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das argument - Berliner Institut für kritische Theorie eV

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DAS ARGUMENT<br />

Zeitschrift <strong>für</strong> Philosophie und Sozialwissenschaften<br />

Herausgeber: Frigga Haug und Wolfgang Fritz Haug<br />

Ständige Mitarbeiter:<br />

Wolfgang Abendroth (Frankfurt/ M.), Detlev Albers (Bremen), Günther Anders<br />

(Wien), Frank Deppe (Marburg) , Hans-Ulrich Deppe (Frankfurt / M.), Bruno Frei<br />

(Wien), Klaus Fritzsche (Gießen), Werner Goldschmidt (Hamburg), Helmut Gollwitzer<br />

(Berlin /West), Heiko Haumann (Freiburg), Klaus Holzkamp (Berlin / West), Urs<br />

Jaeggi (Berlin /West), Baber Johansen (Berlin /West), Arno Klönne (Paderborn), Thomas<br />

Metscher (Bremen), Reinhard Opitz (Köln), Wolfgang Pfaffenberger (Oldenburg),<br />

Helmut Ridder (Gießen), K.H. Tjaden (Kassel), Erich Wulff (Hannover)<br />

Redaktion:<br />

Dr. Heinz-Harald Abholz , Wieland Elfferding, Dr. Karl-Heinz Götze, Sibylle Haberditzl,<br />

Dr. Frigga Haug, Prof. Dr. W.F. Haug, Rolf Nemitz<br />

Redaktionssekretariat: August Soppe<br />

Verlag und Redaktion:<br />

Altensteinstraße 48a, 1000 Berlin 33, Telefon 030 / 8314079<br />

Auslieferung und Anzeigen:<br />

Argument-Vertrieb, Tegeler Str. 6, 1000 Berlin 65 , Telefon 030 / 4619061<br />

Besprechungen<br />

Philosophie<br />

McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse (w. Kunstmann). .<br />

Horster, Detlef Habermas zur Einführung (w. Kunstmann) ..<br />

Ramsey, Frank P. : Grundlagen. Abhandlungen zur Philosophie , Logik,<br />

Mathematik und Wirtschaftswissenschaft (M. Lönz) ..<br />

Btlling, Hans: Wittgensteins Sprachspielkonzeption (P. Schmldt).<br />

Danto, Arthur: Analytische Handlungsphilosophie (/. Tuguntke) ..<br />

Fischer-Lichte, Enka: Bedeutung. Probleme einer semiotischen Hermeneutik<br />

277<br />

277<br />

279<br />

281<br />

281<br />

und Ästhetik (1. Bindsetl) .. 282<br />

(Fortsetzung auf S. XVI)<br />

ISSN 0004-1157<br />

Das Argument erscheint 198 1 in 6 Heften (alle 2 Monate) mit einemjahresumfang von 924 Text ·Seiten. Kü nd igung<br />

eines Abonnements ist unter Einhalrung einer dreimonatigen Frist nur zum Jahresende möglich. - Preis<br />

9.80 DM ; Schüler und Studenten 8.S0 DM; im Abonnement 8.S 0 DM bzw. 7.- DM + Versand kosten . - D ie<br />

Redaktion binc( die Leser um Mita rbeit am Argument , kann aber <strong>für</strong> unve rlangt eingesandte Beiträge keine<br />

Haftu ng übe rnehmen. Eingesandte Manuskripte müssen in doppelter Ausfüh rung in Maschinenschrift einseitig<br />

beschrieben und mit einem Rand versehen sein. Aufsätze sollen nicht mehr als 25 Manuskrip tseiten, Rezensionen<br />

nicht mehr als 2 Manuskrip tseiten umfassen. Zi tie rweise wie in den Natu rwissenschaften. - Für unverla ngt<br />

ei ngesandte Bes prcchungsbücher kann keine Haftu ng übernommen werden. - Copyright © Argument-Verlag<br />

GmbH , Berlin. Alle Rechte - auch <strong>das</strong> der Übersetzung - vorbehaltt' n. - Konten: Deutseht' Bank Berlin AG<br />

72 1/ 7722. BLZ 10070000; Bank fü r GemeinwirtSchaft 11 14 40 1300. BLZ 100 10 1 11; Postscheckkonto Berli n<br />

West 5745·108. BLZ 10010010. - Satz: Barbara Steinh ardt. Berli n; Herste llung: Fuldaer Ve rlagsanstal t. Fu lda.<br />

I. - 7. Tausend März 198 1.<br />

Beilagenhinweis: Dieses Heft enthält ei nen Zah lkarten-Prospekt des Argument-Ve rlages


Sonderverkauf<br />

Wir räumen <strong>das</strong> lager der Zeitschrift Argument bis Heft 120. Jedes Stück kostet einheitlich<br />

4,- DM, auch die Dreifachhefte und Vierfachhefte (mit z.T. fast 400 Seiten).<br />

Richtig, wir brauchen Geld. Und wir brauchen den Lagerplatz. Und wir freuen uns.<br />

wenn die Hefte benutzt werden.<br />

Der Mindestbestellwert in unserem Sonderverkauf beträgt 20,- DM; hinzukommen<br />

3,- DM Versandkosten; bei Bestellungen über 50,- DM berechnen wir keine Versandkasten.<br />

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Einige Hefte sind nur noch in geringer Zahl vorhanden. daher empfiehlt es sich. sofort<br />

zu bestellen. Wer zuerst kommt, mahlt zuerst.<br />

Die Aktion ist begrenzt bis zum 31. 7 .1981.<br />

Remittenden: Zusätzlich bieten wir einige Remittendenexemplare von Argument­<br />

Sonderbänden und Argumem-Srudienheften zum bis zu 50 % herabgesetzten PreIs.<br />

Wer von einem Eselsohr oder kleinen buchbinderischen Mängeln oder einer nicht ganz<br />

richtig gekommenen Umschlagfarbe nicht abgeschreckt wird, sollte zugreifen (näheres<br />

auf dem beigehefteten Prospekt). Des(O leichter wird es fallen, über die Portofreigrenze<br />

zu kommen.<br />

FördererkretS: Wir danken denen. die monatlich einen gewissen Betrag zur Förderung<br />

des Argument überweisen. Solche Hilfe bleibt lebenswichtig. Das politische Umfeld<br />

bietet keine günstigen Bedingungen. Wir oriemicren auf die Verbindung von Wissenschaft<br />

und Arbeit. Wir versuchen zudem, einen Diskussionszusammenhang zu emwickeln.<br />

Und schließlich strengen wir uns (eI wa im Rezensiol1Steil. ergänzt durch die<br />

Rezensionsbeihefte) an, einen Überblick über die auseinanderstrebenden wissenschaftlichen<br />

Teilbreiehe herzustellen. Diese Orientierungen sind »zur Zeit« nicht populär. SIe<br />

aufzugeben, kommt nicht in Frage. Daher bedarf dieser Versuch, eine differenzierte<br />

theoretische Kultur mitzuentwickeln, der Förderung. Kommerziell ist dieses Projekt<br />

nicht zu machen. Wir werden weiterhin zinslose Darlehen oder Spenden brauchen.<br />

Und die Hilfe beim Gewinnen neuer Abonnenten (und beim Abbau unnötiger Feindschaften).<br />

Erste Argument-LP: »EIS/er - Musik gegen die Dummheit" Johannes Hodek (singend<br />

und kommentierend) und Thomas Kühn (am Klavier) sind ein Jahr lang mit diesem<br />

Programm durch die Lande gezogen. Denn noch immer gilt es. den Komponisten<br />

Hanns Eislcr zu entdecken. Wie schon 1973 beim Gründungskonzen des Hanns-Eisler­<br />

Chors fungierte <strong>das</strong> Argument als Konzertagentur. Und jetzt gibt es diese lustvoll-bildende<br />

Eisler-Aneignung auf der ersten LP des Argument.Verlages.<br />

Kleine Auflage - jetzt vorbestellen' (Vgl. die Anzeige am Schluß dieses Heftes)<br />

Neuer Argument-Service: Bücher, die uns wezterbnngen: Programm siehe Seite 263.<br />

Zum vorliegenden Heft<br />

All zu oft haben auch Marxisten in ihren Analysen Menschen wie eine Ansammlung<br />

von Reflexen und Reaktionen behandelt. Eine <strong>Theorie</strong>, die Menschen nicht als Handelnde<br />

begreift, befähigt aber auch nicht zum eingreifenden Handeln. Welche Herangehensweisen.<br />

welche Methoden sind geeignet. die gesellschaftlichen Untersuchungsfelder<br />

nicht bloß in ihre Einzelaspekte zu zerlegen, sondern auch herauszufinden. wie<br />

die darin handelnden Menschen ihre Lebensprozesse zu einem Ganzen integrieren) In<br />

Argument 123 haben wir in dieser Hinsicht Sozialbiographie und »oral hisrory« behandelt.<br />

In diesem Heft wenden wir uns Problemen der Subjekttheorie zu, sowie der Heimatforschung.<br />

DAS ARGUME!\.rI 126/1981<br />

167


Editorial 169<br />

den Zielen und Hauptproblernen materialistischer Wissenschaftsgeschichtsschreibung<br />

äußern. Darin wird auf programmatischer Ebene deutlich. mit welcher Vielfalt an Fragen<br />

und Methoden wir heute an einen Gegenstand herangehen müssen, der seit den<br />

durch Thomas Kuhn ausgelösten Diskussionen zum Auseinandersetzungsfeld um Wissenschaftlichkeit<br />

und Rationaliät geworden ist.<br />

Kommunistische Exkommunikation - antikommunistische<br />

Denunziation<br />

Aus der DDR und auch aus hiesigen kommunistischen Parteien werden gewaltige<br />

Wortknüppel gegen <strong>das</strong> Argument geschwungen: »Pseudosozialistische <strong>Theorie</strong>n«1<br />

»Bruch mit dem MarXismus«' ),Revisionismus«' Warum) Dabei geht es um nicht öko nomistische<br />

Politiktheorie, um Kritik an sozialistischen Ländern, um Ideologietheorie<br />

usw.<br />

Auf der andern Seite betreiben Flechtheim und Vilmar die große antikommunistische<br />

