resultiert ein gröβeres<br />

Volkseinkommen, verbunden mit einer erhöhten Geldnachfrage nach Transaktionskasse:<br />

Die keynesianische Geldnachfrage, dargestellt nach dem ISLM-Modell:<br />

i LM<br />

IS1<br />

IS LM<br />

0 Y1 Volkseinkommen<br />

IS3<br />

IS2<br />

„klassischer Bereich"<br />

(Geldnachfrage zinsunabhängig)<br />

„normaler Bereich“<br />

„Liquiditätsfalle“ (Geldnachfrage zinsabhängig)<br />

Geldnachfrage unendlich zinselastisch<br />

0 Y<br />

Bei den verschiedenen IS-Kurven (IS1-IS3) und einer exogen gegebenen Geldmenge<br />

(LM-Kurve) resultieren unterschiedliche Gleichgewichtspunkte zwischen<br />

62


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

der IS-Kurve und der LM-Kurve, jeweils mit Gleichgewichtswerten für Y und i.<br />

Bei einem höheren Volkseinkommen (Y) kommt die zusätzliche Geldmenge aus<br />

der Spekulationskasse.<br />

Diese Effekte finden im „normalen Bereich“ mit einer zinselastischen Geldnachfrage<br />

statt. Im sog. „klassischen Bereich“ 94 mit einer zinsunabhängigen Geldnachfrage<br />

ist die gesamte Spekulationskasse in die Transaktionskasse eingegangen,<br />

und die Geldnachfrage ist hinsichtlich der Zinsen völlig unelastisch. Bei der<br />

Liquiditätsfalle ist die Geldnachfrage unendlich zinselastisch, indem selbst marginale<br />

Zinssenkungen eine unendlich große Mehrnachfrage nach Spekulationskasse<br />

bewirken.<br />

Kritik<br />

Die Kritik richtet sich unter anderem auf die Angebotsseite, die äuβerst schwach<br />

entwickelt ist. Veränderungen der relativen Güterpreise zur Herstellung eines<br />

Gleichgewichts werden nicht berücksichtigt; das Preisniveau ist exogen vorgegeben,<br />

also unabhängig von der Geldmenge. Letztlich werden die Spar- und Konsumfunktion<br />

allein durch das laufende Einkommen determiniert, während der<br />

Zins keinen Einfluss auf das Sparen und Investieren haben soll. Ebenso fragwürdig<br />

sind die konstanten Funktionsparameter für die Konsum- bzw. Sparneigung<br />

hinsichtlich des Einkommens. 95<br />

Zudem erscheint die Basis eines zwei Aktiva-Portefeuilles zu schmal, um die<br />

Geldnachfrage zu erklären:<br />

„Eine Geldtheorie mit einer breiteren Anwendungsmöglichkeit … kann<br />

sich nicht nur auf das Spekulationsmotiv beziehen, welche sich auf das Jahr<br />

1936 bezieht. Diese muss die Einsicht von Keynes akzeptieren, dass Geld<br />

ein Aktivum und anderem in einer Bilanz mit Substitutionsbeziehungen zu<br />

anderen Aktiven ist. Dabei genügt es nicht, die Substitutionsbeziehung<br />

zwischen Geld und Bonds zu betrachten. Die bilanziellen Zusammenhänge<br />

müssen umfassender betrachtet werden. 96<br />

94 Niehans betrachtet diesen „klassischen Bereich“ als ungenaue Interpretration der klassischen Őkonomie durch<br />

Hicks. Er bezieht sich auf die Aussage der Quantitätstheorie, wonach bei Geldmengenänderungen proportionale<br />

Preissteigerungen ausgelöst werden, wobei diese Aussage für die Zinselastizität unerheblich ist. Vgl. Niehaus, Jürg,<br />

Theorie des Geldes, a.a.O., S. 249, Fn. 24.<br />

95 Vgl. Issing, Einführung in die Geldtheorie, 1991, S. 97 f.<br />

96 Hicks, John R., The Crisis in Keynesian Economics, Oxford 1974, S. 36 f. (freie Übersetzung).<br />

63


Vorlesung Empirische „Advanced Hinweise Monetary für Theory das Euro-Währungsgebiet and Policy” (Geldtheorie (1999-2012)<br />

und –politik) im WS 2012/13<br />

Thesen:<br />

1. L T = L T (Y) - Der Zusammenhang besteht (d BIP real zu d M1 (+)).<br />

2. L S = L S (i) - Diese These trifft zu (die Geldnachfrage für M1 ist zinselastisch<br />

(Zins 1 Jahr (4) (-)).<br />

3. Die Geldnachfragefunktion - Diese These trifft nicht zu.<br />

für M1 lautet L = L (Y, i)<br />

4. Das Preisniveau beeinflusst - Diese These trifft für M1 schwach signifikant zu.<br />

die nominelle Geldnachfrage<br />

5. Die Geldmenge (M) ist - - Diese These trifft nicht zu. Die Veränderung der Geldmenge<br />

exogen gegeben. M 1 (= d M1) wird unter anderem endogen durch die Geldnachfrage beeinflusst.<br />

Damit ist eine der wesentlichen Prämissen des ISLM-Modells<br />

obsolet.<br />

5.4.2 Die New View<br />

Vgl. 6.2.<br />

5.4.3. Die portefeuilletheoretische Ableitung der Geldnachfrage<br />

Die Theorie der Portfolio Selection geht zurück auf Harry M. Markowitz (1952) 97<br />

und James Tobin (1965). 98 Die Portefoliotheorie setzt sich mit der Problematik<br />

auseinander, auf welche Weise ein rational handelndes Wirtschaftssubjekt sein<br />

Vermögen auf verschiedene, alternative Anlagen aufteilt.<br />

Die portefeuilletheoretische Ableitung der Geldnachfragetheorie entwickelte<br />

sich aus der Geldnachfragetheorie von Keynes, die vorerst von einem Portefeuille<br />

mit zwei Aktiven (Geld und Consols) ausging. Da aber einzelwirtschaftlich gemischte<br />

Portefeuilles gehalten werden, erklärt Tobin die Geldhaltung aus einer<br />

mikroökonomischen Perspektive.<br />

In einer „reibungslosen“ Welt ohne Informations- und Transaktionskosten sowie<br />

ohne Risiken würde wohl kein Geld als Wertaufbewahrungsmittel dienen. Die<br />

97 Vgl. Markowitz H. M. Portfolio Selection. In: The Journal of Finance, 1952, (S. 77-91), S. 77.<br />

98 Vgl. unter anderem: Tobin, James, Theory of Portfolio Selection. In: The Theory of Interest Rates, hrsg. Von Hahn<br />

F.H., Brechling, F.P.R., London/New York, 1965, S. 3-51.<br />

64


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Nachfrage nach Geld als Teil des Portefolio ist das Ergebnis von Unvollkommenheiten<br />

und vor allem Risiken:<br />

„ … the theory of risk aversion explains how money find a place in a rationally<br />

diversified portfolio … “. 99<br />

Prämissen:<br />

Bereits Markowitz analysiert die Zusammensetzung des Portfolios anhand der<br />

Gröβen Rendite und Risiko sowie der Korrelation zwischen den Preisbewegungen<br />

von einzelnen Aktiven, um Diversifikationseffekte zu berücksichtigen. Für<br />

die Entscheidung, welche Vermögensaufteilung optimal ist, nimmt er an, dass die<br />

Investoren ihre Anlageentscheidung aufgrund der Rendite und des Risikos treffen.<br />

Auβerdem geht er von risikoscheuen Wirtschaftssubjekten aus. Demzufolge<br />

akzeptieren die Anleger ein höheres Risiko nur, wenn die Rendite überproportional<br />

wächst, was formal durch eine konkav gebogene Nutzenfunktion ausgedrückt<br />

wird.<br />

Als Prämissen gelten damit:<br />

- Die Portefeuilletheorie beinhaltet das μ-σ-Prinzip (das μ bedeutet die Rendite,<br />

das σ das Risiko von Finanzaktiven hinsichtlich eines Vermögensverlustes,<br />

z.B. durch Kursänderungen). μ und σ sind stochastische Erwartungswerte. Je<br />

gröβer das Risiko (σ) ist, desto höher ist auch die geforderte Rendite (μ). Es bestehen<br />

Risiko-Ertragspräferenzen (ein höheres Risiko muss durch eine gröβere<br />

Rendite aufgewogen werden).<br />

- Neben Anleihen kommen auch andere Arten von Finanzaktiven in Betracht.<br />

Insgesamt werden n Aktiva gehalten, von den n-1 Aktiva ein Wertpapierbündel<br />

bilden und als n-tes Aktivum das Geld hinzukommt. Die Anlage in Kasse<br />

ist ggf. verzinslich. Die übrigen n-1 Aktiven des Portefeuilles sind risikobehaftet,<br />

nicht jedoch die Kasse als n-tes Aktivum. Durch das Mischen von Aktiven<br />

ergibt sich ein hinsichtlich des gesamten Portefeuilles risikomindernder<br />

Diversifikationseffekt; die Linie effizienter Portefeuilles (efficient market line)<br />

stellt die bestmögliche Kombination der einzelnen Aktiven (äuβerste<br />

Grenze) hinsichtlich der erwarteten Renditen und Risiken dar.<br />

Das Modell<br />

99 Tobin, James, Money, Capital, and other Stores of Value. In: American Economic Review, 1961, S. 26-37. Reprinted<br />

in: Tobin, James, Essays in Economics, Vol. 1, Macroeconomics, Amsterdam/London 1971.<br />

65


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zunächst werden Möglichkeiten für Portfolios hergeleitet, die neben der risikolosen<br />

Anlage ein risikobehaftetes Wertpapierbündel enthalten, das eine konstante<br />

Struktur aufweist und daher als ein Wertpapier aufgefasst werden kann. Derartige<br />

Möglichkeitskurven entstehen im Ursprung, wenn das n-te Aktivum aus<br />

Geld besteht (bei einer risikolosen Anlage, wie z. B. Spareinlagen, würden die<br />

Kurven auf der Ordinate beginnen). Die Möglichkeitskurve endet auf der Effizienzkurve<br />

(sofern die Möglichkeit ausgeschlossen wird, Schulden aufzunehmen.<br />

Aus diesen Bedingungen können nun effiziente Portfolios abgeleitet werden, die<br />

graphisch durch die so genannte Effizienzkurve dargestellt werden. 100 Ziel ist die<br />

Auswahl desjenigen Portefeuilles, welches das Risiko minimal werden lässt. Die<br />

Risikoneigung des Anlegers lässt sich durch die Isonutzenkurve ausdrücken, die<br />

sowohl den Rendite- als auch den Risikoaspekt zu einem einzigen Präferenzwert<br />

aggregiert. Das optimale Portefeuille liegt genau im Tangentialpunkt zwischen<br />

der Effizienz- und der Isonutzenkurve. In diesem Punkt ist das Portfolio risikoeffizient<br />

und entspricht der Risikoneigung der einzelnen Anleger.<br />

Das Verhältnis, in dem die risikobehafteten Wertpapiere zueinander gehalten<br />

werden, ist unabhängig von der Höhe des Gesamtvermögens. Damit lässt sich die<br />

Entscheidung in zwei Teile zerlegen:<br />

- Strukturierung des risikobehafteten Wertpapierbündels, wobei individuelle Risiko-/Ertragspräferenzen<br />

keine Rolle spielen.<br />

- Aufteilung des Gesamtvermögens auf das Wertpapierbündel und das Geld unter<br />

der Berücksichtigung der individuellen Ertrags- und Risikopräferenzen.<br />

Für den ersten Teil sind die Renditen, Varianzen und Korrelationen wie im Modell<br />

von Markowitz maβgebend. Der zweite Teil der Entscheidung lässt sich am<br />

besten graphisch veranschaulichen. Zunächst werden Möglichkeiten für Portfolios<br />

hergeleitet, die neben der risikolosen Anlage ein risikobehaftetes Wertpapierbündel<br />

enthalten, das eine konstante Struktur aufweist und daher als ein<br />

Wertpapier aufgefasst werden kann. Derartige Möglichkeitskurven entstehen im<br />

Ursprung, wenn das n-te Aktivum aus Geld besteht (bei einer risikolosen Anlage,<br />

wie z. B. Spareinlagen, würden die Kurven auf der Ordinate beginnen). Die Möglichkeitskurve<br />

endet auf der Effizienzkurve, da dort das Ge-<br />

100 Da es den Umfang dieser Arbeit sprengen würde, jede einzelne Formel und Berechnungsmethode im Detail vorzustellen,<br />

wird im Folgenden nur kurz skizziert, welche Faktoren von Bedeutung sind.<br />

66


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Ertrag<br />

O<br />

Finanzvermögen<br />

samtportfolio nur noch das risikobehaftete Wertpapierbündel umfasst. Die effizienteste<br />

Strecke ergibt sich durch diejenige Möglichkeitskurve, welche die Effizienzkurve<br />

gerade berührt. Die Beziehung zwischen dem Anteil der Wertpapiere<br />

am gesamten Vermögen und dem Risiko ist linear; dieser Zusammenhang wird<br />

im unteren Quadranten als Gerade eingezeichnet (OB).<br />

Für den zweiten Teil der Entscheidung müssen die individuellen<br />

Isonutzenkurven mit berücksichtigt werden. Ein risikoscheues Wirtschaftssubjekt<br />

wird denjenigen Optimalpunkt (P) wählen, bei dem es die höchste<br />

Indifferenzkurve erreicht, welche die Möglichkeitskurve gerade noch tangiert.<br />

Das bedeutet aber, dass es ein gemischtes Portefeuille aus Geld und Wertpapieren<br />

halten wird, dessen jeweilige Anteile im unteren Quadranten ablesbar sind.<br />

Zusammenfassend:<br />

Isonutzen- II<br />

kurve<br />

I<br />

Möglichkeitskurve<br />

Effizienzkurve<br />

Kasse<br />

Risiko<br />

Gesamtes Finanzvermögen<br />

- Das optimale Portefeuille besteht aus einer Mischung zwischen der risikolosen,<br />

verzinslichen Kasse und dem risikobehafteten Portefeuille aus n-1 Aktiven.<br />

Indem Tobin das allgemeine Modell der Portfolio Selection auf die Spekulationskasse<br />

überträgt, 101 analysiert er ebenfalls die Frage der Diversifikation<br />

zwischen der Geld- und der Wertpapierhaltung. Ähnlich wie Markowitz<br />

geht auch Tobin im Normalfall von einem risikoaversen Wirtschaftssubjekt<br />

aus.<br />

101 Vgl. Tobin J. Liquidity Preference as Behavior Towards Risk. In: Review of Economic Studies, 1958, S. 65-68.<br />

67


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Je gröβer tendenziell die Verzinsung der risikolosen Kasse ist, desto größer<br />

ist c.p. der Anteil der Kasse (und umgekehrt).<br />

- Bei steigenden Ertragserwartungen des Portefeuilles (n-1 Aktiven) sinkt der<br />

Anteil der Kasse (Umlagerung von Mitteln).<br />

Steigender Zins<br />

Steigt der Zinssatz des Portefeuilles mit n-1 Aktiven bei einem gegebenen Risiko,<br />

erwarten die Wirtschaftssubjekte einen vergleichsweise höheren Ertrag, so dass<br />

eine neue Strukturierung der risikobehafteten Wertpapiere erfolgt und sich eine<br />

neue Effizienzlinie ergibt. Die Möglichkeitskurve dreht sich im Gegenuhrzeigersinn,<br />

wodurch eine höhere Isonutzenkurve erreicht werden kann. Es kommt zu<br />

einer veränderten Zusammensetzung des Vermögens, wobei weniger Geld gehalten<br />

wird. Lässt man neben Bargeld auch Bankeinlagen als Anlagealternative zu,<br />

zeigt sich, dass der Erwartungswert der Rendite steigt und sich ein höheres Nutzenniveau<br />

ergibt.<br />

Damit lässt sich auch die negative Zinsabhängigkeit der Geldnachfrage aus dem<br />

Spekulationsmotiv heraus auf mikroökonomischer Grundlage erklären. Es aber<br />

kritisch anzumerken, dass diese Zinsreaktion abhängig vom Verlauf der<br />

Isonutzenkurve ist. Theoretisch könnte jede denkbare – positive oder negative –<br />

Zinsreaktion der Geldnachfrage hergeleitet werden.<br />

Zins für<br />

„risikolose“<br />

Kasse<br />

Die portefeuilletheoretische Ableitung der Geldnachfrage<br />

μ Möglichkeitskurve (Anteil Kasse<br />

Risiko-Ertrags- bzw. Portefeuille)<br />

präferenzen<br />

Linie effizienter Portefeuilles<br />

0 σ<br />

Anteil Kasse = 100 % optimale Kasse Anteil Portefeuille (n-1 Aktiven) = 100%<br />

Kritik<br />

Zunehmender Anteil Portefeuille (n-1 Aktiven)<br />

bzw. abnehmender Anteil Kasse (ntes Aktivum).<br />

68


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Kritik richtet sich unter anderem daran, dass sich die Wirtschaftssubjekte<br />

nicht nur an den Risiko- und Ertragserwartungen, sondern auch an anderen Einflussfaktoren<br />

ausrichten. Gleichzeitig wird die Annahme konstanter Preise kritisiert.<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Die Anlage von Finanzaktiven - Diese These trifft nicht allgemein zu. Beim Geld-<br />

ist positiv vom Zins abhängig mengenaggregrat M1 besteht ein negativer Zusammenhang<br />

zwischen der Entwicklung der Geldmenge und<br />

der Veränderung der Zinsen; bei den Geldmengen M2<br />

und M3 mitunter auch ein positiver Zusammenhang.<br />

2. Eine Erhöhung der Rendite - Diese These trifft nicht zu.<br />

der Aktienkurse führt zu einem<br />

geringeren Wachstum der Geld-<br />

nachfrage (M1, M2 und M3).<br />

3. Geldmarktanlagen haben ein - Diese These trifft hinsichtlich der Geldmarktanlagen<br />

geringeres б (Volatilität) als nicht zu. Die Volatilität der Geldmarktzinsen ist im All-<br />

die Kapitalmarktzinsen und bringen gemeinen größer als jene der Kapitalmarktzinsen.<br />

deshalb tiefere Zinsen Die tieferen Zinsen des Geldmarktes sind vielmehr mit<br />

der ausgeprägteren Liquiditätsnähe der Geldmengenaggregate<br />

zu begründen.<br />

5.5. Die monetaristische Geldnachfragetheorie<br />

Der von Milton Friedman begründete Monetarismus ist eine neoquantitätstheoretische<br />

Schule des Geldes („reaffirmation of the classics“) und wird als „Gegenrevolution“<br />

zur „keynesianischen Revolution“ betrachtet, indem die Geldmenge<br />

und nicht die Zinsen in den Vordergrund der Betrachtung gestellt werden. 102 Die<br />

monetaristische Geldnachfrage geht, wie die keynesianische Geldnachfragetheorie,<br />

auch auf die Cambridge-Schule des Geldes (Alfred Marshall und Arthur C.<br />

Pigou) zurück. Es handelt sich um einen vorwiegend vermögenstheoretischen<br />

Ansatz, bei welchem das Geld einen Teil des Vermögens darstellt.<br />

Mit dem Monetarismus soll der tautologische Charakter der Quantitätsgleichung<br />

überwunden werden. Die Monetaristen versuchen zudem, einige Schwächen der<br />

Quantitätstheorie zu eliminieren, indem sie ihre Geldtheorien mit mikroökonomischen<br />

Grundlagen unterlegen und gelangen auf diese Weise zur Neoquantitätstheorie.<br />

102 Vgl. Friedman, Milton, The Quantity Theory of Money – A Restatement. In: Friedman, Studies in the Quantity Theory<br />

of Money, Chicago 1956. Vgl. zur Bedeutung der Geldmenge auch Brunner Karl, The Monetarist Revolution. In:<br />

Monetary Theory, Weltwirtschaftliches Archiv, Bd. 105, 1970, S. 9 ff.<br />

69


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das quantitätstheoretische Gedankengut des Monetarismus führt zu einer Weiterentwicklung<br />

und Spezifizierung der Bestimmungsfaktoren der Geldnachfrage.<br />

Bezieht sich die Quantitätstheorie vor allem auf die Erklärung des Geldwertes, so<br />

verkörpert die monetaristische Neoquantitätstheorie in erster Linie eine Theorie<br />

der Geldnachfrage. 103<br />

Milton Friedman unterscheidet zwischen der nominalen und der realen Geldmenge.<br />

Auf die nominale Geldmenge haben die Wirtschaftssubjekte keinen ausgeprägten<br />

Einfluss; diese wird durch die monetären Instanzen (Zentralbank und<br />

Staat) bestimmt. 104 Die reale Geldmenge betrachtet er als endogene, nachfrageorientierte<br />

und stabile Variable; 105 diese ist das Ergebnis des Verhaltens der Wirtschaftssubjekte.<br />

Die Nachfrage nach Geld ist nach Friedman eine der zahlreichen Möglichkeiten,<br />

Vermögen anzulegen. Die Geldnachfrage der Haushalte und der Unternehmen<br />

soll denselben Bestimmungsfaktoren unterliegen, wobei die Geldnachfrage nur<br />

noch am Beispiel eines privaten Haushalts analysiert wird. 106<br />

Das Wirtschaftssubjekt tendiert dazu, sein Vermögen nutzenmaximierend aufzuteilen.<br />

Ein Nutzenmaximum wird erreicht, wenn innerhalb der einzelnen Teile<br />

des Gesamtvermögens keine weitere Substitution mehr möglich ist, welche einen<br />

zusätzlichen Ertragszuwachs erbringt. 107<br />

Der Vermögensbegriff ist sehr weit gefasst und enthält alle Quellen des Einkommens<br />

sowie der konsumierbaren Dienste. Dazu zählt auch das Humankapital,<br />

mit welchem das Leistungsvermögen eines Menschen als ursprüngliche Quelle<br />

für das tatsächliche Arbeitseinkommen verstanden werden kann. 108<br />

Einer weiten Fassung entspricht der Einkommensbegriff mit dem sog. permanenten<br />

Einkommen. Das permanente Einkommen stellt den (Vermögens-<br />

)Gegenwartswert der zukünftigen Einkommen aus den verschiedenen Einkommensquellen<br />

dar. 109<br />

Das Gesamtvermögen aus allen Quellen des Einkommens und der konsumierbaren<br />

Leistungen. Das nominale Vermögen umfasst Geld (M), Obligationen (b),<br />

103 Vgl. Friedman, Milton, Die Quantitätstheorie des Geldes: eine Neuformulierung. Deutsche Übersetzung des Originalwerkes:<br />

The Quantity Theory of Money: A Restatement, 1956. München 1970, S. 78.<br />

104 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 91.<br />

105 Vgl. Friedman, Die optimale Geldmenge und andere Essays. Übersetzt von Frerich, J. Hoft, G., Pusch, R.H., München<br />

1970, S. 163.<br />

106 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 89 f.<br />

107 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 79 f.<br />

108 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 79.<br />

109 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 58.<br />

70


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Aktien (e) bzw. Sachkapital und Humankapital (w). Der Vermögensbegriff<br />

wird sehr weit gefasst. Die Substitutionsmöglichkeiten des Haushalts zur Maximierung<br />

des Nutzens aus der Vermögensanlage beziehen sich auf fünf Formen<br />

der Anlage, womit sich das Vermögen vom wesentlich engeren Portefeuille der<br />

keynesianischen Lehre unterscheidet. 110<br />

Bei Anpassungsprozessen im Vermögensbereich sind die Kosten der Informationsbeschaffung<br />

und die Kosten der Veränderung einer Vermögensposition von<br />

Bedeutung. Außerdem steigen die Transaktionskosten der Veränderung einer<br />

Vermögensposition mit zunehmender Geschwindigkeit, in der die Vermögensumschichtung<br />

erfolgen soll.<br />

Bei den einzelnen Vermögensklassen Geld (Kasse), Wertpapiere, Kredite und<br />

Realkapital 111 ergeben sich - in dieser Reihenfolge – steigende Grenzkosten bei<br />

der Vermögenstransformation. So sind beispielsweise die Informations- und Anpassungskosten<br />

für Bargeld geringer als die der Wertpapiere. Die optimale Vermögensstruktur<br />

ist dann erreicht, wenn die relativen Grenzerträge bei allen Vermögensarten<br />

gleich sind, wobei der jeweilige Grenzertrag durch den Quotienten<br />

aus Grenzertrag zum Preis des entsprechenden Aktivums bestimmt ist. Das Ertragsmaximum<br />

wird somit in Analogie zum 2. Gossenschen Gesetz ermittelt. 112<br />

Der Maximierung des Nutzens aus der Vermögensanlage entspricht die Maximierung<br />

des erwarteten Ertrags. 113 Dazu stellt Friedman eine Reihe von Hypothesen<br />

auf.<br />

Der Ertrag der Geldhaltung<br />

Die Geldnachfrage bezieht die Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes in die<br />

Überlegungen mit ein. Es erfolgt keine Trennung der Kassenhaltung nach Motiven.<br />

Die Geldnachfrage ist ein Teil der Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte<br />

über die Vermögensstruktur.<br />

Die Geldhaltung bringt Zinsen auf den Termin- und Spareinlagen, abzüglich der<br />

Gebühren der Banken. Noch bedeutsamer ist der nicht-pekuniäre Nutzen in der<br />

Form von Liquidität und Sicherheit. Dieser Nutzen steht in einem inversen Zusammenhang<br />

mit der Entwicklung des allgemeinen Preisniveaus (P). Je gröβer<br />

die erwartete Änderung des Preisniveaus ist, desto geringer ist der erwartete reale<br />

Ertrag aus der Geldhaltung (RG) und desto weniger Geld wird nachgefragt: 114<br />

110 Vgl. Friedman, Milton, A Theoretical Framework for Monetary Analysis. In: Journal of Political Economy, Jg. 78,<br />

1970, S. 193-238. Wiederabgedruckt und zitiert nach Gordon Gordon, Robert (Hrsg.): Milton Friedman’s Monetary<br />

Framework. A Debate with his Critics, Chicago/London, 174, (S. 1-68), S. 28.<br />

111 Vgl. Brunner, K., Neuformulierung, 1970, S. 7.<br />

112 Vgl. Issing, O., Einführung in die Geldtheorie, 1988, S. 148.<br />

113 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 58.<br />

114 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 97.<br />

71


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

R G =<br />

f (P).<br />

Eine wesentliche Determinante der Geldnachfrage sind damit die Kosten der<br />

Geldhaltung, wozu vor allem jene der Inflation durch die erwartete Preisänderungsrate<br />

( P * ) zählen. Deren Zunahme bedeutet eine Verringerung des Realwertes<br />

der Kasse.<br />

Der Ertrag der Obligationen<br />

Der Ertrag des Vermögens aus Obligationen (RO) setzt sich aus den Zinszahlungen<br />

(rB) und den erwarteten Kursgewinnen bzw. –verlusten zusammen. Vereinfachend<br />

lässt sich von Konsols ausgehen, womit sich annäherungsweise folgender<br />

Ertrag ergibt:<br />

1 dr<br />

R = r − ×<br />

O B<br />

r d<br />

B<br />

t<br />

B<br />

.<br />

Beim realen Ertrag wird diese Rendite in Beziehung zur Entwicklung des Preisniveaus<br />

gesetzt. 115<br />

Der Ertrag der Aktien<br />

Die Aktien werden ähnlich wie die Obligationen betrachtet. Dabei wird eine<br />

Wertsicherungsklausel eingebaut sein, welche für einen konstanten realen Ertrag<br />

sorgt. Bei Preisniveaustabilität ergibt sich folgender realer Ertrag (RE): 116<br />

dP 1 dr 1 E<br />

R = r + × − × .<br />

E E<br />

dt p dt r<br />

E<br />

Der reale Ertrag der Aktien (bezogen auf eine Geldeinheit) ergibt sich aus dem<br />

als konstanten angenommenen nominellen Ertrag (Marktzins bzw. Dividende) rE,<br />

korrigiert um die erwartete Veränderungsrate des Preisniveau (dP/dt . 1/P) und<br />

des Zinsniveaus (-drE/dt . 1/rE).<br />

Der Ertrag des Sachkapitals<br />

115 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 80 f.<br />

116 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 82.<br />

72


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das Sachkapital (Sachgüter) bringt nutzenstiftende Leistungen (rx):<br />

dP 1<br />

R = ( r × P)<br />

× ( × ).<br />

G X<br />

dt P<br />

Entspricht der Wert der nutzenstiftenden Leistung einer Geldeinheit (rX . P=), so<br />

ist der nominale Ertrag: 117<br />

R G<br />

=<br />

dP<br />

dt<br />

×<br />

1<br />

P<br />

Das Humankapital<br />

.<br />

Das Humankapital umfasst alle angeborenen und erworbenen Leistungen des<br />

Menschen, produktive Leistungen zu erbringen. Friedman berücksichtigt das<br />

Verhältnis (w) vom Humankapital (KH) zum Sachkapital (KS):<br />

K<br />

x =<br />

K<br />

H<br />

S<br />

,<br />

welches er als konstant betrachtet. Eine Erhöhung oder Reduzierung des menschlichen<br />

Kapitals (Humankapital) erfolgt nur über einen längeren Zeitraum. 118<br />

Nachdem dieses nur schwer monetisiert werden kann, hält ein Wirtschaftssubjekt<br />

umso mehr Geld, je gröβer der Anteil des Humankapitals am Gesamtvermögen<br />

ist, um so die mangelnde Marktfähigkeit auszugleichen. 119 Wirtschaftssubjekte<br />

mit einem höheren und vor allem sehr spezifischen Humankapital werden<br />

in der Regel länger nach einem neuen Arbeitsplatz suchen müssen als Leute mit<br />

einem weniger spezifischen know how. Deshalb werden sie vermehrt Kaufkraft<br />

zur Überbrückung der Wartezeit brauchen. Dies führt zu einer gröβeren realen<br />

Geldnachfrage, auch um einen Ausgleich zum illiquiden Humankapital zu schaffen.<br />

Damit wird ebenfalls die geringe Substitutionselastizität zum Sachkapital<br />

berücksichtigt; mit zunehmendem und speziellerem Humankapital wird dessen<br />

Verwertung am Arbeitsmarkt schwieriger.<br />

Die Präferenzenstruktur<br />

117 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 83.<br />

118 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 81.<br />

119 Friedman M., A. Theory of the Consumtion Function, Princeton 1957.<br />

73


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Präferenzenstruktur eines Wirtschaftssubjekts hinsichtlich der einzelnen<br />

Anlageformen ist ebenfalls bestimmend für die Geldnachfrage. Diese ist gegeben<br />

und nur längerfristig veränderbar. Die Präferenzen der Geldhaltung werden<br />

hauptsächlich durch den Nutzen der Liquidität und die Beurteilung der zukünftigen<br />

wirtschaftlichen Lage bestimmt. Die Präferenzenstruktur lässt sich insofern<br />

erfassen, als dies an objektive Faktoren geknüpft ist. Die Summe dieser Faktoren<br />

wird mit u bezeichnet. 120<br />

Die Gesamtnachfrage nach Geld<br />

Gesamthaft ergibt sich folgende Nachfragefunktion für die nominelle Geldhaltung<br />

(MD): 121<br />

M<br />

D<br />

=<br />

1 dr<br />

f ( P;<br />

r ; − ×<br />

B<br />

r d<br />

B<br />

t<br />

B<br />

; r<br />

E<br />

+<br />

dP 1 drE<br />

× −<br />

dt P d<br />

t<br />

P<br />

1 dP 1 Y<br />

× ; × ; w;<br />

u;<br />

r dt P r<br />

Indem das Humankapital empirisch als nicht erfassbar betrachtet wird, entfällt<br />

ein Zinssatz für das Humankapital. Der durchschnittliche Zinssatz aller Vermögensanlagen<br />

(r) variiert mit den Zinssätzen für Obligationen und Aktien, wobei<br />

die Zinsraten für die Obligationen und Aktien im zeitlichen Verlauf konstant<br />

sein sollen, d.h. die Veränderungsraten bei den Obligationen und Aktien sollen<br />

vernachlässigt werden.<br />

Vereinfachend ergibt sich folgende Gleichung:<br />

D<br />

dP 1<br />

P<br />

( 17)<br />

M = f ( P;<br />

r ; r ; × ; w;<br />

Y ; u).<br />

B E<br />

dt P<br />

(1) Erforderlich für eine konsistente Geldnachfrage ist die Unabhängigkeit der<br />

Geldnachfragefunktion von den Preisen und dem Einkommen; die Geldnachfrage<br />

wird hinsichtlich der Variablen P und Y als linear vom Grade eins betrachtet.<br />

122 Die Variablen M, Y und P in der Gleichung lassen sich mit dem Proportionalitätsfaktor<br />

δ multiplizieren. Wird dieser Proportionalitätsfaktor zudem in Beziehung<br />

zu den Preisen gesetzt (δ = 1/P), ergibt sich als reale Geldnachfrage: 123<br />

120 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 84.<br />

121 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 84.<br />

122 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 86.<br />

123 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 86.<br />

E<br />

.<br />

74


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

M<br />

P<br />

D<br />

=<br />

P<br />

dP 1 Y<br />

f ( 1;<br />

r ; r ; × ; w;<br />

; u).<br />

B E<br />

dt P P<br />

Die Geldnachfrage ist c.p. umso höher, je gröβer das permanente Einkommen<br />

und das Verhältnis zwischen dem Humankapital zum Sachkapital (w) ist. Die<br />

Geldnachfrage sinkt mit höheren Ertragserwartungen für Obligationen (rB) und<br />

Aktien (rE) sowie mit steigenden Erwartungen hinsichtlich der Änderung des<br />

Preisniveaus (dP/dt x 1/P). 124<br />

(2.) Wird der Proportionalitätsfaktor in Relation zum Einkommen gesetzt (δ =<br />

1/Y), resultiert folgende Funktion: 125<br />

M<br />

Y<br />

D<br />

=<br />

Y dP 1<br />

f ( ; r ; r ; × ; w;<br />

u;<br />

)<br />

B E<br />

P dt P<br />

bzw.<br />

P<br />

dP 1 Y<br />

Y = v ( r ; r ; × ; w;<br />

; u)<br />

× M<br />

B E<br />

dt P P<br />

In der zweiten Formel rechts zeigt sich die nach Friedman übliche Schreibweise<br />

der Quantitätstheorie. Danach ist die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes (v)<br />

nicht konstant, sondern eine Funktion der Variablen im Klammerausdruck. 126<br />

Bei dieser Geldnachfragefunktion handelt es sich um eine eher kurzfristige Betrachtungsweise<br />

mit einem umfassenden vermögenstheoretischen Ansatz. Von<br />

anderen Geldnachfragetheorien weicht die Neoquantitätstheorie insbesondere<br />

durch die Zugrundelegung des permanenten Einkommens ab. Während die<br />

Keynessche Geldnachfrage spontanen Änderungen unterworfen ist, da sie vom<br />

laufenden Einkommen abhängt, ist die Friedmansche Geldnachfrage gegen derartige<br />

Schwankungen nahezu immun. Daher stellt sich die monetaristische Geldnachfrage<br />

als wesentlich stabiler dar, was von entscheidender Bedeutung für die<br />

Effizienz einer Geldpolitik ist. Jedoch trifft Friedman keine Aussage über die<br />

einzelnen Beziehungen der Variablen der Umlaufsgeschwindigkeit zueinander.<br />

Vielmehr nimmt er an, dass der Marktmechanismus jeweils tendenziell auf eine<br />

gleichwertige Beziehung hinwirkt. 127, 128<br />

124 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 84.<br />

125 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 86.<br />

126 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 86 f.<br />

127 Vgl. Duwendag, S. 98.<br />

128 Friedman M. Schwartz, A Monetary History of the United States, 1867-1960. National Bureau of Economic Research,<br />

Studies in Business Cycles, Nr. 12, Princeton University Press 1963. Es existieren zahlreiche empirische Untersuchungen<br />

zu der Thematik, ob die Determinanten der Umlaufsgeschwindigkeit im Zeitablauf konstant sind. Vor<br />

allem die Untersuchung der Geldgeschichte der USA 1870-1960 durch M. Friedman und A. Schwartz wird immer<br />

wieder zur Bestätigung und Ergänzung der theoretischen Aussagen herangeführt.<br />

D<br />

.<br />

75


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirischen Untersuchungen zufolge stellt die Umlaufsgeschwindigkeit eine<br />

ziemlich stabile, aber nicht konstante Gröβe dar. 129 In Aufschwungphasen steigt<br />

die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes, in Abschwungphasen sinkt sie. Dies<br />

hängt vor allem davon ab, ob das aktuelle Einkommen höher oder tiefer ist als<br />

das permanente Einkommen, und ob Geldvermögen auf- oder abgebaut wird. Im<br />

säkularen Verlauf wächst die Geldmenge schneller als das Geldeinkommen. 130<br />

Obwohl die Geldnachfragefunktion auch Zinsen enthält, betrachtet der Monetarismus<br />

doch vor allem die Realeinkommen und das Vermögen als fundamentale<br />

Einflussfaktoren der Geldnachfrage:<br />

„Mit nur einer Ausnahme kommt jede mir bekannte Untersuchung für die<br />

Vereinigten Staaten zu dem Ergebnis, dass Veränderungen im Realeinkommen<br />

und im Vermögen eine bedeutendere Ursachen für Veränderungen<br />

der nachgefragten realen Geldmenge als Veränderungen der Zinssätze<br />

sind.“ 131<br />

Die langfristige Geldnachfragefunktion<br />

Ausgehend von der dargestellten Geldnachfragefunktion gelangt<br />

Friedman zu einer langfristigen Geldnachfragefunktion, welche vor allem den<br />

Zusammenhang zwischen der realen Geldnachfrage und dem permanenten Realeinkommen<br />

beschreibt. Diese geht von einer eher längerfristigen, quantitätstheoretischen<br />

Betrachtung aus; deren zentrale Aussage enthält die These einer stabilen<br />

Geldmenge. Das permanente Einkommen ermöglicht es, einen stabilen<br />

Wachstumsfaktor für die Nachfrage nach realem Geld zum Ausdruck zu bringen.<br />

In Relation zum permanenten Einkommen ergibt sich – bei Konstanz der übrigen<br />

Faktoren – folgende Geldnachfrage pro Kopf der Bevölkerung (zu permanenten<br />

Preisen): 132<br />

( 18)<br />

M YP<br />

= γ (<br />

NP NP<br />

Es bezeichnen<br />

p<br />

P<br />

M = die Geldmenge,<br />

N = die Gröβe der Bevölkerung,<br />

)<br />

δ<br />

.<br />

129 Vgl. Friedman, Milton, Quantitätstheorie, 1956, S. 99.<br />

130 Vgl. Friedman, Milton, The Optimum Quantity of Money, Chicago, 1969, S. 113.<br />

131 Vgl. Friedman, Milton, Die optimale Geldmenge, München 1970, S. 201.<br />

132 Vgl. Friedman, Milton, The Optimum Quantity of Money, Chicago, 1969, S. 122.<br />

76


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

YP = das permanente Einkommen,<br />

PP = das permanente Preisniveau,<br />

γ,δ = Parameter.<br />

- Die reale Geldnachfrage hängt damit längerfristig (d.h. in Zeiträumen von 5-10<br />

Jahren betrachtet) 133 von der Gröβe der Bevölkerung ab. Um den Einfluss des Bevölkerungswachstums<br />

auszuschalten, wird auf Pro-Kopf-Gröβen (N) abgestellt.<br />

Zu beachten ist, dass der Zins als Determinante nicht mehr in Erscheinung tritt.<br />

- Die Geldnachfrage ist einkommenselastisch und steigt mit zunehmendem Einkommen<br />

überproportional (das Geld ist ein superiores Gut mit einer positiven<br />

Einkommenselastizität). δ steht für die Einkommenselastizität der Geldnachfrage<br />

und wird auf der Grundlage dieser Funktion für die USA zwischen 1870 und 1854<br />

auf 1,8 geschätzt. Dies wird mit der sog. Luxguthypothese (Geld als Luxusgut) erklärt.<br />

Bei einem langfristig zunehmenden Realeinkommen leisten sich die Wirtschaftssubjekte<br />

den Luxus einer höheren Kassenhaltung.<br />

- Weitere Einflussfaktoren sind das permanente Preisniveau und das permanente<br />

Volkseinkommen, indem die Wirtschaftssubjekte zu stabilen Erwartungen hinsichtlich<br />

der Preis- und Einkommensentwickung tendieren. Dies schlägt sich<br />

auch in einer stabilen Geldnachfrage nieder. 134<br />

Kritik<br />

Es ist kritisch anzumerken, dass sich aufgrund der mikroökonomischen Formulierung<br />

des Modells Aggregationsprobleme ergeben. Insbesondere hat Friedman<br />

seine Überlegungen nur auf die privaten Haushalte bezogen und bietet keine Lösung<br />

für die Geldhaltung der Unternehmen. Er weist lediglich darauf hin, dass<br />

für Unternehmungen die Budgetbeschränkungen des Gesamtvermögens und des<br />

menschlichen Kapitals nicht gelten, da sie sich zusätzliches Kapital auf dem Kreditmarkt<br />

besorgen können. 135 Indem sich die Unternehmen jedoch Geld und Kapital<br />

beschaffen können, sind sie in der Lage, auch Sach- und Humankapital auf<br />

dem Markt zu kaufen.<br />

133 Grundlage: Statistische Untersuchungen für die Jahre 1890-1967; vgl. Issing, 11. Aufl., S. 40 und 72.<br />

134 Die Geldnachfrage wird jedoch instabil, wenn die angebotene Geldmenge diskretionär gesteuert wird und die Inflations-<br />

und nominellen Einkommenserwartungen instabil werden. Eine diskretionäre Geldmengensteuerung kann<br />

zu einer allgemeinen Destabilisierung der Erwartungen der Wirtschaftssubjekte führen und Auswirkungen auf deren<br />

Konsum- und Investitionsverhalten haben, d.h. zu erratischen wirtschaftlichen Prozessen führen.<br />

135 Vgl. Friedman Milton, Die Quantitätstheorie, S. 25.<br />

77


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

Patinkin (1969) Seitenzahl) äuβert sich kritisch, der Monetarismus sei eigentlich<br />

keine Bestätigung der Quantitätstheorie im formalen Sinne, sondern vielmehr<br />

eine äuβerst elegante und sophistische Art einer keynesianischen Theorie mit einer<br />

irreführenden Bezeichnung. Nach Auffassung von Laidler hätte Friedman<br />

auch von einer Bestätigung der Liquiditätspräferenztheorie sprechen können. 136<br />

impliziert wird.<br />

zwar mit dem nominellen Bruttoinlandsprodukt, aber nur unterproportional.<br />

136 Vgl. Laidler, 1982, S. 5 f.<br />

M 1 M 2 M 3<br />

1. Die Geldnachfrage reagiert x . .<br />

invers auf die Kapitalmarkt-<br />

zinsen (rB)<br />

2. Die Geldnachfrage reagiert x . .<br />

invers auf die Entwicklung<br />

Aktienkurse (rE)<br />

3. Preiserwartungen haben einen . x x<br />

(positiven) Einfluss auf die<br />

Geldnachfrage (sofern die Preiserwartungen aus dem jeweils<br />

aktuellen Preisniveau abgeleitet werden).<br />

4. Einfluss des Humankapitals auf<br />

die Geldnachfrage n.a. n.a. n.a.<br />

5. Einfluss des realen Volkseinkom- x x x<br />

mens (Y/P) auf die reale Geld-<br />

nachfrage<br />

6. Es zeigt sich eine ziemlich große Diese These trifft tendenziell für M1 zu, in geringerem Maße<br />

Stabilität der Geldnachfrage, für M2 und M3.<br />

wie dies von M. Friedman<br />

7. Das Geld ist ein superiores Gut Diese These trifft nicht zu. Die Geldmengen M1 – M3 wachsen<br />

78


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

5.6. Die Neue Klassische Makroökonomik<br />

Nach dem sehr weit reichenden vermögenstheoretischen Konzept der monetaristischen<br />

Geldtheorie beschränkt sich der neuklassische Theorie auf die Betrachtung<br />

der Transaktionskasse. Als makroökonomische Theorie ist der Ansatz der<br />

Neuen Klassischen Makroökonomik mikroökonomisch fundiert, indem explizite<br />

Annahmen über das Verhalten der einzelnen Wirtschaftssubjekte erfolgen.<br />

Die neuklassische Theorie stützt sich auf Theorie der rationalen Erwartungen 137<br />

und betrachtet in den Modellen die Erwartungsbildung als eine endogene Determinante.<br />

138. Die Wirtschaftssubjekte werden als homines oeconomices modelliert,<br />

deren Aktionen auf (modellspezifisch) rationalen Erwartungen beruhen. Sie<br />

lernen aus Fehlern und erkennen die Funktionsweisen einer Volkswirtschaft. Da<br />

der Wirtschaftsablauf jedoch unvorhersehbaren stochastischen Schwankungen<br />

unterliegt, werden die Erwartungen im Normalfall nicht erfüllt.<br />

Die Prämissen<br />

Ein Hauptmerkmal der neuklassischen Lehre besteht in der Annahme völlig flexibler<br />

Preise und Löhne. Demnach sind alle Märkte ständig geräumt und somit<br />

fortlaufend im Gleichgewicht. Es wird – in einer vereinfachten Version – unterstellt,<br />

dass die Geldnachfrage vom Output Y (Einkommen) und einem Störterm ε<br />

abhängt (exogene Schocks durch Erwartungsfehler).<br />

Das Modell<br />

Nach der neuklassischen Theorie dient das Geld Transaktionszwecken, wobei<br />

die Geldnachfrage vom Volkseinkommen (Y) und ggf. einem Störterm (ε) abhängt,<br />

welcher auf exogene Schocks (bedingte Varianzen) hinweist:<br />

M =<br />

D<br />

M ( Y,<br />

ε ).<br />

D<br />

137 Die Theorie der rationalen Erwartungen geht auf John F. Muth zurück. Vg. Muth, John F., Rational Expectations<br />

and the Theory of Price Movements. In: Exonometrica, Vol. 29, 1961, S. 315 ff.<br />

138 Vgl. Felderer/Homburg, Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 258 ff.<br />

79


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

In der neuklassische Theorie besteht weitgehend die klassische Dichotomie<br />

zwischen dem realen und dem monetären Bereich, gleichbedeutend mit der<br />

Neutralität des Geldes.<br />

Empirische Hinweise zur Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These:<br />

Die Geldnachfragefunktion - Ein signifikanter Zusammenhang zwischen<br />

lautet: MD = MD (Y, ε). dem Output (log(BIP real)) und der Geldnachfrage<br />

(log(M1)) besteht nicht.<br />

- Die Geldnachfrage zeigt jedoch exogene Schocks (ε),<br />

welche sifnifikant, jedoch nicht sehr bedeutsam sind.<br />

Zusammenfassung der Ergebnisse<br />

Die einzelnen Geldnachfragetheorien unterscheiden sich vor allem hinsichtlich<br />

der unterstellten Bestimmungsfaktoren der Geldnachfrage. Die nachfolgende<br />

Tabelle gibt dazu einen allgemeinen, vereinfachten Überblick.<br />

Vorklassik X X<br />

Y i V P σ Vermögen/Kapital<br />

Klassik X X X<br />

Neoklassik X (X) X X<br />

Humankapital <br />

Keynesianismus<br />

X X (X)<br />

Monetarismus X X X X X X<br />

Portefeuilletheo<br />

rie<br />

Neuklassische<br />

Theorie<br />

X X X<br />

Einkommens-elastizität<br />

X X<br />

Störterm<br />

(ε)<br />

80


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

5.7. Ergänzung: Empirische Tests zur Geldnachfrage<br />

Empirische Hinweise zur Geldnachfrage (Eurowährungsgebiet, 1999-2012)<br />

Die Wirkung einzelner Einflussfaktoren auf die Geldnachfrage*<br />

M1 (log) M2 (log) M3 (log)<br />

BIP real (log) . + M + M<br />

BIP nom. (log) + (-2) M + +<br />

Preisniveau (log) . +(4) M + M<br />

Aktienindex (log) - M + (-4) +<br />

Exogene Schocks . . .<br />

R2 korr. 0,99 0,99 0,99<br />

Schwarz citerion - 5,76 -7,45. -7,75.<br />

d M1 d M2 d M3<br />

d BIP real - . +<br />

d BIP nom. - + M + M<br />

Inflationsrate - M + +<br />

d EUR-USD . + (2) .<br />

d Löhne - (4) + (5) + (11)<br />

d Arbeitslose + - (3) -<br />

d Aktienindex - M . - (-1)<br />

Zins 1 Tag - (3) + (2) + (8)<br />

Zins 1 Mt. - (4) + (2) + (9)<br />

Zins 3 Mt. - (4) + (3) + (10)<br />

Zins 6 Mt. - (6) + (6) + (10)<br />

Zins 12 Mt. - (4) . + (10)<br />

Zins 2 Jahre . . + (7).<br />

Zins 5 Jahre . . + (8)<br />

Zins 10 Jahre . . .<br />

Exogene Schocks (x) (x) (x)<br />

R2 korr. 0,92 0,96 0,97<br />

Schwarz citerion 2,76 1,31 1,51<br />

81


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 6. Das Geldangebot<br />

Die folgende Übersicht zeigt einzelne geldangebotstheoretische Schulen nach<br />

dem Kriterium der Exogenität bzw. der Endogenität des Geldangebotes.<br />

Geldangebotstheorien<br />

Exogenes Geldangebot z.T. endogenes Geldangebot Endogenes Geldangebot<br />

(die Zentralbank be- (in Verbindung mit einer (die Geldnachfrage führt<br />

stimmt die Geldmenge) endogenen Kreditmenge) zu einem entsprechenden<br />

Geldangebot)<br />

Quantitätstheorie Kreditmarktmodell Tobin (New View)<br />

(Old View) (§ 5/III.)<br />

(§ 5/I.-II.)<br />

Neoklassisch- J.M. Keynes (keynes-<br />

neoliberale Modelle sche Lehre)<br />

Keynesianisches<br />

ISLM-Modell<br />

Monetarismus<br />

Neue Klassische Makroökonomik.<br />

I. Die Geldschöpfung und Geldvernichtung, die multiple Geldschöpfung<br />

1. Die Tradition der Currency Theorie (Vorklassik, Klassik, Neoklassik,<br />

Monetarismus, Neue Klassische Makroökonomik)<br />

Die Currency Theorie ist eine bedeutende geldtheoretische Schulen der klassischen<br />

Nationalökonomie. Diese geht von engen Geldmengenbegriffen aus und<br />

betrachtete ursprünglich nur das zirkulierende Bargeld (umlaufende Edelmetallmünzen),<br />

das Staatspapiergeld und die gegen Gold einlösbaren Noten der<br />

Zentralbank als Geldmengen. Aus heutiger Sicht lieβen sich auch weitere Transaktionsmittel<br />

wie beispielsweise die Sichtguthaben und andere, girofähige Guthaben<br />

bei den Geschäftsbanken hinzuzählen.<br />

Die Geldangebotsprozesse haben in der Currency Schule eine groβe Nähe zu den<br />

von der Zentralbank ausgelösten Geldangebotsprozessen bzw. der von der Zentralbank<br />

geschaffenen monetären Basis. Die Currency Theorie beschäftigt sich<br />

82


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

weitgehend mit Geldmengen, welche von der Zentralbank exogen bestimmt<br />

werden.<br />

Es entspricht dem currencytheoretischen Denken, von einem Geldschöpfungsprozess<br />

auszugehen, an welchem vorwiegend drei Akteure beteiligt sind:<br />

- Die Zentralbank stellt die monetäre Basis (das Zentralbankgeld) zur Verfügung<br />

und verlangt Mindestreserven auf das von den Geschäftsbanken geschaffene<br />

Geld,<br />

- die Geschäftsbanken schöpfen Kredite, welche den Nichtbanken als Geld zur<br />

Verfügung stehen und<br />

- die Nichtbanken fragen Bargeld (Noten, Münzen) sowie Einlagen bei den Geschäftsbanken<br />

nach.<br />

Gedanklich lässt sich von einer Geldschöpfungspyramide ausgehen:<br />

ZB<br />

MFIs<br />

Nichtbanken<br />

Indem die Zentralbank die Höhe der monetären Basis (Geldbasis) sowie der<br />

Mindestreserven festlegt und die Nichtbanken von der Zentralbank emittiertes<br />

Bargeld bei den Geschäftsbanken nachfragen, ist die Zentralbank in der Lage, die<br />

Geld- und Kreditschöpfung durch die Geschäftsbanken zu steuern, und auf diese<br />

Weise die Geldmenge exogen zu beeinflussen.<br />

Das Modell der multiplen Geld- und Kreditschöpfung (vgl. Ziffer I.) sowie der<br />

sog. Phillips-Multiplikator (vgl. Ziffer II.) folgen diesen Grundüberlegungen und<br />

stehen damit in der Tradition der Currency Theorie. Das erweiterte Geldbasiskonzept<br />

(vgl. Ziffer IV.) ist eine Erweiterung des Geldbasiskonzepts, bei welchem<br />

die einzelnen Akteure durch ihr autonomes Verhalten die monetäre Basis<br />

(Geldbasis) verändern können.<br />

83


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

2. Das Geldbasiskonzept 139<br />

( 19)<br />

B = B + B ,<br />

NC BZ<br />

wobei<br />

B = Monetäre Basis<br />

BNC = Zentralbankgeldmenge, welche vom Publikum gehalten<br />

wird (vor allem Bargeld),<br />

BBZ = Zentralbankgeld, welches von den Kreditinstituten<br />

gehalten wird (vor allem zur Erfüllung der<br />

Mindestreservepflicht).<br />

Das Verhältnis zwischen Geldbasis (B) und Geldmenge (M) beträgt:<br />

M<br />

( 20)<br />

m = bzw.<br />

B<br />

wobei<br />

M = m × B,<br />

m = Geldschöpfungsmultiplikator (Relation zwischen<br />

Geldmenge und Geldbasis),<br />

M = Geldmenge.<br />

Dabei lässt sich die Geldmenge auf M1, M2 oder M3 beziehen:<br />

Für M3 beispielsweise gilt:<br />

M = B + D + T + S<br />

NC<br />

3<br />

und<br />

M<br />

M = m × B bzw.<br />

m =<br />

3 3<br />

3<br />

B<br />

wobei<br />

D = Depositen (Sichteinlagen),<br />

T = Termineinlagen,<br />

S = Spargelder.<br />

139 Vgl. Einführung, 1993, S. 62 ff.<br />

3<br />

,<br />

84


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

3. Der traditionelle Geldschöpfungsmultiplikator<br />

Die Zentralbank schafft originäres Geld (Zentralbankgeld), das den Geschäftsbanken<br />

zur Herstellung von derivativem Geld (Geschäftsbanken-, Buch- oder Giralgeld)<br />

dient:<br />

- Die aktive Geldschaffung erfolgt durch das (aktive) Handeln der Kreditbanken,<br />

indem diese durch das Einräumen von Krediten Sichtguthaben (Giralgeld bzw.<br />

Depositen) als zusätzliches Geld schaffen, wodurch sich die gesamte Geldmenge<br />

erhöht.<br />

- Passives Geld wird geschaffen, wenn sich die Kreditinstitute passiv verhalten<br />

und die Nichtbanken aktiv sind, also beispielsweise Bargeld bei den Geschäftsbanken<br />

als Sichteinlagen, Termin- und Spargelder einbezahlen. Auf diese Weise<br />

findet eine Umwandlung von Zentralbankgeld (Bargeld) in Geschäftsbankengeld<br />

statt. 140<br />

1. Die Sequenztabelle des traditionellen Modells 141<br />

Prämissen<br />

- Es gibt drei Kategorien von geldwirtschaftlichen Akteuren: Die Zentralbank,<br />

die Geschäftsbanken und die privaten Wirtschaftssubjekte („private Nichtbanken“).<br />

- Die Zentralbank stellt den Geschäftsbanken Zentralbankgeld (Überschussreserven,<br />

z.B. Repokredite) zur Verfügung.<br />

- Die Geschäftsbanken geben Kredite an die privaten Wirtschaftssubjekte, welche<br />

diese in der Form von Bargeld und Banküberweisungen in Anspruch<br />

nehmen.<br />

- Die Geschäftsbanken haben Mindestreserven auf die Sichteinlagen (passive<br />

Depositen) zu bezahlen.<br />

- Die Möglichkeiten der Geschäftsbanken, Kredite zu schöpfen, werden vollständig<br />

ausgenutzt; es verbleiben keine Überschussreserven und kein Bargeld<br />

bei den Geschäftsbanken.<br />

- Die angebotenen Kredite werden auch tatsächlich nachgefragt (Kreditangebot<br />

= Kreditnachfrage.<br />

Das Modell<br />

- Die Zentralbank stellt der A-Bank eine Überschussreserve als Guthaben bei<br />

der Zentralbank) von 1.500 zur Verfügung.<br />

140 Vgl. Issing, Einführung, 1998, S. 56 f.; vgl. Duwendag, Geldtheorie, 1974, S. 98.<br />

141 Vgl. Issing, Otmar, Geldtheorie, 11. Auflage, S. 63.<br />

85


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Die A-Bank gibt einem Kunden einen Kredit von 1.500 („aktive Depositen“).<br />

- Der Kunde bezieht 500 (c= 1/3) in Form von Bargeld und lässt 1.000 an die B-<br />

Bank überweisen (zum Beispiel an einen Kunden der B-Bank), wodurch bei<br />

der B-Bank passive Depositen (Sichtguthaben) von 1.000 entstehen.<br />

- Die B-Bank erhält einen Zufluss von Zentralbankgeld von entsprechend 1.000<br />

(beispielsweise als Folge der Überweisung über das Clearing der Zentralbank).<br />

- Die B-Bank muss 250 Mindestreserven (r= ¼) an die Zentralbank bezahlen<br />

und kann mit den restlichen Überschussreserven Kredite von 750 („aktive Depositen“)<br />

schaffen.<br />

- Usw.<br />

Zentralbank<br />

Überschussreserven 1500<br />

Bank A<br />

Kredit<br />

Kunde I<br />

„Aktive Dep.“<br />

Kredit 1500<br />

Bargeld 500<br />

Überweisung<br />

an Kunde II 1000<br />

Mindest- Bank B Kunde II<br />

Sichtguthaben<br />

res. 250 „Passive Depositen“ 1000<br />

Kredit<br />

Kunde III<br />

„Aktive Dep.“ Bargeld 250<br />

Kredit 750<br />

Überweisung<br />

500<br />

usw.<br />

86


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der Geld- und Kreditschöpfungsprozess (Sequenztabelle)<br />

Bank<br />

Aktive<br />

Geld-<br />

Sichteinlagen Zufluss Mindest- Überschuss- schaffung<br />

(passive Depositen)<br />

87<br />

Verlust Zentral-<br />

Bargeld<br />

an Zentralbankgeld<br />

reserven reserven (Kredite) bankgeld abflus<br />

(r=1/4) (c=1/3<br />

A 1.500 1.500 1.500 50<br />

B 1.000 1.000 250 750 750 750 25<br />

C 500 500 125 375 375 375 12<br />

D 250 250 . . . .<br />

. . . . . .<br />

Total 2.000 500 3.000 1.00<br />

Das Ergebnis<br />

- Die Überschussreserve von ursprünglich 1.500 wird nach zahlreichen Vorgängen<br />

durch einen Bargeldabfluss von 1.000 an das Publikum und einen Abfluss<br />

von 500 in Form von Mindestreserven der Geschäftsbanken an die Zentralbank<br />

„aufgezehrt“.<br />

- Insgesamt werden auf der Grundlage einer Überschussreserve von 1.500 Kredite<br />

(aktive Depositen) von 3.000 geschaffen.<br />

- Die gesamte Geldschöpfung beträgt ebenfalls 3.000 (1.000 Bargeld und 2.000<br />

Sichtguthaben (passive Depositen). Die Zusammensetzung der neu geschaffenen<br />

Geldmenge bezieht sich auf das Geldmengenaggregat M1 (Bargeld und Sichtguthaben).<br />

Kritik<br />

- Die Parameter (vor allem c) sind nicht als Verhaltensparameter konzipiert; damit<br />

hat der Geldschöpfungsprozess lediglich ex post-Charakter.<br />

- Die Banken betreiben in der Praxis eine Optimierung ihrer Portefeuilles, welche<br />

sich wesentlich umfassender gestaltet als nur die Vergabe von Krediten und das<br />

Entgegennehmen von Sichteinlagen. Sie betreiben auch das Kreditgeschäft mit<br />

anderen Banken und tätigen auf der Aktivseite eine Vielzahl von Finanzanlagen<br />

auf eigene Rechnung (beispielsweise in Anleihen, Geldmarktpapieren, Termin-<br />

und Optionskontrakten, Aktien und anderen Sachanlagen). Zudem halten sie<br />

Gold, Beteiligungen und Immobilien. Auf der Passivseite fungieren ebenfalls<br />

Termineinlagen, Spareinlagen, Geldmarktpapiere, Schuldbriefe, Anleihen etc.


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Die Vergabe von Krediten erfolgt in der Praxis nach portefeuilletheoretischen<br />

Überlegungen, wobei die durch die Zentralbank gesetzten „technischen“ Maximalgrenzen<br />

nicht voll ausgeschöpft werden.<br />

- Die Bank benötigt auch Zentralbankgeld für das Girowesen (sofern die Überweisungen<br />

durch die Zentralbank erfolgen).<br />

- Die mit diesem Modell erfasste Geld- und Kreditschöpfung bezieht sich institutionell<br />

nur auf den Geldangebotsprozess der Geschäftsbanken und nicht auf die<br />

Finanzintermediäre. Zudem werden nur relativ eng abgegrenzte Geldmengen<br />

und nicht auch liquiditätsnahe Forderungen betrachtet. 142<br />

III. Der traditionelle Geldschöpfungsmultiplikator (der Phillipsmultiplikator)<br />

1. Der Kreditschöpfungsmultiplikator<br />

Der Kreditschöpfungsmultiplikator beschäftigt sich mit der Frage, welche Kreditmenge<br />

die Banken bereitstellen. Es handelt sich um eine Betrachtung der Ebenen<br />

der Zentralbank (Erhöhung der Überschussreserven) und der Geschäftsbanken<br />

(Schöpfen von Krediten). 143<br />

Wie groβ ist die theoretisch mögliche Kreditmenge? Die Gleichung - ohne eine<br />

Herleitung – lautet: 144<br />

( 21)<br />

1<br />

x =<br />

c + r(<br />

1−<br />

c)<br />

wobei:<br />

x = Kreditschöpfungsmultiplikator (für das Geschäftsbankengeld)<br />

c = Bargeldquotient (der Nichtbanken)<br />

r = Mindestreservesatz (für Einlagen von Nichtbanken bei den Geschäftsbanken).<br />

142 Vgl. Tobin, James, 1963.<br />

143 Zur Herleitung siehe Issing, Otmar, Geldtheorie, 11. Aufl., S. 63 ff.<br />

144 Vgl. Phillips, C.A., Bank Credit, A Study of the Principles and Factors underlying Advances made by Banks to Borrowers,<br />

New York 1924 (1920), S. 38 ff. Phillips ging ursprünglich von einem Geldsystem mit nur einer Geschäftsbank<br />

aus. Dieses lässt sich jedoch, wie die vorangehende Sequenztabelle zeigt, auch auf ein System mit mehreren Geschäftsbanken<br />

übertragen.<br />

88


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Am Beispiel der Sequenztabelle ergibt dies:<br />

Geschäftsbankenkredite =<br />

Wobei:<br />

x =<br />

1<br />

= 2.<br />

1/<br />

3+<br />

1/<br />

4(<br />

1−1/<br />

3)<br />

Kr = Kreditschöpfung (Geschäftsbankengeld).<br />

Empirisches Beispiel für den Kreditschöpfungsmultiplikator<br />

(Euro-Währungsgebiet, Juli 2003)<br />

- Die tatsächliche Kreditschöpfung:<br />

ΔKr = x×<br />

ÜR = 2 × 1500 = 3000.<br />

Kredite MFI 7980,2<br />

- Bargeld 361,5 c = 0,0453<br />

- Mind.res. 132,1 r = 0,0165<br />

- Σ Liq.zuführung 574,4<br />

x (M1)<br />

- effektiv: Kredite MFI/Σ Liquiditätszuführung = 13,892<br />

- Die theoretisch mögliche Kreditschöpfung:<br />

x<br />

( Kredite MFI ) =<br />

1<br />

= 16,<br />

379.<br />

0,<br />

0453 + 0,<br />

0165(<br />

1−<br />

0,<br />

0453)<br />

Die Möglichkeiten zur Kreditschöpfung werden damit nicht vollständig ausgeschöpft.<br />

Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Banken ihr<br />

Portefeuilleverhalten unter Risiko-Ertragsaspekten umfassender optimieren.<br />

89


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

2. Der Geldschöpfungsmultiplikator<br />

Der Geldschöpfungsmultiplikator (Phillipsmultiplikator) 145 geht von der Fragestellung<br />

aus, welche Geldmenge beim sog. Publikum, den Nichtbanken, maximal<br />

entstehen kann. Betrachtet werden die Ebenen der Zentralbank (Erhöhung der<br />

Überschussreserven) und der Nichtbanken (Erhöhung der Geldmenge M1 bzw.<br />

Bargeldhaltung und Sichteinlagen).<br />

Die theoretisch maximale Geldschöpfung beträgt am Beispiel der Sequenztabelle:<br />

Bargeld: 1.000<br />

+ Guthaben der Geschäftsbanken bei der ZB 500<br />

= Monetäre Basis (Geldbasis) 1.500<br />

Bargeld 1.000<br />

+ Sichtguthaben der Nicht-MFIs bei den MFIs 2.000<br />

M1 3.000<br />

bzw.<br />

Ergebnis:<br />

m<br />

=<br />

1<br />

= 2.<br />

1 1/<br />

3+<br />

r(<br />

1−<br />

c)<br />

- Je größer c und r sind, desto geringer ist der Geldschöpfungsmultiplikator.<br />

- Die Zentralbank kann indirekt über die Veränderung der Geldbasis (monetäre<br />

Basis) und des Mindestreservensatzes auf die Kredite und damit die Geldmenge<br />

einwirken. Die Existenz von Überschussreserven spielt zudem heute kaum noch<br />

eine Rolle. Vielmehr ist von entscheidender Bedeutung, dass die Kreditinstitute<br />

die Möglichkeit haben, den erhöhten Bedarf an Zentralbankgeld auszugleichen.<br />

Die Steuerung der Geldbasis (monetäre Basis bzw. Zentralbankgeldmenge) zur<br />

Steuerung der Geldmenge bzw. des Geldangebotes steht damit im Mittelpunkt<br />

der geldpolitischen Diskussion. 146<br />

- Die theoretisch maximale Geldschöpfung (M1) ist identisch mit der theoretisch<br />

maximalen Kreditschöpfung, indem davon ausgegangen wird, dass die geschöpften<br />

Kredite insgesamt ablieβen und als Geld (Bargeld und Sichtguthaben) Verwendung<br />

finden.<br />

- Der Geldschöpfungsmultiplikator für M2 und M3 lässt sich entsprechend ableiten.<br />

145 Vgl. C.A. Phillips, Bank Credit. A Study of the Principles and Factors Underlying Advances Made by Banks to Borrowers,<br />

New York 1920.<br />

146 Vgl. Issing, Einführung in die Geldtheorie, 1998, S. 62 f.<br />

90


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

3. Vereinfachte Beispiele anhand der Zahlen der EZB<br />

Der Geldschöpfungsmultiplikator in der Praxis ist in der Regel geringer als der<br />

maximal mögliche Koeffizient, weil die Möglichkeiten zur Kreditschöpfung als<br />

Basis der Geldschöpfung nicht vollständig ausgenützt werden.<br />

Der Geldschöpfungsmultiplikator aufgrund der empirischen Daten lässt sich wie<br />

folgt bestimmen:<br />

bzw .<br />

M = m × B<br />

1 1<br />

wobei:<br />

m = Geldschöpfungsmultiplikator<br />

M1 = Geldmenge M1<br />

B = Geldbasis oder Monetäre Basis (B) nach dem Geldbasis-<br />

konzept: Summe der Zentralbankbestände der Geschäfts-<br />

banken und des Bargeldumlaufs bei den Nichtbanken (die<br />

Kassenbestände der Geschäftsbanken werden nicht ins Kalkül<br />

einbezogen).<br />

Die Geldmengen entstehen in Folge der Bereitstellung von Geldbasis (monetäre<br />

Basis) durch die Zentralbank (im Eurogebiet-12 durch die EZB und die nationalen<br />

Zentralbanken). Dies dient als Grundlage der Geld- und Kreditschöpfung durch<br />

die Geschäftsbanken. Die EZB führt dem System der Geschäftsbanken Liquidität<br />

zu, um Transaktionen zu ermöglichen. Auf der anderen Seite schöpft sie Liquidität<br />

in der Form von Mindestreserven ab, um eine möglichst zielkonforme Geldmengenentwicklung<br />

zu erreichen.<br />

M 1 2480,5<br />

- Bargeld 361,5 c = 0,15575<br />

- Täglich fällige Sichteinlagen . 2119,0 r = 0,02<br />

- Davon ca. 2 % Mindestreserven 42,4<br />

- Basisgeld (monetäre Basis) 515,2<br />

m1<br />

- effektiver Geldschöpfungsmultiplikator: M 1/Basisgeld = 4,81<br />

- theoretisch möglich (Geldschöpfungsmultiplikator):<br />

m =<br />

1<br />

0,<br />

15575<br />

1<br />

=<br />

+ 0,<br />

02(<br />

1−<br />

0,<br />

15575)<br />

5,<br />

793.<br />

91


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Ein entsprechender Koeffizient lässt sich auch für M 2 und M3 berechnen. Dabei<br />

stellt die Annahme einer Mindestreserve von durchschnittlich zwei Prozent eine<br />

Approximation dar:<br />

M 2 5098,2<br />

- Bargeld 361,5 c = 0,0709<br />

- Einlagen bei Geschäftsbanken* 4736,7 r = 0,02<br />

- Davon ca. 2 % Mindestreserven 94,7<br />

- Basisgeld (monetäre Basis) 515,2<br />

* M2 ./. Bargeld.<br />

m2<br />

- effektiver Geldschöpfungsmultiplikator: M 2/Basisgeld = 9,895<br />

- theoretisch möglicher Geldschöpfungsmultiplikator:<br />

M 3 5987,6<br />

- Bargeld 361,5 c = 0,0603<br />

- übrige Komponenten M3 5626,1 m = ca. 0,02<br />

- Basisgeld 515,2<br />

m3<br />

- effektiver Geldschöpfungsmultiplikator: M 3/Basisgeld = 11,621<br />

- theoretisch möglicher Geldschöpfungsmultiplikator:<br />

Im Juli 2003 lagen die entsprechenden Koeffizienten unter den theoretisch möglichen<br />

Geldschöpfungsmultiplikatoren. Die Kreditbanken schöpfen damit nicht<br />

den gesamten Spielraum für die Kreditvergabe aus, sondern bewahren sich einen<br />

Teil der Zentralbankliquidität als Liquiditätsreserven, was auch für die laufenden<br />

Zahlungsüberweisungen erforderlich ist.<br />

4. Kritik<br />

m =<br />

2<br />

m<br />

=<br />

3<br />

0,<br />

0709<br />

0,<br />

0603<br />

1<br />

= 11,<br />

175.<br />

+ 0,<br />

02(<br />

1−<br />

0,<br />

0709)<br />

1<br />

+ 0,<br />

02(<br />

1−<br />

0,<br />

0603)<br />

=<br />

12,<br />

643.<br />

92


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der theoretisch abgeleitete Phillips-Multiplikator zeigt lediglich, wie viel Kredite<br />

bzw. Geld sich maximal schöpfen lassen und gibt keine Hinweise auf die faktische<br />

Geld- und Kreditschöpfung durch die Kreditbanken, welche im Kontext eines<br />

umfassenden Portefeuilleverhaltens der Geschäftsbanken erfolgen. Vor allem<br />

werden keine Liquiditätsüberlegungen der Banken berücksichtigt. Es gehen<br />

in den<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Die Bargeldquote (c) begrenzt - Diese These trifft nicht zu (d M1) bzw. diese ist<br />

das Geldmengenwachstum nicht signifikant zu belegen (d M2 und d M3), indem<br />

offenbar stets genügend Zentralbankliquidität<br />

(monetäre Basis) bzw. Geldbasis) zur Verfügung<br />

gestellt wird, um der Bargeldnachfrage des Publikums<br />

zu entsprechen. Diese Überlegung entspricht<br />

dem erweiterten Geldbasiskonzept (vgl. Kapitel<br />

6.4.).<br />

2. Die Mindestreserven begrenzen - Diese These trifft für d M1 zu (nicht jedoch<br />

das Geldmengenwachstum. für d M2 und d M3).<br />

3. Eine Erhöhung der Liquiditätszu- - Ein entsprechender Zusammenhang trifft d M1<br />

Führung durch die EZB erhöht das (1) zu, nicht jedoch für d M2 und d M3.<br />

Wachstum der Geldmengen<br />

4. Die Geldmengenentwicklung - Ein entsprechender Zusammenhang<br />

hängt nach dem Phillips- ist nicht erkennbar.<br />

multiplikator von der Liquidi-<br />

tätszuführung, der Bargeldquote und<br />

dem Mindestreservesatz ab.<br />

Geld- und Kreditschöpfungsmultiplikator keine Verhaltensparameter ein. In der<br />

Praxis sind die Koeffizienten des Multiplikators sind keine „technologischen<br />

Konstanten“, 147 sondern stehen unter anderem auch in einem Zusammenhang mit<br />

den Zinsen. 148 Der Phillipsmultiplikator hätte zudem keine besondere Aussagekraft,<br />

wenn die Basisgeldmenge (monetäre Basis) endogen an die Geldnachfrage<br />

angepasst würde. 149<br />

147 Vgl. Niehans, Jürg, Theorie des Geldes, a.a.O., S. 314.<br />

148 Vgl. Brunner, Karl, und Meltzer Allan, Liquidity traps for money, bank credit, and interest rates. In: Journal of Political<br />

Economy, 76(1), 1968, S. 1-37.<br />

149 Eine Endogenisierung der Geldbasis (monetäre Basis) enthält das Geldangebotsmodell von Jan Tinbergen (1937).<br />

Bei diesem Ansatz können die Geschäftsbanken je nach der Inanspruchnahme von Zentralbankkrediten den Umfang<br />

der monetären Basis und damit die Geldmenge bestimmen.<br />

93


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

III. Das Kreditmarktmodell<br />

Das Kreditmarktmodell wurde von K. Brunner 150 und A. Meltzer entwickelt. Dieses<br />

versucht die Kritik an der rein mechanistischen Bestimmung des Geldangebotes<br />

mit Hilfe des Geld- bzw. Kreditschöpfungsmultiplikators zu überwinden.<br />

Das Verhalten der am Geldschöpfungsprozess beteiligten Akteure (Banken und<br />

Nichtbanken) wird in einem neuen Ansatz integriert, wobei sich der Kreditmarkt<br />

mit der multiplen Buchgeldschöpfung simultan verbindet. Die Grundidee besteht<br />

darin, die von den Geschäftsbanken geschaffenen Kredite in Beziehung zur<br />

Kreditnachfrage und zum Kreditangebot zu setzen und daraus die Geldmenge<br />

abzuleiten.<br />

Das Kreditmarktmodell erklärt das Kreditangebotsverhalten der Geschäftsbanken<br />

sowie die Kreditnachfrage der Nichtbanken. Der Kreditmarkt wird als Markt<br />

für Bankkredite verstanden. Der Marktzins bestimmt endogen das Kreditangebot<br />

und die Kreditnachfrage. 151 Daraus entsteht – als endogener Prozess – die<br />

Kreditmenge, woraus sich wiederum die Geldmenge ableiten lässt.<br />

Die gesamten Prozesse finden im Kreditmarkt und dessen Zusammenspiel mit<br />

dem Geldmarkt statt. Das Kreditmarktmodell unterscheidet sich grundlegend<br />

vom Modell des Phillipsmultiplikators. 152 Der Kreditmarkt wird als eigenständiger<br />

Markt mit speziellen Eigenschaften betrachtet, welcher zusammen mit dem<br />

Geldmarkt eine zentrale Rolle im Geldangebotsprozess spielt. 153<br />

Prämissen<br />

- Das Kreditmarktmodell stellt ein preistheoretisches Modell dar, bei welchem<br />

der Zins als Preis funktioniert. Der Zinssatz entsteht nicht am keynesianischen<br />

Geldmarkt, sondern wird durch den Markt für Bankkredite bestimmt, wo die<br />

Giralgeldschöpfung und damit verbunden die Erhöhung der Geldmenge erfolgt.<br />

- Die Geld- und Kreditschöpfung wird als zweistufiger Prozess mit einem Kreditmarkt<br />

und einem Geldmarkt erklärt. Diese beiden Märkte sind miteinander<br />

verbunden. Dabei reguliert der Zins Angebot und Nachfrage bei beiden Märkten.<br />

150 Vgl. Brunner, Karl, und Meltzer, Allan, Credit-Market Theory of the Money Supply and an Explanation of Two<br />

Puzzles in US-Monetary Policy. In: Bagiotti, Tullio (Hrsg.), Investigations in Economic Theory and Methodology; Essays<br />

in Honor of Marco Fanno, Vol. II, Padovy 1966, S. 151-176. ; vgl. Brunner, Karl, Zwei alternative Theorien des<br />

Geldangebotsprozesses: Geldmarkt- versus Kreditmarkt. In: Brunner, Karl, Monissen, Hans, Neumann, Manfred<br />

(Hrsg.), Geldtheorie, Köln 1974, S. 114-148.<br />

151 Vgl. Issing, Otmar, Einführung in die Geldtheorie, 1998, S. 81.<br />

152 Vgl. Brunner K. Theorien, 1974, S. 145.<br />

153 Vgl. Brunner, Karl, Zwei alternative Theorien des Geldangebotsprozesses: Geldmarkt- versus Kreditmarkttheorie.<br />

In: Brunner, K., Monissen, H., u.a. (Hrsg.), Geldtheorie, Köln 1974, S. 114.<br />

94


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Mit diesem preistheoretischen Modell werden einige Kritikpunkte am traditionellen<br />

Phillipsmultiplikator berücksichtigt; dazu zählt vor allem die Berücksichtigung<br />

von Grenznutzen- und Grenzkostenüberlegungen.<br />

- Als Akteure wirken die Geschäftsbanken, welche Kredite anbieten, und die privaten<br />

Nichtbanken, welche Kredite nachfragen.<br />

( 22)<br />

K = K ( i).<br />

N N<br />

( 23)<br />

K = K ( i).<br />

A A<br />

( 24)<br />

K =<br />

N<br />

K<br />

A<br />

.<br />

- Ein weiterer Akteur ist die Zentralbank, welche unlimitiert Zentralbankliquidität<br />

zu einem festgelegten Diskontsatz anbieten.<br />

- Es erfolgt eine preistheoretische Analyse des Kreditmarktes. Sowohl die Kreditnachfrage<br />

als auch das Kreditangebot sind zinselastisch. Der Zins führt zu einem<br />

Ausgleich von Kreditnachfrage und Kreditangebot. Die Kreditnachfrage entspricht<br />

dem Grenznutzen des Kredits für den Kreditnehmer und das Kreditangebot<br />

den Grenzkosten der Geschäftsbanken für die Bereitstellung von Krediten.<br />

- Die Kreditkosten setzen sich wie folgt zusammen: (1) Eine Komponente sind die<br />

Refinanzierungskosten für die Bereitstellung der Kredite, wobei unbeschränkt<br />

Repokredite zum aktuellen Reposatz zur Verfügung. Das Kreditangebot und das<br />

Geldangebot der Banken sind damit vollkommen zinselastisch. (2) Ein weiteres<br />

Element sind die Kosten der Geschäftsbanken für die Bearbeitung und die<br />

Überwachung der Kreditverträge. Die entsprechenden Grenzkosten sollen – als<br />

Annahme – U-förmig verlaufen. Betrachtet wird nur der ansteigende Ast der<br />

Grenzkosten; dieser setzt sich aus konstanten Grenzkosten der Refinanzierung<br />

und dem Ast der ansteigenden Grenzkosten der Kreditsachbearbeitung zusammen.<br />

95


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Grenzkosten der Bereitstellung von Krediten<br />

(Grenz-<br />

i Totale Grenzkosten der Kreditbereitstellung (Re-<br />

finanzierung und Kreditbearbeitung)<br />

Grenzkosten der Kreditbearbeitung<br />

Refinanzierungskosten der Geschäftsbanken<br />

kosten)<br />

0 Kreditmenge<br />

- Es existiert zudem ein Geldmarkt mit einer zinselastischen Geldnachfrage und<br />

einem zinselastischen Geldangebot.<br />

( 25)<br />

( 26)<br />

M<br />

D<br />

M<br />

S<br />

−<br />

= M ( i ).<br />

D<br />

+<br />

= M ( i ).<br />

S<br />

( 27)<br />

M ( i)<br />

= M ( i).<br />

D S<br />

- Es wird von der Annahme ausgegangen, dass die von den Geschäftsbanken gewährten<br />

Kredite vollumfänglich als Geld nachgefragt werden. 154<br />

- Die KN-Kurve und die MD-Kurve verlaufen spiegelbildlich zur Zinsachse (i).<br />

- Der Schnittpunkt zwischen der Geldangebots- und der Geldnachfragekurve<br />

ergibt die Geldmenge. Es besteht ein unmittelbarer Zusammenhang zwischen<br />

dem Kreditmarkt und dem Geldmarkt.<br />

154 Diese Sicht ist typisch für die Money View, indem das Zentralbankgeld vollständig in Geld beim Publikum transformiert<br />

wird. Untypisch ist allerdings die passive Rolle der Zentralbank, welche die von den Geschäftsbanken nachgefragte<br />

monetäre Basis (Geldbasis) ohne Restriktionen zur Verfügung stellt. Andererseits flieβt das Zentralbankgeld<br />

durch den Kreditkanal (ohne Unvollkommenheiten), was wiederum typisch für die Credit View ist.<br />

96


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Annahmen über die Bargeldquote und die Mindestreserven erfolgen keine.<br />

Zudem gibt es keine Aussagen über die „Technik“ der Entstehung und Vernichtung<br />

von Zentralbank und Giralgeld.<br />

b. Das Modell<br />

Fall 1: Das Standardmodell und eine Erhöhung der Kreditnachfrage<br />

Wobei:<br />

i<br />

MS MD’ MD KN KN’ KA<br />

MS, MD M1 M0 0 K0 K1 KN, KA<br />

MS = Geldangebot<br />

MD = Geldnachfrage<br />

M = Geldmenge<br />

i = Zinssatz<br />

KA = Kreditangebot<br />

KN = Kreditnachfrage.<br />

i1<br />

i0<br />

Bei einer Kreditnachfrage von KN und einem Kreditangebot von KA ergeben sich<br />

eine Kreditmenge von K0, eine Geldmenge von M0 und ein Zins von i0. Steigt die<br />

Kreditnachfrage auf KN‘, resultieren eine Kreditmenge von K1, eine Geldmenge<br />

von M1 und ein Zinssatz von i1.<br />

Zu Änderungen bei den Ergebnissen (Kreditmenge, Geldmenge, Zinsen) kommt<br />

es auch durch eine Veränderung des Kreditangebotes (beispielsweise eine Änderung<br />

des Reposatzes) oder eine Veränderung der Kreditnachfrage.<br />

97


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Fall 2: Die Erhöhung des Reposatzes<br />

i<br />

MS MD MD’ KN KA’ KA<br />

MS, MD M0 M1 0 K1 K0 KN, KA<br />

i1<br />

i0<br />

Bei einer Erhöhung des Reposatzes verschiebt sich die Kreditangebotskurve von<br />

KA zu KA’ und die Geldnachfragekurve von MD zu MD’. Die Kreditzinsen steigen<br />

und die Kreditmenge sinkt, wie auch die Geldmarktzinsen steigen und die Geldnachfrage<br />

sinkt. Die umgekehrte Wirkung tritt ein, wenn der Reposatz gesenkt<br />

wird (nicht eingezeichnet).<br />

Aufgrund dieses Modells erscheint eine Veränderung des Reposatzes als ein wirkungsvolles<br />

Instrument, um die Geldmenge zu beeinflussen. Bei einer wirtschaftlichen<br />

Depression ist es allerdings auch möglich, dass die Kreditmenge<br />

trotz sinkender Zinsen nicht steigt (vertikale KN-Kurve).<br />

Kritik<br />

In der ursprünglichen Formulierung gingen Brunner und Meltzer nicht davon<br />

aus, der Zins des Geldmarktes würde vom Geldmarkt bestimmt. Vielmehr bilden<br />

sich auf dem Kreditmarkt die Kreditmarktsätze, während sich beim Geldmarkt<br />

spezielle Geldmarktsätze ergeben, welche wiederum einen Einfluss auf die Kapitalmarktzinsen<br />

haben. 155<br />

155 Den Kapitalmarktzinsen liegt das Konzept des Tobinschen q zugrunde. Brunner geht davon aus, dass „ … die mit<br />

dem die Transaktionen dominierenden Aktivum, d.h. dem Geld, verbundenen Substitutionsbeziehungen nicht auf<br />

eine kleine Unterklasse von Aktiva (Geld versus Bonds) beschränkt sind, sondern sich über das ganze Spektrum an<br />

98


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das dargestellte Kreditmarktmodell entspricht einer aktuellerweise häufig präsentierten<br />

Form, jedoch nicht der ursprünglichen Formulierung durch Brunner<br />

und Meltzer. Daraus ergeben sich zahlreiche Kritikpunkte.<br />

Positiv zu beurteilen ist die preistheoretische Analyse des Kreditmarktes und des<br />

Geldmarktes. Damit lassen sich die Auswirkungen einer Veränderung der Kreditnachfrage<br />

und des Kreditangebotes auf die Zinsen, die Kreditmenge und die<br />

Geldmenge analysieren.<br />

Problematisch ist die Ableitung der Geldmenge aus dem Kreditmarkt. Die von<br />

den Geschäftsbanken zur Verfügung gestellten Kredite gelangen nicht zwangsläufig<br />

auch vollumfänglich auf den Geldmarkt, sondern lassen sich in vielfältiger<br />

Weise verwenden (beispielsweise zu Giroüberweisungen, für Investitionen oder<br />

zum Kauf von Wertpapieren). Die unmittelbare Verquickung des Kreditmarktes<br />

mit dem Geldmarkt ist wenig realistisch.<br />

Das Kreditmarktmodell geht von identischen Zinsen beim Kreditmarkt und dem<br />

Geldmarkt aus. Diese Annahme ist wenig sinnvoll, denn die Zinsen des Kreditmarktes<br />

und der Geldmärkte sind nicht identisch. Dies wäre nur unter der Bedingung<br />

vollkommener Kredit- und Geldmärkte ohne Gewinnmargen, Transaktionskosten<br />

und Bonitätsrisiken der Fall. In der Praxis spielen Risikozuschläge<br />

eine Rolle, wie diese in der Praxis – je nach der Bonität der Schuldner – üblich<br />

sind. Die Banken kalkulieren neben den Refinanzierungs- und Kreditbearbeitungskosten<br />

auch spezifische Risikozuschläge aufgrund der individuellen Kreditrisiken,<br />

welche in der Kreditangebotskurve nicht enthalten sind. Zudem müssten<br />

identische Kredit- und Geldmarktzinssätze auch identische Laufzeiten haben,<br />

was nicht zutrifft.<br />

Damit arbeitet der Kreditkanal in der Praxis unter wesentlich komplexeren Rahmenbedingungen<br />

als im vorliegenden Kreditmarktmodell. Zudem erfolgt das<br />

Kreditangebot meist als Mischfinanzierung durch den Geldmarkt sowie den Kapitalmarkt<br />

und reagiert nicht nur auf die Reposätze, sondern auch auf die Kapitalmarktzinsen.<br />

156<br />

Aktiva erstrecken“. Brunner, Karl, Theorien, 1974, S. 131. Der Theorie von Brunner und Meltzer liegt der Transmissionsmechanismus<br />

der relativen Preise zugrunde.<br />

156 Die Betrachtung des Kreditmarktmodells erfolgt eigentlich auf der Basis der money view, müsste aber auf der Basis<br />

der credit view erfolgen.<br />

99


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Die Kreditnachfrage ist - Diese These ist nicht zu belegen.<br />

zinselastisch<br />

2. Bei einer steigenden Kredit- - Diese These trifft zu.<br />

nachfrage erhöhen sich auch<br />

die Zinsen.<br />

Weitere Thesen zur Kreditnachfrage:<br />

3. Die Kreditnachfrage steigt - Diese These trifft zu. Die Kredite der Geschäftsbanken steigen mit<br />

in Folge des wirtschaft- zunehmenden Wachstumsraten des BIP real schneller (und umge-<br />

lichen Wachstums (Ver- kehrt, von einem lag von zwei Monaten).<br />

schiebung der Kredit-<br />

nachfragekurve)<br />

4. Die Erhöhung des Preis- - Eine Erhöhung der Inflationsrate wirkt sich leicht negativ auf<br />

niveaus bzw. der Inflations- das Wachstum der Kredite aus (möglicherweise wegen der steigen-<br />

rate führt zu einer den Zinsen).<br />

Erhöhung der Kredit-<br />

nachfrage<br />

Das Kreditangebot<br />

5. Das Kreditangebot ist zins- - Diese These trifft zu (dlog(Zins3mt(1)).<br />

elastisch (Verschiebung<br />

auf der Kreditkurve)<br />

Weitere Thesen zum Kreditangebot:<br />

6. Eine Erhöhung der Liquidi- - Diese These trifft nicht zu.<br />

tätszuführung durch die<br />

EZB führt zu einer Erhöhung<br />

des Kreditangebotes der<br />

Geschäftsbanken (Verschie-<br />

bung der Kreditkurve)<br />

Die Umwandlung von Krediten in Geldmengen<br />

7. Die gewährten Kredite - Dies trifft für log(M1), log (m2) und log(m3) zu (mit Koeffizien-<br />

führen zu einer Erhöhung ten < 0,10).<br />

der Geldmenge.<br />

8. Die Veränderungsrate der - Diese These für nur für d M2 und d M3 zu (mit Koeffizienten <<br />

Kreditmengen beeinflusst 0,10).<br />

die Veränderungsraten der - Bei d M1 ist der Zusammenhang leicht negativ.<br />

Geldmengen.<br />

100


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

IV. Das erweiterte Geldbasiskonzept<br />

Die einfache Geldbasis (monetäre Basis) wird durch die Zentralbank bestimmt<br />

(Münzen, Banknoten, Guthaben der Geschäftsbanken bei der Zentralbank). Die<br />

„erweiterte“ Geldbasis wird nicht nur durch die Zentralbank bestimmt, sondern<br />

unterliegt auch dem Verhalten weiterer geldpolitischer Akteure. 157 Da zählen die<br />

„privaten Nichtbanken“ (Haushalte und Unternehmen), die staatlichen Haushalte<br />

und das Ausland.<br />

- Die öffentlichen Haushalte halten Guthaben bei den nationalen Zentralbanken,<br />

welche nicht zur Geldmenge gezählt werden; durch die Ausgaben und Einnahmen<br />

der öffentlichen Haushalte im Verkehr mit den Geschäftsbanken beeinflussen<br />

sie jedoch die monetäre Basis (Geldbasis), indem sie Mittel in Umlauf bringen.<br />

Ähnliches trifft zu, wenn die Zentralbanken Wertpapiere der öffentlichen<br />

Haushalte von den Nichtbanken kaufen oder an diese verkaufen.<br />

- Die Nichtbanken nehmen durch die Bargeldhaltung (c) Einfluss auf die monetäre<br />

Basis (Geldbasis). Wesentliche Faktoren der Bargeldhaltung sind die Zahlungssitten<br />

und die Neigung, Bargeld als Teil des Vermögens zu halten.<br />

- Die Geschäftsbanken beeinflussen die Geldbasis (monetäre Basis) durch die<br />

Kreditvergabe. Sofern dies zu einem Verlust an Bargeld an die Nichtbanken und<br />

zur Beanspruchung von weiterem Zentralbankgeld (beispielsweise für Mindestreserven)<br />

führt, verändert sich die Geldmenge.<br />

- Auch das Ausland kann die Währung des Inlandes nachfragen. So beeinflusst<br />

beispielsweise die (erhebliche) Bargeldnachfrage im Ausland nach Euro die<br />

Geldbasis (monetäre Basis).<br />

V. Die Geldschöpfung der internationalen Geldmärkte (Euromärkte)<br />

1. Die Wicksellsche Idealbank<br />

Die Zentralbanken weisen immer wieder die Gefahr des „Entstehens einer<br />

Wicksellschen Idealbank“ mit der Möglichkeiten einer unbegrenzten Geldschöpfung<br />

hin, wenn beispielsweise Finanzinnovationen zur Substitution von Bargeld<br />

und zur Umgehung der Mindestreservepflicht führen. 158 Es wird vor allem die<br />

157 Vgl. Issing, Otmar, Geldtheorie, 11. Auflage, S. 72 ff.<br />

158 Vgl. Friedman, Milton, The Eurodollar market: some first principles. In: Morgan Guarantee Survey, S. 4-14, 1969.<br />

101


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Gefahr einer auβer Kontrolle geratenen Inflation und ein möglicher Crash des<br />

Geldsystems gesehen.<br />

Die Grundvorstellung der Wicksellschen Idealbank geht von den folgenden Annahmen<br />

aus: Ein Land mit nur einer Bank, keine Mindestreserven (r = 0) sowie<br />

kein Bargeld (c=0). Sämtliche Zahlungen erfolgen durch Banküberweisungen.<br />

Selbst wenn die Zentralbank keine monetäre Basis zur Verfügung stellt, ist in<br />

diesem Fall eine unbeschränkte Entwicklung der Geldmengen möglich. Bei c = 0<br />

und r = 0 kommt nach Formel des Phillipsmultiplikators ein unendlicher Geldschöpfungsmultiplikator<br />

zustande:<br />

1<br />

1<br />

m =<br />

bzw.<br />

→ nicht lösbar bzw.<br />

unendlich.<br />

1 c + r(<br />

1 − c)<br />

0 + 0(<br />

1 − 0)<br />

Auch nach den theoretischen Überlegungen von John M. Keynes kann es innerhalb<br />

eines geschlossenen Bankensystems (ohne Bargeldhaltung und ohne den<br />

Abfluss von Bankenguthaben ins Ausland) zu einer Schaffung von Bankengeld<br />

in unbegrenzter Höhe kommen. Die Banken können soviel Geld schöpfen, als sie<br />

Sichtguthaben entgegen nehmen. 159<br />

2. Die Wicksellsche Idealbank (bei mehreren Banken)<br />

Eine Art von Wicksellscher Idealbank kann sich auch bei mehreren Banken ergeben,<br />

sofern die privaten Nichtbanken keine Kasse (kein staatlich emittiertes Bargeld)<br />

halten und die Geschäftsbanken keine Mindestreserven bei der Zentralbank<br />

hinterlegen müssen.<br />

Das Kreditverhalten der Banken (oder der professionellen Geldverleiher) ist –<br />

nur zu Beginn – durch das vorhandene Kapital begrenzt. Beherrschen die Banken<br />

das gesamte Zahlungswesen, können sie das erforderliche Geld schöpfen, bzw.<br />

die Geldumlaufsgeschwindigkeit ad libitum steigern. Mit anderen Worten<br />

schafft sich die Geldnachfrage ihr eigenes Geldangebot. In einem reinen Kreditsystem,<br />

in welchem alle Zahlungen durch die Banken ausgeführt würden, können<br />

die Banken jederzeit jeden nur beliebigen Kreditbetrag zu einem beliebigen<br />

Zinssatz bereitstellen. 160 In diesem Fall ist keine Geldbasis (monetäre Basis) er-<br />

159 Vgl. Keynes, John M., A Treatise on Money, 1930. Deutsche Übersetzung Krämer, C., Vom Gelde, München 1932, S.<br />

21.<br />

160 Wicksell, Knut, The Influence of the Rate of Interest on Prices. In: Economic Journal XVII (1907). Read before the<br />

Economic Section of the British Association, 1906, S. 213-220, (eigene Übersetzung).<br />

102


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

forderlich, und die privaten Banken können sich – im Rahmen der von ihnen<br />

bereitgestellten Finanzaktiven – einer Regulierung der Geldmengen entziehen. 161<br />

Sind nun die Kreditzinsen im Verhältnis zu den Kapitalprofiten gering, und steigen<br />

die Preise steigen, benötigt der Handel mehr Münzen und Banknoten. Deshalb<br />

wird nicht das gesamte von den Banken geschaffene Kreditgeld auch wieder<br />

zu den Banken zurückkehren, sondern ein Teil davon wird in Form von Bargeld<br />

bei Publikum verbleiben. Die Liquidität der Banken wird dahin schmelzen. 162<br />

3. Die Eurodollarmärkte<br />

Als ein besonderes Beispiel einer Wicksellsche Idealbank (mit mehreren Banken)<br />

wurden während einiger Zeit die sog. Xenomärkte (beispielsweise die Euromärkte<br />

des US-Dollars) betrachtet. 163 Xenomärkte sind Finanzmärkte auβerhalb des<br />

eigentlichen Währungsgebietes, auch off-shore Märkte genannt. Von<br />

Xenomärkten wird gesprochen, wenn Marktteilnehmer Währungen bei Geschäftsbanken<br />

auβerhalb des eigentlichen Währungsgebietes halten.<br />

Bei den Xenomärkte besteht keine Kassenhaltung der Nichtbanken, und in der<br />

Regel müssen auch keine Mindestreserven hinterlegt werden. Deshalb kommt es<br />

– theoretisch betrachtet – zur Gefahr des Entstehens einer Wicksellschen Idealbank<br />

mit einer unbegrenzten Geldschöpfung.<br />

Allerdings zeigen sich in der Praxis zwei Phänomene, welche die Geld- und Kreditschöpfung<br />

der Xenomärkte begrenzen:<br />

(1) Die Geschäftsbanken unterlegen die Xenomarkteinlagen, bedingt durch die<br />

Risiken und der Pflicht zur Unterlegung von Krediten, mit Eigenkapital. Die Verfügbarkeit<br />

von Eigenkapital begrenzt damit die möglichen Euromarkteinlagen.<br />

Werden die Euromarkteinlagen beispielsweise mit vier Prozent Eigenkapital unterlegt,<br />

kann maximal das 25-fache des verfügbaren Eigenkapitals an Euromarkteinlagen<br />

entgegen genommen werden. Ähnlich wie die Mindestreserven über<br />

Zentralbankgeld finanziert werden müssen, ist die Unterlegung mit Eigenkapital<br />

mit Eigenkapital der Bank (e) zu finanzieren.<br />

(2) Diese relativ groβe Geld- und Kreditschöpfung würde sich nur dann ereignen,<br />

wenn keine solchen Einlagen aus dem Xenomarktsystem in das eigentliche Wäh-<br />

161 Ähnliches trifft für elektronische Zahlkarten (pay cards oder debit cards) zu, welche das Bargeld ersetzen (sofern<br />

diese nicht mindestreservepflichtig sind).<br />

162 Vgl. Wicksell, Knut, The Influence of the Rate of Interest on Prices. In: Economic Journal XVII (1907). Read before<br />

the Economic Section of the British Association, 1906, S. 213-220, (eigene Übersetzung).<br />

163 Vgl. auch den Artikel Euromärkte, in HdWW, 1980.<br />

103


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

rungsgebiet abfließen würden. In der Regel werden jedoch über die<br />

Xenomärkte Kredite bereitgestellt, welche letztlich in den eigentlichen Währungsgebieten<br />

Verwendung finden. Das Abflieβen von Einlagen aus den<br />

Xenomärkten (a) hat ähnliche Wirkungen wie die Bargeldhaltung der Nichtbanken<br />

in einem Währungsgebiet, welche ebenfalls zu einem Abflieβen von monetärer<br />

Basis aus dem Bankensystem führt.<br />

In Folge lässt die Geld- und Kreditschöpfung der Xenomärkte mit der Hilfe des<br />

Phillipsmultiplikators berechnen, wobei anstelle der Mindestreserven (r) die Eigenkapitalunterlegung<br />

(e) und anstelle der Bargeldhaltung (c) das Abflieβen von<br />

Geldern (a) eingesetzt wird.<br />

Der Geldmultiplikator lautet in diesem Fall:<br />

( 20)<br />

Beispiel:<br />

m<br />

Euromarkt<br />

1<br />

= .<br />

a + e(<br />

1−<br />

a)<br />

e (Unterlegung mit Eigenkapital) 0,04 (4 Prozent der Euromarkteinlagen)<br />

a (abfließende Euromarkteinlagen) 0,10 (10 Prozent der Euromarkteinlagen)<br />

1<br />

m<br />

=<br />

≈ 7,<br />

35.<br />

0,<br />

04 + 0,<br />

10(<br />

1−<br />

0,<br />

04)<br />

In diesem Beispiel entspricht der Geldschöpfungsmultiplikator in etwa jenem<br />

des Euro-Währungsgebietes. Zu einer wesentlichen Entschärfung der Geldschöpfungsproblematik<br />

der Euromärkte führen auch die Deregulierung der Binnenmärkte<br />

(beispielsweise die Aufhebung von Höchstzinsvorschriften) und die Verzinsung<br />

der Mindestreserven der Geschäftsbanken. 164 Dies senkt die Attraktivität<br />

der Euromärkte auβerhalb der Binnengeldmärkte und reduziert das Abflieβen<br />

einzelner Währung in Xenomärkte.<br />

164 Dies ist in den USA und dem Eurowährungsgebiet der Fall.<br />

104


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 7. Die Zinstheorie<br />

Überblick<br />

„Es ist vielleicht nicht zu viel gesagt, wenn man behauptet, dass die Bedeutung,<br />

die ein Nationalökonom dem Zins als Regulator der wirtschaftlichen<br />

Entwicklung beimisst, vielleicht das beste Kriterium für sein theoretische<br />

Einsicht ist.“ 165<br />

Aufgabe der Zinstheorie ist es, „ … zu erklären, wie sich die verschiedenen Zinssätze<br />

bilden, und auf welche Höhe sie sich einstellen“. 166 Zinsen sind eine Entschädigung<br />

für Geld, Kredit und Kapital, welche zur Verfügung gestellt werden,<br />

d. h. eine Vergütung für die Nutzung eines Vermögensgegenstandes. 167<br />

Nach Irving Fisher ist zwischen dem Zins und dem Zinsfuβ bzw. dem Zinssatz zu<br />

unterscheiden. Der Zins ergibt sich aus der Multiplikation des Kapitalwertes mit<br />

dem Zinsfuβ. 168 Dabei ist der Zins eine ökonomische Gröβe innerhalb eines ganzen<br />

Preissystems. 169 Der Zins bezieht sich auf eine bestimmte Periodenlänge, beispielsweise<br />

ein Jahr.<br />

In der Praxis gibt es viele Arten von Zinsen, so beispielsweise<br />

- Sollzinsen und Habenzinsen, je nachdem, ob es sich um Kredite oder Guthaben<br />

handelt.<br />

- Zinsen zwischen der Zentralbank und den Geschäftsbanken, Zinsen zwischen<br />

den Geschäftsbanken, Zinsen zwischen den Geschäftsbanken und den Privaten<br />

sowie Zinsen zwischen privaten Wirtschaftssubjekten und anderen privaten<br />

Wirtschaftssubjekten. Interne Zinsen diskontieren die künftigen Erträge und setzen<br />

diese in einen Bezug zum eingesetzten Kapital.<br />

165 Von Hayek, Friedrich August, Geldtheorie und Konjunkturtheorie, Beiträge zur Konjunkturforschung, hrsg. vom<br />

österreichischen Institut für Konjunkturforschung, Nr. 1, 1929, S. 119.<br />

166 Lutz, Friedrich A., Artikel „Zins“. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften. Göttingen 1965, S. 435.<br />

167 Nach Friedrich A. Lutz wird „ … unter Zins … die Vergütung verstanden, die ein Darlehensnehmer für die zeitweilige<br />

Benutzung einer Wertsumme zahlt, die am häufigsten Geldform hat, aber auch Güterform haben kann“. Vgl.<br />

Lutz, Friedrich A., Artikel Zins. In: Handbuch der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften, Band 12, Göttingen 1965, S.<br />

434 (S. 434-452); sowie ders., Artikel Faktorpreisbildung II: Zinstheorie. In: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften,<br />

Band 2, 1980, S. 530-548.<br />

168 Vgl. Fisher, Irving, Die Zinstheorie, Jena 1932, S. 12.<br />

169 Vgl. Fisher, Irving, Die Zinstheorie, Jena 1932, S. 28.<br />

105


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Nominalzinsen (monetäre Zinsen), reale Zinsen (nominale Zinsen minus die<br />

Inflationsrate) und Güterzinsen (in realen Gütern). Bei den Zinsen handelt es<br />

sich meist um monetäre Gröβen. Möglich sind auch Güterzinsen als reale Größe,<br />

welche in Naturleistungen bestehen. 170<br />

- Zinsen des Geldmarktbereichs und solche des Kapitalmarktbereichs (im Extremfall<br />

mit unendlicher Laufzeit, wie beispielsweise bei den sog. Consols).<br />

Die Unterteilung nach Geldmarktzinsen und Kapitalmarktzinsen erfolgt in der<br />

Regel nach der Laufzeit der jeweiligen Finanzaktiven. Geldmarktzinsen beziehen<br />

sich nach der Geldmengendefinition der EZB auf Forderungen mit einer Laufzeit<br />

bis zu zwei Jahren, Kapitalmarktzinsen auf Titel mit einer ursprünglichen Laufzeit<br />

von zwei Jahren und mehr.<br />

Es gibt eine groβe Zahl von Zinstheorien, welche sich mit den Geld- und Kapitalmarktzinsen<br />

beschäftigen; einzelne davon sollen erörtert werden. Um einen<br />

ersten Überblick über einzelne Zinstheorien zu gewinnen, werden diese nach<br />

dem zeitlichen Bezug (Geld- und Kapitalmarkt) gegliedert. Damit lässt sich ein<br />

besserer Überblick erreichen und zudem erscheinen die einzelnen Zinstheorien<br />

bei einer solchen Gliederung weniger widersprüchlich.<br />

Der spätere Weg der Darstellung der Zinstheorien richtet sich allerdings weitgehend<br />

nach der chronologischen Entwicklung der einzelnen Zinstheorien.<br />

170 So bietet beispielsweise ein Wohnrecht einen Nutzen in Form eines „Güterzinses“ oder es sind Stromlieferungen<br />

als Entschädigung für Darlehen denkbar, welche an Kraftwerke gegeben werden.<br />

106


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Überblick über einzelne Zinstheorien<br />

i<br />

Geldmarkt Kapitalmarkt<br />

0 Laufzeit (t)<br />

Monetäre Zinstheorie Kreditmarkttheorie Kapitalmarkttheorie Reale Zinstheorie<br />