Entlarvung: »DKP-orientierte Unterwanderung«' Das Argument gehöre zu den<br />

»korrumpierten« linken Publikationen. »die nicht selten mit ganz kapitalistischen<br />

Tricks, durch Beschaffung von verlegerischen Eigentumsrechten auf DKP-Linie gezwungen<br />

wurden.« (Flechtheim u.a., Der Marsch der DKP durch die <strong>Institut</strong>ionen,<br />

Frankfurt/M. 1980. S.67)<br />

Bei der zitierten Schrift handelt es sich um eine vorwiegend gegen die gewerkschaftliche<br />

Linke zielende Denunziation (vgl. dazu die Rezension in: Der Gewerkschafter<br />

1/1981. S.48, »Aus der Geschichte nichts gelernt«: es ist dies <strong>das</strong> Funktionärsorgan der<br />

IG-Metall). Das Buch ist, wie wir schon an der Behandlung des Argument erkennen,<br />

von unverfrorener Verlogenheit.<br />

Was treibr Flcchtheim. der einmal Mitherausgeber dieser Zeitschrift war und den wir<br />

als Sozialisten geschätzt haben) Und wie ist <strong>das</strong> phantastisch sich ergänzende Gegeneinander<br />

zu begreifen) Zwischen welche Mühlsteine geraten wir da) (Oder sind es nur<br />

abgewetzte Mühlsteinehen. die sich mehr und mehr im Leeren drehen und uns gar<br />

nicht mehr schrecken müssen))<br />

Wu finden. es gibt Aspekte an den hier berichteten Denunziationen, die müssen<br />

nicht nur die unmittelbar Betroffenen interessieren. Muß nicht jeder. dem an der<br />

Handlungsfähigkeit der Linken und deshalb auch an der ungestörten Führung theoretischer<br />

und strategischer DISkussion liegt, am Abbau solcher pathologischer Politikformen<br />

mitwirken) Ebensowenig wie uns bestimmte Kommunisten aus dem Marxismus<br />

ausgrenzen können, ebensowenig dürfen wir die Kommunisten aus unseren Arheitsund<br />

Diskussionszusammenhängen ausgrenzen. Das Argument soll weiterhin ein Forum<br />

sein und werden, in dem zur Entwicklung arbeitsorienrierter Wissenschaft allseitig beigetragen<br />

wird, in dem die theoretische Selbstverständigung der Linken vorangetrieben<br />

und dadurch auch die Verwissenschaftlichung linker Politik vorangebracht werden soll.<br />

Läßt sich diese Aufgabe erfüllen, ohne rundherum Diskussionsverbote und Ausgrenzungsbeschlüsse<br />

zu verletzen)<br />

Daß und warum von den verschiedenen Mächten mit schmutzigen Tricks gearbeitet<br />

wird. läßt sich begreifen. Und in dem :\1aße. in dem diese Erfahrung selbstverständlicher<br />

Bestandteil linker Kultur wird, können wir gelassen zur Tagesordnung übergehen.<br />

Dr\S A.RGUME;-., T 126:' In1


170<br />

Alfred Lorenzer<br />

Möglichkeiten qualitativer Inhaltsanalyse: Tiefenhermeneutische<br />

Interpretation zwischen Ideologiekritik und Psychoanalyse<br />

In der letzten Zeit hat sich die sozialwissenschaftliche Diskussion vermehrt der qualitativen<br />

Inhaltsanalyse zugewandt. Nicht zuletzt deshalb, weil zunehmend Probleme<br />

der Subjektivität - gebrochene Subjektivität als Resultat und Stärungsfaktor objektiver<br />

Prozesse - Aufmerksamkeit und d.h. »verstehen« fordern.<br />

Um es gleich an einem Beispiel zu zeigen: Unter den literarischen Erzeugnissen gewinnen<br />

Autobiographien von Jahr zu Jahr an Terrain. Sicherlich hat <strong>das</strong> von der Autorenseite<br />

her gesehen vielerlei Gründe, zweifellos aber drückt sich darin auch ein Verlangen<br />

der Leser aus, <strong>das</strong> man ungefähr so umschreiben kann: es geht um die Suche nach<br />

einer Lebensorientierung, die sich an authentischen Niederschriften vorantasten will.<br />

Gewiß befriedigt <strong>das</strong> Dargebotene solches Interesse in unterschiedlicher Perspektivierung<br />

(auf Generationenkonflikte oder Familiendramen oder Geschlechtsdifferenzen<br />

usw.) und unterschiedlicher Tiefe (in vordergründiger Beschränkung z.B. wie der: Familiendramen<br />

als Familiendramen und nichts weiter dahinter). Demgemäß hat eine<br />

ideologie<strong>kritische</strong> Sichtung der Lebensskizzen und eine gesellschafts<strong>kritische</strong> Erschließung<br />

des Materials ein reiches Arbeitsfeld - zumal der Gegenstand von vornherein eine<br />

Ausrichtung auf objektive Analyse herauszufordern scheint: die Befreiung der Lebensdarstellungen<br />

aus dem Schein individualistisch-subjektivistischer Autonomie.<br />

Doch diese Ausrichtung aufs Objektive im Subjektiven ist nicht alles. So richtig (und<br />

notwendig) es ist, die objektive Bedingtheit der subjektiven Struktur herauszuarbeiten,<br />

so falsch wäre es, <strong>das</strong> Problem der Subjektivität ganz und gar ins Objektive aufzulösen<br />

und eilfertig über die Eigenbedeutung der subjektiven Struktur (und ihrer Analyse)<br />

hinwegzugehen. Wenn man Form und Inhalt der Persänlichkeitsstruktur nicht voneinander<br />

trennt und eine ungesellschaftlich-biologische Präexistenz der Menschen behaupten<br />

will, so muß man sich klarmachen, daß die Persänlichkeitsbildung ein komplizierter<br />

Prozeß und deren Resultat eine komplexe Verarbeitung gesellschaftlicher »Angebote«,<br />

»Einflüsse« und »Produktionsmechanismen« ist. Je entschiedener man die gesellschaftliche<br />

Bestimmtheit menschlichen »Wesens« anerkennt, desto klarer tritt die Eigenständigkeit<br />

der <strong>Institut</strong>ion »Individuum« hervor. Die konkreten Individuen sind<br />

zwar nicht entscheidungsautonom, wohl aber sind sie Umsetzungsorgane der gesellschaftlichen<br />

Praxis, die als sprach-vermitteltes Handeln »im« Menschen ein Organisationszentrum<br />

hat. Zwar sind die Individuen in ihrem Handeln vornehmlich »fremdbestimmt«<br />

von den herrschenden Verhältnissen, aber sie sind es mcht nur, ansonsten wäre<br />

die Situation veränderungs- und hoffnungslos, wie <strong>das</strong> die Verteidiger des Bestehenden<br />

gern hätten. Das sprachlich formulierte Bewußtsein ist zwar ideologisch, Sprache selbst<br />

hat ideologischen Charakter - aber nicht nur, sonst würde jede <strong>kritische</strong> Potenz von<br />

den zugelassenen kulturellen Deutungsmustern aufgesogen werden, der Bannkreis der<br />

Ideologie wäre perfekt geschlossen. Sprache und d. h. vor allem auch Texte bieten einen<br />

Freiheitsspalt, den eine <strong>kritische</strong> Analyse ausnutzen kann,<br />

- sei es im Aufbrechen der ideologlJchen Unfreiheit der Individuen durch eine Ideologiekritik,<br />

der die historische Unangemessenheit der subjektiven Formeln versteinerter<br />

Verhältnisse in ihrer Widersprüchlichkeit greifbar wird;<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


Möglichkeiten qualitativer Inhaltsanalyse 171<br />

- sei es als »Textanalyse« modo psychoanalytico, die die neurotische Unfreiheit der Individuen,<br />

die Unterdrückung ihrer geschichtlich möglichen Bedürfnisse aufzuarbeiten<br />

hat.<br />

Beidemale erweist sich eine qualitative Inhaltsanalyse als <strong>kritische</strong>s Instrument, <strong>das</strong><br />

an den Widersprüchen im dargebotenen Mitteilungstext ansetzt, <strong>das</strong> im Sich-Einlassen<br />

auf die konkrete W idersprüchlichkeit <strong>das</strong> schlecht Bestehende zu entlarven sucht.<br />

Zwischen diesen beiden <strong>kritische</strong>n Verfahren ist ein Terrain <strong>für</strong> eine dritte Vorgehensweise<br />

auszumachen, die von den beiden anderen abzugrenzen ist: die tiefenhermeneutische<br />

Analyse kultureller Gebilde. Versuchen wir deren Eigenart von einer Beschreibung<br />

ihres Gegenstandes her zu enrwickeln, anhand einer Funktionsbestimmung<br />

kultureller Objektivationen, wie ich sie andernorts ausführlicher vorgelegt habe l -) Ich<br />

greife dabei die eine Funktion heraus, die bei der Literatur zentral steht: Soziale Verhaltensformeln,<br />

»innere« Muster des zwischenmenschlichen Zusammenspiels und der<br />

Auseinandersetzung mit der Realität - Interaktionsformen menschlicher Praxis also -<br />

werden zur Debatte gestellt. Problematische Interaktionsformen werden in Bzldern vorgeführt<br />

und in ihrer lebenspraktischen Konsequenz durchgespielt und damit auf den<br />

lebenspraktisch bestimmenden Ebenen aktualisiert, nämlich<br />

- als »beschriebene« Szenen sinnlich unmittelbarer Lebenswirklichkeit und<br />

- als Bezeichnungen mit dem Ziel, Praxisformeln ins System des bewußten HandeIns,<br />

im System der »Namen« einzubeziehen - denn sozial li zensiertes Handeln verlangt<br />

nach der Einfügung in <strong>das</strong> System der Namen (der sprachsymbolischen Interaktionsformen).<br />

Die bewußten Praxismuster dienen ja nicht bloß als Handlungsanweirungen (als<br />

Anweisungen »planvollen« Handelns), sondern auch als Deutungsmuster der WeIterfahrung.<br />