LM (ISLM-Modell) Kreditmarktmodell Klass. Zinstheorie E.von Böhm-Bawerk<br />

(§ 6/III.) (§ 5/III.) (§ 6/I.) (§ 6./II.)<br />

Knut Wicksell<br />

(§ 6/II.)<br />

Irving Fisher<br />

(§ 6/II.)<br />

IS (ISLM-Modell)<br />

(§ 6/III.)<br />

Zins als relativer Preis<br />

(§ 6/IV.)<br />

Vermischung von Geld- und Kreditmarkttheorie<br />

Loanable Funds-Theorie (§ 6/II.)<br />

ISLM-Modell (als ganzes) (§ 6/III.)<br />

Unter dem Aspekt der Laufzeiten: Die Zinsstrukturtheorie (§ 6/V.).<br />

I. Die klassische Zinstheorie<br />

Bei zahlreichen, lehrbuchmäβigen Darstellungen der sog. klassischen Zinstheorie<br />

dient der Kapitalmarkt als Bezugsrahmen, wo der Kapitalangebot (die Ersparnisse)<br />

und die Kapitalnachfrage (für Investitionen) aufeinander treffen. 171<br />

171 Vgl. Issing, 11. Aufl., S. 97 ff.<br />

107


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Prämissen<br />

Der Kapitalmarkt wird durch Investieren und Sparen geprägt. Die Investitionen<br />

sind von deren Grenzertrag, die Ersparnisse vom Kapitalreichtum eines Landes<br />

abhängig. Sowohl das Sparen als auch das Investieren sind zinsabhängig:<br />

( 28)<br />

I = I(<br />

i)<br />

und<br />

( 29)<br />

S = S(<br />

i).<br />

Ergebnisse<br />

Bei einer gegebenen Investitions- und Sparneigung ergibt sich ein Zins von i1.<br />

Der Zins i1 ist ein Gleichgewichtspreis, welcher das Angebot (S) und die Nachfrage<br />

(I) nach Ersparnissen, welche beide vom Zins abhängig sind, zum Ausgleich<br />

bringt.<br />

Erhöht sich die Sparneigung auf S2, findet ein Ausgleich von Sparen und Investieren<br />

bei einem niedrigeren Zins von i2 statt und die Investitionen steigen.<br />

108


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Dabei ändern „nach Ansicht der Klassiker … Sparen und Investieren nichts an<br />

der Tatsache, dass der Kreislaufstrom in Höhe der gesamten Einkommen durch<br />

die Nachfrage erhalten bleibt“. 172 Der Grund hierfür ist, dass das nicht für Konsum<br />

ausgegebene Einkommen durch die Kreditinstitute wieder den Kreditmärkten<br />

zugeführt wird. Bei einem gegebenen Einkommen ergänzen sich Sparen und<br />

Konsumieren zum gesamten Einkommen. Je höher der Zins ist, desto größer ist<br />

der Sparanteil und desto geringer ist der Anteil des Konsums. Der Konsum ist<br />

damit ebenfalls zinsabhängig.<br />

( 30)<br />

I, S<br />

i1<br />

i2<br />

−<br />

K = K(<br />

i ).<br />

Durch das Sparen entsteht also kein Nachfrageausfall, sondern eine Nachfrageverschiebung<br />

zwischen dem Konsum und den Investitionen.<br />

In der klassischen Zinstheorie wird der Zins durch den Kapitalreichtum eines<br />

Landes bestimmt. Je mehr gespart wird, desto niedriger ist der Zins (und umgekehrt).<br />

Auf längere Sicht wird der Zins als eine reale, in seiner Höhe durch güterwirtschaftliche<br />

Vorgänge bestimmte Gröβe verstanden. 173 Das Geld als reines<br />

Transaktionsmittel („Geldschleier“) kann die Zinsen des Kapitalmarktes vom<br />

Prinzip her nicht beeinflussen.<br />

172 Issing, Einführung …, S. 98.<br />

173 vgl. Issing, Einführung, S. 96.<br />

I S1 S2<br />

0 Zins<br />

109


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

In der langfristigen Entwicklung sinken die Zinsen tendenziell. Dies wird mit<br />

der steigenden Menge der zu produktiven Zwecken eingesetzten Kapitalgüter<br />

erklärt, 174 wobei nach dem klassischen Ertragsgesetz die Produktivität der zuletzt<br />

eingesetzten Kapitaleinheit sinkt, womit auch der Zins fällt. Mit den steigenden<br />

Investitionen steigen auch der erforderliche Arbeitseinsatz und die Lohnsumme.<br />

Das Geld hat nach Auffassung der klassischen Nationalökonomen langfristig<br />

keinen Einfluss auf die Zinsen. 175 Dies hängt mit der damals zugrunde liegenden<br />

Goldwährung zusammen, deren Produktion Kosten verursacht, womit das Gold<br />

Kapitalcharakter aufweist. Diese Auffassung gilt nicht für die Kreditzinsen: „Als<br />

Geld haben die Währungen keinen Einfluss auf die Zinsen, bei den Bankkrediten<br />

ist dies der Fall“. 176 Damit hat das Geldwachstum – in der Form von Bankkrediten<br />

– nur eine vorübergehende, kurzfristige Wirkung auf die Zinsen. Sobald<br />

die Nachfrage nach Gold- und Silbermünzen zufolge der gröβeren Bankkredite<br />

wieder steigt, erhöht sich auch der Zinssatz. 177<br />

Kritik<br />

- Zur Hauptkritik der klassischen Zinstheorie zählt die Vernachlässigung der<br />

Einkommenskomponente als Einflussfaktor des Sparens.<br />

- Zudem setzen die Wirtschaftssubjekte ihre Sparziele meist unabhängig vom aktuellen<br />

Zinssatz. Da bei hohen Zinsen eine geringere Sparsumme ausreicht, um<br />

ein festes Sparziel zu erreichen, wird in diesem Fall möglicherweise sogar weniger<br />

gespart als bei niedrigen Zinsen. Andererseits vergröβert sich das Einkommen<br />

der „reichen Leute“ bei hohen Zinsen, womit diese mehr sparen (Zinswirkung).<br />

- Auch die Höhe der Investitionen hängt nicht unbedingt nur von der Zinshöhe<br />

ab. Die Erwartungen der Investoren über künftige Erträge spielen ebenso eine<br />

maβgebliche Rolle bei der Höhe der Investitionen.<br />

174 Mill, John St., Principles of Political Economy with some of Their Application to Social Philosophy (1871). In deutscher<br />

Sprach: Grundsätze der politischen Őkonomie, Band 2, nach der Ausgabe letzter Hand, 7. Auflage 1871,<br />

übersetzt von Wilhelm Gehrig, Jena 1921, S. 365-369.<br />

175 Vgl. Hume David, Political Discourses, 1752, S. 296; Smith, Adam, An Inquiry into the Nature and Causes of<br />

Wealth of Nations, 1776, S. 354; Mill, John St., The Principles of Political Economcy; with some of their applications to<br />

social philosophy, 1848, S. 431.<br />

176 Mill, John St., The Principles of Political Economcy; with some of their applications to social philosophy, 1848, S.<br />

431.<br />

177 Vgl. Ricardo, David, High Pride of Bullion, 1810.<br />

110


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Auβerdem sind auch Einflüsse des Geldmarktes auf den Kapitalmarkt möglich.<br />

Dies findet in der klassischen Zinstheorie keine Berücksichtigung, was später<br />

in der neoklassischen Zinstheorie Knut Wicksell zum Ausdruck kommt.<br />

II. Die neoklassische Zinstheorie (Knut Wicksell, Loanable Funds-Theorie, E. von<br />

Böhm-Bawer, Irving Fisher)<br />

1. Eugen von Böhm-Bawerk<br />

Eugen von Böhm-Bawerk vertritt die Position der Produktivitätstheorie des Zinses.<br />

178 Er erweitert die „klassische Zinstheorie“ durch eine intertemporale Betrachtung<br />

und setzt verschiedene Zeitperioden miteinander in Beziehung. 179 Der<br />

Zins weist stets auch einen Zeitbezug auf. Von Böhm-Bawerk wird damit zu einem<br />

der Pioniere der sog. österreichischen Kapitaltheorie.<br />

Zu den einzelnen Elementen seiner Zinstheorie zählen:<br />

- Der Begriff des ursprünglichen Zinses, unter welchem der Reinertrag zu verstehen<br />

ist, welchen eine Unternehmung durch das im Produktionsprozess eingesetzte<br />

Kapital erzielt. 180 Beim ursprünglichen Zins handelt es sich um eine reine, güterwirtschaftliche<br />

Zinstheorie.<br />

- Die Agiotheorie, wonach die Kreditanbieter für ihren zeitweiligen Konsumverzicht<br />

bzw. dem entgangenen Grenznutzen entlohnt werden müssen. Dieses Element<br />

des Konsumverzichts lässt sich aus der klassischen Abstinenztheorie ableiten.<br />

Dieser Ansatz geht ursprünglich auf Nassau William Senior (1790-1864), welcher<br />

die Konsumverzichttheorie des Zinses (Abstinenztheorie) vertritt. 181 Die<br />

Enthaltsamkeit vom Konsum stellt ein Opfer dar, für welches Anreize erforderlich<br />

sind. Danach muss der künftig erwartete Ertrag höher sein als der gegenwärtige<br />

Konsumverzicht.<br />

- Die Theorie der Mehrergiebigkeit der Produktionsumwege. Investitionen ermöglichen<br />

in der Zukunft eine Produktion. Die Transformationskurve stellt alle<br />

178 Vgl. von Böhm-Bawerk, Eugen, Artikel „Zins“. In: Wieser, Friedrich et al. (Hrsg.), Handwörterbuch der Staatswissenschaften,<br />

8. Band, 4. Auflage, Jena 1928, (S. 1130-1143), S. 1133.<br />

179 Vgl. von Böhm-Bawerk, Capital und Capitalzins II. Positive Theorie des Capitales. Innsbruck 1902.<br />

180 Vgl. Lutz, Friedrich A., Artikel „Zins“. In: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 12, Göttingen 1965, S.<br />

434.<br />

181 Vgl. Senior; Nassau William, Outlines of the Science of Political Economy, London 1938, S. 58 f.<br />

111


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Umtauschmöglichkeiten von Gegenwartsgütern in Zukunftsgüter dar, wobei<br />

sich mit einem Gegenwartsgut 1 + r Zukunftsgüter produzieren lassen.<br />

Unter den zahlreichen Beispielen für die Mehrergiebigkeit von Produktionsumwegen,<br />

welche von Böhm-Bawerk aufzeigt, sei jenes des Landarbeiters genannt,<br />

welcher seinen Durst bei einer in der Nähe gelegenen Quelle löschen kann, indem<br />

er dorthin geht und aus der hohlen Hand trinkt. Er kann jedoch auch einen<br />

Stück Holz aushöhlen und den Bedarf an Trinkwasser nach Hause tragen. Er<br />

könnte jedoch auch, mit mehreren Holzstämmen, eine Holzleitung nach Hause<br />

bauen. 182<br />

2. Knut Wicksell<br />

Knut Wicksell geht von der neoklassischen Zinstheorie von Böhm-Bawerk’s aus,<br />

indem er unter anderem den Begriff der Zeitpräferenz übernimmt, wonach der<br />

Kapitalertrag in einer Wirtschaft unter anderem durch unterschiedliche Zeitpräferenzen<br />

begründet ist bzw. intertemporalen Bewertungsunterschiedlichen entspricht.<br />

Zudem bezieht sich Wicksell auf Böhm-Bawerks „Mehrergiebigkeit von<br />

Produktionsumwegen“ 183 durch den Einsatz von Kapital. Unter Kapital versteht<br />

Wicksell „ … alle zinstragenden Vermögensobjekte – d.h. alle Güterkomplexe,<br />

die ihrem Besitzer ein Einkommen verschaffen, ohne dabei selbst aufgezehrt zu<br />

werden … .“ 184 Es handelt sich um „ersparte Arbeits- und Bodenkraft“, 185 deren<br />

Grenzproduktivität gesteigert werden kann, indem produzierte Produktionseinheiten<br />

erneut eingesetzt werden. Das Kapital dient der Steigerung der Ergiebigkeit<br />

von Produktions- und Konsumprozessen, ohne direkt verbraucht zu werden.<br />

186<br />

Der Kapitalzins ist – wiederum in Anlehnung an von Böhm-Bawerk – das Agio<br />

zwischen den zukünftigen und den gegenwärtigen Gütern. Ersparte Güter ermöglichen<br />

Investitionen, und diese wiederum eine höhere Produktion. Der Kapitalzins<br />

ist damit die „ersparte Arbeits- und Bodenkraft“ 187, hinsichtlich des Verzichts<br />

auf den Konsum von Gegenwartsgütern die Grenzproduktivität des Wartens.<br />

188<br />

182 Von Böhm-Bawerk, Eugen, Positive Theorie des Kapital, Innsbruck 1889, S. 16.<br />

183 Ein Produktionsumweg stellt beispielsweise ein Pflug dar, mit welchem der Boden produktiver als mit einer Hacke<br />

bearbeitet werden kann.<br />

184 Wicksell, Über Wert, Kapital und Rente, nach der neueren nationalökonomischen Theorie, Jena 1893 (1933, S. 71).<br />

185 Vgl. Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise – Eine Studie über die den Tauschwert des Geldes bestimmenden<br />

Ursachen, Jena 1898, S. 113.<br />

186 Vgl. Grosskettler, H., Johan Gustav Knut Wicksell. In: Starbatty, J. (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen Denkens,<br />

Bd. 2, München 1989, S. 197.<br />

187 Vgl. Wicksell, Knut, Vorlesungen über Nationalökonomie, Auf Grundlage des Marginalprinzips, Theoretischer<br />

Teil, Bd. 1, Jena 1913, S. 217 f.<br />

188 Vgl. Grosskettler, Heinz, Johan Gustav Knut Wicksell 1851-1926). In: Starbatty, Joachim (Hrsg.), Klassiker des ökonomischen<br />

Denkens, Bd. 2, München 1989, S. 198 f.<br />

112


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Wicksell unterscheidet zwei Zinssätze, den natürlichen Zins und den Darlehenszins<br />

(Geldzins), wobei selbst nach seiner Auffassung der natürliche Zins schwierig<br />

zu erfassen ist.<br />

- Den natürlichen Zins beschreibt er wie folgt: 189 Zinssatz, welcher zustande<br />

kommen würde, wenn das Angebot und die Nachfrage nach realem Kapital in<br />

natürlicher Form ohne die Vermittlung von Geld erfolgen würden. Unter dem natürlichen<br />

(realen) Zins lässt sich damit ein Zins vorstellen, welcher sich ergeben<br />

würde, wenn das Kapital in natura ausgeliehen würde. 190 Der natürliche Zins entspricht<br />

dem langfristigen Gleichgewicht von Investieren und Sparen und ist einer<br />

Gröβe, an welche sich der reale Zins der Unternehmung annähert (Nettorendite).<br />

- Der Darlehenszins ist der Zins, der sich auf dem Kreditmarkt aufgrund von Angebot<br />

und Nachfrage nach Krediten bildet. Ist der Darlehenszins so hoch wie der<br />

natürliche Zins, ist dieser neutral hinsichtlich der Güterpreise und löst keine<br />

Schwankungen der Güterpreise aus. In diesem Fall befindet sich eine Wirtschaft<br />

– bei Annahme vollkommener Märkte mit Vollbeschäftigung – im Gleichgewicht.<br />

Ein Lehrbuchbeispiel zur Zinstheorie von Wicksell<br />

Prämissen<br />

- Es besteht, wie bei der klassischen Zinstheorie, ein Kapitalmarkt mit Sparen<br />

und Investieren.<br />

- Zudem wirken sich Geldmengenerhöhungen der Zentralbank günstig auf die<br />

Kapitalmarktzinsen aus, indem auf dem Wege der Fristentransformation verfügbare<br />

Mittel vom Geldmarkt zum Kapital- bzw. Kreditmarkt verlagert werden.<br />

189 Vgl. Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise (1898), Aalen 1968, S. 111.<br />

190 Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise, Jena 1898 (deutsch Aalen 1968), S. 93.<br />

113


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das Modell<br />

Ergebnisse<br />

i<br />

i1<br />

i2<br />

Die neoklassische Zinstheorie von Knut Wicksell<br />

I S<br />

S + Δ M<br />

0 I, S<br />

- In der Graphik spiegelt sich folgender Ablauf wider: Die Zentralbank hat die<br />

Geldmenge erhöht (∆M), das Kreditangebot ist nun S + ∆M. Dadurch ist der Darlehenszins<br />

von i1 auf i2 gesunken.<br />

- Eine Geldmengenerhöhung von ∆M durch die Zentralbank auf dem Wege der<br />

Fristentransformation führt zu einer Ausweitung des Kreditangebotes, welches<br />

bisher S betragen hat.<br />

- Die Zinsen sinken von i1 auf i2 und die Investitionen steigen, wodurch die Zinsen<br />

steigen, bis das Sparen und Investieren wieder im Einklang sind. Herrscht<br />

bereits in der Ausgangslage Vollbeschäftigung, kommt es durch die Überbeanspruchung<br />

der bestehenden Kapazitäten zu inflatorischen Prozessen (sog.<br />

Wicksellscher kumulativer Prozess). 191<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

Eine Erhöhung der Liquidi- - Diese These trifft zu (dlog(Zins 3 Mt.)) zu dlog (EZBKredite).<br />

tätszuführung durch die<br />

EZB senkt die Kreditzinsen<br />

191 Vgl. zu den inflationären Effekten bei Vollbeschäftigung § 8.II.<br />

114


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

3. Die Loanable Funds-Theorie (Theorie ausleihbarer Fonds) ***<br />

Bei der Loanable Funds-Theorie (Theorie der ausleihbaren Fonds) wird der Kreditmarkt<br />

betrachtet. Dieser unterliegt sowohl den Einflüssen des Kapitalmarktes<br />

als auch des Geldmarktes, was ebenfalls bei der Zinsbildung zum Ausdruck<br />

kommt.<br />

Prämissen<br />

- Es existiert, analog zur klassischen Zinstheorie, ein Kapitalmarkt mit Sparen<br />

und Investieren. Sparen und Investieren sind wie beim „klassischen Kapitalmarkt“<br />

zinsabhängig:<br />

( )<br />

−<br />

I = I i<br />

( )<br />

+<br />

S = S i<br />

- Der Kreditmarkt wird zudem vom Geldmarkt beeinflusst. Die Geldnachfrage<br />

ergibt sich aus dem Horten und wird mit höheren Zinsen geringer:<br />

( 31)<br />

−<br />

H = H(<br />

i ).<br />

- Die Veränderung der Geldmenge (∆M) wird exogen durch die Zentralbank bestimmt:<br />

( 32)<br />

Δ M = ΔM(<br />

exogen).<br />

- Geldmengenerhöhungen (Δ M) führen, auf dem Wege der Fristentransformation,<br />

einerseits zu einer Erhöhung der angebotenen Kredite, andererseits werden<br />

diese zinsabhängig gehortet (H).<br />

115


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das Modell<br />

i (Kredit-<br />

markt)<br />

Die Ergebnisse<br />

Die Loanable Funds-Theorie<br />

i H ΔM I I +H S<br />

S + ΔM<br />

0 S, I, ΔM, H<br />

- Es gelangen zwei Märkte zur Darstellung, der Kapitalmarkt (mit I und S) sowie<br />

der Geldmarkt (mit H und einer Geldmengenerhöhung ΔM).<br />

- Im Schnittpunkt von I und S ergibt sich der Kapitalmarktzins, im Schnittpunkt<br />

von H und ΔM der Geldmarktzins (nicht eingezeichnet).<br />

- Bei einer aggregierten Betrachtung des Kapitalmarktes und des Geldmarktes<br />

stehen auf der Nachfrageseite I und H, auf der Angebotsseite S und ΔM. Für die<br />

„ausleihbaren Fonds“ bildet sich ein Zinsmarktzins von i. Dieser ist tiefer als der<br />

Zins des Kapitalmarktes und höher als jener des Geldmarktes.<br />

- Die loanable Funds-Theorie zeigt den Kapitalmarkt in Verbindung mit dem<br />

Geldmarkt und dem Einfluss des Hortens (bzw. der Nachfrage nach monetärer<br />

Liquidität) sowie exogener Geldmengenänderungen.<br />

- Zudem wird eine Art von Kreditmarkt dargestellt, welcher durch den Kapitalmarkt<br />

und den Geldmarkt alimentiert wird.<br />

116


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Kritik<br />

- Für die Loanable Funds-Theorie spricht die in der Praxis übliche Mischfinanzierung<br />

von Krediten über den Geldmarkt und den Kapitalmarkt. Die Kreditmarktzinsen<br />

(ohne Risikozuschläge) liegen im Normalfall in einer Gröβenordnung<br />

zwischen den Kapitalzinsen und den Geldmarktzinsen.<br />

- Dabei ist der Kreditmarkt ist ein heterogener Markt mit unterschiedlichen Laufzeiten<br />

der Kredite und sich – hinsichtlich der Refinanzierung – verändernden<br />

Mischverhältnissen zwischen dem Geld- und dem Kapitalmarkt.<br />

- Hinzu kommen die spezifischen Risikoprofile der einzelnen Kreditnehmer,<br />

welche zu Risikozuschlägen bei den Kreditzinsen führen. Die Loanable Funds-<br />

Theorie bezieht sich nur auf „risikolose“ Schuldner.<br />

- Bei der Loanable Funds-Theorie werden zwei ungleiche Begriffspaare (Investieren<br />

und Sparen, Horten und Geldmengenerhöhungen) miteinander vermischt,<br />

ohne die Wirkungsmechanismen zwischen den Geld-, Kapital- und Kreditmärkten<br />

zu erklären. Diese sind jedoch komplexer, als dies in der Loanable Funds-<br />

Theorie zum Ausdruck kommt.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

1. Die Kreditnachfrage beeinflusst - Diese These trifft zu.<br />

die Geld- und Kapitalmarktzinsen<br />

2. Die Geld- und Kapitalmarkt- - Diese These trifft zu.<br />

zinsen beeinflussen die Kredit-<br />

marktzinsen (Mischfinanzierung<br />

der Kredite über die Geld- und Kapital-<br />

märkte).<br />

4. Irving Fisher<br />

Irving Fisher (1867-1947) geht von der klassischen Zinstheorie von Ricardo sowie<br />

der neoklassischen Zinstheorie von Böhm-Bawerk aus und widmet sich vor allem<br />

117


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

den Fragen nach der Höhe, den Einflussfaktoren und den Veränderungsprozessen<br />

bei den Zinsen.<br />

In allgemeinen Überlegungen zum Kapitalmarkt bezieht sich Fisher in der Regel<br />

auf einen offenen Markt, in welchen zusätzliche Anbieter und Nachfrager ohne<br />

Hemmnisse eintreten können. Meist besteht bei den Kapitalmärkten kein vollkommener<br />

Markt; so gibt es beispielsweise lags zwischen der Preisentwicklung<br />

und den Erwartungen hinsichtlich der künftigen Preissteigerungen. Zudem bestehen<br />

persönliche, örtliche und zeitliche Präferenzen hinsichtlich des Kapitalangebotes<br />

und der Kapitalnachfrage. Deshalb kommt es bei den Kapitalmärkten<br />

örtlich und währungsmäβig zu Teilmärkten mit unterschiedlichen Zinssätzen.<br />

Fisher betrachtet er das Sparen und Investieren als Determinanten der Zinsen.<br />

Als ersten Faktor für die Ersparnisse nennt Fisher die Gröβe des Einkommens,<br />

wobei die Sparneigung mit der Höhe des Einkommens steigt. 192 Ein zweiter Faktor<br />

ist individueller, verhaltenstheoretischer Art und bezieht sich auf die Zeitpräferenz:<br />

Dazu zählen die Erwartungen in die Zukunft, die Selbstkontrolle (im<br />

Sinne des Sparwillens), Gewohnheiten, die Lebenserwartung, die Rücksichtnahme<br />

auf andere Personen (wie beispielsweise Familienmitglieder) und aktuelle<br />

Verhaltens(mode-)trends (beispielsweise der Wunsch, Millionär zu werden oder<br />

der Wunsch von Millionären, bescheiden zu leben). 193 Auf der Nachfragerseite<br />

fragen die Investierenden das Kapital nach Maβgabe ihrer „internen Grenzertragsrate“<br />

nach. Aufgrund der unterschiedlich langen Investitionsdauer der einzelnen<br />

Investitionsprojekte ergeben sich auch verschiedene Zinssätze je nach<br />

Laufzeiten, Risiken und dem Wettbewerb auf dem Kreditmarkt. 194<br />

4.1. Die Weiterentwicklung der Zinstheorie von Böhm-Bawerk ***<br />

Irving Fisher verlässt die Vorstellung einer stationären Wirtschaft, wie dies noch<br />

bei Wicksell der Fall war. Der Fishersche Ansatz, welcher gegenüber den vorangehenden<br />

Ausführungen starke Abstraktionen enthält, erklärt den Zins als die<br />

Entschädigung für den Konsumverzicht, welche sich aus der „Grenzgegenwartsliebe“<br />

der Sparer ergibt. 195<br />

192 Dies stellt einen gewissen Widerspruch zur Lebenszyklushypothese dar. Fisher selbst erwähnt die Verschuldung<br />

als Möglichkeit zur Glättung der Konsumausgaben im Lebenszyklus. Vgl. Fisher, Irving, The theory of interest, New<br />

York, 1930, S. 72.<br />

193 Vgl. Fisher, Irving, The theory of interest, New York, 1930, S. 82 ff.<br />

194 Vgl. Fisher, Irving, Die Zinstheorie (The Theory of Interest), übersetzt von Hans Schulz, Jena 1932, S. 172. Vgl. auch<br />

Fisher, Irving, (Theory of Interest, 1930, Kapitel 6 und 8.<br />

195 Vgl. Fisher, Irving, The theory of interest, New York, 1930. Vgl. Dazu Friedrich A. Lutz, Die Entwicklung der Zinstheorie<br />

seit Böhm-Bawerk. In: Eucken, Walter, Kapitaltheoretische Untersuchungen, hrsg. Von Edgar Salin und<br />

Arthur Spiethoff, 2. Aufl., Tübingen 1954, S. XVI.<br />

118


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Prämissen<br />

- Fisher geht von einem vollkommenen Kreditmarkt ohne Risiken und mit einem<br />

einheitlichen, sicheren Zinssatz aus, zu welchem Kredite angeboten und nachgefragt<br />

werden können.<br />

- Das ganze Kapital ist im Umlauf ist, und wird für die Produktion verwendet.<br />

- Die Produktionsfunktion lautet Y=f(N, I) mit N für die Arbeit und I für die Investitionen.<br />

- Betrachtet werden zwei Perioden aus, in welchen ein Gut entweder als Gegenwartsgut<br />

(G) oder als Zukunftsgut (Z) konsumiert und produziert werden kann. 196<br />

Bei Investitionen werden Gegenwartsgüter zugunsten von Zukunftsgütern geopfert.<br />

Es wird soviel investiert, bis der Grenzertragssatz dem Marktzins entspricht.<br />

197 Der Investor wählt die Investition, bei welcher er den Marktwert des<br />

Einkommensstroms maximiert. Dabei schlieβen sich die Vermögensmaximierung<br />

der Unternehmen und die Nutzenmaximierung der Verbraucher nicht aus. Die<br />

Aufteilung des Einkommens in Gegenwartskonsum, Investitionen und Zukunftskonsum<br />

wird als sog. Fisher-Separation bezeichnet.<br />

- Die Gegenwartsvorliebe (time preference) ist eine subjektive Zeitpräferenz. Danach<br />

wird ein heute verfügbares Güterbündel (Periode 1) einem Güterbündel in<br />

der Zukunft (Periode 2) vorgezogen.<br />

- Die Investitionen in einer Periode (t=1) wirken sich nur auf den Output der<br />

nächsten Periode (t=2) aus. Damit gilt Y2=f(N, I1).<br />

- N ist konstant, womit N aus der Gleichung entfällt. Damit ist Y2 = f (I1), mit f’>1<br />

und f’’


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das Modell<br />

Y2<br />

Y2*<br />

Indifferenzkurve<br />

Y2=f(I1) Y*<br />

I1*<br />

0 Y1* E1 Y1<br />

1 In Anlehnung an Niehans/Lutz, Art. Faktorpreise II, Handbuch der Wirtschaftswissenschaften,<br />

1980.<br />

Steigungsm aß =<br />

−(<br />

1 + r)<br />

Z = Zukunftsgüter<br />

G = Gegenwartsgüter<br />

S = Sparen bzw. Investitionen in Zukunftsgüter<br />

K = Konsum bzw. Investitionen in Gegenwartsgüter<br />

I = Indifferenzkurve, abhängig von den Präferenzen der Wirtschaftssubjekte<br />

r = Zins (Tausch von Gegenwartsgütern gegen Zukunftsgüter; die Austauschrelation<br />

beträgt 1 zu 1 + r<br />

T = Transformationskurve (Gegenwartsgüter in Zukunftsgüter).<br />

- Die Transformationskurve bezeichnet die Möglichkeit, Gegenwartsgüter in Zukunftsgüter<br />

zu transformieren. Die Abbildung zeigt die Ergebnisse. Die maximale<br />

Produktionsmöglichkeit für Güter in der Periode t=1 ist E1. Die Produktionsmöglichkeiten<br />

für Güter in der Periode t=2 ergeben sich aus der Transformationskurve<br />

als äuβerster Grenze der möglichen Produktionskombinationen zwischen<br />

Gütern in den Perioden t=1 und t=2. Der konkave Verlauf ist auf die sinkenden<br />

Grenzerträgen der Investitionen zurückzuführen.<br />

- Die Indifferenzkurve stellt die individuellen Präferenzen für Gegenwarts- und<br />

Zukunftsgüter dar. Auf eine Einheit Gegenwartsgüter wird verzichtet, wenn dafür<br />

eine (etwas) gröβere Menge an Zukunftsgütern zur Verfügung steht. Die Lage<br />

und Steigung der Indifferenzkurve drückt die intertemporale Nutzenfunktion<br />

120


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

aus. Die Grenzrate der Substitution zwischen Zukunfts- und Gegenwartsgütern<br />

ist > 1. Die Grenzrate der Transformation ist positiv, aber mit zunehmender<br />

Substitution abnehmend. Die Zukunftsgüter lassen sich mit dem Marktzins<br />

abdiskontieren und können damit in Gegenwartsgütern ausgedrückt werden.<br />

Das Güterbündel aus den beiden Perioden ist maximal, wenn die Grenzrate der<br />

Substitution dem Marktzins entspricht.<br />

Bei einer gegebenen Indifferenzkurve zwischen Gütern in den Perioden t=1 und<br />

t=2 kommt es zu einem Konsum von Y1* und Investitionen von I1*, womit sich in<br />

der Periode t=2 Y2* Güter erzeugen lassen. Die Substitutionselastizität ist negativ<br />

und abnehmend, d.h. ein Verzicht auf den Konsum von Güter in t=1 erfolgt nur<br />

bei einer höheren Menge an Gütern in der Periode t=2, welche für den Konsum<br />

bereitstehen (Präferenz für Gegenwartsgüter), wobei der Grenznutzen der Güter,<br />

welche in der Periode t=2 konsumiert werden, abnehmend ist.<br />

- Das Steigungsmaβ der Zinsgeraden –(1+r) entspricht sowohl der (tangentialen)<br />

Steigung der Transformationskurve als auch jener der Indifferenzkurve. Es<br />

kommt ein paretooptimales Ergebnis zustande, bei welchem die Grenzrate der<br />

Transformation gleich jener der Substitution ist.<br />

- Im Modell bildet sich ein Gleichgewicht zwischen den geplanten Ersparnissen<br />

und den geplanten Investitionen, wobei der Zins als Anpassungsfaktor dient. Die<br />

zustande kommende Konsum-Spar-Entscheidung entspricht der sog. Fisher-<br />

Separation. Bezogen auf eine in sich geschlossene Volkswirtschaft mit einer<br />

Vielzahl von Unternehmen (ohne Kapitalimporte und –exporte) ist die gesamtwirtschaftliche<br />

Konsum-Spar-Entscheidung unabhängig von den Investitionsentscheidungen<br />

der einzelnen Unternehmen und die Investitionsentscheidungen<br />

insgesamt sind unabhängig von den Finanzierungsentscheidungen.<br />

- Die intertemporale Allokation der Ressourcen beträgt Y*=(Y1*, Y2*). Steigt r<br />

(durch eine höhere Präferenz für Gegenwartsgüter), so sinkt I1* (und umgekehrt).<br />

Kritik<br />

- Es gibt auch andere Motive zum Sparen als eine gröβere Menge von Zukunftsgütern,<br />

wie beispielsweise die Vorsorge für die wirtschaftlichen Folgen von Alter,<br />

Krankheit und Arbeitslosigkeit.<br />

- Es wird nicht klar, wie die Unternehmen die Gewinne verwenden.<br />

- Es existieren kein Geld und kein Vermögen (auβer dem Produktionskapital) im<br />

Modell.<br />

121


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

1. Höhere Wachstumsraten des - Diese These trifft zu.<br />

BIP (d BIP real) führen zu<br />

steigenden Kapitalmarktzinsen<br />

und umgekehrt)<br />

4.2. Der Fishersche Preiserwartungseffekt<br />

Eine weitere, wesentliche zinstheoretische Leistung von Fisher ist der Fishersche<br />

Preiserwartungseffekt (oder auch Fisher-Effekt). Angeregt wurden die Arbeiten<br />

zum Fisherschen Preiserwartungseffekt durch die Beobachtungen des Statistikers<br />

A. H. Gibson. 198<br />

Bei den Zinsen lässt sich zwischen den Realzinsen und den Nominalzinsen<br />

(Geld- oder Darlehenszins) unterscheiden. Bei den Realzinsen (real rate of interest)<br />

handelt es sich um die Zinsen nach Berücksichtigung der Geldwertänderung.<br />

199<br />

Steigen die Inflationsraten, so bleibt der Realzins unverändert; nach dem<br />

Fisherschen Preiserwartungseffekt schlagen sich jedoch die Inflationserwartungen<br />

in den Nominalzinsen nieder, weil der reale Wert der geschuldeten Summe<br />

verschieden ist vom realen Wert zu zurückbezahlten Summe. 200<br />

Diese Hypothese hat weitreichende Wirkungen auf den Marktwert der Vermögensgüter,<br />

die reale Kaufkraft des Geldes und die Effizienz der Märkte. 201 Mit<br />

dieser Theorie gilt Irving Fisher auch als Vorläufer der Theorie der rationalen<br />

Erwartungen, wie diese später durch John Muth (1961) entwickelt wurde.<br />

Prämissen<br />

198 Vgl. Gibson, A.H., The Future Course of High-Class Investment Values. In: Bankers’, Insurance Managers’ and<br />

Agent’ Magazine, Jan. 1923, S. 15-34. Vgl. ders., The Road to Economic Recovery. In: Bankers’, Insurance Managers’<br />

and Agent’ Magazine, Nov. 1926, S. 595-612.<br />

199 Vgl. Fisher, Irving, Appreciation and Interest, 1896.<br />

200 Vgl. Fisher, Irving, Appreciation and Interest, 1896, S. 360.<br />

201 Vgl. dazu und zu den nachfolgenden Ausführungen auch Victor O. Aina, Fishers Hypothesis: A Continuous-Time<br />

Generalization. Department of Economics, Simon Fraser University, Burnaby, Canada.<br />

122


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Die Wirtschaftssubjekte haben homogene Erwartungen hinsichtlich der Inflationsrate.<br />

Die erwartete Inflationsrate л e entspricht, bei Annahme modellspezifisch<br />

rationaler Erwartungen, der aktuellen Inflationsrate л. Die Wirtschaftssubjekte<br />

verfügen über perfekte (vollkommene) Erwartungen über die künftigen Inflationsraten.<br />

- Das Wirtschaftssubjekt steht vor der Entscheidung, entweder Sachaktiven oder<br />

Finanzaktiven zu kaufen. Bei Sachaktiven resultieren Faktoreinkommen aufgrund<br />

der Produktivität der Kapitalgüter und zudem möglicherweise durch inflationär<br />

bedingte Wertsteigerungen. Als Alternative kann das Wirtschaftssubjekt<br />

Finanzaktiven erwerben und erhält einen bestimmten nominellen Zins als Entschädigung<br />

für das zur Verfügung gestellte Kapital und den möglichen Inflationsverlust.<br />

Die Sparer, welche auf Gegenwartsgüter verzichten, sind nur bereit,<br />

die Ersparnisse in Nominalgütern anzulegen, wenn der Realwertverlust durch die<br />

erwartete Inflation entschädigt wird. Der Nominalzins steigt aufgrund der Preis-<br />

bzw. Inflationserwartungen (=Fisher-Effekt).<br />

- Im (Arbitrage-)Gleichgewicht führen die beiden Anlagen (Sachaktiven oder Finanzaktiven)<br />

zum selben nominellen Ertrag. Der Schuldner entrichtet einen Inflationszuschlag<br />

bei Abschluss des Kreditverhältnisses im Ausmaβe der erwarteten<br />

Inflationsrate, womit der Gläubiger keinen Realwertverlust auf seinem eingesetzten<br />

Kapital zu erleiden hat. 202<br />

Das Modell<br />

Bei den Zinsen wird zwischen den realen Zinsen (entsprechend der Produktivität<br />

des Kapitals) und den nominalen Zinsen unterschieden, wobei letztere auch die<br />

Inflationserwartungen (=Fisher-Effekt) enthalten. Die Nominalzinsen widerspiegeln<br />

die Produktivität des Kapitals (Realzins) und stellen gleichzeitig eine Entschädigung<br />

für die erwartete Inflation dar.<br />

202 Vgl. Fisher, Irving, Die Kaufkraft des Geldes (Originalausgabe: The Purchasing Power of Money, New York 1911),<br />

2. Auflage, Berlin/Leipzig 1922, S. 46 f.<br />

123


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

In einer vereinfachten Variante lässt sich dies wie folgt darstellen:<br />

(33) i = r + π<br />

wobei:<br />

i Nominalzins<br />

r Realzins (Zins bei Erwartung eines stabilen Preisniveaus)<br />

л (erwartete) Inflationsrate.<br />

Dabei handelt es sich um die strenge Form der Fisherschen Voraussage einer<br />

kompletten Anpassung der Zinsen an die Preiserwartungen, mit di / dπ<br />

= 1.<br />

Die<br />

schwache Form der Voraussage enthält eine unvollkommene Anpassung, welche<br />

geringer oder gröβer als eins ist. Eine vollkommene Anpassung der Zinsen an die<br />

Preiserwartungen findet nur statt, so lange die Darlehensgeber und –nehmer in<br />

ihren Erwartungen über die künftigen Pfad der Inflationsrate übereinstimmen.<br />

Fisher stellt bei seinen empirischen Untersuchungen nur eine unvollkommene<br />

Anpassung fest, und verwirft die strenge Form des Preiseffektes auf die Zinsen.<br />

Kritik<br />

Fisher selbst geht von unvollkommenen Erwartungen der Wirtschaftssubjekte<br />

für den gesamten Zeitraum der Anlage aus. Aufgrund empirischer Analysen stellt<br />

er zudem in Phasen mit monetären Veränderungen gröβere lags zwischen der<br />

Entwicklung der Preise und jener der nominellen Zinsen fest. 203 Zudem sind diese<br />

lags von unterschiedlicher Dauer (mit dieser Feststellung der distributed lags<br />

bei der Umsetzung der Inflationsraten bei den Zinsen wird Fisher zu einem Vorläufer<br />

der Theorie der distributed lags):<br />

„The erratic behavior of real interests is evidently a trick played on the<br />

money market by the ‘money illusion’… “. 204<br />

Mit diesen Überlegungen geht Fisher wohl selbst nicht von der Annahme aus,<br />

dass der Fisher-Effekt eine besonders gute Beschreibung der Realität ist. Zudem<br />

können asymmetrische Informationen zu einer nicht adäquaten Voraussicht und<br />

einer Verzerrung der Zinsen führen. 205 Fisher spricht in diesem Zusammenhang<br />

bereits von „noise traders“, d.h. von Märkten, deren Handel von Gerüchten dominiert<br />

wird. Damit widerspiegeln die nominellen Zinsen vor allem die aktuelle<br />

Knappheit der Geld- und Kapitalmärkte und die bestehenden, aktuellen Infla-<br />

203 Vgl. Fisher, Irving, The purchasing power of money, New York, 1911, S. 359-362.<br />

204 Vgl. Fisher, Irving, The theory of interest, New York, 1930, S. 415.<br />

205 Fisher, Irving, 1911, S. 362.<br />

124


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

tionserwartungen. Hinzu kommen die Risikozuschläge für die individuellen<br />

Risiken. 206<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

Die Inflationserwartungen - Die künftigen Inflationsraten (bei einem lead von bis zu sechs<br />

schlagen sich gleichgerichtet Monaten) finden einen Niederschlag in den Geld- und Kapial-<br />

in den Zinsen nieder (Fisherscher marktzinsen.<br />

Preiseffekt oder Fisher-Effekt)<br />

III. Die keynesianische Zinstheorie (Liquiditätstheorie des Geldes)<br />

1. Das ISLM-Modell<br />

Eine wesentliche Neuerung der keynesianischen gegenüber der klassischneoklassischen<br />

Zinstheorie liegt in einer unterschiedlichen Erklärung der Geldnachfrage<br />

im Rahmen der sog. Liquiditätspräferenztheorie, was im Widerspruch<br />

zu den Auffassungen der Quantitätsgleichung steht. Der zentrale Unterschied zur<br />

klassisch-neoklassischen Theorie besteht in der Zinsabhängigkeit der Geldnachfrage<br />

bei Keynes. Im monetären Bereich ist der Zins eine Belohnung für die Aufgabe<br />

von Liquidität bzw. der Preis für das zur Verfügung gestellte Geld. 207<br />

Während der Zins nach klassischer Ansicht Ersparnis und Investitionen zum<br />

Ausgleich bringt, wird dieser bei Keynes zu einer monetären Gröβe, der die Liquiditätspräferenz<br />

der Wirtschaftssubjekte widerspiegelt, die Geldnachfrage und<br />

das Geldangebot zum Ausgleich bringt und der Aufteilung der Vermögenshaltung<br />

auf Geld und Wertpapiere dient. 208<br />

Nach Auffassung von John M. Keynes ist der Zinssatz die Belohnung für die<br />

Aufgabe der Liquidität:<br />

Der „Zinsfuβ ist nicht der „Preis“, der die Nachfrage nach Geldmitteln zur<br />

Investition mit der Bereitwilligkeit, sich des gegenwärtigen Verbrauchs zu<br />

enthalten, ins Gleichgewicht bringt. Er ist der „Preis“, der das Verlangen,<br />

206 Vgl. Fisher, Irving, Appreciation and Interest, 1896, S. 265 ff.<br />

207 Vgl. Keynes, John Maynard, A Treatise on Money, London 1930. In deutscher Sprache hrsg. Von C. Krämer, Vom<br />

Gelde, München 1932, S. 140.<br />

208 Vgl. Felderer/Homburg S. 128.<br />

125


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Vermögen in der Form von Bargeld zu halten, mit den verfügbaren Mengen<br />

von Bargeld ins Gleichgewicht bringt“. 209<br />

Nach der Liquiditätstheorie des Zinses ist der Zins im Gleichgewicht, wenn<br />

Geldnachfrage und Geldangebot übereinstimmen. Die keynesianische Zinstheorie<br />

stellt damit auch eine Weiterentwicklung der Loanable Funds-Theorie dar und<br />

bringt, modelltheoretische betrachtet, einige Fortschritte.<br />

Prämissen<br />

- Die IS-Kurve verkörpert nach klassisch-neoklassischer Auffassung den Kapitalmarkt<br />

mit Investieren I und Sparen S. Nach keynesianischer Auffassung handelt<br />

es sich um den güterwirtschaftlichen Bereich mit I = (Nachfrage-) Injektionen<br />

(Konsum, Investitionen, Staatsausgaben) und S = (Nachfrage-) Sickerverlusten.<br />

Beim relevanten Zins des Kapitalmarktes (IS-Bereich) kann man sich den Kapitalmarktzins<br />

vorstellen, wie dieser für langfristige, festverzinsliche Staatsanleihen<br />

zustande kommt.<br />

Es gelten die Prämissen nach § 4:<br />

( )<br />

−<br />

I = I i<br />

S = S(Y<br />

)<br />

−<br />

I ( i ) = S(<br />

Y).<br />

- Die Liquiditätstheorie des Zinses: Für das Geldangebot und die Geldnachfrage<br />

relevant ist die LM-Kurve. Es gelten als Prämissen die Gleichungen:<br />

( 34)<br />

( 35)<br />

( 36)<br />

L = L(<br />

Y,<br />

i),<br />

M = M ( exogen)<br />

L(<br />

Y,<br />

i)<br />

= M ( exogen).<br />

Zur Vereinfachung werden nur eine volkseinkommensabhängige Transaktionskasse<br />

und eine zinsabhängige Spekulationskasse angenommen. Keynes geht davon<br />

aus, dass jedes Wirtschaftssubjekt aufgrund seiner Erfahrungen eine Vorstellung<br />

von einem als „normal“ anzusehenden Zinsniveau hat. Bei einer Abweichung<br />

des tatsächlichen Zinses von diesem Zinsniveau rechnet man mit einer<br />

209 Keynes, John M., Allgemeine Theorie (1936), Darmstadt 1974, S. 141.<br />

126


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Annäherung an den als normal empfundenen Zins. Liegt der tatsächliche Zins<br />

beispielsweise über dem normalen Niveau, sind ein Zinsrückgang und damit ein<br />

Kursgewinn anzunehmen. 210 Daher ist es aus spekulativen Gründen<br />

ertragbringend, Wertpapiere anstatt Geld zu halten („Entweder-oder-<br />

Entscheidung“). Auf mikroökonomischer Ebene ist ein gemischtes Portefolio mit<br />

gleichzeitigem Besitz von Wertpapieren und Geld ausgeschlossen.<br />

Das Modell<br />

Die keynesianische Geldnachfrage, dargestellt nach dem ISLM-Modell:<br />

Ergebnisse<br />

i LM<br />

IS1<br />

IS3<br />

IS3 „klassischer Bereich"<br />

IS2 (Geldnachfrage zinsunabhängig)<br />

„normaler Bereich“<br />

„Liquiditätsfalle“ (Geldnachfrage zinsabhängig)<br />

Geldnachfrage unendlich zinselastisch<br />

0 Y<br />

- Die LM-Kurve ist der geometrische Ort aller Kombinationen zwischen Y und i,<br />

bei welchen ein Gleichgewicht zwischen einer exogen gegebenen Geldmenge<br />

(M) und der Geldnachfrage besteht. Steigt nun das Volkseinkommen zufolge einer<br />

Erhöhung der Investitionsneigung oder einer gesunkenen Sparneigung, beispielsweise<br />

von IS2 auf zu IS3, lässt die erhöhte Nachfrage nach Transaktionskasse<br />

die Zinsen steigen. Es flieβt Geld aus der Spekulationskasse in die Transaktionskasse.<br />

Beim einzelnen Wirtschaftssubjekt ist die „Entweder-oder-<br />

Entscheidung“ typisch, auf makroökonomischer Ebene angesichts der unterschiedlichen<br />

Erwartungen über den „normalen“ Zins ein sukzessiver Prozess.<br />

- Steigende Zinsen des Geldmarktes bewirken höhere Opportunitätskosten der<br />

Spekulationskasse. Die höheren Geldmarktzinsen führen zu einem Zinsverlust<br />

gegenüber der Anlage in Wertpapieren 211 und zudem steigen die Chancen, dass<br />

die Zinsen wieder sinken, was zu Kursgewinnen auf den Anlagen führen würde.<br />

Beide Einflüsse bewirken eine zusätzliche Nachfrage nach Wertpapieren. Es wird<br />

Spekulationskasse dazu verwendet, Wertpapiere zu kaufen, wobei das frei wer-<br />

210 Vgl. Issing, 1998, S. 104 ff. und Felderer/Homburg, S. 125 ff.<br />

211 Dabei werden Wertpapiere mit unendlicher Laufzeit = Consols zugrunde gelegt. Deren Rendite (r) lässt sich nach<br />

der Formel r = Nominalzins x 100/Kurs des Wertpapiers berechnen.<br />

127


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

dende Geld in die Transaktionskasse flieβt. Dies wiederum hat einen dämpfenden<br />

Einfluss auf den Kapitalmarktzins, wobei es zu einer Annäherung der<br />

Geldmarktzinsen (LM) an die Kapitalmarktzinsen (IS) kommt. Es bildet sich ein<br />

simultanes Gleichgewicht auf dem Geldmarkt und dem Kapitalmarkt.<br />

- Beim Kapitalmarkt stellt die IS-Kurve die Verbindungslinie jener Punkte (entsprechend<br />

dem geometrischen Ort) dar, bei welchen ein Gleichgewicht zwischen<br />

dem zinsabhängigen Investieren und dem einkommensabhängigen Sparen besteht.<br />

Je gröβer das Volkseinkommen ist, desto größer sind – bei einer gegebenen<br />

IS-Kurve - die Investitionen (und umgekehrt).<br />

- Erhöht sich Investitionsneigung oder sinkt die Sparneigung, kommt es zu einer<br />

Rechtsverschiebung der IS-Kurve, wobei das Volkseinkommen und der Bedarf<br />

an Transaktionskasse steigen.<br />

- Steigen die Kapitalmarktzinsen, erfolgt eine Anlage von Spekulationskasse in<br />

Consols. Dabei kommt es zu Verschiebungen im Umfeld des Schnittpunktes<br />

zwischen der IS- und der LM-Kurve; auf diese Weise wird das Ansteigen der Kapitalmarktzinsen<br />

gedämpft.<br />

- Die erwähnten Effekte finden im „normalen Bereich“ mit einer zinselastischen<br />

Geldnachfrage statt. Im sog. „klassischen Bereich“ mit einer zinsunabhängigen<br />

Geldnachfrage ist die gesamte Spekulationskasse in die Transaktionskasse eingegangen,<br />

d.h. Änderungen in der Investitions- oder Sparneigung schlagen sich<br />

vollständig in den Zinsen und nicht im Volkseinkommen nieder. Bei der Liquiditätsfalle<br />

führen marginale Änderungen der Nachfrage nach Transaktions- oder<br />

Spekulationskasse zu Änderungen beim Volkseinkommens, nicht jedoch den<br />

Zinsen. Die Geldnachfrage ist in diesem Fall unendlich zinselastisch.<br />

- Wesentlich erscheint, dass die güterwirtschaftliche Seite (IS) durch den monetären<br />

Bereich (LM) im Gleichgewicht gehalten wird.<br />

Einen besonderen Stellenwert in der Liquiditätspräferenztheorie nimmt die Liquiditätsfalle<br />

ein, auf die hier noch kurz eingegangen werden soll. Die Liquiditätsfalle<br />

stellt einen Extrembereich der Nachfrage nach Spekulationskasse bei einem<br />

niedrigen Zinsniveau dar, welcher nach Keynes insbesondere in einem<br />

Unterbeschäftigungsgleichgewicht denkbar ist. Das Zinsniveau ist in diesem Fall<br />

derart tief gesunken, dass jedes Wirtschaftssubjekt eine Erhöhung des Marktzinses<br />

erwartet, so dass keine Wertpapiere, sondern nur Geld gehalten wird. Die<br />

Geldnachfragefunktion wird dann vollkommen zinselastisch. In diesem Fall ist<br />

es unmöglich, den Marktzins mit Hilfe der Geldpolitik zu verändern, da zusätzliches<br />

Geld immer in der Spekulationskasse gehalten wird. Es bleibt anzumerken,<br />

dass diese absolute Liquiditätspräferenz für Keynes als „Grenzfall in der Zu-<br />

128


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

kunft praktisch wichtig werden könnte“, ihm ist aber „kein bisheriges Beispiel<br />

dafür bekannt“. 212<br />

Kritik<br />

- Die zinstheoretischen Ergebnisse des ISLM-Modells, wonach es zu einem einheitlichen<br />

Zinssatz für den Geldmarkt (LM) und gleichzeitig den Kapitalmarkt<br />

(IS) kommt, sind nicht unkritisch zu betrachten. Dies widerspricht dem empirischen<br />

Erfahrungsbild, wonach die Kapitalmarktzinsen normalerweise höher als<br />

die Geldmarktzinsen sind.<br />

- Zu Kritik Anlass gibt auch die Prämisse einer exogen gegebenen Geldmenge.<br />

Steigende Zinsen führen in der Praxis c.p. zu einem gröβeren Kreditangebot und<br />

bewirken eine steigende Geldmenge (und umgekehrt).<br />

- Bei der LM-Kurve sind die Liquiditätsfalle und der klassische Bereich von vorwiegend<br />

theoretischem Interesse und weniger von praktischer Relevanz.<br />

- Eine weitere Kritik an dieser Theorie besteht in der Annahme eines einzigen<br />

Zinssatzes für IS und LM. Dies widerspricht der empirischen Erfahrung, wonach<br />

die Geldmarktzinsen meist niedriger als die Kapitalmarktzinsen sind.<br />

212 Vgl. Keynes J.M., Allgemeine Theorie, S. 173.<br />

129


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Eine Verschiebung der IS-Kurve - Eine Verschiebung der IS-Kurve wird beispielsweise<br />

führt zu veränderten Geldmarkt- ausgelöst durch eine Erhöhung der Nachfrage nach Gütern<br />

zinsen (Schnittpunkt IS-LM) (Y). Es besteht ganz allgemein ein positiver Zusammenhang<br />

zwischen einer Verschiebung der IS-Kurve und den Geldmarktzinsen<br />

(abgebildet auf der LM-Kurve).<br />

2. Eine Verschiebung der IS-Kurve - Diese These trifft zu. Eine Verschiebung der IS-Kurve<br />

führt auch zu veränderten durch eine Erhöhung von Y ergibt eine Erhöhung<br />

Kapitalmarktzinsen der Kapitalmarktzinsen.<br />

3. Eine Verschiebung der LM-Kurve - Diese These trifft zu. Inflation beispielsweise führt,<br />

führt zu einer Veränderung der bei einer gegebenen Geldmenge, theoretisch zu einer Links-<br />

Geldmarktzinsen verschiebung der LM-Kurve und zu höheren Geldmarktzinsen<br />

(Fisherscher Preiserwartungeffekt).<br />

- Eine größere Zuführung von Zentralbankliquidität führt –<br />

bei ausbleibender Erhöhung der Inflation – zu einer zu einer<br />

Senkung der Geldmarktzinsen. Ein solcher Effekt lässt<br />

sich für die Referenzperiode in der Praxis allerdings nicht<br />

signifikant feststellen.<br />

4. Eine Veränderung der LM-Kurve - Diese These trifft zu (nicht signfikant).<br />

führt zu einer Veränderung der<br />

Kapitalmarktzinsen.<br />

5. Es existiert ein Bereich der LM- - Ein solcher Bereich kann in der Referenzperiode nicht<br />

Kurve mit einer Liquiditäts- fesgestellt werdden.<br />

falle (horizontaler Verlauf bzw.<br />

keynesianischer Bereich)<br />

6. Es gibt einen Bereich der LM- - Diese These trifft nicht zu. Angesichts der relativ hohen<br />

Kurve mit einem vertikalen Zinselastizität des Kreditangebotes können Zinserhöhungen<br />

Verlauf (klassischer Bereich) zu einer Erhöhung der Kredite führen, verbunden mit einer<br />

Erhöhung der Geldmenge, was gegen einen vertikalen Verlauf<br />

der LM-Kurve spricht.<br />

7. Es existiert eine Investitons- - In der Referenzperiode ist eine vertikale IS-Kurve<br />

Falle (vertikale IS-Kurve) nicht festzustellen.<br />

130


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

2. Die Tobin-Separation<br />

a. Prämissen<br />

- Die Portefeuilletheorie geht vom μ-σ-Prinzip aus. Mit μ wird die Rendite, mit<br />

σ das Risiko von Finanzaktiven hinsichtlich eines Vermögensverlustes bezeichnet.<br />

- Das Portefeuille enthält n Aktiven mit unterschiedlichen Erträgen und Risiken.<br />

- Die These der Portefeuilletheorie geht von risikoaversen Wirtschaftssubjekten<br />

aus. Ein gröβeres Risiko muss mit einem höheren Ertrag entschädigt werden.<br />

b. Das Modell<br />

Die Tobin-<br />

Separation<br />

Zins<br />

µ<br />

0 σ<br />

1 „Risikofreier“ Zins<br />

2 Zins mit Risikokomponente.<br />

a. Die Modellergebnisse<br />

Risiko<br />

- Die Erträge lassen sich in zwei Komponenten unterteilen, den Zinsbestandteil ohne Risiko und<br />

den Zinsbestandteil des Risikos (sog. Tobin-Separation).<br />

2<br />

1<br />

Zins (risikoloser<br />

Zins und Risiko-komponente) <br />

Risikokomponente<br />

Risikoloser<br />

Zins<br />

131


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

b. Kritik<br />

- Es stellt sich die Frage, ob sich die Vielzahl von Risiken adäquat abbilden lassen.<br />

Dies ist sicherlich bei den in der Vergangenheit feststellbaren Kursschwanken<br />

und den objektiv feststellbaren Bonitätsrisiken der Fall.<br />

- Es gibt jedoch noch andere Risiken wie beispielsweise die Wiederanlagerisiken<br />

bei Zinsänderungen und die damit verbundenen Einkommensänderungen, welche<br />

sich mit dem µ nur schwer erfassen lassen. Damit stellt sich die Frage, ob das<br />

Modell der Tobin-Separation eine umfassende Analyse der Risiken ermöglich.<br />

- Die in den Zinsen implizierten Risiken beziehen sich auf den gesamten Markt<br />

und nicht auf alle Komponenten der individuellen Risikobeurteilung.<br />

IV. Ansätze einer neo-walrasianischen Zinstheorie (anstelle der monetaristischen<br />

Zinstheorie)<br />

Unter den Annahmen der klassischen Theorie hat die Geldmenge grundsätzlich<br />

keinen Einfluss auf die realen Gröβen wie die Beschäftigung, die Produktion, die<br />

relativen Preise und den Realzins. 213 Bereits Irving Fisher ging jedoch davon aus,<br />

dass die Zinsen den weitaus bedeutendsten relativen Preis verkörpern 214 und sich<br />

die Wirtschaft als ein System simultaner Gleichungen abbilden lässt. 215 Danach<br />

bilden die Gütermärkte, die Arbeitsmärkte und die Kapitalmärkte ein interdependentes<br />

System. Im erweiterten neo-walrasianischen System kommen – mit<br />

analoger Bedeutung – noch die Geldmärkte und die Außenwirtschaft hinzuz.<br />

In einem erweiterten neo-walrasianischen System bilden die Zinsen des Geld-<br />

marktes, die Zinsen des Kapitalmarktes, die Güterpreise, die Löhne und die<br />

Wechselkurse die relativen Preise im Gesamtsystem der relativen Preise.<br />

Prämissen<br />

Grundlage einer solchen Zinstheorie bildet das walrasianische Gleichgewichtsmodell<br />

in einer makroökonomischen Interpretation. Dieses enthält den Gütermarkt,<br />

den Arbeitsmarkt und den Kapitalmarkt. 216 Der Kapitalmarkt ist interdependent<br />

zu den beiden anderen Märkten (Gütermarkt und Arbeitsmarkt).<br />

Dieses Gleichgewichtsmodell lieβe sich – theoretisch betrachtet – noch durch den<br />

Geldmarkt und die auβenwirtschaftlichen Verflechtungen (bzw. den Devisenmarkt)<br />

erweitern. Als mathematisches Gleichgewichtsmodell ist diese Erweite-<br />

213 Vgl. Issing, Einführung, S. 114.<br />

214 Vgl. Fisher, Irving, Elementary principles of economics, New York, 1912, S. 354.<br />

215 Vgl. Fisher, Irving, Mathematical investigations in the theory of value and prices. Transactions of the Connecticut<br />

Academy of Arts and Sciences, Nr. 9, New Haven CT, 1892. repr. New York, 1892,<br />

216 Vgl. Felderer/Homburg, Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 76.<br />

132


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

rung jedoch in ihrer Gesamtheit kaum darstellbar, aber es kann empirisch<br />

überprüft werden, welche gegenseitigen Einflüsse zwischen diesen fünf Sektoren<br />

auftreten. Sind nach dem mathematischen „Gesetz von Walras“ n-1 Märkte im<br />

Gleichgewicht, trifft dies automatisch auch für den n-ten Markt zu.<br />

Ergebnisse<br />

Die einzelnen Bereiche des Gleichgewichtssystems sind interdependent. Veränderungen<br />

bei den verschiedenen Elementen haben in der Regel Auswirkungen<br />

auf die übrigen Elemente, wobei die Reaktionen sehr vielfältigen Wirkungsmechanismen<br />

unterliegen und sich die Ergebnisse oft nicht eindeutig voraussagen<br />

lassen, zumal auch nicht vorhergesehene Reaktionen auftreten können. 217<br />

Nach dieser Darstellung unterliegen die Geld- und Kapitalmarktzinsen vielfältigen<br />

Einflüssen. Dazu zählen die Gütermärkte, die Arbeitsmärkte und die<br />

auβenwirtschaftlichen Ströme (Exporte und Importe sowie der Export und Import<br />

von Kapital und Geld). Zudem sind die Geld- und Kapitalmarktzinsen untereinander<br />

interdependent.<br />

Hinsichtlich der Anpassungsprozesse bei Datenänderungen lassen sich die einzelnen<br />

relativen Preise (Güterpreise, Löhne, Kapitalmarktzinsen, Geldmarktzinsen<br />

und Wechselkurse) – im Sinne einer klassisch-neoklassischen Betrachtung -<br />

als imaginäre Gravitationszentren verstehen, auf welche diese hinsteuern. Dies<br />

gilt ebenfalls für das Gesamtsystem der relativen Preise (A. Smith, J. Schumpeter).<br />

Die einzelnen Sektoren sind stark interdependent und bewegen sich auch<br />

nach realen und monetären Schocks in Richtung auf die Gravitationszentren der<br />

fünf Sektoren bzw. des Gesamtsystems. Verschieben können sich diese Gravitationspunkte<br />

durch Änderungen im Verhalten der Wirtschaftssubjekte (beispielsweise<br />

durch eine veränderte Liquiditätspräferenz, eine veränderte Spar-<br />

und Konsumneigung, eine veränderte Investitionsneigung, Veränderungen im<br />

globalen Auβenhandel etc.).<br />

Folgende Einschränkungen erscheinen angebracht:<br />

- Der Arbeitsmarkt ist von erheblichen institutionellen Restriktionen geprägt.<br />

Dazu zählen unter anderem die Tariflöhne, welche Gleichgewichtslöhne im Hinblick<br />

auf eine Markträumung verhindern können.<br />

- Der Geldmarkt tendiert nur bei einer äuβerst restriktiven Geldpolitik zu<br />

Gleichgewichtsprozessen. Bei einer expansiven Geldpolitik kommt es zu inflati-<br />

217 Die Wirkungen des monetären Bereichs auf den realen Bereich ergeben sich aus den Wechselwirkungen zwischen<br />

dem Geldmarkt und den übrigen Bereichen (vgl. § 7).<br />

133


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

onären Prozessen, welche selbst beschleunigend wirken können, und damit<br />

stabile Gleichgewichte verhindern.<br />

- Die Auβenwirtschaft tendiert nur zu Gleichgewichtsprozessen und einer Stabilisierung<br />

der Wechselkurse bei einer genügenden Elastizität der Import- und Exportnachfrage.<br />

Dies setzt eine hohe wirtschaftliche Entwicklungsstufe mit einem<br />

stark diversifizierten Güterangebot voraus.<br />

V. Die Grundzüge der Zinsstrukturtheorie<br />

Die vielfach getroffene Annahme, dass in einer Volkswirtschaft nur ein Zinssatz<br />

existiert, entspricht nicht der Realität, lässt sich doch in der Praxis eine Vielzahl<br />

von Zinssätzen feststellen. Indem alle verzinslichen Finanzaktiven Substitute<br />

sind, genügt es nicht, nur einen Zinssatz zu erklären, sondern es wird erforderlich,<br />

die ganze Zinsstruktur zu erklären:<br />

„ … the necessity to explain not just one market determined rate of return<br />

but a whole structure“. 218<br />

Das Verhältnis der am Markt gezahlten Zinsen zueinander wird als Zinsstruktur<br />

bezeichnet. 219 Dabei ergeben sich Zinsstrukturen aufgrund von mehreren, möglichen<br />

Kriterien; dazu zählen beispielsweise:<br />

1. Die Bonität der Kreditnehmer bzw. die Verzugs- und Ausfallrisikostruktur: Je<br />

höher das „grading“ (die Bonität) eines Schuldner ist, desto tiefer sind in der Regel<br />

die Zinsen (und umgekehrt). Im konjunkturellen Verlauf verändert sich oft<br />

das Verzugs- und Ausfallrisiko, weshalb es zu Verschiebungen der Zinskurve<br />

unter dem Aspekt des Verzugs- und Ausfallrisikostruktur kommt.<br />

2. Die geographische Struktur der Zinssätze zwischen einzelnen Ländern, so auch<br />

im Euro-Währungsgebiet: Diese resultiert aus den unterschiedlichen<br />

Knappheiten der Geld- und Kapitalmärkte in den verschiedenen Ländern und<br />

anderen Unvollkommenheiten (z.B. unterschiedliche Präferenzen für die Anlagen<br />

und die Verschuldung, institutionelle Hemmnisse, Transaktionskosten, Risiken<br />

und die länderübergreifenden Transfers von finanziellen Mitteln).<br />

3. Die Fristigkeitsstruktur der Zinssätze, welche sich aus den unterschiedlichen<br />

Restlaufzeiten von Finanzaktiven ergibt. 220 Nach der Fristigkeitsstruktur der Zinsen<br />

ergibt sich die üblicherweise betrachtete Zinsstrukturkurve. Diese wird auch<br />

Zinskurve, Fristigkeitsstruktur, yield-curve oder term-structure of interest rates<br />

218 Tobin, James, Store of Value, 1971, S. 225.<br />

219 Vgl. zur Zinsstruktur Issing, Otmar, Geldtheorie, 1984, S. 115 und S. 125.<br />

220 Vgl. Claassen, Emil Maria, Grundlagen der Geldtheorie, 2. Auflage, Berlin/Heidelberg/New York 1980, S. 183. Vgl.<br />

auch ders., Ein Beitrag zur Theorie der Zinsstruktur, Diss., Köln 1963.<br />

134


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

genannt. Die Zinsstrukturkurve stellt die Verbindungslinie der Zinsen (bzw.<br />

der Renditen auf Verfall) mit unterschiedlicher Laufzeit, jedoch einheitlicher Bonität<br />

dar.<br />

Die Zinsstrukturkurve zeigt zwei Marktsegmente in einem einzigen Zusammenhang,<br />

den Geldmarkt (mit Laufzeiten bis etwa zwei Jahre) und den Kapitalmarkt<br />

(mit Laufzeiten von zwei Jahren und mehr). Es ergeben sich flieβende Übergänge<br />

zwischen dem Geld- und dem Kapitalmarkt, welche im Grenzbereich zu einem<br />

einheitlichen Markt zusammenschmelzen.<br />

1. Das statistische Erscheinungsbild<br />

Die Fristigkeitsstruktur der Zinssätze lässt sich am Markt nicht direkt beobachten,<br />

da sich hinter den Renditen der einzelnen Finanzaktiven ganz unterschiedliche<br />

Bonitätsrisiken, geographische Zuordnungen und Restlaufzeiten verbergen.<br />

In der Praxis werden die Zinsen von Finanzaktiven mit erstklassiger Bonität für<br />

die Ermittlung der Zinsstrukturkurve verwendet (in der Regel Staatsanleihen, um<br />

die Risikokomponente zu eliminieren). Eine ideale Berechnungsgrundlage der<br />

Zinsstrukturkurve bilden Nullkuponanleihen (Zerobonds) ohne Kreditausfallrisiko.<br />

Aufgrund von Unvollkommenheiten der Finanzmärkte und Zufälligkeiten der<br />

Kursbildung stellen sich die Zinsen der Finanzaktiven mit unterschiedlichen<br />

Laufzeiten in der Regel als eine Punktwolke dar. Um eine Zinsstrukturkurve erhalten,<br />

wird diese Punktwolke mit der Hilfe von statistischen Verfahren geglättet.<br />

Die Zinskurve stellt damit eine synthetische, d.h. künstlich erzeugte Linie<br />

dar. 221<br />

221 Vgl. Issing, Otmar, Geldtheorie, 11. Aufl., S. 125 ff., und dort erwähnte Literatur.<br />

135


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das statistische Erscheinungsbild der Zinsstrukturkurve<br />

i statistisch geglättete Durchschnittskurve der<br />

Renditen auf Verfall (i.d.R. der Staatsanleihen)<br />

„normale“ Zinskurve oder Zinsstrukturkurve<br />

(yield curve)<br />

0 ca. 2 Jahre Laufzeit<br />

Geldmarkt Kapitalmarkt<br />

2. Die Glättung der Zinsstrukturkurve durch Arbitrage<br />

Eine Glättung der Zinskurve findet durch die Portefeuilletransaktionen an den<br />

betreffenden Finanzmärkten statt:<br />

„Zwischen den Zinssätzen auf kurzfristige und den auf langfristige Anleihen<br />

besteht ein ständiges Schwanken …. Die langfristigen setzen also eine<br />

grobe Norm für die kurzfristigen Zinssätze, die ihrerseits viel veränderlicher<br />

sind.“ 222<br />

Es werden Finanzaktiven mit überdurchschnittlichen Renditen gekauft, bei welchen<br />

die Verzinsung über der Zinskurve liegt (und umgekehrt). Auf diese Weise<br />

findet fortwährend eine Angleichung der Renditen an jene der hypothetischen<br />

Zinsstrukturkurve statt und es kommt zu einer Glättung der Zinsstruktur.<br />

222 Fisher, Irving, Die Zinstheorie, The Theory of Interest, ins Deutsche übertragen von Hans Schulz, Jena 1932 S. 175.<br />

136


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Glättung der Zinsstrukturkurve<br />

Zinsniveau<br />

0<br />

0<br />

0<br />

0 Laufzeit<br />

Ein ähnlicher Prozess findet über die Arbitrage zwischen den verschiedenen<br />

Laufzeiten statt. Liegen einzelne Zinsen über der (imaginären) Zinsstrukturkurve,<br />

können sich Transaktionen zur Arbitrage zwischen den einzelnen Fristen<br />

lohnen. Es kann es – im Rahmen von groβen Portefeuilles - auch sinnvoll sein,<br />

sich in einem dafür günstigen Laufzeitenbereich zu verschulden und in anderen<br />

Laufzeitenbereichen Mittel anzulegen. Solche Transaktionen führen zur Arbitrage<br />

zwischen einzelnen Fristen und möglicherweise auch zu einer Glättung der<br />

Zinsstrukturkurve. Gleichzeitig werden Fristentransformationsprozesse ausgelöst.<br />

Im Rahmen der Arbitragetätigkeit zwischen einzelnen Laufzeiten kommt es auch<br />

zu Einspielprozessen bei den Zinsen. In diesem Fall unterliegen die Zinsbewegungen<br />

nicht bedingten Varianzen, auch wenn keine exogenen Schocks auf die<br />

Zinsen wirken.<br />

0<br />

137


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

3. Die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Zinsstrukturkurve<br />

Die unterschiedlichen Erscheinungsformen der Zinsstrukturkurve<br />

i<br />

0 t (Laufzeit)<br />

* „Humped“ curve oder „kinked“ curve.<br />

Inverse Zinskurve<br />

Gekrümmte Zinskurve(n)*<br />

Flache Zinskurve<br />

Normale Zinskurve<br />

Die Zinsstrukturkurve kann vielfältige Formen aufweisen. Typische Formen<br />

sind:<br />

- Die „normale Zinsstrukturkurve“ (ansteigende Renditen mit zunehmender<br />

Laufzeit). Mit steigender Laufzeit ist der Renditezuwachs meist wie positiv,<br />

nimmt jedoch stetig ab, und ist letztlich kaum mehr zu messen. Die normale<br />

Zinsstrukturkurve ist typisch für Phasen mit niedrigen Zinsen.<br />

- Die fallende oder inverse Zinsstrukturkurve (sinkende Renditen mit steigender<br />

Laufzeit). Zu einer fallenden oder inversen Zinsstrukturkurve kam es in<br />

der Vergangenheit in einzelnen Hochzinsphasen, so beispielsweise, wenn die<br />

Zentralbank bei hohen Inflationsrationsraten die Geldmarktzinsen durch eine<br />

sehr restriktive Geldpolitik auf einem Niveau fixierte, welches höher war als<br />

die Kapitalmarktzinsen.<br />

- Die flache oder horizontale Zinsstrukturkurve (beispielsweise im Übergang<br />

von einer inversen zu einer normalen Zinskurve, und umgekehrt).<br />

- Die gekrümmte Zinsstrukturkurve bzw. „humped“ curve oder „kinked“ curve.<br />

In diesen Fall zeigen sich mit zunehmenden Laufzeiten beispielsweise zuerst<br />

fallende oder steigende Zinsen. Dies kann beispielsweise der Fall sein, wenn<br />

sich die Zinsstrukturkurve im Rahmen von Anpassungsprozessen verschiebt<br />

138


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

oder die Zentralbank vorübergehend an etwas höheren Zinssätzen am „kurzen<br />

Ende“ festhält.<br />

Zu den Hauptdeterminanten der Zinsstruktur zählt die Geldpolitik der Zentralbank.<br />

Die Bestimmungsfaktoren der Geldmarktzinsen sind die Leitzinsen der<br />

Zentralbank, ggf. erwartete Änderungen der Leitzinsen und die Transaktionskosten,<br />

die Erträge des Kapitals, die Inflationserwartungen, die Bonitäts- und politischen<br />

Risiken, erwartete Kapitalgewinne und die Einflüsse des Geldmarktes (aus<br />

der Fristentransformation zwischen den einzelnen Laufzeiten).<br />

Werden die Geldmarktzinsen tiefer als die Kapitalmarktzinsen gesetzt, kommt<br />

eine „normale“ Zinsstrukturkurve zustande. Werden die von der Zentralbank<br />

maβgeblich beeinflussten Geldmarktzinsen jedoch über den Kapitalmarktzinsen<br />

festgelegt, entstehe eine „inverse“ Zinsstrukturkurve. Im Übergang zwischen den<br />

beiden Ansätzen sind – je nach dem Verlauf der Anpassungsprozesse – verschiedene<br />

Formen von Zinsstrukturkurven möglich, zu welchen die flache und die gekrümmte<br />

Zinsstrukturkurve zählen.<br />

4. Einzelne Zinsstrukturtheorien<br />

Die Zinsstrukturtheorie (Theorie der zeitlichen Zinsstruktur) versucht, das Wesen<br />

der Zinsstruktur sowie deren Ursachen und Wirkungen zu erklären. Dazu<br />

gibt es mehrere Theorien.<br />

4.1. Die reine Erwartungshypothese<br />

Zu den ältesten Erklärungsversuchen der Zinsstrukturtheorie zählt die reine Erwartungshypothese<br />

(pure expectations hypothesis) von Irving Fisher (1896). 223<br />

Zu den Prämissen zählen:<br />

- Das Risiko ausbleibender Zinszahlungen oder Kapitalrückzahlungen ist ausgeschlossen.<br />

- Die Anleger besitzen vollkommene Voraussicht hinsichtlich des Kapital- und<br />

Einkommensrisikos.<br />

- Die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte, bezogen auf den kurzfristigen Zins,<br />

sind identisch.<br />

223 Die Erwartungstheorie stellt den ältesten und den bis heute am weitesten akzeptierte Erklärungsversuch dar; es<br />

gibt dazu mehrere Formulierungen. Die Erwartungstheorie geht auf I. Fisher (1930) zurück und wurde in der Folge<br />

vor allem durch J.R. Hicks und F.A. Lutz weiterentwickelt. (Irving Fisher, The Theory of Interest. J.R. Hicks, Value<br />

and Capital, S. 144 ff. F.A. Lutz, The structure of interest rates. Vgl. Issing, Einführung in die Geldtheorie, S. 127.<br />

Dazu zählen die Ansätze von John M. Keynes (1936) und Friedrich Lutz (1967). Vgl. Cox/ Ingersoll/Ross, 1981, S. 770.<br />

139


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Bezogen auf die Restlaufzeit besteht eine völlige Substituierbarkeit der Anleihen.<br />

- Es wird eine Gewinnmaximierung angestrebt.<br />

- Der Planungshorizont bezieht sich auf die längste Restlaufzeit der Anleihen.<br />

- Es gibt keine Transaktionskosten im Sinne von Steuern und Gebühren für den<br />

Kauf/Verkauf von Finanzaktiven.<br />

Return of maturity<br />

Der Ansatz „return of maturity“wurde von Irving Fisher und Friedrich Lutz 224<br />

entwickelt und geht von einer Übereinstimmung der Rendite eines Bonds mit der<br />

Restlaufzeit m und der erwarteten Rendite einer sukzessiven Anlagestrategie in<br />

m Einperioden-Bonds aus.<br />

In einer ersten Fassung entspricht ein langfristiger Zins dem Durchschnitt der<br />

erwarteten zukünftigen kurzfristigen Zinssätze:<br />

Rm<br />

=<br />

1<br />

t<br />

E<br />

m t<br />

Kritik:<br />

⎡<br />

⎢<br />

⎣<br />

R1<br />

+ 1 + + 1<br />

t<br />

R ... R<br />

t+<br />

1 t+<br />

m−1<br />

- Die Annahme einer vollkommenen Voraussicht über die zukünftige Zinsentwicklung<br />

ist sehr restriktiv. Nur wenn die Wirtschaftssubjekte mit völliger Sicherheit<br />

über die zukünftige Zinsentwicklung informiert sind, lässt sich auch die<br />

Entwicklung der Zinsstrukturkurve genau voraussagen. 225 Dabei wird das Zustandekommen<br />

der Erwartungen (Erwartungsbildung) nicht erklärt.<br />

- Die Annahme, die Steigung der Zinsstrukturkurve sei von der Abweichung der<br />

erwarteten zukünftigen Zinsen von den gegenwärtigen Zinsen abhängig, enthält<br />

keinen theoretischen Erklärungsgehalt.<br />

- Die Erwartungstheorie enthält keine Aussage zum überwiegend ansteigenden<br />

Verlauf der Zinsstrukturkurve. Es ergibt sich – mit ähnlicher Wahrscheinlichkeit<br />

– die Voraussage einer steigenden und einer sinkenden Zinsstrukturkurve.<br />

224 Vgl. Lutz, Friedrich, 1967, S. 434-452.<br />

225 Vgl. Lutz, Friedrich, 1967, S. 187.<br />

⎤<br />

⎥<br />

⎦<br />

140


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Indem eine steigende Zinsstruktur die Regel ist, müssten die Kapitalanleger<br />

ein andauerndes Ansteigen der kurzfristigen Zinsen in der Zukunft erwarten,<br />

was nur ausnahmsweise der Fall ist.<br />

4.2. Die Liquiditätsprämientheorie<br />

Die Liquiditätsprämientheorie versucht, den „normalen“ Verlauf der Zinsstrukturtheorie<br />

zu erklären. Diese geht auf J. R. Hicks (1946) 226 zurück, der die Überlegungen<br />

der Erwartungstheorie mit der Keynesschen Annahme der Liquiditätspräferenz<br />

(bei der es nur um die Alternativen Kasse oder langfristige Wertpapiere<br />

geht) verbindet. 227 Die Liquiditätsprämientheorie wurde unter anderem von Joan<br />

Robinson und Friedrich A. Lutz (1967) 228 weiterentwickelt.<br />

Prämissen<br />

- Das Geld weist als Zahlungsmittel den höchsten Liquiditätsgrad auf, führt aber<br />

auch zu erheblichen Transaktionskosten, welche mit längeren Laufzeiten an Bedeutung<br />

verlieren, was die Entscheidungen der Anleger beeinflusst.<br />

- Bei längeren Laufzeiten gibt es eine Reihe von Risikokomponenten, wozu<br />

Hicks vor allem die Kursänderungsrisien zählt: Der Anleger „ … should thus (as<br />

Keynes, if necessary, will remind him) not only take account of the interest that is<br />

offered on each security, but also of capital gain or loss; call the two together the<br />

resultant yield“. 229<br />

- Hinzu kommt bei längerfristigen Anlagen ein Verzicht auf Liquidität, und, wie<br />

spätere Autoren hervorheben, zu Bonitätsrisiken, politischen Risiken sowie Zinsänderungs-<br />

bzw. Einkommensrisiken. Diese Risiken steigen mit zunehmender<br />

Laufzeit, was in die Entscheidungen der Anleger einflieβt.<br />

Ergebnisse<br />

- Die Anleger fordern für steigende Laufzeiten eine Prämie für den Verzicht auf<br />

Liquidität bzw. eine geringere Liquidität: Je länger die Restlaufzeit des Wertpapiers<br />

ist, desto geringer ist dessen Liquiditätsgrad und desto höher ist das Risiko,<br />

das Wertpapier bei Bedarf mit Kursverlust verkaufen zu müssen.<br />

226 Hicks, John R., 1946, S. 126-154.<br />

227 Vgl. Issing, S. 128.<br />

228 Lutz, Friedrich, 1967, S. 436 ff.<br />

229 Hicks, John R., Critcial Essay in Monetary Theory, Oxford 1967 S. 20.<br />

141


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

“If not extra return is offered for long lending, most people (and institutions)<br />

would prefer to lend short, at least in the sense that they would prefer<br />

to hold their money on deposit in some way of other“. 230<br />

- Umgekehrt sind die Kapitalnehmer daran interessiert, möglichst langfristig Kapital<br />

aufzunehmen, um ihre Planungsunsicherheit zu minimieren. Dies bewirkt<br />

eine „konstitutionelle Schwäche des Kreditmarktes am langen Ende“ 231 durch eine<br />

Übernachfrage und eine Verminderung des Angebotes, indem die Kreditnachfrager<br />

auf der einen Seite bevorzugt Mittel für mittlere und längere Fristen aufnehmen<br />

möchten und meist eine feste Zinsbelastung anstreben. Die Anleger auf<br />

der anderen Seite haben Liquiditätspräferenz und fordern eine Liquiditätsprämie<br />

für längerfristige Finanzanlagen:<br />

„Taking these things together, it still appears that the forward market loans<br />

(…) may be expected to have a constitutional weakness on one side, a weakness<br />

which offers an opportunity for speculation. If no extra return is offered<br />

for long lending, most people (and institutions) would prefer to lend<br />

short, at least in the sense that they would prefer to hold their money on deposit<br />

in some way or the other”. 232<br />

Auf diese Weise ergibt sich aus der „reinen“ Liquiditätsprämientheorie, auch im<br />

Falle der Erwartung konstanter kurzfristiger Zinsen, immer eine positive Zinsstruktur.<br />

Selbst wenn der Markt konstante zukünftige Zinsen erwartet, erklärt<br />

die Liquiditätsprämie den steigenden Verlauf der Zinsstruktur.<br />

- Die Liquiditätsprämie steigt nach Auffassung von Hicks monoton mit der Restlaufzeit.<br />

233 Nach einer anderen Auffassung verlaufen die Liquiditätsprämien<br />

nicht monoton zur Laufzeit. Indem diese mit zunehmender Laufzeit der Anlagen<br />

geringer werden, flacht auch die Zinsstruktur mit zunehmender Laufzeit bei einer<br />

unterdurchschnittlich zunehmenden Risikoprämie ab. Die Veränderung der<br />

Liquiditätsprämien wird gelegentlich als eine zum Koordinatenursprung konvexe<br />

Funktion dargestellt.<br />

- Durch die Liquiditätsprämie werden die Wertpapiere mit verschiedenen Laufzeiten<br />

substituierbar. Die Substituierbarkeit ergibt sich durch den Ertragsaufschlag,<br />

wobei längere Laufzeiten mit einer Liquiditätsprämie entschädigt werden.<br />

Kritik<br />

230 Hicks, John R. Value and Capital. An Inquiry into Some Fundamental Principles of Economic Theory, 2nd ed., Oxford<br />

1947, S. 146.<br />

231 Vgl. Hicks, 1946, S. 146.<br />

232 Hicks, John R. 1947, S. 146.<br />

233 Hicks, John R., 1946, S. 146.<br />

142


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Eine besondere Kritik ergibt sich aus dem Phänomen der „preferred habit“. So<br />

ist nicht auszuschlieβen, dass ein Anleger, welcher gerne eine länger dauernde<br />

Anlage tätigen möchte, und sich aus Gründen der Verfügbarkeit für eine kürzer<br />

dauernde Anlage entscheiden muss, wegen der Zins- und damit verbundenen<br />

Einkommensrisiken einen Zinsaufschlag verlangt (Friedrich A. Lutz). 234 Diesem<br />

Argument lässt sich aus heutiger Sicht mit dem Argument eines reichlichen Angebotes<br />

an Finanzaktiven in allen Laufzeitbereichen begegnen.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Der Renditen werden mit - Diese These trifft für die Referenzperiode zu.<br />

zunehmender Laufzeit höher<br />

2. Die Liquiditätsprämien verlaufen - Diese These trifft weitgehend zu.<br />

monoton und stellen keine zum<br />

Koordinatenursprung kon-<br />

vexe Funktion dar.<br />

4.3. Die Marktsegmentierungshypothese von J. M. Culbertson<br />

Nach der Marktsegmentationstheorie von J. M. Culbertson (1957) sind die Märkte<br />

für Zinstitel (Bills, Notes, Bonds) segmentiert. Als Prämisse wird angenommen,<br />

dass die einzelnen Anleger individuelle, feste Präferenzen für die Anlagedauer<br />

mit unterschiedlichen Anlagehorizonten haben.<br />

- Die Geld- und Kapitalmärkte (mit kürzeren Laufzeiten) werden im Wesentlichen<br />

von den Banken beherrscht, welche danach trachten, die Liquiditätsbedürfnisse<br />

ihrer Kunden zu befriedigen;<br />

- die Kapitalmärkte (mit längeren Laufzeiten) werden durch die Versicherungen<br />

und die Pensionskassen zur Erfüllung langfristiger Rentenverpflichtungen<br />

dominiert.<br />

Dazwischen liegt ein wenig besetzter Bereich, weshalb von einer Segmentierung<br />

der Märkte für Zinstitel gesprochen wird. Es finden nur beschränkte<br />

234 Vgl. Jurke, Gisela, Grundlagen des Dept. Management unter besonderer Berücksichtigung der Bestimmungsgründe<br />

zur Erklärung der Zinsstruktur, Berlin 1972, S. 61.<br />

143


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Arbitragebewegungen zwischen den einzelnen Segmenten statt. 235 Ein Einfluss<br />

von Erwartungen über die verschiedenen Segmente hinweg wird ausgeschlossen.<br />

Als Ergebnis kommen die Renditen aus dem Zusammenspiel von Angebot und<br />

Nachfrage in den einzelnen Segmenten zustande. Ein normaler (steigender) Verlauf<br />

der Zinsstrukturkurve aufgrund der „normalen“ Liquiditätspräferenz der<br />

Anleger überwiegt, weil das Angebot an Mitteln auf dem Geldmarkt gröβer ist<br />

als auf dem Kapitalmarkt. Zudem resultieren aus der begrenzten<br />

Substituierbarkeit der Titel der einzelnen Bereiche Anpassungsverzögerungen.<br />

Die Marktsegmentationstheorie entstand in den 1950er Jahren (USA) aufgrund<br />

des beobachten Anlageverhaltens und wurde bereits damals kritisch beurteilt.<br />

Sie gilt seit langer Zeit als überholt und bietet keinen formalen Ansatz zur Bestimmung<br />

der Liquiditätsprämien.<br />

Zudem haben die Geld- und Kapitalmärkte seit den 1970er Jahren im gesamten<br />

Laufzeitenbereich groβe Marktvolumina entwickelt. Die Arbitrage zwischen den<br />

einzelnen Finanztiteln und –kontrakten trägt zu einer Glättung der gesamten<br />

Zinskurve bei. Dieser Effekt wird durch die Terminkontrakt- und Optionsmärkte<br />

noch verstärkt.<br />

Abgelöst wurde die Marktsegmentationstheorie durch Angebots-/ Nachfragemodelle.<br />

236 Danach ergeben sich, vereinfacht formuliert, bei den einzelnen Laufzeiten<br />

Gleichgewichtsrenditen als Ausgleich des Angebotes und der Nachfrage nach<br />

Zinstiteln. Die Anleger sind risikoavers und differenzieren nach Laufzeiten und<br />

unterschiedlichen Risiken.<br />

4.4. Die Preferred Habitat Hypothese<br />

Die Preferred-Habitat Hypothese geht von Anlegern aus, welche in ihrem Planungshorizont<br />

unterschiedliche Präferenzen haben. Im Rahmen der Preferred<br />

Habit Hypothese integrieren Franko Modigliani und Richard Sutch (1968) Elemente<br />

der Marktsegmentations-, der Erwartungs- und der Liquiditätspräferenztheorie.<br />

237<br />

Zu den Prämissen bzw. institutionellen Rahmenbedingungen zählen die ausgeprägten<br />

Präferenzen der einzelnen Anleger für bestimmte Laufzeiten (kurze,<br />

mittlere und lange Laufzeiten). Die Anleger sind risikoavers und haben, im Gegensatz<br />

zur Liquiditätsprämientheorie, die Bereitschaft, bei einer entsprechenden<br />

235 Vgl. Culbertson, J.M., 1957, S. 49.<br />

236 Vgl. Brainard, W., und Tobin, J. 1968, S. 99.<br />

237 Vgl. Modigliani, Franco, und Sutch, Richard, Innovations in Interest Rate Policy. In: American Economic Review,<br />

Vol. 56, 1966, S. 178-197.<br />

144


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Risikoprämie in ein anderes Segment von Laufzeiten zu wechseln (Arbitrage).<br />

Zudem gibt es Transaktionskosten. 238<br />

Am Ende ihres Planungshorizontes streben die Anleger ein bestimmtes Vermögen<br />

an (beispielsweise zur Rückzahlung von Schulden). Es ist für sie nicht ganz<br />

rational, sich mit kurzfristigen Kapitalverlusten zu beschäftigen und ziehen –<br />

entsprechend der Liquiditätspräferenztheorie – in erster Linie kurzfristige Anlagen<br />

vor. Die Anleger haben einen bestimmten Anlagehorizont und sind indifferent<br />

hinsichtlich der Kurs- sowie Illiquiditätsrisiken bis zum zukünftigen Liquiditätszeitpunkt.<br />

Erwerben sie Zinstitel mit einer kürzeren Laufzeit als dem jeweiligen<br />

Planungshorizont, haben sie ein Risiko hinsichtlich der erneuten Anlage<br />

und erwarten eine Risikoprämie. Wieder andere Anleger mit einem kurzfristigen<br />

Planungshorizont fordern wie bei der Liquiditätsprämientheorie für den Kauf<br />

von Anlagen, welche ihren Planungshorizont übersteigt, eine Risikoprämie.<br />

Als Ergebnis bilden sich Angebot und Nachfrage in den einzelnen Segmenten<br />

ziemlich unabhängig voneinander. Dies steht in einem Zusammenhang mit der<br />

konkreten Verteilung der spezifischen Planungshorizonte der Investoren. Das<br />

Verhalten der Investoren kann – theoretisch betrachtet – jedes beliebige Muster<br />

von Zeitprämien generieren. Möglich sind sogar negative Risikoprämien für längerfristige<br />

Papiere. Dies hängt davon ab, was als wichtiger eingestuft wird, das<br />

Einkommensrisiko oder das Kapitalrisiko. Ein Wechsel aus dem bevorzugten Anlagesegment<br />

in ein anderes kommt nur bei einem zusätzlichen Zinsaufschlag zustande.<br />

Angesichts des risikoaversen Verhaltens der Anleger ist dieser Zinsaufschlag<br />

keine klar abzugrenzende Zeitprämie.<br />

Kritisch zu betrachten sind die ausgesprochen heuristischen Aussagen der<br />

Preferred Habit Hypothese, welche nicht in der Lage ist, die Laufzeitenstruktur<br />

der Anlagen und die Risikoprämien zu erklären. Anzuerkennen ist die These<br />

über die unsystematischen Verhaltensmuster der Investoren und möglicherweise<br />

sogar negativen Werte für die Risikoprämien.<br />

4.5. Das Zinsspannentheorem von Burton G. Malkiel ***<br />

Beim Zinsspannentheorem von Burton G. Malkiel (1966) 239 geht es um die Modellierung<br />

der Erwartungen über die künftigen Kassenzinsen in Abhängigkeit<br />

von der aktuellen Zinssituation.<br />

Es wird, als Prämisse, von Zinsschwankungen innerhalb einer bestimmten Bandbreite<br />

um den langfristigen Durchschnitt ausgegangen. Dabei bilden sich die An-<br />

238 Vgl. Modigliani, Franco, und Sutch, Richard, Innovations in Interest Rate Policy. In: American Economic Review,<br />

Vol. 56, 1966, S. 183 f.<br />

239 Vgl. Malkiel, Burton G., 1966, S. 51.<br />

145


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

leger ihre Erwartungen über die Höhe des Zinssatzes am Ende der Periode. Die<br />

Richtung der zukünftigen Zinsänderung wird – nach Auffassung der Anleger –<br />

von der gegenwärtigen Lage des Zinssatzes innerhalb der Schwankungsbreite<br />

bestimmt. Die Anleger wollen die erwartete Rendite maximieren, sind risikoneutral<br />

und ziehen die Anlage mit dem höchsten Ertrag vor.<br />

Als Ergebnis wird eine kurzfristige, sichere und höher verzinsliche Anlage einer<br />

langfristigen Anlage mit einer geringeren zu erwartenden Rendite vorgezogen.<br />

Die Zinsspannen werden mit zunehmender Laufzeit der Finanzaktiven immer<br />

geringer.<br />

Mit diesen Überlegungen erklärt Malkiel die Zinsspannen. Tatsächlich kam es<br />

im Verlaufe von konjunkturellen Zyklen mit abwechselnd hohen und tieferen<br />

Inflationsraten vor allem in den 1960er bis Anfang der 1990er Jahre zu Phasen mit<br />

steigenden und sinkenden Zinsen, wobei die kurzfristigen Zinsen stärkeren<br />

Schwankungen als die langfristigen Zinsen ausgesetzt waren.<br />

Das Zinsspannentheorem von Burton G. Malkiel (Skizze)<br />

i<br />

Bereich der (erwarteten)<br />

Zinsschwankungen<br />

erwartete Zinsobergrenze<br />

erwartete Zinsuntergrenze<br />

0 Restlaufzeit<br />

146


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

4.6. Die modifizierte Erwartungstheorie (Meiselmann)<br />

These -<br />

Die modifizierte Erwartungstheorie von Meiselmann (1962) 240 beruht auf empirischen<br />

Die Zinsspannen Tests, welche werden die mit Terminzinssätze - Diese These mit trifft den zu; späteren die Volatilität Werten der der Zinsen realisierten sinkt<br />

Kassenzinsen einer längeren Laufzeit vergleichen der Zinsen und die mit (reine) zunehmender Erwartungshypothese Laufzeit der Geld- widerlegen bzw. Kapital- sollen.<br />

geringer märkte (Ausnahme: Kapitalmarktzinsen für zwei Jahre).<br />

4.5. Die modifizierte Erwartungstheorie (Meiselmann)<br />

Die modifizierte Erwartungstheorie von Meiselmann (1962) 241 beruht auf empirischen<br />

Tests, welche die Terminzinssätze mit den späteren Werten der realisierten<br />

Kassenzinsen vergleichen und die (reine) Erwartungshypothese widerlegen sollen.<br />

Zu den Prämissen zählen einige methodische Grundlagen: Danach enthalten die<br />

Terminzinssätze keine Markterwartungen. Zudem lassen sich Erwartungen bei<br />

empirischen Tests zur Erwartungstheorie nicht direkt ermitteln; getestet werden<br />

können nur die empirischen Ergebnisse der theoretischen Modelle.<br />

Die modifizierte Erwartungstheorie analysiert die Fehlerhaftigkeit der Vorausschätzungen<br />

der Zinsentwicklung seitens der Anleger. Erwarten die Anleger einen<br />

bestimmten Zinssatz und trifft die Prognose nicht zu, so reagieren sie auf den<br />

festgestellten Prognosefehler. Nach den Modellergebnissen beziehen die Anleger<br />

die tatsächliche Zinsentwicklung und die Abweichung der Zinsentwicklung von<br />

ihren Zinsprognosen in die Anlageentscheidungen ein und korrigieren darauf<br />

die Zukunftsschätzungen. Das Verhalten der Anleger entspricht einer ständigen<br />

Erwartungskorrektur, indem Prognosefehler zu Erwartungskorrekturen führen.<br />

Die Halterendite (bei Meiselmann beispielsweise drei Monate) muss für Zinstiteln<br />

mit kurzer und mit langer Laufzeit zumindest in der Tendenz dieselbe sein.<br />

Ein Ausgleich der Renditen könnte jedoch nur erfolgen, wenn die Anleger die<br />

Entwicklung der Zinsen in der Vergangenheit korrekt antizipiert hätten, also<br />

vollkommene Voraussicht herrschen würde. Bestehen Prognosefehler, muss die<br />

realisierte Rendite nicht mit der erwarteten Rendite übereinstimmen.<br />

Ähnlich wie bei der Erwartungshypothese kann Meiselmann im Rahmen seiner<br />

modifizierten Erwartungstheorie den im Allgemeinen steigenden Verlauf der<br />

Zinsstrukturkurve nicht erklären. Da die kurzfristigen Zinsen in der Regel nied-<br />

240 Vgl. Meiselmann, 1962, S. 21.<br />

241 Vgl. Meiselmann, 1962, S. 21.<br />

147


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

riger als die langfristigen sind, müsste die Schlussfolgerung darin bestehen,<br />

dass die Anleger die Zinsen systematisch überschätzen. Zutreffend ist jedoch die<br />

Erkenntnis, dass die Erwartungen einen starken Einfluss auf die Zinsstrukturkurve<br />

ausüben, wobei diese in der Regel nicht konsistent mit den konkreten Anlageentscheidungen<br />

sind.<br />

4.7. Die Ursachen der Zinsstrukturkurve (empirische Hinweise)<br />

Die Zinsstruktur umfasst das Spektrum der kurzfristigen Geldmarktsätze bis zu<br />

den langfristigen Kapitalmarktsätzen. Die Zinsstruktur hängt mit dem Angebot<br />

und der Nachfrage nach den Finanzaktiven unterschiedlicher Laufzeiten zusammen.<br />

242 Das Geld ist ein wesentlicher, jedoch nicht der einzige Einflussfaktor,<br />

welcher zu Änderungen der Zinsstruktur führen kann. Eine Erhöhung der monetären<br />

Finanzaktiven beispielsweise löst Prozesse aus, welche die gesamte Zinsstruktur<br />

verändern. Dabei kommt es nicht nur zu Substitutionsprozessen, sondern<br />

auch zu Vermögenseffekten auf die Zinsstruktur.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2004)<br />

Der zinsstrukturelle Zusammenhang<br />

Geldmarkt Kapitalmarkt<br />

242 Tobin, James, Store of Value, 1971, S. 226.<br />

148


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geldangebot Kapitalangebot<br />

Zinsen mit einer Laufzeit von …<br />

1 Tag 1 Mt. 3 Mt. 6 Mt. 12 Mt. 2 J. 5 J. 10 J.<br />

0,49 0,41 0,42 0,45 0,47 0,57 0,67 0,55 0,01 0,13 0,28 0,33 032 0,41<br />

Geldnachfrage Kapitalnachfrage<br />

In diese Richtungen gehen im Wesentlichen die Fristentransformationsprozesse<br />

(Korrelationskoeffizienten >0,5).<br />

4.8. Die Wirkungen der Zinsstrukturkurve (empirische Hinweise)<br />

Ein üblicherweise verwendetes statistisches Maβ, um die Steilheit der Zinskurve<br />

auszudrücken und für ökonometrische Untersuchungen zu verwenden, ist die<br />

Zinsdifferenz (Zinsspread) zwischen den 10-Jahreszinsen (des Kapitalmarktes)<br />

und den 3-Monatszinsen (des Geldmarktes).<br />

Eine steile Zinskurve bedeutet eine große Renditedifferenz zwischen dem Kapitalmarkt<br />

und dem Geldmarkt, eine flachere Zinskurve eine kleine Renditedifferenz.<br />

Bei einer inversen Zinskurve besteht eine negative Zinsdifferenz, d.h. die<br />

Geldmarktzinsen sind höher als die Kapitalmarktzinsen.<br />

Ein groβer Spread wird oft auch als ein Zeichen für eine expansive Geldpolitik<br />

betrachtet, ein geringer oder negativer Spread als Hinweis für eine kontraktiv<br />

angelegte Geldpolitik. Dabei wird die Höhe des Spreads in Verbindung mit den<br />

dadurch ausgelösten Fristentransformationsprozessen (beispielsweise vom längerfristigen<br />

Geldmarkt zum Kapitalmarkt) in Verbindung gebracht.<br />

149


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Zinsstrukturkurve wird steiler Die Zinsstrukturkurve wird flacher<br />

Zins Zins<br />

0 Laufzeit 0 Laufzeit<br />

150


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Steigende Zinsen führen zu einer flacheren Zinsstruktur- - Diese These trifft zu. Sowohl steigende Geldmarkt-<br />

kurve (und umgekehrt) zinsen als auch steigende Kapitalmarktzinsen (mit ei<br />

nem lag von einem Monat) führen zu einer flacheren<br />

Zinsstrukturkurve (und umgekehrt).<br />

2. Eine gröβere Wachstumsrate führt zu einer - Diese These trifft zu. Die Verschiebung erfolgt<br />

flacheren Zinsstrukturkurve (und umgekehrt) praktisch zeitverzugslos.<br />

3. Eine steilere Zinsstrukturkurve ist ein Prädiktor für eine - Diese Thesen trifft zu.<br />

größere Wachstumsrate des BIP real (und umgekehrt)<br />

4. Eine höhere Inflationsrate führt zu einer flacheren - Diese These trifft zu. Die Verschiebung erfolgt<br />

Zinsstrukturkurve (und umgekehrt), indem die Geld- praktisch zeitverzugslos.<br />

marktzinsen stärker steigen als die Kapitalmarktzinsen<br />

5. Eine steilere Zinsstrukturkurve ist ein Prädiktor für eine - Diese These trifft zu (mit einem der Zinsstrukturkurve<br />

steigende Inflationsrate und umgekehrt) von vier Monaten).<br />

6. Lohnsteigerungen bewirken eine flachere Zinsstruktur- - Diese These trifft zu (mit einem lead der Lohnände-<br />

kurve (und umgekehrt) rungen von vier Monaten).<br />

7. Eine flachere Zinsstrukturkurve ist ein Pädiktor für - Diese Thesen trifft zu (mit einem lag der Lohnände-<br />

Prädiktor für Lohnsteigerungen (und umgekehrt). rungen von vier Monaten).<br />

8. Wechselkurserhöhungen EUR-USD führen zu einer - Diese These trifft zu (schwach signifikant).<br />

steileren Zinsstrukturkurve (und umgekehrt)<br />

9. Eine steilere Zinsstrukturkurve ist ein Prädiktor für - Diese Thesen trifft nicht zu.<br />

höhere Wechselkurse (und umgekehrt).<br />

10. Steigende Aktienkurse führen zu einer flacheren - Diese These trifft zu. Steigende Aktienkurse führen<br />

Zinsstrukturkurve (und umgekehrt) zu einer flacheren Zinsstrukturkurve, indem Finanzaktiven<br />

von den Geld- und Kapitalmärkten zu den Aktienmärkten<br />

umgelagert werden (und umgekehrt).<br />

11. Eine steilere Zinsstrukturkurve ist ein Prädiktor für - Diese These trifft zu.<br />

Aktienkurssteigerungen (und umgekehrt).<br />

12. Eine verstärkte Kreditnachfrage bei den Geschäftsbanken - Diese These trifft zu.<br />

führt zu einer flacheren Zinsstrukturkurve<br />

(und umgekehrt)<br />

13. Eine steilere Zinsstrukturkurve ist ein Prädiktor für eine - Diese These trifft zu (mit einem lead der Zinsstruktur-<br />

steigende Kreditnachnachfrage (und umgekehrt). kurve von vier Monaten).<br />

14. Eine verstärkte Geldnachfrage bei M1 führt zu einer - Diese These trifft nicht zu. Vielmehr bewirkt eine<br />

flacheren Zinsstrukturkurve (und umgekehrt) stärker steigende Geldmenge von M1 eine steilere Zins-<br />

strukturkurve (mit einem lead von M1von 3 Mt.).<br />

15. Eine steigende Zinsstrukturkurve bewirkt – Diese These trifft zu. Eine steilere Zinsstruktur-<br />

steigende Wachstumsraten bei den Geldmengen M1 kurve führt praktisch zeitverzugslos zu einer verstärk-<br />

(und umgekehrt). Geldnachfrage bei M1 (und umgekehrt).<br />

16. Eine expansive Geldpolitik führt zu einer steileren - Diese These trifft generell zu. Eine expansivere Geld-<br />

Zinsstrukturkurve (und umgekehrt) politik kann in Folge der damit verbundenen Wachs-<br />

tums- und Inflationserwartungen auch zu einer flacheren<br />

Zinsstrukturkurve führen. Nur bei sinkenden Inflationsraten<br />

und Wachstumsraten bei d BIP real bewirkt<br />

eine expansive Geldpolitik eine steilere Zinsstrukturkurve.<br />

151


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

4.9. Weitere, typische Bilder der Zinskurve (empirische Hinweise)<br />

(1.) Gekrümmte Zinskurve (im Geldmarktbereich)<br />

Eine gekrümmte Zinskurve im Geldmarktbereich ergibt sich beispielsweise,<br />

wenn eine wenig expansive Kreditnachfrage zu relativ tiefen Geldmarktzinsen<br />

im längeren Bereich führt und die EZB die die Geldmarktzinsen für den kurzfristigen<br />

Bereich (Laufzeiten von einem Tag bis einem Monat) etwas darüber hält,<br />

um die noch bestehenden Inflationserwartungen zu dämpfen. Dabei kommt es<br />

zu ausgeprägten Einspiel- und Fristentransformationsprozessen, vor allem im<br />

Geldmarktbereich und zwischen den einzelnen Laufzeiten.<br />

i Mit einer gekrümmten Zinskurve im Geldmarkt-<br />

bereich verbinden sich folgende Erwartungen<br />

(Euro-Währungsgebiet 1999-2004):<br />

- Dämpfung der Nachfrage nach kurzfristigen<br />

Kredi-ten.<br />

- Erhöhung der Wachstumsrate von d M1 durch<br />

Anlage von Finanzaktiven im kurzfristigen<br />

Bereich.<br />

T - Erwartung eines sinkenden Zinsniveau durch eine<br />

späterhin relativ expansive Geldpolitik.<br />

(2.) Gekrümmte Zinskurve (im Kapitalmarktbereich)<br />

Im Anschluss an eine Phase mit einer inversen Zinsstruktur, bei welcher die<br />

kurzfristigen Zinsen über den langfristigen Zinsen liegen, gehen die sehr langfristigen<br />