»Zur Debatte stellen«, <strong>das</strong> sagt noch nichts darüber aus, was mit den problematischen<br />

Praxisformeln - Interaktionsformen - geschieht: sollen sie bestätigt werden,<br />

soll die Übereinstimmung individueller Praxis mit den herrschenden Normen (diesen<br />

»Normen der Herrschenden«) befestigt werden in Inszenierungen mit Befriedigungscharakter<br />

oder soll im Vorfuhren szenischer Figuren den »versteinerten Verhältnissen ihr<br />

Lied vorgespielt werden« I Oder sollen neue Praxismöglichkeiten gegen die ideologische<br />

Verriegelung zur Geltung gebracht werden? Es versteht sich, daß die Trennlinie zwischen<br />

emanzipatorischer und kontraemanzipatorischer Literatur schon in der Alternative<br />

zwischen beschwichtigender und nichtbeschwichtigender Präsentation subjektiver<br />

Praxismuster gezogen ist.<br />

Tiefenhermeneutische Interpretation kultureller Objektivationen hat als <strong>kritische</strong>s<br />

sozialwissenschaftliches Verfahren dieser Alternative im Text nachzugehen und eben<br />

deshalb die Ebene der Sprache als »Zeichensystem«, als Glasperlenspiel von Bedeutungen,<br />

bei denen <strong>das</strong> Bezeichnete vom System der Bezeichnungen bestimmt wird und<br />

»sttukturalistisch« allein interessiert, zu überschreiten. Der lebenspraktisch wichtige »latente<br />

Sinn« unterhalb der Sprachstruktur muß herausgearbeitet werden. Diesen »latenten<br />

Sinn« bilden die »Interaktionsformen« als Sedimente einsozialisierter Praxis, die<br />

- mit Sprache verbunden sein können als symbolische Interaktionsformen, sich also<br />

auch im manifesten Gehalt des Textes ausdrücken können,<br />

- von Sprache abgetrennt sein können, um als desymbolisierte »Klischees« unbewußt<br />

<strong>das</strong> Verhalten zu steuern. wenn sie situativ provoziert werden,<br />

- oder aber einfach Teil der lebenspraktischen Basis mit emotionaler Resonanz sind,<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 @


172 Alfred Lorenzer<br />

im Widerspruch sind zu den »desymbolisierten Zeichen«, diesen Gegenstücken der Klischees,<br />

die emotionslos als Einsprengsel einer aufoktroyierten Objektivität die Individuen<br />

manipulieren.<br />

Selbstverständlich zielt die tiefenhermeneutische Analyse nicht aufs bloße Registrieren<br />

des Gegensatzes von augenfällig-manifestem Sinn eines Textes und seiner Bedeutung<br />

als Abbild von Praxisformen in der genannten Dreiteilung - bewußtseinsfähigen<br />

symbolischen Interaktionsformen, unbewußten Klischees und d.h. desymbolisierten<br />

Interaktionsformen und desymbolisierten Zeichen. Tiefenhermeneutische Erkenntnisabsicht<br />

geht allemal auf die Inhalte aus, ganz wie dies schon bei der Psychoanalyse der<br />

Fall ist. Von der Psychoanalyse trennt sich die tiefenhermeneutische Interpretation kultureller<br />

Objektivationen freilich in mehrfacher Hinsicht:<br />

- Gegenstand der tiefenhermeneutischen Untersuchung sind zwar wie in der Psychoanalyse<br />

bewußte und unbewußte Verhaltensformeln, d.h. Interaktionsformen, die als<br />

gesellschaftlich bestimmte Muster individuellen Verhaltens fungieren. Ihre analytische<br />

Bewußtmachung ist im Falle der Literatur aber ein pointiert kollektives Problem, nicht<br />

Sache der individuellen Lebensauseinandersetzung. Selbst wenn (wie bei der Autobiographie)<br />

individuelles Leiden literarisch vorgeführt wird, so fasziniert dieses doch als ein<br />

kollektiv paradigmatisches; oder aber es findet kein Interesse und d.h. keine Leser.<br />

- Damit deutet sich ein weiterer und noch einschneidenderer Unterschied an: Adressat<br />

der tiefenhermeneutischen Interpretation ist nicht der Autor, der Textproduzent,<br />

sondern der Leser. Ihm wird in der Literatur ein Modell vorgeführt. Er wird von der Präsentation<br />

betroffen gemacht. Die Auseinandersetzung des Lesers und nicht die des Autors<br />

muß verfolgt werden. Zum Leser, nicht zum Autor, spannt sich der Interaktionsbogen<br />

tiefenhermeneutischer Analyse. Sein Gegenstand ist genau formuliert: Das »Verhältnis<br />

des Lesers zum Text«.<br />

- Nicht weniger tiefgreifend ist der folgende Unterschied: hier steht nicht vordringlich<br />

die infantile Bildungsgeschichte zur Debatte, sondern der Sozialzusammenhang erwachsener<br />

Individuen, die Organisation des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Die<br />

therapeutische Psychoanalyse hat die infantile Bildungsgeschichte vordringlich im Auge,<br />

da dort die Wurzeln der Entwicklungsverzerrung liegen. Was in therapeutischer<br />

Absicht wesentlich ist, verliert beim literarischen Material aber seinen Sinn. Der Autor<br />

ist nicht zu therapieren. Und <strong>für</strong> die Leser ist die Aufdeckung der privat-neurotischen<br />

Wurzel des Werkes nur dann von mehr als bloß indiskretem Interesse, wenn die Erkenntnis<br />

über den Familientahmen hinausreicht. Um es an einem bekannten Beispiel<br />

zu verdeutlichen. Wenn Marie Bonaparte6 Edgar Allen Poe als Necrophilen identifizierte,<br />

dann ist solche Interpretation der Poeschen Darstellungen nur relevant, wenn<br />

die Frage angeschnitten werden kann, inwiefern und weshalb solche Thematik - die<br />

Liebe zum Toten - Bedeutung als Darstellung einer allgemeineren Problemlage hat,<br />

deren genauer »sozial-kollektiver« Inhalt aus der Analyse des dichterischen Werkes zu<br />

ermitteln wäre. Wenn Freud7 in seinem Kommentar zu der Bonaparteschen Untersuchung<br />

Poe als den Erfinder des Detektivromans hervorhebt und darauf aufmerksam<br />

macht, daß die Identifizierung des Täters der destruktiven Tat, die uns Leser betroffen<br />

macht, eine merkwürdIge Ablenkung auf ein »Ersatz thema« (<strong>das</strong> nach Freuds Auffassung<br />

anstelle der bohrenden Frage nach der Urszene steht) ist, so muß <strong>das</strong> noch einmal<br />

gewendet werden: der Detektivroman ist nicht nur Ersatzthema <strong>für</strong> die Bearbeitung eines<br />

infantilen Traumas, sondern auch Ablenkungsthema <strong>für</strong> sozial aktuelle Verursa-<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


Möglichkeiten qualitativer Inhaltsanalyse 173<br />

chungszusammenhänge subjektiver Bedrängnis.<br />

Der Fehler der »angewandten Psychoanalyse« lag im Falle der psychoanalytischen Literaturkritik<br />

aber nicht nur darin. daß sie die Differenz der AufgabensteIlung und Erkenntnisabsicht<br />

(die nichttherapeutische Absicht im Falle der Literatur) überspielt hat,<br />

sondern daß sie <strong>das</strong> Junktim von praktischem Vorgehen und theoretischer Erkenntnis8 ,<br />

mißachtet hat. 9 Weil die psychoanalytische Begrifflichkeit aber ganz aus der Therapiearbeit<br />

hervorging und <strong>Theorie</strong> eines konkret-<strong>kritische</strong>n Operierens ist, ist die psychoanalytische<br />

<strong>Theorie</strong> notwendig »medizinisch«, und »medizinalisiert« bei jeder Übertragung<br />

von <strong>Theorie</strong>stücken den Bereich der Anwendung unvermeidlicherweise. Nicht<br />

der flaue Transfer angewandt er Psychoanalyse ist anzustreben, sondern die Methode<br />

muß übertragen werden. Und d.h.: eine kritisch-hermeneutische Methode muß alle ihre<br />

Begriffe aus der <strong>kritische</strong>n Auseinandersetzung mit dem neuen Gegenstand selbst<br />

gewinnen. Sie muß dann auch im neu erschlossenen Themenbereich bei jedem Gegenstand<br />

bereit sein, die ans Erkennen herangetragenen Vorannahmen zu problematisieren.<br />

Genauer. die hermeneutische Auseinandersetzung erfordert stets eine Veränderung<br />

der probeweise angelegten Vorannahmen. Alle, auch die in wissenschaftlichen Arbeiten<br />

systematisierten Vorannahmen sind nur vorläufige Einsätze, die im hermeneutischen<br />

Zirkel verändert werden müssen.<br />

Wie tiefenhermeneutische Analyse funktioniert, ist bei solcher Sachlage (der Nötigung,<br />

jedem Gegenstandsbereich seine eigene Begrifflichkeit abzugewinnen) nur vorzuführen<br />

und nicht in inhaltsleeren methodologischen Formeln vorzuschreiben. Auch<br />

die methodologische Reflexion steht unter dem Gebot: <strong>kritische</strong> Analyse kann Inhalt<br />

und Form des Analysierten nicht voneinander abtrennen. Wie sie funktioniert, muß<br />

am Beispiel gezeigt werden. Erst an vorgeführter materialer Analyse kann dann metatheoretisch<br />

der Gang des Analysierten aufgewiesen werden.<br />

Nun fehlt hier der Platz, eine vollständige Analyse vorzulegen. Zur Orientierung<br />

möchte ich aber wenigstens abrißhaft einen analytischen Durchgang skizzieren anhand<br />

des, aus mehrfachen Gründen interessanten, Mephisto-Romanes von Klaus Mann. IO<br />

Selbstgewähltes Thema des Autors ist der »Roman einer Karriere«, näherhin die Geschichte<br />

eines Karrieristen, und noch einmal konkreter gesagt (mit den Worten der Verlagsankündigung):<br />