Zinsen vorerst schneller zurück, nachdem in diesem Laufzeitenbereich<br />

bei Zinssenkungen die größten Kapitalgewinne entstehen.<br />

i<br />

t<br />

Erwartung weiterhin sinkender langfristiger<br />

Kapitalmarktsätze.<br />

152


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

(3.) Verschiebung der Zinskurve nach einer Senkung der EZB-Zinssätze<br />

Sinken die sehr kurzfristigen Zinsen, kommt es ggf. zu einer Erhöhung der Zinsen<br />

für die längerfristigen Kapitalmarktzinsen, weil höhere Inflations- und<br />

Wachstumserwartungen beim BIP real ausgelöst werden (und umgekehrt).<br />

i<br />

0 t<br />

Höhere Kapitalmarktsätze (Erwartung<br />

einer künftig steigenden Inflationsrate).<br />

(4.) Verschiebung der Zinskurve nach einer Erhöhung der EZB-Zinssätze<br />

i<br />

0 t<br />

5. Die affine Zinsstrukturtheorie<br />

Tiefere Kapitalmarktsätze (Erwartung<br />

einer künftig sinkenden Inflationsrate).<br />

Affine Zinsstrukturtheorien beschreiben in einer stilisierten (vereinfachten) Form die Eigenschaften<br />

von Zinsstrukturkurven, auch im zeitlichen Verlauf. 243 Bei den sog. affinen Zinsstrukturmodellen<br />

liegen alle Punkte auf einer Linie, was auch nach einer Verschiebung (Transformation)<br />

der Kurve der Fall ist. 244, 245 Die Linie folgt in der Regel der Funktion x = a + by, d.h. diese<br />

Zinsstrukturmodelle haben einen Exponenten a, womit die Kurve nicht durch den Ursprung<br />

läuft. Ein oft verwendetes statistisches Maß, um zu einer stilisierten Zinsstrukturkurve zu ge-<br />

243 Vgl. zu diesen Ausführungen Bolder, David, 2001.<br />

244 Bekannte affine Zinsstrukturmodelle sind jene von Oldrich A. Vasicek (1977), Cox, Ingersoll, and Ross (1985a, b) sowie<br />

Longstaff und Schwartz (1992a, b).<br />

245 Zu den allgemeinen Prämissen der affinen Zinsstrukturtheorie zählt die Risikofreiheit hinsicht-lich der Zins- und<br />

Kapitalrückzahlungen bei den jeweiligen Fälligkeiten.<br />

153


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

langen, ist die Zinsdifferenz (Zinsspread) zwischen den Zehnjahreszinsen des Kapitalmarktes<br />

und den <strong>Dr</strong>eimonatszinsen des Geldmarktes (vgl. Abbildung 54).<br />

Mit einer affinen Zinsstrukturkurve lassen sich das Niveau (die Lage) und die Steilheit einer<br />

Zinsstruktur zur Darstellung bringen. Eine steile Zinskurve bedeu-tet eine große Renditedifferenz<br />

zwischen dem Kapitalmarkt (10-Jahreszinsen) und dem Geldmarkt (3-Monatszinsen), eine<br />

flachere Zinskurve eine kleine Rendite-differenz. Bei einer inversen Zinskurve besteht eine<br />

negative Zinsdifferenz, d.h. die Geldmarktzinsen sind höher als die Kapitalmarktzinsen.<br />

Abbildung 54: Die stilisierte („affine“) Zinsstrukturkurve<br />

i Geldmarkt Kapitalmarkt<br />

= „Zinsstruktur“.<br />

0 3 Monate 10 Jahre Laufzeit (bis Fälligkeit) (t)<br />

Zinsspread<br />

(Zins 10 J. - Zins 3 Mt.)<br />

Mit der Beschreibung der Lage und der Steilheit der Zinsstrukturkurve – in einer stilisierten<br />

Form – lassen sich die Ursachen sowie die Wirkungen und damit zwei wesentliche Eigenschaften<br />

einer Zinsstrukturkurve ausdrücken und diese für ökonometrische Untersuchungen verwenden.<br />

Affine Zinsstrukturmodelle analy-sieren die Zinsstruktur als eine lineare Funktion<br />

eines Einflussfaktors oder mehre-rer Einflussfaktoren. Indem die stilisierte Zinsstrukturkurve<br />

deren Niveau (Lage) und Steilheit abbildet, können vor allem die „normale“ und die „inverse“<br />

Zinsstruktur beschrieben und analysiert werden.<br />

Zu den Schwächen affiner Zinsstrukturmodelle zählt, ganz allgemein betrach-tet, die stilisierte<br />

Form der Darstellung, mit welcher sich die gesamte Zins-strukturkurve nur unvollständig<br />

abbilden lässt, indem diese in der Regel ledig-lich zwei Punkte, die Zehnjahreszinsen des<br />

Kapitalmarktes und die <strong>Dr</strong>eimonats-zinsen des Geldmarktes sowie die dazwischen liegende,<br />

lineare Verbindungslinie enthält. Nicht abgebildet werden kann die Krümmung einer<br />

Zinsstrukturve; in diesem Fall ergibt sich bei einer stilisierten Zinsstrukturkurve ein erheblicher<br />

Informationsverlust. Ein weiterer Nachteil ist die unzureichende Möglichkeit, dynamische<br />

Veränderungen der Zinsstrukturkurve mit Verkrümmungen zu er-klären. Hingegen lassen sich<br />

mit affinen Zinsstrukturen in vielen Fällen die Grundzüge der Zinsstrukturtheorie und deren<br />

Anwendung in der Praxis erläu-tern.<br />

Bei einer Analyse der Zinsstruktur ist – als Ausgangslage – von der aktuellen Zinsstrukturkurve<br />

auszugehen. Deren Dynamik lässt sich mit Hilfe von drei wesentlichen Phänomen erklären:<br />

- Die deterministischen Bewegungen der Zinsstruktur (vgl. Ziffer 8.).<br />

- Die Aufhebung der Prämisse der Arbitragefreiheit (vgl. Ziffer 9. und 10.).<br />

- Die stochastischen Zinsbewegungen bei arbitragefreien Modellen (vgl. Ziffer 11.).<br />

154


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

5.1. Die deterministischen Bewegungen der Zinsstruktur<br />

Die Analyse der deterministischen Einflüsse einzelner Einflussfaktoren auf die Zinsstrukturkurve<br />

fällt unter die Gruppe der dynamischen Zinsstrukturmodelle, welche die Dynamik<br />

der Zinsstrukturkurve mit einer begrenzten Zahl von Ein-flussfaktoren (Vektoren) zu erklären<br />

versuchen. 246 In der Praxis lassen sich oft über 90 Prozent der Bewegungen der Zinsstrukturkurve<br />

mit drei Vektoren erklä-ren. 247<br />

Die Lage und die deterministischen Bewegungen der Zinsstrukturkurve erge-ben sich vor<br />

allem unter dem Einfluss von makroökonomisch und besonders monetär bedeutsamen Faktoren,<br />

welche auf die einzelnen Laufzeitensegmente einwirken. Indem die Zinsstruktur das ganze<br />

Spektrum der kurzfristigen Geldmarktsätze bis zu den langfristigen Kapitalmarktsätzen<br />

umfasst, wirken sich die einzelnen Einflussfaktoren sehr unterschiedlichen auf das Angebot<br />

und die Nachfrage nach den Finanzaktiven mit unterschiedlichen Laufzeiten aus. 248<br />

246 Vgl. zu diesen Ausführungen auch Heidari, Massoud und Wu, Liuren, 2002.<br />

247 Diese Modelle eignen sich jedoch nicht zur Analyse der Preisbewegungen von Zinsoptionen.<br />

248 Vgl. Tobin, James, 1971a, S. 226.<br />

155


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Die deterministischen Einflüsse auf die Zinsstrukturkurve: Zusammenfassung der Ergebnisse (ohne die<br />

Berücksichtigung von Arbitrageprozessen zwischen den einzelnen Laufzeiten-Segmenten und stochastischen<br />

Zinsbewegungen)*<br />

Ursachen ...<br />

Sehr kurzfristige Wirkung (innerhalb eines Monats) auf ...<br />

Zins Zins Zins Zins Zins Zins Zins Zins<br />

1 Tag 1 Mt. 3 Mt. 6 Mt. 12 Mt. 2 Jahre 5 Jahre 10 Jahre<br />

d reales BIP + + M + + + + + + (t+6)<br />

Inflationsrate + (t+6) + (t+6) + (t+6) + (t+6) + (t+3) + (t+10) . .<br />

d EUR-USD . . . - (t-5) . . . .<br />

d Arbeitslose - M - - - - . - - (t+3)<br />

d Lohn + (t+4) + (t+3) + (t+8) + (t+3) M + (t+2) + (t+7) + (t+6)<br />

d Aktienindex + + + + + M + + + (t+6)<br />

d Kred. MFI + + (t+1) + M + + M + + (t-1) + (t-1)<br />

d M1 + (t-4) M + (t-1) + (t-8) + (t-5) + (t-5) + (t-1) M + (t-1) M + (t-4)<br />

d M2 . . . . . . . .<br />

d M3 + (t+6) M + (t+10) + (t+4) + (t+6) + (+6) + (t+4) + (t+4) + (t+5)<br />

Mindestbiet.satz + M + M + M + M + M + (t+3) M + (t+4) M + (t+5)<br />

d Liq.zuf. EZB . - (t+5) - (t+3) - (t+3) - (t-3) - (t+5) M - (t+4) - (t+1) - (t+4)<br />

d Mind.reserven + (t+3) + M + (t+3) + (t+3) M + (t+1) + (t+3) + (t+2) + (t+1) M<br />

Exogene Schocks nein nein nein nein nein nein nein ja<br />

Einspielprozesse nein ja nein nein ja nein nein nein<br />

R2 korr. 0,99 0,99 0,99 0,99 0,98 0,98 0,96 0,95<br />

Schwarz criterion -1,88 -1,74 -1,56 -1,75 -1,12 -0,45 -0,38 -0,55<br />

Legende:<br />

* Nur signifikante Ergebnisse mit einem Signifikanzniveau von mindestens 0,01.<br />

+/- : Positiver (+) oder negativer (-) Zusammenhang.<br />

(t-...): Lags (Verzug) in Monaten. (t+ ...): Lead (Vorlauf) in Monaten (z. B. der Einfluss der erwarteten Inflationsrate auf<br />

die Zinsen).<br />

M = Einflussfaktoren mit der stärksten Wirkung (gemessen an der Signifikanz).<br />

x = Signifikante exogene Schocks (bedingte Varianzen).<br />

156


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Dazu zählen das Angebot und die Nachfrage in den einzelnen Geld- und Kapitalmarktsegmenten:<br />

- Am kurzen Ende des Geldmarktes, im Bereich der Transaktionsmittel (Laufzeiten von einem<br />

Tag bis drei Monate), wirken sich vor allem die Wachstumsrate des realen BIP, die Inflationsrate,<br />

die Wechselkursschwankungen, die Veränderung der Arbeitslosenraten und die Veränderung<br />

der Geldmengen aus. Die daraus resultierenden Veränderungen der Nachfrage nach<br />

Transaktionskasse führen zu wesentlich größeren Zinsschwankungen als jene im Kapitalmarktbereich,<br />

was auch den Aussagen des Zinsspannentheorems von Malkiel entspricht. Kurzfristig<br />

dominiert die Zentralbank bei der Festlegung der Zinsen im kurzfristigen Geldmarktbereich.<br />

Neben den marktlichen Einflussfaktoren sind in erster Linie die geldpolitischen Operationen<br />

der Zentralbank wirksam, welche Liquidität zuführen oder entziehen.<br />

- Beim längerfristigen Geldmarkt (Laufzeit von zwölf Monaten) und dem Ka-pitalmarkt (Laufzeiten<br />

zwischen zwei und zehn Jahren) handelt es sich um ähn-liche deterministische Einflussfaktoren,<br />

zu welchen auch die Schwankungen der Wechselkurse zählen, die finanzielle Zu-<br />

und Abflüsse im außenwirtschaftlichen Bereich bewirken. Die Geldpolitik hat auf diesen Bereich<br />

keinen signifikanten, sondern nur noch einen tendenziellen Einfluss.<br />

5.2 Die Substitutionsprozesse (Aufhebung der Prämisse der Arbitragefreiheit)<br />

Die Theorie der arbitragefreien Bewertung geht auf Arbeiten von Kenneth J. Arrow sowie<br />

Gérard Debreu zurück und leistet einen grundlegenden Beitrag zur Erklärung der Preis- bzw.<br />

Zinsbildung auf den Geld- und Kapitalmärkten. Befindet sich ein Markt im Gleichgewicht, ist<br />

keine Arbitrage möglich. Niemand kann sich durch eine Kombination von Finanzmarkttransaktionen<br />

zusätzliche Vorteile verschaffen. Eine gewinnbringende Arbitrage, bei welcher eine<br />

Position in verschiedene Teilpositionen zerlegt und einzeln am Markt gekauft oder verkauft<br />

wird, ist in diesem Fall nicht möglich. Ein Geld- und Kapitalmarkt gilt auch als arbitragefrei,<br />

wenn sich die Preise von Finanzaktiven (Zinstitel) – als der Summe der diskontierten Zahlungen<br />

– entsprechen und die Diskontierungsfaktoren eine bestimmte Struktur aufweisen.<br />

Wird nun Arbitrage zugelassen, kommt es – simultan mit den deterministi-schen Einflüssen<br />

auf die einzelnen Laufzeitensegmente – zu Substitutionspro-zessen zwischen den einzelnen,<br />

zugrunde liegenden Laufzeitensegmenten (vgl. Abbildung 55). Liegen einzelne Zinsen über<br />

der (imaginären) Zinsstrukturkurve, lohnen sich Transaktionen zur Arbitrage innerhalb der<br />

einzelnen Fristen. Es kann – meist im Rahmen von sehr großen Portfolios – sinnvoll sein, sich<br />

in einem dafür günstigen Laufzeitenbereich zu verschulden und in anderen Laufzeitenbereichen<br />

Mittel anzulegen. Dabei werden Finanzaktiven mit überdurchschnittlichen Ren-diten gekauft,<br />

bei welchen die Verzinsung über der Zinskurve liegt (und umge-kehrt). Zu diesem Prozess<br />

tragen sehr wesentlich auch die volumenstarken Zins-<br />

terminkontrakt- und –optionsmärkte bei. Auf diese Weise findet fortwährend eine Angleichung<br />

der Renditen an jene der hypothetischen Zinsstrukturkurve statt, welche insgesamt eine<br />

Substitutionskette bilden.<br />

In der Realität finden Substitutionseffekte zwischen den einzelnen Laufzeiten-bereichen<br />

statt, bis der Endzustand der Arbitragefreiheit erreicht ist. Solche Pro-zesse erfolgen bei sich<br />

verändernden Einflussfaktoren, bis die Zinsen den vor-herrschenden Liquiditätspräferenzen<br />

entsprechen.<br />

157


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 55: Die Glättung der Zinsstrukturkurve durch die Arbitrage<br />

i<br />

0 Laufzeit (t)<br />

Bei den Substitutionsprozessen zwischen den einzelnen Laufzeitensegmenten haben die jeweils<br />

benachbarten Laufzeitensegmente die stärksten Einflüsse auf die einzelnen Laufzeitensegmente.<br />

Dies bedeutet, dass die Banken und Nichtbanken, welche als Anleger und Schuldner<br />

an den Geld- und Kapitalmärkten auftreten, sich bei ihren Dispositionen der Laufzeitensegmente<br />

mit den jeweils attraktivsten Zinsen bedienen. Dabei kommt es – meist im Rahmen<br />

von großen Portfolios – auch zu Hedgingtransaktionen zwischen den einzelnen Laufzeitensegmenten,<br />

bei welchen im einen Segment eine Anlage, im anderen eine Verschuldung erfolgt.<br />

Solche Transaktionen lassen sich mit dem Kauf und Verkauf von Terminkontrak-ten und Optionen<br />

(CALLs, PUTs) verbinden.<br />

Diese Substitutionsprozesse führen zu einer Ausprägung der Zinsstrukturkur-ve, bis diese<br />

den Liquiditätspräferenzen bei den einzelnen Laufzeitensegmenten entspricht. Im Rahmen<br />

dieses Prozesses tritt auch eine Glättung der Zinsstruktur- kurve ein.<br />

Die Substitutionsprozesse bewirken zudem Fristentransformationsprozesse:<br />

„Zwischen den Zinssätzen auf kurzfristige und den auf langfristige Anleihen besteht ein<br />

ständiges Schwanken …. Die langfristigen setzen also eine grobe Norm für die kurzfristigen<br />

Zinssätze, die ihrerseits viel veränderlicher sind.“ 249<br />

Die Substitutionsprozesse finden vor allem zwischen den einzelnen Laufzeiten des Geldmarktes<br />

und des Kapitalmarktes statt. 250 Zwischen dem kurzfristigen Geldmarkt und dem Kapitalmarkt<br />

sind die Substitutionsprozesse nur hinsichtlich der benachbarten Laufzeiten stärker<br />

ausgeprägt. Dies bedeutet eine begrenzte Fristentransformation zwischen dem kurzfristigen<br />

Geldmarkt und dem Kapitalmarkt.<br />

249 Fisher, Irving (1930), 1932, S. 175.<br />

250 Vgl. die nachfolgenden empirischen Hinweise für das Euro-Währungsgebiet, 1999-2005.<br />

158


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Die Substitutionsprozesse zwischen den einzelnen Laufzeitensegmenten<br />

1<br />

Tag<br />

Geldmarkt Kapitalmarkt<br />

Gelddangebot Kapitalangebot<br />

1<br />

Mt.<br />

3<br />

Mt.<br />

Zinsen mit einer Laufzeit von …<br />

Geldnachfrage Kapitalnachfrage<br />

In diese Richtungen gehen im wesentlichen die Fristentransformationsprozesse.<br />

10. Die Kombination von deterministischen Einflüssen, Substitutionsprozes-<br />

sen und Einspielprozessen<br />

6<br />

Mt.<br />

Es lassen sich nun die deterministischen Einflüsse mit den Substutionsprozessen zwischen den<br />

einzelnen Laufzeiten kombinieren. Bei der Kombination dieser Einflüsse können sich bei den einzelnen<br />

Laufzeiten zudem bedingte Varianzen (exogene Schocks) und nicht bedingte Varianzen<br />

12<br />

Mt.<br />

Empirischer Hinweis zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These:<br />

2 J. 5 J.<br />

Zwischen den einzelnen Zinssätzen für - Diese These trifft vor allem für die Laufzeiten von<br />

kurzfristige und langfristige Finanzaktiven einem Monat, sechs Monate und fünf Jaren zu. Es<br />

bestehen homoskedastische Prozesse handelt sich um bedeutsame, signifikante Einspiel-<br />

bzw. homoskedastische Prozesse.<br />

10 J.<br />

159


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

(Einspielprozesse) ergeben. Zudem kann danach gefragt werden, welche deterministischen<br />

Einflüsse – unter Berücksichtigung der Substitutionsprozesse – bei einer multiplen Korrelationsanalyse<br />

dominieren.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Die Kombination von deterministischen Einflüssen, Substitutionsprozessen und Ein-<br />

spielprozessen innerhalb der Substitutionskette der Zinsstruktur (multiple Korrela-<br />

tionsanalyse)*<br />

Wirkung auf …<br />

Zins 1 Tag Zins 1 Mt. Zins 3 Mt. Zins 6 Mt. Zins 12 Mt. Zins 2 J. Zins 5 J. Zins 10 J.<br />

Ursache<br />

Zins 1 Tag + (t-1) + . . . . . .<br />

Zins 1 Mt. + - (t-1) + . . . . .<br />

Zins 3 Mt. . + + (t-1) + . . .<br />

Zins 6 Mt. . . + + (-1) + . . .<br />

Zins 12 Mt. . . + + + (t-1,2) + . .<br />

Zins 2 Jahre . . . . . . + +<br />

Zins 5 Jahre . . . . . + + (t-1) +<br />

Zins 10 Jahre . . . . . . + + (t-1)<br />

d reales BIP . . . . . . . .<br />

Inflat.rate . + (t+6) . . . . . .<br />

d EUR-USD . . - . . - . .<br />

d Arbeitsl. - (t-4) . . . . . . .<br />

d Akt.index . . . . . + + .<br />

d Kred. MFI . . . + . . . .<br />

d M1 + (t-4) . . . . . . .<br />

d M2 . . . . . . . .<br />

d M3 - (t+6) + (t+10) . . . + (t+4) . .<br />

Mind.biet.satz + . . + . + (t+3) . .<br />

d Liq.zuf. EZB . . . . . . . .<br />

d Mind.res. . - . . . + (t+3) . .<br />

Ex. Schocks nein nein nein nein nein nein nein nein<br />

Einsp.prozesse nein nein nein ja nein nein ja nein<br />

Schwarz cr. -1,91 - 2,60 -3,31 -3,34 -1,63 -1,65 -2,71 -0,85<br />

R2korr. 0,995 0,996 0,994 0,996 0,991 0,991 0,993 0,967<br />

Legende:<br />

* Bei einem zugrunde gelegten Signifikanzniveau von mindestens 0,01. Es handelt sich um<br />

multiple Korrelationsrechnungen und Angaben zu den lags in Monaten.<br />

** Signifikante Einspielprozesse (nicht bedingte Varianzen) bei den Zinsen in den jeweiligen<br />

Monaten (in vertikaler Richtung zu lesen).<br />

160


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Werden die deterministischen Einflüsse, die Substitutionsprozesse und die Einspielprozesse<br />

gleichzeitig in die Überlegungen einbezogen, ergibt sich folgende Er-klärung der Zinsen der einzelnen<br />

Laufzeitensegmente:<br />

(1) Die Ausgangslage bilden stets die Zinsen der einzelnen Laufzeitensegmente in den Vormonatsperioden<br />

t-1, zum Teil t-2.<br />

(2) Deterministische Einflussfaktoren sind beispielsweise die Inflationsrate, die Veränderung der<br />

Wechselkurse, die Veränderung des Aktienkursindex, die sich verändernde Wachstumsrate der<br />

Kreditnachfrage, die sich verändernde Wachs-tumsrate der Geldnachfrage M1, der Mindestbietungssatz<br />

der EZB (im Rahmen der Leitzinsen) und die Mindestreservenverpflichtungen der Geschäftsbanken.<br />

(3) Die Zinsen der benachbarten Laufzeitensegmente lösen Substitutionsprozesse aus (Aufhebung<br />

der Prämisse der Arbitragefreiheit).<br />

(4) Im Rahmen von nicht bedingten Varianzen in den vereinzelten Laufzeitenseg-menten kommt<br />

es zu stetigen, stochastischen Zinsbewegungen (Fluktuation der Zinsen). Diese lassen sich als<br />

dauernde Einspielprozesse der Zinsen im Rahmen von deterministischen Einflüssen und Substitutions-<br />

bzw. Arbitrageprozessen verstehen.<br />

11. Die stochastischen Zinsbewegungen bei arbitragefreien Modellen<br />

Mit den stetigen, stochastischen Zinsbewegungen beschäftigen sich die nach-folgenden Ausführungen.<br />

Ein verbreiteter Typ von Zinsstrukturmodellen nimmt die Zinsstrukturkurve als gegeben<br />

an, und betrachtet die sich daraus ergebenden Zinsbewegungen (vor allem für die Zinsderivate).<br />

251 Zu diesen Zinsstrukturmo-dellen zählen u.a. das Modell von Oldrich A. Vasicek (1977) und<br />

das CIR-Modell von Cox-Ingersoll-Ross (1985) als den bedeutendsten Modellen (sog. short-rate<br />

Modelle). Dieser „klassische Typ“ 252 der stochastischen Zinsstrukturmodelle model-liert den Zins<br />

auf der Basis des Momentanzinses und stochastischer Prozesse.<br />

Bei diesen arbitragefreien Modellen folgen die einzelnen Zinsbewegungen Zufallsschwankungen.<br />

Substitutionsprozesse zwischen den Finanzaktiven (Zinsti-teln) mit unterschiedlichen Laufzeiten<br />

werden nicht betrachtet; es besteht Arbitra-gefreiheit. Dies stellt gegenüber dem vorangehenden<br />

Ansatz mit Arbitrage bzw. Substitutionsprozessen zwischen den einzelnen Laufzeitensegmenten<br />

eine starke Vereinfachung dar.<br />

Die Zinsbewegungen sind das Ergebnis einer effizienten Informationsverarbei-tung bei white<br />

noise (zufälliges Rauschen um einen stationären Trend).<br />

a. Das Grundmodell<br />

Ein Bond B mit dem Marktwert BC und dem Nominalwert Tn, welcher zum Zeit-punkt n zurückgezahlt<br />

wird, vergütet periodisch Zinsen (coupons) von Ki zu den Zeitpunkten Ti, i=1, ..., n.<br />

Zu einem Zeitpunkt vor den nachfolgenden Zinszahlungen t < T i betragen die Auszahlungen:<br />

( ) ( ) ∑ ( ).<br />

n<br />

C<br />

B t,T = B t,T n + Ki B t,T i<br />

(59)<br />

i=1<br />

251 Diese Ausführungen sind zum Teil entnommen aus: Schmidt, Thorsten, 2004, S. 1-26.<br />

252 Bei den stochastischen Zinsstrukturmodellen lassen sich zwei Typen unterscheiden. Ein erster Typ wird als klassischer<br />

Ansatz bezeichnet und zeigt den Zins auf der Basis des Momentanzinses, ein weiterer Typ geht von der bestehenden<br />

Zinsstruktur aus und modelliert die Dynamik der Terminzinssätze aufgrund der Annahme von<br />

Arbitragefreiheit.<br />

161


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Bei der Analyse von stochastischen Zinsbewegungen wird in der Regel von den Preisbewegungen<br />

von zero-coupon Bonds (Nullkuponanleihen) ausgegangen. Der Preis eines zero-coupon<br />

Bonds B zum aktuellen Zeitpunkt t, welcher zu einem fest vereinbarten Zeitpunkt T (maturity)<br />

den Nennwert N=1 bezahlt, beträgt:<br />

B( t,T ).<br />

(60)<br />

Bei der short rate rt handelt es sich um den Zins für eine infinitesimal kleine Laufzeit, womit<br />

diese eine nicht direkt beobachtbare, theoretische Größe darstellt. Deren Veränderung drt lässt<br />

sich wie folgt formulieren:<br />

dr = a dt + b dW .<br />

(61)<br />

t t t t<br />

Die Veränderung der short-rate (Zinsen) dr zum aktuellen Zeitpunkt t folgt einem stochastischen<br />

Prozess at in der Zeit t und einer Brownschen Bewegung dWt mit einem stochastischen Maß<br />

b , wobei t > 0 ist. Es handelt sich um einen Ran-dom-Walk (Zufallsschwankungen) bzw. einen<br />

t<br />

sog. Wiener-Prozess, welcher einer Brownschen Bewegung entspricht. Die stochastischen Prozesse<br />

von Brownschen Bewegungen zeichnen sich durch unabhängige, normalverteilte Zuwächse und<br />

stetige Pfade aus, wodurch sich Wechselspiele von Zufall und Kausalität modellieren lassen. a<br />

und b sind Koeffizienten und werden als konstant angenommen.<br />

Das Grundmodell affiner Zinsmodelle für die short rate lautet:<br />

dr t = a( t,rt ) dt + b( t,rt ) dW t.<br />

(62)<br />

Die Veränderung d der aktuellen short rate r t (= <strong>Dr</strong>ift) setzt sich aus einem deterministischen<br />

Prozess ( )<br />

t<br />

a t,r in der Zeit und einem stochastischen Prozess ( )<br />

t t<br />

162<br />

b t,r dW zusammen, wobei es sich<br />

bei dWt um den Wiener Prozess handelt. a kennzeichnet einen deterministischen Koeffizienten für<br />

die folgende Funktion:<br />

( ) ( ) α(<br />

)<br />

a t,r = a t + t r, (63)<br />

t<br />

bei einer erwarteten drift Rate von a bzw. α. Der stochastische Prozess hat die Funktion:<br />

2 2<br />

b ( t,r ) = b( t ) + β( t) rb ( t,r ).<br />

(64)<br />

mit einer erwarteten, konstanten Varianz von β hinsichtlich 2<br />

b . Auf diese Weise werden die sto-<br />

chastischen Schwankungen der short rate modelliert.<br />

b. Das Modell von Vasicek (1977)<br />

Beim Modell von Oldrich A. Vasicek handelt es sich um das älteste und einfach-ste affine Modell<br />

einer Zinsstrukturtheorie. Vasicek 253 modelliert die <strong>Dr</strong>ift (Verän-derung) der short rate als sog.<br />

Ornstein-Uhlenbeck-Prozess:<br />

( − ) .<br />

dr = к θ r dt + σdW (65)<br />

t t t<br />

Diese <strong>Dr</strong>ift der short rate drt umfasst:<br />

- Veränderungen bzw. Schwankungen к des Momentanzinses dr um einen vorge-gebenen, langfristigen,<br />

exogen Mittelwert θ , der sog. mean reversion. Es handelt sich um eine deterministische<br />

Bewegung der Zinsstruktur к ( θ − rt ) dt .<br />

253 Vgl. Vasicek, Oldrich A., Vol. 5, 1977, S. 177-188.


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Eine Brownschen Bewegung mit σ als einer determinierten Variablen und dW t . Es geht um<br />

einen stochastischen Prozess normalverteilter Veränderungen, welcher unabhängig von rt ist und<br />

konstant über die Zeit verläuft.<br />

Bei einem risikoneutralen Prozess der short rate entfällt die Risikoprämie, wel-che λ × σ beträgt.<br />

Die Preise der Bonds sind die Funktion einer einzigen Variablen, der short rate. Als problematisch<br />

gilt die Annahme, die Veränderungen aller short rates seien im zeitlichen Verlauf perfekt korreliert,<br />

was in der Realität nicht der Fall ist.<br />

c. Das CIR-Modell (1985)<br />

Das CIR-Modell von Cox-Ingersoll-Ross (1985) 254 geht für die <strong>Dr</strong>ift drt von dem-selben determi-<br />

nistischen Prozess der Veränderung der Zinsstrukturkurve к ( θ - rt ) dt und einer gegenüber Vasicek<br />

veränderten Brownschen Bewegung aus, welche mit σ r dW modelliert wird (Annahme einer<br />

t t<br />

asymmetrischen Chi-Quad-rat Verteilung): 255<br />

( ) .<br />

dr = к θ - r dt + σ r dW (66)<br />

t t t t<br />

Dieser Ansatz zeigt – wie auch andere affine Zinsstrukturmodelle – die Dynamik der Zinsstruktur<br />

unter dem Einfluss einiger beobachteter (und einiger nicht beobachteter) Faktoren. Dabei werden<br />

die ursprünglichen Zinsstrukturkurven nur unzulänglich abgebildet, wodurch sich vor allem<br />

längerfristige Verschiebungen der Zinsstrukturkurven nur ungenügend erklären lassen. Hinzu<br />

kommt das Problem der linearen Abbildung von Zinsstrukturen in den affinen Modellen, wohingegen<br />

die Zinsstrukturkurven in der Praxis oft gekrümmt sind.<br />

Bei diesem Modell ist die Entwicklung des Momentanzinses unsicher und folgt einem stochastischen<br />

Prozess. Es gibt keine Arbitragemöglichkeiten; sowohl die Volatilität des Zinssatzes als auch<br />

die Risikoprämie werden als konstant ange-nommen. Die möglichen Zinsstrukturverläufe sind<br />

ähnlich dem Modell von Mal-kiel. Die Renditen lassen sich als eine Funktion der Restlaufzeit, der<br />

Risikoprä-mien und der Volatilität der Zinsen ableiten. Die Vorteile dieses Modells werden in dessen<br />

Einfachheit sowie der möglichen Modellierung veränderter Einfluss-faktoren gesehen, die<br />

Nachteile in den stringenten Prämissen.<br />

Das Modell lässt sich kalibrieren, d.h. an die aktuellen Werten anpassen. Zu den Problemen dieses<br />

Modells zählt die Annahme einer perfekten Korrelation der Zinssätze (Renditen) auf Verfall<br />

und die mangelnde Möglichkeit, die Zinsstruk-turkurve, wie sich diese in der Praxis ergibt, zu<br />

definieren.<br />

Als Kritik lässt sich einwenden, dass die Wirkungen sämtlicher Einflussfaktoren auf die einzelnen<br />

Zinssätze in ihrer Wirkung zu komplex sind, um lediglich durch ein stochastisches Element<br />

abgebildet zu werden. Nur die Zufallsschwankungen der Zinsen der einzelnen Laufzeitensegmente<br />

zu betrachten, ist zu einschränkend, da sich deterministische und stochastische Einflüsse<br />

überlagern.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

254 Thesen: Vgl. Cox, John C., Jonathan E. Ingersoll und Steven A. Ross, 1985, S. 395-407.<br />

255 Diese entsteht durch die Summierung von n quadrierten standardnormalverteilten Zufallsva-riablen.<br />

1. Die Zinsbewegungen weisen - Diese These trifft nicht zu. Die Zinsbeweguneinen<br />

(zeit-)konstanten Trend auf. gen folgen keinem stabilen (zeit-)konstanten Trend.<br />

2. Die Zinsbewegungen unter- - Diese These trifft vor allem für die Geldmarkt-<br />

163


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

12. Die affinen Zinstrukturmodell im Überblick<br />

Zeitstetige Zinsstrukturmodelle (Überblick)<br />

Short Rate Modelle Forward-Rate-Modelle Markt Modelle<br />

Merton (1973) Heath / Jarrow / Morton (1973) Brace / Gatarek / Musiela (1990)<br />

Vasicek (1977) Miltersen / Sandmann /Sondermann (1990)<br />

Dothan (1978) Jamshidian (1990)**<br />

Courtadon (1982)<br />

Cox / Ingersoll / Ross (1985)<br />

Ho / Lee (1986)<br />

Longstaff (1989)<br />

Hull / White (1990)<br />

Black / Karasinski (1991)<br />

Longstaff/Schwartz (1992).<br />

§ 8. Die Geldeffekte und Transmissionsmechanismen<br />

164


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Überblick<br />

„Es dauert immer recht lange, bis sich geldpolitische Erwartungen in der<br />

Wirtschaft niederschlagen“<br />

(Milton Friedman) 256<br />

Die Geldeffekte und Transmissionsmechanismen beschreiben die Wirkungen<br />

von Änderungen des monetären Bereichs auf den realen Bereich. 257 Es handelt<br />

sich um Prozesse, welche sich im Rahmen einer monetären Störung durch den<br />

finanziellen und realen Bereich einer Wirtschaft ziehen und schlieβlich geldpolitisch<br />

relevante Gröβen wie die Beschäftigung, das Preisniveau, die Kapitalmarktzinsen,<br />

das nominale und reale Einkommen, die Devisenkursen und das gesamtwirtschaftliche<br />

Wachstum beeinflussen. 258<br />

Bei den Geldeffekten handelt es sich um vorwiegend singuläre Effekte (eine Ursache,<br />

eine Wirkung), bei den Transmissionsmechanismen um komplexere Abläufe<br />

(„Kanäle“). 259 Ein Transmissionsmechanismus ist ein Weg, den das Geld<br />

vom monetären Sektor in den realen Sektor nimmt. Der Weg findet zunächst in<br />

einer black box statt. 260<br />

Die Störungen im monetären Bereich können endogener oder exogener Natur<br />

sein. Endogene Störungen ereignen sich innerhalb des ökonomischen Systems;<br />

exogene Störungen werden vor allem durch die Zentralbank auslöst, etwa durch<br />

Eingriffe in den Bereichen der Geldmengen oder des Zinssatzes. Die Veränderung<br />

der Geldmenge durch exogene Maβnahmen der Zentralbank kann zu realen<br />

Wirkungen führen, soweit dadurch nicht nur inflationäre Effekte (Preiseffekte)<br />

ausgelöst werden. Die Übertragung von monetären Impulsen auf den realen Bereich<br />

erfolgt über vielfältige „Transmissionskanäle“ (vgl. die nachfolgende Übersicht).<br />

Übersicht über die Geldeffekte (und Transmissionsmechanismen)<br />

256 Friedman, Milton, in: FAZ, vom 2.12.2001, S. 39.<br />

257 Vgl. Issing, Otmar, Einführung in die Geldtheorie, 1998, S. 147)<br />

258 Vgl. Friedman, Benjamin M., The Theoretical Nondebate about Monetarism. In: Kredit und Kapital, Jg. 9, 1976, S.<br />

347-367. Wiederabgedruckt und zitiert nach: Die theoretische „Nicht-Kontroverse“ um den Monetarismus. In: Die<br />

Monetarismus-Kontroverse, Kredit und Kapital, Beiheft 4, Berlin, 1978, (S. 129-147), 134.<br />

259 Vgl. Felkel, St., Zur Wirkungsweise monetärer Impulse, Diss. Köln, 1998.<br />

260 Vgl. Felkel, Stephanie, Wirkungsweisen, 1998, Abb. 1, im Anhang.<br />

165


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

I. Nur Preiseffekt II. Kassen-, Realkassen- III. Kredittheoretische<br />

und Vermögenseffekte Effekte<br />

(„Vermögenskanal“, („Kreditkanal“)<br />

„Liquiditätskanal“<br />

- Klassische Quantitätstheorie - Kasseneffekt - K. Wicksell<br />

(Geldschleier) (J. St. Mill, (…)<br />

(§ 7/I.) L. Walras)<br />

(§ 7/III.)<br />

- Neoklassische Quantitäts- - Pigou-Effekt - Der Kreditkanal<br />

theorie (Fischersche Ver- (§ 7/III.) (…)<br />

kehrsgleichung)<br />

(§ 7/I.)<br />

- Cambridge-Effekt - J. M. Keynes-Effekt<br />

(Neoklassik) (§ 7(III.)<br />

(§ 7/I.)<br />

- Wicksell-Effekt - Börseneffekt von<br />

(bei Vollbeschäftigung) Keynes<br />

(§ 7/I.) (§ 7/III.)<br />

- Patinkin-Effekt<br />

(§ 7.III.)<br />

- Tobin-Effekt<br />

(§ 7/III.)<br />

- Portfolio-Effekt im<br />

IXSM-Modell<br />

(…)<br />

IV. Multiplikatoreffekt V. Effekte über VI. Erwartungseffekt VII. Verstärkungs-<br />

(„Einkommenskanal“) die relativen Preise („Erwartungskanal“) effekt<br />

- Einkommenseffekte im - Ricardo-Effekt - Fisherscher Preis- - Akzelerator-<br />

ISLM-Modell (von Hayek) erwartungseffekt Multiplikator-<br />

(§ 7/II.) (§ 7/IV.) (§ 6/II.) effekt<br />

(…)<br />

- Keynesianischer Trans- - Transmissions- - Neue Klassische Makroökonomik (nicht<br />

- Erwartungs-<br />

missionsmechanisms mechanismus der antizipierte Geld- effekt: Auto-<br />

(§ 7/II.) relativen Preise mengenänderun- regressive<br />

(Monetarismus) gen Erwartungen<br />

(§ 7/IV.) (§ 7/V.) (…).<br />

- IXSM-Modell<br />

(…)<br />

Bei der Analyse von Geldeffekten empfiehlt es sich, in einzelnen „Transmissionskanälen“,<br />

zu denken, wobei die Wirkungsweise, die Intensität und die zeitli-<br />

166


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

che Abfolge von monetären Effekten von Fall zu Fall sehr unterschiedlich sein<br />

können. Zudem bestehen zwischen den einzelnen Geldeffekten bzw. Transmissionskanälen<br />

starke Verflechtungen.<br />

I. Preiseffekte (der klassische Geldschleier, die Quanitätstheorie, die Cambridge-<br />

Gleichung, der Wicksellsche kumulative Effekt)<br />

1. Der klassische Geldschleier<br />

Arthur C. Pigou (1877-1959) beschreibt den klassischen Geldschleier („money is a<br />

veil“=Brautschleier) 261 als die Idee einer Dichotomie zwischen dem monetären<br />

und dem realen Bereich (getrennte Sphären). Die beiden Bereiche bestehen nach<br />

dieser Auffassung unabhängig voneinander und sind – kurz- und langfristig –<br />

ohne gegenseitige Einflüsse.<br />

Davon zu unterscheiden ist der Begriff der Neutralität des Geldes, welcher davon<br />

ausgeht, dass eine Veränderung der Geldmenge keine langfristigen Wirkungen<br />

im realen Bereich hat. Die Dichotomie des Geldes impliziert damit Neutralität<br />

des Geldes. Unter quantitätstheoretischen Aspekten gibt es keine Effekte im realen<br />

Bereich, sondern nur Preiseffekte. Nach klassischer Auffassung hat das Geld<br />

Preiseffekte, nicht jedoch langfristige Auswirkungen im realen Bereich (beispielsweise<br />

auf den Output).<br />

Die idealtypische Vorstellung eines Geldschleiers ist zwar verblasst, aber die<br />

Fragestellung bleibt bestehen. Es ist es sinnvoll, die einzelnen Geldeffekte und<br />

Transmissionsmechanismen stets danach zu betrachten, inwieweit es sich um<br />

Abweichungen von der auf der Quantitätstheorie beruhenden Grundvorstellung<br />

einer Dichotomie zwischen dem monetären und dem realen Bereich handelt. Auf<br />

diese Weise lassen sich die einzelnen Geldeffekte und Transmissionsmechanismen<br />

wesentlich anschaulicher erklären und besser verstehen.<br />

2. Die neoklassische Quantitätstheorie<br />

2.1. Die Fishersche Verkehrsgleichung<br />

261 Vgl. Pigou, Arthur C., The Veil of Money, 1949. Vgl. Patinkin, Don, und Steiger, Otto, In Search of the „Veil of<br />

Money“ and the “Neutrality of Money”, A Note on the Origin of Terms. In: Scandinavian Journal of Economics, No.<br />

91, 1989, S. 131-146.<br />

167


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die in der Neoklassik von Irving Fisher entwickelte Quantitätstheorie beruht auf<br />

der „reinen“ Quantitätstheorie von David Hume und Arbeiten des Astronomen<br />

Simon Newcomb (1835-1909). 262 In der ursprünglichen Form laut die Fishersche<br />

Verkehrsgleichung: 263<br />

M × v + M '× v'=<br />

∑ pQ or P × T.<br />

Es bezeichnen:<br />

M = Münzen und Noten<br />

v = Umlaufsgeschwindigkeit von Münzen und Noten<br />

M’ = Volumen der Bankdepositen (über welche auch mit Checks<br />

verfügt werden kann)<br />

v’ = Umlaufsgeschwindigkeit der Bankdepositen<br />

ΣpQ = Güterpreisniveau<br />

P = Preisniveau<br />

T = Transaktionsvolumen.<br />

Eine neuere, reduzierte Form lautet:<br />

( 37)<br />

M × v = P×<br />

Y.<br />

wobei<br />

M = Geldmenge<br />

V = Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes<br />

P = Preisniveau<br />

Y = Gütermenge.<br />

An die Stelle des Transaktionsvolumens tritt das Volkseinkommen, welches nur<br />

die Wertschöpfung nach Stufen (ohne Vorleistungen) erfasst und kleiner ist als<br />

das Transaktionsvolumen.<br />

Die Fishersche Quantitätsgleichung gilt als Inbegriff der klassischen Quantitätstheorie<br />

und beruht auf der Vorstellungen der Dichotomie zwischen dem realen<br />

und dem monetären Bereich (mit neutralem Geld):<br />

„Die Quantitätstheorie beruht letztlich auf einer Eigenschaft des Geldes,<br />

welche letztlich nur dieses unter allen anderen bedeutsamen Gütern besitzt;<br />

262 Vgl. Simon Newcomb, The Standard of Value, North American Review, 1879.<br />

263 Vgl. Fisher, Irving, The Purchasing Power of Money, Its Determination and Relation to Credit Interest and Crisis,<br />

New York, 1912.<br />

168


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

es kann keine menschlichen Bedürfnisse befriedigen, auβer der Fähigkeit,<br />

Güter zu kaufen, welche Bedürfnisse befriedigen können“. 264<br />

Die Fishersche Verkehrsgleichung ist ex definitione immer erfüllt und stellt eine<br />

reine Identitätsgleichung dar.<br />

„Das Handelsvolumen, wie auch die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes,<br />

stehen in keinem Zusammenhang mit der Geldmenge. Eine Aufblähung der<br />

Geldmenge kann weder die Produktion der landwirtschaftlichen Betriebe<br />

noch der Fabriken steigern, noch die Geschwindigkeit der Güterzüge oder<br />

der Schiffe erhöhen. Die wirtschaftlichen Prozesse stehen in einem Zusammenhang<br />

mit den natürlichen Ressourcen und den technischen Produktionsbedingungen,<br />

nicht mit der Quantität des Geldes. … Deshalb wird eine<br />

Verdoppelung der Geldmenge normalerweise zu einer Verdoppelung<br />

der Geldmenge in der Funktion der Verkehrsgleichung führen, nicht jedoch<br />

die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes oder das Handelsvolumen beeinflussen,<br />

sondern notwendigerweise und das Preisniveau verdoppeln“. 265<br />

Bei Annahme einer konstanten Umlaufsgeschwindkeit des Geldes und eines<br />

konstanten Volkseinkommens (Transaktionsvolumens) hat das Geld langfristig<br />

keine realen Effekte (beispielsweise beim Output). Es besteht lediglich ein proportionaler<br />

Zusammenhang zwischen der Geldmenge und dem Preisniveau.<br />

Als Prämissen gelten: 266<br />

- Die Geldmenge ist exogen gegeben.<br />

- Das Geld wird nur zu Transaktionszwecken gehalten, es schafft keinen eigenen<br />

Nutzen, sondern es stellt nur Kaufkraft für reale Güter dar.<br />

- Die Preise sind völlig flexibel.<br />

- Es herrscht Vollbeschäftigung.<br />

- Das Saysche Theorem ist gültig. Danach ergibt sich für die Güternachfrage eine<br />

Budgetrestriktion durch das vorhandene Güterangebot. Die produzierten Güter<br />

stellen eine Budgetrestriktion für den Kauf von Gütern dar:<br />

Q<br />

∑<br />

q=<br />

1<br />

q<br />

wobei:<br />

p ( x − x ) = 0,<br />

q<br />

pq = Preisindex.<br />

q<br />

264 Fisher, Irving, Purchasing Power of Money, 1911, S. 32 (freie Übersetzung), Hervorhebungen durch den Autor.<br />

265 Fisher, Irving, The Purchasing Power of Money, New York 1911, S. 155 f. (eigene Übersetzung).<br />

266 Vgl. das Kapitel zur Geldnachfrage.<br />

169


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

xq = Nachfrage nach Gütern.<br />

x = Angebot an Gütern.<br />

q<br />

Zudem besteht ein Gleichgewicht zwischen dem Gütermarkt, dem Arbeitsmarkt<br />

und dem Kapitalmarkt, deren Saldi sich zu null saldieren (mathematisches Gesetz<br />

von Walras),<br />

- Überflüssiges Geld wird von den Wirtschaftssubjekten abgebaut, indem von<br />

sämtlichen Gütern mehr nachfragt wird, bis wieder ein Gleichgewicht zwischen<br />

der vorhandenen realen Kassenhaltung und der vorhandenen realen Kassenhaltung<br />

erreicht ist.<br />

Dieser Zusammenhang wird auch als das „Gesetz von Walras“ bezeichnet: 267<br />

Q<br />

∑<br />

q=<br />

1<br />

wobei:<br />

p ( x − x ) = m − m,<br />

q q q<br />

m = exogen gegebene Geldmenge.<br />

m = Nachfrage nach Kassenmitteln.<br />

Ergebnisse<br />

Unter diesen Voraussetzungen ergeben sich in der Fisherschen Verkehrsgleichung<br />

( M × v = Y × p)<br />

bei Geldmengenerhöhungen nur Preiseffekte proportional<br />

zur Geldmengenerhöhung. 268 Dabei verläuft die Kausalität von der exogen gegebenen<br />

Geldmenge (M) und der hinsichtlich der gegebenen Geldmenge konstanten<br />

Umlaufsgeschwindkeit (v) und konstanten realen Outputs (Einkommen) zum<br />

Preisniveau (p).<br />

Bei konstanten v und Y gilt somit:<br />

( 38)<br />

dP = dM.<br />

267 Vgl. dazu: Niehans, Jürg, Theorie des Geldes. Synthese der monetären Mikro- und Makroökonomie, Bern/Stuttgart<br />

1978, S. 21.<br />

268 Vgl. Fisher Irving, The Purchasing Power of money, Its determination and Relation to Credit, 1911, New Ed. New<br />

York 1963, S. 29. Nach Irving Fisher handelt es sich um eine Gleichgewichtsbedingung, deren Faktoren den Wert des<br />

Geldes unmittelbar und mittelbar beeinflussen. Vgl. Fisher, Irving, Kaufkraft des Geldes, 1916, S. 119.<br />

170


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Wird Y in die Analyse mit einbezogen und v konstant gehalten, so kommt es<br />

zu Inflation, wenn die Zunahme der Geldmenge das Wachstums des realen<br />

Volkseinkommens übersteigt; Deflation entsteht, wenn d M kleiner ist als das<br />

Wachstum des realen Volkseinkommens.<br />

Fisher schlieβt allerdings eine vorübergehende Änderung der Umlaufsgeschwindigkeit<br />

des Geldes (im theoretischen Beispiel) nicht aus:<br />

„Angenommen, für einen Moment, die Verdoppelung der umlaufenden<br />

Geldmenge würde nicht sofort die Preise erhöhen, sondern die Umlaufsgeschwindigkeit<br />

würde sich halbieren, so würde sich wohl jedes Individuum<br />

veranlasst sehen, seine Kassenbestände anzupassen. Bei vorerst unveränderten<br />

Preisen hätte es den doppelten Betrag an Kasse und Bankeinlagen in<br />

Händen als üblicherweise und würde versuchen, die überschüssige Kasse<br />

auszugeben. Dadurch würde ein anderes Individuum mehr Geld in Händen<br />

halten als erwünscht, und der Transfer von Geld würde die gesamten Geldbestände<br />

nicht verkleinern. … Jedermann würde sein überschüssiges Geld<br />

zum Kauf von Gütern verwenden, was die Preise nach oben treiben würde.“<br />

269<br />

Der Grundmechanismus der Quantitätstheorie ist ein Kassenhaltungseffekt:<br />

Steigt die Geldmenge bei Vollbeschäftigung, wird die als überflüssig empfundene<br />

Geldmenge unverzüglich durch eine zusätzliche Nachfrage nach Gütern abgebaut,<br />

worauf die Preise und Löhne unverzüglich und proportional zur Geldmengenerhöhung<br />

steigen. Umgekehrt bauen sie Liquidität auf, wenn sie diese als<br />

ungenügend empfinden, indem sie auf die Nachfrage nach Gütern verzichten,<br />

womit die Güterpreise und Löhne unverzüglich sinken. Durch diese Verhaltensweisen<br />

kommt es zu Kassen- bzw. Preiseffekten, nicht jedoch zu realen Wirkungen.<br />

Der Kasseneffekt stellt den Grundmechanismus zur quantitätstheoretischen<br />

Erklärung inflationärer Effekte bei monetären Impulsen dar.<br />

Die Aussagen der Quantitätstheorie lassen sich insgesamt in fünf Sätzen umschreiben:<br />

270<br />

1. Die Proportionalität von M und P,<br />

269 Fisher, Irving, The Purchasing Power of Money, a.a.O., S. 153 f.<br />

270 Vgl. Humphrey, Thomas M., The Quantity Thoery of Money, Its Historical Evolution and Role in Policy Debates.<br />

In: Federal Reserve Bank of Richmond, Economic Review, September/October 1984, Vol. 70, vol. 5, S. 13-22.<br />

171


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

2. die aktive und kausale Rolle von M im Transmissionsmechanismus,<br />

3. die Neutralität des Geldes,<br />

4. die monetäre Theorie des Preisniveaus, und<br />

5. die Exogenität der nominalen Geldmenge.<br />

Die Aussagen der neoklassischen Quantitätstheorie zur Neutralität des Geldes<br />

mit einer unverzüglichen und proportionalen Preisanpassung haben modelltheoretischen<br />

Charakter. Der Fokus von Fisher richtet sich vor allem auf das neue<br />

preisliche Gleichgewicht nach Abschluss der Anpassungsprozesse. Nach einer<br />

Veränderung des monetären Gleichgewichts ergibt sich eine Tendenz zu einem<br />

neuen Gleichgewicht. 271<br />

Kritik:<br />

- Bei der Fishersche Verkehrsgleichung handelt es sich um eine tautologische Beziehung,<br />

welche ex definitione immer erfüllt ist, weshalb keine verhaltenslogischen<br />

(kausalen) Aussagen möglich sind.<br />

- Eine kausale Beziehung zwischen Geldmengen- und Preisänderungen lässt sich<br />

nur bei einer exogen gegebenen Geldmenge postulieren. Im Fall einer endogenen<br />

Geldmenge läuft die Kausalität von den Preisen zur Geldmenge. Dieser Effekt ist<br />

unter dem Begriff der umgekehrten Kausalität bekannt („reverse causation“),<br />

wobei zusätzlich auch Änderungen des Einkommens und der Umlaufsgeschwindigkeit<br />

einen Einfluss auf das Preisniveau haben können.<br />

- Die Fragestellung von Cantillon wird nicht beantwortet, wie sich der Anpassungsprozess<br />

der Preise vollzieht.<br />

- Die in der Quantitätstheorie vertretene Geldwertillusion („money illusion“)<br />

lässt sich nur vertreten, wenn von der Gültigkeit des Sayschen Theorem ausgegangen<br />

wird. Dieser Aspekt wird in der sog. Patinkin Kontroverse aufgegriffen.<br />

Die kurzfristige Nichtneutralität des Geldes<br />

Nach der neoklassischen Quantitätstheorie ist das Geld neutral. Im Gegensatz zu<br />

Hume, dem eine reine Auffassung der Dichotomie (kurz- und langfristige Neut-<br />

271 Vgl. Fisher, Irving, Die Kaufkraft des Geldes, ihre Bedeutung und ihr Beitrag zu Kredit und Krisen, Berlin 1916, S.<br />

57 f.<br />

172


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

ralität des Geldes) zugeschrieben werden kann, gilt für Fisher die Dichotomie<br />

nur langfristig. Kurzfristig kommt es zu Geldeffekten, verursacht durch einen lag<br />

zwischen der Veränderungen der Geldmenge und den diesen Prozess verursachenden<br />

Veränderungen der Zinsen. 272<br />

272 Vgl. Fisher, Irving, The purchasing power of money, New York, 1911, S. 359-362.<br />

173


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Die Geldmenge M1 steht in - Diese These trifft zu (mit einem Koeffizienten von 0,011, einem lag<br />

einem direkten Zusammen- von 1 und einer Signifikanz besser 5 Prozent).<br />

hang zum Preisniveau<br />

2. Die Wachstumsrate d M1 - Diese These trifft nicht zu.<br />

steht in einem direkten<br />

Zusammenhang mit der<br />

Inflationsrate<br />

3. Die Geldmenge M2 steht in - Diese These trifft nicht zu.<br />

einem direkten Zusammen-<br />

hang zum Preisniveau<br />

4. Die Wachstumsrate d M2 - Diese These trifft nicht zu. Eine erhöhte Bildung von<br />

steht in einem direkten Geldvermögen M2 führt im Gegenteil (und nicht signifikant)<br />

Zusammenhang zur zu einer tieferen Inflationsrate.<br />

Inflationsrate<br />

5. Die Geldmenge M3 steht in - Diese These trifft nicht zu.<br />

einem direkten Zusammen-<br />

hang zum Preisniveau<br />

6. Die Wachstumsrate d M3 - Diese These trifft nicht zu.<br />

steht in einem direkten<br />

Zusammenhang mit der<br />

Inflationsrate<br />

7. Das Preisniveau hängt c.p. - Diese These trifft nicht zu. Ein größere Güterproduktion führt<br />

von der Nachfrage nach - mit einer Signifikanz besser 10 Prozent – zu einer geringfügigen<br />

Gütern (BIP real) ab Dämpfung des Preisniveaus.<br />

8. Die Inflationsrate hängt c.p. - Diese These trifft zu.<br />

von der Veränderung der<br />

Nachfrage nach Gütern<br />

(d BIP real) ab<br />

9. Die Veränderung des Preis- - Diese These trifft zu (log M1, log M2, log M3), bei einer Signifi-<br />

niveaus hängt von der Geld- kanz besser 1 Prozent, einem Schwarz citerion von ca. – 8,00 und<br />

menge, der Güternachfrage einem r2korr. von über 0,99.<br />

und der Umlaufsgeschwin-<br />

digkeit des Geldes ab<br />

Im Einzelnen ereignen sich bei steigenden Preisen die folgenden Prozesse: 273<br />

(1) Die Preise steigen, (2) die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes (v und v’) steigen,<br />

die Zinsen steigen (jedoch nicht genügend), (3) die Gewinne steigen, die<br />

Kreditmenge erhöht sich, die Geldmengen (Q und Q’) steigen, (4) die Buchgeld-<br />

273 Vgl. Fisher, Irving, The Purchasing Power of Money, S. 63 ff.<br />

174


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

menge steigt proportional zur Zunahme der Banknoten und (5) die Preise steigen<br />

weiter, womit sich die Prozesse wiederholen. Die Erhöhung des Preisniveaus<br />

läuft solange weiter, bis sich das Preisniveau proportional zur Geldmenge verändert<br />

hat:<br />

„We may now restate, then, in what sense the quantity theory is true. It is<br />

true in the sense that one of the normal effects of an increase in the quantity<br />

of money is an exactly proportional increase in the general level of<br />

prices”. 274<br />

In der Praxis schlieβt Fisher für eine Übergangsperiode schwache, temporäre reale<br />

Effekte im Rahmen der Anpassungsprozesse nicht aus. 275<br />

„The Quantity theory will not be hold true strictly and absolutely during<br />

transition period“. 276<br />

2.2. Die Cambridge-Gleichung<br />

Der Cambridge-Effekt entspricht dem Preiseffekt der Quantitätstheorie und geht<br />

ebenfalls von der strikten Geltung des Sayschen Theorems aus. Der Cambridge-<br />

Effekt stellt ebenfalls einen reinen Preiseffekt proportional zur Geldmengenerhöhung<br />

dar. Ausgehend von der Cambridge-Gleichung<br />

( 39)<br />

M = Y × P×<br />

k<br />

ergibt sich bei Konstanz von Y und k wie in Gleichung wiederum:<br />

( 40)<br />

dP =<br />

dM.<br />

Während es sich jedoch bei der Quantitätstheorie um einen transaktionstheoretischen<br />

Ansatz handelt, flieβen bei der Cambridge-Gleichung auch Präferenzen für<br />

die Kassenhaltung als Entscheidungskriterium ein, woraus sich der Anpassungsprozess<br />

herleiten lässt. Wird der Realwert bei einer Erhöhung der Geldmenge als<br />

zu hoch empfunden, kommt es zu einer verstärkten Güternachfrage, wobei der<br />

Kassenbestand durch Ausgaben reduziert wird. Nachdem im neoklassischen Gesamtmodell<br />

Vollbeschäftigung herrscht, ist jedoch das Güterangebot konstant.<br />

Damit entsteht eine Überschussnachfrage, verbunden mit einem steigenden<br />

Preisniveau. Dieser als Cambridge-Effekt benannte Anpassungsprozess läuft so<br />

274 Fisher Irving, The Purchasing Power of Money, S. 157.<br />

275 Vgl. Fisher, 1911, S. 55-60.<br />

276 Fisher, 1911, S. 161.<br />

175


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

lange, bis der Realwert der Kasse wieder dem ursprünglichen Niveau bzw. den<br />

Präferenzen der Individuen entspricht. 277<br />

Patinkin vertritt hierzu eine dreistufige Hypothese:<br />

„ … Eine Erhöhung der Geldmenge stört das optimale Verhältnis zwischen<br />

der Höhe der Geldbestände und den Ausgaben des Individuums; diese Störung<br />

führt zu einer Erhöhung der geplanten Ausgaben (einem Realkasseneffekt);<br />

diese Erhöhung erzeugt Preissteigerungen, bis die Ausgaben in derselben<br />

Relation wie die Geldmenge gestiegen sind“. 278<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Eine Erhöhung des Kassen- - Diese These trifft nicht zu (kein signifikanter statistischer<br />

haltungskoeffizienten Zusammenhang).<br />

führt c.p. zu einer höheren<br />

Geldnachfrage (und umge-<br />

kehrt)<br />

2. Eine Erhöhung des Kassen- - Diese These trifft nicht zu (kein signifikanter statistischer<br />

haltungskoeffizienten Zusammenhang).<br />

führt c.p. zu einer geringeren<br />

Inflationsrate (und umge-<br />

kehrt)<br />

3. Eine Erhöhung des Kassen- - Diese These trifft nicht zu.<br />

haltungskoeffizienten<br />

führt c.p. zu einem geringe-<br />

ren Wachstum des Volks-<br />

einkommen (d BIP real, und<br />

umgekehrt)<br />

Der Cambridge-Effekt ist ein rein monetärer Preiseffekt, ausgehend von der Vorstellung<br />

der Dichotomie zwischen dem monetären und dem realen Bereich. Der<br />

Cambridge-Effekt hebt die Neutralität des Geldes nicht auf. Es gilt das Saysche<br />

Theorem, wonach Güter nur mit Gütern gekauft werden.<br />

Wird die Prämisse einer Konstanz von k jedoch modifiziert, kommt es zum<br />

Cambridge-Cash-Approach, bei welchem – neben dem Cambridge-Effekt als einem<br />

reinen Preiseffekt – auch reale Effekte auftreten können (vgl. § 4/I.). Das<br />

Geld hat in diesem Fall nicht nur den Charakter eines Schmiermittels – womit die<br />

277 Vgl. Felderer-Homburg, S. 83.<br />

278 Patinkin, Don, Money, Interest and Prices, S. 163.<br />

176


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Gültigkeit des Cambridge-Effektes bestätigt wird – sondern es ist auch Teil des<br />

Vermögens (wobei das k vom Einkommen, dem Zinssatz, den erwarteten Preisniveauänderungen<br />

und den Präferenzen der Wirtschaftssubjekte abhängt).<br />

2.3. Der Wicksellsche kumulative Effekt (bei Vollbeschäftigung)<br />

Johan G.K. Wicksell (1851-1926) als bedeutender Vertreter der Neoklassik zählt<br />

zu den Begründern der Geldwirkungslehre. Grundsätzlich hält er an der Quantitätstheorie<br />

fest, die für Wicksell die einzige, zusammenhängende Theorie des<br />

Geldes ist, jedoch noch Mängel aufweist. Die Weiterentwicklung der Quantitätstheorie<br />

zählt denn auch zu den wesentlichen Zielen seiner Arbeit. 279<br />

Kommt es bei Fisher bei einer Geldmengenerhöhung zu einer Überschussnachfrage,<br />

welche zu einer Preiserhöhung führt, so führt bei Wicksell der Weg zur Inflation<br />

über eine Ausdehnung der Kreditmenge und in Folge auch der Geldmenge.<br />

Dies relativiert die Thesen der Quantitätstheorie, indem bei Wicksell die<br />

Geldmenge auf dem Kreditwege erhöht wird, um Investitionen zu finanzieren.<br />

Nach der Quantitätstheorie ist die Kaufkraft des Geldes negativ mit der jeweiligen<br />

Geldmenge korreliert. 280 Eine Erhöhung oder Verkleinerung der Geldmenge<br />

führt zu einer proportionalen Änderung der Preise. „Übelstände“ einer zu groβen<br />

Geldmenge werden durch eine Herabsetzung der Kaufkraft des Geldes absorbiert.<br />

281<br />

Allerdings stellt sich Wicksell die Frage, ob die Umlaufsgeschwindigkeit des<br />

Geldes eine selbständige oder nur symptomatische Bedeutung für das Geldwesen<br />

hat. 282 Dabei hält Wicksell an einer Geldmengendefinition fest, welche sich<br />

nur auf das umlaufende Bargeld bezieht. Bankkredite sind nach Auffassung von<br />

Wicksell kein Geld. Die Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes definiert er als<br />

„ … die Anzahl Male, welche die vorhandenen Geldstücke im Wege des<br />

Kaufs und Verkaufs … während der gewählten Zeit, z.B. eines Jahres durch<br />

die Hände wechseln“. 283<br />

Damit bringt eine Erhöhung der Sichteinlagen bei den Banken (in der Form neuer<br />

Bankkredite) bei Konstanz des Metallbestandes in einer Wirtschaft hinsichtlich<br />

des gewissen Transaktionsvolumens (einschlieβlich der Sichteinlagen) eine<br />

279 Vgl. Wicksell, Knut, Geldzins und Güterzins- eine Studie über die den Tauschwert des Geldes bestimmenden Ursachen,<br />

Jena 1898, S. III.<br />

280 Vgl. Wicksell, Knut, Vorlesungen, Bd. 1, 1913, S. 160.<br />

281 Vgl. Wicksell, Knut, Vorlesungen, Bd. 1, 1913, S. 161.<br />

282 Vgl. Wicksell, Knut, Vorlesungen, Bd. 1, 1913, S. 163.<br />

283 Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise, 1898, S. 46.<br />

177


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Erhöhung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes mit sich. Diese Erklärung<br />

erscheint etwas verwirrend, indem die Geldmenge nicht mehr eindeutig abgegrenzt<br />

wird, und auch nicht mehr erklärt werden kann, warum die Inflation nicht<br />

länger eindeutig in Beziehung zur umlaufenden Geldmenge im Sinne von Bargeld<br />

gesetzt werden kann.<br />

Die Quantitätstheorie des Geldes ist unter ceteris paribus-Bedingungen wohl<br />

gültig. Wird diese Bedingung jedoch aufgehoben, indem auch Sichteinlagen bei<br />

den Banken als Transaktionsmitteln dienen, ist die Parallelität zwischen Geldmengen<br />

und Preisen nicht mehr zwingend gegeben. Damit wird die Gültigkeit<br />

des Sayschen Theorems bzw. der Zusammenhang von Angebot und Nachfrage<br />

im realen Bereich – zumindest kurzfristig – in Frage gestellt:<br />

„Ein allgemeiner Preisanstieg ist daher nur festzustellen, wenn die tatsächliche<br />

oder erwartete aggregierte Nachfrage aus irgendwelchen Gründen<br />

gröβer als das Angebot geworden ist. Dies erscheint paradox, zumal das<br />

Saysche Theorem davon ausgeht, dass die Nachfrage nie gröβer als das Angebot<br />

werden kann. Letztlich ist dies zwar immer so, … jede Geldtheorie,<br />

welche diesen Namen verdient, muss jedoch in der Lage sein, zu zeigen,<br />

dass die monetäre Nachfrage nach Gütern unter bestimmten Bedingungen<br />

das Angebot an Güter über- oder unterschreiten kann“. 284<br />

Bei nicht konstanter Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes kann das Geld kurzfristige<br />

Wirkungen haben kann. Wicksell erklärt dies im Rahmen des<br />

„Wicksellschen Prozesses“, mit welchem er den monetären und realen Bereich<br />

miteinander durch den Zins verknüpft und damit die klassische Dichotomie<br />

überwindet. 285<br />

Kernpunkt seiner Ausführungen ist eine Analyse der Dynamik der Anpassungsprozesse<br />

der Preise aufgrund eines veränderten Kredit- bzw. Geldangebotes und<br />

er zählt damit zu den Begründern der Inflationstheorie. Der Ansatz von Wicksell<br />

geht dahin, eine Möglichkeit aufzuzeigen, warum die monetäre Gesamtnachfrage<br />

vom monetären Gesamtangebot abweichen kann. Dies führt dazu, dass die Investitionen<br />

über die Ersparnisse steigen können, indem es zu exogenen Geldmengenerhöhungen<br />

durch eine Kreditschöpfung kommt. Damit wird das Saysche<br />

Theorem aufgehoben, wonach Güter nur mit Gütern gekauft werden können.<br />

Im Zusammenhang mit den Krediten unterscheidet Wicksell zwei Zinsen, den<br />

natürlichen Zins und den Geldmarktzins. Den natürlichen Zins definiert er wie<br />

folgt:<br />

284 Vgl. Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise“ (1898) sowie ders., „Lectures on Political Economy“, Vol. 2, (1906),<br />

S. 159 f. (freie Übersetzung).<br />

285 Vgl. Wicksell, Knut, Vorlesungen über Nationalökonomie, Bd. 1 und 2, Jena 1922, Neudruck Aalen 1969, Bd. 1, S.<br />

181 ff.<br />

178


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

„ Jene Rate des Darlehenszinses, bei welcher dieser sich gegenüber den Güterpreisen<br />

durchaus neutral verhält und sie weder zu erhöhen noch zu erniedrigen<br />

die Tendenz hat, kann nun keine andere sein als eben diejenige,<br />

welche durch Angebot und Nachfrage festgestellt werden würde, falls man<br />

sich überhaupt keiner Geldtransaktion bediente, sondern die Realkapitalien<br />

in natura dargeliehen würden – oder was etwa auf dasselbe hinauskommt,<br />

als der jeweilige Stand des natürlichen Kapitalzinses“. 286<br />

Der natürliche Zins orientiert sich am Kapitalertrag bzw. Nettogewinn:<br />

„Die Höhe des natürlichen Kapitalzinses ist selbstverständlich keine fixe,<br />

unveränderliche Gröβe. … Allgemein gesprochen hängt sie von der Ergiebigkeit<br />

der Produktion, von der Menge der vorhandenen, stehenden und<br />

flüssigen Kapitalien, von der Zahl der Arbeitssuchenden, dem Angebot an<br />

Bodenkräften u.s.f., kurz von allen den tausend und ein Umständen ab,<br />

welche zusammen die jedesmalige ökonomische Lage der betreffenden<br />

Volkswirtschaft ausmachen, und sie wechselt unausgesetzt mit diesen“. 287<br />

Der Geldmarktzins ist die kurzfristige Kreditrate und orientiert sich - nach den<br />

Annahmen von Wicksell – an den Geldmarkbedingungen, der Kapitalmarktzins<br />

ist die langfristige Kreditrate. Damit begründet er das sog. Zinsspannentheorem,<br />

welches dem Wicksellschen Prozess zugrunde liegt.<br />

Der Wicksellsche Prozess läuft nun (in einer „reinen Kreditwirtschaft“ 288) wie<br />

folgt ab:<br />

- Die Ausgangslage ist beispielsweise ein Kreditmarktzins, welcher unter dem<br />

natürlichen Zins liegt. 289 Damit liegt der marginale Kapitalgewinn über den Kreditmarktzins,<br />

was eine Kreditnachfrage zu Investitionszwecken auslöst. Indem<br />

die Kreditnachfrage über die verfügbaren Ersparnisse steigt, wird eine Geldnachfrage<br />

ausgelöst und die Geldmenge steigt.<br />

- Nun können die Investitionen langfristig nicht über das Ausmaβ der Ersparnisse<br />

steigen. Die Banken werden indes zuerst Kredite gewähren und sich erst<br />

anschlieβend Rechenschaft über die verfügbaren Mittel geben. Letztlich indes<br />

müssen sich Investitionen und Ersparnisse ausgleichen. Der Anpassungsmecha-<br />

286 Wicksell, Geldzins und Güterpreise, a.a.O., S. 93.<br />

287 Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise, S. 97.<br />

288 Im Gegensatz zu einer „Goldwährungswirtschaft“, in deren Rahmen Wicksell den kumulativen Prozess ebenfalls<br />

umfassend beschreibt.<br />

289 Diese Aussage entspricht auch jener von Mill, wonach die überschüssige Bankenliquidität kurzfristig zu einer Kreditvergabe<br />

mit Zinssätzen führen kann, welche unter dem Kapitalzins liegen.<br />

179


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

nismus läuft über die Anbieter von Investitionsgütern, indem vorerst die Preise<br />

für Investitionsgüter und später die übrigen Preise sowie die Löhne steigen.<br />

- Die Spirale von Preis- und Lohnsteigerungen läuft so lange, als die Kreditzinsen<br />

unter dem natürlichen Zins liegen, was auch für die endogene Expansion der<br />

Geldmenge zutrifft.<br />

- Der Wicksellsche kumulative Prozess endet, 290 wenn die Banken die Kreditzinsen<br />

auf das Niveau des natürlichen Zinses anheben, was spätestens dann erforderlich<br />

ist, wenn die Banken über keine freien Reserven (liquide Mittel und<br />

Zentralbankgeld) mehr verfügen. So lange freie Reserven vorhanden sind, werden<br />

die Geschäftsbanken Kredite schöpfen.<br />

Indem die Investitionen die Ersparnisse und die Nachfrage nach Arbeitskräften<br />

das Arbeitsangebot übersteigen, ist die Ursache der Inflation in erster Linie realer<br />

Art. Die steigende Kreditmenge bewirkt zudem eine endogene Erhöhung der<br />

Geldmenge. Die exogene Erhöhung des Umlaufs an Zentralbankgeld führt zu<br />

sinkenden Kreditmarktzinsen. Änderungen des Preisniveaus sind damit die Folge<br />

eines Ungleichgewichts zwischen dem Kreditzins und dem natürlichen Zins.<br />

Die Höhe der Zinsen beeinflusst die Preise auch direkt, indem diese die Kalkulationsrate<br />

darstellen. Steigen die Wirtschaftsaktivitäten und damit auch der Bedarf<br />

an Transaktionsmitteln, so erhöht sich vorerst der Kreditbedarf, wobei die höheren<br />

Kreditzinsen in die Kalkulation einflieβen (und umgekehrt). 291<br />

Mit dem Wicksellsche Prozess wird die Vorstellung einer Dichotomie des realen<br />

und des monetären Bereichs zwar aufgehoben, aber der Zusammenhang zwischen<br />

der Geldmenge und dem Preisniveau bleibt doch bestehen.<br />

Wicksell weist in diesem Zusammenhang auf eine vorübergehende Nichtneutralität<br />

des Geldes hin, aus welcher sich der kumulative Prozess entwickelt. Der Begriff<br />

des „neutralen Geldes“ wurde später durch von Hayek geprägt.<br />

Nur wenn der Geldzinsen (Kreditzins) mit dem natürlichen Zins übereinstimmt,<br />

herrscht ein gesamtwirtschaftlichen Gleichgewicht. Bestünde keine Zinsspanne<br />

zwischen dem natürlichen und dem Marktzins, käme es zu keinem<br />

Wicksellschen Prozess:<br />

290 Knut Wicksell ging noch davon aus, dass der Prozess der Kreditschöpfung sehr lange anhalten kann, indem „der<br />

Kreditmarktzins steigt oder fällt, während der natürliche Zins unverändert bleibt oder nur mit starker Verzögerung<br />

folgt“. Wicksell, Knut, 1906, a.a.O., S. 205 (freie Übersetzung).<br />

291 Wicksell, Knut, The Influence of the Rate of Interest on Prices. In: Economic Journal XVII (1907), S. 213-220. Read<br />

before the Economic Section of the British Association, 1906 (eigene Übersetzung).<br />

180


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Prämissen<br />

„Wenn nun das Geld von den Geldverleihern tatsächlich zu diesem Zins<br />

dargeliehen wird, so dient der Gebrauch des Geldes nur als eine Einkleidung<br />

eines Vorgangs, der, rein begrifflich gesprochen, sich ebenso gut ohne<br />

Geld hätte vollziehen können, und es werden die Bedingungen des ökonomischen<br />

Gleichgewichts in ganz derselben Weise erfüllt“. 292<br />

- Grundsätzlich wird das Geldangebot exogen bestimmt. Dabei geht Wicksell von<br />

der „credit view“ aus. 293 Erhalten die Banken mehr Überschussreserven, schöpfen<br />

sie auch mehr Kredite, womit sich die Kreditmenge und anschlieβend die Geldmenge<br />

erhöht.<br />

- Die Wirtschaft befindet sich in einem stationären Zustand mit vollkommenem<br />

Wettbewerb, Vollbeschäftigung und ohne Außenhandel.<br />

- Es gibt den Darlehenszins und den sog. natürlichen (realen) Zins, bei welchem<br />

sich Sparen und Investieren langfristig entsprechen. Ist dies der Fall, spricht<br />

Wicksell auch vom normalen Zins.<br />

- In Folge einer Erhöhung der Geldmenge durch die Zentralbank sinken die Darlehenszinsen<br />

unter den natürlichen Zins und die Investitionen steigen.<br />

- Sofern bereits Vollbeschäftigung herrscht (Annahme von Wicksell), führt die<br />

zusätzliche Nachfrage der Unternehmer nach Investitionen zu Preissteigerungen<br />

bei den produzierten Gütern und den Produktionsfaktoren. Dieser Prozess der<br />

Preissteigerung hält solange an, bis die Banken die Darlehenszinsen wieder an<br />

den natürlichen Zins anpassen. Eine umgekehrte Wirkung tritt ein, wenn die<br />

Darlehenszinsen in der Ausgangslage über den natürlichen Zinsen liegen. 294<br />

Kritik<br />

Eine Kritik gegen den Wicksellschen kumulativen Prozess stammt von Cassel<br />

und ist als „Wicksell-Cassel-Kontroverse“ bekannt. Danach führt ein niedriger<br />

Geldzins (Kreditzins) langfristig auch zu einem geringeren Kapitalmarktzins,<br />

womit ein Gleichgewicht der Zinsen entsteht, und der kumulative Prozess endet.<br />

295 Wicksell zählt dies zu den sekundären Faktoren des Problems. Dabei<br />

schlieβt auch Wicksell einen Rückgang der Erträge und eine Abschwächung des<br />

292 Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise, S. 95. Vgl. auch Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise, S. 93 ff. vgl.<br />

derselbe, Vorlesungen über Nationalökonomie, Band 2. Geld und Kredit, Jena 1922, Nachdruck Aalen 1984, S. 220<br />

293 Der Wicksell geht von der credit view („Kreditsicht“) aus. Monetäre Impulse werden über den sog. „Kreditkanal“<br />

der Geschäftsbanken wirksam. Nur wenn sich Zinsänderungen der Zentralbank auf die Darlehenszinsen der Geschäftsbanken<br />

auswirken, kommt es zu Effekten; andernfalls unterbleiben Wirkungen. Im Gegensatz dazu unterstellt<br />

die money view eine unmittelbare Wirkung von Zinsänderungen der Zentralbank über die Geld- und Kapitalmärkte.<br />

294 Nur wenn in der Ausgangslage vorerst keine Vollbeschäftigung herrscht, kommt es zu einer Zunahme der Beschäftigung,<br />

bevor der Wicksellsche kumulative Prozess eintritt.<br />

295 Vgl. Cassel, The World’s Monetary Problems, London 1921, S. 447 ff.<br />

181


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Prozesses nicht aus, sofern es im Laufe des kumulativen Prozesses zu vermehrter<br />

Kapitalbildung durch eine Zunahme der unfreiwilligen Ersparnisse kommt.<br />

Die Dauer des preislichen Anpassungsprozesses und das Ausmaβ der Preissteigerungen<br />

stehen in einem Zusammenhang mit der Elastizität des Geldwesens:<br />

„Zugleich aber ist klar, dass je elastischer das Geldwesen ist, je weniger es<br />

überhaupt gegen Änderungen der Preise reagiert, umso länger (kann) ein<br />

mehr oder weniger konstanter Unterschied zwischen den beiden Zinsraten<br />

bestehen bleiben, und umso erheblicher (kann) folglich seine Einwirkung<br />

auf die Preise sein“. 296<br />

Zudem steht die von Wicksell zur Darstellung gebrachte Wechselwirkung zwischen<br />

dem Geld- und dem Kapitalzins zu seiner eigenen Behauptung, wonach „<br />

… der Geldzins sich schlieβlich immer dem Stande des natürlichen Kapitalzinses<br />

anschlieβen wird …“. 297<br />

Kritisch ist auch die Frage zu stellen, ob sich die Geldmenge mit Mitteln der<br />

Geldpolitik steuern lässt.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

Eine Erhöhung der Liquidi- - Eine erhöhte Liquiditätszuführung führte in der Referenzperiode<br />

tätszuführung durch die EZB zu leicht sinkenden Zinsen bei den Kapitalmarktzinsen von zwei,<br />

senkt die Kapitalmarkt- fünf und zehn Jahren (mit leads von einem bis zu fünf Monaten)<br />

zinsen - Damit tritt in der Referenzperiode kein Fisher-Effekt auf.<br />

- Ein Wicksellscher kumulativer Prozess ist in der Referenzperiode<br />

nicht festzustellen (ggf. ist ein solcher in einer Phasen mit einer annähernden<br />

Vollbeschäftigung festzustellen).<br />

II. Multiplikatoreffekte<br />

Die keynesianische Revolution beschäftigte sich u.a. auch mit den realen Wirkungen von<br />

Geldmengenänderungen, wobei Keynes die Annahme eines langfristigen Beschäftigungsgleichgewichts<br />

fallen lässt. Er analysiert die Wirkungen von sich verändernden makroökonomischen<br />

Variablen wie den Zinssätzen und dem Geld auf die Nachfrage nach Gütern, das<br />

Volkseinkommen und die Beschäftigung. Dabei leistet er einen Beitrag zur Aufhebung der<br />

klassischen Dichotomie zwischen dem monetären und dem realen Bereich.<br />

296 Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise, S. 101.<br />

297 Wicksell, Knut, Geldzins und Güterpreise, Jena 1898, S. 108.<br />

182


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das ISLM-Modell und der keynesianische Transmissionsmechanismus<br />

Mit der Hilfe des ISLM-Modell (vgl. zum ISLM-Modell auch § 4/II.) lassen<br />

sich die Wirkungen einer Geldmengenerhöhung im monetären und realen Bereich<br />

ebenfalls analysieren. Ausgangslage ist eine Wirtschaft mit einem Beschäftigungsgrad<br />

unter der Grenze der Vollbeschäftigung. Ist bereits Vollbeschäftigung<br />

erreicht, so führt eine Geldmengenerhöhung in erster Linie zu inflationären<br />

Wirkungen, was zu einer rückläufigen realen Geldmenge führt.<br />

Prämissen 298<br />

- Für den Geldbereich (LM) gelten als Prämissen:<br />

M (Geldangebot) = exogen gegebene Geldmenge<br />

L (Liquiditätsnachfrage) = L (Y, i)<br />

M exogen = L (Y, i).<br />

Die Quantitätstheorie des Geldes wird durch die Liquiditätspräferenztheorie ersetzt;<br />

das Saysche Theorem gilt damit nicht mehr, Geld wird nicht nur für Transaktionszwecke<br />

verwendet, sondern auch aufgrund von Liquiditätspräferenzen<br />

nachgefragt.<br />

- Für den realen Bereich (IS) ist maβgebend:<br />

I = I (i)<br />

S = S (Y)<br />

I (i) = S (Y).<br />

Zudem gilt:<br />

- Der reale Konsum ist vom laufenden Einkommen abhängig<br />

( r)<br />

Y a<br />

C r = Cr<br />

C<br />

aut<br />

+ ×<br />

- Die realen Investitionen hängen vom Marktzins i ab: I r = Ir<br />

(i)<br />

. Eine Investition<br />

wird durchgeführt, wenn dies lohnend erscheint, d. h. die Investitionsentscheidungen<br />

sind von den erwarteten zukünftigen Erträgen abhängig.<br />

- Die effektive Nachfrage YrD setzt sich aus Cr und Ir zusammen. Aus der Differenz<br />

von dem Realeinkommen Yr und dem realen Konsum Cr ergibt sich die reale<br />

Ersparnis Sr.<br />

298 Vgl. Felderer/Homburg, 1994, S. 103 ff.<br />

183


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Der Preismechanismus kann durch starre Preise und Löhne auβer Kraft gesetzt<br />

werden.<br />

Das Modell<br />

i<br />

i0<br />

i1<br />

i2<br />

Die Ergebnisse<br />

IS LMr1 LMr2<br />

A<br />

B<br />

0 Yr0 Yr1 Yr<br />

C<br />

Der Mechanismus des ISLM-Modells (keynesianischer Transmissionsmechanismus)<br />

besteht aus folgenden Schritten:<br />

- Die Zentralbank erhöht die Geldmenge durch Zuführung von Zentralbankliquidität.<br />

Die Zinsen sinken (dies ist typisch für die money view bzw. die sog.<br />

„Geldsicht). 299<br />

- Die Nachfrage nach Wertpapieren steigt.<br />

- Die Zinsen sinken, bis die Portefeuilleumschichtungen beendet sind (Substitutionseffekt<br />

im Portefeuillebereich).<br />

- Die Investitionen steigen in Folge der gesunkenen Zinsen („Zinskanal“) und<br />

der damit verbundenen, geringeren Kreditkosten (nach Maβgabe der sog. Grenzleistungsfähigkeit<br />

des Kapitals und der Zinselastizität der Nachfrage nach Investitionsgütern<br />

als Keynes-Effekt).<br />

- Das Volkseinkommen steigt.<br />

299 Vereinfacht ausgedrückt stellt die money view einen Zusammenhang zwischen der Geldmenge, dem Angebot an<br />

Wertpapieren und dem Zinssatz her und ist üblich für die Darstellung des ISLM-Modells. Die credit view geht vom<br />

Zusammenhang zwischen der Geldmenge und den Krediten der Geschäftsbanken aus. Vgl. Borchert, Manfred, Geld<br />

und Kredit, Eine Einführung in die Geldtheorie und Geldpolitik, 7. Auflage, München und Wien, 2001, S. 241 ff.<br />

184


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Der Konsum (die Nachfrage nach Gütern) und<br />

- Die Beschäftigung steigt.<br />

- Die Multiplikatoreffekte (Einkommenssteigerungen) setzen sich fort, bis die<br />

Wirkungen der Geldmengenerhöhung bzw. der ursprünglichen Zinssenkung<br />

über den Einkommensprozess erschöpft sind.<br />

Eine Erhöhung der nominellen Geldmenge MS entspricht einer Erhöhung der realen<br />

Geldmenge, die LMr-Kurve (mit der realen Geldmenge) verschiebt sich bei<br />

konstantem Realeinkommen und konstantem Preisniveau nach rechts. Bei vorerst<br />

konstantem Realeinkommen muss für ein Gleichgewicht des monetären Bereichs<br />

der Zins sinken. Die LMr-Kurve würde sich nach links verschieben, wenn sich<br />

bei konstantem Yr das Preisniveau erhöht.<br />

Durch eine Geldmengenerhöhung der Zentralbank befindet sich der Geldmarkt<br />

im Ungleichgewicht, da die reale Geldmenge gestiegen ist. Die erhöhte Transaktionskasse<br />

der Banken wird durch Wertpapierkäufe abgebaut. Durch die gestiegene<br />

Nachfrage nach Wertpapieren steigen die Wertpapierkurse und der Zins<br />

sinkt, bis wieder ein Gleichgewicht auf dem Geldmarkt erreicht ist. Die Nichtbanken<br />

erhalten durch den Verkauf der Wertpapiere die zusätzliche Geldmenge.<br />

Bei einer isolierten Betrachtung des monetären Sektors wird das Absinken des<br />

Zinses, hervorgerufen durch die Geldmengenerhöhung, als Liquiditätseffekt bezeichnet.<br />

Dieser Effekt wird mittels der Liquiditätstheorie von Keynes beschrieben.<br />

Graphisch entspricht dies in Abb. einer Rechtsverschiebung der LMr-Kurve,<br />

der Zins sinkt von Punkt A nach Punkt B. 300<br />

Das Absinken des Zinses bzw. die gestiegenen Wertpapierkurse bewirken eine<br />

Erhöhung der Investitionsnachfrage der Nichtbanken. Durch die gestiegene Investitionsgüternachfrage<br />

wird die Investitionsgüterproduktion ausgeweitet.<br />

Durch die Mehrproduktion wird zusätzliches Einkommen geschaffen, die Nachfrage<br />

nach Konsumgütern steigt und die Konsumgüterproduktion wird ausgeweitet,<br />

d.h. ein Multiplikatorprozess wird ausgelöst. Durch die Mehrproduktion<br />

wird wiederum zusätzliches Einkommen geschaffen. Diese Einkommenserhöhung<br />

führt wieder zu einer erhöhten Nachfrage nach Konsumgütern und die<br />

Konsumgüterproduktion wird ausgedehnt, worauf wiederum das Einkommen<br />

steigt, etc.<br />

Durch den Anstieg von Einkommen und ggf. auch des Preisniveaus erhöht sich<br />

die Nachfrage nach Transaktionskasse, so dass der Zins wieder ansteigt. Durch<br />

den Zinsanstieg wird die primäre Investitionserhöhung gedämpft und der Expansionsprozess<br />

wird abgeschwächt. Der Nettoeffekt ist jedoch positiv. Das<br />

300 vgl. Issing, Einführung, 1998, S. 103 und 117.<br />

185


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Wiederansteigen des Zinses in Verbindung mit der Einkommenserhöhung<br />

wird als Einkommenseffekt bezeichnet. Graphisch entspricht dies einer Wanderung<br />

von Punkt B zu Punkt C.<br />

Eine Geldmengenerhöhung führt also im Ergebnis zunächst zu einer Erhöhung<br />

der Investitionen und dann zu einer Erhöhung des Konsums; durch das gestiegene<br />

Realeinkommen erhöhen sich die Beschäftigung und das Preisniveau. Hier ist<br />

also im Gegensatz zur Klassik das Geld in Bezug auf den güterwirtschaftlichen<br />

Bereich nicht neutral. 301<br />

Da nun die Höhe des Volkseinkommens von der effektiven Nachfrage abhängt,<br />

ist die Ersparnis mit einem Nachfrageausfall gleichzusetzen, d. h. der Einkommenskreislauf<br />

kann nun durch das Sparen unterbrochen werden.<br />

Über die effektive Nachfrage und die Höhe des Einkommens entscheidet der Gütermarkt;<br />

die Höhe der effektiven Nachfrage bestimmt über die gesamtwirtschaftliche<br />

Produktionsfunktion die Beschäftigung, welche nicht mit dem Vollbeschäftigungsgleichgewicht<br />

übereinstimmen muss. Da die Produktion nun von<br />

der Nachfrageseite her bestimmt wird, schafft sich im Gegensatz zum Sayschen<br />

Theorem die Nachfrage ihr Angebot und nicht umgekehrt. 302<br />

301 Vgl. Issing, Einführung, 1998, S. 114 f.<br />

302 Vgl. Felderer/Homburg, 1994, S. 102 f. und 112 ff.<br />

186


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Eine erhöhte Liquiditäts- - Diese These trifft zu. Liquiditätserhöhung führen zu geringfügigen<br />

zuführung bewirkt Zinssenkungen mit einem lead von einem bis fünf Monaten.<br />

sinkende Zinsen.<br />

2. Die Investitionen (bzw. die - Diese These trifft für die Referenzperiode zu. Es zeigt sich ein<br />

Nachfrage nach Gütern) direkter Zusammenhang zwischen den Zinssenkungen im<br />

steigen c.p. bei sinkenden Geldmarktbereich und im Kapitalmarktbereich (Laufzeit zwei<br />

Zinsen und fünf Jahre) sowie dem Wachstum des BIP real.<br />

3. Das Volkseinkommen - Diese These trifft zu. Ein steigendes BIP real führt in der Regel<br />

steigt mit einer zunehmen- zu einem fortgesetzt steigenden BIP real.<br />

den Nachfrage nach Gütern<br />

4. Die Beschäftigung steigt - Diese These trifft tendenziell zu.<br />

mit höheren Wachstumsraten<br />

der Nachfrage<br />

5. Eine Erhöhung der Liqui- - Diese These trifft zu: Eine Erhöhung der Liquiditätszuführung<br />

ditätszuführung durch erhöht die Beschäftigung am Arbeitsmarkt (mit einem lag von<br />

die Zentralbank führt zu sechs Monaten und einer marginalen Wirkung, welche nur unter der<br />

einer direkten Zunahme Voraussetzung eintritt, dass keine Inflationswirkung durch eine Ver-<br />

der Beschäftigung änderung der Liquiditätszuführung entsteht.<br />

8.6. Kasseneffekt (John St. Mill, L. Walras), Realkasseneffekt (Pigou-Effekt),<br />

Vermögenseffekte (John M. Keynes)<br />

1. Der Kasseneffekt (J. St. Mill)<br />

Beim Kassenhaltungseffekt geht John St. Mill vom Manna-Fall aus, wonach es<br />

Geld vom Himmel regnet. Ein veränderter Kassenbestand oder ein verändertes<br />

Verhalten bei der Kassenhaltung sind die Ursache von Effekten im realen Bereich.<br />

Beim Kasseneffekt bauen die Wirtschaftssubjekte als überschüssig empfundene<br />

Liquidität durch Konsum und Investitionen ab. Umgekehrt bauen sie<br />

Liquidität auf, wenn sie diese als ungenügend empfinden, indem sie auf Konsum<br />

verzichten und sparen. Dieses Kassenverhalten liegt auch der Quantitätstheorie<br />

zugrunde und bewirkt bei Geldmengensteigerungen (Bargeld, Sichtguthaben bei<br />

Banken) unverzüglich Preiseffekte, bis der Kassenbestand wieder als befriedigend<br />

empfunden wird. Dabei kommt es beim einzelnen Wirtschaftssubjekt zu<br />

einer Angleichung von Geldangebot und Geldnachfrage.<br />

187


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

These Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Unter 1. Der den Kassenbestand Modellbedingungen steigt. - Beim der Bargeld Theorie trifft vollkommener diese These nicht zu. Märkte mit Vollbeschäftigung<br />

Dieser wird erfolgen über eine jedoch keine - Bei d M1 realen trifft diese Wirkungen. These zu. Eine Es kommt steigende zu Geldmenge Kassen- führt bzw.<br />

Preiseffekten, größere (oder nicht geringere) jedoch zu zu realen einer größeren Wirkungen. Güternachfrage. Geldmengenänderungen bzw.<br />

Änderungen Nachfrage nach beim Güter Kassenverhalten ab- Umgekehrt bewirken dämpft eine – stärkere im Sinne Nachfrage der Quantitätstheorie nach Gütern das –<br />

gebaut, bis ein „Kassen-„ Geldmengenwachstum.<br />

lediglich Gleichgewicht proportionale erreicht ist Preissteigerungen - Für d M2 und d (und M3gilt umgekehrt). dieselbe Feststellung.<br />

Dies entspricht dem<br />

Wesen der quantitätstheoretischen Betrachtung.<br />

2. Der Pigou-Effekt (Realkassen-Effekt)<br />

Die Realkasseneffekte beziehen sich in erster Linie auf die Wirkungen der Deflation.<br />

303 Der Pigou-Effekt ist unter anderem eine Kritik an der Theorie von J.M.<br />

Keynes, wonach es in einer rezessiven Wirtschaft bei starren Löhnen und einem<br />

Unterbeschäftigungsgleichgewicht zu einer Liquiditäts- und einer Investitionsfalle<br />

kommen kann.<br />

Arthur C. Pigou geht davon aus, der Markt würde von alleine wieder zu einem<br />

Gleichgewicht zurückkehren. Unter der Annahme flexibler Löhne und Preise<br />

kann es bei sinkenden Preisen zu einer Veränderung des Konsums kommen, was<br />

zur Vollbeschäftigung führt. Mit dem sog. Pigou-Effekt wird die Tradition der<br />

Realkassen- bzw. Vermögenseffekte begründet.<br />

Prämissen<br />

- Das Geld ist ein Teil des Vermögens.<br />

- Das Geld hat bei Pigou einen eigenen Nutzen. Die Geldhaltung unterliegt dem<br />

Gesetz des abnehmenden Grenznutzens, wobei für den Bestand der in Geld gehaltenen<br />

Ressourcen das zweite Gossensche Gesetz gilt.<br />

303 Vgl. Pigou, Arthur C., The Classical Stationary State. In: Economic Journal, December 1943.<br />

188


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Das Sparen ist damit nicht nur eine Funktion des Realeinkommens und des<br />

Zinses, sondern auch des Vermögens der Wirtschaftssubjekte.<br />

- Der Konsum ist nicht nur eine Funktion des Einkommens, sondern auch der realen<br />

Kasse, wobei ebenfalls das zweite Gossensche Gesetz gilt (es wird solange<br />

konsumiert bzw. gespart, bis der monetär gewichtete Grenznutzen der letzten<br />

Einheit an Realkasse dem Grenznutzen des Konsums entspricht).<br />

- Die Löhne und Preise sind (im Gegensatz zur keynesianischen Lehre) flexibel.<br />

Der Arbeitsmarkt ist stets geräumt.<br />

- Die Sparquote und die Liquiditätspräferenzen der Haushalte sind per Annahme<br />

konstant.<br />

Das Modell<br />

Der Pigou-Effekt ist ein direkter Effekt einer Preissenkung auf die reale Kasse<br />

und damit auf die effektive Nachfrage:<br />

- In der Ausgangslage besteht ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht.<br />

- Eine sinkende Güternachfrage und eine sinkende Beschäftigung führen zu<br />

Preis- und Lohnsenkungen (obwohl möglicherweise die Grenzproduktivität der<br />

Arbeitskräfte steigt).<br />

- Bei den privaten Haushalten steigt der reale Wert der Kasse bzw. des Vermögens.<br />

- Die Wirtschaftssubjekte fühlen sich durch den Preisverfall „reicher“; sie fragen<br />

vermehrt Güter nach, bis sie den gewünschten Realwert der Kasse wieder erreichen.<br />

- Als Folge werden „geplantes Sparen und geplantes Investieren … ins Gleichgewicht<br />

kommen, Preis- und Lohnverfall werden zum Stillstand kommen und<br />

ein Gleichgewicht bei Vollbeschäftigung stellt sich ein“. 304<br />

- Die privaten Wirtschaftssubjekte versuchen den Wert der Kasse zu senken, indem<br />

sie Konsumgüter kaufen,<br />

- die Produktion wird erhöht und es werden Arbeitskräfte eingestellt,<br />

- das Unterbeschäftigungsgleichgewicht bei Keynes wird durchbrochen, indem<br />

die Investitions- und Liquiditätsfalle überwunden wird.<br />

- Gleichzeitig wird die Dichotomie zwischen dem realen und dem monetären Bereich<br />

aufgehoben.<br />

Kritik<br />

- Der Realkasseneffekt stellt ein theoretisches Modell dar.<br />

- Im Falle einer Deflation steigt auch der reale Wert der nominell festgelegten<br />

Schulden (Irving Fisher), deren Wirkungen den Pigou-Effekt beim Besitzer der<br />

304 Lutz, Friedrich A., Zinstheorie, Zürich 1967, 2. Aufl., S. 140.<br />

189


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Realkasse übertreffen können, zumal den Aktiven oft auch Passiven gegenüber<br />

stehen: „In a stationary state equilibrium net investment and thus net saving<br />

must be equal to zero“. 305<br />

- Zudem kann im Falle einer Deflation das Sparverhalten der Wirtschaftssubjekte<br />

zunehmen.<br />

- Erwartungen werden nicht berücksichtigt. In der Erwartung weiter sinkender<br />

Preise könnten die Wirtschaftssubjekte den Konsum in die nächste Periode verschieben.<br />

306 Letztlich ist dies aber unerheblich, da irgendwann keine sinkenden<br />

Preise mehr erwartet werden oder die Haushalte auch bei sinkenden Preisen konsumieren<br />

werden. Der Start des Effekts würde höchstens auf spätere Perioden<br />

verschoben.<br />

- Im Falle eines Wiederaufschwungs ist der Pigou-Effekt nicht mehr erforderlich,<br />

um den Output und die Beschäftigung steigen zu lassen: „So bald der Pigou-<br />

Effekt den Konsum genügend erhöht, um auch die Beschäftigung und die Einkommen<br />

zu erhöhen, werden die Preise und die Löhne nicht mehr fallen und der<br />

reale Wert des Vermögens wird nicht mehr steigen“. 307<br />

Pigou selbst betont den theoretischen Charakter dieses Modells: „Das Puzzle,<br />

welches wir betrachtet haben … sind akademische Übungen, welche dazu dienen<br />

mögen, geistige Klarheit zu erlangen, aber mit einer sehr geringen Chance, jemals<br />

in der praktischen Wirtschaftspolitik umgesetzt zu werden“. 308<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

Deflationäre Tendenzen - Es gibt in der Referenzperiode keine deflationären Tendenzen,<br />

führen zu einem Realkassen- anhand welcher die Pigou-These untersucht werden könnte.<br />

effekt<br />

3. Die Keynes-Effekte (Keynes-Haberler-Effekt, Vermögenseffekt)<br />

3.1. Der Keynes-Haberler-Effekt<br />

305 Kalecki, Michal, <strong>Prof</strong>essor Pigou on „The Classical Stationary State“ – A Comment. In: Economic Journal, No. 213,<br />

Vol. 54, April 1944, (S. 131 f.), S. 131.<br />

306 Vgl. Felkel, S. 184.<br />

307 Vgl. Hansen, Alvin H., The Pigovian Effect. In: Journal of Political Economy. Band 59, Dezember, 1951, S. 535 (freie<br />

Übersetzung).<br />

308 Pigou, Arthur C., Economic Progress in a stable Environment. In: Economica, New Series 14, 1947. Wiederabgedruckt<br />

in: F.A. Lutz/L.M. Mints, a.a.O., S. 251 (freie Übersetzung).<br />

190


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Gottfried von Haberler (1900-1995) hat aus der Geldlehre von Keynes eine Wirkungsweise<br />

des Geldes im realen Bereich abgeleitet. Auslösendes Moment ist ein<br />

sinkendes Preisniveau. Dadurch steigt der Wert der Realkasse und die Kaufkraft<br />

des Geldes steigt ebenfalls (denselben Effekt erreicht man auch über eine Geldmengenausdehnung).<br />

Resultat sind insbesondere sinkende Zinsen und in der<br />

Folge davon c.p. steigende Investitionen.<br />

Der sog. Keynes-Haberler-Effekt versucht ebenfalls zu zeigen, wie ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht<br />

bei sinkenden Preisen (und ggf. Löhnen) durchbrochen<br />

werden kann. Dieser Effekt läuft über die Zinsen und Investitionen mit folgender<br />

Wirkungskette ab:<br />

- Das Preisniveau sinkt, ggf. auch die Löhne.<br />

- Die Geldnachfrage nach Transaktionsmittel sinkt (Liquiditätseffekt).<br />

- Die Zinsen sinken (Zinseffekt).<br />

- Die Investitionen steigen c.p. (Investitionseffekt).<br />

- Das Volkseinkommen steigt (Einkommenseffekt).<br />

Der Keynes-Haberler-Effekt stellt, wie der Pigou-Effekt, ebenfalls einen „Gegenmechanismus“<br />

zum Unterbeschäftigungsgleichgewicht bei sinkenden Preisen<br />

dar. In leicht modifizierter Form bildet er die Grundlage für den keynesianischen<br />

Transmissionsmechanismus (vgl. § 7/II.).<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

1. Deflationäre Tendenzen - Es gibt in der Referenzperiode keine deflationären Tendenzen,<br />

führen zu einem Rückgang anhand welcher der Keynes-Haberler-Effekt untersucht werden<br />

der Zinsen und einem könnte.<br />

Ansteigen der Investitionen.<br />

Eine der zahlreichen Kritiken am Keynes-Haberler-Effekt stammt von Keynes:<br />

Sinkende Löhne und Preise führen zu einer Einkommensumverteilung vorerst<br />

von den Lohnempfängern zu den Nicht-Lohnempfängern und später von den<br />

Gläubigern zu den Schuldnern, wobei sich als Nettoeffekt eine gesamtwirtschaftlich<br />

geringere Konsumneigung ergibt. 309<br />

309 Vgl. Keynes, John M., General Theory of Employment, Interest, and Money, 1936 S. 262.<br />

191


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

3.2. Der Vermögenseffekt von Keynes<br />

Ein weiterer Vermögenseffekt bezieht sich auf die Investitionen und Konsumeffekte,<br />

welche durch die Aktienkurse an der Börse ausgelöst werden können. Bei<br />

seinen Überlegungen zum Investitionseffekt geht John M. Keynes von der<br />

Marktbewertung der Unternehmen aus: 310<br />

„ … Obwohl die Aktienbörse primär dem Transfer von bestehenden Investitionen<br />

zwischen den Individuen dient, hat die tägliche Neubewertung der<br />

Aktien durch die Börse einen entscheidenden Einfluss auf die Rate der laufenden<br />

Investitionen aus. Dies deshalb, weil es keinen hat, ein neues Unternehmen<br />

zu höheren Kosten aufzubauen, als ein bestehendes Unternehmen<br />

gekauft werden kann. Dagegen besteht ein Anreiz, selbst eine<br />

gröβeren Betrag in ein neues Unternehmen zu investieren, wenn dieses mit<br />

einem unmittelbaren Gewinn über die Börse verkauft werden kann.“<br />

Neben den Investitionseffekten von Aktienkursänderungen können auch Konsumeffekte<br />

entstehen:<br />

„Der Verbrauch der besitzenden Klasse mag sich unvorhergesehenen Änderungen<br />

im Geldwerte ihres Vermögens gegenüber auβerordentlich empfindlich<br />

verhalten. Dies sollte unter die wichtigeren Faktoren eingereiht<br />

werden, die fähig sind, kurzfristige Änderungen im Hang zum Verbrauch<br />

zu verursachen“. 311<br />

Keynes selbst schränkt die Wirkung dieses Vermögenseffektes auf einen begrenzten<br />

Kreis von Wirtschaftssubjekten ein:<br />

„Es gibt nicht viele Leute, die ihre Lebensweise ändern werden, weil der<br />

Zinsfuβ von 5 % auf 4 % gefallen ist, wenn ihr Gesamteinkommen das gleiche<br />

wie zuvor ist“. 312<br />

Nach diesen Überlegungen können die Aktienmärkte einen Einfluss auf den<br />

Konsum und ggf. auch die Investitionen haben. Eine mögliche Wirkungskette<br />

lautet:<br />

310 Keynes, John M., The General Theory of Employment, Interest, and Money. London und New York, 1936, S. 151<br />

(freie Übersetzung).<br />

311 Vgl. Keynes, John M., Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin, 5. Aufl., 1974, S.<br />

80.<br />

312 Vgl. Keynes, John M., Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin, 5. Aufl., 1974, S.<br />

80.<br />

192


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Die Geldmenge steigt.<br />

- Die Zinsen sinken.<br />

- Die Börsenkurse steigen.<br />

- Der Wert des Vermögens steigt.<br />

- Es wird Vermögen durch Konsum und Investitionen abgebaut; das Volkseinkommen<br />

steigt (und umgekehrt).<br />

- Es besteht auch die These einer umgekehrten Kausalität, wonach vor allem die<br />

Güternachfrage den Aktienmarkt beeinflusst (durch die sich verändernden Erträge).<br />

Zudem besteht die Möglichkeit einer doppelten Kausalität zwischen den Aktienmärkten<br />

und der Nachfrage nach Gütern.<br />

Empirischer Hinweis:<br />

Nach Berichte führte das Platzen der Kursblase an den Aktienmärkten im Jahre 2000 zu<br />

einem Rückgang der Einkommen und der Steuereinnahmen in den USA. So sanken die<br />

steuerpflichtigen Einkommen im Durchschnitt um 5,1 Prozent, die Einnahmen aus der<br />

individuellen Einkommenssteuer um 18,8 Prozent (Bericht des Internal Revenue Service,<br />

IRS). Diese Entwicklung ist einmal seit dem zweiten Weltkrieg, und lässt sich nur in zweiter<br />

Linie durch die kurze Rezession in den Jahren 2001 und 2002 erklären. Der Rückgang<br />

der Einkommen betrifft nur Personen mit Bezügen von über USD 200.000. Bei den Bezügern<br />

von Einkommen von über USD 10 Mio. sanken die Einkommenssteuerzahlungen um<br />

63,4 Prozent. Die geringeren Bezüge der Chefs der gröβten US-Unternehmen aus Aktienoptionen<br />

sanken im Durchschnitt von USD 12,5 Mio. im Jahr 2000 auf USD 7,4 Mio. im<br />

Jahre 2002.<br />

(vgl. NZZ, Nr. 178, vom 3.8.2004, Bl. 17.<br />

Kritisch für die gesamtwirtschaftliche Entwicklung wird der Börsenmechanismus<br />

bei einer stagnierenden wirtschaftlichen Entwicklung, verbunden mit einem<br />

Rückgang der Aktienkurse. In diesem Fall besteht die Gefahr eines zusätzlichen,<br />

börsenbedingten Rückgangs der Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern,<br />

was die Wirtschaft in eine noch schwerere Depression abgleiten lässt. Eine<br />

solche Entwicklung war – zusammen mit anderen rezessiven Einflussfaktoren –<br />

in den 1930-er Jahren festzustellen. Auch in den Jahren 2001-2002 bestand die Gefahr<br />

eines starken Abgleitens der konjunkturellen Entwicklung, unter anderem<br />

ausgelöst durch eine stagnierende Nachfrage bei den Konsumgütern durch stark<br />

rückläufige Aktienkurse.<br />

193


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

1. Steigende Aktienkurse füh- - Es zeigt sich in der Referenzperiode ein unmittelbarer, wenn-<br />

ren zu einer erhöhten Nach- gleich geringfügiger Zusammenhang (0,01) zwischen der<br />

frage nach Gütern Veränderung der Aktienkurse (d Aktienindex) und der Wachstumsrate<br />

des BIP real (d BIP real).<br />

2. Eine erhöhte Güternachfrage - Diese These trifft zu (mit einem lead von acht Monaten).<br />

führt zu einem höheren<br />

Aktienindex<br />

3. Eine verstärkte Liquiditäts- - Diese These trifft zu (mit leads von einem bis zu drei Monaten).<br />

zuführung durch die EZB<br />

führt zu sinkenden Zinsen<br />

(und umgekehrt)<br />

4. Die Aktienkurse steigen in - Diese These trifft für die Geldmarktzinsen zu; bei den Kapital-<br />

Folge sinkender Zinsen markt bei den Laufzeiten von zwei und fünf Jahren (mit einem<br />

(und umgekehrt) lag von etwa drei Monaten).<br />

5. Als Folge von Portefeuille- - Diese These ist zutreffend für d M1.<br />

umschichtungen steigt die<br />

Geldmenge (bzw. das Geld-<br />

vermögen) bei steigenden<br />

Aktienkurse schwächer als<br />

bei sinkenden Aktienkur-<br />

sen (und umgekehrt)<br />

6. Eine Erhöhung der Liqui- - Diese These trifft zu (mit einem lag von sechs Monaten).<br />

ditätszuführung durch die<br />

EZB führt zu einer Erhöhung<br />

der Aktienkurse<br />

7. Höhere Aktienkurse führen - Diese These trifft geringfügig zu (vor allem für die Geldmarkt-<br />

zu höheren Zinsen und zinsen).<br />

dämpfen damit die wei-<br />

tere Entwicklung der<br />

Aktienkurse.<br />

3.3. Das Tobin-q<br />

In einer Analyse geht Tobin von den Schwankungen des Börsenwertes der Produktionsunternehmen<br />

aus und zeigt anhand eines (inzwischen historischen) Beispiels,<br />

wie die Marktwertung dieser Unternehmen 1965 170 Prozent, 1974 nur<br />

194


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

noch 75 Prozent der Wiederbeschaffungskosten betrug. 313,314 1966 löste dies eine<br />

Investitionen von zehn Prozent des Kapitalstocks (zu Wiederbeschaffungspreisen)<br />

aus, 1975 nur noch von acht Prozent.<br />

Die Relation zwischen dem Marktwert und den Wiederbeschaffungskosten, das<br />

Tobin-q, zählt er als zu den wichtigsten Indices speziell der Nachfrage nach<br />

(dauerhaften) Investitionsgütern. Das Verhältnis zwischen dem Marktwert und<br />

den Wiederbeschaffungskosten von Vermögensgütern (das Tobin-q) hat einen<br />

wesentlichen Einfluss auf den Kauf von Gütern, Dienstleistungen und im Speziellen<br />

von Investitionsgütern. Im Gleichgewicht entspricht der Marktwert den<br />

Wiederbeschaffungskosten von Kapitalgütern. Das Tobin-q stellt einen Vergleich<br />

zwischen der Grenzproduktivität des Kapitals bzw. der internen Ertragsrate und<br />

den Wiederbeschaffungskosten dar. Bei einem sinkenden Tobin-q fällt die Neigung<br />

zu investieren (und umgekehrt).<br />

Tobin kritisiert Keynes, welcher die Investitionen nur in eine inverse Beziehung<br />

zu einem Zinssatz („the rate of interest“) setzt. 315 Die Finanzierung der Unternehmen<br />

erfolgt vielmehr über eine Kombination der Ausgabe von Bonds, Aktien<br />

und weiterem Fremdkapital. Damit ist nicht nur ein Zinssatz, sondern es sind<br />

mehrere Zinssätze bedeutsam.<br />

Indem die Zentralbank nur die kurzfristigen Zinsen beeinflussen kann, kommt<br />

der Einfluss der Geldpolitik über komplexe Substitutionsprozesse bei den Portefeuilles<br />

zustande. 316 Zu den Determinanten dieser Substitutionsprozesse zählen<br />

unter anderem die von der Zentralbank festgelegten Geldmarktsätze, die Risiken<br />

und die Präferenzen der Unternehmer. Maβgeblich ist nicht das gesamtwirtschaftliche,<br />

durchschnittliche Tobin-q, sondern die für eine Unternehmung spezifische<br />

Ration (Tobin-q).<br />

Das marginale Tobin-q kann vom marginalen Tobin-q abweichen. Neue Investitionen<br />

können Innovationen enthalten, welche zu einer Erhöhung des marginalen<br />

Tobin-q führen, so beispielsweise energiesparende Investitionen. Dies ist<br />

auch bei Subventionen zur Förderung von Investitionen der Fall.<br />

Der Tobin-Effekt (Tobinscher Vermögenseffekt) ist ein weiterer vermögenstheoretischer<br />

Geldeffekt, mit welchem gezeigt werden soll, wie sich die Dichotomie<br />

zwischen dem monetären und dem realen Bereich erklären lässt. Es handelt sich<br />

313 Schätzungen von John Ciccolo (Boston College). Die entsprechenden Schätzung des Council of Economic Advisers<br />

betrugen 136 % für 1965 und 84 % für 1974.<br />

314 Vgl. Tobin James, Monetary Policy and the Economy: The Transmission Mechanism. In: Cowles Foundation Paper<br />

462. Reprint from Southern Economic Journal, Vol. 44, Number 3, January 1978, S. 423.<br />

315 Vgl. Tobin James, Monetary Policy and the Economy: The Transmission Mechanism. In: Cowles Foundation Paper<br />

462. Reprint from Southern Economic Journal, Vol. 44, Number 3, January 1978, S. 423.<br />

316 Vgl. Tobin James, Monetary Policy and the Economy: The Transmission Mechanism. In: Cowles Foundation Paper<br />

462. Reprint from Southern Economic Journal, Vol. 44, Number 3, January 1978, S. 424.<br />

195


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

um einen Nettovermögenseffekt. Ein solcher ergibt sich auch unter dem Aspekt<br />

der Inflation, welche (vorübergehend) zu einer Senkung der realen Zinssätze<br />

führen kann. Damit ist eine Erhöhung des Tobin-q möglich, womit die Neutralität<br />

des Geldes aufgehoben wird.<br />

Der Tobin-Effekt (Tobinscher Vermögenseffekt)<br />

a. Prämissen<br />

- Gegeben sei eine Wirtschaft mit vollkommener Konkurrenz und konstanten<br />

Skalenerträgen, was zu einem gleichgewichtigen Wachstum führt, welches der<br />

natürlichen Wachstumsrate der Wirtschaft entspricht.<br />

- Das Portefeuille der privaten Wirtschaftssubjekte umfasst das Realkapital (Realvermögen)<br />

und das Nettofinanzvermögen (Bargeld, Wertpapiere mit unterschiedlichen<br />

Laufzeiten und Forderungen gegenüber anderen Wirtschaftssubjekten,<br />

abzüglich der Verbindlichkeiten gegenüber anderen Wirtschaftssubjekten).<br />

Da sich die gegenseitigen Forderungen der Wirtschaftssubjekte aufheben, bleiben<br />

die Forderungen gegenüber anderen Sektoren. Das staatliche Finanzvermögen<br />

wird als konstant angenommen.<br />

- Das analysierte Vermögen besteht aus einem gemischten Portefeuille: Finanzvermögen<br />

mit unterschiedlichen Fristen und Realvermögen. Die Optimierung<br />

des Portefeuilles wird durch die Ertragsraten und die Risiken beeinflusst.<br />

- Die Wirtschaftssubjekte sind bemüht, ihrem Vermögen die optimale Struktur<br />

zu geben. In Folge der unterschiedlichen Risiken sind die einzelnen Aktiven nur<br />

begrenzt substituierbar.<br />

- Für den Anleger sind zwei Informationen bzgl. des Realkapitals ausschlaggebend:<br />

Erstens, welchen Ertrag das eingesetzte Kapital in schon bestehenden<br />

Sachgütern bringt und zweitens, welche Rendite eine Neuinvestition bringen<br />

würde. Sind rRK die Ertragsrate auf vorhandenes Realkapital und R der interne<br />

Zinsfuss (bei welchem Abdiskontieren weder Gewinn noch Verlust bringt) einer<br />

Neuinvestition, so stellt die Beziehung<br />

R<br />

q = eine Entscheidungsregel dar. Im<br />

r<br />

Gleichgewicht gilt q=1. Bei q>1 ist eine Neuinvestition lohnender als die Geldan-<br />

lage in bereits bestehende Sachgüter. Die Relation<br />

Literatur zu finden.<br />

RK<br />

RK<br />

196<br />

R<br />

q = ist als „Tobins q“ in der<br />

r<br />

- Ein monetärer Impuls verändert das Tobin q. Darunter wird die Relation zwischen<br />

dem Marktwert des Realkapitals (RM) und den Reproduktionskosten des<br />

Realkapitals (RRK =Angebotspreis des Kapitals bzw. „supply price of capital“)<br />

verstanden.<br />

- Das sog. Tobin-q hinsichtlich des Vermögenswertes lautet:<br />

( 41)<br />

Tobin q =<br />

R<br />

R<br />

M<br />

RK<br />

.