»Klaus Mann sah im Komödianten Höfgen den Exponenten und<br />

<strong>das</strong> Symbol eines durchaus komödiantischen, zutiefst unwahren, unwirklichen Regimes.«<br />

Was der Leser erwartet, ist vorneweg also: der Einblick in den Zusammenhang zwischen<br />

»karrieristischer« Persönlichkeitsstruktur und Nationalsozialismus. Ich greife diese<br />

Spannung zwischen der Lesererwartung und der Darstellung im Text auf, überspringe<br />

aber eine Reihe von Irritationen, die sich aus einzelnen Szenen unmittelbar ergeben.<br />

Ich komme gleich zu folgendem Problemüberblick:<br />

Der Schauspieler Hendrik Höfgen wird auf einem Höhepunkt seiner Karriere, einem<br />

Geburtstagsball Görings, vorgeführt. Die Geschichte beginnt in diesem »Vorspiel« mit<br />

einem Aufriß der nationalsozialistischen Herrschaftsstruktur als allseits einschüchternder,<br />

unmittelbar beklemmender Gewaltherrschaft, die - von den höchsten Machtträgern<br />

abgesehen - den Menschen insgesamt gegenübersteht: Zwei junge skandinavische<br />

Botschaftsattaches plaudern mit einem Deutschen aus dem Auswärtigen Amt:<br />

Es entstand eine Gesprächspause. Die drei Herren blickten um sich und lauschten dem festlichen<br />

Lärm. »Kolossal., sagte schließlich einer von den beiden jungen Leuten leise - diesmal ohne<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 ©


174 A/fred Lorenzer<br />

jeden Sarkasmus, sondern wirklich beeindruckt, beinah verängstigt von dem riesenhaften Auf·<br />

wand, der ihn umgab. Das Flimmern der von Lichtern und Wohlgerüchen gesättigten Luft war so<br />

stark. daß es ihm die Augen blendete. Ehrfurchtsvoll, aber mißtrauisch blinzelte er in den beweg·<br />

ten Glanz. Wo bUl ich nur) dachte der junge Herr - et kam aus einem der skandinavischen Län.<br />

der -. Der Ort, an dem ich mich befinde, ist ohne Frage sehr lieblich und verschwenderisch aus·<br />

gestattet; dabei aber auch etwas grauenhaft. Diese schön geputzten Menschen sind von einer<br />

Munterkeit, die nicht gerade vertrauenerweckend wirkt. Sie bewegen sich wie die Marionetten -<br />

sonderbar zuckend und eckig. In ihren Augen lauen etwas, ihre Augen haben keinen guten Blick,<br />

es gibt in ihnen so viel Angst und so viel Grausamkeit. Bei mir zu Hause schauen die Leute auf ei·<br />

nt andere An - sie schauen freundlicher und freIer. bei mir zu Hause. Man lacht auch anders,<br />

bei uns droben im Norden. Hier haben die Gelächler etwas Höhnisches und etwas Verzweifeltes;<br />

etwas Freches, Provokantes, und dabei etwas Hoffnungsloses, schauerlich Trauriges. So lacht doch<br />

niemand, der sich wohl fühlt in seiner Haut. So lachen doch Männer und Frauen nicht, die ein an·<br />

ständiges, vernünftiges Leben führen ... (5.10).<br />

Det Grund der Angst wird in persona vorgeführt:<br />

Eine Bewegung gmg durch den Saal, es gab ein hörbares Rauschen: der Propagandaminister war<br />

eingetreten. Der Propagandaminister - Herr über <strong>das</strong> geistige Leben eines Millionenvolkes -<br />

humpelte behende durch die glänzende Menge, die Sich vor ihm verneigte. Eine eisige Luft schien<br />

zu wehen, wo er vorbeiging. Es war, als sei eine böse, gefährliche, einsame und grausame Gottheit<br />

herniedergestiegen in den ordinären Trubel genußsüchüger, feiger und erbärmlicher Sterblicher.<br />

Einige Sekunden lang war die ganze Gesellschaft wie gelähmt vor Entsetzen. Die Tanzenden er·<br />

starrten mitten in ihrer anmutigen Pose, und ihr scheuer Blick hing, zugleich demütig und haßvoll,<br />

an dem ge<strong>für</strong>chteten Zwerg. Der versuchte durch em charmantes Lächeln, welches seinen<br />

mageren, scharfen Mund bis zu den Ohren hinaufzerrte, die schauerliche Wirkung, die von ihm<br />

ausging. ein wenig zu mildern: er gab sich Mühe, zu bezaubern, zu versöhnen und seine tieflie·<br />

genden, schlauen Augen freundlich blicken zu lassen. Seinen Klumpfuß graziös hinter sich her<br />

ziehend, eilte er gewandt durch den Festsaal und zeigte dieser Gesellschaft von zweitausend Skla·<br />

ven, Mitläufern, Betrügern, Betrogenen und "'anen sein falsch, bedeutendes Raubvogelprofil.<br />

An den Gruppen von Millionären, Botschaftern, Regimentskommandanten und Filmstars huschte<br />

er, tückisch lächelnd, vorüber. Es war der Intendant Hendrik Höfgen. Staatstat und Senator. bei<br />

welchem er stehenblieb. (S.18)<br />

Nach dem »Vorspiel« wird zurückgeblendet auf den Beginn der Karriere Höfgens zu<br />

einer Zeit, da er sich schon beruflich ausgezeichnet hatte: Ein Schauspieler der ersten<br />

Garnitur in Hamburg, zugleich hochneurotisch und exaltiert:<br />

Es war Höfgens schlaue Gewohnheit, wie ein nervöser kleiner Sturmwind in Schmitzens Büro zu<br />

fahren, wenn er Vorschuß oder Gagenerhöhung wollte. Zu solchen Anlässen spielte er den übermüüg<br />

Launischen und Kapriziösen, und er wußte, daß der ungeschickte dicke Schmitz verloren<br />

war. wenn er ihm die Haare lauste und den Zeigefinger munter in den Bauch stieß. Da es SIch um<br />

die Tausend·Mark·Gage handelte, hatte er sich ihm sogar auf den Schoß gesetzt: Schmitz gestand<br />

es unter Erröten.<br />

»Das sind Albernheiteni" Kroge schüttelte ärgerlich <strong>das</strong> sorgenvolle Haupt. "Überhaupt ist Höf·<br />

gen ein grundalberner Mensch. Alles an ihm ist falsch, von seinem literarischen Geschmack bis zu<br />

seinem sogenannten Kommunismus. Er ist kein Künstler, sondern ein Komödiant.«<br />

»Was hast du gegen unseren Hendrik'« Frau von Herzfeld zwang sich zu einem ironischen Ton;<br />

in Wahrheit war ihr keineswegs nach Ironie zumute, wenn sie von Höfgen sprach, <strong>für</strong> dessen ge·<br />

übte Reize sie nur zu empfänglich war. »Er ist unser bestes Stück. Wir können froh sein, wenn wir<br />

ihn nicht an Berlin verlieren." (S.31)<br />

Quelle oder doch notwendige Bedingung seiner schauspielerischen bzw. komödiamisehen<br />

Selbstverwirklichung ist em sado-masochistisches Verhältnis zu einer Negerin:<br />

Im Raume herrschte ein rosiges Halbdunkel: es brannte nur die mit buntem Seidentuch ver·<br />

hüllte Lampe auf dem niedrigen, runden Tisch neben dem Schlafsofa. In die farbige Dämmerung<br />

hinein rief Hendrik Häfgen mit einer ganz kleinen, demütigen, etwas zitternden Stimme:<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


Möglichkeiten qualz'tativer Inhaltsanalyse 177<br />

sich in Momenten eines ruhigeren Nachdenkens selbst zugeben mußte. (5. 136)<br />

Eine Zweiteilung in Vernunft und Unvernunft, die nicht <strong>das</strong> Ende der Entwicklung<br />

im Faschismus oder Antifaschismus kennzeichnet, sondern deren Basis in einer quasi<br />

naturhaften Wertdifferenz behauptet. Eine genaue Analyse könnte hier jene Vergleichstexte<br />

, die Theweleit 11 unter dem Stichwort der »weißen Schwester« der Freikorpskämpfer<br />

gesammelt hat, heranholen. Nahezu alle Schablonen edelnatürlicher<br />

Reinheit, Diszipliniertheit, Selbstlosigkeit und Bescheidenheit finden sich in den folgenden<br />

Bildern:<br />

Ihr sehr einfaches, schwarzes Kleid, dem der Kenner seine Herkunft von der kleinen Hausschneiderin<br />

angemerkt hätte und zu dem sie einen weißen, schulmädchenhaft steifen Kragen<br />

trug, ließ den Hals und die mageren Arme frei. Das empfindliche und genau geschnittene Oval<br />

ihres Gesichtes war blaß; Hals und Arme waren bräunlich getönt, golden schimmernd, von der<br />

reifen und zarten Farbe sehr edler, in einem langen Sommer duftend geworden er Äpfel. Hendrik<br />

mußte angestrengt darüber nachdenken, woran ihn diese kostbare Farbe, von der er noch betroffener<br />

war als von Barbaras Antlitz, erinnerte. Ihm fielen Frauenbildu Leonardos ein, und er war etwas<br />

gerührt darüber, daß er hier, in aller Stille, während Marder mit seiner Kenntnis alter französischer<br />

Kochrezepte prahlte, an so vornehme und hohe Gegenstände dachte; ja, auf gewissen<br />

Leonardo-Bildern gab es diese satte, sanfte, dabei spröd empfindliche Fleischesfarbe; auch einige<br />

seiner Jünglinge, die den gekrümmten lieblichen Arm aus einer schattenvollen Dunkelheit hoben,<br />

zeigten sie. Jünglinge und Madonnen auf alten Meisterbildern hatten solche Schönheit. (5. 87)<br />

Selbstlose Hilfsbereitschaft zeigt sich in pädagogischer Anteilnahme:<br />

In Barbara blieb ein großes Staunen über <strong>das</strong> Abenteuer, auf <strong>das</strong> weder ihr Herz noch ihre Gedanken<br />

vorbereitet waren und dessen Konsequenzen unabsehbar schienen. In was geriet sie hier?<br />