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Investitionen in Realkapital (zu Reproduktionskosten) erfolgen, solange das<br />

Tobin q > 1 ist.<br />

- Nach James Tobin beeinflussen nicht enge Geldmengen und deren Umlaufsgeschwindigkeit<br />

den güterwirtschaftlichen Bereich, sondern die kurzfristigen<br />

Geldmarktzinsen und die gesamtwirtschaftlich verfügbare Liquidität. Zu den<br />

entscheidenden Einflussfaktoren zählen die Zinsstruktur, die Ertragsraten sämtlicher<br />

Aktiven und die Verfügbarkeit von Krediten. 317<br />

b. Das Modell<br />

- In der Ausgangslage besteht ein Gleichgewicht zwischen dem Marktwert des<br />

vorhandenen Realkapitals und dessen Reproduktionskosten. Das Tobin q beträgt<br />

1.<br />

- Die Zentralbank erwirbt Aktien von den Banken und Haushalten. Dadurch<br />

kommt es zu Kurssteigerungen und Renditeverlusten bei diesen Papieren. Die<br />

Geldmenge steigt (expansive Geldpolitik der Zentralbank).<br />

- Die Kassenbestände der Wirtschaftssubjekte erhöhen sich. Durch den Verkauf<br />

von Aktien halten die Haushalte mehr Realkasse, als es ihrem optimalen Portfolio<br />

entspricht und es kommt zu Umschichtungen beim Realvermögen (Vermögenseffekt).<br />

Als Folge fragen die Haushalte mehr bereits bestehendes Realkapital<br />

und mehr Bonds nach. Auch hier kommt es zu Zinssenkungen sowie Preissteigerungen<br />

bei Aktien und Bonds.<br />

- Die Aktienkurse steigen in Folge der tieferen Zinsen. Auch der Marktwert des<br />

übrigen Realkapitals liegt über den Reproduktionskosten des Realkapitals (Tobin<br />

q > 1).<br />

- Der Tobin-Effekt besteht nun darin, dass Neuinvestitionen attraktiver geworden<br />

sind, da das Tobin-q und damit die Relation zwischen den Renditen der beiden<br />

Anlageformen gestiegen sind. Neu produziertes Realkapital wird verstärkt<br />

nachgefragt, die Investitionen und die Produktion steigen. Angesichts eines Tobin<br />

q >1, der geringeren Marktrenditen und der Erhöhung des Vermögens kommt<br />

es zu einer erhöhten Nachfrage nach neu produziertem Realkapital. 318 Dieser Prozess<br />

hält solange an, bis sich die Reproduktionskosten von neu produziertem Realkapital<br />

und die Marktpreise des bestehenden Realkapitals angeglichen haben<br />

(Tobin = 1).<br />

- Die Übertragung des monetären Impulses auf den realen Bereich ist damit gelungen,<br />

womit die Geldmengenänderung einen positiven Einfluss auf das Vermögen<br />

hat (= Tobinscher Vermögenseffekt).<br />

317 Vgl. Tobin, James, Geschäftsbanken, Köln 1974, S. 104.<br />

318 Im Sinne eines Vermögens- und Substitutionseffektes.<br />

197


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Eine erhöhte Liquiditätszu- - Der empirische Gehalt dieser These lässt sich weder eindeutig<br />

führung durch die Zentral- bestätigen noch negieren.<br />

bank bewirkt eine höheres - In Phasen mit sinkenden Zinssätzen bewirkt eine erhöhte<br />

Geldvermögen der Nicht- Liquiditätszuführung steigende Geldmengen, indem sowohl<br />

Banken. die Zins-Geldnachfrageelastizität als auch die erhöhte Geldbasis das<br />

Geldmengenwachstum beschleunigen.<br />

- In Phasen mit steigenden Zinsen ergibt sich ein per Saldo ungewisser<br />

Effekt aus der das Geldmengenwachstum dämpfenden Zinssteigerung<br />

und dem expansiven Effekt der Erhöhung der Geldbasis.<br />

2. Eine höhere Geldmenge be- - Diese These trifft für (log) M1, M2 und M3 nicht signifikant zu,<br />

wirkt eine größere Güter- ebenfalls nicht für d M2 und d M3. Hingegen steigt mit zunehmenden<br />

nachfrage und eine höhere Wachstumsraten von d M1 die Nachfrage nach Gütern geringfügig.<br />

Beschäftigung.<br />

3.4. Der Patinkin-Effekt (erweiterter Realkassen-Effekt bzw. real balance-Effekt)<br />

Der Ansatz von Don Patinkin ist als erweiterter Realkasseneffekt bzw. real balance-Effekt<br />

bekannt und basiert sowohl auf dem Pigou-Effekt als auch auf dem<br />

Keynes-Haberler-Effekt. Don Patinkin versucht damit, wie andere Autoren, eine<br />

Verbindung zwischen der klassischen Theorie und dem keynesianischen Ansatz<br />

zu schaffen. Die Verbindung findet zwischen dem Gütermarkt (Pigou-Effekt)<br />

und dem Markt für festverzinsliche Wertpapiere (Keynes-Haberler-Effekt) statt,<br />

wobei die Prämissen zum Teil verändert werden. Auf diese Weise soll die klassische<br />

Dichotomie zwischen einem monetären und einem realen Bereich überwunden<br />

und damit eine sog. neoklassische Synthese geschaffen werden. 319<br />

Unter der Patinkin-Kontroverse wird der Streit um die klassische Dichotomie<br />

verstanden. Nach klassischer Auffassung ist das Geld neutral; zwischen den einzelnen<br />

Gütern bilden sich relative Preise und das Geld funktioniert als<br />

„numéraire“ bzw. n+1tes Gut. Nach der keynesianischen Theorie, welche von<br />

Patinkin 320 ausgearbeitet wurde, ist die Herleitung der Preise in der klassischen<br />

Theorie nicht konsistent. Im Rahmen der monetären Gleichgewichtstheorie lassen<br />

sich nach keynesianischer Auffassung in der allgemeinen Gleichgewichts-<br />

319 Vgl. Patinkin, Don, Money, Interest and Prices, 2. Auflage, New York 1965.<br />

320 Vgl. Patinkin, Don, Relative Prices, Say’s Law for Money. In: Econometrica, Vol. 16, 1948, S. 135-154; sowie derselbe,<br />

The Indeterminacy of Absolute Prices in Classical Economic Theory. In: Econometrica, Vol. 17, 1949, S. 1-27.<br />

198


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

theorie keine monetären Fragestellungen untersuchen. 321 Das Geld wird nach<br />

keynesianischer Auffassung über die Geldfunktionen definiert, was aber keine<br />

Erkenntnisse über die Bildung der Preise zulässt.<br />

Die Theorie des Patinkin-Effektes geht von der Lagerhaltungstheorie des<br />

Geldes aus. Das Geld wird nach denselben Grundsätzen gehalten wie die Lagerbestände<br />

bei den Gütern. Es wird soviel Kasse nachgefragt, bis ein Gleichgewicht<br />

zwischen dem Konsum und dem Kassenbestand hinsichtlich der letzten Einheit<br />

des Konsums bzw. des Grenzstromnutzens des Kassenbestandes erreicht ist. Die<br />

Wirtschaftssubjekte bauen Kasse durch Konsum (bzw. Investitionen) ab oder<br />

durch Konsumverzicht (bzw. Sparen) auf, bis der Grenznutzen des Konsums dem<br />

Grenznutzen des Kassenbestandes entspricht. Der Grenznutzen der letzten Einheit<br />

des Konsums entspricht in diesem Fall dem monetär gewichteten Grenznutzen<br />

der letzten Einheit Geld in der Kasse (zweites Gossensches Gesetz).<br />

a. Prämissen<br />

- Patinkin widerspricht dem Gesetz von Say, wonach sich Güter nur durch Güter<br />

kaufen lassen. Anstelle des Gesetzes von Say tritt das Geld mit einer eigenen,<br />

diesem zugewiesenen Nutzenfunktion.<br />

- Don Patinkin geht vorerst von einer Trennung des Nettovermögens in Innengeld<br />

(„inside money“) und Auβengeld („outside money“) aus. Das Innengeld entsteht<br />

durch die private Verschuldung des privaten Sektors im privaten Kreditsystem.<br />

Bei einer konsolidierten Betrachtung heben sich die Forderungen und Verbindlichkeiten<br />

auf, womit das Innengeld kein Betandteil des volkswirtschaftlichen<br />

Nettovermögens ist. Das Auβengeld besteht aus den Forderungen des privaten<br />

Sektors gegenüber dem Staat und der Zentralbank im Sinne einer exogenen<br />

Nettoforderung. Dieser entspricht keine Verschuldung des privaten Sektors. 322<br />

- Die Wirtschaftssubjekte unterliegen keiner Geldillusion; die Güternachfrage<br />

sowie das Angebot und die Nachfrage nach Wertpapieren sind Funktionen der<br />

realen Kassenhaltung und der relativen Preise am Markt. 323<br />

- Die Preise und Löhne sind flexibel, die Liquiditätspräferenz ist gegeben. 324<br />

- Die Einkommensverteilung wird nicht verändert und hat keinen Einfluss auf<br />

die Wertpapier- und Kassenbestände.<br />

321 Vgl. Mankiw, N.G., Makroökonomik, Wiesbaden, 1998.<br />

322 Vgl. Patinkin, Don, Money, Interest and Prices, Aufl., New York 1965, S. 15.<br />

323 Vgl. Patinkin, Don, Money, Interest and Prices, Aufl., New York 1965, S. 19.<br />

324 Vgl. Lutz, Friedrich A., Zinstheorie, 2. Aufl., Zürich 1967, S. 167.<br />

199


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Das Modell<br />

- Ausgangssituation ist eine Erhöhung der autonom festgelegten Geldmenge in<br />

einer vollbeschäftigten Wirtschaft, wobei das Preisniveau vorerst unverändert<br />

bleibt.<br />

- Nach geldpolitischen Maβnahmen laufen die Wirkungen vom Geld- zum Gütermarkt<br />

nach dem Schema: „Money buys goods, and goods do not buy money“.<br />

325 Die Prozesse werden in dieser Zeit durch die reale Kasse bestimmt. Nach<br />

Auffassung von Patinkin kehrt die Wirtschaft von alleine zu einem Gleichgewicht<br />

zurück. Dabei wird die Dichotomie zwischen dem monetären und dem realen<br />

Bereich nach einer Geldmengenerhöhung für die Dauer des Prozesses der<br />

Anpassung aufgehoben wird. Im Unterschied zu Keynes und Pigou geht Patinkin<br />

davon aus, dass sich Konsum-, Investitions- und Liquiditätsneigung im Zuge der<br />

Vermögensänderung ebenfalls ändern. 326 Erwartungseffekte und deren Auswirkungen<br />

werden nicht berücksichtigt.<br />

- Die Nachfrage und das Angebot an Gütern werden als abhängig vom Realwert<br />

der Kasse betrachtet.<br />

b. Der Ablauf im Modell<br />

- Eine Geldmengenerhöhung führt zu einer Erhöhung des Finanzvermögens (der<br />

Staat kann nur durch eine Kreditaufnahme bei der Notenbank Geld schöpfen).<br />

- Die Wirtschaftssubjekte halten eine bestimmte Realkasse.<br />

- Bei vorerst konstantem Preisniveau erfolgt eine Erhöhung der Geldmenge.<br />

- Das private Nettovermögen steigt.<br />

- Es werden mehr Güter nachgefragt (auβer bei den inferioren Gütern, von welchen<br />

weniger nachgefragt wird).<br />

- Die Produktion und die Beschäftigung steigen.<br />

- Das Preisniveau steigt; dieser Effekt läuft porportional zur Geldmengenerhöhung.<br />

- Der reale Wert der Kassenbestände sinkt und die Wirtschaftssubjekte werden<br />

wieder Kasse nachfragen, bis die ursprüngliche Realkasse erneut vorhanden<br />

ist. 327 Die alten Relationen werden wieder hergestellt.<br />

325 Patinkin, D., 1966, xxiii.<br />

326 Vgl. Felkel, S. 191 ff.<br />

327 Auf diesen Realkasseneffekt weist bereits Wicksell hin: „Steigen nun bei gleich bleibendem Geldvorrat aus irgendwelcher<br />

Veranlassung die Warenpreise, oder vermindert sich, bei vorläufig gleich bleibenden Preisen, jener, so werden<br />

die Kassenbestände, obwohl sie ersteren Falls im Durchschnitt keine wirkliche Veränderung erfahren haben, gegenüber<br />

der jetzigen Höhe der Warenpreise allmählich zu klein erscheinen. Wenn ich auch in jenem Falle später auf<br />

erhöhte Einnahmen rechnen kann, so laufe ich doch vorläufig Gefahr, meinen Verbindlichkeiten nicht rechtzeitig<br />

nachkommen zu können und würde auch bestenfalls auf diesen und jenen sonst vorteilhaften Einkauf aus Mangel an<br />

Barmitteln leicht verzichten müssen. Ich suche deshalb meine Kasse zu verstärken, was (unter vorläufiger Nichtbeachtung<br />

des Auswegs der Geldanleihe u.s.w.) nur durch verminderte Nachfrage nach Waren und Leistungen oder<br />

durch vermehrtes (vorzeitiges oder unter dem Preise geschehendes) Angebot meiner eigenen Ware, oder durch bei-<br />

200


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Ähnliche Effekte ergeben sich auch im Wertpapierbereich. Die Geldmengenerhöhung<br />

führt zu einer Erhöhung der Nachfrage und einer Senkung der Zinsen<br />

(allerdings ist dieser Effekt abhängig von den Erwartungen der Wirtschaftssubjekte<br />

hinsichtlich der Dauer der Realwerterhöhung durch die Zinssenkungen). 328<br />

Steigt der Zins wieder auf sein ursprüngliches Niveau, stoβen die Wirtschaftssubjekte<br />

Wertpapiere in Erwartung sinkender Kurse ab.<br />

- Bei einem sinkenden Wert der Realkasse tritt der Realkasseneffekt damit in<br />

umgekehrter Reihenfolge auf.<br />

Der Realkasseneffekt (real-balance-effect) nach Don Patinkin stellt einen Vermögenseffekt<br />

dar, dessen Wirkungen über die Ursachen sich verändernder relativer<br />

Preise hinausgehen, und wodurch die Dichotomie des realen und des monetären<br />

Bereichs vorübergehend aufgehoben wird. Im Unterschied zum Pigou-Effekt<br />

handelt es sich jedoch um ein vorerst deflationäres, sondern ein inflationäres<br />

Umfeld.<br />

Der Realkasseneffekt lässt sich auch marginaltheoretisch interpretieren:<br />

- Zum Ausgleich des Grenznutzens zwischen den einzelnen Bestandteilen des<br />

Portfolios und dem Konsum steigt bei einer Geldmengenerhöhung unter anderem<br />

die Nachfrage nach Konsumgütern und Investitionsgütern sowie Wertpapieren.<br />

Es erfolgen Umschichtungen des Portfolios (zum Abbau des<br />

Portfolioungleichgewichtes), bis der monetär gewichtete Grenznutzen in allen<br />

möglichen Verwendungen des Geldes und beim Portefeuilles derselbe ist (2.<br />

Gossensches Gesetz).<br />

- Der Zins sinkt, die Investitionen nehmen zu.<br />

- Der Prozess setzt sich bis zu einem neuen Gleichgewicht der relativen Preise bei<br />

Vollbeschäftigung fort (= Vollbeschäftigungsautomatismus bzw. real balance<br />

effect).<br />

- Vermögensänderungen bewirken eine Erhöhung des Sozialprodukts 329 (dieser<br />

Effekt steht im Gegensatz zur reverse-causation-Hypothese, wonach eine Erhöhung<br />

des Sozialprodukts auch zu einer Erhöhung der Nachfrage nach Vermögen<br />

führt).<br />

Kritik<br />

- Die Kritik bezieht sich unter anderem auf die Ausklammerung des Innengeldes,<br />

welches – für die Gläubiger – ebenfalls zum Vermögen gehört. Zudem zählen die<br />

des zugleich erzielt werden kann. Dasselbe gilt von allen anderen Warenbesitzern oder –konsumenten. … “. Wicksell,<br />

Knut, Geldzins und Güterpreise, a.a.O., S. 35 f.<br />

328 Vgl. Patinkin, Don, Money, Interest and Prices, a.a.O., S. 144.<br />

329 Vgl. Felkel, S. 119 ff.<br />

201


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

von den Banken erzielten Gewinne auch zum Einkommen der Wirtschaftssubjekte.<br />

IV. Der Transmissionsmechanismus der relativen Preise<br />

1. Der Ricardo-Effekt (Friedrich August von Hayek)<br />

Der Ricardo-Effekt von F.A. von Hayek 330 aus den 1920er Jahren ist ein früher,<br />

wesentlicher Beitrag zur monetären Konjunkturtheorie. Die Grundlagen sind der<br />

Wicksellsche kumulative Prozess und die Theorie der intertemporalen Kapitalallokation<br />

von E. von Böhm-Bawerk. Damit erhält der Ricardo-Effekt vor allem<br />

eine „horizontale Dimension“, indem die Kapitalintensität der Produktion und<br />

das Ausmaβ der Produktionsumwege nach von Böhm-Bawerk von der Höhe der<br />

Zinsen abhängt.<br />

In einem Wirtschaftssystem mit Geld und Krediten bestehen stets auch Preisverschiebungen<br />

und anderen Störungen:<br />

„ … dass gewisse Störungen eines wirtschaftlichen Gleichgewichts … mit<br />

dem Gebrauch eines Tauschmittels an sich untrennbar verbunden sind“. 331<br />

Dazu kommt es, indem<br />

„ … mit dem Eintritt des Geldes in die Wirtschaft ein neuer Bestimmungsgrund<br />

hinzutritt, der, weil das Geld nicht wie alle übrigen Gegenstände des<br />

wirtschaftlichen Handelns, selbst Bedürfnisse zu befriedigen, eine Nachfrage<br />

endgültig zu stillen vermag, die strenge Interdependenz und Geschlossenheit<br />

des Gleichgewichtssystemes aufhebt und Bewegungen der<br />

Wirtschaft ermöglicht, die innerhalb des Gleichgewichtssystems unvorstellbar<br />

sind“. 332<br />

Indem die Gültigkeit des Sayschen Theorems auβer Kraft gesetzt wird und der<br />

Tausch „Ware gegen Geld“ erfolgt, kommt es zu „nur“ zu einem halben Geschäft.<br />

Den realen Gegenwert erwirbt sich der Käufer erst durch den komplementären<br />

330 Von Hayek, Friedrich August, Geldtheorie und Konjunkturtheorie, Wien und Leipzig 1929.<br />

331 Von Hayek, Friedrich August, Das intertemporale Gleichgewichtssystem der Preise und die Bewegungen des ‚Geldes’.<br />

In: Weltwirtschaftliches Archiv, Band II 1928, Jena 1928, S. 33-76. S. 65.<br />

332 Von Hayek, Friedrich August, Geldtheorie und Konjunkturtheorie, 2. Auflage, Salzburg 1976, S. 14.<br />

202


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Kauf. 333 „Halbe“ Tauschgeschäfte bewirken eine Abweichung der zeitlichen<br />

Abstufung der Preise, welche sich im Gleichgewicht ergeben würden. 334<br />

Nur neutrales Geld gibt die Sicherheit eines gleichmäβigen, ohne konjunkturelle<br />

Schwankungen verlaufenden wirtschaftlichen Prozesses. In einem solchen System<br />

entsprechen sich die Nachfrage nach Darlehen und die Ersparnisse, womit<br />

das Geld gegenüber den Güterpreisen neutral ist. 335 In diesem Fall entspricht der<br />

Zins der natürlichen Zinsrate. 336<br />

Dieser Gleichgewichtsprozess wird durch die Möglichkeit der Banken durchbrochen,<br />

die Geldzinsen unter den Gleichgewichtszins zu senken. 337 Ein entsprechender<br />

Effekt tritt auch auf, wenn sich zufolge des technischen Fortschritts gewinnbringende<br />

Investitionsmöglichkeiten ergeben, deren Verzinsung über dem<br />

natürlichen Zins liegt. 338<br />

Von Hayek stellt die Wirkungsweise des Geldes dar, indem er den Wirtschaftsablauf<br />

mit einem fiktiven Wirtschaftssystem ohne Geld vergleicht. Eine reine Metallwährung<br />

wie beispielsweise das Gold würde zu neutralem Geld führen, und<br />

die Geldpolitik hätte keine monetären Effekte im realen Bereich. Dies ist, wie anzumerken<br />

bleibt, unter anderem auf den Charakter des Goldes als eines Kapitalgutes<br />

zurückzuführen, womit Zinsen bei einer Goldwährung dem Niveau der<br />

Kapitalzinsen entsprechen.<br />

Piero Sraffa (1898-1983) wirft von Hayek die vollständige Abstraktion von monetären<br />

Institutionen wie beispielsweise Kaufverträgen, Schuldverträgen und<br />

Lohnabkommen vor. Ohne monetäre Institutionen sei das Geld bedeutungslos<br />

und müsse daher auch, unabhängig von der Geldpolitik, neutral bleiben. 339<br />

Hinsichtlich der Idealvorstellung des neutralen Geldes gibt auch von Hayek zu<br />

bedenken:<br />

„Es ist widersprüchlich, Prozesse zu diskutieren, welche annahmegemäβ<br />

ohne Geld gar nicht stattfinden können, und gleichzeitig anzunehmen, es<br />

gäbe kein Geld oder dieses hätte keinen Effekt“. 340<br />

333 Vgl. Koopmans, Johan, Zum Problem des „Neutralen“ Geldes. In: von Hayek, Friedrich August (Hrsg.): Beiträge<br />

zur Geldtheorie, Wien 1933 S. 252.<br />

334 Vgl. von Hayek, Das intertemporale Gleichgewichtssystem der Preise und die Bewegungen des Geldwertes. In:<br />

Weltwirtschaftliche Archiv, Bd. 28, Jena 1928 S. 46.<br />

335 Vgl. von Hayek, Friedrich August, Geldtheorie, 1976, S. 59 und 125.<br />

336 Vgl. von Hayek, Friedrich August, Geldtheorie, 1929, Nachdruck Salzburg 1976, S. 118 ff.<br />

337 Vgl. von Hayek, Friedrich August, Geldtheorie, 1976, S. 56.<br />

338 Vgl. Machlup, Fritz, Würdigung der Werke von Friedrich A. von Hayek, Tübingen 1977, S. 20.<br />

339 Vgl. Sraffa, Piero, <strong>Dr</strong>. Hayek on Money and Capital. In: The Economic Journal, 1932, Band 42, (S. 42-53), S. 44 ff.<br />

340 Vgl. von Hayek, Friedrich August, Pure Theory of Capital, 1941, S. 31 (freie Übersetzung).<br />

203


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der Modellablauf<br />

Geld ist nach von Hayek nicht neutral, d.h. Geldmengenänderungen durch die<br />

Notenbank führen zu Veränderungen im System der relativen Preise, so beispielsweise<br />

der Kreditzinsen, der Preise für Investitionsgüter, der Preise für Konsumgüter,<br />

der Löhne im Investitionsgüterbereich und der Löhne im Konsumgüterbereich.<br />

Modellablauf<br />

Ausgangspunkt sind zwei wirtschaftliche Sektoren mit Investitionsgütern und<br />

Konsumgütern. In einem zweistufigen Bankensystem mit einer Zentralbank und<br />

Kreditbanken bewirken monetäre Impulse der Zentralbank wie bei Knut<br />

Wicksell eine Senkung der Kreditzinsen unter das Niveau der realen Gleichgewichtszinsen,<br />

und führen zu einer Mehrnachfrage nach Kapitalgütern. Die Nachfrage<br />

nach Kapitalgütern verschiebt sich zulasten des Konsumbereichs.<br />

Es kommen neue Ressourcen in den Produktionsprozess, und so steigt sowohl<br />

die Produktion von Kapitalgütern als auch jene von Konsumgütern. Dies führt<br />

über die Beschäftigungs- und Einkommenswirkungen zu einer gröβeren Nachfrage<br />

nach Konsumgütern, zu höheren Konsumgüterpreisen und damit zu einer<br />

höheren Konsumgüterproduktion.<br />

Die Verbilligung der Geldzinsen und die damit verbundene Kreditausweitung<br />

der Banken bewirken auch eine Ausweitung der Nachfrage nach Investitionsgütern.<br />

Dies bewirkt Preissteigerungen bei den Investitionsgütern, welche umso<br />

gröβer sind, je weiter diese vom Konsum entfernt sind, indem die Kapitalintensität<br />

mit zunehmender Entfernung vom Konsum steigt. 341 Es kommt aufgrund der<br />

Ermäβigung der Geldzinsen zu einer Verlängerung derjenigen Stufen der Produktionsprozesse,<br />

welche rentabel erscheinen. 342<br />

Dabei entstehen Produktionsengpässe, wobei die relativen Preise für Konsumgüter<br />

vorerst über jene für die Kapitalgüter steigen. Dadurch verschiebt sich der<br />

Einsatz von Arbeitskräften und Kapital zugunsten des Konsumgüterbereichs.<br />

Sowohl der Faktorpreis für Arbeit als auch jener des Kapitals, die Zinsen, steigen.<br />

Die steigenden Zinsen bewirken geringere <strong>Prof</strong>ite bei der Produktion von Kapitalgütern<br />

und eine geringere Nachfrage nach Kapitalgütern. Die Produktion von<br />

Kapitalgütern wird eingeschränkt und es beginnt ein wirtschaftlicher Abschwung.<br />

341 Vgl. von Hayek, Friedrich August, Gibt es einen Widersinn des Sparens? Wien, 1931, S. 50; sowie ders., New Studies,<br />

London 1978 S. 217.<br />

342 Vgl. von Hayek, Friedrich August, Preise und Produktion, London 1935, S. 83.<br />

204


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

In diesem Prozess werden Arbeitskräfte bei der Produktion von Kapitalgütern<br />

abgebaut. Dies führt zu einem Rückgang der Nachfrage nach Konsumgütern und<br />

einem Rückgang der Konsumgüterproduktion, welche nunmehr weniger Kapitalgüter<br />

nachfragt. Damit kommt es zu einem weiteren Rückgang in der Kapitalgüterindustrie.<br />

Insgesamt entsteht ein Kollaps beim wirtschaftlichen Output. Die<br />

verfügbaren Kredite übersteigen die Kreditnachfrage und die Zinsen fallen. Auf<br />

diese Weise beginnt der Zyklus erneut.<br />

Gäbe es nun keine Zyklizität bei der Kreditvergabe, würde auch kein wirtschaftlicher<br />

Zyklus entstehen. Indem die Zinsen unter die realen Gleichgewichtszinsen<br />

fallen, entstehen Ungleichgewichte beim Angebot und der Nachfrage bei den<br />

Kapitalgütern und den Konsumgütern. Beim Aufschwung kommt es zu einer relativen<br />

Verschiebung des Outputs zugunsten der Kapitalgüter, obwohl beide<br />

Sektoren den Output erhöhen. Beim Abschwung trifft das Umgekehrte zu.<br />

Eine Kritik durch Nicolas Kaldor (1939) ging von Überkapazitäten aus, die im<br />

Aufschwung bereitstehen, und welche vor weiteren Investitionen stärker ausgelastet<br />

werden können. Deshalb werden im Aufschwung wohl zusätzliche Arbeitskräfte<br />

nachgefragt, vorerst aber keine neuen Kapitalgüter. Die zusätzliche<br />

Nachfrage nach Konsumgütern bewirkt eine überproportionale Expansion des<br />

Konsumgüterbereichs und eine Steigerung der Gewinne in diesem Sektor. Erst<br />

wenn die Kapazitäten voll ausgelastet sind, entsteht eine zusätzliche Nachfrage<br />

nach Kapitalgütern. Ein Abschwung führt zu einer Entlassung von Arbeitskräften<br />

und einem Kollaps in beiden Bereichen, wobei die Wirkungen im Konsumgüterbereich<br />

stärker als im Kapitalgüterbereich sind.<br />

In der Folge modifizierte von Hayek diesen Ansatz dergestalt, dass bei einem<br />

Aufschwung vorerst die Konsumgüterpreise stärker als die Löhne steigen, was<br />

einen Rückgang der relativen Preise zu Ungunsten der Löhne bedeutet. 343 Die<br />

steigenden <strong>Prof</strong>ite in der Konsumgüterindustrie führen zu einer erhöhten Nachfrage<br />

nach Kapitalgütern, was zugleich die Kapitalintensität der Produktion erhöht.<br />

Die damit verbundenen Wirkungen bestehen in einer Verdrängung von<br />

Arbeitskräften. Die nachlassende Nachfrage nach Konsumgütern lässt auch die<br />

Nachfrage nach Kapitalgütern fallen, womit die Kapitalgüterindustrie relativ an<br />

Bedeutung verliert. Diesen zweiten Ansatz bezeichnet von Hayek als Ricardo-<br />

Effekt.<br />

Die Kritik an diesem Ricardo-Effekt bezieht sich auf die technologischen Veränderungen,<br />

welche als Modellparameter nicht erfasst werden. Zudem ist es fraglich,<br />

ob die Konsumgüterpreise tatsächlich stärker steigen als die Löhne. Ist dies<br />

343 Vgl. Friedrich August von Hayek, <strong>Prof</strong>its, Interest, and Investment, London 1939.<br />

205


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

nicht der Fall, werden auch die Mechanismen des Ricardo-Effektes obsolet.<br />

Der Ricardo-Effekt entsteht damit nur unter sehr spezifischen Aspekten.<br />

Bemerkenswert am Ricardo-Effekt von Hayeks ist die Modellierung von konjunkturellen<br />

Phänomenen anhand einer Verschiebung der relativen Preise von<br />

Güter- und Faktorpreisen. Zudem zeigt von Hayek Instabilitäten, welche aufgrund<br />

von Schwankungen des Kreditmarktbereichs entstehen können. Ähnliche<br />

Schwankungen der wirtschaftlichen Prozesse können auch durch eine zyklische<br />

Geldpolitik ausgelöst werden. Eine monetär bedingte Verfälschung der Kreditzinsen<br />

erhöht über einen komplexen Prozess der Veränderung der Preise die<br />

Nachfrage nach Investitionsgütern. Im Zuge einer „Normalisierung“ der Zinsen<br />

erweisen sich dann jene Investitionsgüter (im Sinne von Böhm-Bawerk’s Produktionsumwegen)<br />

als unrentabel, welche durch die künstlich nach unten verzerrten<br />

Zinsen induziert werden. Jene Investitionen, welche bei normalen Zinsen nicht<br />

mehr genügend rentieren, bleiben im Abschwungprozess als Investitionsruinen<br />

stehen. Monetäre Impulse führen damit zu einer Störung des wirtschaftlichen<br />

Gleichgewichts und der intertemporalen Allokation von Ressourcen.<br />

2. Der Transmissionsmechanismus der relativen Preise (Monetarismus) ***<br />

Nach Friedman gibt es „eine feste, wenn auch nicht präzise Beziehung zwischen<br />

der Wachstumsrate der Geldmenge und der Wachstumsrate des nominellen Einkommens<br />

…“. 344 Er geht in seiner frühen Betrachtung (1956) von einem<br />

Walrasianischen Gleichgewicht aus:<br />

d s<br />

d s<br />

d s<br />

( M − M ) + ( B − B ) + ( Y − Y ) =<br />

Es bedeuten:<br />

0.<br />

M = Geldnachfrage und Geldangebot,<br />

B = Nachfrage und Angebot nach Bonds,<br />

Y = die aggregierte Güternachfrage und das aggregierte Güterangebot.<br />

Eine Erhöhung der Geldmenge führt nicht zwangsläufig (wie bei Hicks) vorerst<br />

nur zu einer Erhöhung der Nachfrage nach Bonds, sondern gleichzeitig auch zu<br />

einer erhöhten Nachfrage nach Gütern. Kommt es zu einer Ausweitung der Güterproduktion,<br />

erfolgt eine Erhöhung der Geldnachfrage, womit das System wieder<br />

im Gleichgewicht ist. Die Geldmenge kann die Wirtschaft nicht nur indirekt<br />

über die Zinsen, sondern auch direkt über die Nachfrage der Individuen nach<br />

344 Friedman, Milton, Die Gegenrevolution in der Geldtheorie. In: Der neue Monetarismus, hrsg. von Kalmbach, P.,<br />

1973 S. 63.<br />

206


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Gütern beeinflussen. Der monetaristische Transmissionskanal ist damit auch<br />

ein Vermögenseffekt:<br />

„Der Unterschied zwischen uns und den Keynesianern liegt weniger in der<br />

Natur des Transmissionseffektes als in der Betrachtung der Vermögenseffekte.<br />

Die Keynesianer neigen dazu, sich auf eng gefasste Vermögensaggregate<br />

und die Zinsen zu konzentrieren. Wir bestehen darauf, weit breitere<br />

Vermögensaggregate und die Zinsen zu betrachten …“. 345<br />

Die Transmissionstheorie der relativen Preise wird auch als die Theorie der Vermögenstransformation<br />

bezeichnet, denn der Anpassungsmechanismus beruht auf<br />

der Hypothese, dass die rational handelnden Wirtschaftssubjekte eine Optimierung<br />

ihrer Vermögensstruktur anstreben. Der Monetarismus kritisiert insbesondere<br />

die fehlenden preistheoretischen Überlegungen des keynesianischen<br />

Transmissionsmechanismus. 346<br />

Beim Monetarismus ergeben sich bei Geldmengenänderungen während einer<br />

Anpassungsphase realwirtschaftliche Wirkungen. Die Entwicklung des Volkseinkommens<br />

folgt der Veränderung der Geldmenge; die Zeitdauer ist variabel<br />

und beträgt im Durchschnitt etwa zwei bis drei Quartale. Eine gleichgerichtete<br />

Wirkung auf die Preise tritt etwa zwei bis drei Quartale nach der Wirkung auf die<br />

Einkommen ein; es zeigen sich inflationäre Erscheinungen, wobei die realen<br />

Wirkungen zu einem Ende kommen. 347<br />

Prämissen<br />

- Die Nachfrage nach einzelnen Vermögensbestandteilen ergibt sich aus dem<br />

Gesamtvermögen (als Budgetrestriktion), den Preisen und den Erträgen der<br />

Geldhaltung sowie alternativer Vermögensformen und den persönlichen Präferenzen<br />

der Wirtschaftssubjekte (vgl. auch § 4. III.).<br />

- Die Vermögenshaltung besteht aus Geld, Obligationen, Aktien, Realkapital und<br />

Humankapital. Zwischen den einzelnen Vermögensbestandteilen bestehen Substitutionsbeziehungen.<br />

- Bei Portfolioungleichgewichten kommt es zu Anpassungsprozessen im Rahmen<br />

von individuellen Wahlhandlungen. Die Vermögenstransformation erfolgt auf<br />

345 Friedman, Milton, 1970, S. 28.<br />

346 Vgl. Felderer/Homburg, 1994, S. 247 f.<br />

347 Vgl. Friedman, Milton, Die Gegenrevolution in der Geldtheorie. In: Der neue Monetarismus, hrsg. von Kalmbach,<br />

P., 1973, S. 63.<br />

207


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

den einzelnen Märkten für Vermögensgüter und hat Auswirkungen auf die relativen<br />

Preise für die einzelnen Vermögensgüter.<br />

- Es handelt sich um ein preistheoretisches Modell für die relativen Preise der<br />

Vermögensgüter, bei welchem das Realeinkommen vorgegeben ist und der Arbeitsmarkt<br />

nicht berücksichtigt wird.<br />

- Es gilt das Saysche Theorem, wonach sich „Güter nur mit Gütern kaufen“ lassen.<br />

Das Modell<br />

Es gibt viele Möglichkeiten, wie der Transmissionsmechanismus der relativen<br />

Preise ablaufen kann; dies ist von den auslösenden Ursachen abhängig. 348 An dieser<br />

Stelle wird von dem Fall ausgegangen, dass sich die Wirtschaft in einem<br />

Wachstumsgleichgewicht befindet.<br />

- Durch die Senkung des Mindestreservesatzes steigt bei den Banken der verfügbare<br />

Kassenbestand relativ zu den Wertpapieren und Krediten. Es erfolgt ein Abbau<br />

der überschüssigen Kasse zunächst über den Kauf von Wertpapieren. Die<br />

Wertpapierkurse steigen aufgrund der erhöhten Wertpapiernachfrage.<br />

- Die Nichtbanken erhalten im Gegenzug Geld durch die Abgabe von Wertpapieren<br />

an die Geschäftsbanken. Somit besteht bei den Banken und dem Publikum<br />

ein vorläufiges Gleichgewicht zwischen dem Bargeld und den Wertpapieren.<br />

- Allerdings stört das neue Vermögensgleichgewicht zwischen dem Geld und den<br />

Wertpapieren das Gleichgewicht zu den anderen Aktiva. Durch die Möglichkeit,<br />

bis zu diesem Zeitpunkt Informationen über Vermögensobjekte mit höheren Informations-<br />

und Veränderungskosten einzuholen bzw. das Vermögen (oder die<br />

Verbindlichkeiten) anzupassen, greift der Anpassungsprozess in einem zweiten<br />

Schritt auch auf Kredite und Realkapital über.<br />

- Die Banken gehen aus den o.g. Kostengründen nun teilweise von der Wertpapieranlage<br />

zu einer Kreditvergabe über, das Kreditangebot steigt und der Kreditzins<br />

sinkt.<br />

- Durch den Verkauf von Wertpapieren ist die gewünschte Kassenhaltung des<br />

Publikums relativ zu den Verbindlichkeiten aus der Kreditaufnahme und zur<br />

Realkapitalhaltung gestiegen. Der Überschuss an Barmitteln wird nun zum Abbau<br />

der Verschuldung genutzt, und gleichzeitig steigt die Nachfrage nach Real-<br />

348 Die nachfolgenden Ausführungen wurden entnommen aus Felkel, S. 210.<br />

208


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

kapital. Auβerdem bieten jetzt auch die Nichtbanken Kredite an, so dass die<br />

Tendenz der Zinssenkung noch verstärkt wird. 349<br />

- Zu beachten ist hierbei, dass es für einige Güter – beispielsweise für Häuser<br />

oder Autos – zwei Märkte gibt, nämlich einen Markt für bestehende und einen<br />

Markt für neu produzierte Güter. Investoren stehen z.B. vor der Wahl, entweder<br />

Aktien zu erwerben, da Aktien die Beteiligung an bestehendem Realkapital verbriefen,<br />

oder sich neue Produktionsgüter zu beschaffen. 350<br />

- Die Nachfrage der Nichtbanken nach bereits vorhandenem Sachvermögen, welches<br />

– als Annahme – im Preis noch nicht gestiegen und deshalb relativ billig ist,<br />

steigt. Durch die verstärkte Nachfrage erhöht sich dessen Preis, wobei dieser<br />

Preisanstieg ebenfalls (wie bei den Wertpapieren) einem Wertzuwachs des privaten<br />

Nettovermögens entspricht.<br />

- Durch den Preisanstieg für bestehendes Sachkapital ist nun das neu produzierte<br />

Sachvermögen relativ billig. Durch die gestiegene Nachfrage nach neuem Realkapital<br />

erhöht sich auch der Preis für neues Sachvermögen.<br />

- In Folge des Preisanstiegs sowohl für bestehendes als auch für neu produziertes<br />

Sachvermögen steigt die Nachfrage nach Substituten für den Besitz von Realkapital.<br />

351 Da Konsumgüter ein gutes Substitut für den Besitz von Realkapital sind,<br />

steigt ebenfalls die Konsumnachfrage. Zudem ist auch die Neuproduktion von<br />

Realkapital ein gutes Substitut für den Besitz von Realkapital, so dass neben den<br />

Konsumausgaben „gleichzeitig“ die Investitionsausgaben zunehmen. Auch hier<br />

treten aufgrund der erhöhten Nachfrage Preissteigerungen auf, sofern diese Güter<br />

noch nicht von dem Preissteigerungsprozess erfasst worden sind.<br />

- Aufgrund der erhöhten Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern steigt<br />

die Nachfrage nach Krediten und der Kreditzins erhöht sich. Die Banken sind bereit,<br />

die gestiegene Kreditnachfrage zu befriedigen und verkaufen im Gegenzug<br />

Wertpapiere, womit der Wertpapierkurs sinkt. Auβerdem entspricht die Preiserhöhung<br />

für neu produzierte Güter einer Abnahme des realen Nettovermögens.<br />

- Bis zu diesem Punkt haben die beschriebenen Effekte eine Preissteigerung der<br />

Güter bewirkt. Durch die höheren Löhne steigen die Preise weiterer Güter an, das<br />

Preisniveau ist insgesamt höher als vorher.<br />

- Die steigende Nachfrage wird zumindest vorerst über Kredite finanziert, die<br />

Nachfrage hiernach nimmt zu und die Kreditmarktzinsen steigen. Um die<br />

gröβere Anzahl Kredite bedienen zu können, verkaufen die Geschäftsbanken<br />

349 Vgl. Brunner, K., Neuformulierung, 1970, S. 8 ff.<br />

350 Vgl. Pohl, Transmissionsmechanismen, 1976, S. 10.<br />

351 Vgl. Jarchow, Theorie, 1973, S. 249 f.<br />

209


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geldmarktpapiere und Obligationen, die Kurse fallen und die Zinsen steigen.<br />

Der Prozess endet erst, wenn die Kurse und die Zinsen wieder Gleichgewichtswerte<br />

erreichen.<br />

- In der längeren Sicht wird also durch einen Rückkopplungseffekt die kurzfristige<br />

Wirkung einer expansiven Geldpolitik abgeschwächt. 352<br />

Zusammenfassend betrachtet besteht der Transmissionsmechanismus aus folgenden<br />

Schritten:<br />

- Die Geldmenge steigt durch eine Senkung der Mindestreserven. Der monetäre<br />

Impuls stört das alte Vermögensgleichgewicht, so dass die Banken und das Publikum<br />

ihr Vermögen umstrukturieren. Die Neustrukturierung des Vermögens erfolgt<br />

entsprechend der Ertrags- und Kostenrelationen („relative Preise“) der einzelnen<br />

Aktiva und der Verbindlichkeiten.<br />

- Die Geschäftsbanken dehnen das Kreditangebot aus.<br />

- Die Zinssätze sinken.<br />

- Es kommt zu Ungleichgewichten bei den Renditen der einzelnen Bestandteile<br />

des Vermögens und Anpassungsprozessen in der Vermögensstruktur, mit welchen<br />

die Wirtschaftssubjekte die Ertragssätze der einzelnen Vermögensbestandteile<br />

durch Umschichtungen anzugleichen suchen.<br />

- Die Nachfrage nach Wertpapieren steigt, die Kurse steigen und die Renditen<br />

sinken.<br />

- Der Wert der bereits produzierten (bestehenden) Kapitalgüter steigt (wie beim<br />

Tobin-q).<br />

- Bei vorerst gleich bleibendem Preis für neu produzierte Kapitalgüter steigt die<br />

Nachfrage nach neu produzierten Kapitalgütern, d.h. die Investitionen bzw. die<br />

Nachfrage nach Realkapital und persönlichem Humankapital erhöhen sich.<br />

- Die Konsumnachfrage nimmt gleichzeitig zu. 353<br />

- Die Beschäftigung steigt.<br />

- Es kommt zu einem wirtschaftlichen Expansionsprozess, bis die relativen Preise<br />

wieder den unverfälschten Knappheiten entsprechen.<br />

Monetäre Impulse haben damit Auswirkungen auf die relativen Preise für Vermögensgüter<br />

während der Anpassungsprozesse, d.h. bis die relativen Preise wieder<br />

den unverfälschten Knappheiten entsprechen. Der Prozess wird zusätzlich<br />

dadurch beendet, dass die Marktzinsen als Folge einer erhöhten Inflation wieder<br />

ansteigen. Es kommt vorerst zu sinkenden Zinsen und steigenden Investitionen,<br />

später zu einer erhöhten Inflation, woraus sich ein vorübergehender realwirtschaftlicher<br />

Effekt ergibt.<br />

352 Vgl. Brunner, K., Neuformulierung, 1970, S. 10 f.<br />

353 Im Gegensatz dazu läuft der keynesianische Multiplikatoreffekt zuerst über eine zinsbedingte Erhöhung der Nachfrage<br />

nach Investitionsgüter, was eine gröβere Beschäftigung, ein steigendes Einkommen und in Folge eine erhöhte<br />

Nachfrage nach Konsumgütern auslöst.<br />

210


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

In der monetaristischen Lehre kommt es wie bei Tobin zu Effekten im Vermögensbereich,<br />

wobei zudem gleichzeitig auch Konsumeffekte ausgelöst werden,<br />

was die Wirkungen monetärer Impulse verstärkt und beschleunigt. Die Wirkung<br />

monetärer Impulse beruht auf der Phasenverschiebung zwischen den realen und<br />

den inflationären Prozessen, und würde bei einem synchronen Auftreten dieser<br />

beiden Effekte weitgehend verschwinden.<br />

Exkurs<br />

Etwas subtiler betrachtet differenziert der Monetarismus im Unterschied zur<br />

Klassik und Neoklassik zwischen den kurzfristigen und den langfristigen Auswirkungen<br />

eines monetären Impulses. 354<br />

- Kurzfristig betrachtet bewirkt ein expansiver monetärer Impuls sinkende Zinsen<br />

und steigende Investitionen sowie später eine erhöhte Inflationsrate. In Folge<br />

der höheren Preise bezahlen die Unternehmer höhere Nominallöhne. Dies<br />

führt bei den Arbeitnehmern, welche vorerst der Geldillusion unterliegen, zu einem<br />

verstärkten Arbeitsangebot und einer höheren Güternachfrage. Es kommt<br />

vorübergehend zu realwirtschaftlichen Effekten, indem die Beschäftigung und<br />

das Sozialprodukt steigen.<br />

- Langfristig fordern die Arbeitnehmer eine Anpassung der gesunkenen Reallöhne<br />

an die Inflation, wobei das Arbeitsangebot und die Güternachfrage wieder<br />

sinken. Nur bei einer beschleunigten Inflation lässt sich eine erhöhte Beschäftigung<br />

erreichen. Die Geldillusion und die kurzfristigen Effekte schmelzen dahin.<br />

Kritik<br />

Der Transmissionsmechanismus der relativen Preise formuliert die ursprüngliche<br />

Preistheorie neu, indem der Anpassungsprozess anhand unterschiedlicher Klassen<br />

von Vermögensgütern erklärt wird. 355 Zu den Kritikpunkten zählt unter anderem<br />

die These der Vermögensmaximierung. Oft sind mehrere Personen am<br />

Entscheidungsprozess beteiligt, so dass gleichzeitig mehrere und womöglich<br />

konkurrierende Ziele verfolgt werden. Dieses Problem ist oft in Unternehmen<br />

anzutreffen, wo zum Beispiel der Eigentümer Gewinnmaximierung anstrebt und<br />

die Arbeitnehmer eher an einem gleichmäβigen Einkommensstrom und der Sicherheit<br />

des Arbeitsplatzes interessiert sind. Zudem wird rationales Verhalten<br />

354 Vgl. Brunner, Karl, 1970, S. 3 ff.<br />

355 Vgl. Brunner, Neuformulierung, 1970, S. 5 f.<br />

211


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

unterstellt, wobei das tatsächliche Verhalten auch irrationale Komponenten<br />

enthalten kann. 356<br />

- Eine wichtige Voraussetzung für den Transmissionsmechanismus der relativen<br />

Preise besteht darin, dass die Zinsen und Investitionen rascher reagieren, als inflationäre<br />

Prozesse auftreten.<br />

356 Vgl. Pohl, R. Kritik, 1975, S. 227 f.; vgl. Pohl, Transmissionsmechanismen, 1976, S. 9.<br />

212


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Eine Senkung der Mindest- - Eine Senkung des Mindestreservesatzes (derzeit ein Prozent)<br />

reserven führt zu einem führt zu einem leichten Wachstumimpuls (mit einem lag von<br />

steigenden wirtschaft- elf Monaten).<br />

lichen Expansionsprozess<br />

(Hauptthese)<br />

2. Die Zinsen sinken zufolge - Die These trifft geringfügig zu.<br />

geringerer Mindestreser-<br />

ven. Die Nachfrage nach<br />

Wertpapieren steigt und<br />

die Kurse der Wertpapiere<br />

steigen<br />

3. Die Mindestreserven wer- - Ein solcher Effekt lässt sich nicht nachweisen.<br />

den gesenkt, das Kredit-<br />

volumen der Geschäfts-<br />

banken steigt<br />

4. Der Wert der bisher produ- - Ein solcher Effekt lässt sich nicht nachweisen.<br />

zierten Kapitalgüter steigt<br />

bei sinkenden Mindest-<br />

reserven<br />

5. Eine Erhöhung der Geld- Diese These trifft für d M1 zu.<br />

mengen führt zu einem<br />

höheren BIP real<br />

6. Die Erhöhung der gesamten - Diese These trifft zu.<br />

Kreditmenge bringt einen<br />

Anstieg des BIP real<br />

7. Die Beschäftigung steigt - Die These tritt tendenziell zu.<br />

mit einem höheren BIP real<br />

8. Die relativen Preise glei- - Diese These lässt sich als solche nicht überprüfen. Ein<br />

chen sich an die neuen solcher Effekt ist zu erwarten, wobei die wirtschaftlichen Expan-<br />

Knappheiten an sion zu einer erhöhten Inflationsrate führen kann, welche einen<br />

verzerrenden Einfluss auf die relativen Preise hat und den Expansionsprozess<br />

vorzeit beenden kann.<br />

213


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

8.9. Neue Klassische Makroökonomik (nicht antizipierte Geldmengenänderungen)<br />

Die Ankündigungen und die geldpolitischen Maβnahmen beeinflussen die Erwartungen<br />

der Individuen. Deshalb versuchen die Zentralbanken, gezielt auf die<br />

Erwartungen einzuwirken. Besonders die Inflationserwartungen haben einen<br />

Einfluss auf die tatsächlichen, künftigen Inflationsraten.<br />

Die Neue Klassische Makroökonomik geht von der Theorie der rationalen Erwartungen<br />

aus und wird auch Monetarismus II („Monetarismus der zweiten Art“)<br />

genannt. Die neuklassische Geldlehre entwickelt einen weiteren Begriff zur<br />

Neutralität des Geldes, die Superneutralität. Geld ist superneutral, wenn es zu<br />

keinen Erwartungseffekten beispielsweise durch geldpolitische Ankündigungen<br />

kommt. Ferner untersucht die neuklassische Geldlehre, ob die realen Gröβen<br />

von beliebigen Variationen der zeitlichen Entwicklung der Geldmenge unberührt<br />

bleiben. 357<br />

Prämissen<br />

- Eine vollständige Flexibilität der Preise,<br />

- eine stete Räumung der Märkte,<br />

- Die Gültigkeit der Quantitätstheorie (Neutralität des Geldes),<br />

- die Transaktionskasse im Sinne einer Realkasse.<br />

- die Gültigkeit des Sayschen Theorems.<br />

- Rationale Erwartungen (die Wirtschaftssubjekte sind der Lage, die makroökonomischen<br />

Effekte von Geldmengenänderungen richtig vorauszusehen). Das<br />

Geld ist superneutral in dem Sinne, als die Erwartungen keine Geldeffekte auslösen.<br />

Ergebnis<br />

- Bei einem einheitlichen Informationsstand der Zentralbank und der Wirtschaftssubjekte<br />

haben monetäre Impulse keine realwirtschaftlichen Wirkungen<br />

(These der Politikineffektivität). Dies ist jedoch nur dann der Fall, wenn ein monetärer<br />

Impuls von den Wirtschaftssubjekten richtig antizipiert wird.<br />

- Denkbar ist, dass die Zinsen bereits in Erwartung eines monetären Impulses<br />

und der dadurch ausgelösten Preiserhöhungen steigen. Bevor der eigentliche<br />

monetäre Impuls erfolgt, kommt es zu keinen konträren Effekten.<br />

357 Vgl. Barro, Makroökonomie a.a.O., S. 206 ff. Siehe Felkel, Stephanie, a.a.O., S. 231.<br />

214


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Nur wenn die Zentralbank einen Informationsvorsprung besitzt, ergeben sich<br />

bei monetären Impulsen reale Effekte (These der Politikeffektivität). Ein solcher<br />

Informationsvorsprung der Zentralbank kann durch eine asymmetrische Informationsverteilung<br />

zwischen der Zentralbank und den Wirtschaftssubjekten zustande<br />

kommen. Beispiele sind ungesicherte statistische Informationen, Zeitverzögerungen<br />

bei der Auswertung statistischer Daten (sog. statistische lags) und<br />

geheime Änderungen der Politikregeln. Solche Informationsasymmetrien bestehen<br />

nur bei Abwesenheit von rationalen Erwartungen.<br />

215


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 9. Die Inflation (Ergänzungen zu § 8.)<br />

Vorbemerkung: Theorieüberblick<br />

Überblick zu einzelnen Inflationstheorien (Ursache der Inflation) 358<br />

Monetäre Theorien Nichtmonetäre Theorien<br />

Vorklassik<br />

(die ältere Quantitätstheorie<br />

(… )<br />

Klassik Klassik<br />

(der Geldschleier, die Quantitätstheorie (natürliche Knappheit von Gütern)<br />

bzw. der Kasseneffekt (§ 7/I., § 8/II.)<br />

Neoklassik<br />

(die Fishersche Verkehrsgleichung,<br />

der Cambridge-Effekt,<br />

der Wicksellsche kumulative Effekt<br />

(§ 7/I.)<br />

Monetarismus<br />

(die Inflation als monetäres Phänomen<br />

(§ 8/IV.)<br />

Neue Klassische Makroökonomik<br />

(rationale Erwartungen)<br />

(…)<br />

Keynesianismus<br />

(inflatorische und deflatorische Lücke)<br />

(§ 8/III.)<br />

I. Der Geldwert, die Inflation, die Disinflation und die Deflation ***<br />

1. Der Geldwert<br />

Der Geldwert ist der Preis eines Gutes bzw. der Güter. Zur Diskussion steht, ob<br />

ggf. auch die Preise der Vermögensgüter (zum Beispiel Aktien und Immobilien)<br />

in die Betrachtung einbezogen werden sollen. Dies wird oft damit begründet,<br />

dass steigende Preise für einzelne Vermögensgüter nach einiger Zeit als Kosten-<br />

358 Vgl. zur Inflationstheorie auch Issing, Otmar, Geldtheorie, 11. Aufl., S. 187 ff.<br />

216


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

element auf die Preise der Konsumgüter überwälzt werden. Zudem kann ein<br />

Crash der Preise von Vermögensgütern (beispielsweise das Platzen einer Aktien-<br />

und Immobilienblase) zu schwerwiegenden makroökonomischen Störungen führen.<br />

Dazu zählen Verschuldungskrisen, deflationäre Prozess sowie ein Rückgang<br />

des Konsums und der Investitionen, verbunden mit steigender Arbeitslosigkeit.<br />

2. Die Inflation, Deflation und Disinflation<br />

- Die Inflation bezeichnet einen anhaltenden Anstieg des Preisniveaus.<br />

- Unter der Deflation wird ein länger dauernder Prozess sinkender Preise verstanden.<br />

- Die Disinflation kennzeichnet einen Rückgang der Inflationsraten.<br />

II. Die Fishersche Verkehrsgleichung als Grundlage der neoklassischen Inflationstheorie<br />

Preisliche Wirkungen zählen zu den wesentlichsten Effekten von monetären Impulsen,<br />

wie dies vor allem durch die klassische, die neoklassische und die neuklassische<br />

Theorie unterstellt wird (in der klassischen Quantitätstheorie bzw. der<br />

Fischerschen Verkehrsgleichung, dem Cambridge-Effekt und dem Wicksellschen<br />

kumulativen Prozess bei Vollbeschäftigung in der Ausgangslage, vgl. ausführlich<br />

§ 8). Die keynesianische Theorie betrachtet vor allem die inflatorische bzw. deflatorische<br />

Lücke, welche zu Preiseffekten führen kann.<br />

II. Die inflatorische und die deflatorische Lücke als Grundlage der<br />

keynesianischen Inflationstheorie<br />

Die keynesianische Lehre enthält mehrere Ansätze zur Erklärung der Inflation.<br />

- Bei der kostenbedingten Inflation werden Preiserhöhungen unter anderem<br />

durch die Lohnentwicklung und steigende Importpreise (sog. importierte Inflation)<br />

ausgelöst. 359<br />

- Geldmengerhöhungen führen in der keynesianischen Lehre nicht – wie bei der<br />

Quantitätstheorie – zwangsläufig zu einer proportionalen Veränderung der Preise.<br />

Die keynesianische Inflationstheorie möchte die Inflationstheorie vielmehr<br />

von den „quantitätstheoretischen Fesseln“ lösen.<br />

359 Wird nicht weiter ausgeführt.<br />

217


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Bei einer Geldmengenerhöhung und einer zinsabhängigen Geldnachfrage flieβt<br />

zusätzliches Geld in den Vermögensbereich, sofern die Geldmengenerhöhung zu<br />

einer Zinssenkung und damit zu einer gröβeren Geldnachfrage führt. In diesem<br />

Fall nimmt die monetäre bedingte Güternachfrage nicht im gleichen Verhältnis<br />

wie die Geldmenge zu; dies trifft auch für die preislichen Wirkungen der Geldmengenerhöhung<br />

zu. Ganz ausgeprägt gilt dies bei einer Liquiditätsfalle, bei<br />

welcher die gesamte zusätzliche Geldmenge durch die vermehrte Geldnachfrage<br />

absorbiert wird.<br />

- Bei der Nachfrage nach Investitionsgütern geht Keynes davon aus, dass die monetären<br />

Bedingungen bzw. die Höhe der Zinsen die marginale Effizienz der übrigen<br />

Vermögenswerte und damit die Nachfrage nach diesen Gütern beeinflussen,<br />

bis sich ein Gleichgewicht ergibt. So führt beispielsweise eine Zinssenkung<br />

auf den Geldmärkten c.p. zu einer steigenden Nachfrage nach Sachaktiven. 360 Die<br />

(nachfolgend dargestellte) nicht-monetäre, nachfrageorientierte Inflationstheorie<br />

der inflatorischen und deflatorischen Lücke beschreibt die Wirkungen einer Veränderung<br />

der effektiven Nachfrage. 361<br />

Prämissen<br />

Das keynesianische Modell der inflatorischen und deflatorischen Lücke als nichtmonetäre,<br />

nachfrageorientierte Inflationstheorie geht von folgenden Prämissen<br />

aus: 362<br />

- Betrachtet werden das preisabhängige Güterangebot (Entstehung des Volkseinkommens<br />

Y) und die ebenfalls vom Preisniveau abhängige Güternachfrage (bestehend<br />

aus der Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern):<br />

Der Konsum (C) umfasst eine autonome Komponente und steigt bei zunehmendem<br />

Volkseinkommen mit einer marginalen Grenzneigung


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

wobei Y* die Vollbeschäftigung bezeichnet und durch Kapazitätsrestriktionen<br />

gegeben ist.<br />

Das Modell<br />

Bei einer Steigerung der Güternachfrage (zur Güternachfrage Y*) kommt es in der<br />

nachfolgenden Abbildung zu einer inflatorischen Lücke. Die Veränderung der<br />

effektiven Nachfrager (Güternachfrage) kann durch eine Erhöhung des Konsums,<br />

der vermehrten Nachfrage nach Investitionsgütern, einer gröβeren Nachfrage<br />

nach<br />

Preisniveau<br />

Y*=Vollbeschäftigung<br />

Deflatorische Lücke Inflatorische Lücke<br />

Güterangebot<br />

Güternachfrage*<br />

Güternachfrage<br />

0 Y* Y Y real<br />

Exportgütern oder einer Erhöhung der Staatsausgaben ausgelöst werden. Im umgekehrten<br />

Fall kommt es zu einer deflatorischen Lücke (links von der Vollbeschäftigungslinie).<br />

Bei einer inflatorischen Lücke steigen die Preisen, bei einer<br />

deflatorischen Lücke sinken diese.<br />

219


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Die Inflationsrate steigt - Diese These trifft zu.<br />

mit zunehmender Nachfrage<br />

(und umgekehrt)<br />

2. Der Inflationsrate steigt tenden- - Diese These trifft zu.<br />

ziell) mit einem zunehmenden<br />

Beschäftigungsgrad (und umge-<br />

kehrt)<br />

3. Die Inflationsrate steigt mit zu- - Diese These trifft nicht zu (der Beschäftigungsgrad ist derzeit<br />

nehmender Geldmenge und bei einer multiplen Korrelationsanalyse nicht signifikant.<br />

erhöhter Güternachfrage<br />

IV. Weitere Ursachen der Inflation<br />

1. Der Monetarismus<br />

Nach Auffassung des Monetarismus ist die Inflation ein monetäres Phänomen:<br />

Prämissen<br />

„ … long-continued inflation is always and everywhere a monetary phenomen<br />

that arises from a more rapid expansion in the quantity of money<br />

than in total output” (Milton Friedman). 363<br />

- Von vorrangiger Bedeutung bei der monetaristischen Inflationstheorie ist die<br />

quantitätstheoretisch orientierte Neoquantitätstheorie. 364 Die monetaristische Inflationstheorie<br />

geht von der neoklassischen Quantitätsgleichung (Fishersche<br />

Verkehrsgleichung als reine Identität) aus, welche weiterentwickelt wird.<br />

Ergebnis<br />

- Die Fishersche Verkehrsgleichung<br />

363 Friedman, Milton, Essays on Inflation and Indexation. In: American Enterprise Institute for Public Research, Wash-<br />

ington D.C., 1974.<br />

364 Vgl. auch § 4.III.<br />

220


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

lässt sich auch in Form von logarithmierten Wachstumsraten ausdrücken:<br />

wobei<br />

m = Wachstumsrate der Geldmenge<br />

v = Umlaufsgeschwindigkeit der Geldmenge<br />

π = Wachstumsrate der Preise (Inflationsrate)<br />

y = Wachstumsrate des realen Volkseinkommens.<br />

Umgeformt ergibt sich die Inflationsrate aus folgender Formel:<br />

Die Inflationsrate π entsteht aus dem Geldmengenwachstum, welches das Wachstum<br />

des realen Volkseinkommens übersteigt, und zusätzlich aus der Veränderung<br />

der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes. Bei einer konstanten Umlaufgeschwindigkeit<br />

des Geldes führen Geldmengenerhöhungen, welche das Wachstum<br />

des Bruttoinlandsproduktes und den veränderten Bedarf an Transaktionsmitteln<br />

in einer Volkswirtschaft (durch eine erhöhte Arbeitsteilung innerhalb der<br />

Wirtschaft) übersteigen, zu Inflation. Umgekehrt bewirken geringere oder negative<br />

Wachstumsraten der Geldmenge eine Deflation. Um die Inflation oder eine<br />

mögliche Deflation kontrollieren zu können, schlägt Friedman ein Geldmengenwachstum<br />

in der Gröβenordnung von drei bis fünf Prozent vor. 365<br />

Beispiel:<br />

M ×<br />

v = P×<br />

Y,<br />

m + v = π +<br />

Reales Wachstum der Volkswirtschaft + 2,5 %<br />

Geldbedarf aufgrund der erhöhten Arbeitsteilung in der Wirtschaft + 1,0 %<br />

Zulässige Inflation (inflation target) + 1,0 %<br />

Erhöhung der Geldmenge = 4,5 % p. a.<br />

Für die Praxis wird nicht die Veränderung der Umlaufsgeschwindigkeit des Geldes<br />

in Betracht gezogen, sondern ein sukzessive steigender Geldbedarf durch<br />

eine gröβere Arbeitsteilung im Rahmen der volkswirtschaftlichen Wertschöpfung.<br />

365 Vgl. Friedman, Milton, The Supply of Money and the Price Level, 1967, S. 158 f.<br />

y,<br />

( 44)<br />

π = m + v − y.<br />

221


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

1. Eine steigende Geld- - (log) M1: ja, lag 2 Monate, Koeffizient 0,011.<br />

menge führt zu einem - (log) M2: ja, nicht signifikant, Koeffizient, 0,010.<br />

erhöhten Preisniveau - (log) M3: ja, nicht signifkant, Koeffizient 0,007.<br />

- (log) Liq.zuführung durch die EZB; ja, lag 8 Monate, Signifikanz 0,0001<br />

Prozent, Koeffizient 0,0028, exogene Schocks.<br />

2. Eine Erhöhung des - d M1: ja, lag 4 Monate, Koeffizient 0,011.<br />

Geldmengenwachstum - d M2: invers, lag 15 Monate, Koeffizient - 0,019.<br />

führt zu einer steigen- - d M3: invers, lag 15 Monate, Koeffizient - 0,016.<br />

den Inflationsrate - dlog (Liq. zuführung durch die EZB): ja, Signifikanzniveau 1 Prozent,<br />

Koeffizient -0,0146, exogene Schocks.<br />

2. Die Neue Klassische Makroökonomik (Theorie der rationalen Erwartungen)<br />

Die Neue Klassische Makroökonomik baut auf dem Monetarismus auf und impliziert<br />

im Wesentlichen rationale Erwartungen („Monetarismus der zweiten<br />

Art“). 366 Die Neue Klassische Makroökonomik unterstellt nach den bisherigen<br />

Ausführungen eine vollständige Preisflexibilität, die stete Räumung der Märkte<br />

und die Gültigkeit der Quantitätstheorie bzw. die Neutralität des Geldes. Inflation<br />

entsteht durch Geldmengenerhöhungen, welche über den veränderten Bedarf<br />

an Transaktionskasse hinausgehen, zudem durch monetäre Schocks (nicht antizipierte<br />

Geldmengenänderungen) und reale Schocks, welche preisliche Wirkungen<br />

entfalten.<br />

366 Vgl. Felkel, Stephanie, a.a.O., S. 231 und 235.<br />

222


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Gültigkeit der Quan- - Diese These lässt sich nicht bestätigen.<br />

titätstheorie hinsicht- unterstellten Geldmenge (log) M1 bestätigen, nicht jedoch für d M1.<br />

von Inflation bzw. - Die These von der Neutralität des Geldes gilt damit nicht eindeutig.<br />

Neutralität des Geldes<br />

2. Die Inflation wird - Diese These trifft geringfügig zu.<br />

durch monetäre<br />

Impulse ausgelöst<br />

3. Die Wirtschaftssub- - Diese Auffassung trifft zu. Die Inflationsrate enthält auch exogene<br />

jekte haben bestimm- Schocks (bedingte Varianzen).<br />

te Inflationserwar-<br />

gen, zu welchen auch<br />

inflationäre Schocks<br />

(bedingte Varianzen<br />

bei der Inflationsrate)<br />

zählen.<br />

3. Ergänzung: Weitere Erklärungen zur Inflation<br />

Eine weitere Ursache zur Erklärung der Inflation ist die angebotsinduzierte Inflation<br />

(sog. cost push-Inflation), beispielsweise durch höhere Kosten für Löhne,<br />

Zinsen, Vorleistungen, Rohstoffe und Importe sowie die profit push-Inflation<br />

(gröβere Gewinnansprüche). Hinzu kommt die Nachfrageverschiebungsinflation<br />

(demand-shift). Verschiebt sich beispielsweise die Nachfrage von gewerblich<br />

oder industriell erzeugten Gütern zu Dienstleistungsprodukten, so ist eine Ausdehnung<br />

des Dienstleistungsbereichs erforderlich, was nur bei entsprechenden<br />

Preissteigerungen möglich ist (sog. Samuelson-Balassa-Effekt). Davon sind vor<br />

allem die Entwicklungs- und die Schwellenländer betroffen.<br />

223


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

1. Höhere Kosten führen - Höhere Löhne führen mit einem lead von zwei Monaten zu einer höhe-<br />

zu größerer Inflation ren Inflationsrate (mit einem Koeffizienten von 0,18).<br />

- Höhere Zinsen bewirken mit einem lead von zwei Monaten kurzfristig<br />

eine größere Inflationsrate.<br />

2. Es besteht eine - Höhere Löhne führen zu einer höheren Inflationsrate und höhere Infla-<br />

Lohn-Preis-Spirale tionsraten wiederum zu höheren Löhnen.<br />

3. Es besteht eine - Höhere Löhne bewirken eine höhere Inflationsrate und diese wiederum<br />

Lohn-Preis-Zins- höhere Zinsen (mit einem lead von ca. 6 Monaten). Dieser Zusammen-<br />

Spirale hang steht im Allgemeinen auch in der umgekehrten Wirkungsrichtung.<br />

- Die Lohn-Preis-Zinsspirale begann sich im Euro-Währungsgebiet nach<br />

1999 etwas zu drehen, wobei die Inflationsrate in einem engen Zusammenhang<br />

zur Veränderung der Löhne und der kurzfristigen Geldmarktzins<br />

(Laufzeit ein Tag) stand. Mit der Abkühlung der Konjunktur (2001)<br />

wurde dieser Zusammenhang schwächer.<br />

4. Es besteht eine im- - Ein solcher Zusammenhang besteht nicht allgemein (bzw. nur bei<br />

portierte Inflation den Erdölpreisen).<br />

5. Demand-shift führt - Diese These lässt sich anhand des vorhandenen Zahlenmaterials nicht<br />

zu Inflation überprüfen.<br />

224


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 10. Geld und Beschäftigung (die Phillips-Kurven-Diskussion)<br />

I. Der statistische Zusammenhang<br />

Die Phillips-Kurven-Diskussion beschäftigt sich mit dem Zusammenhang zwischen<br />

einer Änderung des Lohn- bzw. Preisniveaus und der Arbeitslosigkeit. Es<br />

gibt unterschiedliche Formen der Arbeitslosigkeit:<br />

- Die natürliche Arbeitslosigkeit: Wirtschaftssubjekte, die zum<br />

herrschenden Reallohn keine Arbeit anbieten.<br />

- Die unfreiwillige Arbeitslosigkeit: Wirtschaftssubjekte, die zum<br />

herrschenden Reallohn gerne arbeiten würden, jedoch keine Arbeit<br />

finden.<br />

- Strukturelle Arbeitslosigkeit: Arbeitslosigkeit als Folge der Struktur-<br />

veränderungen in der Wirtschaft.<br />

- Friktionsarbeitslosigkeit: Sucharbeitslosigkeit in einer Periode.<br />

Alban W. Phillips (1914-1975) hat 1958 in einer empirischen Untersuchung für das<br />

Vereinigte Königreich im Zeitraum von 1861-1957 einen Zusammenhang zwischen<br />

den Änderungen des Nominallohnes und den Arbeitslosenquoten herausgearbeitet.<br />

367<br />

Indem Phillips einen stabilen Zusammenhang zwischen der Änderungsrate des<br />

Nominallohns als abhängige und der Arbeitslosenquote als unabhängige Variable<br />

feststellt, geht er von der Hypothese aus, die Geldlohnänderungen lieβen sich<br />

durch die herrschende Arbeitslosigkeit erklären. 368 Dieser Zusammenhang wird<br />

später als Phillipskurve bekannt.<br />

Phillips untersucht besonders drei Perioden, 1861-1913, 1913-1948 und 1948-1957:<br />

- Besonders ausgeprägt und langfristig stabil ist die Phillips-Kurve zwischen<br />

1861-1913. Die Phillips-Kurve hat drei wesentliche Merkmale: Eine negative Steigung,<br />

eine hyperbolische Funktion und einen Abszissenschnittpunkt bei ca. 6<br />

Prozent. Dies bedeutet, dass sich stabile Nominallöhne bei einer Arbeitslosenquote<br />

von ungefähr 6 Prozent ergeben.<br />

367 Phillips, Alban W., The Relation Between Unemployment and the Rate of Change of Money Rates in the United<br />

Kingdom, 1861-1957. In: Economica, 1958.<br />

368 Eine Ausnahme bilden Jahre mit einem starken Ansteigen der Importpreise.<br />

225


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die ursprüngliche Phillips-Kurve (1861-1957)<br />

Lohnstei- 10<br />

gerungen<br />

(in %) 8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

-2 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10<br />

Quelle: Phillips, Alban W., Relation, 1958, S. 285.<br />

Arbeitslosigkeit in %<br />

- Zwischen den beiden Weltkriegen (1913-1948) erwies sich die Korrelation als<br />

schwächer. 369<br />

- Zwischen 1948-1957 war der Phillips-Kurven-Zusammenhang wieder stärker<br />

ausgeprägt und langfristig ausgelegt, allerdings mit einem lag von sieben Monaten<br />

zwischen den zurückliegenden Arbeitslosenraten und den darauf folgenden<br />

Lohnänderungsraten. 370<br />

369 Vgl. Bofinger, P.; Reischle, J.; Schächter, A., Geldpolitik, 1996, S. 22 ff.<br />

370 Vgl. Phillips, Alban W., Relation, 1958, S. 295 und 297 f.<br />

226


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zusammenhang zwischen Arbeitslosigkeit und Nominallohnänderung im<br />

Vereinigten Königreich 1948-1957<br />

Nominallohnänderungen<br />

in %<br />

pro<br />

Jahr<br />

12<br />

10<br />

8<br />

6<br />

4<br />

2<br />

0<br />

2<br />

4<br />

1 2 3 4 5 6<br />

Arbeitslosenquote in %<br />

Die Phillipskurve lässt darauf schlieβen, dass die Arbeitslosigkeit mit schneller<br />

steigenden Nominallöhnen zurückgeht. Rund um die Phillips-Kurve, als einem<br />

empirischen Phänomen, entstanden zahlreiche Theorie, welche sich sowohl auf<br />

den möglichen trade-off zwischen und Inflation und Arbeitslosigkeit als auch die<br />

Erklärung der Inflation im Zusammenhang mit den Arbeitslosenraten beziehen.<br />

Es gibt zwei Argumentationslinien:<br />

Regressionskurve für die<br />

Jahreswerte von 1948-1957<br />

- Der demand pull-Effekt: Als Ausgangspunkt wählt Phillips die Fragestellung,<br />

ob auf dem Arbeitsmarkt ähnliche Reaktionen wie beim Gütermarkt vorherrschen.<br />

Steigen auch auf dem Arbeitsmarkt bei einem Nachfrageüberhang die<br />

Preise bzw. die Geldlöhne, und dies umso stärker, je gröβer der Nachfrageüberhang<br />

(demand pull-Effekt) ist? Als Indikator für den Nachfrageüberhang dient<br />

die Variable Arbeitslosigkeit. Eine hohe Arbeitslosigkeit signalisiert einen geringen<br />

Nachfrageüberschuss, eine kleine Arbeitslosigkeit einen groβen. Zudem erhöht<br />

sich bei einer steigenden Geschäftstätigkeit der Nachfrageüberschuss stärker<br />

(und umgekehrt).<br />

Nach Auffassung von Phillips steigen die Löhne bei einer groβen Arbeitskräftenachfrage<br />

schneller, als diese bei einer sinkenden Arbeitsnachfrage fallen. Dies<br />

erklärt er damit, dass sich die Arbeitgeber bei einer groβen Arbeitsnachfrage und<br />

227


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

bei knapper werdenden Arbeitskräften überbieten, während die Arbeitnehmer<br />

bei einer sinkenden Arbeitskräftenachfrage kaum bereit sind, geringere als die<br />

durchschnittlichen Löhne zu akzeptieren (keynesianische Lohnstarrheit). 371 Danach<br />

befinden sich die Unternehmen im Nachfragewettbewerb um eine beschränkte<br />

Anzahl von Arbeitskräften und treiben die Löhne bzw. die Preise<br />

hoch. 372 Im umgekehrten Fall sinken die Löhne nur langsam, denn die Arbeitnehmer<br />

bzw. die Gewerkschaften akzeptieren selbst in einer Rezession und bei<br />

hoher Arbeitslosigkeit nur zögernd einen Abfall der Löhne. 373 Daraus erklärt sich<br />

Phillips den nichtlinearen Verlauf der Phillipskurve mit einem monoton fallenden,<br />

hyperbolischen Verlauf.<br />

- Der cost push-Effekt: Preisänderungen können zusätzlich Lohnänderungen im<br />

Sinne einer Anpassung der Lebenshaltungskosten bewirken. So werden beispielsweise<br />

allgemeine Preissteigerungen durch eine starke Erhöhung der Importpreise<br />

ausgelöst, womit die Löhne durch eine Kostendruckinflation (costpush)<br />

in die Höhe getrieben werden. Normalerweise ist die Anpassung der Lebenshaltungskosten<br />

in den üblichen Lohnsteigerungen enthalten und wird zudem<br />

durch den Anstieg der Produktivität ausgeglichen. 374 Die Lohnerhöhungen<br />

stellen in diesem Fall einen Ausgleich für den Kaufkraftverlust der Arbeitnehmer<br />

dar, welche den demand pull-Effekt übersteigen übersteigen. 375<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These<br />

Höhere Löhne führen zu einer - Diese These trifft nicht zu. Höhere Löhne bewirken viel-<br />

geringeren Arbeitslosigkeit mehr eine steigende Arbeitslosigkeit.<br />

371 Vgl. Phillips, A. W., Relation, 1958, S. 283 und 249.<br />

372 Vgl. Phillips, Alban W., Relation, S. 298; vgl. Rothschild, K., The Phillips Curve And All That. In: Scottish Journal of<br />

Political Economcy, Band 18, 1971, S. 245-280, S. 249. .<br />

373 Vgl. Phillips, Alban W., Relation, S. 283 f.<br />

374 Vgl. Phillips, Alban W., Relation, S. 283 f.<br />

375 Vgl. Phillips, Alban W., Relation, S. 298 f.<br />

228


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

II. Die keynesianische, die monetaristische und die neuklassische Interpretation<br />

1. Die keynesianische Interpretation<br />

Die keynesianische Theorie geht von einem Zusammenhang zwischen der effektiven<br />

Nachfrage und der Beschäftigung aus. Bei einer geringeren effektiven<br />

Nachfrage sinken die Produktion, die Beschäftigung und die Faktoreinkommen.<br />

Dadurch kann die Beschäftigung weiter fallen und sich ein Unterbeschäftigungsgleichgewicht<br />

ergeben. 376<br />

Die keynesianische Theorie geht von unvollkommenen Erwartungen der Arbeitnehmer<br />

aus. Preissteigerungen bei den Gütermärkten lösen erst mit einer gewissen<br />

Verzögerung entsprechende Lohnforderungen bei den Arbeitnehmern aus.<br />

Dies führt vorübergehend zu steigenden Unternehmergewinnen, was eine verstärkte<br />

Nachfrage nach Arbeit bewirken kann. Angesichts dieser Zusammenhänge<br />

wird ein „trade off“ zwischen der Inflation und der Arbeitslosigkeit vermutet,<br />

wobei das eine Übel lediglich durch das andere ausgetauscht werden kann. Eine<br />

geringere Arbeitslosigkeit lässt sich nur durch unerwünschte Preissteigerungen<br />

erreichen. 377<br />

Die keynesianische Interpretation der Phillipskurve<br />

Inflationsrate 5<br />

(in %)<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

1 2 3 4 5 6 7<br />

Arbeitslosigkeit (in %)<br />

Dieses Phänomen verschwindet bei rationalen Erwartungen der Arbeitnehmer<br />

(bzw. der Gewerkschaften), sofern die Inflationsraten korrekt antizipiert werden<br />

und die Lohnerhöhungen zeitlich parallel zur Erhöhung der Güterpreise vorgenommen<br />

werden.<br />

376 Vgl. Felderer/Homburg, 1994, S. 102.<br />

377 Vgl. Felderer/Homburg, Makroökonomik 1994, S. 265 f.)<br />

229


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die modifizierte (neoklassische) Phillips-Kurve<br />

Paul A. Samuelson (1915-) und Robert M. Solow (1924-) entwickeln auf der Basis<br />

von US-amerikanischen Daten eine Phillipskurve, welche eine Beziehung zwischen<br />

der Inflation und der Arbeitslosigkeit herstellt. Die sog. modifizierte<br />

Phillipskurve weist wie die originäre Kurve von Phillips eine negative Steigung,<br />

eine nichtlineare Form und einen Schnittpunkt mit der Abszisse bei einer Arbeitslosenquote<br />

von etwa 5,5 Prozent auf.<br />

Die Preisniveauänderungen sind das Ergebnis einer über den Produktivitätsfortschritt<br />

hinausgehenden Nonimallohnerhöhung. 378 Nominallohnerhöhungen,<br />

welche über die Wachstumsrate der Produktivität hinausgehen, werden auf die<br />

Güterpreise überwälzt und wirken preisniveauerhöhend.<br />

Diese Kurve verdeutlicht, dass die Änderungsrate des Preisniveaus (Inflation)<br />

von der Lohnentwicklung abhängt:<br />

Inflation =<br />

ΔP<br />

t<br />

P<br />

t<br />

=<br />

P − P<br />

t−1<br />

t<br />

P<br />

t<br />

.<br />

Eine Nullinflation lässt sich erreichen, wenn der Geldlohnanstieg identisch ist<br />

mit dem Produktivitätswachstum, welches jährlich mit 2,5 Prozent angenommen<br />

wird, und zudem eine Arbeitslosigkeit von 5 – 6 Prozent in Kauf genommen<br />

wird. Für eine Arbeitslosigkeit von 3 % ist eine Inflation von ca. 4,5 Prozent erforderlich,<br />

die den Preis für eine höhere Beschäftigung darstellt. 379<br />

Die modifizierte Phillipskurve von Samuelson und Solow löste eine breite wirtschaftspolitische<br />

Diskussion und aus. Besteht ein trade-off zwischen der Inflationsrate<br />

und der Arbeitslosigkeit? Gibt es einen über längere Zeit stabilen tradeoff<br />

zwischen den beiden Übeln, der Inflation und der Arbeitslosigkeit im Sinne<br />

einer Menuekarte, aus welcher die Politiker eine geeignete Kombination zwischen<br />

Inflation und Arbeitslosigkeit auswählen können? 380<br />

378 Vgl. Samuelson, Paul A., und Solow, Robert M., Analytical Aspects of Anti-Inflation Policy. In: American Economic<br />

Review: Papers and Proceedings, Band 50, S, 1960, S. 177-194. .<br />

379 Vgl. Samuelson, Paul A., und Solow, R. M., Aspects, 1960, S. 192.<br />

380 Vgl. Samuelson, Paul A., und Solow, R. M., Aspects, 1960, S. 192.<br />

230


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abb.<br />

Die modifizierte Phillips-Kurve<br />

dP 1<br />

.<br />

dt P<br />

Das Spektrum der Auffassungen reichte vom unerschütterlichen Optimusmus,<br />

ein Mittel gegen die Arbeitslosigkeit gefunden zu haben bis zur Ablehnung<br />

durch die klassisch-neoklassisch orientierte Schule, welche einen stabilen tradeoff<br />

bestreitet. Auch Samuelson und Solow mahnen hinsichtlich der Stabilität „ihrer<br />

Kurve“ zur Vorsicht und weisen darauf hin, dass wirtschaftspolitische<br />

Maβnahmen eine Veränderung der Kurve bewirken können. 381<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

0<br />

-1<br />

-2<br />

1 2 3 4 5 6 7 8<br />

Eine größere Inflationsrate Diese These trifft – unter der Voraussetzung von geringfügigen<br />

bewirkt eine sinkende Inflationsraten – zu und umgekehrt, mit einem lead von sechs<br />

Arbeitslosigkeit Monaten).<br />

381 Vgl. Samuelson, Paul A., und Solow, R. M., Aspects, 1960, S. 193.<br />

10<br />

9<br />

8<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

dl 1<br />

.<br />

dt l<br />

231


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

2. Die monetaristische Interpretation<br />

Milton Friedman (1912-) und Edmund S. Phelps (1933-) kritisieren Ende der<br />

1960er Jahre die Idee eines stabilen trade-off zwischen der Inflationsrate und der<br />

Arbeitslosigkeit. 382 Bei ihren Überlegungen beziehen sich auf die<br />

keynesianischen Theorie.<br />

Die ursprüngliche Phillipskurve geht von einem inversen Zusammenhang zwischen<br />

den nominalen Lohnerhöhungen gw und der Arbeitslosenrate U aus:<br />

g w<br />

= h(<br />

U ), mit h′<br />

<<br />

0.<br />

Die Inflationsrate л ergibt sich – in einer dynamischen Interpretation der<br />

keynesianischen Theorie der Inflations- und Deflationslücke – aus der Lücke<br />

zwischen dem Wachstum der Güternachfrage gD und dem Wachstum des Output<br />

gY:<br />

π =<br />

g − g<br />

D<br />

Y<br />

.<br />

Übersteigt das Wachstum der nominellen Löhne gW das Wachstum der Produktivität<br />

der Arbeit gY, kommt es zu Lohnsteigerungen, welche sich in höheren Güterpreisen<br />

л niederschlagen:<br />

π =<br />

g − g<br />

w<br />

Y<br />

.<br />

Unter der Annahme eines Produktivitätswachstums von null entspricht die Inflationsrate<br />

den nominalen Lohnsteigerungen<br />

π = g . W<br />

Damit gilt bei konstanten realen Löhnen<br />

π = h(U<br />

).<br />

Friedman und Phelps betrachten diese Interpretation der Phillipskurve als eine<br />

gute Grundlage für den Arbeitsmarktprozess. Die Arbeitslosigkeit wird definiert<br />

als<br />

382 Vgl. Friedman, Milton, The Role of Monetary Policy. In: American Eonomic Review, Vol. 58, March 1968, S. 1-17. S.<br />

1 ff. Vgl. Phelps, Edmund S. Phillips Curves, Expectations of Inflation und Optimal Unemployment. In: Economica,<br />

1967, (S. 254-281), S. 254 ff.<br />

232


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

S D<br />

L − L<br />

U = . S<br />

L<br />

Das wesentliche Argument ist die Existenz einer natürlichen Arbeitslosigkeit; 383<br />

Friedman und Phelps entwickeln unabhängig voneinander die Theorie der natürlichen<br />

Rate der Arbeitslosigkeit („Natural Rate of Unemployment Hypothesis“)<br />

als Weiterentwicklung des neoklassischen Arbeitsmarktmodells. Mit der natürlichen<br />

Arbeitslosenrate bezeichnet Friedman das Niveau der Arbeitslosigkeit, welches<br />

sich<br />

„ … bei einem Walrasianischen System des allgemeinen Gleichgewichts bei<br />

strukturellen Veränderungen des Arbeits- und Gütermarktes, Marktunvollkommenheiten,<br />

stochastischen Veränderungen von Nachfrage und Angebot,<br />

Informationskosten zur Ermittlung von freien Stellen, Kosten der Mobilität<br />

usw. ergibt“. 384<br />

Dabei wird die Arbeitslosigkeit aufgrund von strukturellen Veränderungen des<br />

Arbeitsmarktes und der Gütermärkte als strukturelle Arbeitslosigkeit bezeichnet,<br />

die Arbeitslosigkeit von Arbeitnehmern, welche sich im Übergang von der einem<br />

zur anderen Arbeitsplatz befinden, als friktionelle Arbeitslosigkeit.<br />

Unter Annahme von Gleichgewichtslöhnen w/P ergibt sich folgende natürliche<br />

Rate der Arbeitslosigkeit U*<br />

S<br />

L * −L<br />

U*<br />

= S<br />

L *<br />

D<br />

.<br />

Bei U*, der natürlichen Arbeitslosigkeit, handelt es sich um eine Situation mit<br />

Vollbeschäftigung. Jede darüber hinaus gehende, längerfristige Arbeitslosigkeit<br />

muss freiwilliger Natur sein; bei einem hinreichend tiefen Lohnsatz würden die<br />

Arbeitslosen Arbeit finden. Arbeitslose, denen dieser Lohnsatz zu niedrig ist,<br />

sind offenbar freiwillig arbeitslos. 385<br />

Friedman und Phelps bezweifeln die Möglichkeit, die Arbeitslosenrate unter die<br />

natürliche Arbeitslosenrate zu senken. Sie gelangen zur Auffassung, es gebe<br />

langfristig keinen negativen trade-off zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit, d.<br />

h. die langfristige Phillips-Kurve verlaufe senkrecht an der Stelle der Arbeitslosenquote.<br />

383 Vgl. Issing, Geldtheorie, S. 219.<br />

384 Friedman, Milton, The Role of Monetary Policy. In: American Eonomic Review, Vol. 58, March 1968, S. 8.<br />

385 Vgl. Tobin, James, Inflation und Unemployment. In: American Economic Review, 1972, S. 1-18. S. 3.<br />

233


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die monetaristische Phillips-Kurve<br />

Л<br />

л1<br />

л2<br />

л3<br />

0<br />

e<br />

c<br />

a<br />

U*<br />

f<br />

d<br />

b<br />

U1 U* U<br />

Angenommen, U* sei die Ausgangslage. Es werde nun versucht, mit einer expansiv<br />

wirkenden Geld- oder Fiskalpolitik die Arbeitslosigkeit auf U1 zu reduzieren,<br />

indem die nominale Nachfrage erhöht wird. Die Unternehmen werden danach<br />

trachten, den Output zu steigern. Sie erhöhen die Nachfrage nach Arbeitskräften,<br />

welche bisher unbeschäftigt waren, indem sie die Löhne erhöhen. Nehmen wir<br />

an, es würden keine Produktivitätssteigerungen erfolgen, und die Preise werden<br />

im Ausmaβ der Lohnsteigerungen erhöht. Gehen wir zudem davon aus, dass das<br />

Arbeitsangebot eine Funktion der (erwarteten) realen Löhne ist, so sinkt aufgrund<br />

der Preiserhöhungen am Gütermarkt das Arbeitsangebot wieder auf U*, da<br />

die Arbeitnehmer die Konstanz der realen Löhne bemerken. Es kommt zu einer<br />

Bewegung von a nach b. Dieser Prozess setzt sich von b nach c, von c nach d und<br />

von d nach e fort. Daraus folgt eine langfristig vertikale Phillipskurve bei U*,<br />

verbunden mit einem lediglich kurzfristigen trade-off zwischen der Inflationsrate<br />

und der Arbeitslosigkeit.<br />

Indem Friedman und Phelps adaptive Erwartungen der Wirtschaftssubjekte auf<br />

die Wirkungen einer expansiven Nachfragepolitik in die Analyse mit einbeziehen,<br />

entwickeln sie die Erwartungshypothese. Es werden Lernprozesse angenommen,<br />

in deren Rahmen die Wirtschaftssubjekte die tatsächliche mit der er-<br />

234


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

warteten Infla-tionsrate vergleichen. Vergangene Fehler bei der Bildung von<br />

Preiserwartung werden in der kommenden Planung berücksichtigt. In der Praxis<br />

werden die Inflationserwartungen aus den Inflationsraten der Vergangenheit gebildet<br />

und flieβen in die Lohnverhandlungen ein, um keine Reallohnschmälerungen<br />

hinnehmen zu müssen. Die vergangenen Inflationsraten führen zu allmählichen<br />

Anpassungen der Erwartungen; wesentlich erscheint, dass nur vergangene<br />

Inflationsraten für die Erwartungsbildung genutzt werden.<br />

Der expansive wirtschaftspolitische Prozess, welcher von U* zu U1 und wieder<br />

zurück zu U* (bei steigenden Inflationsraten) führt, wird als sog.<br />

Akzelerationstheorem bezeichnet. Nur wenn immer wieder expansiv wirkende<br />

Maβnahmen erfolgen, lässt sich die Arbeitslosigkeit unter U* senken. Der Preis<br />

ist eine steigende Infla-tionsrate л. Der Weg führt schlieβlich zu einem bankrotten<br />

Staat (bei einer expansiv wirkenden Fiskalpolitik) oder einer Währung, deren<br />

Funktionen durch eine Hyperinflation verloren gehen. Die natürliche Rate der<br />

Arbeitslosigkeit U*, auch als NAIRU („non-accelerating inflationary rate of<br />

unemployment“) oder NRU bezeichnet, und ist damit jene Arbeitslosenrate, bei<br />

welcher es zu keiner andauernden Akzeleration der Inflationsrate kommt.<br />

Friedman und Phelps sahen die bis dahin bekannte Phillips-Kurve als kurzfristige<br />

Kurve an Der kurzfristig mögliche trade off zwischen der Preisentwicklung<br />

und der Arbeitslosigkeit resultiert aus einer Zeitverschiebung zwischen den Beschäftigungswirkungen<br />

einer Geldmengenerhöhung und den erst später eintretenden<br />

Preiserhöhungen bzw. Lohnforderungen der Arbeitnehmer. Damit verbunden<br />

ist das sog. Zeitinkonsistenzproblem der Geldpolitik. Die Beschäftigungswirkungen<br />

von monetären Impulsen treten zeitlich vor den Inflationseffekten<br />

auf, wobei die Lohnforderungen den Beschäftigungswirkungen „nachhinken“.<br />

Mit schwindender Geldillusion antizipieren die Wirtschaftsakteure die Geldmengenausweitung<br />

und die Arbeitnehmer passen die Nominallohnforderungen<br />

für die nächste Periode dem höheren Preisniveau an. Die monetaristisch modifizierte<br />

Phillipskurve zeigt dieses, durch adaptive Erwartungen geprägte Verhalten.<br />

386<br />

Durch Einbeziehung von adaptiven Erwartungen entsteht eine dynamische Betrachtung<br />

des Zusammenhangs. Positive Auswirkungen auf die Beschäftigung<br />

können nur kurzfristig eintreten, wenn Geldillusion vorliegt, m. a. W. bei einer<br />

nicht erkannten Inflation im Zusammenhang mit der Geldmengenerhöhung. 387<br />

386 Vgl. zur adaptiven Erwartungstheorie Cagan P., The monetary Dynamics of Hyperinflation. In: Studies in the<br />

Quantity Theory of Money, hrsg. von Milton Friedman, Chicago 1956 (S. 25-117), S. 37 f.<br />

387 Vgl. Issing, Geldtheorie, S. 220 f.<br />

235


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Es besteht eine natürliche Es besteht eine hohe Sockelarbeitslosigkeit. Diese umfasst die<br />

Arbeitslosigkeit natürliche Arbeitslosigkeit und eine zusätzliche Arbeitslosigkeit<br />

aufgrund weiterer Unvollkommenheiten des Arbeitsmarktes.<br />

2. Es besteht ein kurzfristiger Ein solcher trade-off besteht, ist jedoch vor allem bei steigenden<br />

trade-off zwischen der Inflationsraten statistisch nicht mehr signifikant.<br />

Inflation und der Arbeits-<br />

losigkeit<br />

3. Die neuklassische Interpretation<br />

Die neue klassische Makroökonomie formt die modifizierte Phillipskurve zu einer<br />

gesamtwirtschaftlichen Angebotskurve (aggregate supply function) um.<br />

Die allgemeinen Prämissen sind:<br />

- Vollkommen flexible Preise,<br />

- eine ständige Räumung der Märkte sowie<br />

- rationale Erwartungen der Wirtschaftssubjekte. Die Wirtschaftssubjekte setzen<br />

sämtliche verfügbaren Informationen in ihren Plänen um.<br />

- Es treten nicht vorhergesehene stochastische Störungen auf. Dies führt zu<br />

nicht erfüllten Erwartungen: Exogene Schocks bewirken Schwankungen beim<br />

Angebots- und Nachfrageverhalten. 388<br />

Als besondere Prämissen sind zu nennen:<br />

- Es existiert ein Arbeitsmarkt mit flexiblen Nominallöhnen (w).<br />

- Es gibt nur ein Gut.<br />

- Es gibt eine Vielzahl von Unternehmen. Die Haushalte arbeiten bei einem Unternehmen<br />

und kaufen die Güter vieler Unternehmen. Bei einem gegebenen<br />

Nominallohn hängt das Arbeitsangebot von dem erwarteten Preisniveau P e ab.<br />

Die Arbeitsnachfrage ist vom tatsächlichen Preisniveau P abhängig, die Arbeitsnachfrage<br />

von den erwarteten Preisen:<br />

N<br />

d<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎝<br />

w<br />

P<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎠<br />

=<br />

N<br />

s<br />

⎛<br />

⎜<br />

⎜<br />

⎝<br />

w<br />

P<br />

e<br />

388 Vgl. Felderer/Homburg, S. 235 ff. und 249.<br />

⎞<br />

⎟<br />

⎟<br />

⎠<br />

.<br />

236


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Haushalte erhalten erst am Ende einer Periode Kenntnis vom Preisniveau,<br />

während der Nominallohn bereits zu Beginn einer Periode bekannt ist. Damit ist<br />

auch die Kaufkraft des Lohnes erst am Ende einer Kaufkraft bekannt. Die Haushalte<br />

treffen ihre Entscheidungen aufgrund der erwarteten Kaufkraft des Lohnes.<br />

Das Marktgleichgewicht kommt somit bei heterogenen Erwartungen zustande.<br />

Ein richtig antizipiertes Ansteigen der Preise bewirkt eine Arbeitslosigkeit auf<br />

dem natürlichen Niveau. Der Hauptakzent der Betrachtungen liegt jedoch auf einer<br />

unvollkommenen Antizipation der Preisentwicklungen. Damit entfällt der<br />

trade off zwischen den Beschäftigungswirkungen und der Inflation als Folge von<br />

monetären Impulsen. Diese führen sehr rasch zu inflatorischen Wirkungen und<br />

zu negativen Beschäftigungswirkungen.<br />

Die Angebotskurve für Güter lässt sich in einer allgemeinen Form wie folgt darstellen:<br />

389<br />

s<br />

e<br />

Y = Y + c(<br />

p − p ) + v , t<br />

t<br />

n<br />

t<br />

e<br />

t<br />

Danach entspricht das Güterangebot Y in der Periode t dem natürlichen Produk-<br />

t<br />

e<br />

tionsniveau (natürliche Beschäftigung), sofern die Preiserwartungen ( p − p )<br />

t t<br />

erfüllt werden. Der Störterm v ist eine unabhängige stochastische Variable mit<br />

t<br />

dem Erwartungswert null und einer endlichen Varianz. Erwarten die Unterneh-<br />

e<br />

mer beispielsweise einen Preisanstieg p von fünf Prozent und die Preise ihrer<br />

t<br />

produzierten Güter p steigen um zehn Prozent, so vermuten sie eine Erhöhung<br />

t<br />

der relativen Preise ihrer Güter und erhöhen die Produktion. Erst nachträglich<br />

stellen sie annahmegemäβ ein Ansteigen des Preisniveaus um zehn Prozent fest<br />

und korrigieren nachträglich ihre Produktionsentscheidungen, haben aber vorübergehend,<br />

während der Preiserhöhung, die Produktion erhöht. 390<br />

Bei der neuklassischen Interpretation erfolgt eine Umkehr der Wirkungskausalität,<br />

nämlich von den Preisen zu den Mengen aufgrund sich ändernder relativer<br />

Preise. Obwohl rationale Erwartungen im Sinne von John Muth 391 unterstellt<br />

werden, kann es zu einem Erwartungsirrtum zwischen dem aktuellen und dem<br />

erwarteten Preisniveau kommen, 392 wodurch das Güterangebot in der Periode t<br />

vom natürlichen Produktionsniveau abweicht. Bei einer angenommenen Kon-<br />

389 Vgl. Felderer, Bernhard, und Homburg, Stefan, Makroökonomik und neue Makroökonomik, 8. Auflage, Berlin et<br />

al., 2003, S. 250.<br />

390 Vgl. Felder, Bernhard, Homburg, Stefan, Makroökonomik und neue Makroökonomik, S. 251.<br />

391 Muth, John F., Rational Expectations and the Theory of Price Movements. In: Econometrica, Band 29, 1961 S. 315-<br />

355, S. 316.<br />

392 Lucas Robert E., Some International Evidence on Output-Inflation Tradeoffs. In: American Economic Review, Band<br />

63, 1973, S. 326-334. S. 327.<br />

237


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

stanz der Produktionsfunktion steht die Unterbeschäftigung damit in einem<br />

inversen Verhältnis zum Güterangebot (dem Output).<br />

Indem die neuklassische Geldlehre von stets kürzer werdenden lags im geldwirtschaftlichen<br />

Bereich, den stagflationären Tendenzen der 1970er Jahre und der<br />

Annäherung der Erwartungsbildung an rationale Erwartungen ausgeht, entfällt<br />

der trade off zwischen den Beschäftigungswirkungen und der Inflation als Folge<br />

von monetären Impulsen. Diese führen sehr rasch zu inflatorischen Wirkungen,<br />

was mit negativen Beschäftigungswirkungen verbunden ist.<br />

Die neuklassische Interpretation der Phillipskurve<br />

Inflationsrate Natürliche Arbeitslosigkeit<br />

(in %)<br />

0 Arbeitslosigkeit (in %)<br />

Bei der Phillipskurven-Diskussion bringt die neue klassische Makroökonomie<br />

eine sehr konsequentere Form der natural rate Hypothese, indem die Beschäftigung<br />

durch reale Gegebenheiten bestimmt wird. Ein langfristiges Abweichen<br />

von der natural rate ist kaum möglich, da sich die Wirtschaftssubjekte Erwartungen<br />

hinsichtlich der künftigen wirtschaftlichen Entwicklung und insbesondere<br />

des Preisniveaus bilden. Zu den Kritikpunkten zählen die heoretisch implizierten<br />

Prämissen, so vor allem die Annahme rationaler Erwartungen der Wirtschaftssubjekte.<br />

238


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen<br />

1. Es besteht eine natürliche - Es besteht eine hohe Sockelarbeitslosigkeit. Inwieweit es sich<br />

Arbeitslosigkeit um eine natürliche Arbeitslosigkeit handelt, lässt sich aufgrund<br />

des vorhandenen Zahlenmaterials nicht ermitteln.<br />

2. Bei einer unerwarteten - Diese These trifft in dieser Form nicht zu. Hingegen wirkt sich<br />

Geldmengenänderung eine Veränderung der – positiven oder negativen – Wachstums-<br />

kommt es zu Beschäfti- raten der Liquiditätszuführung auf die Arbeitslosigkeit aus. Es<br />

gungswirkungen lassen sich auch exogene Schocks als Ursache der Veränderung<br />

der Arbeitslosigkeit feststellen.<br />

IV. Die neuere Entwicklung (der Phillipskurven-Loop)<br />

In der Phillipskurven-Diskussion der 1960er Jahre war der Konflikt von Inflation<br />

und Arbeitslosigkeit nahe der Realität. Die deutsche Wirtschaft bewegte sich nahe<br />

der gegebenen Phillipskurve. Anfang der 1970er Jahre kam es zu<br />

stagflationären Erscheinungen, wobei hohe Inflationsraten mit einer zunehmenden<br />

Inflation einhergingen. Die ursprüngliche Phillipskurve verschob sich nach<br />

rechts und nach oben (Phillipskurven-Shift). Dies führt zu einer Abkehr von der<br />

Auffassung, die Phillipskurve sei als eine Art von Menuekarte für die Wirtschaftspolitik<br />

zu verwenden.<br />

Bereits Phillips weist auf den oftmals zu beobachtenden, schleifenförmigen Verlauf<br />

der periodenbezogenen Einzelkurve (loops) um die eigentliche Kurve hin,<br />

ohne dafür eine theoretische Erklärung zu geben. 393 Danach besteht bei steigender<br />

Arbeitslosigkeit in Abschwungphasen die Tendenz, dass die Veränderungsrate<br />

der Löhne über dem durchschnittlichen (typischen) Niveau liegen (und umgekehrt).<br />

394<br />

Lipsey betrachtet die Schleifen als ein Aggregationsphänomen der<br />

einzelmarktlichen Phillipskurven zu einer gesamtwirtschaftlichen Phillipskurve.<br />

Die Arbeitsmärkte der verschiedenen Wirtschaftszweige passen sich verschieden<br />

schnell an Auf- und Abschwünge an, wobei sich die Arbeitslosigkeit und die<br />

Löhne unterschiedlich schnell verändern. 395<br />

393 Vgl. Phillips, Alban W., Relation, 1958, S. 290.<br />

394 Vgl. Lipsey, Richard G., Die Beziehung zwischen Arbeitslosigkeit und der Veränderungsrate der Nominallöhne in<br />

England (1862-1957). In: Nowotny, Ewald (Hrsg.): Löhne, Preise, Beschäftigung, Frankfurt 1974, S. 63-99.<br />

395 Vgl. Lipsey, Alban W., 1960, S. 23.<br />

239


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Entwicklung der Phillips-Kurve in Deutschland (seit 1964)<br />

Inflations- 8<br />

rate in %<br />

7<br />

6<br />

5<br />

4<br />

3<br />

2<br />

1<br />

1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11<br />

Arbeitslosigkeit (in %)<br />

Die neuere Entwicklung seit 1973 mit steigenden Inflationsraten und gleichzeitig<br />

steigender Arbeitslosigkeit führte zu einer Desillusionierung hinsichtlich eines<br />

stabilen, inversen Zusammenhangs zwischen der Inflation und der Arbeitslosigkeit.<br />

240


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 11. Die monetäre Wachstums- und Konjunkturtheorie<br />

I. Einführung<br />

„Meine hauptsächlichste Schlussfolgerung ist, dass ähnliche Modelle zu ganz<br />

verschiedenen Ergebnissen kommen“.<br />

(Jerome Stein, Survey of monetary growth theory, 1970).<br />

1. Die Effekte des Geldes auf die wirtschaftliche Entwicklung<br />

Das Geld hat in mannigfaltiger Weise einen positiven Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung:<br />

396<br />

- Ganz allgemein betrachtet ermöglicht es eine effiziente Tauschwirtschaft mit ge-ringeren<br />

Transaktionsaktionskosten als beim Naturaltausch.<br />

- Das Geld kann als Transaktionskasse im Sinne eines vorübergehenden Wertspeichers gehalten<br />

werden, um Güter zu kaufen, oder auch als länger dauerndes Wertaufbewahrungsmittel<br />

dienen. Auf diese Weise lassen sich Erträge erzielen und Insolvenzrisiken vermeiden.<br />

- Das Geld erleichtert den intertemporalen und den interpersonellen Transfer von Ersparnissen.<br />

Damit werden die Voraussetzungen für die bestmögliche Verwendung der Ersparnisse<br />

verbessert, was wachstumsfördernd wirkt. Außerdem vereinfacht das Geld den Transfer zwischen<br />

den Generationen.<br />

- Vielfach bereitet der Besitz von Geld Freude und entfaltet damit, neben dem Kauf von Gütern,<br />

einen Nutzen.<br />

Das Geld kann seine Effizienzfunktion bei einer starken Inflation (Hyperinflation) verlieren,<br />

indem es einzelne oder alle Geldfunktionen einbüßt.<br />

2. Die Fragestellungen der monetären Wachstumstheorie<br />

Ziel der monetären Wachstumstheorie ist es, die Veränderung des realen Wachstums durch<br />

die Existenz von Geld zu untersuchen. Es stellt sich die Frage, ob es möglich ist, die Akkumulierung<br />

von Kapital und den volkswirtschaftlichen Output durch geldpolitische Handlungen<br />

zu beeinflussen. 397 Gibt es solche Effekte und sind diese permanent, indem sie das Wachstumsgleichgewicht,<br />

den steady state, beeinflussen?<br />

Im Brennpunkt steht die Frage nach der Wachstumsneutralität des Geldes. Allgemein betrachtet<br />

wird ein Modell als geldneutral betrachtet, wenn die Geld-menge keine Auswirkungen<br />

auf die realen Größen hat. Wachstumsneutrales Geld wird auch als superneutrales Geld bezeichnet.<br />

398 Die Frage nach der wachstumsbezogenen Superneutralität des Geldes beschäftigt<br />

sich mit den Effekten des Geldmengenwachstums auf die realen Variablen in der Wirtschaft,<br />

so beispielsweise das Kapital, den Output und die Wohlfahrt.<br />

Superneutrales Geld im Sinne von wachstumsneutralem Geld lässt sich nur unterstellen,<br />

sofern von einem homogenen Verbraucher, einem unbeschränkten Zeithorizont und einem<br />

396 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen Schubart, Sebastian, 1999.<br />

397 Vgl. Orphanides, Athanasios und Solow, Robert M., 1990, Volume 1, Chapter 6.<br />

398 Wobei der Begriff des superneutralen Geldes ebenfalls mit anderen Bedeutungen verknüpft ist, so beispielsweise<br />

hinsichtlich der Vermögens- und Erwartungseffekte des Geldes. Vgl. Kapitel 8.<br />

241


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

nutzenmaximierenden Modell als Approximation der wirklichen Welt ausgegangen wird.<br />

Bei veränderten Prämissen ergeben sich auch unterschiedliche Ergebnisse. Wenn die Verbraucher<br />

beispielsweise in ihrem Konsumverhalten voneinander abweichen, ergeben sich bei<br />

Geldmengenänderungen unterschiedliche Konsumwirkungen. Dies trifft ebenfalls auf die<br />

Veränderungen des Konsums während der gesamten Lebenszeit zu. Ebenso kann eine nicht<br />

neutrale Verteilung des Münzgewinns die Superneutralität des Geldes beeinträchtigen. Enthält<br />

eine Produktionsfunktion neben anderen Produktionsfunktionen zusätzlich den Faktor Geld,<br />

ist die Superneutralität des Geldes ebenfalls aufzuheben.<br />

3. Die Grundlage: Das neoklassische Grundmodell von Solow (1955)<br />

Die Grundlage der monetären Wachstumstheorie bildet das neoklassische Wachstumsmodell<br />

von Robert Solow. 399 Es wird vorerst ein Wachstumsgleichgewicht (steady state) ohne die Existenz<br />

von Geld betrachtet. 400<br />

Zu den Prämissen zählen:<br />

- Es handelt sich um einen mikroökonomischen Ansatz, bei welchem sich das repräsentative<br />

Wirtschaftssubjekt zu einer gesamten Volkswirtschaft aggregieren lässt.<br />

- Es wird nur ein Gut (Konsumgut oder Kapitalgut) produziert, welches sich entweder konsumieren<br />

oder investieren lässt. Bei Investitionen werden neue Einheiten des Kapitals K geschaffen.<br />

- Die Produktion Y erfolgt mit Hilfe der Produktionsfaktoren K (Kapital) und L (Arbeit). Die<br />

neoklassische Produktionsfunktion lautet Y = F(<br />

K,<br />

L).<br />

- F ist eine linear-homogene Funktion. Die Skalenerträge bei einem gleichzeitig vermehrten<br />

Einsatz von Arbeit und Kapital sind konstant. K und L haben positive, aber fallende<br />

Grenzproduktivitäten.<br />

- Die Märkte sind stets durch völlig flexible Preise geräumt; der Output entspricht dem Volkseinkommen.<br />

- Das modellierte Wirtschaftssubjekt spart einen Teil des Einkommens s, der Rest (1-s) wird<br />

konsumiert. 401 Die Sparquote s ist konstant und hat ein positives Vorzeichen.<br />

- Es erfolgen – in dem hier betrachteten einfachen Modell – keine Abschreibungen auf das Kapital<br />

(dies dient der Übersichtlichkeit des Modells, welches damit jedoch nicht an Aussagekraft<br />

verliert).<br />

- Die Bevölkerung wächst mit einer konstanten Wachstumsrate. Bei einer ebenfalls konstanten<br />

Erwerbsquote entspricht dies der Wachstumsrate des Arbeitsangebotes. Die Wachstumsrate der<br />

Bevölkerung und die Sparquote sind exogen gegeben sowie konstant und stellen die Strukturparameter<br />

des Modells dar.<br />

- Die ex ante-Betrachtung entspricht der ex post-Betrachtung.<br />

Nach dem Modell entspricht die Güternachfrage Y D – im Sinne eines makroökonomischen<br />

Gleichgewichts – dem Güterangebot (Output):<br />

Y = Y .<br />

(102)<br />

D<br />

399 Vgl. Solow, Robert M., 1956, S. 65-94.<br />

400 Diese Ausführungen sind entnommen aus: The Solow-Swan Growth Model, Quelle: http://<br />

cepa.newschool.edu/het/essays/growth/neoclass/solowgr.htm, S. 1-6.<br />

401 Vgl. Tobin, James, 1969, S. 16.<br />

242


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Dies bedeutet eine Identität von Investieren und Sparen:<br />

I = S.<br />

(103)<br />

Die Sparfunktion ergibt sich (in Analogie zum Konsum) als Funktion des Einkommens:<br />

S = sY.<br />

(104)<br />

In Kombination mit dem makroökonomischen Gleichgewicht resultiert für die Investitionsfunktion:<br />

I = sY.<br />

(105)<br />

Das investierte Kapital pro Arbeitskraft I/L lässt sich ermitteln, indem I durch L dividiert<br />

wird:<br />

I ⎛ Y ⎞<br />

= s⎜<br />

⎟.<br />

L ⎝ L ⎠<br />

243<br />

(106)<br />

Werden I/L = i und Y/L = y gesetzt, zeigt sich folgendes makroökonomische Gleichgewicht<br />

(mit i als den Ersparnissen pro Arbeitskraft):<br />

i = sy.<br />

(107)<br />

Das Güterangebot Y (output) resultiert aus der Produktionsfunktion:<br />

Y = F(<br />

K / L).<br />

(108)<br />

Von dieser Produktionsfunktion wird angenommen, dass sich bei einer Varia-tion der Produktionsfaktoren<br />

mit einem konstanten Faktorverhältnis ebenfalls konstante Skalenerträge<br />

ergeben. Wird Gleichung (108) durch L dividiert, resultiert<br />

Y ⎛ K ⎞<br />

= F ⎜ , 1 ⎟.<br />

(109)<br />

L ⎝ L ⎠<br />

Wird K/L gleich k gesetzt und die 1 weggelassen, lässt sich Gleichung (109) verkürzt in einer<br />

„intensiven Form“ schreiben:<br />

y = f (k),<br />

(110)<br />

wobei y der Relation Y/L entspricht. Die „intensive“ Form der Produktionsfunktion bezieht<br />

sich auf die Produktionsfunktion pro Arbeitskraft.<br />

Das Ergebnis ist folgendes makroökonomisches Gleichgewicht:<br />

i = sf ( k ).<br />

(111)<br />

Es handelt sich um die Gleichgewichtsinvestitionen pro Arbeitskraft. Nachdem unter den Bedingungen<br />

des makroökonomischen Gleichgewichts I = S ist, entspricht i = sf ( k) den Investiti-<br />

onen pro Arbeitskraft in der aktuellen Periode.<br />

Abbildung 71 zeigt eine intensive Produktionsfunktion y = f ( k) pro Arbeitskraft und eine<br />

intensive Investitions-Gleichgewichtsfunktion i = sf ( k ) . Bei jedem k (intensive Form der Kapitalintensität<br />

pro Arbeitskraft) lassen sich y (der Output pro Arbeitskraft) und i (die Investition<br />

pro Arbeitskraft) ableiten. Die vertikale Distanz zwischen y = f ( k) und i = sf ( k) ergibt den<br />

Konsum (in der Abbildung 71 nicht eingezeichnet).


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 71: Das Grundmodell von Solow<br />

y=Y/L<br />

bzw. f(k)<br />

y*<br />

y=f(k)<br />

i r =nk<br />

i* i=sf(k)<br />

0 k1 k* k2 k (=K/L)<br />

Für die Ableitung des Wachstums gL sei eine exogene Wachstumsrate der Bevölkerung von n<br />

unterstellt:<br />

⎛ dL ⎞<br />

gL = ⎜ ⎟ / L = ngL<br />

.<br />

⎝ dt ⎠<br />

Erfolgen keine Investitionen, so fällt k=K/L mit dem Wachstum der Bevölkerung. Damit k kon-<br />

g mit der Rate n erfolgen:<br />

stant bleibt, müssen die Investitionen r<br />

K<br />

r ⎛ dk ⎞<br />

gK = ⎜ ⎟ / K = n.<br />

⎝ dt ⎠<br />

wobei r die erforderliche Wachstumsrate des Kapitals darstellt, welche notwendig ist, um k<br />

(Verhältnis K/L) konstant zu halten.<br />

Indem die Investitionen als I=dK/dt definiert werden, ergibt sich für die erforderlichen Investitionen<br />

r<br />

I<br />

(112)<br />

(113)<br />

r<br />

I = nK .<br />

(114)<br />

Wird dieser Ausdruck durch L dividiert bzw. in der intensiven Form geschrieben, resultiert<br />

r<br />

i = nk, (115)<br />

womit die erforderliche Investition pro Arbeitskraft r<br />

i bezeichnet wird, um eine konstante Investition<br />

pro Arbeitskraft k aufrecht zu erhalten. Ein konstantes k ermöglicht einen steady state,<br />

402 bei welchem Arbeit und Kapital proportional wachsen und sich c.p. keine Veränderungen<br />

der relativen Preise ergeben. Würde sich k verändern, veränderten sich auch die<br />

402 Dieser Begriff wurde von Cassel geprägt. Vgl. Cassel, Gustav, Theoretische Sozialökonomie, 1918.<br />

244


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Grenzproduktivitäten von Kapital und Arbeit und damit die relativen Faktorpreise, was<br />

dem Wesen des steady state widerspricht.<br />

Bei k * sind die erforderlichen Investitionen pro Kopf<br />

245<br />

r<br />

i = nk für den steady state mit einer<br />

konstanten Kapitalintensität K/L von i= r<br />

i , wobei i die Ersparnis pro Arbeitskraft und ir die erforderliche<br />

Investition pro Arbeitskraft bedeuten. Weicht k von k * ab, so ist i≠ r<br />

i . Liegt das ur-<br />

r<br />

sprüngliche Kapital-Arbeitsverhältnis beispielsweise bei k 1 , ist i> i . Dies bedeutet ein größeres<br />

Wachstum des Kapitals gegenüber jener der Arbeit und k wird zunehmen. Umgekehrt ist<br />

bei k2 das ursprüngliche k größer als k * , womit das Kapital langsamer wächst als die Arbeit<br />

und k wird fallen. Aus diesen Überlegungen ergibt sich der steady state als stabiles Verhältnis<br />

zwischen dem Kapital und der Arbeit, welches sich im Verlaufe der Zeit einstellt.<br />

Dieser Prozess der Veränderung der Kapital-Arbeit-Ratio lässt sich mit folgender Gleichung<br />

zum Ausdruck bringen<br />

dk r<br />

= i - i ,<br />

dt<br />

oder, indem die Funktionen für i und r<br />

i eingesetzt werden,<br />

dk<br />

= sf ( k) − nk.<br />

dt<br />

Mit dieser Gleichung wird die fundamentale Solow-Wachstums-Gleichung bezeichnet. Im<br />

steady state, bei k*, ist dk/dt=0.<br />

Im Modell von Solow bewirkt das Geld keine Veränderungen auf dem Gütermarkt. Es lässt<br />

sich der Begriff der Superneutralität des Geldes anwenden: Nicht nur eine einmalige Veränderung<br />

der Geldmenge hat keine Auswirkungen auf reale Variablen, sondern jede beliebige Veränderung<br />

der Geldmenge lässt die realen Variablen unbeeinflusst. 403<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These:<br />

Das Geld ist wachstums- - Diese These kann nicht bestätigt werden. Sowohl die<br />

neutral. Liquiditätszuführung durch die Zentralbank als auch die Entwicklung<br />

der Geldmenge M1 stehen in einem Zusammenhang mit der Entwicklung<br />

des realen BIP (es besteht jedoch kein signifikanter Einfluss).*<br />

* Bei einem zugrunde gelegten Signifikanzniveau von mindestens 0,10.<br />

403 Vgl. Barro, Robert J., 1992, S. 207.<br />

(116)<br />

(117)


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

II. Die monetäre Wachstumstheorie<br />

1. Das Modell von James Tobin<br />

Die moderne Literatur zur monetären Wachstumstheorie beginnt im Jahre 1965 mit James<br />

Tobin. 404 Wesentliche Erkenntnisse der monetären Wachstumstheorie sind in diesem Modell<br />

enthalten. Nach Auffassung von Tobin schlagen sich unter-schiedliche Wachstumsraten bei der<br />

Geldmenge schließlich auch in unterschied-lichen Inflationsraten nieder. Dabei bleibt die Frage<br />

offen, ob dies irgendwelche langfristige, reale Effekte hat.<br />

Tobin analysiert die Frage nach der Superneutralität des Geldes anhand eines einfachen, beschreibenden<br />

Modells. Sein neoklassisches, monetäres Wachstums-modell 405 ist das erste Modell<br />

zur Integration von Geld in das neoklassische Wachstumsmodell von Robert A. Solow. Es<br />

handelt sich um ein exogenes Wachs-tumsmodell: Die Einflussfaktoren, welche das Wirtschaftswachstum<br />

erklären, wachsen unbeeinflusst von der wirtschaftlichen Entwicklung.<br />

Tobin erweitert das Solow-Modell durch die Einführung von Geld. 406 Dies wirkt sich negativ<br />

auf die Kapitalintensität sowie auch den Output aus. Das Geld ist nicht mehr neutral.<br />

Es wird von folgenden Prämissen ausgegangen:<br />

- Das Geld dient nur der Wertaufbewahrung bzw. als Alternative zum Sachkapi-tal bei der<br />

Vermögensanlage.<br />

- Die Regierung druckt in jeder Betrachtungsperiode eine bestimmte Menge Geld und bringt<br />

dieses in Form von Transfers in die Wirtschaft ein. Es handelt sich um Außengeld, d.h. um eine<br />

Forderung an eine Institution außerhalb des privaten Sektors (Nettoguthaben für die Privaten).<br />

- Die Regierung ist im Übrigen nicht am Wertschöpfungsprozess beteiligt.<br />

Bei der Modellkonstruktion beträgt die reale Geldmenge m pro Kopf L:<br />

M<br />

m = .<br />

(118)<br />

P × L<br />

Zudem bezeichnen M<br />

die nominelle Geldmenge pro Kopf (exogen gegeben) und P das Preis-<br />

L<br />

niveau.<br />

Die Veränderung der realen Geldmenge M & pro Kopf (= µ ) in Funktion der Zeit ist:<br />

M&<br />

µ = .<br />

P × L<br />

Dieses Geld wird durch den Transfer des Staates in Umlauf gebracht und kann auch als „Investition<br />

in Geld“ beschrieben werden. Es ergibt sich eine Analogie zu den Investitionen in<br />

Sachkapital sf(k).<br />

404 Vgl. Orphanides, Athanasios und Solow, Robert M., 1990, Volume 1, Introduction.<br />

405 Vgl. Tobin, James, 1965a, S. 671-684 und derselbe, 1967, S. 69-74. Unabhängig davon entwickelte Swan ein ähnliches<br />

Modell, vgl. Swan T., 1956, S. 334-361. Deshalb wird dieses Modell auch Solow-Swan-Modell genannt.<br />

406 Vgl. Tobin, James, 1965, S. 671-684, und derselbe, 1967, S. 69-74.<br />

(119)<br />

246


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Eine einfache Geldnachfragefunktion lautet:<br />

MD<br />

= md ( y,i).<br />

P × L<br />

Es bedeuten md die reale Geldnachfrage nach Effizienzeinheit Arbeit, y das Einkommen (Output)<br />

pro Effizienzeinheit Arbeit, und i die Zinsen. Diese Formel ist nun so umzuformen, dass<br />

neben k höchstens noch eine weitere, exogene Größe übrig bleibt. Dabei lässt sich der nominale<br />

Zinssatz i nach der Fisher-Formel (Fisherscher Preiserwartungseffekt) 407 ersetzen:<br />

(120)<br />

i = r + E( ̟ ),<br />

(121)<br />

wobei r den realen Zinssatz und E( ̟) den Erwartungswert für die Inflationsrate bedeutet. Der<br />

Zins stellt damit die Summe aus dem Realzins und dem Erwartungswert für die Inflationsrate<br />

dar.<br />

Im Gleichgewicht stimmen die reale Rendite aus dem Geldvermögen (Geld mit Wertaufbewahrungsfunktion)<br />

und die Kapitalrendite aus den Sachinvestitionen<br />

y = f (k) überein. Damit lässt sich die Geldnachfrage wie folgt schreiben:<br />

MD<br />

= md ( k, ̟ );<br />

P × L<br />

als Annahme sollen die erwartete und die tatsächliche Inflationsrate identisch sein.<br />

Mit einer steigenden Kapitalintensität ergibt sich auch eine steigende Geldnachfrage. Ein<br />

positives Vorzeichen resultiert aus dem sinkenden Grenzertrag des Kapitals und der dadurch<br />

steigenden Attraktivität der Geldhaltung. Auf der anderen Seite nimmt die Geldnachfrage mit<br />

zunehmender Inflationsrate ab, indem die Inflation zu Kosten bei der Geldhaltung führt, weil<br />

die reale Rendite dadurch sinkt.<br />

Tobin geht nun von einer faktisch exogenen realen Geldnachfrage aus, was er mit einer gewissen<br />

Konstanz der Kapitalintensität und der Inflationsrate begründet. In einem stabilen<br />

Gleichgewicht verändert sich die reale Geldmenge m& - ̟ pro Arbeitseinheit n nicht:<br />

(122)<br />

m& - ̟ - n = 0.<br />

(123)<br />

Bei Geldmengenänderungen und einem als konstant angenommenen Wachstum der Arbeitskräfte<br />

kommt es – bei einer konstanten realen Geldnachfrage pro Arbeitskraft – zur Inflation<br />

̟ :<br />

̟ = m& − n.<br />

(124)<br />

Auf die realen Größen (und den steady state) wirkt sich der Inflationsprozess – als Annahme<br />

– nicht aus, da dieser unendlich schnell ablaufen soll.<br />

Die Ersparnisse können nun entweder für Investitionen oder zur Erhöhung der realen Kasse<br />

verwendet werden. Unter Berücksichtigung der vorangehenden Überlegungen ergibt sich folgendes<br />

Ergebnis:<br />

k& = f ( k)<br />

− nk − ( 1 − s)<br />

nm.<br />

(125)<br />

Im Modell von Tobin resultiert die Veränderung der Kapitalintensität k & (bzw. das Wachstum<br />

des Output pro Effizienzeinheit) aus der Produktionsfunktion f(k) (abgeleitet nach den Ar-<br />

407 Vgl. Fisher, Irving, 1990, S. 36 ff.<br />

247


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

beitskräften), abzüglich den für das Bevölkerungswachstum erforderlichen Investitionen nk<br />

und abzüglich der Veränderung der realen Geldmenge pro Kopf der Bevölkerung 1-s(nm) in<br />

Relation zum Konsum (vgl. Abbildung 72).<br />

Die Kapitalintensität im Modell von Tobin k*Tobin liegt damit tiefer als im Modell von Solow<br />

k*Solow. Im Gleichgewicht (steady state) wächst das Kapital ebenfalls mit der Wachstumsrate<br />

der Arbeitskräfte n, aber auf einem niedrigeren Niveau. Das Geld ist nicht mehr neutral.<br />

Die gleichgewichtige Kapitalintensität ist geringer als vor der Einführung von Geld, da weniger<br />

Realkapital investiert wird. Indem Geld als Vemögensanlageform eingeführt wird, welches<br />

aus den laufenden Ersparnissen finanziert wird, vermindert sich die Wachstumsrate. Damit<br />

tritt das sog. Tobin-Paradoxon auf. Dieses ist das Resultat einer verminderten Kapitalbildung.<br />

408<br />

Steigt die Inflationsrate, wird das Halten von Geld weniger attraktiv. Dies lässt den Anteil<br />

des Realkapitals steigen, was zu einer Erhöhung des Output führt. Bei diesem Phänomen handelt<br />

es sich um den sog. Tobin-Effekt. Damit bestehen zwei Geldeffekte: Einerseits bewirkt die<br />

Kassenhaltung (finanziert aus Ersparnissen) ein abgeschwächtes Wachstum; kommt es andererseits<br />

zu Inflation, entsteht durch eine verkleinerte Geldhaltung ein verstärktes Wachstum.<br />

Abbildung 72: Das monetäre Wachstumsmodell von J. Tobin<br />

(1-s)nm<br />

f (k)<br />

0 k*Tobin k*Solow k<br />

248<br />

nk +<br />

Die Wirkungen des Geldbereichs können damit umschlagen, wobei die Richtung der Wirkung<br />

einer Geldmengenerhöhung nicht eindeutig ist:<br />

- Eine Veränderung der Wachstumsrate im realen Bereich kann zu einer Veränderung der realen<br />

Geldnachfrage führen, was wachstumsdämpfend wirkt.<br />

- Denkbar ist jedoch auch eine mit einer größeren Geldmenge verbundene höhere Inflationsrate,<br />

welche das Wachstum beschleunigen kann.<br />

Die aggregierte Sparquote hängt nur vom laufenden Einkommen ab. Der durch die Emission<br />

von Geld entstandene Münzgewinn soll (verteilungs-)neutral aufgeteilt werden. Nach Tobin<br />

408 Und erscheint mit ähnlicher Wirkung, wenn der Staat Steuern erhebt, welche die Kapitalbildung schmälern. Vgl.<br />

Heubes, Jürgen, 1999, S. 246-248.<br />

nk<br />

sf(k)


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

führt eine größere Wachstumsrate der Geldmengen über den Inflationseffekt zu einem höheren<br />

Sachkapitalbestand und zu einer größeren Pro-Kopf-Produktion im steady state, indem<br />

höhere Inflationsraten die Sparer dazu motivieren, ihr Portfolio zugunsten des Sachkapitals<br />

umzuschichten.<br />

Als Kritikpunkte am Modell von Tobin werden unter anderem angeführt:<br />

- Die Sparquote kann mit steigendem Einkommen größer werden, womit die Annahme einer<br />

linear verlaufenden Sparquote fraglich ist.<br />

- Das Sparen, welches zu einem erhöhten realen Geldbestand pro Kopf führt, kann sich auch<br />

wachstumserhöhend auswirken; dies wird im Modell vernachlässigt.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Die Entwicklung der Geldnachfrage - Diese These trifft zu (nicht signifikant).<br />

hat einen dämpfenden Einfluss auf das<br />

Wachstum des Output.<br />

2. Die Entwicklung des Preisniveaus . Diese These trifft – bei geringen Infla-<br />

hat einen positiven Effekt auf den tionsraten – zu (nicht signifkant).<br />

Output.<br />

2. Die Erweiterung durch eine physische Sparquote<br />

Das Tobin-Modell wird später durch D. Levhari und Don Patinkin (1968) 409 erweitert, wobei<br />

verschiedene Eigenschaften des Geldes berücksichtigt werden. Untersucht werden zuerst die<br />

Kapitalintensität und die Wirkung der Spartätigkeit (Sparquote). Die Ersparnis wird auf die<br />

Erhöhung der realen Geldmenge und die Vermehrung des Realkapitals („physical savings“)<br />

aufgeteilt:<br />

⎛ M&<br />

⎞<br />

S K = S - ⎜ ⎟.<br />

⎝ P ⎠<br />

SK bedeutet das Sparen im Sinne der Erhöhung des Realkapitals und S das Sparen als Erhöhung<br />

des Realkapitals und der realen Geldmenge.<br />

(126)<br />

Die Sparquote, welche der Erhöhung des Realkapitals dient, wird mit σ ( = S K ) bezeichnet.<br />

Die Investitionen in Realkapital sollen linear vom Einkommen abhängen S K = I = σY<br />

:<br />

SK<br />

σ = .<br />

(127)<br />

Y<br />

Die Erhöhung des Realkapitals ist damit geringer als im Modell von Solow und beträgt<br />

nunmehr nicht mehr sf(k), sondern σσσσ f(k). Die gleichgewichtige Kapitalintensität verändert sich<br />

durch das Einbeziehen des monetären Bereichs sowie des Sparens und hängt von der Nachfrage<br />

nach realer Geldmenge ab, indem das Geld – wie bei Tobin – nicht mehr neutral ist.<br />

409 Vgl. Levhari, D. und Patinkin, Don, 1968, S. 713-753.<br />

249


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

250<br />

Wird die Spartätigkeit berücksichtigt, ergeben sich veränderte Kapitalintensitäten für den<br />

steady state (vgl. k*Tobin und k*Solow in Abbildung 73).<br />

Abbildung 73: Die Erweiterung durch eine physische Sparquote<br />

(1-s) nm<br />

f (k)<br />

0 k*Tobin k*Levhari/Patinkin k*Solow k<br />

3. Die Erweiterung durch Geld als Konsumgut und Produktionsgut<br />

nk +<br />

Levhari und Patinkin 410 zeigen zudem den möglicherweise positiven Nutzen des Geldes,<br />

welcher im Modell von Tobin nicht analysiert wird. Nach Levhari und Patinkin lässt sich das<br />

Geld als Konsumgut mit einem positiven Nutzen in das Modell einführen, oder auch als Produktionsfaktor<br />

mit einer positiven Wirkung auf den Output.<br />

Beim Geld als Konsumgut gehen die Überlegungen von einem direkten Nutzen des Geldes<br />

aus (beispielsweise Liquidität, Sicherheit gegen Illiquidität und Bequemlichkeit bzw. eine<br />

Senkung der Transaktionskosten). Das Geld als Bestandesgröße wirkt damit – wie der Konsum<br />

von Gütern – direkt auf die Nutzenfunktion (vgl. Abbildung 74). 411 Wird der Nutzen der Geldhaltung<br />

m als Konsumgut zu (1-s) addiert und mit der Zahl der Arbeitskräfte multipliziert,<br />

ergibt sich (1-s)nm. Die Grenzkosten der Geldhaltung bestehen in den Opportunitätskosten<br />

entgangener Erträge. Bei Investitionen in Sachkapital wäre die Rendite r = f'( k ) . Hinzu<br />

kommen die Kosten der Geldentwertung durch die Inflation ππππ. Die Kosten des Geldes pro Arbeitseinheit<br />

betragen damit (r+ππππ)m. Bei einer Sparquote von s ergeben sich Kosten von<br />

s(r+ππππ)m. 412<br />

410 Vgl. Levhari, D. und Patinkin, Don, 1968, S. 713-753.<br />

411 Vgl. Levhari D. und Patinkin, Don, 1968, S. 713-753 ; vgl. zu diesen Ausführungen auch Schubart, Sebastian, 1999, S.<br />

53 ff.<br />

412 Die methodische Schwierigkeit besteht in der mangelnden Möglichkeit eines kardinal messba-ren Nutzens.<br />

nk<br />

sf(k)<br />

σσσσf(k)


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 74: Die Erweiterung durch Geld als Konsumgut<br />

f (k) uk + (1-s) nm<br />

nk<br />

nk + (1-s)nm – s(r+ππππ)m<br />

sf(k)<br />

0 k*Tobin k*Solow k*Geld als Konsumgut k<br />

Aus diesen Überlegungen lässt sich bei Konstanz von k = 0 im steady state die Funktion (k) =<br />

nk + (1 – s) nm – s(r+ππππ)m ableiten. Damit ist die Kapitalintensität bei Geld als Konsumgut k*Geld<br />

als Konsumgut größer als im Tobin-Modell. Sind die Grenzkosten der Geldhaltung s(r+ππππ) größer als<br />

der Nutzen des Geldes als Konsumgut (1-s)nm, ist die Kapitalintensität ebenfalls größer als im<br />

Modell von Solow. Dies ist um so eher der Fall, je größer die Sparquote s ist.<br />

Durch die Betrachtung des Geldes als Produktionsfaktor wird dieses auch in die Produktionsfunktion<br />

einbezogen (vgl. Abbildung 75). 413 Das Geld dient zur Erleichterung der Transaktionen<br />

eines Unternehmens. Die Produktionsfunktion wird um den Faktor der realen Geldmenge<br />

M/P erweitert:<br />

⎛ M ⎞<br />

Y = f ⎜ L,K ⎟.<br />

⎝ P ⎠<br />

Der Output pro Arbeitskraft y beträgt damit:<br />

(128)<br />

y = f ( k,m ),<br />

(129)<br />

wobei mit m wiederum die reale Geldhaltung pro Arbeitskraft (Kopf) bezeichnet wird. Diese<br />

umfasst das Geld als Konsum- und Produktionsgut. Die Faktoren L und K werden durch k<br />

(Kapitalintensität je Arbeitskraft) ersetzt.<br />

Das durchschnittlich verfügbare Einkommen v<br />

y ergibt sich, indem die Veränderung der rea-<br />

len Geldmenge pro Kopf μμμμ addiert und der Inflationsverlust ππππm subtrahiert wird. Der reale<br />

Geldbestand wird hinzugefügt, weil dieser nun Teil der Produktionsfunktion ist:<br />

( )<br />

v<br />

y = f k,m + µ - ̟ m. (130)<br />

Ob die Kapitalintensität bei Solow k*Solow oder mit Geld als Produktionsgut k*Produktionsgut<br />

größer ist, hängt mit der Bedeutung des Geldes als Produktionsgut zusammen. Einerseits wird<br />

ein Teil des Einkommens gespart (was sich negativ auf die Kapitalinvestitionen auswirkt), an-<br />

413 Vgl. Levhari, D. und Patinkin, Don, 1968, S. 713-753.<br />

251


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

dererseits wird dem realen Geldbestand ein positiver Nutzen in der Produktionsfunktion<br />

beigemessen. Die Wirkung ergibt sich per Saldo und ist in beide Richtungen offen.<br />

Abbildung 75: Die Erweiterung durch Geld in der Produktionsfunktion<br />

f (k) nk + (1-s) nm<br />

nk<br />

0 k*Tobin k*Solow k*Produktionsgut k<br />

4. Die Erweiterung durch Milton Friedman<br />

sg(k,m)<br />

Ein weiterer Beitrag von Milton Friedman 414 beschäftigt sich mit der Bedeutung des Innengeldes.<br />

Die Untersuchung bezieht sich auf die gleichgewichtige Kapitalintensität k* im steay<br />

state. Es wird davon ausgegangen, dass Kredite zu einer größeren Kapitalintensität und damit<br />

auch zu einem höheren Output führen.<br />

Die Betrachtung des Innengeldes im neoklassischen Wachstumsmodell ist eine zusätzliche<br />

Modellerweiterung (vgl. Abbildung 76). Die Frage nach der Neutralität des Geldes bezieht sich<br />

nicht nur auf die Eigenschaften als Konsumgut und Produktionsgut, sondern auch auf die Betrachtung<br />

des Innengeldes. Das Innengeld wird durch die Geschäftsbanken (beispielsweise in<br />

Form von Krediten bzw. Sichtguthaben) und die Nichtbanken (beispielsweise in Form von<br />

Krediten) geschaffen. Die Grundlage der Schaffung von Innengeld ist die Verschuldung der<br />

privaten Nichtbanken. Inwieweit das Innengeld Vermögenscharakter aufweist, ist umstritten,<br />

indem den zusätzlichen Aktiven der Wirtschaftssubjekte (beispielsweise Sichtguthaben) Passiven<br />

(beispielsweise verpfändete Vermögensteile) gegenüberstehen. Dabei geben die zusätzlichen<br />

Aktiven den Nichtbanken erweiterte wirtschaftliche Handlungsmöglichkeiten. 415<br />

Es wird von folgenden Prämissen ausgegangen:<br />

- Das Außengeld wird von der Zentralbank geschaffen und ist die liquideste Form des Geldes.<br />

- Das Innengeld besteht aus Obligationen („Bonds“), wobei der Saldo der gegenseitigen Verpflichtungen<br />

null beträgt.<br />

- Das Sachkapital entspricht dem Realvermögen in der bisherigen Form.<br />

414 Friedman, Milton, 1969a, S. 1-50; vgl. Schubart, Sebastian, 1999, S. 47 ff.<br />

415 Im Gegensatz zum Innengeld entsteht das Außengeld durch die Geldschöpfung der Zentral-banken (beispielsweise<br />

durch die Emission von Noten und Münzen). Dem Außengeld stehen keine entsprechenden Verbindlichkeiten der<br />

privaten Nichtbanken gegenüber. Das Zentralbankgeld wird geschaffen, indem die Zentralbank Offenmarktgeschäfte<br />

betreibt (beispielsweise durch den Kauf von staatlichen Wertpapieren) und Güter erwirbt.<br />

sf(k)<br />

252


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Das Geld wirkt als intertemporales Substitutionsmittel, welches dazu dient, Einkommen<br />

bis zum späteren Konsum zu speichern. Die Rate der Zeitpräferenz ist ρ , mit welchem der zukünftige<br />

Konsum abgezinst wird.<br />

Als Ergebnis spart das Wirtschaftssubjekt soviel seines Einkommens, bis die Grenzerträge<br />

der Kassenhaltung (Grenznutzen als Konsumgut U ' und Grenznutzen als Produktionsgut F‘)<br />

der Zeitpräferenzrate ρ entspricht:<br />

U'+ F'= ρ. (131)<br />

Bei einer einmaligen Geldmengenerhöhung kommt es zu einem zusätzlichem Konsum, bis<br />

die reale Geldmenge wieder der ursprünglichen, optimalen Geldmenge entspricht. Bei einer<br />

fortwährenden Geldmengenerhöhung verliert der Geldbestand laufend an Wert. Gehen wir<br />

von einer Identität der erwarteten und der tatsächlichen Inflationsrate aus, ergibt sich folgende<br />

Gleichgewichtsbedingung:<br />

U'+ F'= ρ + ̟. (132)<br />

Der Nutzen von Wertpapieren: Der Bestandnutzen des Außengeldes M und Innengeldes (B =<br />

Wertpapiere) ohne Zinsen beträgt:<br />

⎛ M B ⎞<br />

U = U ⎜ , ⎟.<br />

⎝ ρ ρ ⎠<br />

Dabei hängt der Nutzen von der realen Geldmenge (Außen- und Innengeld) ab, wobei eine<br />

linear homogene Nutzenfunktion unterstellt wird. Dies impliziert eine Nichtsättigung und einen<br />

nicht abnehmenden Grenznutzen.<br />

Der Nutzen pro Arbeitskräfteeinheit beträgt:<br />

⎛ M B ⎞<br />

U ⎜ , ⎟<br />

⎝ ρ ρ ⎠<br />

= u( b,m)<br />

.<br />

L<br />

Werden zusätzlich die Zinseinnahmen i hinzu addiert, ergibt sich im Gleichgewicht:<br />

( )<br />

(133)<br />

(134)<br />

u m, b + i = ρ + ̟ .<br />

(135)<br />

Die Gleichgewichtsbedingung enthält auf der linken Seite den Bestandnutzen des Außen-<br />

und Innengeldes sowie die Zinsen auf das Innengeld, auf der rechten Seite die Zeitpräferenzrate<br />

ρ sowie die Inflationsrate ̟ . Die Zinszahlungen des Schuldners werden nicht betrachtet.<br />

Für das Sachkapital stehen bei Friedman die Aktien (Anteilscheine). Die Produktionsfunktion<br />

G wird in Abhängigkeit von Kapital, Arbeit und dem realen Bestand an<br />

Geld<br />

⎛ M ⎞<br />

G⎜ K,L × ⎟<br />

⎝ p ⎠<br />

(136)<br />

modelliert. 416 Es ergibt sich, bei Unterstellung von linearer Homogenität, folgende vereinfachte<br />

Darstellung des Output pro Kopf:<br />

( )<br />

y = g k, m .<br />

(137)<br />

416 Vgl. Schubart, Sebastian, 1999, S. 52 ff.<br />

253


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Wird eine Finanzierung des Sachkapitals durch Bonds angenommen (wobei die Anteilscheine<br />

und damit das Sachkapital vernachlässigt werden), zeigt sich folgende Gleichgewichtsbedingung:<br />

ub ( m,b ) + i - ̟ = gk ( k,m ).<br />

(138)<br />

Der Nutzen aus der Geldhaltung ub einschließlich der Zinsen i und abzüglich der Inflationsrate<br />

̟ entspricht im Gleichgewicht dem realen Output pro Kopf in Abhängigkeit von der Kapi-<br />

talintensität und dem Produktionsnutzen des Geldes gk ( k,m ) .<br />

Das Innengeld stiftet einen Nutzen und ist ein Substitut zu Konsumgütern. Das verfügbare<br />

Einkommen besteht aus dem Konsum von realen Gütern g( k,m ) , dem staatlichen Transfers in<br />

der Form von Geldmengenerhöhungen ∆m = ̟ , Konsum-effekten des Außengeldes nach Maßgabe<br />

der Grenzkosten der Geldhaltung ( r + ̟ ) m , dem Nutzen der Bonds, definiert mit den<br />

Grenzkosten ( r + ̟ ) b und dem Vermögensverlust durch Inflation beim Außengeld und Innen-<br />

geld durch Inflation - ̟ m .<br />

Damit beträgt das verfügbare Einkommen pro Kopf<br />

( ) ( )( )<br />

v<br />

y = g k,m + ∆m+ r + ̟ m+ b - ̟ m. (139)<br />

Als Annahmen gelten bei dieser Funktion: Das Geld ist Produktionsfaktor und Konsumfaktor;<br />

die Bonds haben nur einen Bestandnutzen (und keinen Inflationsverlust sowie keine Erträge).<br />

Die Grenzkosten des Geldes entsprechen der Differenz zwischen der entgangenen Rendite<br />

und dem Grenzertrag des Geldes:<br />

- Beim Außengeld r – gm bzw. gk – gm, und (140)<br />

- beim Innengeld der Grenzertrag (es wird nur der Empfänger betrachtet, welcher die Anlageentscheidung<br />

trifft). Die Opportunitätskosten betragen demgemäss gk – i.<br />

Das verfügbare Einkommen y v ist damit<br />

( g − g + π ) m − ( g − i + π ) .<br />

v<br />

y k m<br />

k<br />

= g(<br />

k,<br />

m)<br />

+ nm +<br />

b<br />

(141)<br />

v<br />

y :<br />

254


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 76: Die Erweiterung mit Innengeld (M. Friedman)<br />

nk + (1-s) nm<br />

nk<br />

f (k) Φ<br />

0 k*Tobin k*Solow k*Produktionsgut k*Friedman k*<br />

sg(k,m)<br />

Die optimale Kapitalintensität bei k*Friedman ist größer als bei k*Tobin, k*Solow und k*Produktionsgut,<br />

da diese bei Friedman auch den Nutzen des Außen- und Innengeldes enthält. Die Φ -Gerade<br />

umfasst:<br />

( 1 − s)<br />

+ ( 1 − s)<br />

nm − s(<br />

g − g + π ) − s(<br />

g − i + π ) b.<br />

Φ =<br />

(142)<br />

nk +<br />

k m<br />

k<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Das Geld hat einen - Diese These lässt sich nicht unmittelbar überprüfen.<br />

Konsum- und einen<br />

Produktionsnutzen.<br />

2. Die Schaffung von - Diese These trifft zu. Die von den Geschäftsbanken ge-<br />

Innengeld erhöht Kredite haben einen positiven Einfluss auf das wirtschaft-<br />

das reale BIP. liche Wachstum (nicht signifikant).<br />

sf(k)<br />

255


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

5. Die keynesianische Tradition (Keynes-Wicksell-Typ)<br />

Die Keynes-Wicksell-Modelle der monetären Wachstumstheorie gehen vor allem von zwei<br />

Kritikpunkten aus und streben diesbezüglich nach Verbesserungen: 417<br />

- Es wird eine Investitionsfunktion anstelle der Konsumfunktion eingeführt.<br />

- Geldmengenveränderungen lösen nur dann Preisänderungen aus, wenn ein Ungleichgewicht<br />

zwischen dem Geldangebot und der Geldnachfrage besteht, wobei die Preisänderungen über<br />

die Zeit erfolgen.<br />

Die Investitionsfunktion geht von folgenden Prämissen aus:<br />

- Die Investitionstätigkeit richtet sich nach der bereits bestehenden Kapitalintensität k. Je nach<br />

Ausstattung der Arbeitsplätze mit Kapital lohnen sich weitere Kapitalinvestitionen.<br />

- Das Volumen der Investitionen hängt auch vom Nominalzinssatz i ab (ein Teil der Investitionen<br />

wird über Fremdkapital finanziert).<br />

- Zudem hängen die Investitionen ebenfalls von der Inflationsrate ̟ ab. Die Investitionen erfolgen<br />

nach der Produktivität des zusätzlichen Kapitals, die Finanzierung nach dem nominellen<br />

Zinssatz.<br />

Die Investitionsfunktion I/K ergibt sich ex ante nach folgender Funktion:<br />

I<br />

= v( k,i, ̟ ).<br />

K<br />

wobei I<br />

K<br />

die ex ante angestrebte Veränderung des Realkapitals ist.<br />

Neu an den Keynes-Wicksell-Modellen ist die Reaktionsgeschwindigkeit v. Dabei zeigt ein<br />

langfristiger steady state eine gleichgewichtige Kapitalintensität k * analog dem Tobin-Modell<br />

auf. Problematisch ist die Modellierung eines langfristigen Gleichgewichts mit einer bestimmten<br />

Inflationsrate.<br />

III. Die rein monetäre Konjunkturtheorie von <strong>Ralph</strong> G. Hawtrey<br />

Die Quantitätstheorie mit der Fisherschen Verkehrsgleichung M × v = Y × P bildet sozusagen<br />

den „Nullpunkt“ der monetären Konjunkturtheorie. Unter den Annahmen der klassischen<br />

Theorie haben Geldmengenerhöhungen nur Auswirkungen auf das Preisniveau, welches sich<br />

proportional zur Geldmenge entwickelt. Indem das Geld neutral ist, kommt es weder zu Veränderungen<br />

des Outputs, der Beschäftigung noch des realen Zinssatzes.<br />

Bereits Fisher geht jedoch in seiner Theorie der Kreditzyklen von lags zwischen der Inflation<br />

und den Wirkungen im Zinsbereich aus. 418 Dies führt besonders bei der Geldumlaufgeschwindigkeit<br />

und den realen Zinssätzen zu Effekten und kann sich geringfügig auf den Output (d.h.<br />

die Einkommen) auswirken. Hierbei handelt es sich um vorübergehende Wirkungen, welche<br />

kurzfristig die Neutralität des Geldes außer Kraft setzen; langfristig gilt dann wieder die Neutralität<br />

des Geldes.<br />

Nach neoklassischer Auffassung (vor allem der Cambridge Schule des Geldes) können Veränderungen<br />

der Geldmenge oder der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes sowohl das Preisniveau<br />

als auch den Output verändern. Die Umlaufgeschwindigkeit des Geldes wird durch die<br />

417 Vgl. zu den Keynes-Wicksell-Modellen Stein, Jerome, 1966, S. 451-465; vgl. derselbe, 1969, S. 153-171; vgl. derselbe,<br />

1971, S. 85-106.<br />

418 Vgl. Fisher, Irving, 1911, S. 55-60 und S. 359-362.<br />

(143)<br />

256


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Wirtschaftssubjekte beeinflusst (beispielsweise durch eine Änderung der Zahlungsgewohnheiten<br />

und der Kassenhaltungsdauer).<br />

<strong>Ralph</strong> G. Hawtrey (1879-1975) betont die monetären Aspekte als Auslöser von wirtschaftlichen<br />

Schwankungen. 419 Die Größen Geld und Kredit sind wichtige Einflussfaktoren der konjunkturellen<br />

Bewegungen. Der konjunkturelle Zyklus wird – nach den Modellvorstellungen<br />

von Hawtrey – nur durch die monetären Bewegungen in den Bereichen des Geldes und der<br />

Kredite verursacht. Hauptmechanismus ist eine Erhöhung (Senkung) der Kreditkosten. Wendepunkte<br />

sind die Verknappung (Ausweitung) der Kredit- und der Geldmenge. 420<br />

Der Rahmen des Modells ergibt sich aus den folgenden Prämissen:<br />

- Bei den wirtschaftlichen Aktivitäten existiert ein Gleichgewichtspunkt, nach dem die Kräfte<br />

streben. Voraussetzung sind flexible Märkte und Preise.<br />

- Die Existenz von Geld setzt das Gesetz von Say 421 außer Kraft, indem das Geld als Wertaufbewahrungsmittel<br />

– im Gegensatz zur Tauschwirtschaft – einen Aufschub der Nachfrage ermöglicht.<br />

Es kann zu endogenen, monetär bewirkten Krisen des wirtschaftlichen Systems<br />

kommen.<br />

- Der Konjunkturverlauf hat idealtypischerweise vier Phasen: Der Aufschwung (die Prosperität),<br />

der obere Wendepunkt, der Abschwung (die Depression) und der untere Wendepunkt (die<br />

Erholung).<br />

- Entscheidende Merkmale des Konjunkturphänomens sind die Einteilung in verschiedene<br />

Phasen, die Länge der Phasen, die Länge des gesamten Zyklus, die Intensität der Ausschläge<br />

nach oben und unten sowie die Frequenz der Konjunkturbewegung.<br />

- Es gibt vier Akteure: Die Konsumenten, die Händler, die Produzenten und die Geschäftsbanken:<br />

-- Die Konsumenten verfügen über Einkommen und haben eine gewisse Ausga-<br />

benbereitschaft für die Nachfrage nach Gütern.<br />

-- Die Händler treten als Kreditnehmer und Auftraggeber für die Produzenten<br />

auf. Sie produzieren die Produkte nicht selbst, sondern bestellen Güter, halten<br />

diese auf Lager und verkaufen sie. Angesichts der hohen Kapitalbindung wird<br />

ein großer Anteil an Fremdfinanzierung unterstellt, wobei die Lagerhaltung<br />

stark von den Kreditkosten abhängt.<br />

-- Die Produzenten sind abhängig von den Bestellungen der Händler. Sie sind<br />

Arbeitgeber der Konsumenten sowie deren Einkommensquelle und Kredit-<br />

nehmer der Geschäftsbanken.<br />

-- Die Geschäftsbanken entscheiden über die Kreditvergabe. Sie streben nach<br />

Gewinn und versuchen, die Vergabe von Krediten zu maximieren. Das vor-<br />

wiegende Zahlungsmittel ist der Bankkredit; das Bargeld ist von untergeord-<br />

neter Bedeutung. Das Bankensystem kann die Kreditmenge kontrollieren und<br />

regelt damit die Geldmenge.<br />

- Wesentliche geldpolitische Instrumente sind der Diskontsatz und die Offenmarktpolitik<br />

(Käufe und Verkäufe der Zentralbank auf dem Wertpapiermarkt).<br />

- Ausgangslage des Modells ist eine geschlossene, statische Wirtschaft mit Vollbeschäftigung.<br />

Nichtmonetäre Faktoren (Naturkatastrophen, Kriege und Streitigkeiten zwischen Arbeitgebern<br />

und Arbeitnehmern) sind keine Ursachen des wirtschaftlichen Auf- und Abschwungs, können<br />

aber die gesamtwirtschaftliche Situation schwächen.<br />

419 Vgl. Hawtrey, <strong>Ralph</strong> G., 1928.<br />

420 Der Beobachtungszeitraum ist die Zeit bis zum ersten Weltkrieg mit dem Goldstandard, welcher die Kredit- bzw.<br />

Geldmengenexpansion begrenzt (Golddeckungspflicht). Dieser wird allerdings bei den nachfolgenden Ausführungen<br />

nicht weiter betrachtet.<br />

421 „Güter kaufen Güter”.<br />

257


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Nur die industrielle Produktion ist bestimmend für die wirtschaftlichen Aktivitäten (nicht<br />

jedoch die Schwankungen der landwirtschaftlichen Produktion).<br />

Die Ergebnisse des Modells sind die folgenden:<br />

- Die Nachfrage nach Gütern wird durch die Ausgaben der Konsumenten bestimmt. Eine Einschränkung<br />

der Konsumausgaben führt zu einer Einschränkung der Produktion und der Vorratshaltung<br />

bei den Verbrauchsgütern (und umgekehrt).<br />

- Inflationäre Prozesse beleben die Wirtschaftstätigkeit, deflationäre Prozesse hemmen diese.<br />

- Eine höhere Geldnachfrage vermindert die Nachfrage nach Gütern; die Lagerbestände der<br />

Händler steigen und die Produzenten schränken ihre Erzeugung ein. Dies führt zu einer geringeren<br />

Beschäftigung; die Löhne und die Preise sinken (und umgekehrt).<br />

- Der Konjunkturzyklus bewirkt abwechselnd Inflation (Prosperität) und Deflation (Depression).<br />

- Würde es gelingen, den Geldumlauf zu stabilisieren, würden auch die konjunkturellen<br />

Schwankungen verschwinden.<br />

Die einzelnen Phasen sind:<br />

- In der Aufschwungphase (Prosperität) steigern die Banken das Kreditangebot durch eine Senkung<br />

der Kreditkosten. Die Händler fragen mehr Kredite nach und erhöhen die Lagerhaltung.<br />

Die Produktion steigt. Die Nachfrage nach Arbeitskräften erhöht sich, die Arbeitslosigkeit<br />

sinkt, die Lohnsumme steigt. Es kommt zu einem sich verstärkenden Multiplikatorprozess. Bei<br />

Vollauslastung der Produktionskapazitäten steigen die Preise. Die Händler erhöhen die Bestellungen,<br />

um von der Preissteigerung zu profitieren. Sie nehmen mehr Kredite auf, um die Ware<br />

zu bezahlen. Die Produzenten schaffen zusätzliche Produktionskapazitäten und nehmen neue<br />

Kredite auf. Die Preissteigerungen verstärken den Aufschwungprozess auch auf der Stufe der<br />

Produzenten. Die gestiegene Geldnachfrage wird durch eine Erhöhung der Geldmenge und zu<br />

einem gewissen Teil durch eine Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit befriedigt. Die Händler<br />

und Produzenten setzen in der Aufschwungphase alle verfügbaren Mittel frei, um das Warenangebot<br />

zu erhöhen. Geldreserven, welche nicht aus Krediten der Banken stammen, werden in<br />

den Wirtschaftskreislauf eingebracht. Die Umlaufgeschwindigkeit der bisherigen Geldbestände<br />

steigt und verstärkt den kumulativen Prozess.<br />

- Der obere Wendepunkt: Der Aufschwungprozess ist das Ergebnis niedriger Zinsen. Der Aufschwung<br />

wird durch das Ende der Kreditexpansion gebremst oder gestoppt. Würde die Kreditexpansion<br />

nicht eingeschränkt, ginge der Expansionsprozess weiter. Die Gewinne der Händler<br />

und Produzenten sind gestiegen. Die Banken streben danach, das Gleichgewicht zwischen den<br />

Zinsen und der <strong>Prof</strong>itrate wieder herzustellen, und erhöhen die Zinsen. Sie wollen zudem die<br />

Liquidität des Bankensystems nicht gefährden und schränken die Kreditexpansion ein, u.a.<br />

weil sie die Mindestreservepflicht erfüllen müssen. Zudem besteht die Gefahr einer Anhebung<br />

der geschuldeten Mindestreserven durch die Zentralbank, was zu einem weiteren Liquiditätsabfluss<br />

führt. Durch die in der Aufschwungphase steigenden Löhne erhöhen sich die Nachfrage<br />

nach Bargeld und auch die Bargeldquote (steigender Kassenhaltungskoeffizient). Dabei<br />

wird eine höhere Bargeldquote der Einkommensempfänger als der Gewinnempfänger unterstellt.<br />

Die Erhöhung der Bargeldquote führt zu einer sinkenden Geldmenge und bewirkt einen<br />

geringeren Spielraum für die Geld- und Kreditschöpfung. Bei den Konsumenten wirken sich<br />

die Lohnerhöhungen erst mit einer zeitlichen Verzögerung aus. Ein vermehrter Konsum findet<br />

jedoch bereits in der Aufschwungphase statt, was zu einem Entzug von Bargeld führt. Nach<br />

dem Ende des Aufschwungs fragen die Konsumenten vermehrt Bargeld nach. Angesichts der<br />

großen Nachfrage nach Bargeld heben die Banken die Zinsen noch stärker an. Der Zinssatz ist<br />

nun höher als die Gewinnrate der Unternehmen. Die Nachfrage nach Krediten fällt, indem die<br />

erwarteten Gewinne der Unternehmen nicht mehr genügen, um die Ausgaben zu decken. Die<br />

Wirtschaftsprozesse werden durch das Verhalten der Banken gebremst und die<br />

258


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Aufschwungphase verkehrt sich über den oberen Wendepunkt in eine Depressionsphase,<br />

welche eine Eigendynamik entwickelt.<br />

- Beim Abschwung (der Depression) nehmen die Händler angesichts der gefallenen <strong>Prof</strong>itrate<br />

keine Kredite mehr auf und streben danach, Lager abzubauen. Die Nachfrage der Händler nach<br />

Produkten fällt, die Produktion wird gesenkt und die Kreditnachfrage der Produzenten sinkt<br />

ebenfalls. Arbeitskräfte werden abgebaut, die Arbeitslosigkeit steigt und die Einkommen gehen<br />

zurück. Die Nachfrage der Konsumenten sinkt und auch die Preise fallen, was den kumulativen<br />

Niedergangsprozess verstärkt. Die Nachfrage nach Bargeld wird niedriger und die<br />

Händler bezahlen Kredite zurück. Es fließen Mittel an die Banken zurück. Die Liquiditätssituation<br />

der Banken verbessert sich. Die fallenden Zinsen bilden angesichts der verschlechterten<br />

Lage der Unternehmen (noch) keinen Anreiz für eine verstärkte Kreditaufnahme.<br />

- Der untere Wendepunkt (die Wende zur Erholung) erfolgt durch das Bankensystem. Deren erhöhte<br />

Liquidität ermöglicht eine verstärkte Kreditvergabe ohne Gefährdung der eigenen Liquidität.<br />

Es kommt zu einer Senkung der Kreditzinsen und einer Verbesserung der Kreditkonditionen.<br />

Sinken die Kreditzinsen unter die erwartete Gewinnrate, fragen die Händler wieder<br />

Kredite nach und vergrößern die Lagervorräte. Dadurch kommt es erneut zu einem<br />

Aufschwungprozess. Bei einer zögerlichen Kreditnachfrage trotz niedriger Zinsen kann die<br />

Zentralbank durch Käufe von Wertpapieren die Zinsen weiter senken und die Geldmenge erhöhen.<br />

Diese Interventionen lassen sich bis zu einem erneuten Wiederaufschwung fortsetzen.<br />

259


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Bei einem Aufschwung ... :<br />

- ... erhöhen die Geschäftsbanken<br />

die Vergabe von Krediten. - Diese These ist zutreffend.<br />

- ... steigt die Produktion. - Diese These ist zutreffend.<br />

- ... erhöht sich die Nachfrage - Diese These ist zutreffend.<br />

nach Arbeitskräften.<br />

- ... steigen die Löhne. - Diese These trifft zu.<br />

- ... steigen die Preise. - Diese These ist zutreffend.<br />

- ... verstärken die Preissteigerun- - Diese These ist nicht zutreffend; steigende<br />

gen den Aufschwungprozess. Inflationsraten hemmen den Aufschwung.<br />

- ... nimmt die Geldnachfrage zu. - Diese These ist zutreffend, wobei das Geld-<br />

mengenwachstum bei steigenden Wachstums-<br />

raten gedämpft wird.<br />

- ... nimmt die Umlaufgeschwin- - Diese These ist zutreffend.<br />

digkeit des Geldes zu.<br />

2. Der Aufschwungprozess wird - Diese These trifft teilweise zu. Der Auf-<br />

durch das Ende der Kreditexpan- schwungprozess wird vor allem durch die<br />

sion gebremst ... wachstums- und inflationsbedingte Erhö-<br />

hung der Zinsen gebremst.<br />

- ... die Banken erhöhen die Zinsen. - Diese These ist zutreffend.<br />

- ... die Erfüllung der Mindestreser- - Diese These ist tendenziell richtig, jedoch sta-<br />

vepflicht schränkt die Kreditexpan- tistisch nicht signifikant.*<br />

sion ein.<br />

- ... die Lohnsteigerungen erhöhen - Diese These trifft nicht zu (Lohnsteigerungen führen<br />

die Geldnachfrage. zu einer Erhöhung der Inflation und der Zinsen).<br />

- ... die Lohnerhöhungen folgen - Diese These ist zutreffend (mit einem lag von etwa<br />

dem wirtschaftlichen Wachstum sechs Monaten Jahren).<br />

mit einer zeitlichen Verzögerung.<br />

- ... die Geldmenge sinkt in Folge - Diese These ist nicht zutreffend.<br />

einer höheren Bargeldquote.<br />

- ... die hohen Zinsen bremsen den - Diese These trifft zu.<br />

Aufschwung.<br />

- ... die hohen Zinsen bewirken - Eine solche Tendenz ist denkbar (für die<br />

einen Abschwung. Referenzperiode jedoch nicht zu belegen).*<br />

3. Die konjunkturellen Zyklen - Diese These ist nicht zutreffend (es gibt z. B.<br />

werden nur durch die monetären auch reale Einflüsse, welche konjunkturelle<br />

Bewegungen in den Bereichen Veränderungen bewirken (RBC)).<br />

des Geldes und des Kredits aus-<br />

gelöst.<br />

* Bei einem zugrunde gelegten Signifikanzniveau von mindestens 0,10.<br />

260


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Insgesamt betrachtet hat die monetäre Konjunkturtheorie von Hawtrey einen festen Platz<br />

in der Konjunkturtheorie. Besondere Beachtung findet der kumulative Prozess von Wicksell.<br />

Der Lohnlag wirkt als Bremse des Aufschwungs. Ebenso bremst die steigende Bargeldquote<br />

den Aufschwung beim Kreditschöpfungsprozess der Banken. Die Betrachtung der Geldmenge<br />

zeigt ein steuerbares, endogenes Instrument des Gleichgewichtssystems, was einen Fortschritt<br />

gegenüber der klassischen Theorie darstellt.<br />

Als Kritik ist anzumerken:<br />

- Die Konjunkturtheorie von Hawtrey ist eine rein monetäre Theorie und vernachlässigt reale<br />

Phänomene als Auslöser konjunktureller Prozesse.<br />

- Konjunkturschwankungen können auch ohne auslösende Kreditprozesse erfolgen.<br />

- Selbst nach Hawtrey hinkt die Kreditexpansion der realen Entwicklung hinterher; Auslöser<br />

von konjunkturellen Bewegungen sind der Einsatz von unbeschäftigten Produktionsfaktoren<br />

(Arbeitskräfte, Maschinen) sowie die Nutzung von privaten Ersparnissen.<br />

- Das Bankensystem hat nur begrenzte Möglichkeiten zur Ausweitung der Geldmenge (eine<br />

unbegrenzte Geldmengenausweitung würde wohl auch durch die Zentralbank gestoppt).<br />

- Die Zinsabhängigkeit der Kreditnachfrage wird überschätzt.<br />

- Es findet keine Trennung zwischen dem Geld- und dem Kapitalmarkt statt. Die Analysen von<br />

Hawtrey beziehen sich auf den Geldmarkt, die Kredite werden jedoch weitgehend über den<br />

Kapitalmarkt finanziert.<br />

- Die Güterstruktur mit unterschiedlichen Güterarten bleibt unberücksichtigt.<br />

Gottfried Haberler modifiziert den Ansatz von Hawtrey in seiner Theorie des wirtschaftlichen<br />

Zyklus durch zwei weitere Möglichkeiten, welche einen Aufschwung in Gang setzen:<br />

- Im monetären Bereich durch eine Erhöhung der Geldmenge (gesetzliche Zahlungsmittel einschließlich<br />

Banknoten und Sichteinlagen sowie Kredite) oder eine Erhöhung der Umlaufgeschwindigkeit<br />

des Geldes.<br />

- Im realen Bereich durch eine Erhöhung der Güternachfrage, strukturelle Veränderungen im<br />

Produktionssektor (verbunden mit Investitionen und Innovationen) sowie Optimismus, welcher<br />

eine Erhöhung der Güterproduktion auslöst.<br />

IV. Empirische Hinweise: Die Kombination von Wachs-<br />

tumspfad und konjunkturellen Schwankungen<br />

Als Grundidee einer Kombination des Wachstumspfades mit monetären konjunkturellen<br />

Schwankungen lassen sich drei monetäre Einflüsse unterscheiden:<br />

- Monetäre Aggregate, welche sich stetig in der Zeit entwickeln.<br />

- Monetäre Aggregate, welche zumindest während einer gewissen Zeit destabilisierend wirken<br />

und zu einer wirtschaftlichen Entwicklung weg vom Wachstumspfad führen können.<br />

- Monetäre Größen, welche die wirtschaftliche Entwicklung hin zum Wachstumspfad stabilisieren<br />

können.<br />

Dabei stellt sich die Frage, ob und wie die Geldpolitik in der Praxis einen Beitrag zur Stabilisierung<br />

der wirtschaftlichen Entwicklung entlang des Wachstumspfades leisten kann.<br />

Der Ansatz wird in fünf Schritten entwickelt: (1) der Wachstumspfad, (2) monetäre Größen,<br />

welche dem Wachstumspfad folgen, (3) Effekte, welche zu einer Abweichung der realen Entwicklung<br />

vom Wachstumspfad führen können, (4) Stabilisierungseffekte innerhalb des monetären<br />

Bereichs, welche eine Annäherung der realen Entwicklung an den Wachstumspfad erleichtern,<br />

und (5) monetäre Maßnahmen, mit deren Hilfe sich ggf. eine Annäherung an den<br />

Wachstumspfad erleichtern lässt.<br />

261


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

(1) Der Wachstumspfad: Die reale wirtschaftliche Entwicklung, gemessen am durchschnittlichen<br />

Pro-Kopf-Produkt bzw. dem realen BIP, folgt längerfristig einem Wachstumspfad. Das<br />

Wachstum des Bruttoinlandsproduktes (BIP real) wird in erster Linie durch den technischen<br />

Fortschritt ausgelöst, welcher zu Innovations-, Diffusions- und Imitationsprozessen führt. Daraus<br />

entwickelt sich ein konstantes, langfristiges Wachstum einer Volkswirtschaft. Weitere,<br />

wesentliche Einflussfaktoren auf den Wachstumspfad sind der demographische Wandel, die<br />

sich weltweit verändernde Arbeitsteilung und die damit verbundenen Auswirkungen auf die<br />

Binnenwirtschaft (u.a. eine Erhöhung der Produktivität der Arbeit). Der Wachstumspfad, wie<br />

sich dieser in der Praxis abzeichnet, wird als gegeben (exogen) betrachtet. Beim Kapital und der<br />

Arbeit sollen kurzfristig keine erheblichen Engpässe bestehen.<br />

Abbildung 77: Monetäre Größen mit einer hohen Korrelation zum Wachstumspfad<br />

Wachstumspfad<br />

(reales BIP/Kopf (log))<br />

BIP nom.<br />

Preisniveau<br />

M1, M2, M3<br />

Kredite der G.banken<br />

Mindestreserven<br />

(2) Monetäre Größen, welche dem Wachstumspfad folgen: Stetig mit der Zeit und auch weitgehend<br />

parallel zum realen BIP entwickeln sich das nominale BIP, das Preisniveau, die Geldmengenaggregate<br />

M1-M3, die Kredite der Geschäftsbanken und die Mindestreserven (vgl. Abbildung<br />

77). 422<br />

(3) Effekte, welche zu einer Abweichung der realen Entwicklung vom Wachstumspfad führen<br />

können: Grundlegend ist die Beobachtung, dass es Phasen gibt, in welchen das reale BIP (Pro-<br />

Kopf-Einkommen) kurzfristig schneller wächst als das potentielle Pro-Kopf-Produkt (Phase A)<br />

und solche mit einem geringeren Wachstum, als dies dem potentiellen Pro-Kopf-Produkt entsprechen<br />

würde (Phase C). Zudem kommt es zu oberen und unteren Wendepunkten (Phasen B<br />

und D). Die Länge und die Intensität dieser Phasen sind unterschiedlich und folgen keinem<br />

spezifischen Muster (vgl. Abbildung 78).<br />

422 Andere monetäre Größen entwickeln sich nicht stetig mit der Zeit und auch nicht parallel zum realen BIP. Dazu<br />

zählen beispielsweise der Aktienindex und die Entwicklung der Liquiditätszuführung durch die EZB.<br />

Zeit<br />

262


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 78: Der Wachstumspfad und die Schwankungen des aktuellen realen BIP<br />

Wachstumspfad<br />

(reales BIP/Kopf)<br />

B<br />

A C<br />

reales BIP/Kopf<br />

Die möglichen Erklärungen, warum das aktuelle Bruttoinlandprodukt nicht stets mit dem<br />

potentiellen realen BIP bzw. dem Wachstumspfad identisch ist, sind vielfältig. Die Abweichungen<br />

können unter anderem als Folge unterschiedlich langer oder unterschiedlich intensiver<br />

Anpassungsprozesse bei den relativen Preisen (Güterpreise, Löhne, Wechselkurse, Kapitalmarktzinsen<br />

und Geldmarktzinsen), der Wirkung monetärer Maßnahmen sowie monetärer<br />

oder realer Schocks bestehen. Erreichen diese Prozesse und Effekte kritische Werte, kommt es<br />

zum Wechsel von einer Phase zur anderen. Eine Zwangsläufigkeit oder Regelmäßigkeit solcher<br />

Zyklen ist in der Praxis nicht gegeben, zumal die lag-Strukturen sehr unterschiedlich sind und<br />

jeweils einige Zeit dauern können. 423<br />

(4) Stabilisierungseffekte innerhalb des monetären Bereichs, welche eine Annäherung der realen<br />

Entwicklung an den Wachstumspfad erleichtern: Zusammenfassend betrachtet gibt es –<br />

nach dem empirischen Erfahrungsbild im Euro-Währungsgebiet der Jahre 1999-2005 – eine<br />

Reihe von Mechanismen, welche die Entwicklung des realen BIP entlang des Wachstumspfades<br />

unter der Voraussetzung geringer, sich nicht beschleunigender Inflationsraten stabilisieren<br />

können:<br />

- Dazu zählen vor allem die Geld- und Kapitalmarktzinsen und die entsprechenden Wirkungen<br />

auf die Entwicklung der Kredite der Geschäftsbanken sowie der Geldmengen (vor allem<br />

M1 und M2). Das Erfahrungsbild zeigt Parallelen zur monetären Konjunkturtheorie von<br />

Hawtrey.<br />

- Ein weiteres Phänomen bezieht sich auf die Inflationsraten, welche sich ähnlich wie beim<br />

Realkasseneffekt von Patinkin gegenläufig zur Wachstumsrate des realen BIP entwickeln und<br />

Geldmengeneffekte auslösen, welche sich wiederum stabilisierend auf den Wachstumspfad<br />

auswirken. Voraussetzung ist eine langfristig hohe Stabilität des Preisniveaus (mit Inflationsraten<br />

von jährlich etwa ein bis zwei Prozent). Bei höheren Inflationsraten werden die güterpreisbezogenen<br />

Stabilisierungskräfte außer Kraft gesetzt, indem sich eine immer schneller<br />

drehende Lohn-Preis-Zinsspirale entwickeln kann.<br />

- Zudem wirken sich ebenfalls die durch unterschiedliche Wachstumsraten des BIP real ausgelösten<br />

Lohnbewegungen – wenn auch durch Lohnrigiditäten sehr schwach – leicht stabilisierend<br />

auf den Wachstumspfad aus.<br />

423 Die einzelnen Phasen stellen vielmehr gedankliche Konstrukte dar. Modelle, welche solche Vorgänge beschreiben,<br />

sind beispielsweise der Patinkin-Effekt und die monetäre Konjunkturtheorie von Hawtrey, die als Grundlagen dieses<br />

Ansatzes dienen.Vgl. Ziff. III.<br />

D<br />

Zeit<br />

263


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Eine destabilisierende Wirkung geht in der Referenzperiode von den Wechselkursen<br />

(EUR-USD) aus. Bei steigenden Wachstumsraten kommt es – möglicherweise als vorübergehendes<br />

Phänomen – zu sinkenden Wechselkursen, welche das Wachstum des realen BIP zusätzlich<br />

leicht beschleunigten. Ein solcher Effekt entsteht auch im Wechselspiel mit der monetären<br />

und konjunkturellen Entwicklung in den USA. Sollte es – was eher typisch ist – bei einem<br />

Aufschwung zu steigenden Wechselkursen kommen (und umgekehrt), wären die Voraussetzungen<br />

für eine Stabilisierung der wirtschaftlichen Entwicklung durch die Wirkung der<br />

Wechselkurse entlang eines stabileren Wachstumspfades gegeben.<br />

(5) Monetäre Maßnahmen, mit deren Hilfe sich ggf. eine Annäherung an den Wachstumspfad<br />

erleichtern lässt: Die zur Verfügung stehenden geldpolitischen Instrumente sind in erster Linie<br />

die Zinspolitik (mit der Festlegung der kurzfristigen Geldmarktzinsen) und die Steuerung der<br />

Liquiditätszuführung durch die Zentralbank, wobei zwischen den beiden Instrumenten starke<br />

Interdependenzen bestehen. Besonders in Phasen mit tendenziell fallenden Zinsen lassen sich<br />

die Zinsen durch eine etwas reichlichere Liquiditätszuführung zusätzlich senken, was c.p. zu<br />

höheren Wachstumsraten, aber auch zu prozyklischen Effekten führen kann.<br />

Ideal wäre es, wenn die faktische Entwicklung des realen BIP jenem des Wachstumspfades<br />

entsprechen würde, oder sich mit Mitteln der Geldpolitik eine bessere Annäherung erreichen<br />

ließe. Der Versuch jedoch, das wirtschaftliche Wachstum beispielsweise durch monetäre Maßnahmen<br />

zu beschleunigen, kann – vor allem durch die Unterschätzung der vielschichtigen lag-<br />

Strukturen – zu einer hartnäckigen Inflation führen. Geldpolitische Maßnahmen können das<br />

Wachstum des aktuellen realen BIP zwar beeinflussen, aber der diesbezügliche Spielraum der<br />

Geldpolitik ist klein.<br />

Besonders in Phasen mit tendenziell steigenden Zinsen (meist als Folge von stei-genden<br />

Wachstums- und Inflationsraten) führt eine zusätzliche Liquiditätszuführung zu (noch) höheren<br />

Wachstums- und Inflationserwartungen, was ein beschleunigtes Ansteigen der Zinsen bewirkt.<br />

Um einen solchen Prozess in Grenzen zu halten, empfiehlt sich eine äußerst zurückhaltende<br />

Liquiditätszuführung. Auf diese Weise lässt sich ein wirtschaftlicher Aufschwung ggf.<br />

verlängern, indem genügend Zeit besteht, um die wirtschaftlichen Kapazitäten an die zunehmende<br />

Nachfrage anzupassen.<br />

264


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Etwas allgemeinere Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Eine steigende Wachstumsrate - Diese These ist zutreffend (mit einem lag<br />

des realen BIP führt zu einer höheren von bis zu einem halben Jahr).<br />

Inflationsrate (und umgekehrt).<br />

2. Eine steigende Inflationsrate führt - Diese These ist zutreffend (mit einem lag<br />

zu einer geringeren Wachstumsrate des von bis zu einem Jahr).<br />

realen BIP (und umgekehrt).<br />

3. Eine steigende Wachstumsrate - Diese These trifft zu (mit einem lag von<br />

des realen BIP führt zu höheren Lohn- bis zu einem Jahr).<br />

zuwächsen (d Löhne) (und umgekehrt).<br />

4. Steigende Lohnzuwächse (d Löhne) - Diese These trifft zu (mit einem lag von<br />

führen zu einer geringeren Wachstums- bis zu einem Jahr).<br />

rate des realen BIP (und umgekehrt).<br />

5. Eine steigende Wachstumsrate des - Diese These trifft zu (mit einem lag von<br />

realen BIP führt zu höheren Geld- und bis zu neun Monaten).<br />

Kapitalmarktzinsen (und umgekehrt).<br />

6. Höhere Geldmarktzinsen bewirken - Diese These trifft zu.<br />

eine geringere Wachstumsrate (und<br />

umgekehrt).<br />

7. Eine steigende Wachstumsrate des - Diese These trifft geringfügig zu (nicht.<br />

realen BIP führt zu einem höheren signifikant).<br />

Wechselkurs EUR-USD (und umgekehrt).<br />

8. Ein sinkender Wechselkurs EUR-USD - Diese These trifft nicht zu.<br />

führt zu einer höheren Wachstumsrate<br />

des realen BIP (und umgekehrt).<br />

* Bei einem zugrunde gelegten Signifikanzniveau von mindestens 0,10.<br />

265


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Teil B: Die Geldpolitik<br />

§ 12. Die geschichtliche Entwicklung der Geldordnungen<br />

I. Einführung<br />

Die Geldordnungen verändern sich im Verlaufe der historischen Entwicklung und passen<br />

sich den jeweiligen Bedürfnissen des realen Bereichs an. Die für die geschichtliche Entwicklung<br />

typischen Geldordnungen sind das frühe archaische Geldwesen, die natürliche Geldordnung,<br />

die geldwirtschaftliche Anarchie, die gesellschaftsvertragliche Geldordnung, die spontane<br />

Geldordnung und die künstliche Geldordnung. 424 In der Praxis bestehen die Geldordnungen<br />

meist aus einer Mischung von natürlichen, anarchischen, gesellschaftsvertraglichen, spontanen<br />

und künstlichen Elementen.<br />

II. Das frühe archaische Geldwesen und die natürliche Geldordnung<br />

Bereits vor der Antike gab es ein frühes archaisches Geldwesen in einer vorwiegend auf<br />

Selbstversorgung ausgerichteten Hauswirtschaft. Natürliche Geldordnungen entstanden in der<br />

historischen Entwicklung unter anderem, wenn Menschen kostbare Güter zu religiösen sowie<br />

kulturellen Zwecken besaßen und diese später auch zum Tausch von Gütern verwendeten. 425<br />

Die Wertvorstellungen für religiöse, kulturelle und andere kostbare Güter entspringen dem<br />

menschlichen und gesellschaftlichen Denken, woraus sich eine natürliche Geldordnung ergibt.<br />

In der Antike kommt es zu Geldordnungen mit Metallmünzen, deren Kaufkraft im Wesentlichen<br />

dem Wert der Münzen entspricht. Diese Geldordnungen können als natürlich bezeichnet<br />

werden, wobei auch künstliche Elemente einer staatlichen Regulierung des Münzwesens<br />

eine Rolle spielen. In der „Politeia“ führt Platon die Arbeitsteilung auf die ungleiche Verteilung<br />

der menschlichen Fähigkeiten zurück. Dies löst den Tausch von Gütern und die Einführung<br />

von Geld als Tauschmittel aus. Für Platon ist Geld ein „verabredetes Zeichen für den<br />

Tausch“; das Geld ist ein Symbol oder Zeichen. 426 Während Jahrhunderten wird – in der Tradition<br />

der griechischen Antike – nach der Konventionstheorie davon ausgegangen, das Geld sei<br />

durch Menschenhand („thesei“), dem Prägen von Metallstücken, entstanden. 427<br />

Auch Aristoteles (wie nach ihm Thomas von Aquin und Adam Smith) vertritt die Konventionstheorie,<br />

indem er feststellt, „das Geld sei durch Übereinkunft entstanden, nicht durch die Natur,<br />

sondern durch das Gesetz“. 428 Der Tausch erfolgt im Hinblick auf eine Wiedervergeltung;<br />

ohne Gleichheit der Leistungen kann kein Austausch stattfinden:<br />

„Daher muss alles, was untereinander ausgetauscht wird, gewissermaßen quantitativ vergleichbar<br />

sein und dazu ist nun das Geld bestimmt“. 429<br />

Damit begründet Aristoteles auch die sog. Funktionstheorie des Geldes, welche von den „geleisteten<br />

Diensten“ des Geldes ausgeht. 430 Der Maßstab des Tausches ist das Bedürfnis, denn<br />

ohne Bedürfnis würde kein Tausch erfolgen. Indem das Geld zum Tausch dient,<br />

424 Diese Begriffe sind mehr oder weniger willkürlich gewählt.<br />

425 Vgl. Kapitel 2.<br />

426 Vgl. Miller, Constantin, 1925, S. 7.<br />

427 Vgl. Schmölders, Günter, 1966, S. 19.<br />

428 Zitiert nach Terres, Paul, 1998, S. 20 (Fußnote).<br />

429 Rolfes, Eugen, 1985, S. 112.<br />

266


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

„ … ist aber Kraft Übereinkunft das Geld gleichsam Stellvertreter des Bedürfnisses geworden,<br />

und darum trägt es den Namen Nomismus (Geld), weil es seinen Wert nicht von Natur<br />

hat, sondern durch den Nomos, das Gesetz“. 431<br />

Dergestalt betont Aristoteles den staatlichen Einfluss auf den Wert des Geldes im Sinne einer<br />

nominalistischen Werttheorie. 432 Eine andere Aussage von Aristoteles, nicht das Zeichen sei<br />

Ursache des Wertes, sondern das durch das Gesetz bestimmte Material der Münzen, lässt auf<br />

eine metallistische Auffassung des Wertes des Geldes schließen. Vor allem im Außenhandel<br />

erweisen sich Metalle damals als geeignetes Tauschmittel und Wertträger zur Überbrückung<br />

von Entfernungen. 433 Um sich das Messen und Wiegen von Größe und Gewicht zu ersparen,<br />

prägte man die Metalle mit einem Zeichen.<br />

Mit diesen Überlegungen taucht die alte Sophistenfrage auf, ob das Geld als „physei“ im<br />

Sinne einer Naturerscheinung entstanden ist, oder als „thesei“ von Menschenhand geschaffen<br />

wird. 434 Bei Aristoteles bleibt die Frage offen, welche Kräfte stärker sind, die Akzeptanz als<br />

künstlich geschaffener Wert („Symbol“ und „Zeichen“), oder der metallistische Marktwert.<br />

Offen bleibt auch die Frage, ob es sich bei der Entstehung einer Geldordnung um einen natürlichen,<br />

gesellschaftsvertraglichen, spontanen oder rein künstlichen Prozess handelt. Der Begriff<br />

der Konventionstheorie weist sowohl auf einen künstlichen als auch auf einen gesellschaftsvertraglichen<br />

Vorgang hin, wobei ein gesellschaftsvertragliches Verständnis in der griechischen<br />

Antike nur ansatzweise besteht. Man kann deshalb davon ausgehen, dass es sich bei<br />

der Entstehung der griechischen Geldordnung um eine Mischung von natürlichen und künstlichen<br />

Elementen handelt. Ein natürliches Element der Geldordnung ist die von Aristoteles<br />

ebenfalls angesprochene metallistische Werttheorie, nach welcher der Wert des Geldes dem<br />

Metall- bzw. Marktwert des Geldes (bzw. der Münzen) entspricht. Das Prägen von Münzen auf<br />

der Grundlage einer gesetzlichen Regelung lässt sich als ein künstliches Element der Geldordnung<br />

zur Erleichterung der Transaktionen und Erhöhung der Transaktionssicherheit interpretieren.<br />

Von der Antike bis zur Ablösung der Goldwährungen bzw. des Goldstandards im 20. Jh. hat<br />

sich der Wert des Geldes immer wieder bei dessen metallistischem Wert eingependelt, was der<br />

Dominanz des natürlichen Ordnungselementes („physei“) entspricht. Wesentliches Element<br />

einer natürlichen Ordnung sind Zahlungsmittel, für welche die Individuen subjektive Wertvorstellungen<br />

besitzen: Die ursprünglichen Geldordnungen basieren in erster Linie auf den<br />

menschlichen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen für Gold und Silber. Selbst eine natürliche<br />

Geldordnung funktioniert jedoch nur in Verbindung mit einigen künstlichen Ordnungselementen<br />

des Staates. Dazu zählen das Prägen von Münzen und der Schutz der Wirtschaftssubjekte<br />

vor Betrug, Täuschung und Übervorteilung beim Zahlungsverkehr.<br />

Vor allem das Vertrauen der Menschen in die Wertstabilität des Goldes und anderer Metalle<br />

führt zu einer natürlichen Geldordnung. Die einzelnen Elemente einer natürlichen Geldordnung<br />

sind eine stabile Wertbasis (Gold und Silber als „gutes Geld“), stabile Institutionen (frühe<br />

Formen von Notenbanken und Geschäftsbanken) sowie künstliche Ordnungselemente, verbunden<br />

mit einer politischen Kontrolle der die Währung tragenden Institutionen. Als neuere<br />

430 Die Funktionstheorie des Geldes wurde später auch von Ferdinando Galiani (1728-1787), Francis Hutcheson (1694-<br />

1746) und Adam Smith (1723-1790) aufgenommen. Vgl. Rist, Charles (1938), 1947, S. 293.<br />

431 Rolfes, Eugen, 1985, S. 113.<br />

432 Obwohl Aristoteles nicht zu den Vertragstheoretikern zählt, lässt sich doch seine bereits er-wähnte Auffassung anführen,<br />

„das Geld sei durch Übereinkunft entstanden, nicht durch die Na-tur, sondern durch das Gesetz“. Zitiert nach<br />

Terres, Paul, 1998, S. 20 (Fußnote).<br />

433 Vgl. Rolfes, Eugen, 1981, S. 19.<br />

434 Vgl. Schmölders, Günter, 1966, S. 19.<br />

267


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Form einer natürlichen Geldordnung kann auch die von Adam Smith für das 18. Jh. geschilderte<br />

Geldordnung gelten. 435<br />

Abbildung 79: Die natürliche Geldordnung<br />

Historische Formen<br />

von Notenbanken<br />

Historische Formen<br />

von Geschäftsbanken<br />

Zahlungsverkehr zwischen<br />

den Individuen<br />

Gold (und Silber) als Grundlage<br />

und Wertbasis der natürlichen<br />

Geldordnung.<br />

In der historischen, natürlichen Geldordnung gibt es noch keine modernen Zentral- und Geschäftsbanken<br />

(vgl. Abbildung 79). Die Funktionen der „Notenbanken“ bestehen vor allem im<br />

Prägen von Gold- und Silbermünzen, dem Tauschen von in- und ausländischen Währungen<br />

sowie der Wertaufbewahrung von Geld. Gold und Silber bilden eine natürliche Wertbasis.<br />

Dies hat den Vorteil einer stabilen Wertbasis als Grundlage der wirtschaftlichen Transaktionen<br />

im Binnen- und Aussenhandel sowie zur Wertaufbewahrung. Zu den Werten einer natürlichen<br />

Geldordnung zählen neben der Geldwertstabilität unverzerrte relative Preise. Die Wertstabilität<br />

des Goldes ersetzt staatliche (künstliche) Eingriffe zur Stabilisierung des Geldwertes.<br />

Selbst bei wenig ausgeprägten Strukturen im Bereich der Noten- und Geschäftsbanken ergibt<br />

dies einen stabilen monetären Rahmen. Hinzu kommt der Verzicht auf eine konjunkturelle<br />

Steuerung durch eine antizyklische Geldpolitik, womit die Preise stets unverfälscht sind und<br />

deren Informationsfunktion nicht versagen kann. Die natürliche Geldordnung erreicht im 18.<br />

Jh. ihren Höhepunkt und wird seither sukzessive von anderen ordnungspolitischen Elementen<br />

abgelöst. Dies lässt sich in unserer Zeit an der rückläufigen Bedeutung („Demonetisierung“)<br />

des Goldes erkennen. Besonders starke inflationäre Entwicklungen rufen jedoch auch in unserer<br />

Zeit immer wieder die Leitbildfunktion der natürlichen Geldordnung hervor.<br />

III. Die anarchischen Elemente<br />

Anarchie bedeutet Herrschaftslosigkeit, 436 womit Zügellosigkeit und Unordnung gemeint<br />

sind. Im 16. und 17. Jh. war die Anarchie ein Gegenbegriff zur gesetzlichen Gewalt. Ein rein<br />

anarchisches Geldwesen existiert ohne ein staatliches Gewaltmonopol, welches unter anderem<br />

das Geldwesen im Interesse der Wirtschaftssubjekte ordnet. In der geschichtlichen Entwicklung<br />

zeichnen sich anarchische Geldwesen meist durch mangelnde künstliche Ordnungselemente<br />

aus.<br />

Bei einem anarchischen Geldwesen fehlt eine stabile binnenwirtschaftliche Währung. Dies<br />

führt zum Naturaltausch (barter trade), der Verwendung von ausländischen Währungen mangels<br />

einer eigenen, stabilen Währung und zum Tausch von Gütern gegen geeignete Waren,<br />

435 Vgl. Smith, Adam (1776), 1982, S. 235 ff. und S. 392 ff.<br />

436 Aus dem Griechischen anarchos=führerlos, ohne Oberhaupt.<br />

268


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

welche Zahlungsmittelfunktion erfüllen können (beispielsweise Edelmetalle), womit Elemente<br />

einer natürlichen Geldordnung zum Tragen kommen.<br />

In der geschichtlichen Entwicklung gibt es, besonders seit dem Mittelalter, immer wieder<br />

Phasen mit einem anarchischen Geldwesen. Dies ist vor allem in Kriegszeiten mit exzessiven<br />

Staatsausgaben und einer geringen Geldwertstabilität der Fall.<br />

Ein Beispiel für ein anarchisches Geldwesen ist auch die Entwicklung des Papiergeldes. Eine<br />

erste Papiergeldinflation ereignet sich von 1717-1719 in Frankreich und wird durch John Law<br />

(1671-1729) verursacht. Die von ihm gegründete „Compagnie des Indes“ emittiert Aktien, welche<br />

nur mit zehn Prozent des Nennwertes gedeckt sind, und die zudem gegen Schuldtitel ausgegeben<br />

werden. Außerdem kommt es auf Initiative von John Law zur Gründung der „Banque<br />

Royale“, welche massenweise Papiergeld herausgibt. Die dadurch ausgelöste Inflation lässt das<br />

Geldsystem 1719 zusammenbrechen. 437<br />

Eine zweite Papiergeldinflation entsteht während den politischen Wirren der französischen<br />

Revolution (1789-1799). Es wird die Anregung zu einer Emission von Geld auf der Basis von<br />

Immobilien umgesetzt, indem die französische Regierung Assignaten zur Finanzierung der<br />

Kriegskosten ausgibt, deren Deckung in den beschlagnahmten Klöstern und anderen Besitztümern<br />

besteht. Die Assignaten erfreuen sich zunächst großer Beliebtheit, wozu auch die gegenüber<br />

einer Goldwährung geringeren Transaktionskosten beitragen. Zum Wertverfall und<br />

zur Entwertung kommt es durch das enorme Emissionsvolumen dieser Papiere und der sich<br />

verbreitenden Erkenntnis der Wertlosigkeit der Scheine, verbunden mit der mangelnden Möglichkeit<br />

zur „Pfandverwertung“ der als Sicherheit bezeichneten Immobilien.<br />

Ein weiteres Beispiel einer neuzeitlichen Papiergeldinflation verbindet sich mit der Entstehung<br />

des US-Dollars. Der „Greenback“ dient ursprünglich zur Finanzierung des amerikanischen<br />

Bürgerkrieges (1861-1865). Die vorerst nicht konvertierbaren (grünen) Banknoten beschleunigen<br />

sehr rasch die Inflation. Als Folge wird der Greenback vom Volk nicht mehr akzeptiert.<br />

Verstärkt wird die Papiergeldinflation in den USA durch den Goldrausch zwischen<br />

1848 und 1860, welcher zu einer erheblichen Ausweitung der Edelmetallbestände führt. Erst<br />

1878 wird der Dollar in Gold konvertierbar und erhält damit eine natürliche Wertbasis.<br />

Elemente eines „anarchischen“ Geldwesens enthält auch die Banking Schule, welche um etwa<br />

1800 entsteht. Für Thomas Tooke (1774-1858) besteht der Geldumlauf nicht nur aus Münzen,<br />

sondern auch aus Handelswechseln, Schecks, Bankguthaben und Bankkrediten. Die Qualität<br />

der jeweiligen Schuldner ist bestimmend für die Bonität dieses, zum Teil „privat“ emittierten<br />

Geldes. Die Banking Schule geht von einem elastischen Geldsystem aus, welches stets genügend<br />

Geld für die Transaktionsbedürfnisse bereitstellt. Wird das Geld nicht mehr benötigt,<br />

verschwindet es nach Auffassung der Banking Schule wieder aus dem Geldkreislauf („law of<br />

reflux“ oder Fullartonsches Rückstromprinzip). 438 Voraussetzung sind einlösbare Zirkulationsmittel,<br />

bei welchen die Wirtschaftsakteure selbst und frei entscheiden, wie viel Geld sich<br />

nach Maßgabe ihrer Geldnachfrage im Umlauf befinden soll. 439<br />

Nach Auffassung der Banking Schule sorgt das Sicherheitsbedürfnis der Banken für genügend<br />

Golddeckung bei der Geldemission, womit systemimmanente Kräfte zugunsten einer<br />

stabilen Währung unterstellt werden. Nach den Darstellungen von Tooke lässt sich keine<br />

Überemission von Banknoten durch die Bank von England und die Geschäftsbanken feststellen.<br />

440 Der Umlauf des Geldes erfordere keine Regulierung außer der Goldeinlösepflicht, womit<br />

Elemente einer natürlichen Goldordnung „eingebaut“ werden.<br />

437 Vgl. Flambant, Maurice, 1974, S. 24.<br />

438 Benannt nach Fullarton (1780-1849); vgl. Fullarton, John, 1845, S. 58.<br />

439 Vgl. Fullarton, John, 1845, S. 130.<br />

440 Vgl. Tooke, Thomas, 1838, S. 622.<br />

269


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die zahlreichen Bankenzusammenbrüche und die immer wieder auflebenden Perioden<br />

mit einer starken Verschlechterung des Geldwerts lassen Zweifel an den Thesen der Banking<br />

Schule hinsichtlich der inhärenten Stabilität eines nicht regu lierten Geldwesens ohne<br />

Goldeinlösepflicht entstehen; „anarchische“ Exzesse führen 1844 zu den zweiten Peelschen<br />

Bankakten und mit der Golddeckungspflicht der Notenemission zum Sieg der stabilitätsorientierten<br />

Currency Theorie über die Banking Schule. Künstliche Ordnungselemente finden vermehrt<br />

Eingang in die Geldordnung.<br />

Abbildung 80: Das anarchische Geldwesen<br />

270<br />

Gold und Silber sowie „privat“<br />

emittiertes Geld als Grundlage der<br />

Geldordnung; weitgehend fehlende<br />

staatliche („künstliche“) gesetzliche Grund-<br />

gen der Geldordnung („anarchisches Geld-<br />

wesen“).<br />

Bei den „modernen“ Ausprägungen eines anarchischen Geldwesens wird der Stabilität des<br />

Geldes und der Banken im Inland keine besondere Bedeutung beigemessen. Es gibt kaum<br />

künstliche Elemente der Geldordnung wie beispielsweise Ansätze zur Geldmengensteuerung<br />

oder zur Bankenaufsicht (vgl. Abbildung 80). Unter solchen Umständen sind die Substitution<br />

der inländischen Währung durch ausländische Währungen und die Emission von Geld durch<br />

Finanzintermediäre sowie private Emittenten denkbar. Auch in unserer Zeit können Finanzinnovationen<br />

ein ungezügeltes Geldmengenwachstum und damit anarchische Tendenzen auslösen,<br />

womit sich das Geldwesen in einer Situation wie „ein Kapitän befindet, dessen Schiff in<br />

einem Sturm ohne Kompass und andere Navigationshilfen schlingert“. 441 Anarchische Elemente<br />

können ebenfalls in Ländern dominieren, welche durch politische Krisen und hohe Inflationsraten<br />

erfasst werden, die das Vertrauen in die Währung erschüttern.<br />

IV. Die gesellschaftsvertraglichen Elemente<br />

Eine gesellschaftsvertragliche Ordnung beruht auf der Fiktion eines hypothetisch geschlossenen<br />

Gesellschaftsvertrages zwischen den Bürgern eines Landes. Der Vollzug des Gesellschaftsvertrages<br />

wird auf den Staat übertragen, wobei die Geldordnung einen Teil dieser staatlichen<br />

Ordnung darstellt. Mit einer gesellschaftsvertraglichen Geldordnung wird in der Regel<br />

die Vorstellung verbunden, die Bürger seien an einem stabilen Wert des Geldes und möglichst<br />

unverfälschten Preisen interessiert.<br />

Einzelne Grundgedanken einer gesellschaftsvertraglichen Geldordnung gehen auf John Locke<br />

zurück:<br />

441 Roos, Lawrence, 1984, S. 172 f.<br />

Weitgehend fehlende<br />

Regulierung der Notenbanken<br />

Historische Formen<br />

von Geschäftsbanken<br />

Individuen


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

„Money is the measure of commerce and the rate of everything, and therefore ought to<br />

be kept (as all other measures) as steady as may be“. 442<br />

Als früher Quantitätstheoretiker zweifelt Locke an der Möglichkeit des Staates, den Wert des<br />

geprägten Geldes auf gesetzlichem Wege über den natürlichen Münzwert erhöhen zu können,<br />

und befürwortet die Sicherung einer stabilen Währung.<br />

Eine frühe Aussage zu Elementen einer gesellschaftlich vereinbarten Geldordnung stammt<br />

auch von David Hume: 443<br />

„Money is not, properly speaking, one of the subjects of commerce, but only the instrument<br />

which men have agreed upon to facilitate the exchange of one commodity for another“.<br />

444<br />

Bei David Ricardo ist das für eine gesellschaftsvertragliche Ordnung typische Ziel der Preisstabilität<br />

durch die Beeinflussung der umlaufenden Zirkulationsmittel sehr ausgeprägt verankert.<br />

Instabile Preise und vor allem inflationäre Prozesse finden nach seiner Auffassung ihren<br />

Ursprung in der starken Vermehrung der Geldmenge.<br />

Angelehnt an die Lehre von David Ricardo besteht die Aufgabe der Notenbanken nach den<br />

Ansichten der Bullionisten 445 vor allem in der Regulierung der Geldmenge. Samuel Jones-Loyd,<br />

später Lord Overstone (1796-1883), fordert nach dem “currency-principle” die künstliche Regulierung<br />

der Geldmenge, um den Wert des Geldes aufrecht zu erhalten. 446 Dabei können zwei<br />

Verfahren zur Anwendung gelangen: Entweder wird der Wert des Geldes künstlich an den<br />

Marktwert von Metall gebunden, so dass eine große Nähe zur natürlichen Geldordnung entsteht,<br />

oder es werden künstlich geschaffene Währungen mengenmäßig so knapp gehalten, dass<br />

diese auch angesichts der sich ergebenden Transaktionsvorteile allgemeine Akzeptanz finden,<br />

womit das Geld vom Tauschmittel zum anerkannten Tauschvermittler wird. 447<br />

Mit den zweiten Peelschen Bankakten von 1844 448 kommt es vermehrt zu gesellschaftsvertraglichen<br />

bzw. künstlichen Elementen in der Geldordnung, mit welchen versucht<br />

wird, eine stabile Geld- und Währungsordnung zu schaffen und gleichzeitig Münzgewinne<br />

zur Finanzierung der staatlichen Haushalte zu erzielen (Fiskalfunktion der Geldpolitik).<br />

Um die Geldmenge zu kontrollieren und damit die Preisniveaustabilität zu erhalten, sollen<br />

Banknoten nur gegen Golddeckung ausgegeben werden; dabei ist eine gewisse Proportionalität<br />

zwischen den sich im Umlauf befindlichen Geldsurrogaten und den Goldbeständen der<br />

emittierenden Banken zu wahren. 449 Zu den Schwächen einer solchen Geldordnung zählt die<br />

geringe Elastizität des Geldangebotes, was immer wieder zu deflationären Entwicklungen<br />

führt.<br />

Currencytheoretische Entwicklungen folgen in Deutschland mit dem Bankgesetz von 1875<br />

und in den USA mit dem Federal Reserve Act von 1913. In den 1920er Jahren etablieren sich<br />

entsprechende Ideen zur Geldordnung mit Beiträgen von Irving Fisher sowie der Theorie des<br />

neutralen Geldes von Friedrich August von Hayek. Diese finden in den 1950er Jahren Anerkennung<br />

in der ordoliberalen Lehre von Walter Eucken, deren Schwergewicht in der Geldwertstabilität<br />

und in möglichst unverfälschten relativen Preisen liegt. In den 1970er Jahren entsteht in<br />

442 Locke, John, 1695, S. 51.<br />

443 Dabei zählt Hume zu den Begründern der spontanen Ordnungstheorie.<br />

444 Hume, David, Essays (1892), 1964, S. 309.<br />

445 Vgl. Ricardo, David (1810), 1911, S. 34, und derselbe, 1817, S. 238 (eigene Übersetzung).<br />

446 Jones-Loyd, Samuel, Lord Overstone, 1837, S. 31.<br />

447 Vgl. Menger, Carl, 1970, S. 8 ff.<br />

448 Die ersten Peelschen Bankakten wurden 1819 erlassen.<br />

449 Bereits 1844 tritt Samuel Jones-Loyd, später Lord Overstone, für eine passive, mechanistische Regulierung der Notenmenge<br />

auf der Basis einer Golddeckung nach den Vorschlägen von Ricardo ein. Vgl. Jones-Loyd, Samuel, (1844), 1914,<br />