Wie geschah ihr) Was hatte sie auf sich genommen) Spürte sie denn einen tieferen Kontakt zu<br />

diesem vieldeutigen und gewandten, höchst begabten, manchmal rührenden, zuweilen beinah<br />

abstoßenden Menschen - zu diesem Komödianten Hendrik Höfgen?<br />

Barbara war kaum zu verführen, sie blieb kühl noch vor den routiniertesten Tricks. Umso<br />

schneller erwachten in ihr Mitleid und die pädagogische Anteilnahme. (5. 99)<br />

Höfgen selbst erschrickt vor der Wertdifferenz:<br />

Mitten in seinem Herzen erschrak er darüber, daß er Barbara Bruckner begnadet fand mit einem<br />

Reiz, den er noch an keiner anderen Frau je wahrgenommen hatte. Ihm waren schon vielerlei<br />

Frauen begegnet, aber noch keine wie diese. Während er diese anschaute, erinnerte er sich, in geschwinder,<br />

aber genauer Zusammenfassung - so, als gälte es, einen Schlußstrich zu ziehen unter<br />

eine lange und beschmutzte Vergangenheit - aller jener weiblichen Geschöpfe, mit denen er je<br />

zu tun gehabt hatte. Er ließ sie Revue passieren, um sie alle zu verwerfen: Die handfest munteren<br />

Rheinländerinnen, die ihn, ohne viel Umstände und ohne viel Raffinement, eingeführt hatten in<br />

die derbe Wirklichkeit der Liebe - reifere, aber noch stramme Damen, Freundinnen seiner Mutter<br />

Bella; junge, aber keineswegs sehr zarte Dinger, Freundinnen seiner Schwester Josy; - die erfahrenen<br />

<strong>Berliner</strong> Straßenmädchen und die kaum weniger tüchtigen der deutschen Provinz, die<br />

ihm jene besonderen Dienste zu leisten pflegten, nach denen er verlangte und ihn solcherart den<br />

Geschmack verlieren ließen an weniger scharfen, weniger speziellen Lustbarkeiten; die kunstvoll<br />

hergerichteten routinierten und stets gefälligen Kolleginnen, denen er jedoch seine Huld nur in<br />

den seltensten Fällen gewährte, die sich vielmehr mit seiner launenhaften, manchmal zur Grausamkeit,<br />

manchmal zur verführerischen Kokettetie aufgelegten Kameradschaft zufriedengeben<br />

mußten; die Schar der Verehrerinnen - schüchtern-mädchenhafte oder pathetisch-düstere oder<br />

ironisch-kluge. Sie präsentierten sich alle noch einmal, zeigten alle noch einmal ihre Mienen und<br />

ihre Gestalten, um dann zurückzutreten, sich aufzulösen, zu versinken angesichts von Barbaras<br />

socben erst entdeckter, außerordentlicher Beschaffenheit. (5. 86f.)<br />

Höfgen, dessen sexuell derbe Beständigkeit uns von der »Revue« »handfest-munterer<br />

Rheinländerinnen« bestätigt wurde, versagt - kennzeichnend und entlarvend - vor<br />

solcher Reinheit und Selbstlosigkeit:<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 ©


178 Alfred Lorenzer<br />

Wenn sie nachts allein in ihrem Bett lag - und sie lag allein -, lauschte sie in ihr Inneres, um<br />

zu erfahren, ob Hendriks wunderliches und ein wenig blamables Verhalten - <strong>das</strong> man wohl auch<br />

ein Versagen nennen konnte - sie erleichtere oder enttäuschte. Ja, es erleichterte sie, und es enttäuschte<br />

sie doch auch ..<br />

Die Zimmer Barbaras und Hendriks hatten eine Verbindungstür. Zu später Stunde pflegte Höfgen<br />

noch bei seiner Gattin einzutreten, dekorativ gehüllt in seinen schadhaft-prunkvollen Schlaf.<br />

rock. Den Kopf im Nacken, über dem schillernd-schielenden Blick halb die Lider gesenkt, eilte er<br />

durchs Zimmer und versicherte Barbara mit singender Stimme, wie froh und dankbar er sei, und<br />

daß sie stets <strong>das</strong> Zentrum seines Lebens bleiben werde. Er umarmte sie auch, aber nur flüchtig,<br />

und während er sie in den Armen hielt, ward er bleich. Er litt, er bebte, ihm stand der Schweiß<br />

auf der Stirn. Scham und Zorn füllten ihm dIe Augen mit Tränen. (S. 125)<br />

Wie bei den Theweleitschen Beispielen strahlt die Idealisierung der weiblichen Rein­<br />

heit auf die Herkunftswelt kultivierter Familien zurück, diese ebenso verklärend wie sie<br />

in ihr vorweg begründet ist: Barbaras Elternhaus hebt sich leuchtend ab von den ver­<br />

worren kleinbürgerlichen Familienverhältnissen des Hendrik Höfgen, seinem bankrot­<br />

ten Vater Köbes, seiner peinlich geschwätzigen Mutter Bella und seiner liederlich-ver­<br />

gnügungssüchtigen Schwester Josy. Barbaras Vater ist ein weltberühmter Gelehrter. Er<br />

wird folgendermaßen eingeführt:<br />

Der Geheimrat erwartete <strong>das</strong> junge Paar vor der Tür seines Hauses, im Garten. Er begrüßte<br />

Hendrik mit einer Neigung des Oberkörpers, die so tief und feierlich war, daß man vermuten<br />

mußte, sie sei ironisch gemeint. Jedoch lächelte er nicht: sein Gesicht blieb ernst. Das schmale<br />

Haupt war von einer Feinheit und Empfindlichkeit, die fast erschreckend wirkten. Die gefurchte<br />

Stirne, die lange, zart gebogene Nase, die Wangen waren wie gearbeitet aus einem kostbaren,<br />

gelblich nachgedunkelten Elfenbein. (S. 101)<br />

Auch hier wieder der feine kostbare Stoff einer Natur, in der der Geist wohnt, Der<br />

Auftritt von Barbaras Großmutter steigert die Szenerie - und läßt sie umschlagen in<br />

Courts-Mahler Schablonen:<br />

Barbaras Großmutter, die Generalin, erschien erst zum Lunch. Es gehörte zu den Prinzipien der<br />

alten Dame, niemals ein Automobil zu benutzen; die zehn Kilometer, die ihr kleines Gut von der<br />

Brucknerschen Villa trennten. legte sie in einer altmodischen großen Kalesche zurück, und sie verspätete<br />

sich zu allen Familienfesten. Mit einer schönen, volltönenden Stimme, die sehr tief in den<br />

Baß hinunter und sehr hoch in den Diskant hinauf ging. beklagte sie es, daß sie <strong>das</strong> Schauspiel auf<br />

dem Standesamt versäumt habe. »Nun, und wie sehen Sie denn aus, mein neuester Enkelsohn?«<br />

sagte die aufgeräumte Großmama und fixierte Hendrik ausführltch durch die Lorgnette, die ihr an<br />

einer langen, mit bläulichen Juwelen verzierten Silberkette auf der Brust hing. Hendrik wurde rot<br />

und wußte nicht, wohin er schauen sollte. Die Musterung dauerte lange; übrigens schien sie nicht<br />

unvorteilhaft <strong>für</strong> ihn auszufallen. Als die Generalin die Lorgnette endlich sinken ließ, hatte sie ein<br />

Lachen, welches silbrig perlte. »Gar nicht übel'« stellte sie fest, wobei sie beide Arme in die Hüften<br />

stemmte. Sie nickte ihm munter zu. In ihrem weiß gepuderten Gesicht führten die schönen,<br />

dunkelklaren und beweglichen Augen eine noch eindringlichere. klügere und stärkere Sprache als<br />

der Mund, wenn er die große Stimme hören ließ.<br />

Einer derartig wunderbaren alten Dame war Hendrik seiner Lebtage noch nicht begegnet. Die<br />

Generalin imponierte ihm ungeheuer. Sie hatte <strong>das</strong> Aussehen eines Aristokraten des XVIII. Jahrhunderts:<br />

ihr hochmütiges, kluges, lustiges und strenges Gesicht war gerahmt von einer grauen<br />

Frisur. die über den Ohren zu steifen Röllchen gewickelte Locken zeigte. Im Nacken vermutete<br />

man einen Zopf: man war erstaunt und ein wenig enttäuscht, daß er fehlte. In ihrem perlengrauen<br />

Sommerkostüm, <strong>das</strong> am Hals und an den Manschetten mit Spitzenrüschen garniert war, hatte<br />

die Generalswirwe eine militärisch gerade Haltung. Das breite Halsband. <strong>das</strong> gleich oberhalb der<br />

Spirzenrüsche begann und dicht unterhalb des Kinns endigte - eine schöne antike Arbeit aus<br />

mattem Silber und blauen Steinen. die zu den Juwelen an der klappernden Lorgnettenkette paßten<br />

-, wirkte an ihr wie ein hoher, steifer, bunt bestickter Uniformkragen. (S. l11f.)<br />

Wer denkt, solcher Auftrin solle die Autoritätsverfallenheit Höfgens, seinen Heiratsopportunismus<br />

ins rechte Licht rücken, irrt sich. Höfgen ist da schon verheiratet, die<br />

DAS ARGUMENT 12611981


Möglichkeiten qualitativer Inhaltsanalyse 179<br />

Generalin hat an dieser Stelle den eindeutigen Zweck nur, edle Abkunft und Art gegen<br />

<strong>das</strong> Unedle auszuspielen und artgerecht zu begründen. Die Generalin taucht denn<br />

auch noch mehrfach (mit juwelengeschmückter Lorgnonkette) auf, um diese Differenz<br />

zu unterstreichen.<br />

Eine der großen emanzipatorischen Leistungen Freuds war die Aufhebung der totalen<br />

Zweiteilung in wohlgeraten Gesunde und Kranke. Die Mannsehe Darstellung führt<br />

den Leser hinter diese Einsicht zurück und verschmilzt die Auf teilung mit einer Selbstverklärung<br />

bürgerlicher Subjektivität. Sie verbindet gefährlicherweise dies mit dem tatsächlichen<br />