S. 76 f.<br />

271


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

dieser Tradition der Monetarismus von Milton Friedman. Stark in der currencytheoretischen<br />

Ordnung verankert war auch die Geldpolitik der früheren Deutschen Bundesbank.<br />

Abbildung 81: Die gesellschaftsvertragliche Geldordnung<br />

Bereitstellung der monetären<br />

Basis; Steuerung der Geldmenge<br />

Geld- und Kreditschöpfung<br />

Nachfrage nach Geld.<br />

Die gesellschaftsvertragliche Begründung von Geldordnungen soll auch den sich wandelnden,<br />

immer vielfältigeren und differenzierteren Präferenzen der Individuen hinsichtlich der<br />

Funktionen, Strukturen und dem Erscheinungsbild der geldschaffenden monetären finanziellen<br />

Institutionen dienen, was erhebliche Anforderungen an die Gestaltung der Geldordnung<br />

stellt.<br />

Bei der gesellschaftsvertraglichen Ordnung kommt es zu einer Aufgabenteilung zwischen<br />

der Zentralbank, welche die monetäre Basis bereitstellt, und den Geschäftsbanken, welche unter<br />

anderem Kredite schöpfen (vgl. Abbildung 81). Die private Geldemission wird so weit als<br />

möglich zurückgedrängt. Zur Sicherung der Geldwertstabilität dient eine regelorientierte, hinreichend<br />

restriktive Geldmengensteuerung, meist verbunden mit der Erhebung von Mindestreserven.<br />

Die Ankündigung von Geldmengenzielen soll zur Stabilisierung der Erwartungen<br />

führen. Einen großen Stellenwert zur Erhaltung der Stabilität der monetären Ordnung hat die<br />

Bankenaufsicht. Die gesellschaftsvertragliche Ordnung enthält damit eine Reihe von künstlichen<br />

Ordnungselementen, wobei eine antizyklisch wirkende Zins- und Geldmengenpolitik<br />

ebenso abgelehnt wird wie eine monetäre Stimulierung der Wirtschaft durch eine grosszügige<br />

Bereitstellung von Zentralbankliquidität.<br />

V. Die spontanen Elemente<br />

Zentralbanken<br />

Geschäftsbanken<br />

Individuen<br />

Eine spontane Ordnung entsteht durch die wirtschaftlichen Transaktionen der Wirtschaftssubjekte,<br />

ohne dass diese Ordnung von den Akteuren beabsichtigt, geplant oder vorhergesehen<br />

wird; diese erzeugt sich aus den Interaktionen zwischen den Individuen von selbst. Indem<br />

die Transaktionen oft wiederholt werden, entstehen Regeln im Sinne von tradierten Verhaltensweisen.<br />

Diese senken die Komplexität der Transaktionsprozesse und die Transaktionskosten.<br />

Solche Regeln für den Tausch von Gütern – selbst mit einfachen Geldmitteln – können<br />

normativen Charakter und eine breite Akzeptanz erlangen. Es bilden sich sogar gesellschaftlich<br />

akzeptierte Sanktionsnormen für den Fall heraus, dass diese Regeln nicht eingehalten<br />

werden. Die Regeln und Normen wandeln sich und passen sich langfristig immer wieder den<br />

Bedürfnissen der Menschen und Märkte an.<br />

Spontane Elemente in der Geldordnung gibt es seit dem Bestehen von menschlichen Gesellschaften.<br />

Bereits in der Antike entstehen spontane Geldsysteme durch das selbstinteressierte<br />

Verhalten von Menschen, welche Güter gegen primitive Formen von Geld tauschen. Die Ver-<br />

272


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

wendung von einfachen Geldmitteln, wie etwa Muscheln und Metallen, erleichtert die<br />

Tauschbedingungen und ermöglicht eine Arbeitsteilung. Die weitere historische Entwicklung<br />

führt in vielfältiger Weise zu „spontanen“ Elementen in der Geldordnung, die jedoch nicht<br />

ausreichen, um eine voll funktionsfähige Geldordnung zu tragen. So erzeugt beispielsweise<br />

die Emission von Papiergeld im 18. Jh. nicht so sehr eine sich selbst tragende spontane Geldordnung,<br />

sondern vielmehr ein „anarchisches“ Geldwesen.<br />

Als eigentliche Geburtsstunde der neueren Theorie der spontanen Geldordnung darf die<br />

Idee des Währungswettbewerbs (zwischen den Geschäftsbanken) von Friedrich August von<br />

Hayek aus dem Jahre 1976 gelten:<br />

„Es ist ungewöhnlich, aber wahr, dass konkurrierende Währungen bis vor kurzem nie<br />

ernsthaft untersucht worden sind. Die vorhandene Literatur gibt keine Antwort auf die<br />

Frage, warum ein Regierungsmonopol auf die Geldversorgung als unerlässlich angesehen<br />

wird, oder ob dieser Glaube einfach von dem ungeklärten Postulat herrührt, innerhalb jedes<br />

gegebenen Territoriums müsse eine einzige Art von Geld im Umlauf sein – was, solange<br />

wie lediglich Gold und Silber ernsthaft als mögliche Geldarten in Frage kamen, als angemessen<br />

erschienen sein mag. Ebenfalls können wir keine Antwort auf die Frage finden,<br />

was geschähe, wenn dieses Monopol abgeschafft und die Geldversorgung dem Wettbewerb<br />

privater Unternehmen geöffnet würde, die verschiedene Währungen anböten“. 450<br />

Von Hayek kritisiert das staatliche Geldmonopol, weil die Wirtschaftssubjekte bei Monopolen<br />

selbst bei unbefriedigenden Leistungen dazu gezwungen sind, dieses zu nutzen:<br />

„Das wichtigste Ergebnis des derzeitigen Untersuchungsstadiums ist, dass wohl der<br />

Hauptmangel des Marktsystems und damit der Grund für wohl gerechtfertigte Vorwürfe –<br />

nämlich seine Empfänglichkeit für wiederkehrende Perioden von Depressionen und Arbeitslosigkeit<br />

– eine Konsequenz des uralten Regierungsmonopols der Geldemission<br />

ist“. 451<br />

Zudem weist jedes Monopol Trägheiten bzw. mangelnde Anreize zur Verbesserung der Leistungen<br />

auf. 452 Vor allem aber fehlen Sanktionsmöglichkeiten gegenüber dem staatlichen Geldemissionsmonopol.<br />

Die monetäre Steuerung und der monetäre Missbrauch sind für von Hayek dieselbe Angelegenheit,<br />

denn das Geldmonopol stellt für jeden Staat und für jede Zentralbank eine unwiderstehliche<br />

Versuchung dar, dieses Monopol missbräuchlich und marktwidrig zur Ausdehnung<br />

der monetären Basis einzusetzen. 453 Eine systemkonforme Wirtschaftsordnung sieht er nur<br />

dann verwirklicht, wenn auch bei der Geldemission eine wettbewerbliche Marktlösung besteht.<br />

Der „Mechanismus der Mehrheitsregierung“ soll durch den „automatischen“ Mechanismus<br />

der Konsumentensouveränität ersetzt werden; die Präferenzen der Individuen für die eine<br />

oder andere Währung sollen, analog zur Wettbewerbsordnung, über den Markt zum Tragen<br />

kommen. 454<br />

Mit einem System konkurrierender Währungen wird das staatliche Notenausgabenmonopol<br />

durch das marktwirtschaftliche Ordnungsprinzip des Währungswettbewerbs ersetzt. Sowohl<br />

inländische als auch ausländische, private als auch öffentliche Banken sollen Geld nach eigenem<br />

Belieben emittieren dürfen. Erforderlich sind eine vollständige Konvertibilität der Währungen<br />

und die Freiheit des Gebrauchs jeder Währung. Damit geht der Sonderstatus des bisherigen<br />

Notenbankgeldes als gesetzliches Zahlungsmittel verloren.<br />

450 von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 6.<br />

451 von Hayek, Friedrich August, 1977, S. IX.<br />

452 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 7.<br />

453 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1980, S. 41; vgl. derselbe, 1976, S. 16 f.<br />

454 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 92 ff., insbesondere S. 95.<br />

273


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Angesichts des Gewinnstrebens der Banken verneinen John D. Gurley und Edward S. Shaw<br />

bei einem kompetitiven Geldangebot bereits in den 1960er Jahren eine eingeschränkte Inflationstendenz,<br />

455 zumal die Rahmenbedingungen eines Bankenwettbewerbs à priori unklar seien.<br />

Benjamin Klein dagegen sieht bei einer kompetitiven Geldordnung und einer vollkommenen<br />

Voraussicht der Nachfrager keine Gefahr einer grenzenlosen Ausdehnung der Geldmenge. Er<br />

geht von der Gültigkeit des Anti-Greshamschen Gesetzes 456 aus: „High confidence monies will<br />

drive out low confidence monies“. 457 Lässt man die Annahme einer vollkommenen Voraussicht<br />

fallen, stehen den Geldanbietern Täuschungsstrategien offen und für den Geldnachfrager entstehen<br />

Informationskosten. Diese sind umso größer, je höher die vermuteten potentiellen Täuschungsgewinne<br />

der Geldanbieter sind. Der Geldanbieter seinerseits wird nur dann Täuschungsstrategien<br />

anwenden, wenn die erwarteten Gewinne größer sind als der Verlust an<br />

Vertrauenskapital. Eine ungehinderte Inflation wird vermieden, solange die Geldanbieter und<br />

die Geldnachfrager die erzielbaren Täuschungsgewinne gleich hoch einschätzen. Selbst wenn<br />

kurzfristige Gewinne durch eine Geldmengenexpansion möglich sind, resultiert bei mittel- bis<br />

langfristigen Täuschungen ein erheblicher Verlust an Vertrauenskapital, womit eine anhaltende<br />

Täuschung der Geldnachfrager wenig wahrscheinlich ist. 458<br />

Beim Währungswettbewerb stehen folgende Fragen im Vordergrund: Welche Währungen<br />

stehen miteinander im Wettbewerb? Wer emittiert die Währungen? Welcher Währungsraum ist<br />

bedeutsam und welche Ziele werden damit impliziert?<br />

- Eine erste Form des Währungswettbewerbs umfasst den Währungsraum einer geschlossenen<br />

Volkswirtschaft, in welchem die Regierung auf die gesetzliche Regulierung des Geldwesens<br />

verzichtet und die Banken eigene Währungen emittieren können, die gegeneinander konkurrieren.<br />

Ziel ist die Sicherung einer langfristigen Stabilität des Geldwerts.<br />

- Eine zweite Form des Währungswettbewerbs bezieht sich auf offene Volkswirtschaften. Jeweils<br />

nationale, staatlich emittierte und voll konvertible Währungen stehen im Wettbewerb<br />

zueinander. Ziel ist oft die monetäre Integration.<br />

Mit der Konzeption einer spontanen Geldordnung der ersten Form des Währungswettbewerbs<br />

zeigt von Hayek sehr ausführlich eine neue Dimension des geldordnungspolitischen<br />

Denkens, bei welcher die Idee des Wettbewerbs auch auf Währungen übertragen<br />

wird. Beim (nationalen) Währungswettbewerb sollen die Banken eines Landes, nach den Prinzipien<br />

der Bankenfreiheit (free banking), Geld in einer bankeigenen Währung emittieren dürfen.<br />

Die Wirtschaftssubjekte erhalten die Freiheit, Verträge in einer bevorzugten Währung abzuschließen.<br />

459 Ein staatliches Notenemissionsmonopol besteht nicht. Die Währungen treten<br />

nach diesen Vorstellungen gegeneinander in Wettbewerb. Damit wird der Wettbewerbsgedanke<br />

konsequent auf das Geldwesen übertragen, wobei sich die stabilste Währung<br />

durchsetzen wird: Nach dem Anti-Greshamschen Gesetz verdrängen bei flexiblen Währungsrelationen<br />

die stabilen Währungen die schwächeren Währungen als Transaktions- und Wertaufbewahrungsmittel.<br />

Dies verhindert eine unbegrenzte Ausdehnung der Geldmenge, zumal zwischen<br />

der emittierten Geldmenge und dem Wert der betreffenden Währung eine inverse Beziehung<br />

besteht. Außerdem werden die Banken versuchen, den Gebrauch der von ihnen geschaffenen<br />

Währungen so bequem wie möglich zu gestalten, wobei sich die Geldemittenten<br />

am Gewinn orientieren. Deshalb sind sie auch an der Stabilität „ihrer Währung“ interessiert,<br />

um im Geschäft zu bleiben.<br />

455 Vgl. Gurley, John G. und Shaw, Edward S., 1960, S. 255.<br />

456 Nach dem sog. Anti-Greshamsche Gesetz – in allgemeiner Form – verdrängt das gute Geld bei flexiblen Währungsrelationen<br />

das schlechte Geld sowohl als Wertaufbewahrungs- als auch als Transaktionswährung. Vgl. zum Anti-<br />

Greshamschen Gesetz: Vaubel, Roland, 1974, S. 220 ff.<br />

457 Klein, Benjamin, 1974, S. 423-453.<br />

458 Vgl. Klein, Benjamin, 1974, S. 432-438.<br />

459 Vgl. von Hayek, Friedrich August (1976), 1980, S. 136-146.<br />

274


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Nach Auffassung von Thomas R. Saving ist ein einheitliches und stabiles Preisniveau nur<br />

durch die Konvertibilität des privat emittierten Geldes gegen eine entsprechende Warendeckung<br />

zu erreichen. 460 Die einzelnen Währungen werden idealerweise an einem Referenz-<br />

Warenkorb mit einer Auswahl von Rohstoffen (ggf. auch Großhandelsgütern) gemessen, dessen<br />

Zusammensetzung im freien Ermessen der Emittenten liegt und den Präferenzen der Geldnachfrager<br />

möglichst gut entsprechen soll. Nach einiger Zeit werden sich möglicherweise Standard-Warenkörbe<br />

herausbilden. 461 Die Rohstoffpreise erscheinen aufgrund der großen Sensibilität<br />

und der Vorlaufeigenschaft als Prädiktor der künftigen Preis-entwicklung geeignet. Es<br />

wird sich eine Umlaufbörse installieren, an welcher die Wertrelationen der einzelnen Währungen<br />

fortlaufend ermittelt werden. Ein großer Teil der Emittenten wird die Kaufkraft ihrer Währungen<br />

durch An- und Verkäufe stabil halten. Unterlässt man den Ankauf einer schwächer<br />

werdenden Währung, wird die betreffende Währung aus dem Emissionsgeschäft verdrängt. Bei<br />

einer im Wert steigenden Währung wird der Geldumlauf ausgedehnt. Im Fall einer hartnäckigen<br />

Deflation kann ein Zwang entstehen, Rohstoffe auf eigene Rechnung zu kaufen, um deren<br />

Preise zu stützen. 462 Zukunftsmärkte sollen es ermöglichen, die Währungen auf Termin zu<br />

handeln, um sich gegen mögliche Schwächen einer Währung abzusichern, was schwache Währungen<br />

zusätzlich unter <strong>Dr</strong>uck bringt. Eine bedeutsame Rolle bei den Informationsprozessen<br />

spielt die Tagespresse.<br />

Die Bedeutung der bisherigen nationalen Währungen hängt von deren Wertstabilität ab. Wesentlich<br />

erscheinen einheitliche Regulierungsbestimmungen für die bisherigen staatlichen und<br />

die privaten Währungen. Zudem ist es wünschenswert, beim Markteintritt privater Währungen<br />

die Menge der staatlichen Geldmenge zu reduzieren. Damit die von der Zentralbank emittierte<br />

Währung vor schneller Entwertung bewahrt bleibt, ist die vollständige Unabhängigkeit der<br />

Zentralbank von den geldpolitischen Eingriffen der Regierung erforderlich. Fraglich ist die<br />

Bereitschaft der Regierung, das staatliche Monopol der Notenemission freiwillig aufzugeben.<br />

Die Verbraucher werden gewisse Präferenzen für die Währung mit der stärksten Verbreitung<br />

bekunden, beispielsweise für die täglichen Einkäufe. Gläubiger werden eine deflationäre<br />

Währung bevorzugen, Schuldner eher eine inflationäre. Bei der Beurteilung der Wertstabilität<br />

einer Währung kommt es zu hohen Informationskosten. Dies ist besonders dann der Fall,<br />

wenn zahlreiche Währungen umlaufen. Zudem müssen die Preise überall bekannt sein. Die<br />

Unternehmen werden Währungen akzeptieren, welche sie gegen eine andere Währung zu einem<br />

bekannten Kurs eintauschen können.<br />

Von entscheidender Bedeutung ist die allgemeine Präferenz für wertstabiles Geld: Dies ermöglicht<br />

eine zuverlässige Kalkulation für die Produktion und den Handel, ein funktionierendes<br />

Rechnungswesen, einen realistischen Gewinnausweis und die Erhaltung des Kapitalstocks.<br />

Währungen, welche auf diese Weise den Menschen zum Erfolg verhelfen, werden bevorzugt<br />

und finden Nachahmer. 463 Der Verdrängungswettbewerb wird nach Auffassung von<br />

Hayeks zu einer oder zwei Hauptwährungen führen, welche je nach der Größe eines Raumes<br />

übrig bleiben.<br />

Erforderlich für das Funktionieren einer solchen spontanen Geldordnung ist das Vertrauen<br />

in die Stabilität der einzelnen Währungen. Damit zeigt die Idee einer Währungskonkurrenz im<br />

Zielbereich Näherungen zur Goldwährung. Es müssen auch bei spontanen Geldordnungen<br />

künstliche Ordnungselemente eingebaut werden, um den Wettbewerb zwischen den einzelnen<br />

Währungen zu sichern. Nur so schaffen spontane Geldordnungen die Voraussetzungen für<br />

460 Vgl. Saving, Thomas R., 1976, S. 987-995.<br />

461 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 31.<br />

462 Vgl. Neldner, Manfred, 1983, S. 400.<br />

463 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 55-58.<br />

275


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geldwertstabilität. Soweit nicht bereits der Bankenwettbewerb zu institutionell stabilen<br />

Geschäftsbanken führt, ist eine umfassende Bankenaufsicht erforderlich.<br />

Das Konzept der Währungskonkurrenz bedeutet eine Abkehr vom Goldstandard und der<br />

Geldmengensteuerung wie bei der Currency Theorie, indem der Wettbewerb zwischen den<br />

Geldemittenten an die Stelle des Goldes als Währungsanker oder des staatlichen Monopols der<br />

Notenemission tritt. Die Vorstellung eines möglichst neutralen Geldes soll durch den Währungswettbewerb<br />

und nicht mehr durch den Goldstandard oder künstliche Restriktionen bei<br />

der Geldemission 464 erreicht werden.<br />

Allerdings erweist sich die Konzeption eines nationalen Währungswettbewerbs zwischen<br />

den einzelnen Banken mit bankeigenen Währungen als zu eng. Bedenken bestehen unter anderem<br />

hinsichtlich eines mangelnden Währungswettbewerbs zwischen den einzelnen, geldemittierenden<br />

Unternehmen sowie der Gefahr von Betrug („freedom of banking is swindling“<br />

465), betrügerischen Konkursen, 466 Übervorteilung und Unsicherheit. Eine Gefahr besteht<br />

auch darin, dass die Emissionsbanken offene oder versteckte Privilegien für die Finanzierung<br />

von staatlichen Budgetdefiziten erhalten (beispielsweise eine Stundung von Steuerzahlungen<br />

oder eine Bevorzugung bei den staatlichen Lohn- und Gehaltszahlungen). 467 Tauschen die<br />

Wirtschaftssubjekte die Währungen oft gegeneinander, um die jeweils stabilste zu halten, entstehen<br />

zudem erhebliche Transaktionskosten.<br />

Erweist sich die Geldemission innerhalb eines Landes als ein natürliches Monopol (mit sinkenden<br />

Grenzkosten bei zunehmender Verwendung einer einzigen Währung), so läuft die<br />

Entwicklung auf eine einzige Währung hinaus, welche eine Monopolstellung hat. 468 Davon<br />

profitieren die Geldnachfrager insofern, als „economics of aggregation“ in Form abnehmender<br />

Transaktions-, Informations- und Umtauschkosten entstehen. Bei einem natürlichen Monopol<br />

kommt es jedoch zu einer Selbstzerstörung des Währungswettbewerbs. 469 Denkbar sind auch<br />

enge Oligopole mit einem abgestimmten Verhalten der Geldemittenten (Währungskartelle).<br />

Dies kann zu einer erneuten Verstaatlichung der Währungsemission führen. Zudem ziehen die<br />

Verbraucher möglicherweise eine verbreitete, aber weniger preisstabile Währung einer weniger<br />

verbreiteten, aber wertstabileren Währung vor. 470 Aus solchen und ähnlichen Gründen<br />

wurde die Idee des Währungswettbewerbs im nationalen Bereich nicht realisiert.<br />

Gordon Tullock setzt sich bereits 1975 mit einer Geldordnung auseinander, in welcher eine<br />

staatlich emittierte Währung mit einer nicht von der Regierung des betreffenden Landes emittierten<br />

Währung um das Vertrauen der Nichtbanken konkurriert. 471 Aus damaliger Perspektive<br />

hätte es sich wohl um einen Wettbewerb zwischen inflationierenden Währungen gehandelt.<br />

Tullock führt dies auf eine Geldpolitik zurück, welche von kurzfristigen politischen Interessen<br />

dominiert wurde. 472 Eine inflationäre Geldpolitik ist für die Politiker oft ein besserer Weg zur<br />

Erreichung der Wiederwahl als eine stabilitätsorientierte. Deshalb befürwortet Tullock institutionelle<br />

Regelungen zur Schaffung stabiler Währungen. 473<br />

464 Noch in den 1920er Jahre postulierte von Hayek ein stetes, potentialorientiertes (geringfügiges) Wachstum der monetären<br />

Basis.<br />

465 Vgl. Gerding, Rainer und Starbatty, Joachim, 1980, S. 54 f.<br />

466 Vgl. Bernholz, Peter, 1976, S. 138 f.<br />

467 Vgl. Gerding, Rainer und Starbatty, Joachim, 1980, S. 61 ff.<br />

468 Vgl. Engels, Wolfram, 1981, S. 127; vgl. Vaubel, Roland, 1976, S. 427.<br />

469 Vgl. Vaubel, Roland, 1977, S. 435-466.<br />

470 Vgl. Krug, Wilfried, 1977/1978, S. 575.<br />

471 Vgl. Tullock, Gordon, 1975, S. 491-497.<br />

472 Vgl. Tullock, Gordon, 1975, S. 497.<br />

473 Vgl. Tullock, Gordon, 1976, S. 521-525.<br />

276


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 82: Die spontane Geldordnung<br />

Zentralbanken<br />

Geschäftsbanken<br />

Individuen<br />

Stabilitätswettbewerb zwischen den einzelnen<br />

Währungen, stabile monetäre Basis.<br />

277<br />

Intensiver Wettbewerb zwischen den Geschäftsbanken.<br />

Die internationale Währungsordnung, wie diese nach dem Ende des Festkurssystems von<br />

Bretton Woods 1973/74 entstanden ist, zeigt Züge eines Währungswettbewerbs (vgl. Abbildung<br />

82). Es kommt zu einem recht intensiven Wettbewerb zwischen einzelnen, staatlich emittierten<br />

Währungen um die Gunst der internationalen Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte sowie jener<br />

Zentralbanken, welche Währungsreserven nachfragen. Auf diese Weise ergeben sich spontane<br />

Ordnungselemente, obwohl dies im ursprünglichen Konzept von Hayeks dergestalt nicht impliziert<br />

wird. 474<br />

Der Währungswettbewerb zwischen künstlich geschaffenen, einzelstaatlichen Währungen<br />

bildet seit den 1970er Jahren die Grundlage der internationalen Währungsordnung. Angesichts<br />

der flexiblen Währungsrelationen wirkt das Anti-Greshamsche Gesetz, wonach die gute (wertstabile)<br />

Währung die schlechte Währung sowohl hinsichtlich der Transaktions- als auch der<br />

Recheneinheits- und Wertaufbewahrungsfunktion verdrängt.<br />

Der internationale Währungswettbewerb entwickelt sich in den Bereichen des internationalen<br />

Handels, der internationalen Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte sowie der Nachfrage nach<br />

multiplen Währungsreserven durch die Zentralbanken. Im Vordergrund stehen die sog. Triadewährungen<br />

(USD, Euro und Yen) als marktlich intensiv miteinander verbundene Haupttransaktionswährungen.<br />

Hinzu kommen noch andere, weniger bedeutende Valuten (beispielsweise<br />

das Britische Pfund, der Kanadische Dollar und der Schweizer Franken). Die<br />

zugrunde liegenden Devisenmärkte (Kassa- und Terminmärkte) führen zu einer großen Substitutionalität<br />

dieser Währungen, selbst wenn nach wie vor Marktunvollkommenheiten bestehen.<br />

Mit dem Entstehen spontaner internationaler Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte bildet sich<br />

ein Währungswettbwerb heraus, welcher mehr und mehr das Stabilitätsverhalten der einzelstaatlichen<br />

Geldpolitiken beeinflusst und zu einem tragenden Element der internationalen<br />

Währungsordnung wird. Die Terminkontrakt- und Optionsmärkte setzen Informationen über<br />

die künftige Wertentwicklung einer Währung rasch um und beschleunigen die Währungssubstitution.<br />

Diese Märkte bilden inzwischen das Hauptelement der internationalen Währungsordnung.<br />

Der Grad der Vollkommenheit dieser Märkte ließe sich bei einer größeren Zahl von<br />

international konkurrierenden Währungen noch wesentlich verbessern. Die beste Voraussetzung<br />

für den Währungswettbewerb ist eine freiheitliche internationale Währungsordnung mit<br />

möglichst vollkommenen Devisenmärkten. Auf diese Weise kann sich das Vertrauen in die<br />

spontanen Elemente der Geldordnung noch erheblich erhöhen. Weit entfernt von der spontanen<br />

internationalen Geldordnung sind die Entwicklungsländer, welche als Folge fehlender<br />

474 Auf europäischer Ebene kritisiert von Hayek eine Währungsunion als „utopischen Plan“; hingegen beurteilt er den<br />

Währungswettbewerb zwischen dem USD, dem Euro und dem Yen als mögliche zweite Form des Währungswettbewerbs.<br />

Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 2.


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Devisen und oft auch mangelnder Exportfähigkeit weder am spontanen internationalen<br />

Währungswettbewerb teilnehmen können noch über die erforderliche Stabilität des Bankensystems<br />

verfügen.<br />

VI. Die künstlichen Elemente<br />

Künstliche Elemente der Geldordnung dienen der Sicherung einer natürlichen, gesellschaftsvertraglichen<br />

oder spontanen Geldordnung:<br />

- In besonderem Maße wird die gesellschaftsvertragliche Geldordnung durch künstlich geschaffene<br />

Elemente getragen. Die Geldwertstabilität soll durch eine Steuerung der Geldmengen,<br />

der Zinsen oder der Wechselkurse gesichert werden. Damit wird eine etwas grössere Flexibilität<br />

des Geldwesens als bei den früheren (natürlichen) Goldwährungen erreicht.<br />

- Bei vorwiegend natürlichen oder spontanen Geldordnungen sind künstliche Ordnungselemente<br />

für das Vertrauen der Individuen in die Stabilität der Währung und der monetären Institutionen<br />

erforderlich. Dazu dienen die Bankenaufsicht sowie die Verhinderung von Betrug<br />

und Täuschung im Geldwesen.<br />

Eine künstliche, vom Staat geschaffene Geldordnung kann nicht nur zu einem geordneten<br />

Geldwesen mit einem stabilen Geldwert beitragen, sondern auch – wie dies in der geschichtlichen<br />

Entwicklung oft der Fall ist – den fiskalischen Interessen des Staates und dessen politischen<br />

Akteuren dienen. In der historischen Entwicklung werden die Aufwändungen von feudalen<br />

Hofstaaten und Kriegen oft durch die Emission von minderwertigem Geld finanziert,<br />

wobei Verschlechterungen des Münzwertes in Kauf genommen werden. Die Münzordnung<br />

dient vielfach nicht den Interessen der Bürger, sondern den finanziellen Interessen der politischen<br />

Herrscher.<br />

Abbildung 83: Künstliche Elemente der Geldordnung<br />

Zentralbanken<br />

Geschäftsbanken<br />

Individuen<br />

Steuerung der monetären Basis<br />

und der Zinsen zur Beeinflussung<br />

der konjunkturellen Entwicklung.<br />

Geld- und Kreditschöpfung.<br />

Nachfrage nach Geld.<br />

Eine weitere, mögliche Funktion einer künstlich angelegten Geldordnung ist die antizyklische,<br />

gegen die wirtschaftlichen Zyklen steuernde Geldpolitik zur Beeinflussung der konjunkturellen<br />

Entwicklung (vgl. Abbildung 83). Die diesbezüglichen Diskussionen um die Möglichkeiten<br />

einer Steuerung der konjunkturellen Entwicklung erreichen in den 1930er Jahren während<br />

der Weltwirtschaftskrise und in den späteren 1960er Jahren mit dem Erlahmen der Wachstumskräfte<br />

Höhepunkte, wobei die Auffassungen hinsichtlich der Vor- und Nachteile einer<br />

antizyklischen Geldpolitik bereits damals kontrovers sind. Von Hayek und Eucken betonen die<br />

278


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Gefahren einer konjunkturellen Entgleisung sowie einer Verzerrung der Preissignale, was<br />

zur wirtschaftlichen Fehlsteuerung führt. Der Monetarismus und die Neue Klassische Makroökonomie<br />

warnen vor einer antizyklischen Geldpolitik, welche die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte<br />

destabilisiert und damit kontraproduktive Wirkungen entfalten kann.<br />

Monetär ausgerichtete Maßnahmen zur Steuerung der konjunkturellen Entwicklung werden<br />

hauptsächlich von den Befürwortern einer vorwiegend künstlich regulierten Geldprozesspolitik<br />

bejaht. Solche Eingriffe sind in der geldpolitischen Praxis der höchstindustrialisierten Länder<br />

nach wie vor von Bedeutung. Dies ist jedoch weit weniger als noch vor Jahrzehnten der<br />

Fall, als die diesbezüglichen Möglichkeiten überschätzt und die inflationären Gefahren unterschätzt<br />

werden. Der Versuch in den 1960er Jahren, das wirtschaftliche Wachstum mit Mitteln<br />

der Geldprozesspolitik anzukurbeln, beschert in den frühen 1970er Jahren eine weltweite Inflation.<br />

Eine diskretionäre, der konjunkturellen Steuerung dienende Geldpolitik wird deshalb<br />

von den meisten Befürwortern einer natürlichen, gesellschaftsvertraglichen und spontanen<br />

Geldordnung abgelehnt, indem vielmehr die wettbewerblichen Gleichgewichtsmechanismen<br />

diesem Zweck dienen sollen.<br />

Künstliche Geldordnungen können in Entwicklungs-, Schwellen- und Transformationsländern<br />

auch dazu dienen, den Mangel an natürlichen, gesellschaftsvertraglichen und<br />

spontanen Ordnungselementen zu kompensieren. Oft dient die Geldpolitik der Erzielung von<br />

„Münzgewinnen“ (Seignorage). Aus fiskalischen Überlegungen werden die Geldmengen zur<br />

Finanzierung der staatlichen Ausgaben und zur Erzielung von Notenbankgewinnen aufgebläht,<br />

wobei den Wirtschaftssubjekten mitunter eine erhebliche Inflationssteuer auferlegt<br />

wird. Künstliche Geldordnungen dienen in diesen Ländern oft auch der Finanzierung stark<br />

überbesetzter staatlicher Bürokratien und defizitärer Staatshaushalte.<br />

In der heutigen Zeit geht es vielmehr um den Versuch, die wirtschaftliche Entwicklung an<br />

einen stabilen Wachstumspfad anzunähern, wobei die Geldwertstabilität in der Regel einen<br />

höheren Stellenwert als die konjunkturelle Steuerung geniesst. Eine zentrale Aufgabe der<br />

Zentralbanken besteht darin, zu einer gewissen Kontinuität des Wachstums beizutragen, soweit<br />

sich letzteres überhaupt mit monetären Mitteln erreichen lässt. Das entsprechende geldpolitische<br />

Ziel ist die Sicherung einer tiefen Inflationsrate. Der Weg dazu besteht in einer Verknappung<br />

der Liquidität im kurzfristigen Geldmarktbereich. Es wird ein künstlicher Markt für<br />

Zentralbankgeld geschaffen, welcher durch das Liquiditätsangebot der Zentralbank und die<br />

Nachfrage nach Zentralbankgeld gesteuert wird, wobei sich die Nachfrage nach Zentralbankgeld<br />

vor allem aus dem Bedarf für Bargeld und der Einlagenpflicht der Geschäftsbanken für<br />

die Mindestreserven ergibt. Die Mindestreserven sind ein künstlich geschaffenes Element, um<br />

nicht nur Liquiditätsreserven zu schaffen, sondern vor allem den Geschäftsbanken Liquidität<br />

zu entziehen, und damit den Kredit- und Geldschöpfungsprozess in Grenzen zu halten. Durch<br />

eine Steuerung des Liquiditätsangebotes lassen sich die kurzfristigen Zinsen beeinflussen, um<br />

damit Einfluss auf die Geldmengen und die konjunkturelle Entwicklung zu nehmen.<br />

Es wird diskutiert, ob ggf. eine direkte Einflussnahme auf die Geldmärkte – und nicht wie<br />

bisher über das Angebot und die Nachfrage nach Zentralbankgeld – zu einer wirksameren<br />

Steuerung der kurzfristigen Geldmarktsätze führen könnte. 475 Auf diese Weise ließen sich<br />

auch die Mindestreserven eliminieren; offen bleibt allerdings die Frage, mit welchen Mitteln<br />

die Zentralbank die künstliche Verknappung der Liquidität vornehmen soll. Hiefür kommen<br />

in erster Linie die Devisenreserven in Frage, zudem auch Schuldbriefe der Zentralbanken, deren<br />

Verkäufe dazu dienen, Liquidität aus dem Markt zu nehmen.<br />

Offen ist die Frage, wie sich unter einem solchen, veränderten Regime die Zentralbankgewinne<br />

entwickeln, welche zur Finanzierung des Staatshaushaltes verwendet werden. Ggf. ent-<br />

475 Ein entsprechendes Verfahren wird derzeit in Kanada, Australien und Neuseeland angewendet.<br />

279


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

stehen kleinere Einnahmen für den Staat, welche durch geringere Ausgaben oder andersweitig<br />

höhere Einnahmen kompensiert werden müssen.<br />

Auch die Finanzierung des ordentlichen Staatshaushaltes erfolgt nach neuerer Auffassung<br />

nicht mehr durch die Zentralbanken, sondern durch selbständige Institutionen (Treasuries);<br />

dies ist auch bei der Finanzmarktaufsicht über die Banken der Fall. Für die Ausübung dieser<br />

Funktionen sind Zentralbanken nicht zwangsläufig erforderlich. Ebenfalls nicht zwingend bei<br />

den Zentralbanken angesiedelt werden müssen Großgirosysteme zur Abwicklung des Zahlungsverkehrs,<br />

vor allem unter den Geschäftsbanken (Bankenclearing).<br />

Die mögliche Verschlankung der Aufgaben einer Zentralbank führen zu der Frage, inwieweit<br />

diese in ihrer traditionellen Form überhaupt noch erforderlich sind. 476 Die Ergebnisse der<br />

Diskussionen stehen vorerst noch aus.<br />

Unverzichtbar bleibt vorerst die Funktion der Zentralbank eines „lenders of last resort“. Im<br />

Falle einer unerwarteten Verknappung der Bankenliquidität und bei Bankenkrisen braucht es<br />

eine Institution, welche zumindest vorübergehend für genügend Liquidität sorgen kann, damit<br />

das Bankensystem stabil bleibt.<br />

VII. Die Genealogie der Geldordnungen<br />

Zusammenfassend betrachtet zeigen sich während der letzten Jahrhunderte folgende Entwicklungsprozesse:<br />

- Vorwiegend natürliche und anarchische Elemente der Geldordnungem im 18. und 19. Jh.,<br />

- vermehrte gesellschaftsvertragliche und künstliche Elementen im 19. und 20. Jh., sowie<br />

- die Frühphase einer Geldordnung mit spontanen Elementen im späten 20. und zu Beginn des<br />

21. Jh. (vgl. Abbildung 84).<br />

476 Vgl. Friedman, Benjamin M., 1999; vgl. Bank für Internationalen Zahlungsausgleich, 1996; vgl. Wood-ford, Michael, 2000,<br />

S. 229-260.<br />

280


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 84: Vorwiegende Elemente bei einzelnen Ansätzen der Geldpolitik<br />

(Zusammenfassung der Ergebnisse und Hinweise auf einzelne Kapitel)<br />

Natürliche „Anarchisches“„Gesellschafts- Spontane Künstliche<br />

Geldordnung Geldwesen vertragliche“ Geldordnung Geldordnung<br />

Geldordnung<br />

Gold- und<br />

Silberwäh-<br />

rung<br />

(Kap. 13., I+II.) Banking Currency<br />

Schule Theorie<br />

(zum Teil) (Kap. 13., II.)<br />

(Kap. 13., II.)<br />

Irving Fisher<br />

(Kap. 13., III.2.)<br />

Neutrales Geld<br />

(von Hayek)<br />

(Kap. 13., III.3.)<br />

Ordoliberalis- Keynesianismus<br />

mus Postkeynesianismus<br />

(Kap. 13., III.4.) Neokeynesianismus<br />

Neukeynesianismus<br />

Monetarismus Währungswett- (Kap. 13., IV.,VI.+VIII.)<br />

(Kap. 13., V.) bewerb<br />

(von Hayek)<br />

Neue Klassi- (Kap. 12., V.)<br />

sche Makro-<br />

ökonomie<br />

(Kap. 13., VII.) Spontaner<br />

internationaler<br />

Währungs-<br />

wettbewerb<br />

(Kap. 12., V.).<br />

281


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 13: Hinweise zu einzelnen Schulen der Geldpolitik<br />

I. Die Vorklassik<br />

Die Vorklassik des 17. und 18. Jh. als die Zeit vor Adam Smith ist in ihrer empirischen und<br />

theoriegeschichtlichen Entwicklung durch zahlreiche geldordnungspolitische Elemente geprägt:<br />

- Natürliche Elemente wie die Bedeutung von Gold und Silber prägen als wesentliche Elemente<br />

die Währungsordnung.<br />

- Anarchische Elemente zeigen sich in Währungs- und Finanzkrisen.<br />

- Spontane Elemente lassen sich beim Entstehen von Banken zur Erleichterung der Transaktionen,<br />

der Wertaufbewahrung von Geld und der Gewährung von Krediten erkennen.<br />

- Künstliche Elemente sind die Vergabe von Münzregalen an einzelne Herrscher, Fürsten und<br />

Städte sowie die Gründung von staatlichen Zentralbanken in Schweden (1668) und England<br />

(1694).<br />

II. Die Klassik (Currency Theorie, Banking Schule)<br />

Die Currency Theorie und die Banking Schule sind die beiden Hauptrichtungen des geldtheoretischen<br />

Denkens der klassischen Nationalökonomie, welches auch im geldpolitischen Bereich<br />

einen Niederschlag findet:<br />

- Die Currency Theorie strebt nach einer wertstabilen Währung. Das Schwergewicht liegt auf<br />

künstlichen, durch den Staat geschaffenen Ordnungselementen. Der Umtausch der Währung<br />

in Gold (und umgekehrt) soll, zu staatlich festgelegten Paritäten, jederzeit gewährleistet sein.<br />

Die notenemittierenden Banken sollen einen fixierten Anteil des in Umlauf gebrachten Geldes<br />

in Gold als Deckungsmittel halten (meist zwischen 30 und 40 Prozent). Dadurch wird der<br />

Geldumlauf begrenzt.<br />

Die Currency Theorie betont die Gültigkeit der Quantitätstheorie: Bei einer Begrenzung des<br />

Geldmengenwachstums kommt es zu einer stabilen Währung und das Vertrauen in die Währung<br />

wird gestärkt (dies trifft allerdings in Phasen mit einer raschen Zunahme der Edelmetallfunde<br />

bzw. einem starken Zufluss von Edelmetallen nicht zu). Die Currency Theorie, zu deren<br />

bedeutendsten Vertretern David Ricardo zählt, erlebt Mitte des 19. Jh. in Grossbritannien einen<br />

Durchbruch und ist bis in unsere Zeit ein Vorbild für die Gestaltung der Geldordnungen<br />

geblieben.<br />

- Die Banking Schule betont die Elastizität des Geldsystems als die Fähigkeit einer Geldordnung,<br />

stets genügend Liquidität für die Wirtschaft bereit zu stellen und rasch auf sich verändernde<br />

wirtschaftliche Rahmenbedingungen zu reagieren. In Zeiten des Aufschwungs wird<br />

zusätzliches Geld durch Handelswechsel, Handelschecks und Bankenkredite geschaffen, in<br />

Zeiten des Abschwungs fließt dieses „Geld“ wieder zurück. 477 Die Banking Schule geht im<br />

Gegensatz zur Currency Theorie von breiten Geldmengenaggregaten aus, zu welchen auch die<br />

privat emittierten Geldsurrogate und die Kredite der Geschäftsbanken zählen. Sie begrüßt die<br />

geldwirtschaftlichen Innovationen (in der Zeit der klassischen Nationalökonomie war dies die<br />

Verbreitung von Banknoten und Girokonten).<br />

477 Bei diesem Mechanismus handelt es sich um das „law of reflux“ bzw. nach dessen Erfinder, John Fullarton (1780-<br />

1849), um das „Fullartonsche Rückstromprinzip“.<br />

282


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Banking Schule impliziert, dass der Bestand an Kreditsicherheiten bei den Banken (z.<br />

B. die Goldbestände) das Wachstum der Geldmenge begrenzt. Diese Annahme erweist sich als<br />

trügerisch, denn bereits im späten 18. Jh. und bis in die moderne Zeit sind die durch die Geschäftsbanken<br />

gewährten Kredite ein volatiler Faktor, welcher zu einer Verstärkung der wirtschaftlichen<br />

Auf- und Abschwungszyklen führt. Zusammenfassend betrachtet entwickelt die<br />

Zeit der Klassik (deren Höhepunkt um etwa 1860 erreicht wird) damit zwei unterschiedliche,<br />

einander ziemlich unversöhnlich gegenüberstehende Konzepte.<br />

Das natürliche Element in der Zeit der klassischen Nationalökonomie ist eine<br />

Gold(kern)währung, auch als Hauptelement der internationalen Währungsordnung. Spontane<br />

Elemente zeigen sich bei den Geldinnovationen und der Entwicklung des Bankensystems.<br />

Anarchische Elemente sind die immer wieder auftretenden Finanzkrisen. Ein gesellschaftsvertragliches<br />

bzw. currencytheoretisches Element ist der Wunsch nach stabilem Geld. Künstliche<br />

Elemente sind die Goldparität (die Festlegung des Wertes der eigenen Währung in Goldeinheiten)<br />

und die Regulierungen zur Deckung des Geldumlaufs durch Gold (im Rahmen der zweiten<br />

Peelschen Bankakten von 1844).<br />

III. Die Neoklassik und der Ordoliberalismus (neutrales Geld)<br />

1. Knut Wicksell<br />

Knut Wicksell widerspricht der Vorstellung einer Dichotomie zwischen dem realen und dem<br />

monetären Bereich. Er zeigt die Wirkungen monetärer Maßnahmen auf den realen (güterwirtschaftlichen)<br />

Bereich. Indem die Geld- und Kreditzinsen unter die natürlichen Zinsen sinken<br />

können, wird die Neutralität des Geldes aufgehoben, und es kommt zu einem kredit- und investitionsfördernden<br />

Effekt bis zum Wiederansteigen der Zinsen. Das Geld ist nur neutral,<br />

wenn die Geld- und Kreditzinsen den natürlichen Zinsen entsprechen; bei Nichtneutralität des<br />

Geldes ergeben sich Geldeffekte.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These:<br />

Bei nicht neutralem Geld ergeben sich - Diese These trifft zu.<br />

Geldeffekte.<br />

2. Irving Fisher<br />

Der neoliberale Ansatz von Irving Fisher kann als ein Grundmodell für die currencytheoretische<br />

Geldordnung des 20. Jh. gelten. Als Currency-Theoretiker betont Fisher die wohlfahrtsökonomische<br />

Bedeutung einer stabilen Währung. 478 Der Wert einer Währung soll vorzugsweise<br />

an eine solide Wertbasis, das Gold oder einen Korb von Rohstoffen, gebunden sein.<br />

Die Geldpolitik bezieht sich auf enge Geldmengen als Steuerungsaggregate. Die Geldordnung<br />

wird zweistufig aufgebaut, mit einer Notenbank, welche die monetäre Basis bereitstellt,<br />

und Geschäftsbanken, welche Kredite vergeben. Die Geldordnung soll durch künstlich geschaffene<br />

Elemente geprägt werden, indem die Notenbank die Geldmenge bestimmt („Issue-<br />

Department“) und die Banken die Kredite vergeben („Credit-Department“). Durch Mindestreserven<br />

von 100 Prozent soll die Geldmenge gesteuert werden (sog. „Chicago Plan“) und auf<br />

478 Vgl. Fisher, Irving, 1920.<br />

283


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

diese Weise die Arbeitsteilung zwischen den Zentralbanken („Issue-Department“) sowie<br />

den Geschäftsbanken („Credit-Department“) sichergestellt werden. 479 Diese Idee führt faktisch<br />

zum Geldemissionsmonopol der Zentralbank, bei welchem die Geschäftsbanken nur die Funktion<br />

der „Kreditabteilung“ haben. Der Ansatz dient vor allem dem Ordoliberalismus und dem<br />

Monetarismus als Vorbild.<br />

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise beschäftigt sich Fisher auch mit den Ursachen und Wirkungen<br />

einer Deflation. 480 Eine Deflation lässt sich als ein länger dauernder Rückgang der<br />

Preise bei einem gleichzeitigen Sinken der Nachfrage beschreiben. Eine Deflationsspirale tritt<br />

ein, wenn sich ein rückläufiges Preisniveau und eine zunehmende Arbeitslosigkeit gegenseitig<br />

verstärken.<br />

Für Fisher besteht die Hauptwirkung der Deflation nicht im Pigou-Effekt (Erhöhung des realen<br />

Wertes der Kasse), 481 sondern im erhöhten realen Wert der Schulden. Während die Wirkung<br />

des Pigou-Effektes nach Auffassung von Tobin vor allem langfristiger Natur ist, hat der Fisher-<br />

Effekt in erster Linie kurzfristige Folgen. Bei sinkenden Güter- und Vermögenspreisen sowie<br />

unveränderten nominellen Schulden wird ein immer größerer Schuldendienst auferlegt, welcher<br />

zudem in Relation zu einem sinkenden Einkommen steht. Der dadurch ausgelöste Schuldendruck<br />

für Unternehmer und private Haushalte (oft Hauseigentümer) löst Zahlungsverzögerungen<br />

und Konkurse aus, was den Rückgang der ökonomischen Aktivitäten verstärkt.<br />

Zur Anhebung der Güterpreise auf das frühere Niveau fordert Fisher 1932/33 eine Reflationierung<br />

als notwendigen Schritt zur Wiederbelebung der Wirtschaft. Sein Vorschlag besteht in<br />

der Ausgabe einer Art von Schwundgeld: Jedem Wirtschaftssubjekt wird beispielsweise eine<br />

Hundertdollarnote ausgegeben, welche vorerst für einen Monat Kaufkraft besitzt. Im nächsten<br />

Monat ist diese nur gültig, wenn ein Wertzeichen von einem Dollar aufgeklebt wird (usw.),<br />

wodurch die Erhöhung der Geldbasis innerhalb von 100 Monaten (entsprechend acht Jahren<br />

und vier Monaten) wieder abgebaut wird. Auf diese Weise fließt den Wirtschaftssubjekten<br />

vorerst Kaufkraft zu, was zu einer Erhöhung der Geldmenge, einer Belebung der Wirtschaft<br />

und möglicherweise auch zu einer gewissen Reflationierung des Geldwertes führt.<br />

3. Friedrich August von Hayek<br />

Der „frühe“ von Hayek der 1920er Jahre betont – in Anlehnung an die Geldlehre von Knut<br />

Wicksell – die Bedeutung von neutralem Geld mit unverzerrten relativen Preisen. In einer Naturaltauschwirtschaft<br />

besteht stets eine Gleichheit von Güterangebot und Güternachfrage im<br />

Sinne des Gesetzes von Say; in diesem statischen Gleichgewichtszustand kommt es zu keinen<br />

monetär bedingten Verzerrungen. 482 Bei den Preisen handelt es sich um relative Preise im Sinne<br />

von Tauschrelationen zwischen den Gütern und den Produktionsfaktoren.<br />

Ein Anliegen von Hayeks besteht auch darin, die „Verschiedenheit der Preise zu verschiedenen<br />

Zeitpunkten“ zu betrachten, und „welche Folgen Störungen ihrer normalen Abstufung<br />

haben“, was zuvor „höchstens gelegentlich kurz im Zusammenhang mit der Zinstheorie (Knut<br />

Wicksell, Irving Fisher, Ludwig von Mises)“ 483 untersucht wurde. Selbst die zeitlich verschobenen<br />

Tauschrelationen bilden ein „System …, in dem sie alle nach einem Gleichgewichtszu-<br />

479 Die Idee einer Trennung in ein Issue-Department zur Emission von Banknoten mit einer 100%-igen Golddeckung<br />

und ein Banking-Department für das Einlagen- und Kreditgeschäft beruht ursprünglich auf den Vorschlägen von<br />

Robert Torrens und Samuel Jones-Loyds, später Lord Overstone, zu den zweiten Peelschen Bankakten von 1844. Vgl.<br />

Schumpeter, Joseph A., 1970, S. 847 ff.<br />

480 Vgl. Fisher, Irving, 1933, S. 337; vgl. derselbe, 1936, S. 119-134.<br />

481 Vgl. zu diesen Ausführungen Tobin, James, 1980, S. 16 ff.<br />

482 Vgl. Koopmans, Johan, 1933, S. 258 f.<br />

483 von Hayek, Friedrich August, 1928, S. 37.<br />

284


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

stand tendieren“. 484 Ein unverzerrtes intertemporales Gleichgewicht in einer Wirtschaft mit<br />

Geld lässt sich nur dann erreichen, wenn die in Geld ausgedrückten Preise den Gesetzen der<br />

Preisbildung der relativen Preise in einer Naturaltauschwirtschaft folgen. 485 Die Preise für<br />

Konsum- und Kapitalgüter sowie die Löhne sollen die ökonomischen Knappheiten widerspiegeln.<br />

Von Hayek geht davon aus, dass „der Hauptmangel des Marktsystems (…) – nämlich<br />

seine Empfänglichkeit für wiederkehrende Perioden von Depressionen und Arbeitslosigkeit –<br />

eine Konsequenz des uralten Regierungsmonopols der Geldemission ist“. 486 Eine expansive<br />

Geldpolitik kann vorübergehend zu einer Verzerrung von Löhnen, Preisen sowie Zinsen führen<br />

und Investitionsprozesse bewirken, welche nicht mehr der Mehrergiebigkeit von Produktionsumwegen<br />

entsprechen. Eine „Normalisierung“ der Zinsen durch die Zentralbank lässt die<br />

„Überinvestitionen“ obsolet werden, wodurch wirtschaftliche Krisen entstehen und einzelne<br />

Investitionsgüter zu Ruinen werden können.<br />

Von Hayek unterscheidet zwischen einer Veränderung des Preisniveaus in Folge der Verknappung<br />

einzelner Güter und einer Veränderung des Preisniveaus als Wirkung monetärer<br />

Ursachen:<br />

- Steigende oder sinkende Preise als Konsequenz einer Veränderung der Knappheit einzelner<br />

Güter geben den Wirtschaftssubjekten neue sowie unverzichtbare Informationen und führen<br />

zu entsprechenden Anpassungen der Wirtschaftsaktivitäten.<br />

- Gefährlich sind Preisänderungen durch monetäre Maßnahmen. Bei Nicht-Neutralität des<br />

Geldes 487 führen geldpolitische Maßnahmen der Notenbank sukzessive zu Veränderungen im<br />

System der relativen Preise (Kreditzinsen, Preise für Investitionsgüter, Preise für Konsumgüter,<br />

Löhne im Bereich der Investitionsgüter und Löhne im Konsumgüterbereich). Die monetär<br />

bedingte Verzerrung der Kreditzinsen wirkt über einen komplexen Prozess auf die Güterpreise<br />

und Löhne sowie schließlich auf das gesamte System der relativen Preise. Dies bringt vorübergehend<br />

eine Verzerrung der relativen Preise und eine Desinformation der Wirtschaftssubjekte<br />

über die langfristigen Knappheiten der Güter und Produktionsfaktoren. Während der Anpassungsdauer<br />

werden falsche Preissignale ausgesandt.<br />

Ziel ist eine Geldpolitik mit möglichst neutralem Geld, welches zu unverfälschten, den<br />

Knappheiten entsprechenden relativen Preisen (Güterpreise, Löhne, Zinsen und Wechselkurse)<br />

führt. Ein neutrales Tauschmittel soll sicherstellen, „dass der Ablauf einer Geldwirtschaft, und<br />

insbesondere die relativen Preise von keinen anderen als den ‚realen’ Bestimmungsgründen<br />

beeinflusst wird“. 488 Störungen in einem Wirtschaftssystem mit Geld sind nicht als Folge einer<br />

Veränderung der absoluten Höhe der Geldpreise zu betrachten, sondern unter Umständen viel<br />

eher als Folge des Unterbleibens einer solchen Änderung. 489<br />

Das Ziel der Neutralität des Geldes kann in einem krassen Gegensatz zum Ziel der Preisniveaustabilität<br />

stehen, wenn sich beispielsweise einzelne Güter stark verteuern, und ein <strong>Dr</strong>uck<br />

auf das Preisniveau ausgeübt wird, um dieses zu stabilisieren. Deshalb kann „… die Stabilität<br />

des Preisniveaus nicht einmal als Symptom für den neutralen Zustand der Geldversorgung gelten<br />

…“. 490 Geldpolitisch ist damit eine Wahl zu treffen zwischen neutralem Geld mit einem<br />

sich ändernden Preisniveau und einem Geldsystem mit einem stabilen Geldwert, jedoch nichtneutralen<br />

Einflüssen des Geldes auf den Ablauf der Wirtschaft. 491 Das Konzept des neutralen<br />

484 von Hayek, Friedrich August, 1928, S. 46.<br />

485 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1933, S. 659 ff.<br />

486 von Hayek, Friedrich August, 1977, S. X.<br />

487 Vgl. beispielsweise den Ricardo-Effekt in Kapitel 8, Ziffer VIII.1.<br />

488 von Hayek, Friedrich August, 1933, S. 659.<br />

489 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1928, S. 61.<br />

490 Koopmans, Johan, 1933, S. 226.<br />

491 Vgl. Koopmans, Johan, 1933, S. 227.<br />

285


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geldes von Hayeks geht davon aus, dass wertstabiles Geld nur eine Vorbedingung für neutrales<br />

Geld ist, was eine Verzerrung der relativen Preise – Güterpreise, Löhne und Zinsen – so gut<br />

als möglich verhindern soll, damit sich die Wirtschaft aufgrund der durch die Preise induzierten,<br />

unverfälschten Knappheiten ohne monetär induzierte Zyklen entwickelt.<br />

Neutrales Geld zu erreichen ist schwierig, denn monetäre Prozesse haben stets auch reale<br />

Wirkungen. Eine auf sehr tiefe Inflationsraten ausgerichtete Geldpolitik ist nur eine Ersatzlösung.<br />

Die Neutralität des Geldes ist das primäre Ziel, die Wertbeständigkeit des Geldes ein<br />

Mittel, um sich diesem Ziel zu nähern. Der Einfluss des Geldes auf den gesamten wirtschaftlichen<br />

Ablauf steht im Zentrum der Betrachtungen von Hayeks. 492 Eine Geldmengenänderung<br />

bewirkt nach von Hayek stets eine Störung des Gleichgewichtszusammenhanges. Zu ähnlichen<br />

Wirkungen führen auch Hortungs- und Enthortungsvorgänge bei den Wirtschaftssubjekten,<br />

bei welchen sich durch eine Zunahme oder Verkleinerung der Geldbestände Einnahmen und<br />

Ausgaben nicht mehr die Waage halten. 493 In diesem Fall verändert sich nicht die Geldmenge<br />

in ihrer absoluten Höhe (wie bei einer Schöpfung von Geld), sondern nur die nachfragewirksame<br />

Geldmenge, welche in einem Gleichgewichtssystem bedeutsam ist.<br />

Ein Ziel der Geldpolitik könnte es sein, jene Vorgänge zu kompensieren, welche durch die<br />

Verwendung des Geldes ausgelöst werden und zu Preisverschiebungen sowie Ungleichgewichten<br />

zwischen dem Güterangebot und der Güternachfrage führen. Indes ist auch dieses<br />

Ziel theoretischer Natur. Einige inflatorische bzw. deflatorische Geldmengenentwicklungen –<br />

wie beispielsweise das Horten und Enthorten – sind kaum zu lokalisieren oder überhaupt<br />

nicht zu erfassen. Ähnliches gilt auch für die Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit des<br />

Geldes. 494<br />

Nun stellt der idealtypische Zustand einer neutralen Geldversorgung eine gedankliche Konstruktion<br />

zu Analysezwecken und nicht eine praktische Vorschrift für die Geldpolitik dar. 495 In<br />

einer Wirtschaft mit einem Banken- und Kreditsystem kommt es in der Regel zu Geldmengenveränderungen,<br />

womit das Geldsystem nicht mehr neutral ist. 496<br />

Im Vordergrund steht die zentralbankinduzierte Geldmengensteuerung der Währung. Indem<br />

jede Veränderung der Geldmenge durch die Zentralbank geeignet ist, jene Störungen<br />

hervorzurufen, die sie bekämpfen möchte, betrachtet von Hayek 1928 – als zweitbeste Lösung –<br />

eine konstant wachsende Geldmenge relativ zur wirtschaftlichen Entwicklung als die einzige<br />

mögliche, realisierbare Maßnahme, welche der Neutralität des Geldes am Nächsten kommt<br />

(allerdings sind auch unter solchen Umständen Kreditzyklen mit prozyklischen Wirkungen<br />

möglich, welche die Auf- und Abschwungstendenzen der Wirtschaft verstärken). 497<br />

Gleichzeitig stellt er jedoch fest, dass dies „infolge der Möglichkeit, an Stelle des echten<br />

Geldes stets Geldsurrogate zu verwenden, deren Menge an die des echten Geldes nicht gebunden<br />

werden kann, … unmöglich ist“. 498 Nur bei einer „gebundenen Währung“ wie beispielsweise<br />

einer Goldwährung sind „ … verhältnismäßig geringere Gleichgewichtsstörungen zu<br />

erwarten“. 499 Dies ermöglicht eine Abstufung der Preise, womit diese Signale geben und den<br />

Produktionsprozess so lenken können, dass es zu einem Produktionsoptimum kommt, bei<br />

welchem eine Äquivalenz zwischen dem Güterangebot und der Güternachfrage erreicht wird<br />

492 Vgl. Koopmans, Johan, 1933, S. 222.<br />

493 Vgl. Koopmans, Johan, 1933, S. 265.<br />

494 Vgl. Koopmans, Johan, 1933, S. 281; vgl. Machlup, Fritz, 1977, S. 25.<br />

495 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 78.<br />

496 Vgl. Machlup, Fritz, 1977, S. 25.<br />

497 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1928, S. 60; vgl. Koopmans, Johan, 1933, S. 262.<br />

498 von Hayek, Friedrich August, 1928, S. 66.<br />

499 von Hayek, Friedrich August, 1928, S. 68.<br />

286


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

und sich konjunkturelle Auswirkungen aufgrund einer Fehlsteuerung der Produktion vermeiden<br />

lassen. 500<br />

Noch 1943 steht von Hayek im Einklang mit einer currencytheoretisch orientierten Geldordnung<br />

und befürwortet eine Waren-Reserve-Währung als stabilisierenden, automatisch wirkenden<br />

Mechanismus sowie das Monopol der Regierung zur Notenemission. 501<br />

1977 ersetzt von Hayek dieses Ziel dahin, nicht die Geldmenge, sondern den „Durchschnitt<br />

der Preise für originäre Produktionsfaktoren“ konstant zu halten, um eine weitestgehende Annäherung<br />

an das Modell des neutralen Geldes zu erreichen. 502 Aufgrund von Schwierigkeiten<br />

beim Erfassen und Messen der Preise der originären Produktionsfaktoren wird die Stabilität<br />

der Rohstoffpreise als die am besten praktikable Möglichkeit betrachtet. 503 Indem die konjunkturellen<br />

Schwankungen das Ergebnis eines Geldsystems sind, lassen sich diese – auch soweit<br />

sie über die natürlichen Schwankungen hinausgehen – nicht vollständig eliminieren.<br />

Insgesamt betrachtet tendiert von Hayek zur Auffassung, die Wirtschaft sei ohne monetär<br />

bedingte Schwankungen kaum denkbar, selbst wenn die Konjunkturschwankungen auch auf<br />

andere als monetäre Gründe zurückgeführt werden können. Selbst mit der häufig geforderten<br />

Preisniveaustabilisierung ließen sich die Schwankungen nicht gänzlich unterdrücken. 504 Dies<br />

führt zum Vorschlag des Währungswettbewerbs. 505<br />

4. Walter Eucken (der Ordoliberalismus)<br />

Der auf neoliberalen Ideen beruhende ordoliberale Geldordnungsentwurf geht von einer<br />

wettbewerblichen Koordination der Märkte mit unverfälschten relativen Preisen aus, was zum<br />

„Primat der Währungspolitik“, 506 d.h. einem wertstabilen Geld führen soll. 507<br />

„Alle Bemühungen, eine Wettbewerbsordnung zu verwirklichen, sind umsonst, solange eine<br />

gewisse Stabilität des Geldwertes nicht gesichert ist. Die Währungspolitik besitzt daher<br />

für die Wettbewerbsordnung ein Primat“. 508<br />

Die ordoliberale Geldlehre (Walter Eucken, Friedrich Lutz) knüpft damit an die Idee des<br />

neutralen Geldes von Hayeks an. Sie geht von der Bedeutung der relativen Preise als wesentlichstes<br />

Steuerungs- und Koordinationselement der Wirtschaft 509 aus und ist currencytheoretisch<br />

orientiert: Eine stabile Währung mit geringen Inflationsraten soll dazu beitragen, dieses<br />

Ziel zu erreichen. Auch bei der ordoliberalen Geldlehre soll die Unterteilung der Geldschöpfung<br />

in ein Issue-Department (Notenbank) und ein Credit-Department (Geschäftsbanken) vorgenommen<br />

werden. Um den Geschäftsbanken die Fähigkeit zur Geldschöpfung zu nehmen,<br />

soll für Sichteinlagen, wie beim sog. Chicago-Plan, eine Mindestreservepflicht von 100 Prozent<br />

bestehen. 510 Damit wird eine Trennung der Kreditgeschäfte von der Geldschöpfung gesichert.<br />

Auf eine akkommodierende Steuerung der Bankenliquidität wird verzichtet; vielmehr werden<br />

Mindestreserven zur Abschöpfung von Bankenliquidität eingesetzt. Die Hauptaufgabe der<br />

500 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1976, S. 242.<br />

501 Vgl. Dürr, Ernst-Wolfram, 1954, S. 91; vgl. Woll, Artur, 1979, S. 419.<br />

502 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 78.<br />

503 Vgl. von Hayek, Friedrich August, 1977, S. 78.<br />

504 von Hayek, Friedrich August, (1929), 1976, S. 108 und 110.<br />

505 Vgl. Kapitel 12, Ziffer V.<br />

506 Vgl. Eucken, Walter, 1952, S. 255 ff.; vgl. Issing, Otmar, 1989, S. 351-361.<br />

507 Vgl. Willgerodt, Hans, 1990, S. 129-147.<br />

508 Eucken, Walter, 1990, S. 256.<br />

509 Vgl. Eucken, Walter, 1990, S. 47 und 254.<br />

510 Vgl. Eucken, Walter, 1990, S. 260.<br />

287


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geldpolitik sieht Eucken – in Parallele zur Currency Theorie – in einer strengen Regulierung<br />

der Knappheit des Geldes im Verhältnis zum verfügbaren Güterangebot.<br />

Das Schwergewicht liegt auf der zentralbankbasierten Geldmengensteuerung der Währung,<br />

wobei als Währungsanker auch ein Warenkorb (unter anderem mit Gold) in Frage kommt. Ein<br />

Ausweg aus dem mangelnden Automatismus des Chicago-Plans mit 100 Prozent Mindestreserven<br />

liegt nach Eucken im Plan einer Waren-Reserve-Währung, dem sog. Graham-Plan von<br />

1937. 511 Dieser war ursprünglich dazu gedacht, angesichts der großen, depressionsbedingten<br />

Rohstofflager zur Stabilisierung des Angebotes, der Nachfrage und der Preise sowie der Kosten<br />

der Lebenshaltung beizutragen. Eine Agentur hätte die Aufgabe, den Preis eines ganzen<br />

Bündels von Waren durch Käufe und Verkäufe stabil zu halten. Die Knappheit dieses Warenbündels<br />

würde den Geldwert bestimmen. 512 Dadurch würde die Geldversorgung mit dem Kauf<br />

und Verkauf von Waren verbunden. Bei steigenden Preisen müsste die Agentur Waren zum<br />

fixierten Preis verkaufen, und würde damit dem Kreislauf Geld entziehen (und umgekehrt).<br />

Diskretionäre Spielräume würden verhindert und der Geldschöpfung sowie –vernichtung<br />

würden Grenzen gesetzt.<br />

Die Idee einer Warenwährung (tabular standard) wird unter anderem auch durch Ludwig von<br />

Mises vertreten und soll die Edelmetallwährung ergänzen. Ziel ist es, die Geldentwertung bei<br />

langfristigen Verträgen auszuschalten oder zu verkleinern. 513 Nicht ein Gut soll als Tauschmittel<br />

gelten, sondern „eine zu einem einheitlichen Komplex verbundene Mehrheit von Gütern“.<br />

514 In Verbindung mit dem 100 Prozent-Mindestreservenplan würde – je nach dem Preisniveau<br />

– eine Bewegung der Geldversorgung hin zum Gleichgewicht erfolgen. Kritisch ist einzuwenden,<br />

dass die Agentur nur solange Waren in die Kreisläufe bringen kann, als sie über<br />

solche verfügt, womit das System nur bei Deflation wirksam ist.<br />

Später fordert Wilhelm Röpke eine unabhängige und an der Geldwertstabilität orientierte<br />

Notenbank. Die Stabilität des Geldwertes betrachtet er als eine erste Voraussetzung für eine<br />

förderliche Wirtschaftspolitik. 515<br />

Friedrich A. Lutz erkennt als Hauptproblem der Geldordnung die Verschiedenheit der Organisationsprinzipien<br />

bei der Geldschöpfung durch die Zentralbank einerseits und der Kreditgewährung<br />

der Geschäftsbanken andererseits. Er befürwortet den Chicago-Plan und zudem,<br />

dass „Macht und Verantwortung über das Geld dem Staat zufällt, dass aber die qualitative<br />

Kreditkontrolle Sache privater, dem Wettbewerb unterworfener Institute ist“. 516<br />

Der ordoliberale Entwurf zu einer Geldordnung zeigt, insgesamt betrachtet, recht enge Parallelen<br />

zu den geldpolitischen Konzepten des neutralen Geldes, des Monetarismus und der Neuen<br />

Klassischen Makroökonomie (vgl. Abbildung 85).<br />

Als Schwachstelle des ordoliberalen Programms wird vielfach die Akzeptanz eines Monopols<br />

für das Geldwesen in einem ansonsten wettbewerblichen Umfeld betrachtet: „Das gesamte<br />

Gebäude des Ordoliberalismus droht an der Geldordnung zu zerbrechen“. 517 Widersprüchlich<br />

erscheint es, wenn vor allem die liberalen Wirtschaftspolitiker eine strenge staatliche Regulierung<br />

des Geldumlaufs befürworten. 518 Als Problem nennt Eucken denn auch die starke<br />

Machtposition der Zentralbank, welche die Geldschöpfung durch ihre Offenmarktgeschäfte<br />

511 Vgl. Graham, Benjamin, 1937.<br />

512 Vgl. Eucken, Walter, 1990, S. 261.<br />

513 Vgl. von Mises, Ludwig, 1931, S. 317.<br />

514 Vgl. von Mises, Ludwig, 1924, S. 185.<br />

515 Vgl. Röpke, Wilhelm, 1958, S. 31.<br />

516 Lutz, Friedrich A., 1962, S. 101 f.<br />

517 Blum, Reinhard, 1969, S. 81.<br />

518 Vgl. Röpke, Wilhelm, 1968 S. 139.<br />

288


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

kontrollieren kann. 519 Nicht ein Automatismus, sondern die Willkür der Zentralbank<br />

bestimme die Geldmenge. Dabei begründet Eucken die Monopolstellung der Zentralbank als<br />

einer wesentlichen Voraussetzung für eine Wettbewerbsordnung. 520 Um Willkür auszuschalten,<br />

fordert er eine Geldordnung, welche nach strengen Regeln erfolgt, und zudem automatisch<br />

funktioniert. 521<br />

Abbildung 85: Ähnlichkeiten der einzelnen Geldordnungen innerhalb der Currency Theorie<br />

Currency Theorie Goldwährung<br />

Irving Fisher Neutrales Geld<br />

(F. A. von Hayek)<br />

Ordoliberalismus Währungswettbewerb<br />

(national)<br />

Monetarismus Währungswettbewerb<br />

(international)<br />

Neue Klassische Makroökonomie.<br />

IV. Die keynesianische Lehre, die postkeynesianische Geldmengen-<br />

regel und eine neuere Interpretation des ISLM-Modells<br />

1. Die keynesianische Lehre<br />

Die „echte“, frühe keynesianische Lehre betont die Unwirksamkeit der Geldpolitik zur<br />

Steuerung des Wirtschaftsprozesses („money doesn’t matter“). Vielmehr soll mit fiskalischen<br />

(staatlichen) Massnahmen versucht werden, die wirksame (Güter-)Nachfrage zu beeinflussen.<br />

Ausgangslage dieser Auffassungen bildet die große Depression der 1930er Jahre. Die Unwirksamkeit<br />

der Geldpolitik lässt sich am Beispiel von drei Fällen demonstrieren, (1) der Liquiditätsfalle,<br />

(2) der Investitionsfalle und (3) dem Auftreten von Inflation bei einer Rechtsverschiebung<br />

der LM-Kurve.<br />

(1) Bei einer Liquiditätsfalle 522 sind geldpolitische Maßnahmen unwirksam, da die Zinsen bei<br />

einer Erhöhung der Geldmenge nicht sinken (vgl. Abbildung 86). Dies ist bei sehr tiefen<br />

(Geldmarkt-)Zinsen denkbar, welche sich selbst bei einer expansiven Geldpolitik nicht mehr<br />

senken lassen. 523 Wirksam ist nur eine Fiskalpolitik, welche die effektive Nachfrage erhöht,<br />

519 Dabei kann es zu Ausweichreaktionen der Wirtschaft in der Form einer Abwanderung der Kre-ditmärkte aus dem<br />

Bankensystem kommen. Vgl. Eucken, Walter, 1990, S. 260 f.<br />

520 Vgl. Eucken, Walter, 1990, S. 291.<br />

521 Vgl. Eucken, Walter, 1990, S. 168,<br />

522 Die erstmals durch Hicks identifizierte Liquiditätsfalle (vgl. Hicks, John, 1937, S. 109) wird durch Modigliani in Verbindung<br />

mit einer IS-Kurve gebracht, welche die LM-Kurve im waagerechten Bereich schneidet (vgl. Modigliani, Franco,<br />

1944).<br />

523 Entsprechende Erfahrungen bestehen in Japan seit den 1990er Jahren. Obwohl die Geldmarkt-zinsen durch die<br />

Bank of Japan auf annähernd null gesenkt werden, und eine enorme Liquidität entsteht, kommt es nach Mitte der<br />

1990er Jahre zu rückläufigen Veränderungsraten bei der inländischen Kreditvergabe.<br />

289


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

was zu einer Verschiebung der IS-Kurve nach IS' und des Volkseinkommens von Y* nach Y'<br />

führt. 524<br />

Abbildung 86: Die Unwirksamkeit der Geldpolitik bei einer Liquiditätsfalle<br />

i IS IS’ LM LM’<br />

0 Y* Y’<br />

Y<br />

(2) Ein weiterer Fall ist die Möglichkeit einer Unwirksamkeit der Geldpolitik beim Auftreten<br />

einer Investitionsfalle (vgl. Abbildung 87). 525 Die IS-Kurve hat in diesem Fall einen vertikalen<br />

Verlauf; die Investitionen reagieren nicht auf Zinsänderungen. Dies ist das mögliche Ergebnis<br />

einer pessimistischen Beurteilung der Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals (erwartete künftige<br />

Erträge von Investitionen). Auch in diesem Beispiel bringt eine expansive Geldpolitik (Verschiebung<br />

der LM-Kurve nach rechts) keine Wirkung im realen Bereich.<br />

Abbildung 87: Die Unwirksamkeit der Geldpolitik bei einer Investitionsfalle<br />

i IS<br />

LM<br />

0 Y* Y<br />

(3) Das Auftreten von Inflation bei einer Rechtsverschiebung der LM-Kurve: Nach einer weiteren<br />

Interpretation sind im ISLM-Modell monetäre Massnahmen wirksam, sofern damit eine<br />

Rechtsverschiebung der LM-Kurve erreicht wird (vgl. Abbildung 88). 526 In diesem Fall verschiebt<br />

sich in Folge einer expansiven Geldpolitik die LM-Kurve zur LM’-Kurve. Tritt Inflation<br />

ein, kommt es zu einer rückläufigen realen Geldmenge und einer Linksverschiebung der LM-<br />

Kurve, wobei die Geldpolitik unwirksam ist. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die Vollbeschäftigung<br />

Y* überschritten wird. Die expansive Geldpolitik bewirkt vorerst eine Verschie-<br />

524 Vgl. Tobin, James, 1971b, S. 28.<br />

525 Vgl. Tobin, James, 1947.<br />

526 Vgl. Tobin, James, 1971, S. 28.<br />

LM‘<br />

290


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

bung der LM’-Kurve zur LM’’-Kurve, die Inflation eine Rückverschiebung zur LM’-Kurve<br />

(Rückgang der realen Geldmenge). Das erneute, inflationsbedingte Ansteigen der Zinsen entspricht<br />

dem Fisherschen Preiserwartungseffekt.<br />

Abbildung 88: Die (mangelnde) Wirksamkeit der Geldpolitik bei Inflation<br />

2. Die postkeynesianische Lehre<br />

i<br />

IS LM<br />

0 Y* Y<br />

Die postkeynesianische Lehre unterstreicht die Bedeutung einer antizyklischen Geldpolitik,<br />

um die Schwankungen der Geldmenge auszugleichen, welche durch die zyklische Kreditschöpfung<br />

der Banken bei Auf- und Abschwüngen hervorgerufen wird. Auf diese Weise lässt<br />

sich das wirtschaftliche Wachstum stabilisieren. Die postkeynesianische Geldmengenregel<br />

strebt im wirtschaftlichen Abschwung eine eher grosszügige, im Aufschwung eine zurückhaltende<br />

Geldmengenpolitik an, um beim Aufschwung inflatorische Prozesse zu vermeiden.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

These:<br />

3. Eine neuere Interpretation des ISLM-Modells<br />

Die neuere Entwicklung der Interpretation des ISLM-Modells wird von William Poole 527 zusammengefasst.<br />

528 Gegeben ist das ISLM-Modell nach den Gleichungen:<br />

LM‘<br />

LM‘‘<br />

Eine antizyklische Geldpolitik gleicht - Diese These lässt sich angesichts der nicht<br />

die zyklische Kreditvergabepolitik der einheitlichen konjunkturellen Abläufe und<br />

Geschäftsbanken aus und stabilisiert der sich verändernden lag-Strukturen nicht<br />

das wirtschaftliche Wachstum. überprüfen.<br />

ΙS - Kurve : Y = α0 + α1r + u t<br />

(144)<br />

527 Vgl. Poole, William, 1970, S. 197-216.<br />

528 Vgl. Keynes/Macroeconomic Policy: In: http://cepa.newschool.edu/het/essays/keynes/ma-<br />

cropolicy.htm, Seiten 1-9.<br />

291


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

und<br />

LM - Kurve : M = β + β r + β Y + v .<br />

(145)<br />

0 1 2 t<br />

Y ist das Volkseinkommen, M die Geldmenge, r der Zinssatz, ut ein Störterm (exogene<br />

Schocks bei der Güternachfrage), ebenso v t (exogene Schocks bei der Geldnachfrage). α und β<br />

sind Koeffizienten. Nach diesen Gleichungen gibt es nur eine Zielvariable, den Output Y und<br />

nach der LM-Funktion eine instrumentelle Variable, die exogen gegebene Geldmenge M . Bei<br />

genauerer Analyse bestehen zwei monetäre Zwischengrößen, die Geldmenge M und die Zinsen<br />

r. Die instrumentale Variable ist eigentlich die von der Zentralbank gesteuerte monetäre<br />

Basis, wobei die Geldmenge mit der monetären Basis über den Geldschöpfungsmultiplikator<br />

und die Zinsen r verbunden ist.<br />

Das Ziel der Geldpolitik besteht in einer Minimierung des Erwartungswertes E der Abweichungen<br />

des tatsächlichen Outputs Y vom Gleichgewichtsoutput Y*:<br />

( ) 2<br />

E Y - Y * = min! (146)<br />

Symmetrische Schocks sind in den Auswirkungen für alle Länder ähnlich und korrelieren<br />

positiv zueinander. Eine negative Korrelation ergibt sich bei asymmetrischen Schocks, welche<br />

länderspezifisch unterschiedliche Wirkungen haben. Je erheblicher ein Schock ist, desto größer<br />

sind dessen Auswirkungen.<br />

Bei Schocks hat die Zentralbank die Möglichkeit, (1) die Geldmenge, (2) die Zinsen oder (3)<br />

beides zu steuern.<br />

(1) Bei vorwiegenden Schocks im Bereich der Güternachfrage empfiehlt sich eine Steuerung<br />

der Geldmenge. Verfolgt die Zentralbank eine solche Strategie, lassen sich die beiden Gleichungen<br />

für IS und LM über den Zins r zusammenfügen. Unter Berücksichtigung der Zielfunktion<br />

( ) 2<br />

E Y - Y * = min! ergeben sich bei der Strategie einer optimalen Geldmengenentwicklung<br />

2<br />

2<br />

Outputabweichungen ( σ Y ), welche von der Volatilität der Güternachfrage σ ut und der Geld-<br />

2<br />

nachfrage σ vt abhängen (exogene Schocks).<br />

σ<br />

β σu + α σ v<br />

=<br />

2 2 2 2<br />

2 1 t 1 t<br />

Y 2<br />

( β + α β )<br />

1 1 2<br />

.<br />

Eine Geldmengensteuerung bewirkt eine „normal“ verlaufende LM-Kurve, welche die Outputschwankungen<br />

dämpft, indem diese teilweise durch Zinsänderungen kompensiert werden.<br />

(2) Leidet die Wirtschaft unter Schocks der Geldnachfrage, ist eine Steuerung der Zinssätze<br />

vorzuziehen. Verfolgt die Zentralbank eine Zinsstrategie, lässt sich die LM-Gleichung vernachlässigen,<br />

weil die Geldmenge im Hinblick auf eine Veränderung der Zinsen angepasst wird.<br />

Die Zentralbank kann sich damit auf die IS-Gleichung konzentrieren, und einen optimalen<br />

Zinssatz setzen:<br />

r* = ( α − y *) / α ,<br />

(148)<br />

0 1<br />

wobei y * die Zielfunktion für das Wachstums des Outputs darstellt.<br />

2<br />

Als Varianz des Outputs σY ergibt sich<br />

2<br />

σ<br />

2<br />

= σ u ,<br />

(149)<br />

Y t<br />

292<br />

(147)


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

293<br />

womit die Schwankungen des Outputs 2<br />

σ u nur noch auf Nachfrageschocks im Güterbereich<br />

zurückzuführen sind.<br />

t<br />

Bei einer Zinssteuerung sind Schocks auf die Geldnachfrage, welche sich auf die Zinsen<br />

auswirken, ausgeschlossen. Dabei führt die Zinssteuerung zu einer horizontalen LM-Kurve,<br />

womit Nachfrageschocks im Güterbereich erhebliche Auswirkungen auf die Volatilität des<br />

Outputs haben.<br />

(3) Nachdem die Wirtschaft in der Regel sowohl unter Schocks der Geldnachfrage als auch unter<br />

solchen bei der Güternachfrage leidet, erscheint eine kombinierte Strategie der Steuerung<br />

sowohl der Geldmengen als auch der Zinsen sinnvoll. Die Zinsen werden in diesem Fall innerhalb<br />

eines gewissen Bereichs volatil gehalten. Die LM-Kurve verläuft damit nicht ganz so<br />

steil wie bei einer Geldmengensteuerung. Eine solche Geldmengenpolitik führt zu einer Vola-<br />

2<br />

tilität von σ u , und ist<br />

t<br />

geringer als bei den beiden „reinen“ Strategien. Es handelt sich um den im Zusammenhang mit<br />

dem ISLM-Modell oft beschworenen Instrumentenmix.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Bei einer Geldmengenpolitik ergeben - Diese These trifft weitgehend zu.<br />

sich Outputschwankungen, welche von<br />

der Volatilität der Güternachfrage und<br />

der Geldnachfrage abhängen.<br />

2. Bei einer Zinssteuerung hängen die - Diese These trifft zu.<br />

Outputschwankungen von den Nach-<br />

frageschwankungen im Güterbereich ab.<br />

3. Bei einer kombinierten Strategie - Die Ergebnisse hängen von den gewähl-<br />

(Steuerung der Geldmengen und ten geldpolitischen Strategien ab und sind<br />

der Zinsen) lassen sich die Output- nicht à priori überlegen.<br />

schwankungen minimieren.<br />

Indem die Zentralbank ihre Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen hat, muss für eine<br />

optimale Geldpolitik oft auf vergangene Informationen zurückgegriffen werden. Die Schwankungen<br />

des Outputs können sowohl aus einem Geldnachfrageschock als auch aus einem Nachfrageschock<br />

im Güterbereich resultieren. Eine vergangenheitsbezogene Analyse der beiden<br />

Arten von Schocks hinsichtlich ihrer Stärke und zeitlichen Frequenz erscheint in diesem Zusammenhang<br />

notwendig. Zudem sind die Interdependenzen zwischen den beiden Arten von<br />

Schocks zu untersuchen. Dabei können sich Irrtümer einstellen. Aufgrund solcher Analysen<br />

ergeben sich jedoch in der Regel bessere Ergebnisse als bei einem „blinden“ Instrumentenmix.<br />

Exkurs: Hinweis zu den Schocks<br />

Allgemein betrachtet können Schocks nach deren Verursachung originär oder politisch bedingt<br />

sein: Originäre Schocks sind beispielsweise Änderungen der Verbraucherpräferenzen,


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

neue Produkte und Produktionstechnologien (Produktivitätsschocks), Änderungen bei den<br />

Produktionsfaktoren (Arbeit, Sachkapital, Humankapital, Rohstoffe einschließlich erheblicher<br />

Verschiebungen der relativen Preise wie Ölpreisschocks). Politische Schocks sind ordnungs-<br />

oder fiskalpolitischer Natur.<br />

Zudem lässt sich zwischen Nachfrage- und Angebotsschocks unterscheiden: Nachfrageschocks<br />

sind beispielsweise veränderte Konsumentenpräferenzen oder auch unerwartete Änderungen<br />

der Staatsausgaben; Angebotsschocks sind plötzliche Veränderungen der Produktionsbedingungen.<br />

529 Negative Angebotsschocks kommen durch Missernten, Streiks, Naturkatastrophen,<br />

Epidemien und politische Erschütterungen zustande. Bedeutsame Beispiele sind<br />

die beiden Ölkrisen von 1973/74 und 1979, welche ebenfalls das Interesse an Angebotsschocks<br />

weckten. Positive Angebotsschocks entstehen durch technologische Innovationen, große Ernten<br />

und ein starkes Absinken der Erdölpreise (wie beispielsweise 1986). Angebotsschocks haben<br />

Auswirkungen auf das Einkommen, den Konsum (Nachfrageschocks), die Preise, Zinsen<br />

und Löhne.<br />

Es gibt temporäre (vorübergehende) und permanente (dauernde) Schocks: Temporäre<br />

Schocks haben nur kurzfristige Auswirkungen in Form von Abweichungen von der langfristigen<br />

Entwicklung; permanente Schocks sind von dauerhafter Wirkung, zwingen die Wirtschaft<br />

zu Anpassungen und führen zu neuen Entwicklungen. Insofern können Nachfrageschocks<br />

langfristig auch zu Angebotsschocks führen.<br />

V. Die monetaristische Geldpolitik<br />

Der Monetarismus hat seine Wurzeln in der Currency Theorie, welche auf quantitätstheoretischen<br />

Überlegungen basiert, sowie auf Vorarbeiten von Henry C. Simons (1934,<br />

1936, 1948) und Lloyd Mints (1945, 1950) der frühen Chicago Schule. Zudem enthält der sog.<br />

Monetarismus I zahlreiche Ansätze von Irving Fisher; dazu zählen die Quantitätstheorie des<br />

Geldes, die Geldmengenregel und das Ziel der Preisniveaustabilität.<br />

Noch 1948 postuliert Friedman eine antizyklische Geldpolitik mit einer expansiven Geldmengenpolitik<br />

während Phasen der Rezession (und umgekehrt). Es fehlen Überlegungen zum<br />

Verhalten der Tarifpartner, welche einen maßgeblichen Einfluss auf die Inflationsraten haben.<br />

1953 schlägt Friedman eine Reform des Geld- und Kreditwesens vor, welche der Kontrolle<br />

der Geldmengen und der Verhinderung der privaten Geldschöpfung sowie –vernichtung dienen<br />

soll. 530 Kernpunkte sind eine Mindestreserve von 100 Prozent auf die Bankeinlagen, ebenso<br />

in Anlehnung an den Chicago-Plan 531 eine Trennung des Bankeinlagen- und des Kreditgeschäftes.<br />

Hinzu kommen Vorschläge für die Gestaltung des Fiskalwesens. Diese enthalten im<br />

Wesentlichen eine Begrenzung der staatlichen Bereitstellung von Gütern und Dienstleistungen<br />

auf die Bedürfnisse der Gesellschaft und die Bereitschaft, dafür zu bezahlen.<br />

1959 lässt Friedman mit dem „Program for Monetary Stability“ die Idee einer antizyklischen<br />

Geldmengenpolitik fallen und bevorzugt eine konstante Geldmengenregel. An die Stelle des<br />

Versuches einer Abschwächung der realen Zyklen soll eine strikte Geldmengenregel für ein<br />

Wachstum im Sinne des steady state (gleichgewichtiges Wachstum) treten.<br />

529 Vgl. zu diesen Ausführungen Barro, Robert J., 1992, S. 133 f.<br />

530 Vgl. Friedman, Milton, 1953, S. 135 ff.<br />

531 Vgl. zum Chicago-Plan Simons, Henry C., 1934.<br />

294


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die monetaristische Bewegung erreicht ihren Höhepunkt in den späten 1970er und frühen<br />

1980er Jahren und hat nach wie vor einen Einfluss auf die Geldpolitik. 532 Kernpunkt der monetaristischen<br />

Geldpolitik ist die Steuerung der Geldmengen. Die monetaristische Geldpolitik ist<br />

als geldpolitische „Gegenkonzeption“ zum Keynesianismus gedacht, wobei sich die Kritik in<br />

erster Linie auf eine rein güterwirtschaftliche Betrachtung und weniger auf das ISLM-Modell<br />

bezieht, bei welchem der monetäre Bereich LM den güterwirtschaftlichen Bereich IS in Balance<br />

hält.<br />

Im Gegensatz zur keynesianischen Theorie der Geldpolitik, welche in erster Linie die Bedeutung<br />

der Zinssteuerung betont, postuliert der Monetarismus die Betrachtung der Geldmengen,<br />

um auch der Wertaufbewahrungsfunktion des Geldes bzw. der Liquidität der Wirtschaft<br />

Rechnung zu tragen. Während Keynes dazu tendiert, die Inflation mit einer Zinserhöhung zu<br />

bremsen, 533 widerspricht der Monetarismus einer zinspolitischen Steuerung durch die Zentralbank:<br />

„Der monetaristische Ansatz betont die Unzuverlässigkeit von nominalen Zinsänderungen<br />

als ökonomische Indikatoren, und zwar wegen ihrer Beeinflussung durch Preiserwartungen,<br />

der Ansatz konzentriert sich statt dessen auf Änderungen der Geldmenge, die von der<br />

geldpolitischen Instanz kontrolliert wird und deren Bedeutung theoretisch klar ist“. 534<br />

Nach Auffassung von Milton Friedman kann die Geldpolitik die realen Größen, so vor allem<br />

auch die reale Zinsrate, nicht kontrollieren. Im Gegensatz zur Auffassung einfacher strukturierter<br />

keynesianischer Modelle lassen sich die Zinsen durch monetäre Maßnahmen nur für<br />

eine sehr beschränkte Zeit tief halten, was sich an den Misserfolgen einer Politik des „billigen<br />

Geldes“ zeigt.<br />

Friedman betrachtet den Versuch, die Kapitalmarktzinsen durch eine expansiv wirkende<br />

Geldpolitik zu senken, als einen Fehler. 535 Innerhalb eines oder zweier Jahre kehren die Zinsen<br />

auf das Ursprungsniveau zurück und steigen darüber hinaus. Bei einem steigenden Preisniveau<br />

werden die Zinsen durch die Wirkungen des Fisherschen Preiserwartungseffektes sogar<br />

auf einem höheren als dem Ursprungsniveau verweilen. Der Fishersche Preiserwartungseffekt<br />

stellt sich langsam ein und verschwindet auch nur langsam; Friedman sieht die Auffassung von<br />

Fisher bestätigt, wonach die entsprechenden Anpassungseffekte Jahrzehnte dauern können.<br />

Dabei kommt es zu zyklischen Anpassungsprozessen.<br />

Hohe Zinsen sind deshalb die Wirkung einer expansiven Geldpolitik (et vice versa), was einer<br />

Umkehr der bisherigen Auffassungen entspricht. 536 Die Höhe der Zinsen ist, im Gegensatz<br />

etwa zu den Wechselkursen oder der Geldmengenentwicklung, ein falscher Indikator für eine<br />

expansiv oder eine kontraktiv wirkende Geldpolitik.<br />

Langfristig kann die Zentralbank auch das Niveau der Arbeitslosigkeit nicht kontrollieren,<br />

sondern nur die nominalen Geldgrößen, wie beispielsweise die Inflationsrate und die Geldzinsraten.<br />

537 Eine falsche Geldpolitik kann vorübergehend reale Effekte haben, aber nicht zu<br />

einem Aufschwung führen. 538<br />

532 Die Grundlage dieser Ausführungen bildet der Artikel „Monetarist Economic Policy“, Quelle:<br />

http://cepa.newschool.edu/het(essays/monetarism/mpolicy.htm, S. 1-8.<br />

533 „I would recommend a stiff dose of dear money … . I would go for a financial crisis … put interest rates at whatever<br />

level is necessary and leave them there for three years … “ (Keynes, John M., zitiert nach Susan Howson, 1982, S. 2).<br />

534 Johnson, Harry G., 1974, S. 29.<br />

535 Vgl. Friedman, Milton, 1968, S. 5.<br />

536 Vgl. Friedman, Milton, 1968, S. 7.<br />

537 Vgl. Johnson, Harry G., 1974, S. 44.<br />

538 Vgl. Kaldor, Nicholas, 1970, S. 44.<br />

295


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der Monetarismus geht von der inhärenten Stabilität sowohl der Konsum- als auch der<br />

Geldnachfrage aus. Selbst vorübergehende Einkommensschocks beeinflussen das permanente<br />

Einkommen nicht. Eine diskretionäre Geldpolitik führt zu einer zyklischen Entwicklung der<br />

Geldmenge und löst damit Geldeffekte im Konsum- und Investitionsbereich aus, was die Tendenz<br />

zu einem stabilen Konsumnachfrageverhalten beeinträchtigt und damit auch die wirtschaftlichen<br />

Prozesse destabilisiert. Zur Überwindung stagflationärer Tendenzen reicht eine<br />

„gut konzipierte Geldpolitik“ im Rahmen eines funktionsfähigen marktwirtschaftlichen Systems“<br />

aus: „ … that monetary policy can prevent money itself from being a major source of<br />

economic disturbance“. 539<br />

Die unterstellte Stabilität des privaten Sektors, welche auch in einer stabilen Geldnachfrage<br />

zum Ausdruck kommt, soll nicht durch eine diskretionäre Geldpolitik beeinträchtigt werden.<br />

Wird der Geldnachfrage eine höhere Stabilität beigemessen als der Investitions- und Konsumfunktion,<br />

erscheint die Geldpolitik effizienter als die Fiskalpolitik. 540 Damit kann die Geldpolitik<br />

verhindern, dass das Geld selbst primäre Ursache für wirtschaftliche Störungen wird. 541<br />

Eine weitere Aufgabe der Geldpolitik besteht in der Sicherung eines stabilen Preisniveaus, auf<br />

welches sich die Wirtschaftssubjekte verlassen können. 542 Dies lässt sich nur mit einer langfristig<br />

orientierten Geldmengenpolitik erreichen.<br />

Kernelement der monetaristischen Geldpolitik ist die Geldmengenregel. Der monetaristische<br />

Ansatz setzt den Hauptakzent auf die erklärende und kontrollierende Kraft von Geldmengenänderungen<br />

als Navigationssystem der Geldpolitik. 543 Nach Auffassung des Monetarismus<br />

soll die Geldmenge als geldpolitisches Zwischenziel durch die Zentralbank kontrolliert<br />

werden, um dadurch auf das wirtschaftliche Geschehen Einfluss zu nehmen.<br />

Friedman befürwortet eine regelgebundene, am wirtschaftlichen Potential orientierte Geldmengenentwicklung.<br />

Die Geldmengenstrategie beruht auf der neoklassischen Quantitätsgleichung<br />

gemäß Gleichung (3):<br />

M × v = Y ×<br />

P.<br />

Die Fishersche Verkehrsgleichung (die eine reine Identitätsgleichung darstellt), lässt sich<br />

auch in Form von Wachstumsraten g ausdrücken:<br />

g M = g v + g Y + g P ,<br />

(150)<br />

mit gM als der Wachstumsrate der Geldmenge, gv der Veränderung der Umlaufgeschwindigkeit<br />

des Geldes, Y g der Wachstumsrate des realen Volkseinkommens und gP der Wachstumsrate der<br />

Preise (Inflationsrate).<br />

Der Monetarismus unterstellt eine stabile Beziehung zwischen der Geldmenge und dem<br />

nominellen Volkseinkommen. Deshalb wird eine regelgebundene Geldpolitik der Zentralbank<br />

gefordert, welche sich am geschätzten Potentialwachstum orientiert. Um die Inflation<br />

kontrollieren zu können, muss sich das Wachstum der Geldmenge an den Größen gY (Wirtschaftswachstum),<br />

gP (gewünschte Inflationsrate) und gv (vorausgeschätzte Veränderung der<br />

Umlaufgeschwindigkeit des Geldes) ausrichten. Berücksichtigt werden sollen auch institutionelle<br />

Veränderungen (so etwa eine stärkere Arbeitsteilung, was zu einer Mehrnachfrage nach<br />

Transaktionsmitteln führt). Um die Inflation zu kontrollieren und eine mögliche Deflation zu<br />

539 Friedman, Milton, 1968, S. 12.<br />

540 Vgl. Friedman, Milton, 1970b, S. 92.<br />

541 Friedman, Milton, 1974, S. 324.<br />

542 Friedman, Milton, 1974, S. 326.<br />

543 Vgl. Johnson, Harry G., 1974, S. 26f.<br />

296


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

verhindern, schlägt Friedman ein Geldmengenwachstum in der Größenordnung von drei bis<br />

fünf Prozent vor. 544<br />

Beispiel von Karl Brunner* für die Festlegung des Geldmengenwachstums (auf Jahresbasis):<br />

Die Abnahme der Umlaufgeschwindigkeit gv durch eine erhöhte Arbeits-<br />

teilung in der Wirtschaft erfordert ein Geldmengenwachstum von + 1 %<br />

Inflation gP + 1-1 ½ %<br />

Wachstum des Bruttoinlandsproduktes gY + 2 ½ %<br />

= Erhöhung der Geldmenge gM = 4 ½ - 5 %.<br />

* Vgl. Brunner, Karl, 1984, S. 23.<br />

Empirischer Hinweis für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Die Geldpolitik soll unabhängig von aktuellen Ereignissen durchgeführt werden. Der Monetarismus<br />

bejaht die Fähigkeit des wirtschaftlichen Systems, Schocks zu absorbieren und die<br />

interne dynamische Stabilität des Systems zu sichern. Zudem erzeugen geldpolitische Maßnahmen<br />

ihrerseits Schocks, welche die ursprünglichen Schocks verstärken können. Die Grundlage<br />

dieser Auffassung bildet u.a. die Studie mit Anna Schwartz (1963) für die Jahre 1867-1960.<br />

Zu den wesentlichen Feststellungen zählen die erheblichen und unterschiedlich großen zeitlichen<br />

lags zwischen einem Output-Schock und den Informations- sowie Entscheidungsprozessen<br />

der Zentralbank. Diese lags sind auch das Ergebnis von Bestrebungen, geldpolitische<br />

Irrtümer zu vermeiden. Hinzu kommen die Wirkungslags von geldpolitischen Maßnahmen,<br />

bis beispielsweise der Kreditmechanismus zu wirken beginnt und die Investitionen sowie<br />

der Output steigen. Damit ist die Gefahr verbunden, dass die geldpolitischen Maßnahmen<br />

erst eintreten, wenn bereits ein Aufschwung eingesetzt hat und die Geldpolitik eine prozyklische<br />

Wirkung entfaltet, was zu erheblichen inflationären Prozessen führen kann. Eine konstante<br />

Geldmengenregel erscheint auch angesichts der unterschiedlich großen Wirkungslags der<br />

Geldpolitik (von wenigen Monaten bis zu zwei Jahren) bessere Ergebnisse zu bringen als eine<br />

Zinssteuerung.<br />

Die Idee der Geldmengenpolitik der Zentralbank tritt an die Stelle des Goldstandards und<br />

den Vorstellungen zu Warenwährungen, welche in den 1930er Jahren im Vordergrund der Betrachtung<br />

stehen. Der Monetarismus geht davon aus, dass Fluktuationen des Geldangebotes<br />

die realen wirtschaftlichen Zyklen zusätzlich verstärken. In Verbindung mit flexiblen Arbeitsmärkten<br />

und kompetitiven Gütermärkten sollte sich bei wirtschaftlichen Zyklen jeweils<br />

wieder eine rasche Annäherung an das wirtschaftliche Gleichgewicht ergeben.<br />

544 Vgl. Friedman, Milton, 1967, S. 158 f.<br />

Durchschnittliche Veränderung<br />

auf Jahresbasis (M 1)<br />

Abnahme der Umlaufsgeschwindigkeit gv ca. + 4,0 %*<br />

Inflation gP + 2,1 %<br />

Wachstum des Bruttoinlandsproduktes gY + 1,5 %<br />

= Erhöhung der Geldmenge gM = 7,6 %.<br />

* Führt zu einem höheren Geldmengenbedarf.<br />

297


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der Zentralbank möchte Friedman keine größere Unabhängigkeit gewähren, um deren Möglichkeiten<br />

für eine willkürliche Geldpolitik nicht zu erhöhen. Er betrachtet die konstitutionelle<br />

Verankerung einer strikten, langfristig orientierten Geldmengenregel als erforderlich. Eine<br />

konstante Rate des Geldmengenwachstums<br />

„ … wird nicht vollständige Stabilität schaffen, sie wird nicht den Himmel auf Erden herbeiführen,<br />

aber sie kann einen wichtigen Beitrag für eine stabile Volkswirtschaft leisten“.<br />

545<br />

Die Kritik entzündet sich an der Frage, ob das Federal Reserve System das Geldmengenwachstum<br />

überhaupt kontrollieren kann und, wenn ja, welches Geldmengenaggregat<br />

kontrolliert werden müsste. Auch Tobin widerspricht der Auffassung von Friedman, wonach<br />

sich die Geldmengen steuern lassen: 546<br />

„It will suffice to remark at the outset that I clearly do not subscribe the prevalent view<br />

that what the central bank does is to control the money supply, which in turn determines<br />

money income and prices. I would say instead that the central bank controls some shortterm<br />

money-market interest rates and/or reserve aggregates and that these variables simultaneously<br />

affect other interest rates and financial quantities, GNP expenditures, and<br />

money aggregates”. 547<br />

Vielmehr geht Tobin davon aus, dass die Geldpolitik der Zentralbank in erster Linie den<br />

Wert des Vermögens und die Kreditschöpfung beeinflusst. Grenzen für die Steuerung der einzelnen<br />

Geldmengenaggregate mit Mitteln der Geldpolitik ergeben sich vor allem durch die<br />

Bedeutung dieser Geldmengenaggregate, welche nicht nur als Transaktionskasse, sondern<br />

auch als Vermögensanlage gehalten werden. Deren Steuerung ist nach den bisherigen Erfahrungen<br />

kaum möglich.<br />

Deshalb stellt sich die Frage nach der Möglichkeit einer regelgebundenen Veränderung<br />

nicht der Geldmengen, sondern der monetären Basis bzw. der Liquiditätszuführung durch die<br />

Zentralbank, zumal sich diese Aggregate besser steuern lassen. Die zur Verfügung gestellte<br />

monetäre Basis hat ebenfalls einen kausalen Einfluss auf die Entwicklung des Preisniveaus.<br />

Eine regelgebundene, potential-orientierte Steuerung der monetären Basis schränkt den Zugang<br />

zur Zentralbankliquidität ein und hält diese knapp, was den monetären Spielraum für<br />

eine Ausdehnung der Geld- und Kreditmenge sowie Preis- und Lohnerhöhungen bzw. inflationäre<br />

Prozesse à priori begrenzt. Dies kann wesentlich vorteilhafter sein als nachträgliche<br />

geldpolitische Maßnahmen, wenn die Inflation bereits aufgetreten ist. Eine Kontraktion der<br />

monetären Basis und/oder Zinserhöhungen führen in diesem Fall vorerst zu einer weiteren<br />

Verschärfung der Inflation und erst später zu einer Beruhigung der Preisentwicklung.<br />

In jedem Fall zeigen sich bei einer diskretionär angelegten Steuerung der Geldmengen erhebliche<br />

Nachteile: Im Falle einer expansiven Erhöhung der monetären Basis wird der Spielraum<br />

für inflationäre Prozesse durch Preis- und Lohnerhöhungen geschaffen, bei einer Kontraktion<br />

zur Dämpfung der Inflationsraten werden die Geschäftsbanken und die Nichtbanken<br />

durch die Liquiditätsverengung einem monetären Schock ausgesetzt. Im Falle einer Verknappung<br />

der Liquidität treten zudem Insolvenzrisiken auf. Indem die Funktion eines „lender of<br />

last resort“ der Zentralbank dabei verloren geht, werden der Bankenbereich und die Nichtbanken<br />

im Falle einer Liquiditätsverengung einem Schock ausgesetzt, welcher eine Liquiditätszuführung<br />

durch die Zentralbank erzwingen kann, was wiederum die Geldmengenregel unglaubwürdig<br />

werden läßt.<br />

545 Friedman, Milton, 1973, S. 68.<br />

546 Vgl. Tobin, James, 1978, S. 421-431.<br />

547 Tobin, James, 1978, S. 421.<br />

298


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Ein weiteres Gegenargument gegen die Steuerung der monetären Basis sind die Endogenität<br />

und die Elastizität des Geldschöpfungsmultiplikators. Wie die Erfahrungen in den 1970er<br />

und 1980er Jahren zeigen, können sich bei einer Verknappung der Zentralbankliquidität erhebliche<br />

Veränderungen der Geldumlaufgeschwindigkeit ergeben. Um die Endogenität der<br />

Geldmengenentwicklung zu vermeiden, wären äußerst restriktive geldpolitische Maßnahmen<br />

erforderlich. Als Folge einer Steuerung dieser Geldmengenaggregate sind zudem Geldinnovationen<br />

durch die Geschäftsbanken und die Finanzintermediäre zu erwarten, deren Dynamik<br />

und Wirkungen schwer vorauszusehen sind.<br />

In den frühen 1980er Jahren und auch danach kommt es zu starken monetaristischen Strömungen<br />

in der Geldpolitik in den westlichen Industrieländern, was unter anderem zur Geldmengensteuerung<br />

an Stelle der bisherigen Steuerung der Zinssätze führt. Vor allem die USA<br />

und das Vereinigte Königreich mit Margret Thatcher sprechen sich für eine monetaristische<br />

Geldpolitik aus. Die Reduktion des Wachstums der Geldmengen zur Dämpfung der damals<br />

hohen Inflationsraten bewirkt allerdings vorerst eine Erhöhung der Arbeitslosigkeit und erst<br />

später sinkende Zinsen, verbunden mit einem lange andauernden wirtschaftlichen Aufschwung.<br />

Mit der Zielsetzung wertstabilen Geldes, der Stabilisierung der Erwartungen der<br />

Wirtschaftssubjekte und der Geldmengensteuerung wird der Monetarismus zu einem wesentlichen<br />

Meilenstein in der Entwicklung der Geldpolitik.<br />

Obwohl sich seit Beginn der 1990er Jahre ein schwächerer Zusammenhang zwischen der<br />

Geldmengenentwicklung und den Inflationsraten zeigt, lässt sich die geldpolitische Lehre von<br />

Friedman nicht grundsätzlich widerlegen. 548 Eine zu expansive monetäre Politik ist nach wie<br />

vor die Ursache für das Entstehen von Inflation. Das Geldmengenwachstum und die Inflationsrate<br />

hängen langfristig betrachtet zusammen. Erschwert wird eine Prognose der Inflationsrate<br />

durch Preisschocks, welche die Voraussage der Wirkungen der Geldpolitik erschweren.<br />

Unter dem Einfluss einer bewussteren Geldmengenpolitik hat die Varianz der Wachstumsrate<br />

der Geldmenge in den vergangenen drei Jahrzehnten abgenommen, was nicht ohne Einfluss<br />

auf die Entwicklung des Preisniveaus blieb. Sollten die Inflationsraten eines Tages erneut steigen,<br />

wird auch der monetaristischen Geldpolitik wieder eine erhöhte Bedeutung zukommen.<br />