Qualitätsunterschied zwischen faschistischen und antifaschistischen Handlungsmodellen.<br />

Zugleich wird eine weitere verhängnisvolle Unterscheidung radikalisiert: Die zwischen<br />

alter und neuer Macht. Die alte Macht, repräsentiert vom Geheimrat und der Generalin,<br />

ist gut, womit der Leser ein zweites Mal verwirrt wird: Der Frage, wie jene -<br />

die neue Macht - aus dieser hervorging, wird der Weg verlegt. Die neue Macht aber<br />

wird dämonisiert - man lese unter diesen Gesichtspunkten nun nochmals <strong>das</strong> Vorspiel.<br />

Der politische Kampf gegen <strong>das</strong> Böse draußen wird irrealisiert, weshalb der Rezensent<br />

Schoeller12 nicht von ungefähr auf die eigenartige Verkennung des Nationalsozialismus<br />

als eines nicht nur »zutiefst unwahren« sondern auch »unwirklichen« Regimes<br />

kommen konnte.<br />

Die dritte verhängnisvolle Blockade eines Selbsterkenntnis- und Selbstveränderungsprozesses<br />

im Leser aber ist diese: durch die gänzliche Zweiteilung der Menschen, durch<br />

die durchgängige Idealisierung der einen und durchgängige »Neurotisierung« der anderen<br />

(deren Beladung mit allen Diskriminierungsfloskeln, die <strong>das</strong> gängige Vorurteilsgefüge<br />

in jedermann bereithält) wird der Leser davor bewahrt, den »Höfgen« in sich suchen<br />

zu können. Alles Verächtliche ist erfolgreich ausgegrenzt. Der Leser kann <strong>das</strong><br />

Buch befriedigt beiseite legen, er befindet sich allemal auf der richtigen Seite und unter<br />

anständig-vornehmen Menschen.<br />

Brechen wir unsere Skizze ab, nicht ohne Hinweis darauf, daß unser Parforce-Ritt<br />

nicht nur auf eine Problemlinie sich beschränkte, sondern diese über verschiedene Arbeitsschritte<br />

hinwegriß. Notwendig auch unvollständig deshalb, weil Fragen wie diese<br />

unerörtert blieben: weshalb und wie erwächst die triviale Form aus solcher Inhaltlichkeit<br />

des Textes' Unerörtert blieben auch Fragen, die sich erst aus der Verknüpfung der<br />

Leser-textzentrierten Untersuchung mit einer Autor-textbestimmten biographischen<br />

Betrachtungsweise ergeben würden. Etwa die eine Frage: was bedeuret es, daß der Autor<br />

gegen alle Beteuerungen eben doch einen Schlüsselroman über seinen homosexuellen<br />

Freund und Schwager geschrieben hat, Homosexualität aber durch Sadomasochismus<br />

ersetzt hat' Oder - falls wir der Beteuerung des Autors folgen, den Roman nicht<br />

als Schlüssdroman zu nehmen - weshalb ist Klaus Mann von jenem Vorbild so wenig<br />

weggekommen, daß er die unverdächtigere Benennung des »Helden« als »Gregor Gregori«<br />

(wie in einer vorhergehenden Erzählung) in die platte Anspielung »Gründgens/<br />

Höfgen« änderte? Interessant aber wäre gewiß die Frage, die sich aus der Verbindung<br />

unserer Untersuchung mit einer Analyse der damaligen politischen Lage ergäbe: was<br />

bedeutet es, daß die ausgrenzende Zweiteilung sich mit einer gleichzeitigen schwarzen<br />

»Idealisierung« des Nationalsozialismus verband: die »einsame Gottheit« umweht<br />

von »eisiger Luft«'<br />

Doch vor all diesen Verknüpfungen mit anderen Untersuchungsgängen wäre es nö-<br />

DAS ARGUMENT 12611981


180 Alfred Lorenzer<br />

tig, die tiefenhermeneutische Analyse des Romans zu vollenden, bzw. überhaupt erst<br />

gründlich und methodisch exakt in Gang zu bringen. Nämlich nicht - wie hier geschehen<br />

- die Darstellung in grober Zusammenfassung mit der Gesamtabsicht des<br />

Werkes zu konfrontieren, sondern Szene <strong>für</strong> Szene auf Irritationen abzuklopfen, sich<br />

irritieren zu lassen von den Bildern, um im Vergleich der rissigen Stellen des Textes die<br />

verborgene Mitteilungsebene aufzufinden. Und auch nicht im vorschnellen Übergriff<br />

(dem freilich erlaubten, aber doch eiligen Vergleich mit strukturgleichen Texten der<br />

Theweleitsammlung) den Widerspruch zwischen dem »manifesten« antifaschistischen<br />

Sinn des Romans und seiner »latenten« Struktur sichtbar zu machen.<br />

Die vorliegende analytische Skizze ist aber nicht nur flüchtig, sie präsentiert - aus<br />

Gründen, die auch im Romantext liegen - nur eine Hälfte der tiefenhermeneutischen<br />

AufgabensteIlung. Die andere Hälfte. nämlich durch die Widersprüche des Textes,<br />

durch die »Sprachrisse« hindurch, uropisch verborgene Praxisentwürfe. die zur Debatte<br />

stehen, herauszuarbeiten. ist hier außer Betracht geblieben. Auf diese Möglichkeit der<br />

literarischen Darstellung des Noch-Nicht-Bewußten menschlicher Praxis ist eine tiefenhermeneutische<br />

Analyse aber nur dann angelegt, wenn sie im gen auen Einlassen in den<br />

Text aus den Widersprüchen selbst <strong>das</strong> Verborgene aufscheinen läßt. Vorannahmen,<br />

die unverändert in der Textarbeit bestätigt werden, belegen nur die Überflüssigkeit der<br />

jeweiligen Analyse.<br />

Literaturverzeichnis<br />

Alfred Lorenzer: Der Gegenstand psychoanalytischer Textinterpretarion, in: Sebasrian Goeppcrt<br />

(Hrsg.), Perspektiven psychoanalvtischer Literaturkritik, Freiburg 1978<br />

.1 Ifre d Lorenzer: Zum Beispiel »Der Maltheser Falke«. Analyse der psychoanalytischen Untersuchung<br />

literarischer Texte, in: B. Urban und W. Kudzus (Hrsg.), Literaturpsychologie und<br />

-psychopathologie (im Druck)<br />

Alfred Lorenzer: Die Funktion der Literatur und der »ästhetische Genuß«, in: Krauss, Wolff,<br />

Literaturpsychologie , Literatursoziologie, (in Vorbereitung)<br />

4 Alfred Lorenzer: Die Analyse der subjektiven Struktur von Lebensläufen und <strong>das</strong> gesellschaftlich<br />

Objektive, in: Dieler Braake und Theodor Schulze (Hrsg.), Aus Geschichten lernen,<br />

München 1979<br />

5 Aljred Lorenzer: Das Konzil der Buchhalter, Frankfurt 1981<br />

6 Man'e Bunaparte: Edgar Poe, Wien 1934<br />

Stgmund Freud.· Vorwort zu 6<br />

8 Stgmund Freud: Die Frage der Laicnanalysc, Ges. Werke XIV, London 1948<br />

9 AljTed Lorenzer: Die Anstößigkeit einer wissenschaftlichen Methode, in: Krovoza, Ottomeier,<br />

Oestmann (Hrsg.), Zum Beispiel Peter Brückner. Treue zum Sraat und <strong>kritische</strong> Wissenschaft,<br />

Frankfurt 1981<br />

10 Klaus Mann: Mephisto. Roman einer Karriere, Reinbek 1980<br />

11 Klaus Theweleit: Männerphantasien, Frankfurt 1977<br />

12 WF. Schoeller: Der Fall Mcphisto, Rückblick auf einen Literaturskandal der sechzigerjahre,<br />

in: Süddeutsche Zeitung vom 8./9. Dezember 1979<br />

DAS ARGUME:-;T 12611981


Biographie. Ein SozialJorschungsweg) 185<br />

legitimiert durch die allgemeine »Rede vom Wechselverhältnis von Personen und Sozialstruktur«.13<br />

Seine Aufforderung, den »cartesianischen Käfig« über ein alltagswissenschaftlich,<br />

sprach- und kommunikations theoretisch verfaßtes Biographie-Konzept zu<br />

sprengen, leitet dort fehl, wo die materiellen gesellschaftlichen Verhältnisse in Konstitutionsleistungen<br />

rahmenstrukturierter Intersubjektivität verwandelt werden (Grathoff<br />

1975).<br />

H.<br />

Soll vorgebaut werden, »daß die Auseinandersetzung mit dem Biographischen subjektivistisch<br />

entgleist« (Lorenzer 1979. 44), soll mit der Kategorie »Biographie« ein<br />

Wegstück der »Erkenntnis der Totalität« (Bajohr 1980, 671) beschritten. soll »Biographie«<br />

als Sozialforschungsweg ausgewiesen werden, dann »ist vor allem zu vermeiden,<br />

die 'Gesellschaft' wieder als Abstraktion dem Individuum gegenüber zu fixieren. Das<br />

Individuum ist <strong>das</strong> gesellschaftliche Wesen. Seine Lebensäußerung ... ist daher eine<br />

Äußerung und Bestätigung des gesellschaftlichen Lebens« (Marx 1844, 538). Die Warnung<br />

vor dem Biographie-Subjektivität-Oralistik-Syndrom bezieht sich ausschließlich<br />

auf die Mißachtung der zitierten Einsicht, legt aber nicht die Konsequenz nahe, die Kategorie<br />

»Biographie« nun zu verwerfen. Folgende Gesichtspunkte scheinen mir <strong>für</strong> eine<br />

Ausarbeitung eines kultursoziologisch zu fassenden Konzepts »Biographie«, <strong>das</strong> die<br />

Forderung zu erfüllen imstande ist, den individuellen Lebenslauf bzw. den verwickelten<br />

Prozeß individueller Lebensgewinnung in seinen materiellen wie ideellen Seiten abzubilden,<br />

von Belang.<br />

1. Konzepte, die mit der Denkfigur der Biographie arbeiten, können nicht als von<br />

der Analyse der materiellen und ideellen Strukturen des gesellschaftlichen Lebensprozesses<br />

aparte Wissenschaft vom Menschen entworfen werden. Sie dürfen sich nicht<br />

gleichsam als zweites Bein des historischen Materialismus mißverstehen. Der vielzitierte<br />

»schwankende Boden« der Sozialisationsforschung (Hurrelmann 1976, 12) ist weder<br />

durch die bloße Hinzufügung der Perspektive lebensgeschichtlicher Subjektivität als<br />

theoretischer Quell sui generis, noch durch eine durchweg komplementär angezogene<br />

basal-anthropologische Stützungsstrategie zur humanwissenschaftlichen Konstitution<br />

des spezifisch Menschlichen zu befestigen. »Anthropologisierung des Subjekts«, ein<br />

Verfahren, <strong>das</strong> sich als »Wissenschaft vom Menschen« vorstellt, da ist Luhmann (1979,<br />

319) beizupflichten, »wird zur bürgerlichen Technik der Vermeidung theoretischer Probleme«,<br />

die mit der Wissenschaft von den Menschen zusammenhängen. Zur Kritik<br />

der »impliziten' Anthropologie' des abstrakt-isolierten Individuums« (Holzkamp 1979,<br />

16) und eines ebenso abstrakt gefaßten Wesens der menschlichen Gattung ist <strong>das</strong> Nötige<br />

seitens der Kritischen Psychologie in den letzten Jahren geleistet worden. Ohne Einsicht<br />

in die naturgeschichtliche Gewordenheit der gesellschaftlichen Natur des Menschen<br />

und in die formationsspezifische Bestimmtheit der Individualenrwicklungen<br />

sinkt kultursoziologische Biographieanalyse zu dem herab, wozu <strong>das</strong> historiographische<br />

Genre »Biographie« seit längerem verkommen ist; zu einem »Lager sämtlicher gängiger<br />

Kulturgüter«, die »alle nicht mehr ganz neu« sind, dessen »kunterbuntes Durcheinander<br />

der Allgemeinurteile (über <strong>das</strong> 'WeseIl oes Menschen' - F.K.) und Rezepte (über<br />

die Lebensfühtung der Menschen - F.K.) in Wahrheit Ausdruck völliger Ratlosigkeit«<br />

ist (LowenthaI1955, 363).<br />

2. Gegenüber den in Teil 1. skizzierten biographiebezogenen Ansätzen, in denen die<br />

DAS ARGUMENT 1U; /1981 '9


188 Friedhelm Kröll<br />

nisiert und ermöglicht, sich zu sich selbst verhält. Dieses Zu-sich-selbst-Verhalten verwirklicht<br />

sich im autobiographischen Prozeß. Er bildet ein konstitutives und besonderes<br />

Moment der Biographie. Wird festgehalten, daß die Biographie eine materielle Seite<br />

besitzt, die in den objektiven Strukturen der Produktionsweise des Lebens gründet,<br />

diese Strukturen als historische Formen der Individuierung nicht nur äußere Determinanten<br />

bilden (gesellschaftsreferentieller Aspekt), sondern durch die standortspezifische<br />

individuelle Aneignung zu Momenten der Biographie selbst werden, dann erscheinen<br />

die materiellen Verhältnisse als objektive Strukturmomente der Biographie selbst<br />

(individuierungsreferentieller Aspekt). Die Kategorie Biographie weist den subjektanalytischen<br />

Weg ausdrücklich gesellschaftswissenschaftlich aus. insofern sie theoretisch reproduziert.<br />

daß ein Individuum weder zu anderen noch zu sich selbst sich unmittelbar<br />

verhält. Die Subjektbeziehungen, auch die »internen Beziehungen« des Subjekts (Autobiographie).<br />

sind immer schon gebrochen und gleichsam prismatisch zerlegt über<br />

den zu einem beliebigen Zeitpunkt konstatierbaren ausgereiften Entwicklungsstand eines<br />

individuellen Lebenslaufs unter angebbaren sozialen Strukturbedingungen. die sowohl<br />

vorgegebene Determinanten, wie auch als konstitutive Momente der Biographie<br />

selbst lebensgeschichtlich wirksam sind. Eine so umrissene Sicht von Biographie unterläuft<br />

den gängigen Ressortismus von Subjekt- und Gesellschaftswissenschaft, indem sie<br />

zunächst zur »Formseite« hin (institutionaler Aspekt) die Bewegungsweise eines individuellen<br />

Lebenslaufes betrachtet. Der Formaspekt der Biographie bringt die individuierungsreferentiellen<br />

Momente der »ökonomischen Charaktermasken der Personen«, die<br />

»Personifikationen der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx, MEW 23, 100). so wie sie<br />

sich in der sozialkulturellen Organisation einer Biographie lebensgeschichtlich verfestigen,<br />

zur Geltung.<br />

Verkürzt wäre es allerdings, Biographie ausschließlich unter dem sozio-institutionalen<br />

Gesichtspunkt der Bewegungsform eines individuellen Lebensverlaufes, worin dessen<br />

»eigentümliche Logik« sich vollzieht. zu bestimmen (so bei Dormagen-Kreutzenbeck<br />

1980, 175ff.). Hinzuzutreten hat bei der Ausarbeitung der Kategorie »Biographie«<br />

und entsprechender historischer und aktual-empirischer Forschungswerkzeuge<br />

die »Organseite« (subjektiver Tätigkeitsaspekt) des individuellen Lebenslaufs. Ohne<br />

diesen Gesichtspunkt würde der Terminus »Lauf« mechanistisch und allemal schicksalsmelodisch<br />

im Sinne astronomischer Bestimmungen astraler Verlaufskurven resp.<br />

»astrologischer Ausdeutung« von Schicksalskurven verfälscht. Erst wenn im Konzept<br />

Biographie auch die Herausarbeitung »lebendiger Selbständigkeit« (HegelI970, 255),<br />

die subjektive Kohärenz stiftende Betätigung und Erfahrung praktischen Lebensvermögens,<br />

kurz die lebendigen, subjektiven Triebkräfte des Lebenslaufes als individuelles<br />

»Organ« des gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozesses ins Licht gerückt werden,<br />

eignet es sich zur theoretischen Widerspiegelung der Bewegungsweise eines einmaligen,<br />

individuellen Lebensprozesses. »Form« und »Organ«-Aspekt sind als prozedierendes<br />

Verhältnis zusammenzudenken. Fluchtpunkt der Analyse bildet letztlich die »Rekonstruktion<br />

der individuellen Selbständigkeit« (Hegel 1970, 25 5ff.) aus den eine Biographie<br />

bestimmenden Notwendigkeiten, Möglichkeiten und Grenzen lebensgeschichdicher<br />

Teilhabe eines gesellschaftlichen Individuums am Prozeß kollektiver, bewußter<br />

Verfügung über die Entwicklung der gesellschaftlichen Lebensbedingungen<br />

und -formen. Rekonstruktion individueller Selbständigkeit heißt, den Konstitutionsprozeß<br />

einer einmaligen Biographie als kollektiven Erzeugungsprozeß zu begreifen.<br />

DAS ARGUMEI\j"l 126': 1981 l


Biographie. Ein SozzalJorschungsweg? 189<br />

Biographietheoretisches Basiskriterium zur Bemessung des Ausprägungsgrades individueller<br />

Selbständigkeit bildet der von der »Kritischen Psychologie« eingehend ausgearbeitete<br />

Gesichtspunkt bewußter gesellschaftlicher Teilhabe (zuletzt Holzkamp 1979 a,<br />

10, 11). Kultursoziologisch ausgedrückt: die lehensgeschichtlich herausgearbeitete Stufe<br />

material kultureller Individualität (sozialer Reichtum in Gestalt persönlichen Lebensvermögens).<br />

Metaphorisch resümiert wäre dem Biographie-Begriff ein forschungsmethodisch erst<br />

noch aufzufächernder »Doppelcharakter« zuzuschreiben: im Prozeß seiner individuellen<br />

Lebensvollzüge gewinnt <strong>das</strong> Individuum seme Biographie, entwickelt es Individualkultur.<br />

indem es in seinem individuellen Lebensprozeß den gesellschaftlichen Lebensgewinnungsprozeß<br />

tätig mitvollzieht; es »schreibt« sinnlich-gegenständlich an seiner<br />

Biographie, indem es die »gesellschaftliche Biographie« im Rahmen arbeitsteiliger Kooperation<br />

»mitschreibt« . Umgekehrt »schreibt« der gesellschaftliche Lebensgewinnungsprozeß<br />

(bzw. die hieraus hervorgehenden kollektiven Subjekte) die Biographie des einzelnen<br />

Individuums. indem es anders als durch diesen gar nicht seinen individuellen<br />

Lebensprozeß, seine Biographie. gegenständlich »schreiben« kann. In diesem Sinne ist<br />

Biographie immer schon Sozio-Biographie. Aus dem Skizzierten dürfte hervorgehen,<br />

daß hier Biographie erst sekundär als eine literarische Form verstanden wird. Primär<br />

und jeder Art literarischer oder wissenschaftlicher Biographik vorgängig ist sie die prozedierende<br />

lebenspraktische Weise der Organisation der Lebensvollzüge zu einem kohärenten<br />

individuellen Lebenslauf Folglich fällen nicht nur Schriftsteller und Künstler.<br />

wie eine bekannte Notiz Goethes zur Biographie es nahelegt (1962, 8f.), ihre Biographie<br />

l!1 Gestalt einer »\Xlerkbiographie«. auf die sich die »Interpreten« gerne stürzen,<br />

aus. Auch die materiellen Produzenten fällen. wovon die geisteswissenschaftliche Biographik<br />

wenig zu sagen weiß. weil sie sie nicht zur Kenntnis nimmt. ihre spezifische<br />

Werkbiographie aus. Für beide Formen gilt, daß sie nur gesellschaftsanalytisch entzifferbar<br />

sind. Werkbiographien in diesem ausgreifenden Verständnis erhärten, daß die<br />