Exkurs: Die optimale Inflationsrate<br />

Im Sinne eines Exkurses stellt sich im Zusammenhang mit der Geldmengensteuerung die<br />

Frage nach der optimalen Inflationsrate. 549 Friedman geht von folgenden Überlegungen aus: Ein<br />

Wirtschaftssubjekt hält Bonds und Geld. Die Bonds ergeben Zinsen von i (im Gegensatz zur<br />

zinsfreien Kassenhaltung). Die Opportunitätskosten, zinsloses Geld zu halten, entsprechen<br />

den Zinsen bei einer alternativen Anlage. Angesichts des Zinsverzichts bei der Kassenhaltung<br />

geht das Wirtschaftssubjekt, welches Kasse hält, von einem „versteckten“ Nutzen der Kassenhaltung<br />

aus. Das Geld hat offenbar einen Nutzen, welchen andere Vermögensgüter wie Bonds<br />

nicht vermitteln (beispielsweise ein hoher Grad an Liquidität). Der Grenznutzen des Geldes<br />

liegt beim Nutzen der letzten Einheit des gehaltenen Geldes. In einer vereinfachten Form sollen<br />

nun die (negativen) Wohlfahrtswirkungen der Inflation erläutert werden.<br />

Abbildung 89 zeigt die Verbraucherrente bei einer gegebenen Geldnachfragefunktion M D .<br />

Gehen wir in der Ausgangslage von einem Zins von i aus, so hält das Wirtschaftssubjekt eine<br />

reale Geldmenge von ( M/P ) . Sinkt der Zins auf r , so hält das Wirtschaftssubjekt eine reale<br />

i<br />

548 Vgl. zu den nachfolgenden Ausführungen von Hagen, Jürgen, 2003, Blatt 23.<br />

549 Vgl. Friedman, Milton, 1969a.<br />

299


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geldmenge von ( ) r<br />

M/P , und gelangt dadurch in den Genuss einer Verbraucherrente im<br />

Ausmaß der dunkelgrau unterlegten Fläche.<br />

Daraus lassen sich die Wohlfahrtsverluste der Inflation ableiten. Wird mit i der nominelle<br />

und mit r der reale Zinssatz bezeichnet, entspricht die Differenz zwischen den beiden Zinssät-<br />

zen der Inflationsrate i - r = ̟ . Bei einem Zinssatz von r wird die Geldmenge ( M/P ) nachge-<br />

r<br />

fragt, bei einem Zinssatz von i die Geldmenge ( M/P ) . Daraus ergibt sich ein Wohlfahrtsver-<br />

i<br />

lust in Höhe der dunkelgrau unterlegten Fläche. Daraus lässt sich ableiten, dass die Wirtschaftssubjekte<br />

bei Inflation (Zinssatz i ) zufolge des Inflationseffektes auf die nominellen<br />

Zinssätze weniger Geld halten und dadurch einen Wohlfahrtsverlust erleiden, welcher der<br />

dunkelgrau unterlegten Fläche entspricht.<br />

Um den Wohlfahrtsverlust zu vermeiden, müsste die Inflationsrate ̟ auf null gesenkt werden,<br />

womit i = r wäre und eine reale Geldmenge von (M/P)r nachgefragt würde.<br />

Abbildung 89: Die Wohlfahrtskosten der Inflation und die optimale Geldmenge<br />

i, r<br />

i<br />

r<br />

π '<br />

π<br />

MD<br />

0 (M/P) i (M/P) r (M/P) 0 (M/P)<br />

Ein noch größerer Wohlfahrtsgewinn würde sich ergeben, wenn i auf null gesenkt würde,<br />

wofür eine negative Inflationsrate von ̟ ' = −r<br />

erforderlich wäre. Beträgt der nominelle Zinssatz<br />

null, steigt die reale Geldnachfrage auf (M/P)0. Dies wird durch die Distanz ππππ’ zwischen r und 0<br />

angezeigt. Eine negative Inflationsrate von ππππ’ ist unter diesen Aspekten die optimale Inflationsrate.<br />

Damit erhöht sich der Wohlfahrtsgewinn der zusätzlichen realen Geldnachfrage um<br />

die hellgrau unterlegte Fläche. Die optimale Geldmenge ist demzufolge jene, welche Opportunitätskosten<br />

(hinsichtlich der nominellen Zinsen) von null auferlegt.<br />

Friedman postuliert deshalb als (eine weitere) Chicago-Regel eine sukzessive Reduktion der<br />

Geldmenge, bis die nominellen Zinsen null betragen. Die realen Zinsen minus die Inflationsraten<br />

müssten in diesem Fall ebenfalls null betragen: i = r - ̟ = 0. Nach den Regeln der Quantitätstheorie<br />

ergäbe sich eine Wachstumsrate der Geldmenge von gM=ππππ, wobei diese mit gM=-r<br />

negativ wäre, um die gewünschte negative Inflationsrate zu erhalten. Bei einer noch stärkeren<br />

Begrenzung des Geldmengenwachstums spricht Friedman von einer „ineffizienten“ Geldpolitik,<br />

weil die Zentralbank das Geld praktisch zu Nullkosten emittieren kann.<br />

Eine etwas modifizierte Version dieser Chicago-Regel verlangt, die Kasse solle einen Ertrag<br />

abwerfen, welcher der Zeitpräferenz entspricht. 550, 551 Nach Jürg Niehans lässt sich allerdings<br />

550 Vgl. zum Begriff der Zeitpräferenz Kapitel 5., Ziffer IV.1.<br />

300


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

der Nachweis eines wohlfahrtsökonomischen Vorteils durch eine Verzinsung der Kasse<br />

nicht erbringen. Einzelne Individuen werden davon profitieren, andere werden verlieren, wobei<br />

die Wirkung per saldo unsicher ist. Zudem könnte die Nachfrage nach Geldmitteln unersättlich<br />

werden, womit kein Gleichgewicht zustande kommen würde. 552<br />

Edmund S. Phelps (1972, 1973) kritisiert die Idee einer optimalen Inflationsrate. Die damit<br />

verbundene Inflationssteuer stellt für die Wirtschaftssubjekte zwar einen Wohlfahrtsverlust<br />

dar. Über die Inflationssteuer kann der Staat jedoch verfügen, was bei einer wohlfahrtsökonomischen<br />

Analyse ebenfalls zu berücksichtigen ist. Diese Chicago-Regel sei deshalb möglicherweise<br />

nicht optimal. Die den Wirtschaftssubjekten auferlegte Inflationssteuer müsse deshalb<br />

auch unter finanzwissenschaftlichen Aspekten analysiert werden.<br />

Zu beachten ist, dass bereits eine relativ geringe Inflationsrate zu einer Inflationsspirale eskalieren<br />

kann. Andererseits sind auch die Gefahren und Kosten einer Deflation zu betrachten,<br />

welche mit einer kontraktiven Geldmengenpolitik verbunden sind.<br />

VI. Die neokeynesianische Lehre<br />

Mit der neokeynesianischen Lehre von James Tobin (sog. Yale-School) soll bewusst eine Alternative<br />

zur monetaristischen Lehre aufgezeigt werden. 553 Tobin wendet sich vor allem gegen<br />

die monetaristische Auffassung, wonach die Zentralbank das Geldangebot kontrollieren soll,<br />

um damit das nominelle Geldeinkommen und die Preise zu steuern. Vielmehr kontrolliere die<br />

Zentralbank die kurzfristigen Geldmarktzinsen und/oder die Zentralbankliquidität bei den Ge<br />

schäftsbanken („reserve aggregates“), was simultan die weiteren Zinsen, die Liquidität des<br />

Geldsystems, das Bruttoinlandsprodukt und die monetären Aggregate (Geldmengen) beeinflusst.<br />

554<br />

Tobin betont die Möglichkeit, durch geldpolitische Massnahmen expansive Effekte erzielen<br />

zu können:<br />

„Well, q is not all that matters, but it does matter. I would say the same for M”. 555<br />

Tobin hat dabei zwei Transmissionsmechanismen im Auge:<br />

(1) Die Bewertung der Vermögenswerte durch die Börsen und die dadurch ausgelösten Investitionen:<br />

In der Praxis geht Tobin von einem kurzfristig schwankenden Tobin’s q 556 aus, was<br />

durch spezielle Ereignisse, wirtschaftspolitische Maßnahmen sowie sich verändernde Erwartungen<br />

ausgelöst wird. Dies schafft und zerstört Investitionsanreize. Zu diesen Anreizen zählt<br />

auch das Tobin’s q, weshalb die Zentralbank diese Größe beobachten sollte. Wie beeinflusst<br />

die Zentralbank die Finanzierungskosten und das Tobin’s q? Der Einfluss ist indirekt, aber<br />

stark. Die Zentralbank operiert über die ganze Kette der Vermögenssubstitution. Sie steuert<br />

zuerst die kurzfristigen Geldmarktsätze. Über die Vermögenssubstitution und die Bildung von<br />

Erwartungen hinsichtlich deren zukünftiger Entwicklung beeinflussen die geldpolitischen<br />

Operationen die Zinsen der Bonds und Aktien.<br />

Es gibt mehrere Möglichkeiten der Störung einer solchen geldpolitischen Transmission. Das<br />

wirtschaftliche Umfeld und auch nicht-monetäre Schocks beeinflussen die Kapitalkosten. Solche<br />

Faktoren können, selbst ohne Einflüsse der monetären Politik, zu steigenden Kapitalkos-<br />

551 Vgl. Niehans, Jürg, 1980, S. 115; vgl. Johnson, Harry G., 53 (2), S. 113.<br />

552 Vgl. Niehans, Jürg, 1980, S. 118.<br />

553 Diese Ausführungen beruhen auf Tobin, James, 1978, S. 421-431.<br />

554 Vgl. Tobin, James, 1978, S. 421.<br />

555 Tobin, James, 1978, S. 422.<br />

556 Vgl. Kapitel 8., Ziffer VII., 4.<br />

301


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

ten und einem sinkenden Tobin’s q führen. Hinzu kommen Unsicherheiten hinsichtlich der<br />

Gewinnerwartungen, was ebenfalls Schwankungen beim Tobin’s q bewirkt. Zudem ist nicht<br />

das durchschnittliche Tobin’s q für die Investitionsentscheidungen der Unternehmen maßgebend,<br />

sondern das marginale, welches firmenindividuell beurteilt wird, und sich einer globalen<br />

Beobachtung entzieht.<br />

Der Einfluss der Inflationserwartungen erscheint vorerst unbedeutend für das Tobin’s q.<br />

Zudem beeinflussen die Inflationserwartungen die relativen Preise der Güter nicht, sondern<br />

sind in den nominellen Zinsen enthalten. Hingegen senkt – nach Auffassung von Tobin und<br />

widersprüchlich zum Fisherschen Preiseffekt – die erwartete Inflation die realen Geldmarktzinssätze<br />

und weitere reale Zinssätze, und erhöht das Tobin’s q. Damit ist eine Veränderung<br />

der Inflationsraten nicht neutral. Dies ist vor allem auch dann der Fall, wenn die Wirtschaftssubjekte<br />

davon ausgehen, die Inflation werde durch starke, deflationär wirkende geldpolitische<br />

Maßnahmen der Zentralbank beeinflusst, was zu einer ungünstigen Beurteilung durch<br />

die Aktienmärkte und einem sinkenden Tobin’s q führt.<br />

(2) Die Verfügbarkeit von Krediten beeinflusst die liquiditätsbedingten Ausgaben der Haushalte<br />

und Unternehmen (einschließlich der Rolle der Geschäftsbanken bei der Finanzierung<br />

der Unternehmen). Besonders die neokeynesianische Geldlehre betrachtet sehr breite Geldmengenaggregate,<br />

zu welchen auch die Finanzaktiven einschließlich das privat emittierte Geld<br />

wie beispielsweise Schuldbriefe und kurzfristige Geldmarkttitel zählen. Eine besondere portfoliotheoretische<br />

Bedeutung für die Banken und privaten Wirtschaftssubjekte haben zudem<br />

die ausländischen Währungen.<br />

Durch eine stärkere Verschuldung erhöht sich das volkswirtschaftliche Vermögen in den<br />

Händen der Wirtschaftssubjekte. Dies löst – als Vermögenseffekt – eine Mehrnachfrage nach<br />

übrigen Aktiven (Geldvermögen und Sachaktiven) aus, womit es zu einem expansiven Effekt<br />

kommt. Durch eine Erhöhung der Geldmenge entstehen auf dem Wege von Vermögenseffekten<br />

ähnliche reale Wirkungen. Nur wenn das Geld keinerlei Vermögenseffekte induziert, unterbleiben<br />

solche Effekte (sog. Superneutralität des Geldes unter dem Aspekt von Vermögenseffekten).<br />

302


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Die Zentralbank kann die kurz- - Die Zentralbank kann die kurzfristigen Geld-<br />

fristigen Geldmarktzinsen kontrol- marktzinsen nicht gegen die Kräfte der Geld-<br />

lieren. märkte kontrollieren. Die besten Voraussetzun-<br />

gen für tiefe kurzfristige Geldmarktsätze sind<br />

geringe Inflationsraten. Dies erfordert, im<br />

Gegensatz zur Auffassung von Tobin und im<br />

Einklang mit dem Fisherschen Preiserwartungs-<br />

effekt, eine längerfristig zurückhaltende Zufüh-<br />

rung von Zentralbankliquidität.<br />

2. Die Zentralbank kann die - Diese These trifft grundsätzlich zu.<br />

Zentralbankliquidität der<br />

Geschäftsbanken kontrollieren.<br />

3. Analog der Thesen 1. und 2.<br />

lassen sich ...<br />

- ... die weiteren Zinsen beeinflus- - Dies trifft nur unter Berücksichtigung des<br />

sen. Fisherschen Preiserwartungseffektes und weiterer zinsstruktureller<br />

Einflüsse zu.<br />

- ... die Liquidität des Geldsystems - Diese These ist zutreffend.<br />

steuern.<br />

- ... das reale BIP beeinflussen. - Das wirtschaftliche Wachstum lässt sich mit<br />

monetären Mitteln über möglichst tiefe kurz-<br />

fristige Geldmarktzinsen steuern, was wieder-<br />

um tiefe Inflationsraten voraussetzt.<br />

- ... die Geldmengenaggregate - Steuern lässt sich vor allem das Wachstum der<br />

steuern. Zuführung von Zentralbankliqudität. Eine<br />

präzise Steuerung der Geldmengen (M1-M3) ist<br />

kaum denkbar.<br />

4. Das Tobin’s q ist steten Schwan- - Diese These ist zutreffend.<br />

kungen (Varianzen) unterworfen.<br />

5. Das Tobin’s q lässt sich mit - Das Tobin’s q lässt sich am besten über tiefe<br />

Mitteln der Geldpolitik steuern. Inflationsraten beeinflussen, was wiederum eine zurückhaltende<br />

Liquiditätszuführung<br />

durch die EZB voraussetzt.<br />

6. Das Tobin’s q beeinflusst das - Diese These trifft zu.<br />

wirtschaftliche Wachstum.<br />

7. Die erwartete Inflation senkt die - Diese These trifft nicht zu. Die erwartete In-<br />

realen Geldmarktzinsen. flationsrate wird mit einem lead (Vorlauf) von<br />

drei bis sechs Monaten zum Teil in die realen<br />

Geldmarktsätze (Laufzeit ein Tag) inkorporiert.<br />

8. Erhöhte Kredite lösen einen Ver- - Diese These trifft (leicht) invers zu.<br />

mögenseffekt aus, wodurch die<br />

Geldmengen steigen, was wie-<br />

VII. derum Die einen Theorie expansiven der Effekt rationalen Erwartungen („Monetarismus II“),<br />

bewirkt.<br />

die Neue Klassische Makroökonomie und das Problem der<br />

Zeitinkonsistenz<br />

303


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

1. Die Theorie der rationalen Erwartungen („Monetarismus II“)<br />

Der Monetarismus II („Monetarismus der zweiten Art“) geht von den Modellen des „Monetarismus<br />

I“ aus und erweitert diese durch rationale Erwartungen. 557 Die Theorie der rationalen<br />

Erwartungen widerspricht der Aussage der keynesianischen Geldpolitik, wonach eine<br />

Geldmengenerhöhung über sinkende Zinsen zu expansiven Effekten führt. Denkbar bei monetären<br />

Impulsen ist auch eine Erhöhung der Zinsen, ausgelöst durch steigende Wachstums- und<br />

Inflationserwartungen, ohne dass die Zinsen vorübergehend sinken. Dieses Phänomen lässt<br />

sich empirisch feststellen und entspricht – hinsichtlich der Inflationserwartungen – dem Fisherschen<br />

Preiserwartungseffekt.<br />

Der Monetarismus II spricht sich für eine Geldpolitik aus, welche zu (erwartungstheoretisch)<br />

superneutralem Geld führt. Änderungen in der Geldpolitik sollen keine<br />

nicht antizipierten Wirkungen im Sinne von Erwartungseffekten haben. Diesem Konzept entspricht<br />

die Festlegung von Geldmengenzielen, was stabile Erwartungen hinsichtlich der Geldpolitik<br />

ermöglichen soll.<br />

2. Die Neue Klassische Makroökonomie<br />

Die Theorie der rationalen Erwartungen führt zudem zur Neuen Klassischen Makroökonomie.<br />

Die Neue Klassische Makroökonomie geht von den stets kürzer werdenden lags im geldwirtschaftlichen<br />

Bereich, den stagflationären Tendenzen der 1970er Jahre und der Annäherung<br />

der Erwartungsbildung an rationale Erwartungen aus, wie dies auch vom Monetarismus II impliziert<br />

wird.<br />

Die Prämissen sind unter anderem:<br />

- Die Märkte einer Volkswirtschaft sind stets geräumt; die Löhne und Preise sind vollkommen<br />

flexibel. 558<br />

- Die einzelnen Marktteilnehmer haben rationale Erwartungen. Sie verfügen über die vergangenen<br />

Informationen und schöpfen alle verfügbaren Informationen der Märkte aus. Zudem<br />

fließen auch Erwartungen über die zukünftigen Variablen sowie deren Einflussfaktoren in die<br />

Entscheidungen ein.<br />

- Es gibt eine natürliche, gleichgewichtige Arbeitslosenrate. 559<br />

- Es gilt das Gesetz von Say, wonach sich „Güter nur mit Gütern“ kaufen lassen.<br />

- Die marktlichen Prozesse unterliegen nicht vorhersehbaren stochastischen Störungen („exogene<br />

Schocks“), welche zu marktlichen Schwankungen bei der Nachfrage, dem Angebot und<br />

den Preisen führen.<br />

Im modelltheoretischen Ansatz lautet die aggregierte Güternachfrage D<br />

t<br />

( ) .<br />

Y = A + b m - p + u (151)<br />

D<br />

t t t t t<br />

At bezeichnet die autonomen Ausgaben (einschließlich der Staatsausgaben) hinsichtlich der<br />

Realkasse, b einen positiven Koeffizienten, mt den natürlichen Logarithmus der nominalen<br />

Geldmenge, t p den natürlichen Logarithmus des Preisniveaus und ut ist eine unabhängige stochastische<br />

Variable mit dem Erwartungswert null und endlicher Varianz (jeweils zum Zeit-<br />

557 Der „Monetarismus I“ unterstellt adaptive Erwartungen.<br />

558 Die Grundlage der nachfolgenden Ausführungen bildet Felderer, Bernhard und Homburg, Stefan, 2003, S. 249 ff.<br />

559 Vgl. auch Kapitel 10., Ziffer V.<br />

Y :<br />

304


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

punkt t). Die aggregierte Güternachfrage hängt linear vom Logarithmus der Realkasse ab.<br />

Damit beruht das Modell auf dem Realkasseneffekt.<br />

Das Güterangebot Y entspricht der sog. Lucasschen aggregierten Angebotsfunktion:<br />

S<br />

t<br />

( + )<br />

Y = Y * +c p p + v , (152)<br />

S e<br />

t t t t<br />

wobei Y* das natürliche Niveau der Produktion (bei der natürlichen Arbeitslosigkeit), c einen<br />

positiven Koeffizienten, p den natürlichen Logarithmus des erwarteten Preisniveaus zum<br />

e<br />

t<br />

Zeitpunkt t und vt eine unabhängige stochastische Variable mit dem Erwartungswert Null und<br />

endlicher Varianz darstellt.<br />

e<br />

Werden die Preiserwartungen erfüllt ( t t )<br />

p = p und kommt es zu keinen exogenen Störungen (<br />

S<br />

v t = 0), entspricht das Produktionsangebot Yt dem natürlichen Niveau der Produktion Y * .<br />

Abweichungen von Y * entstehen durch Zufallseinflüsse (exogene Schocks), nicht antizipierten<br />

Änderungen von A t (Veränderung der autonomen Ausgaben hinsichtlich der Realkasse) und<br />

nicht antizipierten Änderungen von p t (bei einer Erhöhung der erwarteten Preise steigt das Güterangebot,<br />

und umgekehrt). Dies kann auch einen Zustand der unvollkommenen Information<br />

darstellen.<br />

Bei völlig flexiblen Preisen sind die Gütermärkte immer geräumt und die Güternachfrage<br />

entspricht dem Güterangebot:<br />

D S<br />

Y = Y = Y .<br />

(153)<br />

t t t<br />

Indem die Nachfrage, das Angebot und die effektive Produktion übereinstimmen, können<br />

die Indices D und S wegfallen:<br />

bzw.<br />

Y t = A t + b( mt - p t ) + u t<br />

(154)<br />

e ( − t )<br />

Y = Y * +c p p + v .<br />

(155)<br />

t t t<br />

Werden die Störterme vernachlässigt, ergibt sich für das Volkseinkommen Y in der Periode t<br />

folgender Erwartungswert:<br />

e ( − )<br />

Y = A + b m p , bzw. Y = Y * . (156)<br />

e e e e<br />

t t t t t<br />

Der Erwartungswert für das Volkseinkommen resultiert damit aus den hinsichtlich der Re-<br />

A , sowie dem Erwartungswert der nominalen Geldmenge m ,<br />

alkasse autonomen Ausgaben e<br />

t<br />

abzüglich dem Erwartungswert des Preisniveau<br />

ziert mit dem Faktor b.<br />

305<br />

e<br />

p t (jeweils natürliche Logarithmen), multipli-<br />

Unter den genannten Prämissen entspricht das Volkseinkommen e<br />

Yt dem tatsächlichen<br />

Volkseinkommen Y * . Das Modell umfasst vier exogene Variable (At, mt , ut , vt ), die Staatsaus-<br />

gaben, die Geldmenge und vier endogene Variable ,<br />

t t<br />

e e<br />

(Y ,P Y ,P ).<br />

Das Preisniveau, welches bei rationalen Erwartungen ohne Störterme erwartet wird, ergibt<br />

sich wie folgt:<br />

Y * -A<br />

p = m -<br />

b<br />

e e<br />

e<br />

t<br />

t t<br />

.<br />

t t<br />

(157)<br />

e<br />

t


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zur Ermittlung von Yt und pt werden die vorangehenden Gleichungen gleichgesetzt. Für<br />

das Volkseinkommen Yt resultiert:<br />

c ⎡ e<br />

e b ⎤<br />

Y t = Y * +<br />

⎢( At − At ) + b( mt − m t ) + u t + vt<br />

⎥<br />

.<br />

b + c ⎣ c ⎦<br />

Bei Abwesenheit von nicht erwarteten Maßnahmen des Staates kommt es zum Produktionsvolumen<br />

Y*. Das Volkseinkommen in der Periode t ergibt sich unter anderem aus dem natürlichen<br />

Volkseinkommen Y* sowie nicht antizipierten Geldmengenänderungen. Letztere und<br />

nicht antizipierte Veränderungen der Staatsausgaben führen zu einem Ansteigen der Produktion.<br />

Eine nicht erwartete Änderung der Nachfrage bewirkt ebenfalls eine Erhöhung der Produktion.<br />

Das Produktionsvolumen schwankt – bei Abwesenheit staatlicher Eingriffe – um Y*.<br />

Das Preisniveau pt entspricht der folgenden Formel:<br />

e 1<br />

e<br />

e<br />

p ⎡( − A ) + ( − ) + ⎤<br />

t = p t +<br />

⎣<br />

At t b mt mt u t + vt<br />

⎦<br />

.<br />

b + c<br />

Ein Ansteigen des Preisniveaus ist die Folge von nicht antizipierten Geldmengenänderungen<br />

und Staatsausgaben, wobei die Erhöhung der Produktion ebenfalls ein steigendes<br />

Preisniveau bewirkt. Ein exogener Nachfrageschock führt zu prozyklischen, ein exogener<br />

Angebotsschock zu antizyklischen Preisänderungen.<br />

Die Theorie der rationalen Erwartungen widerspricht damit der Aussage der keynesianischen<br />

Geldpolitik, wonach eine Geldmengenerhöhung über sinkende Zinsen einen expansiven Effekt<br />

bewirkt. Denkbar ist nach der Theorie der Neuen Klassischen Makroökonomie bei monetären<br />

Impulsen auch eine Erhöhung der Zinsen, ausgelöst durch steigende Inflationserwartungen<br />

(Fisherscher Preiserwartungseffekt) ohne vorübergehend sinkende Zinsen.<br />

Die Neue Klassische Makroökonomie geht von einer Geldmengenregel ähnlich jener von<br />

Friedman aus:<br />

306<br />

(158)<br />

(159)<br />

kt<br />

m = m + kt bzw. M = M e ,<br />

(160)<br />

t 0 t 0<br />

wobei kt die konstante Rate ist, mit welcher die Geldmenge wächst. Daraus resultiert eine<br />

vollkommene Erwartungsrate für das Geldmengenwachstum:<br />

e<br />

m t = m 0 + kt. (161)<br />

Unter der Voraussetzung einer konstanten und richtig antizipierten Wachstumsrate der<br />

Geldmenge ergeben sich keine realen Effekte. Etwas allgemeiner formuliert löst eine korrekt<br />

antizipierte Geldmengenpolitik der Zentralbank keine realen Wirkungen aus. Damit hat auch<br />

ein akzeleriertes Geldmengenwachstum – im Gegensatz zum Monetarismus – keine realen<br />

Wirkungen. Die Preis- und Mengenwirkungen der Geldmengenpolitik resultieren vielmehr<br />

aus nicht antizipierten Geldmengenänderungen (siehe die Güternachfragefunktion (151)).<br />

Nun entspricht der Output nicht immer Y*. Sowohl nicht antizipierte Geldmengenänderungen<br />

als auch exogene Schocks (vgl. die Störterme ut und v t ) können zu Abweichungen<br />

von Y* führen. Die Störterme lassen sich – nach den Prämissen des Modells – von der<br />

geldpolitischen Autorität nicht prognostizieren.<br />

Der geldpolitische Spielraum könnte beispielsweise darin bestehen, die Störterme ut und vt<br />

durch Geldmengenänderungen zu antizipieren:<br />

ut vt<br />

m t = m 0 + kt - - .<br />

b c<br />

(162)


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Indem, gemäß den Annahmen, die Störterme einen Erwartungswert von null haben, entspricht<br />

eine solche aktive Geldpolitik nicht der Auffassung der Neuen Klassischen Makroökonomie.<br />

Maßnahmen gegen eine sinkende Produktion haben keine Wirkungen, sondern führen<br />

vielmehr durch die antizipierte Inflation zum Phänomen der Stagflation, d.h. einem stagnierenden<br />

Output bei steigenden Inflationsraten. 560 Nur wenn eine geldpolitische Maßnahme zufällig<br />

auf einen gegenläufigen Störterm trifft, führt dies zu günstigen Wirkungen, was jedoch<br />

von der Neuen Klassischen Makroökonomie nicht angestrebt wird.<br />

Grundsätzlich haben die Wirtschaftssubjekte rationale Erwartungen und verstehen es, die<br />

makroökonomischen Wirkungen von Geldmengenänderungen vorauszusehen. Wird ein monetärer<br />

Impuls von den Wirtschaftssubjekten richtig antizipiert, unterbleiben reale Wirkungen.<br />

Nach der These der Politikineffektivität kommt es zu keinen beschäftigungsmäßigen Wirkungen<br />

bei geldpolitischen Impulsen. Nur wenn es einen Informationsvorsprung der Zentralbank<br />

durch statistische lags, ungesicherte statistische Informationen und eine geheime Änderung<br />

der Politikregeln gibt, werden die Wirkungen monetärer Impulse nicht korrekt antizipiert,<br />

womit es zu Beschäftigungswirkungen kommen kann. 561 Gelingt es den geldpolitischen Instanzen,<br />

die Wirtschaftssubjekte hinsichtlich der Geldmengenregel zu täuschen, kann eine<br />

Abweichung des Angebots vom natürlichen Niveau bzw. ein Preiserwartungsfehler eintreten.<br />

Die Idee einer „deceptive policy“ ist eine geheime Änderung der geldpolitischen Regel, die<br />

sich von jener unterscheidet, welche sich das Publikum in der Vergangenheit erwartungsmäßig<br />

angeeignet hat. 562 Thomas J. Sargent und Neil Wallace stehen einer solchen „deceptive policy“<br />

skeptisch gegenüber, indem geldpolitische Richtungswechsel in der Öffentlichkeit nicht unbemerkt<br />

erfolgen: „ … new rules are not adopted in a vacuum“. 563<br />

Nach Auffassung der Neuen Klassischen Makroökonomie ist eine diskretionäre, antizyklische<br />

Geldpolitik in einer inhärent stabilen Wirtschaft unnötig und schädlich. Eine fallweise<br />

expansive oder kontraktive Geldpolitik beeinflusst das Preisniveau und verkleinert die Aussagekraft<br />

des Systems der relativen Preise, womit sich die Unsicherheit in der Wirtschaft erhöht.<br />

Zudem ist die Wirkung solcher Maßnahmen nicht berechenbar. Die Öffentlichkeit erkennt solche<br />

Regeln und kann deren Wirksamkeit durch Verhaltensänderungen konterkarieren, d.h. ins<br />

Gegenteil verkehren.<br />

Die Neue Klassische Makroökonomie befürwortet deshalb eine passive Geldmengenregel,<br />

um die privaten Wirtschaftssubjekte vor exogenen Schocks zu bewahren. 564 Anzustreben ist<br />

erwartungstheoretisch superneutrales Geld, damit die Geldpolitik zu keinen nicht antizipierten<br />

Wirkungen im Sinne von Erwartungseffekten führt. Diesem Konzept entspricht die Festlegung<br />

von Geldmengenzielen, was stabile Erwartungen hinsichtlich der Geldpolitik ermöglichen<br />

soll. Eine Zentralbank kann eine feste Rate für die Geldmengenentwicklung festlegen,<br />

um die Inflation im Griff zu halten.<br />

3. Das Problem der Zeitinkonsistenz<br />

Eine Veränderung der Politikregeln führt zu Erwartungsänderungen, was oft nicht optimal<br />

ist. Indem die Entscheidungsträger im Zeitpunkt t0 geldpolitische Maßnahmen ankündigen,<br />

bilden sich die privaten Wirtschaftssubjekte Erwartungen, die wiederum zu ökonomischen<br />

Handlungen führen, die von den geldpolitischen Entscheidungsträgen im Zeitpunkt t1 im ei-<br />

560 Vgl. Felderer, Bernhard und Homburg, Stefan, 2003, S. 255.<br />

561 Vgl. Kapitel 8., Ziffer X.<br />

562 Vgl. Taylor, John B., 1975, S. 1021.<br />

563 Sargent, Thomas J. und Wallace, Neil, 1976, S. 181.<br />

564 Vgl. Felderer, Bernhard und Homburg, Stefan, 2003, S. 258.<br />

307


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

genen Interessen ausgenutzt werden. 565 Dieses Phänomen fällt unter das Problem der zeitlichen<br />

Inkonsistenz von Politikregeln.<br />

Robert J. Barro und David B. Gordon 566 zeigen, wie Ankündigungen der Zentralbank zum<br />

Problem der Zeitinkonsistenz führen können. Es bestehen immer wieder Anreize, von einer<br />

optimalen Politik abzuweichen, um kurzfristig einen Nutzen zu erzielen, womit jedoch die<br />

Glaubwürdigkeit der Regierung verloren geht. Besonders vor den Wahlen wird die Wirtschaft<br />

vorübergehend mit mehr Liquidität versorgt, um die Gesamtnachfrage zu erhöhen und die Beschäftigung<br />

auszuweiten. Mit Hilfe des Zeitinkonsistenzproblems lässt sich erklären, warum<br />

eine Inflationsbekämpfung missglücken kann, womit die Wirtschaft beispielsweise in einer<br />

Stagflation mit hohen Inflationsraten und gleichzeitig hoher Arbeitslosigkeit stecken bleiben<br />

kann.<br />

Die Änderung einer Politikregel soll den Zielen der Regierung wie jenen der Wirtschaftssubjekte<br />

dienen. Indem die Wirtschaftssubjekte das Politikverhalten der Regierung voraussehen,<br />

gehen sie – am Beispiel der Änderung der Geldmengenregeln – von einer dauerhaft höheren<br />

Inflationsrate aus. Dies bewirkt einen Reputationsverlust der Zentralbank. Ein weiteres Anwendungsbeispiel<br />

ist die Fiskalpolitik. Bei einer gegebenen Verschuldensgrenze führt deren<br />

Überschreitung langfristig zu höheren Kosten und zu einem Reputationsverlust der Regierung.<br />

Eine mögliche geldpolitische Konsequenz ist die Schaffung unabhängiger Zentralbanken, um<br />

eine regelorientierte Geldpolitik zu verankern.<br />

Finn Kydland und Edward Prescott (1977, 1982) postulieren Regeln an der Stelle von diskretionärem<br />

Handeln. 567 Sie gehen von der schwankenden Nachfrage aus, welche im Zentrum der<br />

keynesianischen Betrachtung steht und als Marktversagen betrachtet wird. Die keynesianische<br />

Stabilisierungspolitik trachtet danach, die schwankende Nachfrage durch eine diskretionäre<br />

Geld- und Fiskalpolitik zu glätten. Noch bis in die Mitte der 1970er Jahre erscheint die keynesianische<br />

Lehre dazu geeignet, die makroökonomischen Schwankungen zu erklären. Danach<br />

kommt es zum Phänomen der Stagflation mit gleichzeitig hohen Inflations- und Unterbeschäftigungsraten,<br />

welche sich auf Angebotsschocks zurückführen lassen und durch die keynesianische<br />

Lehre nicht mehr erklärt werden können. Dazu tragen unter anderem die Ölpreissteigerungen<br />

und eine rückläufige Produktivitätsentwicklung bei. Eine antizyklische Geld- und Fiskalpolitik<br />

verschärft die auftretenden Probleme, indem die Wirtschaftssubjekte dauerhaft höhere<br />

Lohn- und Preisbewegungen erwarten, obwohl die Regierungen und Zentralbanken tiefe<br />

und stabile Inflationsraten proklamieren. Die Thesen der Neuen Klassischen Makroökonomie<br />

568 zu den Wirkungen der Geld- und Fiskalpolitik bei (modelltheoretisch spezifizierten)<br />

rationalen Erwartungen der Wirtschaftssubjekte 569 finden Anklang und geben der makroökonomischen<br />

Politik einen neuen Rahmen, zumal sich diese auf ein mikroökonomisch spezifiziertes<br />

Verhalten beziehen.<br />

Finn Kydland und Edward Prescott entwickeln die Modellprämissen im Hinblick auf das Zeitinkonsistenzproblem.<br />

Änderungen von Politikregel ohne vorherige Ankündigungen führen<br />

zu Glaubwürdigkeitsproblemen der makroökonomischen Politik (Geld- und Fiskalpolitik).<br />

Als weiteres Element der Analyse werden reale Angebotsschocks eingeführt. Der technische<br />

565 Vgl. Kydland, Finn und Prescott, Edward, 1977, S. 473 ff.<br />

566 Vgl. Barro, Robert J. und Gordon, David B., 1983, S. 101-121.<br />

567 Vgl. zur Nobelpreisschrift: The Royal Bank of Sweden, 2004.<br />

568 Vgl. Lucas, Robert, 1973.<br />

569 Erwartungstheoretische Ansätze zur Erklärung ökonomischer Resultate spielen bereits bei Fried-man (1968) und<br />

Phelps (1967, 1968) zur Erklärung der natürlichen Rate der Unterbeschäftigung im Rahmen der Phillipskurve eine<br />

bedeutende Rolle. Zudem zeigt Lucas (1972, 1973), wie die Wirtschaftssubjekte aus den vorhandenen Informationen<br />

auf rationale Weise bestmögliche Erwartungen ableiten.<br />

308


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Fortschritt ist nicht nur ein wesentlicher Einflussfaktor für den langfristigen Entwicklungspfad<br />

einer Volkswirtschaft, sondern kann auch kurzfristige Fluktuationen auslösen.<br />

Der Aufsatz von Kydland und Prescott aus dem Jahre 1977 570 beschäftigt sich vor allem mit<br />

dem Problem der Zeitinkonsistenz. Regierungen und Zentralbanken tendieren beispielsweise<br />

dazu, die Steuerraten und die Geldpolitik unter wohlfahrtsökonomischen Aspekten festzulegen<br />

und diese, im Hinblick auf eine Optimierung der wohlfahrtsökonomischen Effekte zu ändern.<br />

Die Wirtschaftssubjekte werden erkennen, dass die künftige Politik nicht zwangsläufig<br />

mit der aktuellen übereinstimmt (sofern ein Politikwechsel nicht bereits bei der aktuellen Politik<br />

zum Ausdruck gebracht wird), was Glaubwürdigkeitsprobleme schafft. Kydland und Prescott<br />

modellieren das Verhalten der einzelnen Akteure als spieltheoretisches Phänomen und<br />

weisen bei einer diskretionären Politik auf ein suboptimales Ergebnis hin – im Gegensatz zu<br />

den Ergebnissen bei einer verlässlich tiefen Inflationsrate.<br />

Im Aufsatz von Kydland und Prescott aus dem Jahre 1982 571 wird eine Theorie der business<br />

cycles auf einer mikroökonomischen Basis entworfen, welche weit von der keynesianischen<br />

Tradition entfernt ist. Technologische Entwicklungen können zu kurzfristigen Zyklen führen,<br />

wobei die Preise, Löhne und Zinsen eine Räumung der Märkte bewirken können. Kurzfristig<br />

tiefe Wachstumsraten sind nicht zwangsläufig das Ergebnis eines Marktversagens, sondern die<br />

Folge eines langsamen technischen Fortschritts.<br />

Als Modellvorstellung möchte die Regierung in der Periode t-1 das bestmögliche Ergebnis<br />

für die Periode t erreichen. Diese Ergebnisse stehen nicht nur in einem Zusammenhang mit der<br />

Politik in der Periode t, sondern auch mit den Erwartungen der Wirtschaftssubjekte in der Periode<br />

t-1 für die Periode t (beispielsweise für die Ersparnisse und die Löhne). Diese Erwartungen<br />

beruhen auf einer perfekten Voraussicht seitens der Wirtschaftssubjekte.<br />

Ist die Regierung in ihren Entscheidungen gebunden, kann sie die Politik in der Periode t<br />

nicht mehr ändern und muss die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte in der Periode t-1 in<br />

ihre Entscheidungen einbeziehen. Ist die Regierung in ihren Entscheidungen für die Periode t<br />

nicht gebunden, was der Realität eher entspricht, wird sie ihre Politik erst unmittelbar vor der<br />

Periode t festlegen. Diese Entscheidungen erfolgen unabhängig von jenen der Wirtschaftssubjekte<br />

in der Periode t-1, zumal diese bereits fixiert sind und sich nicht mehr ändern lassen.<br />

Dies führt zu einer gegenüber dem ersten Fall veränderten Politik. Indem die Regierung nicht<br />

alle Effekte der Entscheidungen der Wirtschaftssubjekte ins Kalkül einbezieht, kommt es zu<br />

suboptimalen Ergebnissen. Für die Wirtschaftssubjekte ist die Zeitinkonsistenz von politischen<br />

Maßnahmen (auch gegenüber früheren Ankündigungen), welche zu erheblichen Risiken<br />

führen kann, Teil des Entscheidungskalküls.<br />

Dieses Inkonsistenzproblem lässt sich an einem geldpolitischen Beispiel zur Darstellung<br />

bringen. Gehen wir von einem trade off zwischen der Inflation und der Arbeitslosigkeit aus.<br />

Die Unterbeschäftigung sei durch folgende Funktion gegeben:<br />

( )<br />

Ut = U * −α ⎡⎣ ̟t - E ̟ t ⎤⎦<br />

.<br />

(163)<br />

Die Unterbeschäftigung U t (im Zeitpunkt t) ergibt sich aus der natürlichen Rate der Arbeits-<br />

losigkeit U * , einem Faktor α und der Differenz zwischen der Inflationsrate ̟ t (zwischen den<br />

Perioden t-1 und t) sowie der durch die Wirtschaftssubjekte erwarteten Inflationsrate E( ̟t<br />

)<br />

zwischen der Periode t-1 und t. Diese vereinfachte Form einer Funktion für die Unterbeschäftigung<br />

geht von einem inversen Zusammenhang zwischen der Inflationsrate und den realen<br />

Löhnen in der Periode t aus, wobei die nominalen Löhne im Voraus – in der Periode t-1 auf-<br />

570 Vgl. Kydland, Finn und Prescott, Edward, 1977, S. 473-490.<br />

571 Vgl. Kydland, Finn und Prescott, Edward, 1982, S. 1345-1371.<br />

309


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

grund der Inflationsrate für die Periode t – festgelegt werden. Ist die Inflationsrate beispielsweise<br />

höher als erwartet, steigt die Nachfrage nach Arbeitskräften, und die Unterbeschäftigung<br />

fällt (sowie umgekehrt).<br />

Die Geldpolitik kann in der Periode t so gesteuert werden, dass die Inflationsrate kontrolliert<br />

wird. Bei rationalen Erwartungen gehen die Wirtschaftssubjekte davon aus, die Inflationsrate<br />

E( ̟t ) werde ̟t betragen, womit die Unterbeschäftigung Ut identisch mit der Gleichgewichtsunterbeschäftigungsrate<br />

U * ist. Legt die Geldpolitik die Inflationsrate in Periode t-1 für<br />

die Periode t fest, wird sie diese Auffassung von Kydland und Prescott mit ̟ = 0 fixieren, wo-<br />

mit die Rate der Unterbeschäftigung Ut der Rate der Gleichgewichtsunterbeschäftigung U *<br />

entspricht.<br />

Eine solche Festlegung der Inflationsrate ist jedoch nicht zeitkonsistent. Die Inflationsrate<br />

für die Periode t wird nachträglich gewählt, wenn die Erwartungen der Wirtschaftssubjekte<br />

bereits gebildet und die Nominallöhne fixiert sind. Diese Inflationsrate wird sicherlich höher<br />

als null sein (sofern der Plan einer Inflationsrate von null noch geändert werden kann). Dadurch<br />

kann die Beschäftigungsrate gesenkt werden, was bis zu jenem Punkt wohlfahrtsverbessernd<br />

erscheint, wobei die Effekte einer zusätzlichen Beschäftigung die Kosten einer höheren<br />

Inflationsrate übersteigen. Werden jedoch Erwartungen im Hinblick auf eine dauerhaft höhere<br />

oder sogar steigende Inflationsrate bei den Wirtschaftssubjekten geweckt, kann eine<br />

ebenfalls höhere und steigende Arbeitslosenrate mit einhergehen. 572<br />

Daraus ziehen Kydland und Prescott die Konsequenz der Vorzüglichkeit einer regelbasierten<br />

und nicht diskretionären Politik. Dies bedeutet im Falle der Geldpolitik, einfache Regeln für<br />

das Geldmengenwachstum oder die Wechselkurse anzuwenden. Auf diese Weise lässt sich<br />

auch das Zeitinkonsistenzproblem lösen.<br />

VIII. Die neukeynesianische Lehre: John B. Taylor<br />

Die Taylor-Regel 573 stellt einen empirischen Ansatz dar, welcher sich auf ökonometrische<br />

Untersuchungen stützt und – in angepasster Form – auf viele Länder übertragen werden<br />

kann. 574 So beziehen sich die Untersuchungen von Taylor auf die G-7 Staaten und deren Erfolg<br />

zur Erreichung der geldpolitischen Ziele.<br />

Die neukeynesianische Lehre von John B. Taylor 575, 576 sucht nach einer Lösung zur Festlegung<br />

des kurzfristigen Zinssatzes als Mittel der Geldpolitik. Die Taylor-Regel stellt eine<br />

„Rückkehr“ zur Zinssteuerung dar, welche mit der monetaristischen Revolution Ende der<br />

1960er/Anfang der 1970er Jahre umgangen werden sollte. Es handelt sich um eine Alternative<br />

zur Steuerung der Geldmenge.<br />

572 Beispielsweise kann die Erwartung unsicherer oder dauerhaft hoher Inflationsraten zur Überschätzung von Investitionskosten<br />

und Löhnen führen, wodurch Investitionen unterbleiben.<br />

573 Taylor, John B., 1993, S. 193-214.<br />

574 Diese stellt vor allem eine gute Approximation der US-amerikanischen Geldpolitik dar.<br />

575 Vgl. Taylor, John B., 1993.<br />

576 Vgl. Felderer, Bernhard und Homburg, Stefan, 2003, S. 234.<br />

t<br />

310


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

1. Einfache Zinsregeln<br />

Knut Wicksell schlägt bereits 1898 eine einfache Zinsregel vor:<br />

„So lange die Preise unverändert bleiben, sollte die Zentralbank die Zinsen ebenfalls unverändert<br />

lassen. Wenn die Preise steigen, sind die Zinsen zu erhöhen; und wenn die Preise<br />

sinken, sollten die Zinsen gesenkt werden. Die Zinsen müssen auf dem neuen Niveau<br />

belassen werden, bis eine neue Preisentwicklung nach deren Veränderung in die eine oder<br />

andere Richtung ruft“. 577<br />

Einfache Zinsregeln, wie diese auch von King und Wolman 578 erwähnt werden, lassen die<br />

Entwicklung der Geldmengen zu einer endogenen Variablen werden. Danach folgen die kurzfristigen<br />

Zinsen dem Muster:<br />

T<br />

( − )<br />

i = d + d logP log P .<br />

(164)<br />

t 0 1 t<br />

Nach dieser Formel wird der aktuelle Zinssatz it aufgrund einer Konstanten festgelegt, welche<br />

dem Zinssatz in der Vorperiode entspricht, und zudem auf der Basis einer variablen Komponente,<br />

welche aus einem Reaktionsparameter d 1 sowie der Abweichung zwischen dem ak-<br />

tuellen Preisniveau logPt und dem Zielpreisniveau log T<br />

P besteht.<br />

T<br />

Wird diese Zielabweichung logPt − log P mit pt bezeichnet und werden die Zinsänderungen<br />

als exogener Schock aufgrund einer von der Zentralbank gewählten geldpolitischen Regel<br />

(feedback rule) mit ut betrachtet, so ergibt sich folgender Zinssatz:<br />

i t = d1p t + u t.<br />

(165)<br />

Dabei setzt sich die Inflationsabweichung ut aus jener in der Vorperiode ut-1 mal einen Faktor<br />

ρ sowie den steten, stochastischen Zinsschwankungen εt an den Geldmärkten zusammen:<br />

u t = ρu t-1 + ε t .<br />

(166)<br />

2. Die graphische Darstellung einer einfachen Taylor-Regel<br />

In der einfachsten Form lässt sich die Zinsregel nach den Ausführungen von Taylor (1998)<br />

graphisch darstellen (vgl. Abbildung 90). 579 Der kurzfristige Zinssatz wird in Abhängigkeit<br />

zum Inflationgap (Zielinflationsrate in Relation zur aktuellen Inflationsrate) festgelegt. Die<br />

Zielinflationsrate beträgt beim aktuellen Beispiel zwei Prozent.<br />

577 Zitiert nach Woodford, Michael, 2003 (eigene Übersetzung).<br />

578 Vgl. King, R. und Wolman, A., 1999, S. 12 f.<br />

579 Vgl. Taylor, John B., 1998a.<br />

311


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 90: Die graphische Darstellung der geldpolitischen Regel von John B. Taylor<br />

6<br />

4<br />

2<br />

Zinssatz<br />

(in Prozent)<br />

Zinssatz, sofern<br />

die Inflationsrate<br />

dem Zielinflationswert<br />

entspricht<br />

45°<br />

geldpolitische<br />

Regel<br />

Inflations-<br />

ziel<br />

0 1 2 3 4 5 6<br />

Inflationsrate (in<br />

Prozent)<br />

Die implizierte geldpolitische Regel in der Graphik entspricht einem Koeffizienten von 1,5<br />

und folgt der steileren Linie für die „geldpolitische Regel“ gegenüber der 45°-Linie. Überschreitet<br />

die aktuelle Inflationsrate den Zielinflationswert, wird der Zinssatz entsprechend<br />

überproportional erhöht (und umgekehrt). Dies führt zu einem dämpfenden Effekt beim Überschreiten<br />

des Zielinflationswertes, und beugt, im umgekehrten Fall, der Gefahr einer Deflation<br />

beim Unterschreiten des Zielinflationswertes vor.<br />

Die Taylor-Regel zeigt, dass rationale Erwartungen – aufgrund unterschiedlicher zeitlicher<br />

Wirkungslags – nicht zwangsläufig zur Ineffektivität monetärer Maßnahmen führen müssen,<br />

zumal eine regelgebundene (passive) Geldpolitik einer diskretionären Geldpolitik überlegen<br />

ist.<br />

3. Das neukeynesianische Rahmenwerk der komplexeren Taylor-Regeln 580<br />

Der Modellrahmen der neukeynesianischen Geldpolitik wird durch Richard Clarida et al. 581<br />

beschrieben.<br />

Zu den Prämissen zählen:<br />

- Die monopolistische Konkurrenz mit einer verzögerten Preisanpassung bzw. einer kurzfristigen<br />

Starrheit der Nominalpreise. Mit der monopolistischen Konkurrenz lässt sich das steigende<br />

Güterangebot bei höheren Preisen begründen, indem in der Ausgangslage die Güterpreise<br />

über den Grenzkosten liegen.<br />

- Die Annahme gewisser keynesianischer „Unvollkommenheiten“; dazu zählen die fehlende<br />

Markträumung und Starrheiten bei den Löhnen und Güterpreisen. Es wird von trägen Lohn-<br />

und Preisreaktionen ausgegangen. Angesichts der kurzfristigen Starrheit der Nominalpreise<br />

580 Vgl. Felderer, Bernhard und Homburg, Stefan, 2003, S. 234.<br />

581 Vgl. Clarida, Richard et al., 1999, S. 1661-1707. Dieser Ansatz unterscheidet sich vom New Keyne-sianismus der<br />

1970er Jahre, wie dieser unter anderem von Edmond Malinvaud (1985), Robert J. Barro (1976) und Herschel I. Grossman<br />

(1976) vertreten wird.<br />

312


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

lassen sich die vorübergehenden realen Wirkungen der Geldpolitik analysieren. 582 Diese<br />

dauern so lange, bis die Wirtschaftssubjekte ihre Preise angepasst haben. Kurzfristig gilt das<br />

Gesetz von Say, wonach sich „Güter nur mit Gütern“ kaufen lassen, nicht.<br />

- Die Annahme eines langfristigen allgemeinen Gleichgewichts, womit eine Volks-wirtschaft<br />

immer wieder zum Gleichgewicht zurückkehrt; langfristig ist die Geldpolitik neutral.<br />

- Eine geschlossene Volkswirtschaft ohne Außenhandel.<br />

- Keine Berücksichtigung der kurzfristigen Investitions- und Kapitalakkumula-<br />

tion.<br />

- Modellspezifisch rationale Erwartungen, indem das Verhalten der Wirtschaftssubjekte von<br />

der aktuellen und erwarteten Geldpolitik abhängt. Dabei hat die Zentralbank einen Zeitvorsprung<br />

gegenüber den privaten Wirtschaftssubjekten und das Verhalten der Wirtschaftssubjekte<br />

hängt stark von der Reputation der Zentralbank ab.<br />

Das Ziel der neukeynesianischen Geldpolitik besteht in einer Minimierung der Verlustfunktion,<br />

welche den Inflationgap ̟t − ̟ * , den Outputgap yt *<br />

− yt und ggf. auch die Wechselkursschwankungen<br />

e<br />

*<br />

− e umfasst:<br />

t t<br />

* *<br />

( − ) ( − ) ( − )<br />

w ̟ ̟ * + w y y + w e e = min.! (167)<br />

1 t 2 t t 3 t t<br />

Von zentraler Bedeutung sind die verzögerten Preis- und Lohnanpassungen bei der Existenz<br />

von Schocks bei der Mengenanpassung, weshalb es bei den Güter-, Arbeits- und Kapitalmärkten<br />

zum Tausch im Ungleichgewicht kommt. Offen bleibt die Frage, ob diese Ungleichgewichte<br />

langfristig bestehen bleiben. Mit der Anwendung der Taylor-Regel soll versucht werden, die<br />

Mengenanpassungen durch eine antizyklische Geldpolitik zu erleichtern.<br />

Geldpolitisches Instrument der neukeynesianischen Geldpolitik ist der kurzfristige Zinssatz.<br />

583 Dabei stellt sich die Frage, wie die Geldpolitik den wirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst<br />

werden kann. Gleichzeit ergibt sich die Frage, wie die Geldpolitik auf Schocks reagieren<br />

soll und wie glaubwürdig die Ankündigungen der Zentralbank sein sollen.<br />

4. Die „ursprüngliche“ Taylor-Regel<br />

Die „ursprüngliche“ Taylor-Regel für die durch die Zentralbank gesteuerten, kurzfristigen<br />

Geldmarktzinsen i lautet: 584<br />

* ( t t ) ( 2)<br />

i = ̟ + 0, 5 y − y + 0, 5 ̟ − + 2.<br />

(168)<br />

Mit ̟ als der Inflationsrate in den vergangenen vier Quartalen wird die Erwartung impliziert,<br />

dass die zukünftige Inflationsrate den vergangenen Inflationsraten entspricht. Der reale<br />

Diskontsatz i soll ein konstantes Wachstum gewährleisten. Zudem bezeichnen − *<br />

yt yt den Outputgap<br />

(Abweichung vom langfristigen Wachstumspfad) und ̟ − 2 den Inflationgap (Abweichung<br />

der beobachteten Inflationsrate der vergangenen vier Quartale von der angenommenen<br />

Zielinflationsrate von zwei Prozent).<br />

Die Höhe der kurzfristigen Zinsen richtet sich nach dem Inflationgap (Differenz zwischen<br />

der aktuellen und der angestrebten Inflationsrate) sowie dem Outputgap (prozentuale Differenz<br />

zwischen dem aktuellen und dem potenziell möglichen BIP). Liegen die aktuelle Inflationsrate<br />

unter der Zielinflationsrate und der aktuelle Output unter dem potentiellen Output,<br />

lässt sich ein leicht expansiv wirkender Zinssatz festlegen (und umgekehrt). Je stärker der<br />

582 Vgl. Clarida, Richard et al., 1999, S. 1664 f.<br />

583 Vgl. Clarida, Richard et al., 1999, S. 1662.<br />

584 Vgl. Taylor, John B., 1993, S. 202.<br />

313


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Outputgap und der Inflationgap von den Zielwerten abweichen, desto größer ist der zinspolitische<br />

Spielraum der Geldpolitik. Denkbar ist es auch, weitere Faktoren einzubeziehen, so<br />

beispielsweise den factor gap (Differenz zwischen der aktuellen und der natürlichen Arbeitslosenrate),<br />

die erwarteten Inflationsraten und den Wechselkurs.<br />

Die Koeffizienten (im vorliegenden Beispiel jeweils 0,5) sind die Politik-Reaktions-<br />

Parameter. Der Diskontsatz wird erhöht, wenn die Inflation über den Zielwert von zwei Prozent<br />

steigt. Entsprechen die Inflationsrate als auch der Outputgap den Zielwerten, besteht keine<br />

Abweichung vom langfristigen Wachstumspfad und der adäquate Diskontsatz beträgt nach<br />

dieser Taylor-Regel vier Prozent.<br />

5. Eine etwas allgemeinere Taylor-Regel<br />

Eine etwas allgemeinere Taylor-Regel lautet:<br />

i = r + ̟ + a( ̟ − ̟ * ) + b( y - y * ).<br />

(169)<br />

t t<br />

Dabei bezeichnen i den resultierenden kurzfristigen Geldmarktsatz, r den realen Gleichgewichtszinssatz,<br />

̟t die aktuelle Inflationsrate, ̟ * die Zielinflationsrate sowie y - y * die prozentuale<br />

Differenz zwischen dem aktuellen und dem potenziellen BIP. Je nach der Gewichtung<br />

der Inflations- und der Wachstumskomponente lassen sich unterschiedliche Politik-Reaktions-<br />

Parameter anwenden. Bei einer starken Gewichtung der Inflationskomponente wird beispielsweise<br />

ein diesbezüglicher Koeffizient α von 1,5 vorgeschlagen, wobei der Outputkoeffizient<br />

b nach wie vor 0,5 betragen könnte. Die Gewichtung der Faktoren a und b hängt von den<br />

Prioritäten ab, welche dem Outputgap a bzw. dem Inflationgap b beigemessen werden.<br />

Die vorliegende geldpolitische Regel enthält einen gleichgewichtigen oder neutralen Zinssatz<br />

von vier Prozent (bei einer Inflationsrate von zwei Prozent und einer Zielinflationsrate<br />

von ebenfalls zwei Prozent). Der Zinssatz ist umso größer, je mehr die Inflationsrate den Zielinflationswert<br />

übersteigt und je stärker das Produktionspotential ausgelastet ist (und umgekehrt).<br />

5. Eine Taylor-Regel für das Vereinigte Königreich<br />

Für das Vereinigte Königreich postuliert Nelson (2000) folgende Taylor-Regel: 585<br />

( ) ( − ) ( − )<br />

i = i * +̟ * + 1,5 ̟ ̟ * + 1,5 y y * .<br />

(170)<br />

t t<br />

i * bezeichnet den kurzfristigen Gleichgewichtszinssatz für ein gleichmäßiges Wachstum und<br />

̟ * die Zielinflationsrate. In der zweiten Klammer erscheint der Inflationgap als die Abweichung<br />

der aktuellen Inflationsrate ̟t von der Zielinflationsrate ̟ * , welche mit einem Politik-<br />

Reaktionsparamter von 1,5 gewichtet wird. Die dritte Klammer gibt den Outputgap (aktuelle<br />

Wachstumsrate des BIP yt minus das potentiell mögliche Wachstum y * ) wieder, welcher mit 0,5<br />

schwächer gewichtet wird. 586<br />

585 Vgl. Nelson, Edward, 2000.<br />

586 Vgl. Nelson, Edward, 2000, S. 9.<br />

314


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

6. Die Anwendung der Taylor-Regel für das Euro-Währungsgebiet<br />

Zur Anwendung der Taylor-Regel für das Euro-Währungsgebiet 587 kommt die Bank für Internationalen<br />

Zahlungsausgleich (BIZ) aufgrund einer Analyse (1999) zu folgender Gleichung: 588<br />

( ) ,<br />

eq ob<br />

i ⎡ + ⎤<br />

t = r + ̟ t + 0,5<br />

⎣<br />

yt ̟ * -̟<br />

⎦<br />

(171)<br />

wobei it den nominellen Zinssatz, req den Gleichgewichtszinssatz (als konstant angenommen),<br />

̟t die Inflationsrate (Veränderungsrate gegenüber dem Vorjahr), yt den Outputgap, ̟ * die<br />

Zielinflationsrate (derzeit zwei Prozent) und ob<br />

̟ die aktuelle Inflationsrate darstellen. 589<br />

Auch die Europäische Zentralbank (EZB) hat die Frage einer Anwendung der Taylor-Regel<br />

zur Verankerung von makroökonomischen Größen in der Geldpolitik geprüft. 590 Eine stark<br />

vereinfachte Form eines allgemeinen, dynamischen Gleichgewichtsmodells für den privaten<br />

Sektor zur Darstellung der allgemeinen Konjunkturlage als Funktion von Schocks und zeitgleicher<br />

Erwartungen findet sich in zwei Gleichungen:<br />

- Für den Output:<br />

( − )<br />

y = γ - γ i E ̟ + E y + v . (172)<br />

t 0 1 t t t+1 t t+1 t<br />

Diese Gleichung dient einer Abbildung der Angebotsseite. Die aktuellen Produktionsentscheidungen<br />

yt stehen in einem inversen Zusammenhang mit dem Realzinssatz<br />

( it − Et ̟ t+1 ) , welcher sich aus dem nominellen Zins it minus die erwartete Inflationsrate Et ̟t+1<br />

für die kommende Periode ableitet. Einen positiven Einfluss haben die Erwartungen hinsichtlich<br />

der zukünftigen Produktionsbedingungen Et y t+1 ; zudem wird ein stochastischer Störterm<br />

vt berücksichtigt. Als Transmissionsmechanismus werden vor allem die Kreditkosten betrachtet,<br />

welche sich – je nach der realen Größe – positiv oder negativ auf die Produktionsentscheidungen<br />

auswirken. Die Parameter 0 γ und γ sind größer als null. Diese Gleichung stellt<br />

1<br />

die Entwicklung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage bei einer gegebenen geldpolitischen<br />

Strategie dar.<br />

- Für die Inflationsrate wird angenommen:<br />

( − ) .<br />

̟ = δ E ̟ + δ y y * + u (173)<br />

t 0 t t+1 1 t t<br />

Die aktuelle Inflationsrate ̟t ergibt sich aus den Preisanpassungen, welche aufgrund der<br />

Erwartungen für die künftige Inflationsrate vorgenommen werden und dem aktuellen Auslastungsgrad<br />

der Kapazitäten, welcher annäherungsweise der Produktionslücke yt − y * und einem<br />

Störtermentspricht t u entspricht. Die Koeffizienten 0 δ und δ1 sind >0 bzw.


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

i t = r * +̟ * +α( Et ̟t+k - ̟ * ).<br />

(174)<br />

Diese Taylor-Formel enthält für die kurzfristigen Zinsen in der aktuellen Periode den Wert<br />

r * im steady state (Zinssatz für ein gleichgewichtiges Wachstum), die Zielinflationsrate ̟ *<br />

und einen Inflationgap, welcher sich auf die Abweichung der künftig erwarteten Inflationsrate<br />

E ̟ von der Zielinflationsrate ̟ * bezieht (gewichtet mit dem Faktor α).<br />

t t+k<br />

Die Befürworter einer Anwendung der Taylor-Regel gehen von der Möglichkeit aus, Wirkungsverzögerungen<br />

von bis zu zwei Jahren bei der Inflationsrate ̟t+k erfassen zu können. Allerdings<br />

betrachtet die EZB die Möglichkeit einer Anwendung dieser Formeln als nicht ermutigend.<br />

Deren Implementierung kann zu Instabilitäten und willkürlichen Erwartungen führen.<br />

Die Gefahr von Stabilitätsproblemen steigt mit der Länge des gewählten Prognosezeitraums k .<br />

Diese möglichen Instabilitäten lassen sich nach Auffassung der EZB auf Prognoseunsicherheiten<br />

zurückführen; solche können angesichts der großen Sensitivität der Geldpolitik extreme<br />

Schwankungen der Ergebnisse (Inflations- und Wachstumsrate) bewirken, womit die stabilisierenden<br />

Eigenschaften der Taylor-Regel verloren gehen.<br />

Zudem können plötzliche Veränderungen bei den Erwartungen zu verschiedenen, als möglich<br />

beurteilten konjunkturellen Entwicklungen führen. In diesem Fall ist es für die Wirtschaftssubjekte<br />

unklar, wie das geldpolitische System auf exogene Schocks wie beispielsweise<br />

et und ut reagiert.<br />

Die Taylor-Regel ist für die EZB dennoch eine mögliche Orientierungshilfe zur Erreichung<br />

der geldpolitischen Ziele. Es fehle nach Auffassung der EZB jedoch die Ankerwirkung, welche<br />

die Taylor-Regel nicht bieten könne.<br />

7. Die Berücksichtigung der Wechselkurse<br />

Eine Taylor-Regel mit Berücksichtigung der Wechselkurse lautet in allgemeiner Form (die<br />

vollständig optimale Geldpolitik ist komplexer als die nachfolgende Gleichung und enthält<br />

vor allem auch lags): 591<br />

i t = g̟ ̟ t + gyy t + ge0e t + ge1e t-1 + ρi t-1.<br />

(175)<br />

Es bezeichnen it den Zinssatz, ̟t die Inflationsrate (bezogen auf die vergangenen vier Quartale),<br />

yt den Outputgap (Abweichung des beobachteten Outputs vom potentiellen Output) und<br />

et den Wechselkurs (eine Erhöhung von e bedeutet eine Aufwertung der inländischen Währung).<br />

g sowie ρ sind Parameter der geldpolitischen Einflussnahme (wobei die Festsetzung der<br />

Zinsen als geldpolitisches Instrument dient).<br />

Ob die antizipierte oder die aktuelle Inflationsrate eingesetzt wird, spielt nach Auffassung<br />

von Taylor keine ausschlaggebende Rolle, zumal sich die antizipierten Inflationsraten in der<br />

Regel nahe bei den aktuellen Inflationsrate befinden. Hinzu kommt, dass die antizipierten Inflationsraten<br />

von den unterstellten Transmissionsmechanismen abhängen.<br />

Bei der geldpolitischen Regel stellt sich die Frage, ob die g-Koeffizienten von null abweichen<br />

sollen. Die aus empirischen Studien hervorgehenden Koeffizienten sind oft negativ für g0 (je<br />

höher der Wechselkurs, desto tiefer die Zinssätze) und positiv für g1, wobei der Koeffizient für<br />

g0 größer ist als jener für g1. Betragen beispielsweise g0 –0,4 und g1 +0,2, so ergibt eine Verände-<br />

591 Vgl. Taylor, John B., 1999, S. 14.<br />

316


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

rung des Zinssatzes bei einer Aufwertung des realen Wechselkurses um ein Prozent eine<br />

Senkung der kurzfristigen Zinsen um 0,2 Prozentpunkte. 592 Die Relation der beiden Koeffizienten<br />

zueinander entspricht einer abnehmenden Gewichtung der vergangenen realen Wechselkurse.<br />

Die dahinter stehende Logik sind gewisse Preisrigiditäten bei den Importen und Exporten,<br />

welche sich auch auf die Inflationsraten auswirken.<br />

Für einzelne Länder (in Europa beispielsweise für Frankreich und Italien) bringt die Anwendung<br />

einer solchen Regel eine bessere, für andere Länder (in Europa beispielsweise<br />

Deutschland) eine etwas schlechtere Performance. Insgesamt betrachtet zeigen sich derzeit<br />

keine besseren und vielfach sogar weniger vorteilhafte Wirkungen direkter geldpolitischer Reaktionen<br />

auf Wechselkursschwankungen. Nur für kleinere Länder erscheint die Berücksichtigung<br />

der Wechselkurse sinnvoll. Hier hängen die Koeffizienten ge0 und ge1 von den Wechselkursreaktionen<br />

geldpolitischer Maßnahmen ab.<br />

Warum führen direkte geldpolitische Reaktionen auf reale Wechselkursänderungen nicht zu<br />

besseren Wirkungen? Erstens haben inflationsbedingte Zinsanpassungen Wirkungen auf die<br />

Wechselkurse. Zinserhöhungen beispielsweise bewirken eine geringere Inflationsrate und einen<br />

kleineren Output, was wiederum eine reale Aufwertung und tiefere Importpreise sowie<br />

die Erwartung weckt, dass die Zinssätze später sinken werden. Wesentlich stärkere Effekte bei<br />

der Anwendung der geldpolitischen Regel sind denkbar, wenn die Erwartungen hinsichtlich<br />

der künftigen Entwicklung des Inflationgap und Outputgap als Grundlage für die Festsetzung<br />

der Zinsen zugrunde gelegt werden. Zweitens kann sich ein Vorteil von indirekten Reaktionen<br />

daraus ergeben, dass direkte Reaktionen deshalb nicht wünschenswert erscheinen, weil vorübergehende<br />

Wechselkursschwankungen veränderte Inflationserwartungen auslösen, und die<br />

inflationsbedingten Zinsanpassungen wiederum die Wechselkursschwankungen verstärken.<br />

Der Koeffizient ρρρρ (Berücksichtigung des Zinses in der vergangenen Periode) ist nach Auffassung<br />

von Taylor zweckmäßigerweise null, nach anderer Auffassung zwischen null und eins, je<br />

nach dem unterstellten Transmissionsmechanismus.<br />

8. Der Übergang von einer geldpolitischen Regel zur anderen<br />

In der Übergangsphase von einer geldpolitischen Regel zu einer anderen ergeben sich nicht<br />

zu unterschätzende Probleme, vor allem wenn die Inflationsraten gesenkt werden sollen (beispielsweise<br />

von fünf auf zwei Prozent). Ein solcher Schritt ist mit den üblichen Problemen einer<br />

Disinflation verbunden. 593 Dies ist auf die Annahme rationaler Erwartungen der Wirtschaftssubjekte<br />

zurückzuführen, was eine langfristige Ausrichtung der Geldpolitik erfordert.<br />

Die Wirtschaftssubjekte müssen ihre Erwartungen zuerst an die neue Politik anpassen und von<br />

der Glaubwürdigkeit der neuen geldpolitischen Regeln überzeugt sein, damit diese ihre Wirkungen<br />

entfalten können. Indem sich die Erwartungen nur sukzessive anpassen, können die<br />

Wirkungen einer veränderten geldpolitischen Regel anders ausfallen als vorausgeschätzt. Zudem<br />

gibt es in jeder Volkswirtschaft natürliche Rigiditäten, welche eine sofortige Verhaltensänderung<br />

der Wirtschaftssubjekte erschweren. Dazu zählen die veränderten Kalkulations-<br />

592 Bei den langfristigen realen Gleichgewichtswechselkursen ist allerdings davon auszugehen, dass diese in der Praxis<br />

nicht bekannt sind, was die Formulierung einer geldpolitischen Regel erschwert.<br />

593 Vgl. Taylor, John B., 1993, S. 203 f.<br />

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Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

grundlagen für Investitionsprojekte sowie längerfristige Darlehensverträge und Lohnabschlüsse,<br />

welche von der alten geldpolitischen Regel ausgehen.<br />

Die Taylor-Regel kann entweder in einer Form angewendet werden, welche auf die spezifischen<br />

Verhältnisse angepasst wird, oder sie dient als Grundlage der geldpolitischen Entscheidungen.<br />

Im letzteren Falle fügt sie sich in das Spektrum weiterer Indikatoren ein, zu welchen<br />

auch die Frühindikatoren, der Verlauf der Zinskurve und Voraussagen aufgrund ökonometrischer<br />

Modelle zählen. Die Taylor-Regel kann Aussagen über die mögliche Anpassung der<br />

kurzfristigen Zinsen liefern. Es sind auch Modellrechnungen zur Variation der Koeffizienten<br />

für die Gewichtung der erwarteten Inflationsrate und des Outputgap denkbar.<br />

9. Die Verfahrensschritte bei der Evaluierung einer zweckmäßigen Taylor-Regel<br />

Bei den für die Taylor-Regel unterstellten Transmissionsmechanismen 594 gehen die neueren<br />

Ansätze der normativen Makroökonomie implizit oder explizit davon aus, dass die Zentralbank<br />

Inflationsziele (inflation targets) setzt. Das geldpolitische Ziel besteht in diesem Fall darin,<br />

die künftig erwartete Inflationsrate nahe beim Zielwert zu halten und Einfluss auf die Variabilität<br />

des Outputs, der Beschäftigung und ggf. des Wechselkurses zu nehmen.<br />

Die einzelnen Modelle haben folgende Eigenschaften: (1) Sie sind dynamisch, um die lags<br />

bei den monetären Transmissionsmechanismen und die Bedeutung der Erwartungen bei den<br />

Finanzmärkten erfassen zu können. (2) Es handelt sich um makroökonomische Gleichgewichtsmodelle,<br />

um die Bedeutung von rationalen Erwartungen bzw. modellkonsistenten Erwartungen<br />

abzubilden. (3) Die Modelle sind stochastischer Natur, um die Effektivität der<br />

geldpolitischen Regeln bei unerwarteten Schocks analysieren zu können.<br />

Solche Modelle können mit Hilfe von mathematischen Formeln aufgebaut werden, welche<br />

Gleichungen enthalten, die sich sowohl auf die Vergangenheit als auch auf künftig erwartete<br />

Werte beziehen. Ein typisches Modell ist:<br />

( , − ,..., ,<br />

)<br />

f = y y y E y ,...,E y ,a ,x = u . (176)<br />

1 t t 1 t-p t t-1 t t+q 1 t it<br />

Es bedeuten:<br />

- i eine Zahlenreihe zwischen 1, ..., n,<br />

- y t ein n-dimensionaler Vektor von endogenen Variablen zum Zeitpunkt t,<br />

- x t ein Vektor der exogenen Variablen zum Zeitpunkt t,<br />

- a 1 ein permanenter Vektor und<br />

- u it der Vektor der stochastischen Schocks zum Zeitpunkt t.<br />

Das einfachste Modell mit rationalen Erwartungen enthält eine lineare Gleichung. Es handelt<br />

sich um den Modelltyp von Phillip Cagan595 mit folgenden Elementen: Die endogene Variable<br />

yt ist das Preisniveau, Et yt-1 der erwartete künftige Output und xt die instrumental gesteuerte<br />

Geldmenge. Die in der Wirklichkeit große Komplexität der einzelnen linearen und nichtlinearen,<br />

schwierig darzustellenden Modelle zeigt sich in mehreren Gleichungen und Koeffizienten<br />

(p und q), welche größer als eins sind.<br />

Für die einzelnen, von Taylor unterstellten Transmissionsmechanismen kommt es zu folgenden<br />

Feststellungen:<br />

594 Vgl. Taylor, John B., 1999a, 31 p.<br />

595 Vgl. Cagan, Phillip, 1956, S. 25-117.<br />

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- Die Finanzmarktsicht („financial market price view“) geht von den Wirkungen der geldpolitischen<br />

Maßnahmen auf die Preise und die Renditen von Finanzaktiven sowie den aus dem<br />

internationalen Effektenhandel resultierenden Wechselkurswirkungen aus. Je nach der Sensitivität<br />

der Wechselkurse resultieren unterschiedlich intensive Transmissionseffekte über den<br />

Außenhandel. Für die US-amerikanischen Verhältnisse führen Koeffizienten bei der Taylor-<br />

Regel von 1,5 (Inflationsrate) und 0,5 (oder 1,0) für den Outputgap zu angemessenen Ergebnissen<br />

ohne größere Depressionen und Inflationsprozesse.<br />

- Ein weiterer Transmissionsmechanismus ist der Kreditkanal, dessen Wirkung in der Erhöhung<br />

oder Senkung der Kreditkosten besteht. Dieser führt zu ziemlich kleinen Varianzen bei<br />

der Inflation und dem Output.<br />

- Ein anderer Transmissionsmechanismus sind verzögerte Preis- und Lohnanpassungen, wobei<br />

die Inflationserwartungen die künftigen Preis- und Lohnanpassungen beeinflussen. Ein Koeffizient<br />

von 0,5 für den Outputgap erscheint vernünftig. Bei einer Änderung der geldpolitischen<br />

Regel kann es zu einer vorübergehenden Verzerrung der realen Zinssätze kommen.<br />

Der angewendete monetäre Transmissionsprozess hat einen starken Einfluss auf die Ergebnisse<br />

der einzelnen geldpolitischen Regeln. Wie groß diese Effekte sind, ist abhängig von den<br />

unterstellten monetären Effekten. Je mehr Koeffizienten berücksichtigt werden, desto stärker<br />

ist der Einfluss der einzelnen monetären Transmissionsmechanismen auf die Ergebnisse. Damit<br />

verlieren die Modelle jedoch an Robustheit.<br />

Ungewiss ist bisher, wie stark die Zinsen bei Schwankungen des Outputgap und des Inflationgap<br />

verändert werden sollen. Jedenfalls ist auch künftig nach möglichst präzisen Vorgaben<br />

für die Fixierung der kurzfristigen Zinsen zu fragen.<br />

Die einzelnen Verfahrensschritte zur Herleitung einer zweckmäßigen Regel für die Geldpolitik<br />

dienen der Festsetzung der kurzfristigen Zinsen, um Abweichungen von den Preis- und<br />

Outputzielen zu beeinflussen. Die praktische Anwendung der einzelnen Modelle ergibt sich<br />

aus folgenden Schritten: 596<br />

- Einfügen der zu prüfenden geldpolitischen Regel in das gewählte Modell,<br />

- Auflösung des Modells, indem ein möglicher Lösungsalgorithmus gewählt wird,<br />

- Analyse der stochastischen Verteilung der Varianzen der einzelnen Variablen<br />

(Inflation, Output, Unterbeschäftigung),<br />

- Evaluation der geldpolitischen Regel mit den besten Eigenschaften, und<br />

- Überprüfung der Robustheit des Modells aufgrund eines Vergleichs mit anderen<br />

Modellen.<br />

10. Beurteilung<br />

Die Taylor-Regel ist keine starre Formel. Empirische Studien zeigen unterschiedliche Wirkungen<br />

der verschiedenen Formeln von Taylor-Regeln zur Minimierung der Standardabweichung<br />

der Zielfunktion. Während diese zu unterschiedlichen Ergebnissen hinsichtlich der anzuwendenden<br />

Komponenten und Koeffizienten gelangen, besteht eine gewisse Einigkeit über<br />

die funktionale Form und die Vorzeichen der Taylor-Regel. 597<br />

Die Schwierigkeiten bei der Anwendung der Taylor-Regel bestehen unter anderem in der<br />

Schätzung des realen Gleichgewichtszinssatzes, der Kapazitätsauslastung und der zu erwartenden<br />

Inflationsraten. Es ist nicht einfach zu erkennen, ob ein Preisanstieg permanent oder<br />

vorübergehend ist. Hilfreiche Indikatoren für die Prognose der Inflationsrate sind die Futu-<br />

596 Vgl. Taylor, John B., 1999, S. 8 f.<br />

597 Taylor betont deshalb die Notwendigkeit weiterer Forschungsaktivitäten.<br />

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Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

resmärkte, die Entwicklung der Zinsstruktur, Befragungen und die Meinung von Analysten.<br />

Allerdings lassen sich solche Indikatoren schwer in mathematische Formeln fassen.<br />

In Rezessionszeiten erscheint zudem eine kurzfristige Anpassung der Leitzinsen angebracht.<br />

Außerdem gibt es besondere Fälle, wie beispielsweise Börsencrashs, welche nach kurzfristigen<br />

monetären Maßnahmen rufen. Dies bedeutet jedoch keineswegs eine generelle Abkehr von<br />

einer regelgebundenen Geldpolitik und die Rückkehr zu einer diskretionären Geldpolitik.<br />

Die Anhänger sehen Vorteile bei der Anwendung der Taylor-Regel gegenüber einer Anwendung<br />

der Geldmengenregel. Geldpolitische Maßnahmen zur direkten Steuerung des Preisniveaus<br />

und des Outputs sind – vor allem in größeren Ländern – nach Auffassung von Taylor<br />

vergleichsweise besser geeignet als eine Steuerung der Geldmengen oder der Wechselkurse.<br />

Geldpolitische Regeln, welche der Steuerung der Geldmengen oder der Wechselkurse dienen,<br />

liefern keine besonders guten Ergebnisse hinsichtlich der Entwicklung des Preisniveaus und<br />

des Outputs. Dabei implizieren die inzwischen vielfältigen Formen der Taylor-Regel keine<br />

konstante Geldmengenregel. Sie führen vielmehr zu sich verändernden Wachstumsraten bei<br />

den Geldmengen, wobei nur die kurzfristigen Zinsen reguliert werden.<br />

Bei der Anwendung der Taylor-Regel sind Lernprozesse und experimentelle Überlegungen<br />

erforderlich. Kommen die Ergebnisse solcher Analysen dem aktuellen Diskontsatz nahe, zeigt<br />

sich eine Bestätigung für die Richtigkeit der Geldpolitik in der vergangenen Zeit und eine bestimmte<br />

Gewissheit, sich von dieser auch in Zukunft leiten zu lassen.<br />

320


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012), Teil 1<br />

Thesen<br />

1. Je geringer der Inflationgap bzw. - Diese These trifft zu (mit einem lag von vier<br />

je kleiner die Inflationsrate ist, desto Monaten).*<br />

größer ist die Liquiditätszuführung<br />

durch die EZB.<br />

2. Je kleiner der Outputgap bzw. je - Diese These trifft zu.<br />

geringer das wirtschaftliche Wachs-<br />

tum ist, desto größer ist die Liquidi-<br />

tätszuführung durch die EZB.<br />

3. Die Preisanpassungen reagieren mit - Diese These trifft zu (mit einem lag von<br />

einer Verzögerung auf das wirtschaft- etwa vier Monaten).<br />

liche Wachstum.<br />

4. Die Lohnentwicklung reagiert verzö- - Diese These trifft nur tendenziell zu (mit<br />

gert auf das wirtschaftliche Wachstum. einem lag von etwa fünf Monaten.<br />

5. Die kurzfristigen Zinssätze (Mindest- - Diese These trifft zu (mit einem lead von drei<br />

bietungssatz) reagieren auf die erwar- Monaten.<br />

teten Abweichungen zwischen der Infla-<br />

tionsrate und der Zielinflationsrate.<br />

6. Bei einer einfachen Taylor-Regel - Im Euro-Währungsgebiet liegen die tat-<br />

mit Inflationgap und Outputgap sächlichen Gewichtungsfaktoren für den<br />

beträgt der Gewichtungsfaktor für den Inflationgap(8) und den Outputgap jeweils<br />

Inflationgap zwischen 1,0 und 1,5 sowie bei 0,07 bzw. 0,02. Diese Werte sind tiefer als<br />

für den Outputgap beispielsweise 0,5 bei Anwendung einer einfachen Taylor-Regel.<br />

7. Bei einer einfachen Taylor-Regel - Im Euro-Währungsgebiet beträgt der<br />

gelangen der reale Gleichgewichts- reale Gleichgewichtszinssatz für die Re-<br />

zinssatz und die tatsächliche Infla- ferenzperiode durchschnittlich etwa - 1,0<br />

tionsrate zur Anwendung. Prozent; die durchschnittliche Inflations-<br />

rate liegt bei etwa zwei Prozent.<br />

* Bei einem zugrunde gelegten Signifikanzniveau von mindestens 0,10.<br />

321


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2005), Teil 2<br />

Thesen:<br />

8. Bei der graphischen Darstellung - Im Euro-Währungsgebiet beträgt der<br />

der Taylor-Regel (mit lediglich der entsprechende Faktor in der Referenz-<br />

Inflationsrate und ohne den Inflation- periode etwa 1,17.<br />

gap sowie den Outputgap) steigt oder<br />

sinkt der kurzfristige Geldmarktsatz<br />

– bei Über- und Unterschreiten einer<br />

Inflationsrate von zwei Prozent –<br />

mit dem Faktor 1,5.<br />

9. Die Taylor-Regel lässt sich als regelge- - Diese These lässt sich für das Euro-<br />

bundene Form der Geldpolitik anwen- Währungsgebiet nicht bestätigen. Vor<br />

den. allem erfordern Schocks – auch nach Auffassung<br />

von Taylor – eine diskrete Zins steuerung.<br />

10. Die Anwendung der erwarteten - Diese These lässt sich tendenziell vertreten.<br />

Inflationsraten bringt bessere Ergeb- Nach Taylor spielt es keine ausschlaggebende<br />

nisse als der aktuellen Inflationsraten. Rolle, ob die erwartete oder die aktuelle Infla-<br />

tionsrate angewendet wird.<br />

11. Die Berücksichtigung der Wechsel- - Die Anwendung der Wechselkursver-<br />

kurse kann zu besseren oder schlech- änderungen bewirkt im Euro-Währungs-<br />

teren Ergebnissen führen. gebiet marginal schlechtere Ergebnisse, d.h.<br />

eine größere Varianz der Zinsen.<br />

12. Die Taylor-Regel ist zur Beurteilung - Diese These trifft zu.<br />

des geldpolitischen Umfeldes geeignet.<br />

* Bei einem zugrunde gelegten Signifikanzniveau von mindestens 0,10.<br />

Eine wesentliche Kritik an der Taylor-Regel besteht in einer vorerst eskalierenden Inflationsrate<br />

bei steigenden Zinsen. Erst wenn die Nachfrage nach Gütern gedämpft wird, beginnen<br />

die Inflationsraten zu sinken und es besteht die Chance zu einer Rückkehr zur angestrebten<br />

Entwicklung des Preisniveaus. Dies spricht für eine rasche Erhöhung der kurzfristigen<br />

Geldmarktzinsen, wie dies auch im Politik-Reaktionsparameter (beispielsweise 1,5 zum<br />

Inflationgap) impliziert wird.<br />

Als Alternative ist eine preisniveauorientierte Steuerung der Liquiditätszuführung durch die<br />

Zentralbank zu betrachten, sofern eine diesbezügliche Kausalität zur Veränderung des Preisniveaus<br />

unterstellt werden kann. Dabei laufen die geldpolitischen Operationen der Entwicklung<br />

des Preisniveaus nicht mehr „hinterher“, sondern beeinflussen dieses im Voraus. Die<br />

Zinssätze werden in diesem Fall nicht mehr direkt gesteuert, sondern sind das Ergebnis der<br />

Nachfrage der Geschäftsbanken nach Zentralbankliquidität und der Liquiditätszuführung<br />

durch die Zentralbank.<br />

322


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

IX. Exkurs: Das P-Stern-Modell<br />

Das P-Stern-Modell ist ein etwas neueres monetäres Modell zur Erklärung der Transmissionsmechanismen<br />

der Geldpolitik. 598 Der Begriff „P-Stern-Modell“ leitet sich von p* ab, womit<br />

das gleichgewichtige Preisniveau p* bezeichnet wird, welches sich bei den aktuell nachgefragten<br />

Geldbeständen ergeben würde, wenn sowohl der Gütermarkt als auch der Geldmarkt im<br />

Gleichgewicht wären. Das gleichgewichtige Preisniveau stellt sich auf eine längere Frist ein,<br />

wenn die Ungleichgewichte abgebaut sind.<br />

Das P-Stern-Modell unterscheidet sich unter anderem von den keynesianischen Modellen,<br />

welche die Inflation vor allem unter dem Aspekt der inflatorischen und deflatorischen Lücke<br />

(dem Outputgap bzw. dem Beschäftigungsgrad) betrachten. So spielt beispielsweise bei den<br />

neukeynesianischen Modellen des Taylor-Typs die Geldmenge keine derart entscheidende<br />

Rolle bei der Entstehung und Ausbreitung von inflationären Prozessen wie beim P-Stern-<br />

Modell.<br />

Zu den zentralen Begriffen zählt die „Preislücke“, mit welcher das Überschussangebot an<br />

Geld im Sinne einer potentiellen Nachfrage nach Gütern bezeichnet wird.<br />

Die Geldnachfragefunktion lautet:<br />

d<br />

m = p + βy - λi, (177)<br />

wobei m d den natürlichen Logarithmus der Geldnachfrage, p den natürlichen Logarithmus des<br />

Preisniveaus, β die Einkommenselastizität, y den natürlichen Logarithmus des Einkommens, λ<br />

die Semi-Elastizität der Geldnachfrage und i die Opportunitätskosten der Geldhaltung (langfristiger<br />

Zinssatz bzw. Zinsdifferenz bei weiten Geldmengenaggregaten) bezeichnen.<br />

Der Geldüberhang ergibt sich aus dem relativen Unterschied zwischen dem Geldbestand<br />

und der Geldnachfrage:<br />

d<br />

m = m + u m , (178)<br />

wobei unter m der natürliche Logarithmus des vorhandenen Geldbestandes, md der natürliche<br />

Logarithmus der Geldnachfrage und um der Geldüberhang (relative Differenz zwischen dem<br />

Geldbestand und der Geldnachfrage) zu verstehen ist.<br />

Die Preislücke geht von der gleichgewichtigen Geldmenge m* aus, welche unter der Voraussetzung<br />

nachgefragt würde, dass sowohl der Gütermarkt als auch der Geldmarkt im Gleichgewicht<br />

sind:<br />

m* = p + βy * -λi*, (179)<br />

mit m* als dem natürlichem Logarithmus der Gleichgewichtsgeldmenge, y* dem natürlichen<br />

Logarithmus des Produktionspotentials und i * dem Gleichgewichtszins.<br />

Als Geldlücke um wird die relative Differenz zwischen dem aktuellen Geldbestand m und<br />

der Gleichgewichtsgeldmenge m * bezeichnet:<br />

m - m* = β( y - y * ) - λ(i - i*)+ u m.<br />

(180)<br />

598 Die Grundlage dieser Ausführungen bildet Tödter, Karl-Heinz, 2002.<br />

323


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

324<br />

Die Ungleichgewichte ergeben sich aus dem Güterbereich y - y * , dem Geldbereich i - i *<br />

sowie durch den Geldüberhang u m .<br />

Der Gleichgewichtspreis (P-Stern bzw. p*) würde sich bei den aktuellen vorhandenen Geldbeständen<br />

ergeben, wenn sowohl der Gütermarkt als auch der Geldmarkt im Gleichgewicht<br />

wären:<br />

p* = m − β y * + λ i * .<br />

(181)<br />

Sind die Ungleichgewichte im Güterbereich y - y * , im Geldbereich i - i * sowie beim Geld-<br />

überhang um verschwunden, so ergibt sich das Gleichgewichtspreisniveau.<br />

Dabei entsprechen sich die Preislücke und die Geldlücke:<br />

p* -p = β( y - y * ) − λ(i - i*)+ um = m - m* . (182)<br />

Nach dieser Formel ist die Inflation auf lange Frist ein monetäres Phänomen. Ein Preisdruck<br />

entsteht, wenn die Auslastung der Produktionskapazitäten zu hoch ist (Kapazitätsdruck), das<br />

Zinsniveau unter dem Gleichgewichtszinsniveau liegt (Zinsdruck) oder ein Geldüberhang<br />

(Geldangebotsdruck) besteht.<br />

Der Transmissionsmechanismus der Geldpolitik im P*-Modell läuft auf zwei Wegen, der realen<br />

Güternachfrage und der Geldnachfrage:<br />

- Die reale Güternachfrage steht in einem inversen Zusammenhang mit den Zinsen, und wirkt<br />

sich über den Auslastungsgrad der wirtschaftlichen Kapazitäten auf die Inflationsrate aus.<br />

- Die Geldnachfrage steht ebenfalls in einem inversen Zusammenhang zu den Zinsen und<br />

wirkt über die Liquiditätsausstattung der Wirtschaft (Liquiditätsgrad) auf die Inflationsdynamik.<br />

Damit ist die Geldpolitik in der Lage, die Dynamik der Inflation sowohl im Rahmen der Güternachfrage<br />

als auch der Geldnachfrage zu steuern. Im P*-Modell nimmt die Geldmengenpolitik<br />

in der Regel eine aktive Rolle ein. Voraussetzungen sind eine stabile langfristige Geldnachfrage<br />

und eine Inflationsdynamik, welche von der Preislücke bestimmt werden. Das P-Stern-<br />

Modell geht – entgegen der Taylor-Regel – von einer kleineren Varianz der Inflation als auch<br />

des Outputs aus, zudem auch von geringeren Outputverlusten bei einer Politik der Disinflation<br />

(Abbau von größeren Inflationsraten).<br />

Empirische Hinweise für das Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Die Veränderung des Preisniveaus ist - Diese These trifft zu (log(M1)).<br />

langfristig – unter anderem - auch ein monetäres<br />

Phänomen.<br />

2. Bei einer hohen Kapazitätsauslastung - Diese These trifft zu (mit einem lag<br />

ergibt sich ein Preisdruck. von bis zu vier Monaten).<br />

3. Bei einem Zinsdruck (das Zinsniveau - Diese These trifft nur geringfügig und<br />

liegt unter dem Gleichgewichtszinsniveau) mit einem Vorlauf von etwa einem Jahr<br />

entsteht ein Preisdruck. zu (nicht signifikant).*<br />

4. Bei einem Geldüberhang erfolgt ein - Diese These trifft geringfügig zu.<br />

Preisdruck.<br />

* Bei einem zugrunde gelegte Signifikanzniveau von mindestens 0,10.


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 14. Die Geldordnung (Euro-Währungsgebiet)<br />

I. Die Währung<br />

1. Allgemeines<br />

Die Geldverfassung eines Landes (in unserem Falle das Euro-Währungsgebiet-17)<br />

wird durch die Verfassung, Gesetze, zahlreiche Institutionen sowie geld- und<br />

währungspolitische Eingriffe geordnet. Die Zuständigkeit für die Geldverfassung<br />

(Währungsordnung) liegt beim Ministerrat, dem Europäischen Parlament<br />

und der Europäischen Zentralbank. In der Währungsverfassung eines Landes<br />

werden Geldeinheiten wie z. B. der Euro als gesetzliche Zahlungsmittel verankert.<br />

599<br />

Im Rahmen der internationalen Währungsordnung kann eine Währung auch Bedeutung<br />

als Devise für außenwirtschaftliche Transaktionen und als multiple<br />

Währungsreserve von ausländischen Zentralbanken erlangen. Ist dies der Fall,<br />

wird eine Währung zu einem Element der internationalen Währungsordnung.<br />

Deren außenwirtschaftliche Bedeutung zeigt sich auch in der Bedeutung als<br />

Emissionswährung im Rahmen der internationalen Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte<br />

und als Fakturierungswährung (Denominationswährung) für den internationalen<br />

Handel.<br />

2. Die Ziele der Geldordnung<br />

Das Ziel der Geldordnung ist in erster Linie die Gewährleistung der Stabilität der<br />

Preise. 600 Eine Inflation führt – auch nach Auffassung der EZB – zu erheblichen<br />

Wohlfahrtsverlusten: 601<br />

- Verzerrung der relativen Preise (Güterpreise, Löhne, Zinsen und Wechselkurse),<br />

und damit der Effizienz der Ressourcenallokation durch den Markt, besonders<br />

bei nominalen Rigiditäten (länger dauernden Anpassungsprozessen der relativen<br />

Preise).<br />

- Unsicherheit bezüglich der Teuerung, und damit verbundene Risikoprämien.<br />

- Verstärkung der verzerrenden Effekte durch die Besteuerung (Wirkung der<br />

Steuerprogression).<br />

- Kosten der Umschichtung in Sachaktiven zum Schutz vor den Wirkungen der<br />

Inflation („Schuhlederkosten“),<br />

- Kosten von häufigeren Preisänderungen bei Waren und Dienstleistungen,<br />

599 Vgl. auch Issing, Einführung in die Geldpolitik, 1. Aufl., S. 1 ff.<br />

600 In den USA ist die Geldpolitik der Preisstabilitäts- und dem maximaler Wohlstands- bzw. Beschäftigungsziel verpflichtet.<br />

601 Vgl. EZB, Monatsbericht, Juni 2003, S. 91 f.<br />

325


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Umverteilungseffekte (Einkommens- und Vermögensverteilung) zu Lasten<br />

der schwächeren gesellschaftlichen Gruppen, vor allem zwischen Gläubigern<br />

und Schuldnern.<br />

Soweit dies ohne eine Beeinträchtigung des Ziels der Preisstabilität möglich ist,<br />

unterstützt das ESZB die allgemeine Wirtschaftspolitik in der Gemeinschaft und<br />

handelt im Einklang mit den Grundsätzen einer offenen Marktwirtschaft.<br />

II. Das allgemeine geldpolitische Konzept, konzeptionelle Entwicklungstendenzen<br />

1. Die Geldpolitik als black box<br />

Die Zentralbanken stehen bei ihren Entscheidungen vor dem Problem, dass zwischen<br />

dem Auslösen eines Impulses im monetären Bereich und der Wirkung im<br />

Realsektor eine black box zwischengeschaltet ist. Die Elemente innerhalb der<br />

black box wirken nicht alle in dieselbe Richtung und es lassen sich die Geldeffekte<br />

nicht genau vorhersagen, teilweise ergeben sich auch Rückkopplungen.<br />

Abbildung 92: Die Geldpolitik als „black box“<br />

Monetärer<br />

Bereich<br />

Zentralbank: Steuerung<br />

der<br />

- Geldmenge<br />

- Zinssätze<br />

- Bankenliquidität<br />

Monetärer Impuls<br />

„black<br />

box“<br />

Indirekte Wirkung<br />

auf den<br />

realen Bereich<br />

...<br />

... über die<br />

Geschäftsbanken<br />

und die<br />

Nichtbanken<br />

Quelle: Felkel, Stephanie, 1998, Abb. 1 im Anhang.<br />

Realer Bereich<br />

Wirtschaftspolitische<br />

Ziele, z. B.<br />

- Preisniveaustabilität<br />

- Wirtschaftswachstum<br />

- Beschäftigung<br />

- Zahlungsbilanz-<br />

gleichgewicht<br />

Endziele der<br />

Geldpolitik<br />

326


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der Grund, sich mit diesen Mechanismen zu beschäftigen, liegt in der Feststellung,<br />

ob und wie<br />

„ … geldpolitische Maßnahmen zur Stabilisierung der ökonomischen Aktivität<br />

sowie zur Realisierung der wirtschaftspolitischen Ziele, die sich anhand<br />

des magischen Vierecks manifestieren lassen, in der Lage sind. 602<br />

Um wirtschaftspolitischen Einfluss nehmen zu können, muss man wissen, wie<br />

die Wirkungszusammenhänge sind. Andernfalls können geldpolitische Maßnahmen<br />

wirkungslos oder auch kontraproduktiv sein.<br />

2. Das allgemeine Konzept der Geldprozesspolitik<br />

2.1. Die Grundlagen<br />

Die Geldprozesspolitik dient den makroökonomischen Zielen der Geldordnung.<br />

Grundlage der Geldprozesspolitik ist eine geldpolitische Strategie als längerfristiger,<br />

umfassend geplanter Rahmen zur Realisierung der wirtschaftspolitischen<br />

Endziele. 603<br />

Wesentliche Parameter der monetären Strategie sind:<br />

- Die Gewohnheiten der Wirtschaftssubjekte bei der Kassenhaltung, den Zahlungen<br />

und der Finanzierung.<br />

- Der Grad der Koordinierung zwischen der Finanz- und der Geldpolitik, im<br />

Besonderen die Geldschöpfungsmöglichkeiten des Staates und dessen Verschuldungspolitik.<br />

- Der Grad der Koordinierung der Einkommens- und Verteilungspolitik mit der<br />

Geldpolitik, vor allem hinsichtlich der Tarifautonomie der Tarifpartner bei<br />

den Lohnabschlüssen.<br />

- Der Grad der internationalen Verflechtung einer Volkswirtschaft im realen<br />

Außenhandel und mit den internationalen Geld-, Kredit- und Kapitalmärkten.<br />

- Die Abhängigkeit eines Landes von den Importen (vor allem Rohstoff- und<br />

Energieimporte).<br />

- Die Wahl des Wechselkursregimes. 604<br />

602 Vgl. Felkel, S. 26.<br />

603 Vgl. Issing, Othmar, Geldpolitik, 1990, S. 159.<br />

604 Vgl. Schaal, Peter, Monetäre Theorie und Politik, München/Wien 1981, S. 284 f.<br />

327


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die geldpolitische Strategie und deren Optimierung stehen damit in einem engen<br />

Zusammenhang mit der gewählten geldtheoretischen Konzeption, den Rahmenbedingungen<br />

und Lernprozessen durch Rückkopplungseffekte, welche zu<br />

Strategieanpassungen führen. 605 Anpassungen und neue Erkenntnisse bei den<br />

geldtheoretischen Konzeptionen, veränderte Rahmenbedingungen und Lerneffekte<br />

durch Erfolge und Misserfolge führen zu geldpolitischen Strategieanpassungen.<br />

2.2. Die einstufige geldpolitische Strategie<br />

Bei den geldpolitischen Strategien stehen derzeit im Vordergrund der Betrachtung<br />

- die einstufige geldpolitische Strategie mit einem direkten Inflationsziel (Inflation<br />

Targeting), welche seit einiger Zeit Eingang in die Praxis der Geldpolitik<br />

findet. Das Inflation Targeting setzt sich aus folgenden Elementen zusammen:<br />

- Die Festlegung einer Zielinflationsrate,<br />

- Die Definition einer geldpolitischen Strategie, wie diese zu erreichen ist<br />

(Zinspolitik, Geldmengenpolitik, Wechselkurspolitik),<br />

- Die Kommunikation mit der Öffentlichkeit im Hinblick auf übereinstimmende<br />

Erwartungen (Zentralbank und Publikum), in Anlehnung an Kydland<br />

und Prescott,<br />

- Die Verantwortung seitens der Zentralbank für die Erreichung der Zielinflationsrate<br />

(Reporting an die Regierung/das Parlament), Begründung von Zielabweichungen,<br />

persönliche Verantwortung des Vorstandes der Zentralbank<br />

ggfs. mit Sanktionen (Entlassung, Kürzung des Salärs).<br />

=> Das Inflation Targeting bewährte in vielen Ländern beim konsequenten<br />

Zurückfahren der Inflationsraten; in den höchstentwickelten Ländern (€, USD,<br />

Yen) wird meist ein „implizites Inflation Targeting“ (ohne direkte Betonung<br />

dieses Konzepts) betrieben.<br />

Bei der Strategie der direkten Inflationssteuerung handelt es sich um eine einstufige<br />

geldpolitische Strategie. Es wird das quantitative Inflationsziel mit einer Inflationsprognose<br />

verglichen, und es erfolgt ein direkter, zweckgerichteter Einsatz<br />

der geldpolitischen Instrumente, in erster Linie durch die Festlegung der Leitzinsen<br />

zur Beeinflussung der kurzfristigen Geldmarktzinsen. Ein mögliches Beispiel<br />

für den Einsatz der geldpolitischen Instrumente ist die Anwendung der Taylor-<br />

Regel.<br />

Als Vorteil eines unmittelbaren Inflationsziels (inflation targeting) ist die direkte<br />

Verantwortlichkeit des ESZB für die Kontrolle der Inflation zu nennen. Dies ist<br />

jedoch nur bei einem stabilen Zusammenhang zwischen den einzelnen monetä-<br />

605 Vgl. Schaal, Peter, Monetäre Theorie und Politik, 1981, S. 286 f.<br />

328


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

ren Indikatoren (aus der ökonomischen und finanziellen Sphäre) sowie der Inflationsrate<br />

möglich. Auf Abweichungen zwischen dem Inflationsziel und Preisprognosen<br />

reagiert eine Zentralbank mit einer angemessenen Veränderung ihrer<br />

Zinssätze (wie dies beispielsweise bei der Bank von England und der Schwedischen<br />

Reichsbank der Fall ist).<br />

Die Gewährleistung der Stabilität der Preise, das Inflation Targeting, hat sich seit<br />

Ende der 1989er Jahre zu einem geldpolitischen Verfahren mit zunehmender<br />

Verbreitung entwickelt. 606 Es wird allgemein davon ausgegangen, dass die Inflationsrate<br />

jene Variable ist, welche die Zentralbank (noch) am besten steuern kann<br />

und eine tiefe Inflationsrate einen günstigen Einfluss auf die weiteren makroökonomischen<br />

Ziele der Geldpolitik (Wachstum, Vollbeschäftigung und Zahlungsbilanzausgleich)<br />

hat. Ein bekannt gegebenes Inflationsziel bildet die<br />

Grundlage der Geldpolitik, eine Inflationsprognose als Richtschnur des Handelns.<br />

Dadurch wird die Inflationsrate zum nominellen Anker einer Währung.<br />

Die Inflationsprognose hat einen Horizont von bis zu drei Jahren, wobei beim<br />

Einfluss der Geldpolitik von einer erheblichen Wirkungsverzögerung auf die Inflationsrate<br />

ausgegangen wird.<br />

2.3. Die traditionelle zweistufige Strategie (mit einem geldpolitischen Zwischenziel)<br />

Eine weitere geldpolitische Strategie ist das Multiindikatorkonzept. Dieses fand<br />

in den 1980er Jahren Eingang in die geldpolitische Praxis, und arbeitet wie die<br />

geldpolitische Strategie mit einem direkten Inflationsziel ohne ausdrückliche<br />

Zwischenziele. Zahlreiche Indikatoren finden bei den geldpolitischen Maßnahmen<br />

Berücksichtigung. Dabei besteht die Gefahr, dass das Inflationsziel zu wenig<br />

beachtet wird und die Geldpolitik intransparent ist.<br />

Bei einer zweistufigen geldpolitischen Strategie werden die geldpolitischen Ziele<br />

indirekt über ein geldpolitisches Zwischenziel gesteuert. 607 In einer allgemeinen<br />

Form betrachtet ergibt sich daraus ein geldpolitisches Konzept mit vier Elementen,<br />

welches den Zusammenhang zwischen den geldpolitischen Instrumenten,<br />

den monetären Indikatoren, den geldpolitischen Zwischenzielen und den geldpolitischen<br />

Zielen darstellt. 608<br />

Bei einem zweistufigen Konzept werden die geldpolitischen Endziele von der<br />

Zentralbank nicht direkt, sondern indirekt beeinflusst. Geldpolitische Zwischen-<br />

606 Als erstes Land führte Neuseeland 1989 das Inflation Targeting ein.<br />

607 Vgl. Issing, Otmar, Einführung in die Geldpolitik, 3. Auflage, München 1990, S. 231.<br />

608 Vgl. zu diesen Ausführungen auch Issing, Otmar, Einführung in die Geldpolitik, 3. Auflage, München 1990, S. 161<br />

ff.<br />

329


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

ziele sind sinnvoll, wenn geldpolitische Malnahmen nur indirekt und zeitverzögert<br />

auf die ökonomischen Größen des realen Sektors wirken.<br />

Die Geldpolitik als zweistufiges Verfahren<br />

Abbildung 93: Die geldpolitische Strategie im zweistufigen Verfahren<br />

Monetäre Indikatoren<br />

z.B. z.B. z.B. z.B.<br />

Indikatoren aus - Zinssätze - Geldmengenaggr. - Geldwertstabili-<br />

dem realen und - Steuerung der Ban- - Kredite tät<br />

monetären kenliquidität - Bankenliquidität - Vollbeschäfti-<br />

Bereich - Steuerung der Geld - Zinssätze gung<br />

mengen - Außenwirt-<br />

- Steuerung der Wech- schaftliches<br />

selkurse Gleichgewicht<br />

- Wachstum.<br />

- Die geldwirtschaftlichen Zwischenziele sind „Vorziele für die wirtschafts- bzw. geldpolitischen<br />

Ziele“ und bilden die Steuergrößen (monetäre Variablen), an welchen die Zentralbank<br />

ihre geldpolitischen Operationen ausrichtet und welche der Erreichung der geldpolitischen<br />

Zwischenziele dienen. Die geldpolitischen Zwischenziele müssen auf zentralbankpolitische<br />

Maßnahmen reagieren, die von der Zentralbank kontrolliert werden können und<br />

zudem einen signifikanten Zusammenhang mit dem geldpolitischen Ziel aufweisen.<br />

- Zwischen den geldpolitischen Endzielen und den geldpolitischen Zwischenzie-len liegen<br />

die Geld- und Kreditmärkte als dem üblichen Operationsfeld der Zentralbank, auf welchem<br />

sich die Transmissionsprozesse abspielen. Dieser Transmissionsweg ist komplexer Natur<br />

und nur schwer zu beobachten. Auf die geldpolitischen Ziele wirken zahlreiche weitere<br />

Einflüsse ein, welche von der Zentralbank kaum beeinflusst werden können. Ein wesentliches<br />

Problem be-steht zudem darin, dass die Strukturzusammenhänge der Wirtschaft und<br />

die Wirkungsweise sowie -intensität geldpolitischer Maßnahmen auf die gesamtwirtschaftlichen<br />

Ziele nur begrenzt bekannt sind. 609<br />

609 Vgl. Issing, Otmar, 1990, S. 158.<br />

Geldpolitische Strategie<br />

Geldpolitische<br />

Instrumente (operating<br />

targets)<br />

Geldpoliti-<br />

sche Zwi-<br />

schenziele<br />

Geldpoliti-<br />

sche Endziele<br />

330


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Die geldpolitischen Zwischenzielgrößen sind endogener Natur und werden sowohl von der<br />

Geldpolitik als auch von anderen, exogenen Größen beeinflusst. Die monetären Indikatoren<br />

dienen vor allem der Beurteilung des monetären und realwirtschaftlichen Umfeldes der<br />

Geldpolitik. Es ergibt sich die Frage, wie sich die monetären Indikatoren und die geldpolitischen<br />

Zwischenziele voneinander abgrenzen lassen.<br />

„Dient im übrigen die gleiche Variable als Indikator und Zwischenziel, so signalisiert<br />

ihre Entwicklung ex post die Wirkungen vergangener geldpoli-tischer Maßnahmen (Indikator),<br />

während die Fixierung ihres Wertes für die Zukunft die Funktion des<br />

Zwischenziels erfüllt“. 610<br />

- Beim geldpolitischen Zwischenziel der Geldmenge muss vorausgesetzt werden, dass ein Zusammenhang<br />

zwischen der Geldmenge und der Preisniveaustabilität besteht. Zudem gibt es<br />

lags zwischen der Geldmengenentwicklung und der Inflation. Die Logik des zweistufigen<br />

geldpolitischen Konzepts folgt der Überlegung, dass die geldpolitischen Ziele das Erreichen<br />

von geldpolitischen Zwischenzielen erfordern, was wiederum die Beobachtung von (vorlaufenden)<br />

monetären Indikatoren erfordert, um die geldpolitischen Instrumente auf ein bestimmtes<br />

Ziel ausgerichtet einsetzen zu können.<br />

Die Geldmengenpolitik als Beispiel ist ein zweistufiges Verfahren. Mit der Hilfe<br />

eines geldpolitischen Zwischenziels (dem Geldmengenwachstum) wird versucht,<br />

das eigentliche geldpolitische Ziel (die Preisstabilität) zu erreichen. Ein früheres<br />

Anwendungsbeispiel war die Deutsche Bundesbank (bis 2004 ansatzweise auch<br />

die EZB).<br />

Beim geldpolitischen Zwischenziel muss vorausgesetzt werden, dass ein Zusammenhang<br />

zwischen der Geldmenge und der Preisniveaustabilität besteht. Zudem<br />

gibt es lags zwischen der Geldmengenentwicklung und der Inflation, weshalb<br />

die Geldmenge als monetäres Zwischenziel eingeschoben wird.<br />

Die Logik des zweistufigen geldpolitischen Konzepts folgt der Überlegung, dass<br />

die geldpolitischen Ziele das Erreichen von geldpolitischen Zwischenzielen erfordern,<br />

was wiederum die Beobachtung von (vorlaufenden) monetären Indikatoren<br />

erfordert, um die geldpolitischen Instrumente auf ein bestimmtes Ziel ausgerichtet<br />

einsetzen zu können. Dieser Zusammenhang ergibt sich unter anderem<br />

aus den lag-Strukturen: 611<br />

- Inside lag (information lag, recognition lag, decision lag, operational lag).<br />

- Intermediate lag (Zeitbedarf für die Wirkung der Maßnahmen der Geldpolitik<br />

auf die Geldmenge bzw. die Zinssätze).<br />

- Outside lag (Zeitbedarf für die Wirkung der veränderten Geldmengen bzw.<br />

610 Issing, Otmar, 1990, S. 159 f.<br />

611 Vgl. Issing, Einführung in die Geldpolitik, 1. Aufl., S. 129 ff.<br />

331


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zinssätze auf die geldpolitischen bzw. wirtschaftspolitischen Ziele).<br />

Fallen einzelne lag-Strukturen weg, werden auch die betreffenden Stufen des<br />

geldpolitischen Konzeptes obsolet. In der Vergangenheit ergaben sich sehr ausgeprägte<br />

lag-Strukturen zwischen dem Einsatz von geldpolitischen Zielen und<br />

den Wirkungen im makroökonomischen Bereich, weshalb das zweistufige Konzept<br />

mit geldpolitischen Zwischenzielen sinnvoll erschien, um die geldpolitischen<br />

Ziele ansteuern zu können. Seit einiger Zeit haben sich diese lags stark<br />

verkürzt.<br />

Makroökonomische Prozesse Geldpolitische lags<br />

Wirtschaftliche Prozesse<br />

Einsatz von Instrumenten<br />

information lag<br />

recognition lag<br />

decision lag<br />

operational lag<br />

inside lag<br />

Beobachten von monetären outside lag<br />

Indikatoren und geldwirt-<br />

schaftlichen Zwischenzielen<br />

Wirkung der Instrumente<br />

im realen Bereich.<br />

Ein mögliches, gravierendes Problem ist die Instabilität der Geldnachfrage, was<br />

die Wirksamkeit einer geldmengenorientierten Steuerung der Inflationsrate in<br />

Frage stellt. Die präzise Steuerung und Kontrolle des Geldschöpfungsprozesses<br />

wird auch durch Informationsprobleme erschwert. 612 Diese ergeben sich unter<br />

anderem aus den anhaltenden Desintermediationsprozessen (Kreditfinanzierung<br />

über die Kapitalmärkte) und der Internationalisierung der Finanzmärkte, was zu<br />

einer Zunahme der Währungssubstitution (Currency Substitution), führt. Die engen<br />

Substitutionsbeziehungen zwischen den einzelnen Zahlungsmitteln bewirken<br />

nach der „Currency Substitution Hypothese“ eine eingeschränkte Aussage-<br />

612 Vgl. Niehans, Jürg, Financial Innovation, Multinational Banking, and Monetary Policy. In: Journal of Banking and<br />

Finance, 1983, S. 537-551, S. 550.<br />

332


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

fähigkeit der nationalen Geldmengenaggregate und setzen die Wirksamkeit<br />

einer binnenwirtschaftlich orientierten Geldmengenpolitik herab. 613 Mit der<br />

Möglichkeit der Geldsubstitution wird das Geld zu einem mobilen Faktor zwischen<br />

den Ländern. Die Inländer können ausländisches Geld halten (und umgekehrt),<br />

wobei sich die Währungsrisiken über die Terminmärkte absichern lassen.<br />

Dies schränkt die Wirksamkeit einer zweistufigen Geldpolitik mit einer Geldmengensteuerung<br />

als geldpolitisches Zwischenziel ein, indem der binnenwirtschaftliche<br />

Geld- und Kreditschöpfungsprozess unvorhersehbaren Schwankungen<br />

unterworfen wird. 614<br />

2.4. Ein Korb von Währungen als geldpolitisches Zwischenziel<br />

In den Transformations-, Schwellen- und Entwicklungsländern wird oft eine<br />

Währung oder ein Korb von Währungen als geldpolitisches Zwischenziel verwendet.<br />

Damit besteht ein Währungsanker, welcher zur Stabilität der inländischen<br />

Währung führen soll. Die Stabilisierung der Wechselkurse lässt sich über<br />

Currency Boards, eine hinreichend restriktive Expansion der monetären Basis<br />

oder über die Festlegung der Zinsen erreichen.<br />

613 Vgl. Mc Kinnon, Ronald I., Currency Substitution and Instability in the World Dollar Standard. In: The American<br />

Economic Review, 1982, S. 320-333. S. 320.<br />

614 Vgl. Franke, Hans-Hermann, Der Einfluss von Finanzinnovationen auf die Effizienz der Geldangebotskontrolle<br />

und des geldpolitischen Instrumentariums. In: Ehrlicher, W., Simmert, D.B. (Hrsg.), Wandlungen des geldpolitischen<br />

Instrumentariums der Deutschen Bundesbank, Beihefte zu KuK., H. 10), 1988, (S. 263-276), S. 271.<br />

333


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

§ 15. Die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank<br />

I. Die Entwicklung des Europäischen Währungsraumes<br />

Entfällt.<br />

II. Die institutionelle Grundlagen der EZB<br />

1. Einführung<br />

Das Euro-Währungsgebiet besteht aus 17 Ländern der Europäischen Union. Dazu<br />

zählen Belgien, Deutschland, Estland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland,<br />

Italien, Luxemburg, Malta, die Niederlande, Österreich, Portugal, Spanien,<br />

die slowakische Republik, Slowenien und Zypern.<br />

Das Euro-Währungsgebiet umfasst einen sehr großen Raum mit einer breiten<br />

kulturellen Vielfalt. Nichtteilnehmer sind das Vereinigte Königreich, Schweden<br />

und Dänemark (mit einer definierten Bandbreite von +/- 2 ¼ %) sowie vorerst<br />

auch die fünf Beitrittsländer von 2011 (Lettland, Litauen, Polen, die Tschechische<br />

Republik und Ungarn).<br />

Außereuropäische Territorien als Teil des Euro-Währungsgebietes sind:<br />

- Frankreich: Französisch Guyana, Guadeloupe, Martinique, Réunion.<br />

- Frankreich zudem (nicht Teil der Union): St. Pierre-et-Miquelon, Mayotte.<br />

- Spanien: Kanarische Inseln, Ceuta, Melilla.<br />

- Portugal: Azoren, Madeira.<br />

2. Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB)<br />

Das Europäische System der Zentralbanken (ESZB) besteht aus:<br />

- Der Europäischen Zentralbank (EZB), und<br />

- 27 nationalen Zentralbanken:<br />

• Belgien: Belgische Nationalbank<br />

• Bulgarien: Balgarska narodna banka (kein Euro)<br />

• Dänemark: Danmarks Nationalbank (kein Euro, WKM II)<br />

• Deutschland: Deutsche Bundesbank<br />

• Estland: Eesti Pank<br />

• Finnland: Suomen Pankki<br />

• Frankreich: Banque de France<br />

• Griechenland: Bank von Griechenland<br />

334


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

• Großbritannien: Bank of England (kein Euro)<br />

• Irland: Central Bank and Financial Services Authority of Ireland<br />

• Italien: Banca d'Italia<br />

• Lettland: Latvijas Banka (kein Euro, WKM II)<br />

• Litauen: Lietuvos Bankas (kein Euro, WKM II)<br />

• Luxemburg: Banque centrale du Luxembourg<br />

• Malta: Central Bank of Malta<br />

• Niederlande: De Nederlandsche Bank<br />

• Österreich: Oesterreichische Nationalbank<br />

• Polen: Narodowy Bank Polski (kein Euro)<br />

• Portugal: Banco de Portugal<br />

• Rumänien: Banca Centrală a României (kein Euro)<br />

• Spanien: Banco de España<br />

• Schweden: Sveriges Riksbank (kein Euro)<br />

• Slowakei: Národná banka Slovenska<br />

• Slowenien: Banka Slovenije<br />

• Tschechien: Česká národní banka (kein Euro)<br />

• Ungarn: Magyar Nemzeti Bank (kein Euro)<br />

• Zypern: Central Bank of Cyprus.<br />

Zehn Nationale Zentralbanken haben eine eigenständige Geldpolitik und nehmen<br />

am Prozess der Entscheidungsfindung bezüglich der einheitlichen Geldpolitik<br />

für das Euro-Währungsgebiet-17 und an der Umsetzung der Geldpolitik nicht<br />

teil.<br />

Das Eurosystem umfasst:<br />

- Die Europäische Zentralbank (EZB).<br />

- 17 am Euro-Währungsgebiet teilnehmende nationale Zentralbanken. Es gilt der<br />

Grundsatz der Dezentralität: Über die Geldmarktsteuerung wird zentral entschieden;<br />

die Durchführung erfolgt in der Regel durch geldpolitischen Operationen<br />

der nationalen Zentralbanken.<br />

3. Der Europäischer Wechselkursmechanismus (WKM II)<br />

Für die Nichtmitgliedstaaten besteht die Möglichkeit zu einer Anbindung der<br />

Währungen an den Euro. Eine Teilnahme ist in der Regel eine Voraussetzung für<br />

den späteren Zutritt zum Euro, auch für die künftigen Beitrittsländer. Der Euro<br />

ist Anker für den EWK II. Einziges Beispiel ist Dänemark mit der Dänischen<br />

Krone +/- 2 ¼ % (Leitkurs 7,46038 DKK je Euro).<br />

4. Die Organe des ESZB<br />

4.1. Der EZB Rat<br />

335


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der EZB-Rat ist oberstes Beschlussorgan der EZB (alle sechs Mitglieder des Direktoriums<br />

und die Präsidenten der nationalen Zentralbanken des Eurosystems).<br />

Hauptaufgaben:<br />

- Leitlinien setzen und Beschlüsse fassen für die Gewährleistung der dem ESZB<br />

übertragenen Aufgaben.<br />

- Die Geldpolitik der Gemeinschaft festlegen (einschließlich der geldpolitischen<br />

Zwischenziele, der Leitzinsen und der Versorgung des Eurosystems mit Zentralbankgeld),<br />

Leitlinien für die Ausführung der Geldpolitik festlegen.<br />

4.2. Die Erweiterung des Europäischen Währungsraumes<br />

Der Beitritt der neuen Mitgliedsländer ist vorgesehen; als Vorbereitung sind die<br />

Länder aufgefordert, vorerst am EWK II teilzunehmen. Zudem haben sie die<br />

Konvergenzbedingungen zu erfüllen. Dazu zählen eine Verschuldensgrenze von<br />

höchstens 60 Prozent des Bruttoinlandsproduktes, eine jährliche Neuverschuldung<br />

von maximal drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes sowie eine Inflationsrate<br />

von höchstens 1,5 Prozentpunkten über den inflationsschwächsten Ländern<br />

und ein langfristiger Zinssatz von maximal zwei Prozentpunkten über den<br />

Ländern mit den tiefsten Zinssätzen. Hinzu kommt keine selbstverschuldete<br />

Abwertung bis zwei Jahre vor dem Beitritt zum Euro-Währungsgebiet.<br />

4.3. Das Direktorium<br />

Das Direktorium der EZB besteht aus dem Präsident, dem Vizepräsident und vier<br />

weiteren Mitgliedern) als in Bank- und Währungsfragen erfahrenen Persönlichkeiten;<br />

sie werden durch den Rat der Staats- und Regierungschefs auf Empfehlung<br />

des EU-Rates ernannt (Anhörung des Europäischen Parlaments und des<br />

EZB-Rates).<br />

Hauptaufgaben:<br />

- Die Sitzungen des EZB-Rates vorbereiten.<br />

- Die Geldpolitik gemäss den Leitlinien und Beschlüssen des EZB-Rates durchführen;<br />

den nationalen Zentralbanken des Eurosystems die erforderlichen Weisungen<br />

erteilen.<br />

- Die laufenden Geschäfte führen.<br />

336


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

4.4. Der Erweiterte Rat als drittes Beschlussorgan der EZB<br />

Der Erweiterte Rat als drittes Beschlussorgan der EZB besteht, sofern und solange<br />

es Mitgliedstaaten gibt, für die eine Ausnahmeregelung gilt. Dieser besteht aus<br />

dem Präsident und dem Vizepräsident sowie den Präsidenten aller nationaler<br />

Zentralbanken (teilnehmende und nicht teilnehmende Mitgliedstaaten).<br />

Der Erweiterte Rat:<br />

- Übernahme von Aufgaben des früheren Europäischen Währungsinstitutes<br />

(EWI), beispielsweise die Festlegung der Wechselkurse der Beitrittsländer.<br />

- Erhebung von statistischen Daten (für die Festlegung der definitiven Währungskurse<br />

der Beitrittsländern zum Euro-Währungsgebiet).<br />

4.5. Die ESZB-Ausschüsse<br />

Für die Ausführung der Aufgaben innerhalb des ESZB und der Zusammenarbeit<br />

innerhalb des ESZB bringen die ESZB-Ausschüsse Fachwissen ein und unterstützen<br />

den Prozess der Entscheidungsfindung des ESZB/der EZB. Es gibt 13 Ausschüsse:<br />

- Rechnungswesen und monetäre Einkünfte,<br />

- Bankenaufsicht,<br />

- Banknotenausschuss,<br />

- Haushaltsausschuss,<br />

- Presse, Information und Öffentlichkeitsarbeit,<br />

- Informationstechnologie,<br />

- Interne Revision,<br />

- Internationale Beziehungen,<br />

- Rechtsausschuss,<br />

- Ausschuss für Marktoperationen,<br />

- Geldpolitischer Ausschuss,<br />

- Ausschuss für Zahlungs- und Verrechnungssysteme,<br />

- Ausschuss für Statistik.<br />

4.6. Die Europäische Zentralbank<br />

4.6.1. Aufgaben<br />

Die grundlegenden Aufgaben des ESZB (bzw. des Eurosystems des Euro-<br />

Währungsgebietes) sind:<br />

337


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Die Geldpolitik der Gemeinschaft festlegen und ausführen.<br />

- Devisengeschäfte durchführen.<br />

- Die offiziellen Währungsreserven der Mitgliedstaaten halten und verwalten.<br />

- Das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme fördern (unter anderem<br />

im Rahmen des Target-Zahlungssystems).<br />

- Beitrag zur reibungslosen Durchführung der von den zuständigen<br />

Behörden auf dem Gebiet der Bankenaufsicht und der<br />

Finanzmarktstabilität getroffenen Malnahmen.<br />

- Anhörungen durch die Europäische Gemeinschaft und die Behörden der Mitgliedstaaten<br />

zu Fragen in deren Zuständigkeitsbereich, insbesondere zu Rechtsakten<br />

der Gemeinschaft und der Mitgliedstaaten.<br />

4.6.2. Die Unabhängigkeit<br />

„Unabhängige“ Zentralbanken gewährleisten auf lange Frist eher niedrige Inflationsraten<br />

als wirtschaftspolitisch und formal abhängige Zentralbanken. Die<br />

wirtschaftspolitischen Abhängigkeiten können sich aus dem Beschäftigungsmotiv,<br />

der Erzielung von Münzgewinnen (fiskalische Funktion der Zentralbank)<br />

und oft auch unter Zahlungsbilanzaspekten (beispielsweise Stabilisierung der<br />

Wechselkurse oder Management der Devisenreserven) ergeben.<br />

Bei der formalen Unabhängigkeit spielen die institutionelle, die personelle, die<br />

instrumentelle und die finanzielle Unabhängigkeit der Zentralbank eine Rolle.<br />

Die Wechselkurssouveränität lässt sich unter die instrumentelle Unabhängigkeit<br />

einordnen.<br />

Gegen eine unabhängige Zentralbank werden ein gewisser Mangel an demokratischer<br />

Legitimierung einer unabhängigen Zentralbank und eine wünschenswerte<br />

Koordinierung der Geld- und Fiskalpolitik mit der Regierung zur Diskussion<br />

gebracht. Zu unterscheiden ist zwischen der formal-rechtlichen und der tatsächlichen<br />

Unabhängigkeit der Zentralbank.<br />

Das Europäische System der Zentralbanken ist ein unabhängiges System:<br />

- Die institutionelle Unabhängigkeit: Weder die EZB noch eine Nationale Zentralbank<br />

oder ein Mitglied ihrer Beschlussfassungsorgane darf Weisungen von<br />

Organen oder Einrichtungen der Gemeinschaft, den Regierungsstellen der Mitgliedstaaten<br />

oder anderen Stellen einholen sowie entgegennehmen. Die Organe<br />

und Einrichtungen der Gemeinschaft sowie die Regierungen der Mitgliedsstaaten<br />

verpflichten sich, nicht zu versuchen, die Mitglieder der Beschlussorgane der<br />

338


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

EZB oder der nationalen Zentralbanken bei der Wahrnehmung ihrer Aufgaben<br />

zu beeinflussen.<br />

- Personelle Unabhängigkeit: Die Amtszeit des Präsident der EZB beträgt mindestens<br />

5 Jahre, jene der Mitglieder des Direktoriums einmal acht Jahre (Überlappungen<br />

werden wegen der Kontinuität angestrebt). Die Mitglieder können nur<br />

entlassen werden, wenn die Voraussetzungen für die Amtsausübung nicht mehr<br />

erfüllt werden oder wegen schwerer Verfehlungen.<br />

- Funktionelle Unabhängigkeit: Im Vordergrund steht die Preisstabilität.<br />

- Finanzielle Unabhängigkeit: Ausstattung der EZB mit Eigenkapital.<br />

4.6.3. Das Eigenkapital und die Währungsreserven<br />

a. Das Eigenkapital der EZB<br />

Das Eigenkapital betrug ursprünglich 5 Mrd. Euro. Hinzu kommen die Eigenkapitaleinlagen<br />

der neueren Mitgliedsländer. Die Anteilseigner und Zeichner des<br />

Kapitals der EZB sind die nationalen Zentralbanken der Mitgliedsländer.<br />

b. Die Übertragung von Währungsreserven<br />

- Der EZB wurden ursprünglich rund 50 Mrd. Euro übertragen (davon 85 Prozent<br />

Devisen in USD und Yen sowie 15 Prozent in Gold (keine Übertragung<br />

von Währungen der Mitgliedstaaten, von Euro, von IWF-Reservepositionen<br />

und von SZR). Hinzu kommen die übertragenen Währungsreserven der neueren<br />

Mitgliedsländer.<br />

4.7. Das Monopol der Emission von Noten und Münzen<br />

- Die EZB hat das ausschliessliche Recht, die Ausgabe von Banknoten innerhalb<br />

der Gemeinschaft zu genehmigen.<br />

- Die Nationalen Zentralbanken haben das Münzemissionsmonopol und prägen<br />

die Münzen (die Münzhoheit beispielsweise für Deutschland liegt beim Bund).<br />

4.8. Die Schlichtung aller Streitsachen<br />

Für die Schlichtung von Streitsachen ist der Europäische Gerichtshof zuständig.<br />

339


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

4.9. Die Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen<br />

4.9.1. IWF<br />

Beim IWF hat die EZB einen Beobachterstatus. Die Teilnahme an den Sitzungen<br />

des Exekutivdirektoriums des IWF als Beobachter dient für Konsultationen zur<br />

Währungs- und Wechselkurspolitik des Euro-Währungsgebietes, zu Konsultationen<br />

mit einzelnen Mitgliedstaaten des Eurogebietes und zur Rolle des Euro im<br />

internationalen Währungssystem sowie zur Teilnahme an Gesprächen zur multilateralen<br />

Überwachung der Stabilität des internationalen Währungssystems. Der<br />

Mitgliedsstatus der einzelnen Euro-Länder bleibt unberührt.<br />

4.9.2. Mitarbeit bei der OECD, der G-7 Gruppe, der G-10 Gruppe und der BIZ<br />

(G10-Gouverneure) und der G-20 Gruppe<br />

Der EZB-Rat kann die Entscheidungen treffen, wie das Eurosystem auf internationaler<br />

Ebene vertreten wird. 615<br />

- Die Europäische Gemeinschaft ist bei der OECD dauerhaft vertreten; die EZB<br />

nimmt als Delegation an den Sitzungen der OECD teil, soweit diese von Interesse<br />

sind. Die EZB gehört dem Prüfungsausschuss für Wirtschafts- und Entwicklungsfragen,<br />

dem Wirtschaftspolitischen Ausschuss und dessen Arbeitsgruppen sowie<br />

dem Ausschuss für Finanzmärkte an.<br />

- Bei der Gruppe der G7-Länder vertritt der Präsident der EZB die Standpunkte<br />

der Eurosystems.<br />

- Die Treffen der Minister und Zentralbankpräsidenten der G10-Länder gehen<br />

auf die Allgemeinen Kreditvereinbarungen (AKV) von 1962 zurück (General Arrangement<br />

to Borrow), welche die regulären Mittel des IWF ergänzen, und vor<br />

allem zur Abwendung und Bewältigung von internationalen Finanzkrisen dienen.<br />

Die EZB nimmt an den jährlich zweimal stattfinden Sitzungen der Minister<br />

und Zentralbankpräsidenten als Beobachter teil, zudem auch an den vierteljährlichen<br />

Sitzungen der Stellvertreter. Mitgliedsländer sind Belgien, Deutschland,<br />

Frankreich, Italien, Japan, Kanada, die Niederlanden, die Schweiz, Schweden, das<br />

Vereinigte Königreich und die Vereinigten Staaten.<br />

- Die G20-Gruppe wurde 1999 gegründet, um den Dialog mit den wichtigsten<br />

Schwellenländern über internationale wirtschafts- und finanzpolitische Angelegenheit<br />

zu führen. Mitglieder sind die G7-Länder, zudem Argentinien, Austra-<br />

615 Vgl. zu diesen Ausführungen EZB, Monatsbericht vom Januar 2001, S. 68.<br />

340


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

lien, Brasilien, China, Indien, Indonesien, Mexiko, Russland, Saudi-Arabien,<br />

Südafrika, Südkorea und die Türkei, zudem der Präsident der EZB, der Präsident<br />

der Eurogruppe, der Vorsitzende des IWF etc.<br />

- Die Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) dient der Zusammenarbeit<br />

der Zentralbanken. Bei den Sitzungen des Verwaltungsrates, der aus den<br />

Zentralbankpräsidenten der G10-Gruppe besteht und an welchem alle zwei Monate<br />

wichtige internationale wirtschaftliche, geldpolitische und finanzielle Themen<br />

erörtert werden, nimmt auch die EZB teil. Beobachterstatus hat die EZB bei<br />

den vier Ausschüssen, dem Basler Ausschuss für Bankenaufsicht, dem Ausschuss<br />

für Zahlungsverkehr und Abrechnungssysteme, dem Ausschuss für das weltweite<br />

Finanzsystem sowie dem Gold- und Devisenausschuss. Die BIZ hat 50 Mitgliedsländer.<br />

4.10. Zahlungsverkehrssysteme: Das Target II-System<br />

Das Target2 (RGTS: Trans-European Automated Real-Time Gross Settlement Express<br />

Transfer = Echtzeitbruttozahlungssystem) stellt ein Zahlungsverkehrssystem<br />

des ESZB dar und soll die Geldpolitik der EZB unterstützen, die Effizienz<br />

des grenzüberschreitenden Euro-Zahlungsverkehr steigern und ein zuverlässiges<br />

sowie sicheres Verfahren der Zahlungsabwicklung darstellen.<br />

- Es handelt sich um die Verbindung von 35 nationalen Echtzeitsystemen (darunter<br />

auch die USA, UK, Japan) mit dem Zahlungsverkehrssystem der EZB.<br />

- Das Target schafft die Voraussetzungen für die Entwicklung eines einheitlichen<br />

Geldmarktes im Euro-Währungsraum.<br />

Das Target2 ist das umsatzstärkstes Euro-Großzahlungssystem mit ca. 1.000 direkten<br />

und 3.500 indirekten Teilnehmern (vor allem Kreditinstitute) sowie ca.<br />

13.000 Korrespondenzadressen. Täglich erfolgen durchschnittlich etwa 350.000<br />

Zahlung in einem Umfang von € 2.300 Mrd. Die Kosten betragen zwischen 0,8<br />

und 1,75 Euro/Auftrag (je nach der Zahl der Zahlungen pro Monat) und sind an<br />

die absendende nationale Zentralbank zu entrichten. Geöffnet ist das Target von<br />

7-18 h (Annahmeschluss 17 h), außer am Wochenende. Das Target überlappt sich<br />

mit dem Zahlungsverkehrssystem des Federal Reserve Board und während einiger<br />

Stunden mit jenem der Bank von Japan. Verbindungssystem ist das Interlink.<br />

Direkte RTGS-Teilnehmer müssen die allgemeinen Zulassungskriterien des<br />

ESZB als geldpolitische Geschäftspartner im RTGS erfüllen. Im Target2 entstehen<br />

Guthaben und Schulden. Diesen werden unlimitierte Innertagskredite auf<br />

der Grundlage refinanzierungsfähiger Sicherheiten eingeräumt. 616<br />

616 Ausserhalb des Eurowährungsgebietes besteht eine begrenzte Innertagesliquidität in Euro: Pro Teilnehmer höchstens<br />

eine Mrd. Euro.Vgl. zu den speziellen Bedingungen den Geschäftsbericht der Deutschen Bundesbank 1998, S. 138<br />

f.<br />

341


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der aktuelle Saldo (August 2012) beträgt über € 1050 Mrd. Gläubiger sind<br />

Deutschland (rund € 750 Mrd.), die Niederlande, Luxemburg und Finnland;<br />

Schuldner unter anderem Griechenland (ca. € 100 Mrd.), Irland (ca. € 100 Mrd.),<br />

Spanien (ca. € 430 Mrd.) und Italien (ca. € 290 Mrd.). Bei einem Totalverlust dieser<br />

Guthaben würde die Mitgliedstaaten (nicht die EZB) haften, beispielsweise<br />

Deutschland mit 27,15 %, Frankreich 20,4 %, Italien 17,91 %, Spanien 11,90 %,<br />

Niederlande 5,71 % etc. (dieser Schlüssel gilt auch den ESFS und den ESM). Im<br />

Gegensatz dazu haften in den USA die überweisenden Banken.<br />

Die Kritik am Target 2-System bezieht sich auf die Verschuldung einzelner Länder,<br />

was der Finanzierung von Staatsschulden, von Leistungsbilanzdefiziten sowie<br />

der Kapitalflucht aus einzelnen, hoch verschuldeten Ländern dient.<br />

4.11. Das ESZB und die Fiskalpolitik<br />

a. Der Stabilitätspakt<br />

Zuständig für die nationale Haushaltpolitik sind die Mitgliedstaaten. Der Stabilitätspakt<br />

von 1997 617 verpflichtet die Mitgliedstaaten, jedes Jahr ein Stabilitätsprogramm<br />

vorzulegen. Dieses soll die mittelfristigen Budgetziele, die Wirtschaftsprognosen<br />

und die wesentlichsten finanzpolitischen Maßnahmen enthalten. Die<br />

Kommission spricht dem Ministerrat ggf. eine Empfehlung aus; der Ministerrat<br />

beurteilt, ob das Maximaldefizit von drei Prozent des Bruttoinlandsproduktes<br />

nicht überschritten wird.<br />

Zudem überwacht die Kommission die laufende Budgetpolitik. Bei Verfehlung<br />

des Budgetziels werden die Mitgliedstaaten in einem mehrstufigen Verfahren<br />

aufgefordert, die finanzpolitische Situation zu bereinigen. Letztlich drohen Strafen<br />

von bis zu 0,5 Prozent des nationalen Bruttoinlandsprodukts. Diskretionäre<br />

Entscheidungen des Ministerrates sind möglich, sofern das BIP zwischen 0,75 bis<br />

2,00 Prozent schrumpft; bei einer schweren Rezession und einer Schrumpfung<br />

des BIP um mehr als zwei Prozent ist auch ein Defizit über drei Prozent erlaubt.<br />

„Es gibt keine einwandfreie und saubere Möglichkeit, die Geldpolitik von<br />

der Schuldenpolitik und das Aufgabengebiet der Zentralbank von dem des<br />

Finanzministeriums zu trennen“. 618<br />

617 Entschließung des EU-Gipfels in Amsterdam von 17.6.1997 und die Verordnungen Nr. 1466/97 sowie 1467/97.<br />

618 Tobin, James, Staatsschuldenpolitik, 1978, S. 26.<br />

342


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Beim Brüsseler Gipfel vom 9. Dezember 2011 beschlossen die Euro-Länder und<br />

acht weitere EU-Staaten, Staaten, die Europäische Wirtschafts- und Währungsunion<br />

(EWU) zu einer Fiskalunion auszubauen, die unter ande anderem rem eine Schuldenbrem-<br />

se sowie automatische Sanktionen für „Haushaltssünder“ vorsieht. Nicht beitreten<br />

wollen das Vereinigte Königreich (Großbritannien).<br />

b. Zur aktuellen Schuldenkrise in der EU<br />

c. Der ESM (European Stability Mechanism)<br />

Der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM) soll im Jahre 2012 den EFSF (E (European<br />

Financial Stability Facility acility) ) und den bisherigen ESM ablösen.<br />

aa. Der EFSF<br />

343


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Europäische Finanzstabilitätsfazilität (EFSF) wurde 2010 durch ein Rahmenwerk<br />

des Ecofin Rates (Wirtschafts- und Finanzminister der EU) geschaffen („Europäischer<br />

Rettungsschirm“). Der EFSF dient der Stabilisierung des EURO; mit<br />

den EFSF können Darlehen an Länder mit finanzielle Schwierigkeiten gewährt<br />

werden, es kann bei außergewöhnlichen Schwierigkeiten an primären und sekundären<br />

Anleihemärkten interveniert werden und es lassen sich in Bedrängnis<br />

geratene Banken rekapitalisieren.<br />

Der EFSF ist mit € 780 Mrd. Kapital ausgestattet, gezeichnet durch die Mitgliedstaaten<br />

des Euro-Währungsgebietes, was finanzielle Hilfsmöglichkeiten von €<br />

440 Mrd. ergibt. Zur Finanzierung können Bonds und andere Finanzierunginstrumente<br />

emittieren, was inzwischen erfolgt ist (bisher ca. € 10 Mrd.). Vorläufig<br />

„vom Tisch“ ist – auch aufgrund des Widerstands von Deutschland - die großangelegte<br />

Emission von Eurobonds. Die Bonität wurde durch die Ratingagenturen<br />

zwischen AA und AAA festgelegt und ist inzwischen leicht herabgestuft worden.<br />

Bisher erfolgten Hilfeleistungen von ca. € 290 Mrd. (an Irland, Portugal, Griechenland<br />

und die spanischen Banken). Ein Hilfsantrag ist erforderlich. Die restliche<br />

Kapazität liegt bei rund € 150 Mrd.<br />

Sitz des ESFS ist Luxemburg. Der Haftungsanteil für Deutschland liegt bei etwa<br />

27 Prozent und erhöht sich durch den entfallenden Haftungsanteil der Schuldnerländer<br />

auf etwa 29 Prozent. Bis 2013 läuft der EFSF parallel zum (bisherigen) ESM<br />

und soll dann im („neuen“) ESM aufgehen.<br />

b. Der ESM (European Stability Mechanism)<br />

Der „bisherige“ ESM verfügte über einen Kapitalausstattung von € 60 Mrd. Die<br />

Gründung des „neuen“ ESM („Europäischer Rettungsschirm“) kann nach dem<br />

Urteil des Deutschen Bundesverfassungsgerichts erfolgen (mit der Auflage, dass<br />

eine Erhöhung der Deutschen Verpflichtungen beim ESM [derzeit rund € 180<br />

Mrd.] durch das Deutsche Parlament genehmigt werden muss). Der Beschluss<br />

liegt beim Europäischen Ministerrat. Im Jahre 2013 geht der ESFS im „neuen“<br />

ESM auf.<br />

Ab 2013 beträgt die maximale Ausleihkapazität € 500 Mrd. Die geplante Kapazität<br />

ergibt sich aus einem gezeichneten Kapital von € 700 Mrd. Abrufbar bei den Mitgliedstaaten<br />

sind € 620 Mrd. Einzuzahlen sind € 80 Mrd. Für die „AAA“-Bonität<br />

sind 15 % Bareinlagen erforderlich. Der ESM soll keine Bankenlizenz zur Aufnahme<br />

von Krediten an den Kreditmärkten erhalten. Vorgesehen ist eine Finanzierung<br />

über die EZB.<br />

344


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Eine Hilfe erfolgt nur auf Antrag der Mitgliedsländer. Die Kredite sollen<br />

„IWF-konditioniert“ sein, d.h. unter der Auflage einer Konsolidierung des<br />

Staatshaushalts erfolgen. Der ESM kann Staatsanleihen auf dem Sekundärmarkt<br />

kaufen, um die Märkte flüssig zu halten und auf die Zinsen „zu drücken“.<br />

Kritisiert wird unter anderem beim ESM-Vertrag, dieser lasse nur bei grundsätzlich<br />

veränderten Verhältnissen einen Austritt zu. Zudem würden die Mitgliedsstaaten<br />

einen finanziellen Souveränitätsverlust erleiden, wobei dem ESM keine<br />

Obergrenzen gesetzt sind. Kritisiert wird auch die Möglichkeit, das ESM-Kapital<br />

von derzeit € 700 Mrd. erhöhen zu können (wobei Deutschland eine Veto-<br />

Möglichkeit besitzt). Das restliche, nicht einbezahlte Haftungskapital von derzeit<br />

€ 620 Mrd. kann jederzeit nachgefordert werden. Angesichts eines weiteren finanziellen<br />

Bedarfs von Spanien und Italien bis 2014 von etwa € 1000 Mrd. erscheint<br />

der finanzielle Rahmen des ESM (und des ESFS) zur Lösung der Schuldenkrise<br />

gering. Die Kreditvergabe erfolgt durch den Gouverneursrat, womit der<br />

Vorwurf der Intransparenz besteht. Zudem können Kredite nur mit einer Mehrheit<br />

von 85 Prozent blockiert werden, was die Rechte der kleineren Länder einschränkt.<br />

Dabei sind die Gläubigerrechte des IWF vorrangig gegenüber jenen des<br />

ESM.<br />

c. Die EZB<br />

Die EZB hat im September 2012 beschlossen, unlimitiert (marktfähige) Anleihen<br />

von Schuldnerländern des Euro-Währungsgebietes zu kaufen, um die Zinsen zu<br />

senken, die Märkte flüssig zu halten und das Auseinanderbrechen des Euros<br />

(„Rettung des Euros“) zu verhindern. Voraussetzungen sind Hilfsanträge an den<br />

ESM (und den ESFS) sowie eine Konditionierung der Kredite hinsichtlich der<br />

Sparprogramme.<br />

Bis zum Herbst 2012 hat die EZB für rund € 225 Mrd. Anleihen gekauft. Die Kritik<br />

richtet sich auf das Verbot einer Monetisierung von Staatsschulen durch die<br />

EZB. Der EZB ist „der unmittelbare Erwerb von Schuldtiteln“ von Mitgliedstaaten<br />

verboten (Art. 123 AEUV). Dabei lässt sich der Kauf von Anleihen am Sekundärmarkt<br />

als „mittelbar“ (d.h. nicht „unmittelbar“) verstehen. Eine weitere Kritik<br />

richtet sich auf die, die Inflation fördernde Ausweitung der Geldmenge, welcher<br />

die EZB angeblich durch eine Abschöpfung von Liquidität begegnen will.<br />

d. Rating Agenturen<br />

Oft wird den (marktberrschenden amerikanischen) Ratingagenturen (Moodys,<br />

Standard & Poors, Fitsch) vorgeworfen, Finanzkrisen auszulösen. Im Gegenzug<br />

dazu soll eine Europäische Ratingagentur (mit einem Kapital von einer Mrd. €)<br />

345


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

entstehen. Zur Diskussion steht auch eine zivilrechtliche Haftung der Ratingagenturen<br />

bei Fehleinschätzungen.<br />

e. Weitere Vorschläge<br />

Weitere Vorschläge beziehen sich auf die Schaffung einer Europäischen Schuldenunion<br />

(ggf. nur mit den Schulden, welche 60 Prozent des BIP übersteigen)<br />

und einer Europäischen Transferunion, was den Aufbau einer für die Mitgliedsländer<br />

verbindlichen Europäischen Fiskalpolitik erfordern würde.<br />

f. Das Programm zum Ankauf gedeckter Schuldverschreibungen des Eurosystems<br />

(Outright Monetary Transactions, OMT) und das Programms für die Wertpapiermärkte<br />

des Eurosystems<br />

In diesem Rahmen wurden 2012 ca. € 280 Mrd. Liquidität bereitgestellt. Zur „Rettung<br />

des Euros“ soll in der kommenden Zeit den Kreditbanken unbegrenzt Liquidität<br />

zur Verfügung gestellt werden. Damit sollen die Märkte für Staatsanleihen<br />

liquide gehalten und die Zinsen gesenkt werden.<br />

g. „Liquiditätshilfe im Notfall“<br />

Die Nationalen Zentralbanken können „Liquiditätshilfen im Notfall“ (Emergency<br />

Liquidity Assistance, ELA) in eigener Verantwortung gewähren. Es geht um<br />

Kredite an solvente, aber vorübergehend illiquide Kreditinstituten gegen Sicherheiten.<br />

Die betreffende Nationale Zentralbank trägt auch die Risiken und Kosten<br />

der Maßnahme. Damit werden diese, und nicht die EZB, zum lender of last resort<br />

(Kreditgeber der letzten Instanz). Der EZB-Rat kann solche Kredite im Einzelfall<br />

mit Zwei-<strong>Dr</strong>ittel-Mehrheit untersagen. [4]<br />

In Griechenland der griechischen Notenbank die Ausgabe von zusätzlichen Notkrediten<br />

erlaubt; der griechischen Zentralbank wurden solche Kredite (bis zu<br />

sieben Mrd. Euro) zur Vermeidung einer Staatspleite erlaubt. Dies soll zur Überbrückung<br />

der Zeitspanne bis zur allfälligen, nächsten Hilfszahlung von € 31<br />

Mrd.) im Herbst 2012 ermöglichen. Das Land emittiert Treasury Bills, welche die<br />

Banken kaufen und bei der Bank of Greece belehnen lassen (griechische Bonds =<br />

Anleihen mit einer längeren Laufzeit) werden nicht mehr als Sicherheit akzeptiert.<br />

346


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

4.12. Das elektronische Geld (E-Geld)<br />

Unter elektronischem Geld wird ein auf einem Datenträger gespeicherter Geldwert<br />

verstanden. 619 Dieser kann für Zahlungen verwendet werden (ausser an den<br />

Emittenten selbst). Die Abwicklung kann – muss aber nicht – über ein Bankkonto<br />

erfolgen. Diese multifunktionellen, vorausbezahlten Karten werden wie ein vorausbezahltes<br />

Inhaberinstrument genutzt.<br />

Die multifunktionellen vorausbezahlten Karten sind ein weit verbreitetes Phänomen;<br />

deren Bedeutung steigt, zumal sie auch im Internet verwendet werden.<br />

Die Emittenten von E-Geld gelten als Geschäftsbanken und sind der Bankenaufsicht<br />

unterstellt.<br />

4.13. Die Bankenaufsicht<br />

Grundlage der Bankenaufsicht bildet ein Reformpaket („Basel III‘“) des Basler<br />

Ausschusses der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), welches von<br />

der Ländergruppe G-20 verabschiedet wurde. Dieses soll in der EU in Form der<br />

Capital Requirements Directive (CRD) umgesetzt und ab 2013 schrittweise in<br />

Kraft gesetzt werden.<br />

619 Vgl. dazu auch EZB, Monatsbericht, Nov. 2000, S. 55 ff.<br />

347


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Reformen setzen sowohl bei der Eigenkapitalbasis als auch der Liquidität an.<br />

Angestrebt wird eine genügende Ausstattung mit qualitativ hochwertigem Eigenkapital.<br />

- Das Kernkapital („Common Equity“) setzt sich aus dem eingezahlten Gesellschaftskapital<br />

und den Gewinnrücklagen zusammen (Tier 1).<br />

Tier bedeutet „Rang“ (wie in der Oper).<br />

Tier-1-Kapital (Kernkapital, „common equity“): Diese umfasst das Stammkapital,<br />

die Kapitalrücklagen, die Gewinnrücklagen, die eigenen Aktien im Bestand, das<br />

zum Erwerb eigener Aktien ausgewiesenes Eigenkapital, die Anpassungen aus<br />

der Währungsumrechnung, die Minderheitsanteile, die nicht kumulativen Vorzugsaktien<br />

und Sonderposten für allgemeine Bankrisiken. Die Summe ist zu<br />

vermindern um den Goodwill und sonstige immaterielle Vermögenswerte. In Relation<br />

zu den risikotragenden Aktiven ergibt sich der Prozentsatz für die Kernkapitalquote.<br />

Kernkapitalquote: Summe des Tier-1-Kapitals, geteilt durch den<br />

348


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Anrechnungsbetrag der Risikopositionen (risikobehaftete Aktiven, zudem Anrechnungsbeträge<br />

für das Marktrisiko und das operationelle Risiko).<br />

Tier-2-Kapital (Ergänzungskapital, „weiches Kernkapital“) sind nicht realisierte<br />

Gewinne aus notierten Wertpapieren, sonstige Wertberichtigungen für inhärente<br />

Risiken, kumulative Vorzugsaktien und anrechenbare nachrangige Verbindlichkeiten.<br />

Tier-3-Kapital (<strong>Dr</strong>ittrangmittel, „Ergänzungskapital“): Kurz- bis mittelfristige<br />

nachrangige Verbindlichkeiten mit einer Laufzeit von mindestens zwei, aber weniger<br />

als fünf Jahren werden angerechnet (dürfen nur zur Unterlegung der Anrechnungsbeträge<br />

von Marktrisikopositionen verwendet werden). Dazu zählt<br />

auch der anteilige Gewinn, der bei Glattstellung aller Handelsbuchpositionen<br />

entstehen würde (unrealisierter Handelsbuchgewinn).<br />

2011 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018<br />

Verschuldungsgrenze (Leverage Ratio) Überwachungsphase Parallelbetrieb<br />

Übernahme<br />

nach Säule<br />

1<br />

349<br />

1.<br />

Januar<br />

2019<br />

Mindestkernkapitalrate (Common Equity<br />

Capital Ratio) 3,5% 4,0% 4,5% 4,5% 4,5% 4,5% 4,5%<br />

Kapitalerhaltungspuffer 0,625% 1,25% 1,875% 2,5%<br />

Minimum Kernkapital plus Kapitalerhaltungspuffer<br />

3,5% 4,0% 4,5% 5,125% 5,75% 6,375% 7,0%<br />

Stufenweiser Aufbau der Abzüge vom Kernkapital<br />

Tier 1 20% 40% 60% 80% 100% 100%<br />

Minimum gesamtes Tier 1-Kapital 4,5% 5,5% 6,0% 6,0% 6,0% 6,0% 6,0%<br />

Minimum Gesamtkapital (Tier 1+2) 8,0% 8,0% 8,0% 8,0% 8,0% 8,0% 8,0%<br />

Minimum Gesamtkapital plus Kapitalerhaltungspuffer<br />

8,0% 8,0% 8,0% 8,625% 9,25% 9,875% 10,5%


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Kapitalinstrumente, die nicht mehr als Tier 1<br />

oder Tier 2-Kapital anerkannt werden stufenweiser Abbau über einen 10-Jahres Horizont<br />

Antizyklischer Kapitalpuffer<br />

(individuelle Festlegung durch nationale Aufsichtsbehörden)<br />

Liquidity Coverage Ratio (LCR) Beobachtungsphase Mindeststandard<br />

350<br />

0% – 0% – 0% – 0% –<br />

0,625% 1,25% 1,875% 2,5%<br />

Net Stable Funding Ratio Beobachtungsphase Mindeststandard<br />

Institutionell ist die Bankenaufsicht im Euro-Währungsgebiet sehr heterogen gestaltet.<br />

Die Schaffung einer Europäischen Bankenaufsicht unter Leitung der EZB<br />

ist geplant. Fraglich ist die Fähigkeit der EZB, rund 8.000 Geschäftsbanken zu beaufsichtigen.<br />

Zur Koordination der Nationalen Bankenaufsichten gibt es seit<br />

1.1.2011 eine Europäische Bankenaufsichtsbehörde (European Banking Authority,<br />

EBA) mit Sitz in London.<br />

Es besteht die Idee der Schaffung einer Bankenunion. Die einzelnen Elemente<br />

sind: (1) eine Vereinheitlichung der Bankenaufsicht, (2) eine Europäische Bankenaufsicht,<br />

(3) eine Instanz, welche zur Abwicklung von Banken ermächtigt ist<br />

und (4) eine vereinheitlichte Einlagenversicherung.<br />

4.14. Die Statistiken<br />

Zur Wahrung der Aufgaben des ESZB werden mit der Unterstützung der nationalen<br />

Zentralbanken die erforderlichen Daten entweder von den zuständigen nationalen<br />

Behörden oder unmittelbar von den Wirtschaftssubjekten eingeholt.<br />

Statistiken: www.ecb.int.<br />

III. Das geldpolitische Konzept der EZB<br />

„Die Geldpolitik kann jedoch die Preisentwicklung im Euro-<br />

Währungsgebiet nicht direkt steuern, sondern muss über einen komplexen<br />

Transmissionsprozess wirken. Dieser Prozess umfasst gewöhnlich das Finanzsystem,<br />

die Finanzmärkte und die Realwirtschaft. Er ist gekennzeichnet<br />

durch verschiedene monetäre Transmissionskanäle mit unterschiedlich<br />

großen und nicht genau vorhersagbaren Wirkungsverzögerungen zwischen


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

monetären Instrumenten und der Preisentwicklung. Folglich muss die<br />

Geldpolitik die Aussichten für die zukünftige Preisentwicklung analysieren<br />

und genau beurteilen, wann und wie stark sich die geldpolitischen<br />

Maßnahmen auf die zukünftigen Preise auswirken“<br />

(EZB, Monatsbericht vom Februar 1999, Textteil, S. 29).<br />

1. Die geldpolitische Strategie der EZB<br />

Die geldpolitische Strategie soll in den Worten der EZB klar und verständlich<br />

sowie transparent sein, dem Ziel der Preisstabilität dienen und sich mit der institutionellen<br />

Unabhängigkeit des Eurosystems vereinbaren lassen. 620 Das geldpolitische<br />

Konzept der EZB umfasst drei Elemente:<br />

(1) Die Zielsetzung (vgl. 2.).<br />

(2) Die geldpolitische Strategie (vgl. 3.)<br />

(3) Das Instrumentarium (der geldpolitische Handlungsrahmen; vgl. 4.).<br />

2. Die Zielsetzung: Das Preisniveaustabilität als quantitatives Ziel<br />

Die Preisstabilität dient als Anker der Geldpolitik der EZB. Das Inflationsziel ist<br />

die strategische Variable bei den geldpolitischen Entscheidungsprozessen des<br />

EZB-Rates. Dazu dient die quantitative Festlegung des Ziels der Preisstabilität<br />

(Anstieg des harmonisierten Verbraucherpreisindex HVPI für das Euro-<br />

Währungsgebiet von unter bzw. in der Nähe von zwei Prozent gegenüber dem<br />

Vorjahr). Es wird in Kauf genommen, dass der HVPI die Inflation leicht überzeichnen<br />

könnte (durch Qualitätsverbesserungen bei den einzelnen Gütern des<br />

HVPI). Deflationäre Tendenzen sind mit den geldpolitischen Zielen der EZB<br />

nicht vereinbar.<br />

Relevant ist die Preisentwicklung im gesamten Euro-Währungsgebiet, nicht in<br />

einzelnen Ländern. Die Preisstabilität muss mittelfristig beibehalten werden, was<br />

eine ebenfalls mittelfristige Ausrichtung der Geldpolitik ergibt. Damit wird berücksichtigt,<br />

dass die Preise kurzfristig aufgrund von nichtmonetären Schocks<br />

(z.B. einer Veränderung der indirekten Steuern oder der Rohstoffpreise) volatil<br />

sein können, was von der Geldpolitik nicht kontrolliert werden kann.<br />

3. Die geldpolitische Strategie<br />

620 Vgl. EZB, Das Eurosystem und das Europäische System der Zentralbanken. In: Monatsbericht vom Dez. 1999, S. 49.<br />

351


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die geldpolitische Strategie soll festlegen,<br />

„ … wie die relevanten Informationen über die Gesamtwirtschaft geordnet<br />

werden, um auf ihrer Grundlage geldpolitische Entscheidungen treffen zu<br />

können, die zu einem Niveau der kurzfristigen Zinsen führen. das – gemessen<br />

am Endziel der EZB, nämlich der Erreichung von Preisstabilität – als<br />

angemessen gilt“. 621<br />

Die geldpolitisch bedeutsamen Unsicherheiten betreffen: 622<br />

- Die Unsicherheit über die Wirtschaftslage (Unvollständigkeit der finanzwirtschaftlichen<br />

und ökonomischen Variablen).<br />

- Die Unsicherheit über die Struktur der Volkswirtschaft (begrenztes Wissen über<br />

die Struktur und Funktionsweise einer Volkswirtschaft, die Ausbreitung von<br />

ökonomischen Schocks (beispielsweise von Őlpreisschocks), und die Auswirkungen<br />

von geldpolitischen Malnahmen auf die künftige Preisentwicklung).<br />

- Die strategische Unsicherheit (Zusammenwirken der privaten Akteure und der<br />

Geldpolitik besonders hinsichtlich der Erwartungen, welche die geldpolitische<br />

Transmission stark beeinflussen können).<br />

Als Analysenkonzept zur Beurteilung der zukünftigen Preisrisiken dient die<br />

„Zweisäulen-Strategie“, mit welcher versucht wird, einen kohärenten Rahmen<br />

für die geldpolitische Lagebeurteilung zu schaffen, um diese Unsicherheiten zu<br />

verkleinern.<br />

- Die Zweisäulen-Strategie (vgl. Abbildung 95) dient als Navigationssystem. Als Konzept umfasst<br />

die Zweisäulenstrategie<br />

- die Preisstabilität (als quantitatives Ziel) und<br />

- zwei Analysekonzepte („Säulen“) als Indikatoren zur Beurteilung der<br />

Risiken der zukünftigen Preisniveaustabilität. 623<br />

- Die EZB führt auf diese Weise eine breit angelegte Beurteilung der Aussichten für die künftige<br />

Preisentwicklung durch, die sich auf eine Palette von realwirtschaftlichen und finanziellen<br />

Indikatoren stützt, welche gegenüber den Preisen eine Vorlaufeigenschaft besitzen<br />

sollen. Es erfolgt eine Auswertung der einzelnen Indikatoren und eine Verdichtung der<br />

verschiedenen Einflussgrößen zu einer gemeinsamen Inflationsprognose.<br />

- Die Indikatoren dienen der Beurteilung der realwirtschaftlichen und der mone-tären Lage<br />

sowie der geldpolitischen Maßnahmen der Zentralbank. Es soll erkannt werden, ob die<br />

Geldpolitik zielgerecht ist. Die Indikatoren liegen im Bereich der Transmissionsprozesse<br />

zwischen den geldpolitischen Maßnahmen und dem geldpolitischen Endziel der Preisni-<br />

621 EZB, Monatsbericht, Mai 2002, S. 45.<br />

622 Vgl. EZB, Monatsbericht vom Januar 2001, S. 47-62.<br />

623 Die geldpolitische Strategie wurde am 13. Oktober 1998 durch die EZB bekannt gegeben; vgl. EZB, Monatsbericht<br />

vom Januar 1999, Textteil, S. 50. Eine gründliche Überprüfung der geldpolitischen Strategie führt zu gewissen Modifikationen<br />

der sog. Zweisäulenstrategie im Mai 2003 (vgl. EZB, Pressemitteilung vom 8.5.2003, sowie EZB, Monatsbericht,<br />

vom Juni 2003, S. 87 ff.).<br />

352


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

veaustabilität. Diese Indikatoren müssen rasch verfügbar sein, sich präzise messen lassen<br />

sowie in einem engen Zusammenhang mit dem geldpolitischen Ziel stehen. 624<br />

- In der ersten Säule erfolgt eine breit fundierte Beurteilung der Aussichten für die Preisentwicklung<br />

und die Risiken der Preisniveaustabilität im Euro-Währungs-gebiet-15 als Grundlage<br />

der Geldpolitik des Eurosystems. Es geht um ein weites Spektrum von konjunkturellen<br />

Indikatoren, welchen eine Vorlaufeigenschaft für die zukünftige Preisentwicklung beigemessen<br />

wird. Dazu zählen u.a.:<br />

- Der Outputgap (Abweichung des Wachstums des realen BIP vom<br />

langfristigen Wachstumstrend),<br />

- angebotsseitige Indikatoren (die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital<br />

sowie deren Auslastung und Kosten wie beispielsweise die Löhne, der<br />

Beschäftigungsgrad, die Entwicklung der Arbeitslosenzahlen, die<br />

Auftragslage, die Industrieproduktion, der Stimmungsbarometer von<br />

Unternehmen und Einkaufsmanagern),<br />

- nachfrageseitige Faktoren (der Konsum, der Stimmungsbarometer der<br />

Konsumenten, die Investitionen), die Entwicklung der Börsenindices,<br />

fiskalpolitische Indikatoren, Preis- und Kostenindices sowie Branchen- und<br />

Verbraucherumfragen<br />

- und Inflationsprognosen. 625<br />

Ebenfalls berücksichtigt werden sollen Daten von internationalen Organisationen sowie amtlichen<br />

und privaten Quellen.<br />

Die Zweisäulenstrategie gibt dem geldpolitischen Entscheidungsprozess nach<br />

Auffassung der EZB „eine klare Struktur“ 626 und dient als Navigationssystem.<br />

Dieses umfasst die Preisniveaustabilität (als quantitatives Ziel) und zwei Analysekonzepte<br />

(„Säulen“) zur Beurteilung der Risiken der zukünftigen Preisniveaustabilität.<br />

627 Die EZB führt eine breit angelegte Beurteilung der Aussichten für die<br />

künftige Preisentwicklung durch. Die Analyse der Preisperspektiven stützt sich<br />

auf eine Palette von realwirtschaftlichen und finanziellen Indikatoren, welche<br />

gegenüber den Preisen eine Vorlaufeigenschaft besitzen sollen. Es erfolgt eine<br />

Auswertung der einzelnen Indikatoren und eine Verdichtung der verschiedenen<br />

Einflussgrößen zu einer gemeinsamen Inflationsprognose.<br />

624 Vgl. Brunner Karl und Meltzer, Allan H., 1980, S. 73 ff.<br />

625 Vgl. EZB, Monatsbericht, vom Januar 1999, Textteil, S. 55.<br />

626 EZB, Monatsbericht vom Jan. 1999, Textteil, S. 47.<br />

627 Die geldpolitische Strategie wurde am 13. Oktober 1998 durch die EZB bekannt gegeben; vgl. EZB, Monatsbericht<br />

vom Jan. 1999, Textteil, S. 50. Eine gründliche Überprüfung der geldpolitischen Strategie führt zu gewissen Modifikationen<br />

der sog. Zweisäulenstrategie im Mai 2003 (vgl. EZB, Pressemitteilung vom 8.5.2003, sowie EZB, Monatsbericht,<br />

Juni 2003, S. 87 ff.).<br />

353


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Abbildung 95: Die Zweisäulen-Strategie*<br />

1. Säule:<br />

Wirtschaftliche<br />

Analyse<br />

Analyse der wirtschaft-<br />

lichen Dynamik und<br />

Schocks<br />

Vorrangiges Ziel:<br />

Preisstabilität<br />

EZB-Rat<br />

fasst geldpolitische Beschlüsse auf der<br />

Basis einer Gesamtbewertung der Risiken<br />

für die Preisstabilität<br />

Gegenprüfung<br />

Umfassende Informationen<br />

* In Anlehnung an: EZB, Die Geldpolitik der EZB, 2004, S. 70.<br />

- Die zweite Säule gipfelt in „der herausragenden Rolle der Geldmenge, die in der Verkündung<br />

eines Referenzwertes für das Wachstum eines breiten monetären Aggregats zum Ausdruck<br />

kommt“. 628 Die Geldmenge bildet nach Auffassung der EZB einen „ ... festen und zuverlässigen<br />

‚natürlichen Anker‘ für eine auf die Sicherung der Preisstabilität ausgerichteten<br />

Geldpolitik“. 629 Die Steuerung der kurzfristigen Geldmarktzinsen über die dem Markt zugeführte<br />

Liquidität beeinflusst u.a. das Wachstum der Geldmenge M3, welche einen erheblichen<br />

Einfluss auf die Entwicklung des Preisniveaus ausübt. 630 Weitere Größen als monetäre<br />

Indikatoren sind die Zinssätze, das Preisniveau (unter anderem die Rohstoff- und besonders<br />

die Ölpreise), die Wechselkurse und die Zinsstruktur.<br />

628 EZB, Monatsbericht, vom Januar 1999, Textteil, S. 50.<br />

629 EZB, Monatsbericht, vom Januar 1999, Textteil, S. 50.<br />

630 EZB, Die Geldpolitik der EZB, 2004, S. 75.<br />

2. Säule:<br />

Monetäre<br />

Analyse<br />

Analyse der monetären<br />

Entwicklung<br />

354


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- Die geldpolitischen Beschlüsse der EZB zur Sicherung der Preisniveaustabilität auf mittlere<br />

Frist stützen sich auf Informationen, welche aus beiden Säulen ge-wonnen werden. Die<br />

monetären Daten der zweiten Säule liefern zwar wesentliche Informationen für fundierte<br />

geldpolitische Entscheidungen, ergeben jedoch nur zusammen mit der ersten Säule ein ausreichend<br />

vollständiges Bild der wirtschaftlichen Lage im Hinblick auf eine angemessene<br />

Geldpolitik zur Gewährleistung der Preisstabilität. 631 Probleme ergeben sich, wenn die beiden<br />

Säulen widersprüchliche Inflationstendenzen signalisieren.<br />

- Die EZB geht von einer erheblichen Bedeutung der kurzfristigen Geldmarktzinsen als operating<br />

targets bei der Übertragung geldpolitischer Impulse aus:<br />

„Eine Zentralbank steuert die kurzfristigen Geldmarktsätze, indem sie Signale hinsichtlich<br />

ihres geldpolitischen Kurses gibt und die Liquiditäts-versorgung steuert.“ 632<br />

In der ersten Säule erfolgt eine breit fundierte Beurteilung der Aussichten für die<br />

Preisentwicklung und die Risiken der Preisniveaustabilität im Euro-<br />

Währungsgebiet-17 als Grundlage der Strategie des Eurosystems mit Hilfe einer<br />

Vielzahl von Indikatoren. Die realwirtschaftlichen Daten der ersten Säule liefern<br />

zwar wesentliche Informationen für fundierte geldpolitische Entscheidungen,<br />

sind jedoch nicht ausreichend für ein vollständiges Bild der wirtschaftlichen Lage<br />

im Hinblick auf eine angemessene Geldpolitik zur Gewährleistung der Preisstabilität.<br />

633 Es geht um ein breites Spektrum von konjunkturellen Indikatoren,<br />

welchen eine Vorlaufeigenschaft für die zukünftige Preisentwicklung beigemessen<br />

wird.<br />

Dazu zählen u.a. der Outputgap (Abweichung des Wachstums des BIP real vom<br />

langfristigen Wachstumstrend), angebotsseitige Indikatoren (die Produktionsfaktoren<br />

Arbeit und Kapital sowie deren Auslastung und Kosten wie beispielsweise<br />

die Löhne), nachfrageseitige Faktoren (Konsum, Investitionen), fiskalpolitische<br />

Indikatoren, Preis- und Kostenindices sowie Branchen- und Verbraucherumfragen,<br />

zudem Inflationsprognosen. 634 Mit berücksichtigt werden sollen Daten von<br />

internationalen Organisationen sowie amtlichen und privaten Quellen.<br />

Die zweite Säule gipfelt in „der herausragenden Rolle der Geldmenge, die in der<br />

Verkündung eines Referenzwertes für das Wachstum eines breiten monetären<br />

Aggregats zum Ausdruck kommt“. 635 Die Geldmenge bildet nach Auffassung der<br />

EZB „einen natürlichen, festen und zuverlässigen ‚natürlichen Anker‘ für eine<br />

auf die Sicherung der Preisstabilität ausgerichteten Geldpolitik“. Die EZB glaubt,<br />

die monetären Impulse, welche auf die Preissteigerungsrate wirken, eher steuern<br />

631 Vgl. EZB, Monatsbericht, vom Januar 1999, Textteil, S. 54.<br />

632 EZB, Die Geldpolitik der EZB, 2004, S. 75.<br />

633 Vgl. EZB, Monatsbericht vom Jan. 1999, Textteil, S. 54.<br />

634 Vgl. EZB, Monatsbericht vom Jan. 1999, Textteil, S. 55.<br />

635 EZB, Monatsbericht vom Jan. 1999, Textteil, S. 50.<br />

355


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

zu können als die Preissteigerungsrate selbst. Die Bedeutung der Geldmengensteuerung<br />

ist inzwischen verblasst.<br />

Angesichts der Verhaltensunsicherheit sowie der institutionellen und strukturellen<br />

Unsicherheiten werden Inflationsprognosen von der EZB als eine schwierige<br />

Aufgabe betrachtet. Zudem kann die Geldpolitik nicht alle Indikatorvariablen<br />

berücksichtigen. Dies erfordert eine breit angelegte Beurteilung der Aussichten<br />

für die Preisentwicklung. 636<br />

Die geldpolitischen Beschlüsse der EZB zur Sicherung der Preisniveaustabilität<br />

auf mittlere Frist stützen sich auf Informationen, welche aus beiden Säulen gewonnen<br />

werden. Indem die EZB die Preise nicht direkt, sondern nur auf mittlere<br />

bis lange Sicht beeinflussen kann, ist eine geldpolitische Strategie mit einem<br />

ebenfalls mittel- bis langfristigen Konzept für den Einsatz der Instrumente erforderlich,<br />

um die geldpolitischen Endziele zu erreichen.<br />

4. Die Bedeutung der Geldmengen- und der Zinssteuerung<br />

- Die EZB geht von einer erheblichen Bedeutung der kurzfristigen Geldmarktzinsen als operating<br />

targets bei der Übertragung geldpolitischer Impulse aus:<br />

„Eine Zentralbank steuert die kurzfristigen Geldmarktsätze, indem sie Signale hinsichtlich<br />

ihres geldpolitischen Kurses gibt und die Liquiditäts-versorgung steuert.“ 637<br />

- Durch die Beeinflussung der kurzfristigen Zinsen soll die Preisstabilität mittelfristig gewährleistet<br />

werden. Abbildung 96 zeigt einen möglichen Weg der Transformation von der<br />

Liquiditätszuführung durch die EZB bis zum Erreichen des Preisniveauziels, wobei nur der<br />

monetäre Bereich betrachtet werden soll. Es gibt drei Sektoren, einen „Markt“ für Zentralbankliquidität,<br />

638 einen (stark vereinfachten) Geld- und Kreditmarkt sowie einen Transformationsbereich.<br />

Je tiefer die kurzfristigen Geldmarktzinsen sind, desto schneller wachsen<br />

u.a. die Geld- und Kreditmengen sowie – im realen Bereich – der Konsum und die Investitionen,<br />

was Auswirkungen auf die Entwicklung des Preisniveaus hat. Bei den einzelnen Aggregaten<br />

werden längerfristige Wachstumsraten zugrunde gelegt. 639<br />

- Bei einem Zins von i für die Zuteilung von Zentralbankliquidität kommt es bei einer zinselastischen<br />

Nachfrage nach Zentralbankliquidität NZentralbankliqudität zu kurzfristigen Geldmarktzinsen<br />

von i. Dies schlägt sich bei einer ebenfalls zins-elastischen Nachfrage nach<br />

Geld und Kredit NGeld und Kredit in entsprechenden Geld- und Kreditmengen a nieder, was zu<br />

einer Entwicklung des Preisniveaus von c führt. Erhöht sich nun das Preisniveau schneller,<br />

als dies dem Zielbereich entsprechen würde, kann die EZB den Zinssatz für die Zuteilung<br />

von Zentralbankliquidität auf i’ erhöhen. Dadurch kommt es zu einer entsprechenden Erhöhung<br />

des Zinssatzes für kurzfristige Geldmarktzinsen. Die Geld- und Kreditmengen<br />

636 Vgl. EZB, Monatsbericht vom Jan. 1999, Textteil, S. 55.<br />

637 EZB, Die Geldpolitik der EZB, 2004, S. 75.<br />

638 Vgl. Ziffer IV. weiter unten.<br />

639 Die kürzerfristigen Wachstumsraten (auf Jahresbasis) zeigen oftmals inverse Effekte, indem beispielsweise ein größeres<br />

Wachstum des einen Aggregates das Wachstum eines anderen Aggregates dämpft. Dies ist bei einer längerfristigen<br />

Betrachtung der einzelnen Aggregate nicht mehr der Fall.<br />

356


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

entwickeln sich weniger schnell, was – über einen komplexen Prozess monetärer und realer<br />

Effekte und mit einer zeitlichen Verzögerung – auch die Entwicklung des Preisniveaus<br />

dämpft.<br />

Abbildung 96: Die Zinssteuerung zur Erreichung des Inflationsziels (monetärer<br />

Bereich)<br />

Markt für Zentralbank- Geldmarkt<br />

liquidität<br />

Zins für Zen- Kurzfristige<br />

tralbankliqui- Geldmarkt-<br />

dität zinsen<br />

NZentralbankliqudität NGeld<br />

i' i’<br />

i i<br />

0 Liquiditätszuführung 0 b a Entwicklung<br />

der Geldmengen*<br />

Entwicklung<br />

des Preisniveaus<br />

Transformationsbereich<br />

Zielbereich<br />

c<br />

0<br />

Entwicklung der Geldmengen*<br />

Einfluss auf die Entwicklung des<br />

Preisniveaus.<br />

* Herausragende Rolle der Geldmengen beim Zwei-Säulen-Konzept.<br />

- Etwas allgemeiner formuliert trachtet die EZB mit Hilfe der geldpolitischen Instrumente<br />

danach,<br />

357


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

„ ... die Bedingungen am Geldmarkt und damit das Niveau der kurzfristigen<br />

Zinssätze (zu) beeinflussen, um sicherzustellen, dass die Preisstabilität mittelfristig<br />

gewährleistet ist“. 640<br />

Angesichts der mangelnden Signifikanz eines dominierenden Zusammenhangs<br />

zwischen der Wachstumsrate der Geldmenge M3 und der Inflationsrate sowie der<br />

mangelnden Steuerbarkeit der Geldmenge M3 (M3 ist auch ein Vermögensaggregat)<br />

steuert die EZB in erster Linie die kurzfristigen Geldmarktzinsen, allerdings<br />

hinsichtlich der antizipierten Inflationsraten (mit einem lead von fünf bis 8 Monaten).<br />

Die EZB betont denn auch<br />

„ … die These der Robustheit einer Geldpolitik, die den Nominalzins an aktuelle<br />

Inflations- und Konjunkturdaten koppelt, die aber auch eine schrittweise<br />

Anpassung der Nominalzinsen vorsieht. Verglichen mit anderen<br />

geldpolitischen Strategien, die nicht auf aktuellen Informationen, sondern<br />

auf Inflationsprognosen beruhen, schneiden diese Konzepte gut ab. …“. 641<br />

§ 16. Die Instrumente der EZB<br />

Der geldpolitische Handlungsrahmen der EZB bezieht sich auf<br />

„ … die Instrumente und Verfahren …, mit denen das Eurosystem die(se)<br />

geldpolitischen Beschlüsse in die Praxis umsetzt, d. h. mit denen es die<br />

kurzfristigen Geldmarktzinsen steuert“. 642<br />

Eine zentrale Rolle bei der Umsetzung der Geldpolitik im Euro-Währungsgebiet<br />

spielt die Liquiditätssteuerung der EZB. 643 Als Grundlage für die Liquiditätsbereitstellung<br />

und –abschöpfung, vor allem durch die wöchentlichen Hauptrefinanzierungsgeschäfte,<br />

die längerfristige Refinanzierung und die Offenmarktgeschäfte,<br />

schätzt die EZB den Liquiditätsbedarf der Geschäftsbanken.<br />

Der Liquiditätsbereitstellung (Liquiditätszuführung) dienen autonome Liquiditätsfaktoren<br />

(die Nettoposition des Eurosystems in Fremdwährung) und die<br />

geldpolitischen Instrumente (die Hauptrefinanzierungsgeschäfte, die längerfristigen<br />

Refinanzierungsgeschäfte und Spitzenrefinanzierungsgeschäfte).<br />

640 EZB, Die Geldpolitik der EZB, 2004, S. 51.<br />

641 Vgl. EZB, Monatsbericht vom Januar 2001, S. 61.<br />

642 EZB, Monatsbericht, Mai 2002, S. 45 ff.<br />

643 Vgl. EZB, Monatsbericht, Mai 2002, S. 45 ff.<br />

358


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Liquiditätsabschöpfung erfolgt in Form von autonomen Liquiditätsfaktoren<br />

(der Banknotenumlauf, die Einlagen von öffentlichen Haushalten und die sonstigen<br />

autonomen Faktoren), die Einlagen auf Girokonten (Mindestreserven) und<br />

das geldpolitische Instrument der Einlagefazilität.<br />

Die geldpolitischen Instrumente<br />

Die hauptsächlichen Instrumente der EZB sind die Offenmarktgeschäfte, Fazilitäten<br />

(mit der Festlegung eines Zinskorridors) sowie die Erhebung von Mindestreserven.<br />

Die geldpolitischen Instrumente der EZB<br />

Offenmarktgeschätte Fazilitäten Mindestreserven<br />

(I.) (II.) (III.)<br />

I. Die Offenmarktgeschäfte<br />

Die Offenmarktgeschäfte sind das Hauptinstrument des Eurosystems zur Steuerung<br />

der Liquidität und Signalisierung des geldpolitischen Kurses. Diese geldpolitischen<br />

Operationen werden auf Initiative der Zentralbank durchgeführt. Dazu<br />

zählen bei Eurosystem:<br />

- Der definitive Kauf oder Verkauf von Vermögenswerten (Kassa und Termin),<br />

- der Kauf oder Verkauf von Vermögenswerten im Rahmen einer Rückkaufsvereinbarung,<br />

- die Kreditgewährung oder Kreditaufnahme gegen Sicherheiten,<br />

- die Emission von Zentralbank-Schuldverschreibungen,<br />

- die Annahme von Einlagen und<br />

- Devisenswaps zwischen inländischer und ausländischer Währung.<br />

Der Begriff der Offenmarktgeschäfte ist rein enumerativ (aufzählend) gewählt,<br />

während es sich im angelsächsischen Raum bei den Offenmarktgeschäften um<br />

359


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Geschäfte mit Banken und Nichtbanken handelt (beispielsweise der Kauf und<br />

Verkauf von Staatsanleihen sowie Devisen).<br />

1. Die Hauptrefinanzierung<br />

Das Instrument der Hauptrefinanzierung ist eine Form der Kreditgewährung und<br />

dient der Bereitstellung von Liquidität. Es handelt sich um befristete Transaktionen<br />

im Rahmen von regelmäßigen Offenmarktgeschäften mit einer Laufzeit von<br />

einer Woche im wöchentlichen Rhythmus mit Hilfe des Standardtenders (Mengen-<br />

und Zinstender).<br />

Die Hauptrefinanzierungsgeschäfte sind für jeden geldpolitischen Geschäftspartner<br />

möglich und werden von den nationalen Zentralbanken durchgeführt.<br />

Die Hauptrefinanzierung ist das wichtigste Instrument zur Liquiditätssteuerung<br />

und signalisiert den geldpolitischen Kurs.<br />

Die Hauptrefinanzierung erfolgt seit 2008 als Mengentender mit einem festen<br />

Zinssatz (Mindestbietungssatz). Beim früheren Mindestbietungssatz nach dem<br />

amerikanischen Zuteilungsverfahren wurden Gebote, welche über dem marginalen<br />

Zuteilungssatz liegen, zum jeweiligen Bietungssatz voll berücksichtigt. Die<br />

Gebote zum marginalen Zuteilungssatz wurden anteilmässig berücksichtigt. Dabei<br />

ist der marginale Zuteilungssatz der niedrigste, noch berücksichtigte Zuteilungssatz.<br />

Über die Hauptrefinanzierungsgeschäfte wurden 2012 nur noch etwa 15 Prozent<br />

der Mittel bereitgestellt, welche über Offenmarktgeschäfte zugeteilt werden. Die<br />

EZB gibt bei jeder Ausschreibung den geschätzten Liquiditätsbedarf des Bankensektors<br />

an, damit die Banken eine Orientierungshilfe für die Gebote erhalten.<br />

Der Liquiditätsbedarf hängt vor allem vom Mindestreservesoll und dem Liquiditätsabfluss<br />

aufgrund der sog. autonomen Faktoren ab:<br />

Guthabenhöhe:<br />

+ Nettoliquiditätszufluss im Rahmen der geldpolitischen Geschäfte<br />

- Liquiditätsabfluss aufgrund der sog. autonomen Faktoren (Posten in<br />

der Zentralbankbilanz, welche von den geldpolitischen Geschäften unbeeinflusst<br />

bleiben):<br />

- Banknotenumlauf,<br />

- Einlagen der öffentlichen Haushalte,<br />

- schwebende Verrechnungen und<br />

- Nettopositionen des Eurosystems in Fremdwährung.<br />

360


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

2. Die längerfristige Refinanzierung<br />

Die längerfristigen Refinanzierungsgeschäfte dienen der Bereitstellung von Liquidität<br />

und geben den Banken im monatlichen Abstand die Möglichkeit zur<br />

längerfristigen Finanzierung mit einer Laufzeit von drei Monaten. Mit der längerfristigen<br />

Finanzierung soll weder die Liquiditätsversorgung gesteuert werden<br />

noch sollen dem Markt Signale über den geldpolitischen Kurs gegeben werden.<br />

Die Ausschreibungen erfolgten bis Ende 2008 als Zinstender nach dem sog. amerikanischen<br />

Verfahren. Bei der Ausschreibung wird das Zuteilungsvolumen bekannt<br />

gegeben. Seither werden die Zuteilung nach dem Mengentender mit dem<br />

festen Mindestbietungssatz zugeteilt. Neu sind die LTRO (long term refinancing<br />

operations) mit Laufzeiten bis zu drei Jahren zum Mindestbietungssatz. Auf diese<br />

Weise werden derzeit rund € 1000 Mrd. ins Bankensystem geschleust.<br />

3. Die Feinsteuerungsoperationen<br />

Die Feinsteuerungsoperationen sind unregelmässig durchgeführte Offenmarktgeschäfte,<br />

mit deren Hilfe von Fall zu Fall die Marktliquidität und die Zinssätze<br />

gesteuert werden. Diese dienen vor allem dazu, die Auswirkungen von unerwarteten<br />

Liquiditätsschwankungen auf die Zinssätze auszugleichen. Die Feinsteuerungsoperationen<br />

dienen der Bereitstellung oder der Abschöpfung von Zentralbankliquidität<br />

und sollen dazu beitragen, die normale Funktionsfähigkeit des<br />

Geldmarktes zu gewährleisten.<br />

Bei den Feinsteuerungsoperationen handelt sich um befristete Transaktionen<br />

(Devisenswaps, Hereinnahme von Termineinlagen) im Schnelltender, als bilaterale<br />

Geschäfte oder um definitive Käufe als bilaterale Geschäfte. Üblicherweise<br />

handelt es sich um Schnelltender oder bilaterale Geschäfte, welche durch die nationalen<br />

Zentralbanken durchgeführt werden. In Ausnahmefällen werden Feinsteuerungsoperationen<br />

von der EZB selbst durchgeführt.<br />

So wurden beispielsweise 2001 zwei Operationen im Anschluss an die Terroranschläge<br />

vom 11. September durchgeführt. An den Feinsteuerungsoperationen<br />

konnten Ende 2001 141 Kreditinstitute teilnehmen.<br />

Seit 2009 werden auch Feinsteuerungsoperationen durchgeführt, wenn längerfristige<br />

Fazilitäten (bis 12 Monate) auslaufen, um möglich Liquiditätsengpässe zu<br />

überbrücken.<br />

4. Strukturelle Operationen<br />

361


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Strukturelle Operationen dienen der Anpassung der strukturierten Liquiditätspositionen<br />

des Finanzsektors gegenüber dem Eurosystem. Es handelt sich um befristete<br />

Transaktionen (Emission von Schuldverschreibungen) im Standardtender<br />

und als definitive Käufe/Verkäufe zur Abschöpfung und Bereitstellung von Liquidität<br />

als bilaterale Geschäfte, welche regelmässig oder unregelmässig durchgeführt<br />

werden können.<br />

So wurden beispielsweise 2001 strukturellen Operationen als „Ausgleichstender“<br />

zur volumenmäßigen Angleichung zwischen zwei Hauptrefinanzierungen (mit<br />

stark unterschiedlicher Liquiditätsversorgung) und der Laufzeit von einer Woche<br />

durchgeführt. Solche Operationen werden künftig als Hauptrefinanzierungen<br />

klassifiziert.<br />

5. Devisengeschäfte und die Anlage von Währungsreserven<br />

Ein großer Teil der Aktiven des Eurosystems besteht in Währungsreserven, im<br />

Wesentlichen aus Gold, USD und Yen. Ein Teil (rund € 50 Mrd.) wurde auf die<br />

EZB übertragen; der Rest wird dezentral verwaltet, wobei die „strategische und<br />

taktische Ausrichtung“ dieser Anlagen zentral festgelegt wird. 644 Die Währungsreserven<br />

sind „ … so ertragreich wie möglich anzulegen“, 645 und erlauben es, Devisenmarktinterventionen<br />

durchzuführen.<br />

Devisenmarktgeschäfte, welche die Wechselkurse oder die Liquiditätslage im<br />

Währungsgebiet beeinflussen können, bedürfen – über einer bestimmten Größe<br />

– der Genehmigung des EZB-Rats, nicht jedoch die Anlagegeschäfte auf ausländischen<br />

Finanzmärkten, ebenso nicht die Geschäfte in Erfüllung von Verpflichtungen<br />

gegenüber internationalen Organisationen.<br />

6. Die Verfahren<br />

a. Der Standardtender<br />

Der Zeitplan für den Standardtender läuft über zwei Tage: 15.30 h Tenderankündigung,<br />

9.30 h Frist für die Abgabe von Geboten seitens der Geschäftspartner,<br />

11.15 h Bekanntmachung der Ergebnisse, später Abwicklung der Transaktionen.<br />

E-Mail-Technik für das ABS (automatisches Bietungssystem).<br />

Geschäftspartner beim Standardtender waren Ende 2001 ca. 2.400 der insgesamt<br />

ca. 7.200 mindestreservepflichtigen Kreditinstitute.<br />

644 Vgl. EZB, Monatsbericht, Januar 2000, S. 57.<br />

645 Vgl. EZB, Monatsbericht, Januar 2000, S. 57.<br />

362


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zusammenfassung: Offenmarktgeschäfte und ständige Fazilitäten des ESZ<br />

Transaktionsart<br />

Geldpolitische Liquiditäts- Liquiditäts-<br />

Geschäfte bereitstellung abschöpfung Laufzeit Rhythmus Verfahren<br />

Offenmarktgeschäfte<br />

- Hauptrefinan- Befristete - Zwei Wöchen- Standard-<br />

zierungs- Transaktionen Wochen lich tender<br />

instrument<br />

- Längerfristige Befristete - <strong>Dr</strong>ei Monatlich Standard-<br />

Refinanzierungs- Transaktionen Monate tender<br />

Geschäfte<br />

- Feinsteuerungs- - Befristete - Befristete Trans- Nicht stan- Unregel- - Schnell-<br />

operationen Transaktionen aktionen dardisiert mäßig tender<br />

- Devisenswaps - Devisenswaps - Bilaterale<br />

- Hereinnahme Geschäfte<br />

von Termineinlagen<br />

- Definitive Käufe - Definitive Ver- - Unregel- Bilaterale<br />

käufe mäßig Geschäfte<br />

- Strukturelle - Befristete Emission von Standardi- Regelmäßig Standard-<br />

Operationen Transaktionen Schuldverschrei- siert/nicht und unrege- tender<br />

Bungen standardis. Geldmäßig<br />

Ständige Fazilitäten<br />

- Spitzenrefinan- Befristete Trans- - Über Nacht Inanspruchnahme auf<br />

zierung aktionen Initiative der Geschäfts-<br />

partner<br />

- Einlagefazilität - Einlagenannahme Über Nacht Inanspruchnahme auf<br />

Initiative der Geschäfts-<br />

Partner. Quelle:<br />

Europäisches Währungsinstitut, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3 – Festlegung des Handlungsrahmens,<br />

Januar 1997.<br />

b. Der Schnelltender<br />

363


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Der Schnelltender dient der Feinsteuerung der Geldpolitik mit einem beschränkten<br />

Kreis von Geschäftspartnern. Die Verfahrensschritte erfolgen wie<br />

beim Standardtender, jedoch mit einer zeitlichen Verkürzung (Durchführung innerhalb<br />

einer Stunde) mit einer begrenzten Zahl von Teilnehmern. Die Abwicklung<br />

geschieht durch die nationalen Zentralbanken.<br />

Verfahrensmäßig können sowohl der Standardtender als auch der Schnelltender<br />

wie folgt ausgestaltet werden:<br />

- Als Festsatztender (Mengentender), bei welchem die EZB den Zinssatz vorgibt<br />

und die Geschäftspartner Gebote über den Betrag abgeben, zu welchem sie zu<br />

diesem Festsatz kaufen oder verkaufen.<br />

- Als Tender mit variablem Zinstender: Die Geschäftspartner geben Gebote über<br />

den Betrag und die Zinssätze an, zu welchen sie die Geschäfte mit den nationalen<br />

Zentralbanken abschließen. Beim „holländischen Verfahren“ erfolgt die Zuteilung<br />

zu einem einheitlichen Satz, beim „amerikanischen Verfahren“ zum individuellen,<br />

marginalen Zinssatz, bei welchem der genannte Zuteilungsbetrag erreicht<br />

wird.<br />

c. Bilaterale Geschäfte<br />

Die möglichen Geschäftspartner bestehen aus einem engeren Kreis als für die<br />

Feinsteuerungs- und die strukturellen Operationen. Die bilateralen Geschäfte<br />

werden von den nationalen Zentralbanken durchgeführt, nur ausnahmsweise<br />

durch die EZB (auf Entscheid des EZB-Rates). Die Abwicklung erfolgt ohne Tenderverfahren<br />

(mit einem oder weniger Geschäftspartnern, zudem auch in Form<br />

von Operationen über die Börsen oder Marktvermittler).<br />

7. Die Besicherung durch den Sicherheitspool (ausser bei Swaps)<br />

Die Kreditgeschäfte des Eurosystems müssen ausreichend und angemessen besichert<br />

werden, um das Eurosystem gegen Verluste aus den geldpolitischen Operationen<br />

und den Zahlungsverkehrstransaktionen zu schützen.<br />

Öffentlichen Stellen darf kein bevorrechtigter Zugang zu Krediten eingeräumt<br />

werden, d.h. das Besicherungsmodell soll unterschiedslos hinsichtlich des öffentlichen<br />

oder des privaten Status der Emittenten sein.<br />

Entweder erfolgt ein Ankauf von refinanzierungsfähigen Sicherheiten im Rahmen<br />

von Rückkaufvereinbarungen (z.B. für die Liquiditätsabschöpfung = Pensionsgeschäft)<br />

oder die Offenmarktgeschäfte werden als Kreditgeschäfte gegen die<br />

364


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Verpfändung von refinanzierungsfähigen Sicherheiten durchgeführt. Die Verpfändung<br />

hat den Vorteil, die Finanzaktiven flexibel als Sicherheitenpool nutzen<br />

zu können. Hauptform ist die Verpfändung (Hinterlegung).<br />

Mögliche Verfahren sind:<br />

- Die Verpfändung der im Dispositionsdepot bei der Bundesbank oder dem Sicherheitenverwaltungssystem<br />

der bei der Deutschen Börse Clearing AG verwahrten<br />

Wertpapiere (Verpfändung zugunsten der Deutschen Bundesbank).<br />

- Die grenzüberschreitende Nutzung von refinanzierungsfähigen Sicherheiten<br />

(sog. Korrespondenz-Zentralbank-Modell).<br />

Es gibt zwei Kategorien von refinananzierungsfähigen Sicherheiten (Kategorie-1-<br />

und Kategorie-2-Sicherheiten), welche sich nicht in erster Linie auf die Eignung<br />

zur Besicherung von Krediten beziehen. Das Eurosystem setzt in der Regel keine<br />

Kategorie-2-Sicherheiten für endgültige Käufe bzw. Verkäufe ein.<br />

Kategorie 1 Kategorie 2<br />

(Europäischer Wirtschaftsraum) (Euro-Währungsgebiet)<br />

- Marktfähige Schuldtitel, die einheitliche, - Sicherheiten, die für die nationalen<br />

von der EZB festgelegte Zulassungskrite- Finanzmärkte und Bankensysteme von<br />

rien erfüllen. besonderer Bedeutung sind.<br />

- Die Kriterien werden von den NZBen<br />

aufgrund von Mindestkriterien der EZB<br />

ausgearbeitet und müssen von der EZB<br />

genehmigt werden.<br />

- Marktfähige oder nicht marktfähige<br />

festverzinsliche Wertpapiere oder<br />

Aktien.<br />

Einwandfreies Rating: Einwandfreie Bonität (marktfähig)<br />

EZB-Schuldverschreibungen (derzeit Von Gebietskörperschaften begebene<br />

nicht begeben) und vor Beginn Wertpapiere<br />

der EWU begebene Schuldver- Bankschuldverschreibungen<br />

schreibungen der NZB Unternehmensanleihen<br />

Schuldtitel von ausländischen und Einlagenzertifikate<br />

Supranationalen Institutionen Medium-Term Notes<br />

Von Gebietskörperschaften begebene Commercial Papers<br />

Wertpapiere Aktien<br />

Ungedeckte Bankschuldverschreibungen Marktfähige private Forderungen<br />

Forderungsunterlegte Wertpapiere<br />

Unternehmensanleihen<br />

Nicht marktfähig:<br />

Keine Bankkredite<br />

Hypothekarisch gesicherte Solawechsel<br />

Handelswechsel.<br />

365


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Nationalen Zentralbanken können den Kreis der Sicherheiten von privaten<br />

Schuldtiteln (nicht marktfähige private Sicherheiten, Handwechsel oder Buchkredite<br />

der Banken an Wirtschaftsunternehmen) beschränken oder eine entsprechende<br />

Mindestquote verlangen.<br />

Die refinanzierungsfähigen Sicherheiten lassen sich von den Geschäftspartnern<br />

des Eurosystems grenzüberschreitend nutzen. Sicherheiten, welche bei einer nationalen<br />

Zentralbank hinterlegt wurden, können bei allen liquiditätszuführenden<br />

Geschäften des Eurosystems, auch in einem anderen Mitgliedsland, genutzt<br />

werden.<br />

Die EZB verwaltet und veröffentlicht ein zentrales Gesamtverzeichnis der für die<br />

Kreditgeschäfte des Eurosystems zugelassenen Sicherheiten.<br />

Die Kritik geht dahin, dass die EZB keine Kontrolle über die Qualität der Sicherheiten<br />

hat, die von den nationalen Zentralbanken akzeptiert werden. Der Euro<br />

kann auch gegen nichtmarktfähige Staatstitel emittiert werden (was die Deutsche<br />

Bundesbank für sich ausgeschlossen hat). Eine nationale Zentralbank muss wie<br />

eine solide Geschäftsbank agieren. Erforderlich sind erstklassige und marktfähige<br />

Sicherheiten. Eine solide Zentralbank muss auch in der Lage sein, die verpfändeten<br />

Sicherheiten jederzeit auf den Markt zu bringen und ihre Währung<br />

aus dem Umlauf zu ziehen, um diese knapp zu halten.<br />

II. Die Ständigen Fazilitäten und die Zinssätze<br />

Die Ständigen Fazilitäten dienen der Bereitstellung oder Absorbierung von<br />

Übernachtliquidität. Diese setzen Signale hinsichtlich des allgemeinen Kurses<br />

der Geldpolitik und bestimmen die Ober- und Untergrenze der Geldmarktsätze<br />

für Tagesgelder. Die ständigen Fazilitäten umfassen die Spitzenrefinanzierungsfazilität<br />

und die Einlagefazilität. Die Spitzenrefinanzierungsfazilität ist eine befristete<br />

Transaktion zur Liquiditätsbereitstellung über Nacht auf Initiative der<br />

Geschäftspartner, die Einlagenfazilität eine befristete Transaktion zur Liquiditätsabschöpfung<br />

über Nacht auf Initiative der Geschäftspartner.<br />

366


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Die Spitzenrefinanzierungsfazilität kann von den Geschäftspartnern u.a. in Anspruch<br />

genommen werden, um Unterbietungen bei der Hauptrefinanzierung zur<br />

Erfüllung der Mindestreservepflicht (in der Erfüllungsperiode) auszugleichen.<br />

Umgekehrt bedienen sich die Geschäftspartner der Einlagenfazilität, wenn sie<br />

das Mindestreservesoll erfüllt haben. Dies ist vor allem während der letzten Geschäftstage<br />

der Erfüllungsperiode der Fall.<br />

Die Einlagenfazilität ist eine ständige Fazilität des Eurosystems. Diese gibt den<br />

Geschäftspartnern die Möglichkeit, täglich fällige Einlagen bei der nationalen<br />

Zentralbank anzulegen (zu einem dafür festgesetzten Zinssatz, dem Einlagensatz).<br />

Die Einlagen stiegen im Frühjahr 2012 bis auf ca. € 770 Mrd. Euro, was die<br />

Unsicherheiten im europäischen Bankenbereich verdeutlicht.<br />

Die Ständigen Fazilitäten dienen der Bereitstellung und Abschöpfung von Liquidität<br />

bis zum nächsten Geschäftstag. Die Zinsen für die Ständigen Fazilitäten<br />

signalisieren den geld- bzw. zinspolitischen Kurs; die Zinssätze bilden die Ober-<br />

bzw. Untergrenze für den Tagesgeldsatz (sog. Zinskorridor).<br />

Die Zinsen für die Ständigen Fazilitäten und der Mindestbietungssatz für Hauptrefinanzierungsgeschäfte<br />

werden vom EZB-Rat als Leitzinsen der EZB festgelegt.<br />

Derzeitige Zinssätze<br />

- Spitzenrefinanzierungssatz 1,50 %<br />

- Mindestbietungssatz für Haupt-<br />

refinanzierungsgeschäfte 0,75 % Leitzinsen der EZB.<br />

- Zinssatz für Einlagenfazilität 0 %<br />

Zwischen dem Spitzenrefinanzierungssatz und dem Zinssatz für die Einlagenfazilität<br />

liegt der sog. Zinskorridor (im aktuellen Fall beträgt dieser 1 ½ Prozentpunkte).<br />

Die ständigen Fazilitäten (und die Offenmarktgeschäfte) können grundsätzlich<br />

von jedem mindestreservefähigen Kreditinstitut auf eigene Initiative in Anspruch<br />

genommen werden. Dabei müssen die Geschäftspartner die allgemeinen<br />

Zulassungsbedingungen sowie sämtliche vom Eurosystem vertraglich oder normativ<br />

festgelegten verfahrenstechnischen Kriterien erfüllen.<br />

III. Die Mindestreserven<br />

367


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Mindestreserven sind Einlagen, welche die Geschäftsbanken in Form von Zentralbankgeld<br />

bei den nationalen Zentralbanken unterhalten müssen. Solche Mindestreserven<br />

wurden erstmals 1913 in den USA durch den Federal Reserve Act<br />

eingeführt und dienten der Kundenabsicherung gegenüber Insolvenzen sowie<br />

Liquiditätskrisen von Geschäftsbanken. In Deutschland besteht seit 1934 die<br />

Mindestreservebefugnis gegenüber dem Reichsaufsichtsamt (nicht der Reichsbank),<br />

von welcher jedoch kein Gebrauch gemacht wurde. Mit der Währungsreform<br />

von 1948 gab das Emissionsgesetz der Bank der Deutschen Länder die<br />

Vollmacht zum Erlass von Mindestreservevorschriften.<br />

Heute dienen die Mindestreserven der Verstärkung des strukturellen Liquiditätsdefizits<br />

des Bankensystems gegenüber dem Eurosystem. Dies dämpft die Inflationserwartungen<br />

und stabilisiert die kurzfristigen Zinsen. Zudem lässt sich<br />

die Versorgung des Bankensektors mit Liquidität effizienter abwickeln, wenn<br />

eine gewisse strukturelle Liquiditätsknappheit im Sektor herrscht. Die Mindestreserven<br />

tragen u.a. zur Begrenzung des Geldmengenwachstums bei. Üblicherweise<br />

können sich damit die geldpolitischen Operationen auf die Hauptrefinanzierung<br />

und die längerfristige Finanzierung beschränken.<br />

Mindestreservepflichtig sind die alle im Euro-Währungsgebiet ansässigen Kreditinstitute<br />

mit einer Zulassung als Geschäftspartner der Eurosystems. Die Mindestreserven<br />

werden zum durchschnittlichen marginalen Zuteilungssatz bei der<br />

Hauptrefinanzierung verzinst, womit für die Geschäftsbanken keine nennenswerten<br />

Kosten aus der Mindestreservepflicht entstehen. Damit entfällt die frühere<br />

Kritik, die Mindestreserven würden als „Sondersteuer“ auf das deutsche Bankensystem<br />

wirken, woraus sich auch Nachteile gegenüber ausländischen Banken<br />

ergeben, welche keine Mindestreserven entrichten müssen.<br />

Indem das Mindestreservesoll lediglich im Durchschnitt der einmonatigen Erfüllungsperiode<br />

zu erreichen ist, ergibt sich ein signifikanter Stabilisierungs- bzw.<br />

Glättungseffekt beim Tagesgeldsatz innerhalb der einzelnen Erfüllungsperioden.<br />

Die Kreditinstitute haben mehr Flexibilität bei der täglichen Liquiditätssteuerung<br />

und die Möglichkeit, kkurzfristige Arbitragemöglichkeiten am Geldmarkt<br />

zu nutzen.<br />

Das Mindestreservesoll beträgt: 646<br />

646 Vgl. EZB, Die einheitliche Geldpolitik in Stufe 3, S. 55.<br />

368


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

- 1 %: Einlagen (täglich fällige), Einlagen mit einer vereinbarten Laufzeit bis 2<br />

Jahre, Spargelder mit einer Kündigungsfrist bis zu 2 Jahre), Schuldverschreibungen<br />

mit einer vereinbarten Laufzeit bis zu zwei Jahren.<br />

- 1 %: Einlagen (vereinbarte Laufzeit über 2 Jahre), Spargelder mit einer Kündigungsfrist<br />

über 2 Jahre, Repogeschäfte (Wertpapierkredite an Nichtbanken),<br />

Schuldverschreibungen mit einer vereinbarten Laufzeit über zwei Jahre).<br />

- Keine Mindestreserven: Verbindlichkeiten von Geschäftsbanken gegenüber<br />

Geschäftsbanken und gegenüber der EZB sowie den nationalen Zentralbanken.<br />

Die Erfüllung des Mindestreservesolls erfolgt mit den Bilanzangaben zum Monatsende.<br />

Die Mindestreserveerfüllungsperiode beträgt einen Monat (24.-23. des<br />

nächsten Monats). Die Erfüllung erfolgt bei der nationalen Zentralbank. Der pauschale<br />

Freibetrag liegt bei 100.000 Euro. Ein Kreditinstitut kann beantragen, seine<br />

gesamten Mindestreserven indirekt zu halten.<br />

IV. Ein Ausblick<br />

Benjamin Friedman stellt sich die Frage, wie sich die Geldpolitik in den nächsten<br />

25 Jahren weiterentwickeln könnte:<br />

„The Future of Monetary Policy: The Central Bank as an Army with Only a<br />

Signal Corps?“ 647<br />

Er geht vom künstlich geschaffenen Markt für Zentralbankgeld als Steuerungsinstrument<br />

der Geldpolitik aus. Vorerst vergleicht er die großen Volumen der Finanzmärkte<br />

mit den verhältnismäßig geringfügigen Volumen der monetären Basis,<br />

über welche die Zentralbank verfügt. Die Geschäftsbanken sind gezwungen,<br />

Zentralbankliquidität nachzufragen, wenn sie Kredite gewähren, um der damit<br />

verbundenen Nachfrage nach Bargeld zu entsprechen und Mindestreserven bei<br />

der Zentralbank zu hinterlegen, welche bei einer Erhöhung der Bankeinlagen erforderlich<br />

sind.<br />

Zu den neueren Entwicklungsfaktoren in den vergangenen Jahren gehört nach<br />

Auffassung von Friedman als erstes Element die Erosion der Nachfrage nach Bargeld.<br />

648 Die Finanzinnovationen führen zu einem kleineren Bedarf an Bargeld,<br />

zumal neue Formen liquiditätsnaher Aktiven mit geringeren Transformationskosten<br />

bei der Umwandlung in Geld entstanden. Beispiele sind das elektronische<br />

Geld und „smart cards“ (Plastikkarten mit einem integrierten Chip, welcher auch<br />

als Geldspeicher dient). Bei einer stärkeren Verbreitung der smart cards würde<br />

647 Friedman, Benjamin M., 1999, S. 321-338.<br />

648 Dieser Trend lässt sich im Euro-Währungsgebiet (noch) nicht feststellen, zumal auch das Aus-land große Volumen<br />

von Bargeld nachfragt.<br />

369


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

das Geld nur noch als ein mögliches Instrument unter anderen für die kurzfristige<br />

Speicherung von Kaufkraft dienen. Hinzu kommt die Tendenz, vermehrt<br />

Zahlungen durch Formen elektronischen Geldes auszuführen.<br />

Ein zweites Element, welches die Monopolstellung der Zentralbank als Anbieter<br />

der monetären Basis gefährdet, ist die abnehmende Bedeutung der Banken im<br />

Kreditbereich. An deren Stelle treten häufig Pensionskassen, Versicherungen<br />

und Investmentfonds. Diese Institutionen arbeiten bei der Kreditvergabe sehr<br />

effizient und sind nicht auf Zentralbankliquidität angewiesen (weder für die<br />

Kreditvergabe noch für die Hinterlegung von Mindestreserven). Eine ähnliche<br />

Bedeutung hat der Trend zur Securitization (Verbriefung in Form von Anleihen)<br />

von Hypotheken, Konsumenten- und Firmenkrediten, 649 welche in großen Paketen<br />

und unter verschiedenen Modalitäten des Anlegerschutzes an die Börse gebracht<br />

werden. Auf diese Weise kommt es zu einem Bedeutungsverlust der Zentralbank.<br />

Ein drittes Element, welches zu einer geringeren Nachfrage nach Zentralbankgeld<br />

führt, ist der Wettbewerb im Bereich der Zahlungssysteme (Bankenclearing).<br />

Dieser kann zu entsprechenden, „privaten“ Systemen führen, die auf einer Liquiditätsbasis<br />

funktionieren, welche nicht von der Zentralbank bereitgestellt<br />

wird, was einen weiteren Bedeutungsverlust der Zentralbanken bewirkt. Derzeit<br />

laufen die Zahlungen unter den Banken zum Teil noch über die Zentralbanken.<br />

Um die sich ergebenden Saldi auszugleichen, entsteht ein Bedarf an Zentralbankgeld,<br />

was die Rolle der Zentralbank, als Monopolist für das Angebot an<br />

Zentralbankgeld aufzutreten, stärkt. Dies ist vor allem dann der Fall, wenn die<br />

Zentralbank keine Überziehungskredite gewährt (wie dies beispielsweise die<br />

EZB in der Form von Spitzenrefinanzierungskrediten über Nacht vorsieht).<br />

Ein viertes Element ist die sinkende Zahl von Währungen, die sich international<br />

öffnenden Geldmärkte und die zunehmende internationale Währungsintegration<br />

im Rahmen der Globalisierung der Geld-, Kredit- und Kapitalmärkte. Finanzinnovationen<br />

wie beispielsweise Terminkontrakte und Optionen können<br />

die Steuerung des Geldangebotes unterlaufen, indem diese zu einem erhöhten<br />

Geldschöpfungspotential führen. Die Möglichkeit, die Geldbasis zu kontrollieren,<br />

wird eingeschränkt; zudem verlieren die Geldmengenaggregate an Aussagekraft.<br />

Auch kleinere Volkswirtschaften können in den Strudel von Währungskrisen<br />

geraten und suchen eine Anbindung ihrer Währung an Triadewährungen<br />

(USD, Euro und Yen). Für die höchstindustrialisierten Länder ist das Phänomen<br />

der „off shore“-Märkte von Bedeutung, welche sich weitgehend der nationalen<br />

Regulierung entziehen. Dies hat auch Auswirkungen auf das Angebotsmonopol<br />

der Zentralbanken bei der Bereitstellung von Zentralbankliquidität. Insoweit die<br />

Geschäftsbanken sowie die privaten Unternehmen und Haushalte die eigene<br />

Währung durch eine fremde Währung substituieren, wird die Wirksamkeit der<br />

649 Vor allem in den USA, wo der Anteil – je nach Kreditart – zwischen zehn und dreißig Prozent beträgt.<br />

370


Vorlesung „Advanced Monetary Theory and Policy” (Geldtheorie und –politik) im WS 2012/13<br />

Zentralbanken im Inland geschmälert. Ähnliche Wirkungen hat die Verwendung<br />

von ausländischen Währungen als Denominationswährung (Währungen<br />

für die Rechnungstellung) für Transaktionen im Güterbereich und bei der Festlegung<br />

von Löhnen.<br />

Diese Faktoren führen zu einem geringeren Einfluss der Geldpolitik auf die<br />

Preisentwicklung, die Zinsen, den Output und die Beschäftigung. Die Wirkungen<br />

von Finanzinnovationen auf den Geldangebotsprozess können in zweierlei<br />

Richtungen gehen: Die Kontrollierbarkeit der Geldbasis wird eingeschränkt oder<br />

der Geldschöpfungsmultiplikator wird größer und instabiler. Die Steuerbarkeit<br />

der Geldbasis hängt davon ab, ob die Zentralbank die Geldmenge frei und autonom<br />

festlegen kann. Kurzfristig haben die Geschäftsbanken und die Nichtbanken<br />

einen Einfluss auf die Geldbasis, beispielsweise durch die Neigung der<br />

Nichtbanken, Bargeld zu halten, oder der Banken, Spitzenrefinanzierungsfazilitäten<br />

in Anspruch zu nehmen. Langfristig kann die Zentralbank durch die Festlegung<br />

der Refinanzierung die Liquiditätszuführung wieder nach ihren Zielen festlegen.<br />

Im Euro-Währungsgebiet liegt angesichts der erheblichen Mindestreserven<br />

und der großen sowie steigenden Nachfrage nach Bargeld (€) im In- und Ausland<br />

ein Wechsel zu einer geldmarktorientierten Geldpolitik noch in ferner Zukunft.<br />

Empirische Hinweise zum Euro-Währungsgebiet (1999-2012)<br />

Thesen:<br />

1. Die Nachfrage nach Bargeld „erodiert“. - Diese These trifft nicht zu. Die Bargeld-<br />

nachfrage ist jährlich um durchschnitt-<br />

lich acht bis neun Prozent gestiegen.<br />

2. Die Mindestreserven stellen keine Be- - Diese These trifft nicht zu.<br />

grenzung der Geldmengenentwicklung<br />

dar.<br />

3. Die Geldmengenentwicklung lässt - Diese These trifft nur tendenziell<br />

sich über die Liquiditätszuführung zu (nicht signifikant).*<br />

durch die EZB begrenzen.<br />

* Bei einem zugrunde gelegten Signifikanzniveau von mindestens 0,10.<br />

09.09.2012/an./<strong>Dr</strong>. Joanna Boerner/<strong>Dr</strong>. Barbara Schuler.<br />

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