Menschen so sind. wie sie ihr Leben äußern. Als subjekt-analytisch zu rekonstrUIerende<br />

Werkbiographie ist dann nicht nur <strong>das</strong> subjektive Hohlräume ausleuchtende Oeuvre<br />

Handkes. sondern auch <strong>das</strong> Oeuvre Kölner Fordarbeiter zu rekonstruieren. Die »sekundäre«<br />

Widerspiegelung solcher Art von WerkbIOgraphie mag Aufgabe von Literatur<br />

sein. sie blOgraphiewissenschafdich zum Sprechen zu bringen, 1st Aufgabe einer Subjektwissenschaft.<br />

die die lebenslangen »biographischen Eindrücke« der IndIviduen (ihre<br />

autobiographischen Spuren) wesentlich aus ihren »biographischen Ausdrücken«, ihren<br />

tätigen Vergegenständlichungen (in Form von kulturell verzehrbaren Gebrauchswerten)<br />

heraus zu erhellen vermag. »An ihren Früchten sollt Ihr sIe erkennen«24<br />

3. Wenn Biographie als Kategorie zur Reproduktion des individuellen Lebenslaufes<br />

in seiner Totalität zu entwickeln versucht wird, dann kann sie nicht als wie immer auch<br />

offengelegte oder verkappte Autobiographik formuliert werden. In autobiographischer<br />

Forschungsform erscheint Biographie, unter dIe auch eine Reihe identitätssoziologischer<br />

Ansätze zur Rekonstruktion der individuellen Bildungsgeschichte zu subsumieren<br />

sind25 . mehr oder weniger deutlich artikuliert als »Erlebmsgeschichte«. d.h. als Geschichte<br />

erfahrungsförmiger Verarbeitung gesellschaftlicher Wirklichkeit. Kurz, der<br />

Ausdruck Biographie thematisiert in den genannten Formen wesentlich den Iife record<br />

und blendet den sozialstrukturierten life course als etwas Äußeres, Vorausgesetztes, als­<br />

Rahmen allenfalls ein. auf den die innere Erfahrungsgeschichte verarbeitend reflek-<br />

D:\5 ARGL'MENT 126/1981 "c:.


190 Friedhelm Kröll<br />

tiert, wenn dieser Aspekt nicht gänzlich ausgeblendet wird. In Varianten phänomenologischer<br />

Soziologie wird schließlich die analytische Differenz zwischen subjektiver, erfahrungsförmiger<br />

Lebensgeschichte und tatsächlichem Lebenslauf überhaupt zum Verschwinden<br />

gebracht 26 Erst auf der Grundlage solcher Präjudikationen macht <strong>das</strong>, was<br />

Schütze unter der Bezeichnung »narratives Interview« vorgestellt hat, Sinn: Rekonstruktion<br />

von »Prozeßstrukturen des Lebensablaufes« aus »einer systematischen formalen<br />

Analyse von Texten narrativer Interviews« (Schütze 1980, 1). Biographische Analysen<br />

restriktiv festzumachen an lebensgeschichtlichen »Großerzählungen« oder auch an einer<br />

»poychoanalytischen Untersuchung«, die »sich in Erzählungsfiguren (bewegt)« (Lorenzer<br />

1979, 34), verwischen nicht nur die komplizierte dialektische Struktur von life record<br />

und life course, indem sie Lebensgeschichte aus dem erzählförmig recordierten Lebenslauf<br />

zu rekonstruieren beanspruchen und die fakrographische Analyse des Lebenslaufes<br />

zugunsten der hermeneutischen Auslegung der Erzählungen zu einer verschwindenden<br />

Größe herabdrücken (dies mit sozialtheoretischen und methodologischen Folgen,<br />

die besonders an den Ursprüngen der »biographischen Methode« in der polnischamerikanischen<br />

Soziologietradition studiert werden können). Zudem wird die in die<br />

Privat form von Erfahrung eingelassene Autobiographie zum Springpunkt des gesamten<br />

biographiewissenschaftlichen Rekonstruktionsverfahrens gesetzt, was im übrigen exemplarisch<br />

auch <strong>für</strong> die »Oral History« gilt (vgl. Grele 1980). »Texrographie« bzw. »Psychographie«<br />

der gleichsam verinnerten Lebensgeschichte und "Faktographie« des wirklichen<br />

individuellen Lebensprozesses entweder zu einem unbegriffenen sowohl-als-auch<br />

auseinanderzureißen oder die autobiographische Narration zur Erkenntnisquelle des<br />

life course schlechthin zu hypostasieren, verkennt die mit der Biographie zu erfassende<br />

Struktur des individuellen Lebenslaufes, worin der selbstreferentielle Aspekt des individuellen<br />

Subjekts, die autobiographiefähige Subjektivität, eben nur ein Moment darstellt.<br />

»Autobiographie« stellt sich unter dem hier versuchten Begriff von Biographie<br />

dar als ein dem Subjektivitätsaspekt zukommendes Moment, <strong>das</strong> aus lebensgeschichtlich<br />

bestimmten Prozessen selbstreferentieller Widerspiegelung des je eigenen Lebenslaufes,<br />

der je eigenen Lebensweise resultiert und dem als individualhistorisches Produkt<br />

lebensprospektive Funktion (lebensgeschichtliche Bilanz- und Perspektivbildung) zukommt.<br />

Autobiographische Subjektivität ist nicht gleichzusetzen mit der Kategorie des<br />

individuellen Subjekts und seinem tatsächlichen Lebensgewinnungsprozeß, aus dem<br />

heraus sie sich bildet; sie ist vielmehr ein Moment des praktischen Lebensvermögens der<br />

gesellschaftlichen Individuen, entspringt praktischen Bedürfnissen und dient praktischen<br />

Interessen der gesellschaftlichen Individuenr Auf die Analyse methodologischer<br />

Konsequenzen der Verschränkung von autobiographischer Subjektivität und praktischem<br />

Lebensvermögen (Vermögen, sich zu vergegenständlichen nicht nur in autobiographisch-schriftlicher<br />

oder mündlicher Form) kann hier nicht eingegangen werden; sie<br />

ist noch einzulösende Aufgabe.<br />

Nur soviel sei abschließend festgehalten: auf die Figur der Autobiographie ist die<br />

wissenschaftliche Reproduktion einmaliger biographischer Verläufe weder ausschließlich<br />

noch primär zu gründen. weil erstens die gesellschaftsreferentiellen Momente, die<br />

der Biographie selbst innewohnen, auf diese Weise nur als faktographische »Variablen«<br />

erscheinel


Biographie. Ein Sozia/jorschungsweg) 191<br />

nuin biographischen Belang erhoben werden. Demgegenüber wird der Vergegenständlichungsprozeß<br />

materieller und geistiger Kultur, die "Welt der Gebrauchswerte«, in seiner<br />

biographischen Relevanz völlig unterschätzt. Und endlich werden die vergegenständlichten<br />

Beiträge zum gesellschaftlichen Kulturprozeß von der Herausbildung der<br />

persönlichen, der »autobiographischen« Kultur abgetrennt. Hermeneutik befaßt sich<br />

dann mit der »inneren« persönlichen Kultur, und Faktenwissenschaft mit der »äußeren«<br />

individuellen und gesellschaftlichen Kultur, Schulfall zerfällenden Denkens.<br />

Dr1ttens wird mit der Überbewertung des Autobiographischen im Rahmen restriktiv<br />

hermeneutisch verfahrender Forschung <strong>das</strong> verwickelte Verhältnis von Auto- und gesamter<br />

Biographie entstrukturiert. Zentrale Probleme der Rekonstruktion des individuellen<br />

Lebenslaufes werden auf die Leistungskraft autobiographischer Produktion und<br />

ihrer text- bzw. psychoanalytischen Auslegung überwälzt. »Die meisten Menschen sind<br />

im Grundverhälrnis zu sich selbst Erzähler« (Musil 1952, 650). Auf diesen von Musil<br />

feinsinnig ausgeleuchteten Sachverhalt vertraut jede Art von Narrativik; hieraus bezieht<br />

sie ihre methodischen Präferenzen. Doch es verlohnt, Musils angefügte Reflexion<br />

zur Kenntnis zu nehmen. daß nämlich »die meisten Menschen <strong>das</strong> ordentliche<br />

Nacheinander von Tatsachen (lieben), weil es einer Notwendigkeit gleichsieht, und sich<br />

durch den Eindruck, daß ihr Leben einen 'Lauf' habe, irgendwie im Chaos geborgen<br />

fühlen« (ebd., 650). Dieser biographisch-autobiographische Gedanke wirft nicht nur<br />

Licht auf Musils Lebensgeschichte, sondern vor allem auf die Grenzen bzw. Unwägbarkeiten<br />

autobiographisch reproduzierter, subjektiv recordierter Lebensläufe. Auf <strong>das</strong><br />

Vertrauen ins Autobiographische läßt sich Biographieforschung nicht gründen. Denn,<br />

was als blÜgraphisch bedeutsames Material zu gelten hat, darüber können zumindest<br />

nicht allein und nicht zuerst autobiographische Manifestationen subjektiver Kohärenzbildung<br />

(sprich: Identität) entscheiden. Die biographische Relevanz von Struktur-,<br />

Prozeß- und Ereignisdaten reicht jedenfalls weiter als der Einzugsbereich autobiographischer<br />

Benennbarkeiten, angefangen beim Namen und aufgehört beim Testament.<br />

Allein schon der Verweis auf die dialektische Beziehung zwischen »inneren« Zeitformen<br />

und gesellschaftlich strukturierter Zeitrhythmik beispielsweise mag andeuten, daß der<br />

Faden autobiographisch produzierter Lebensgeschichte nicht schlankweg mit der wesentlichen<br />

Entwicklungsspur identifiziert werden kann. Wäre dies der Fall, bräuchte es<br />

keine Wissenschaft.<br />

Viertens neigen die als Autobiographik angelegten Biographieentwürfe dazu, die<br />

Konstitution »individueller Selbständigkeit« identitätsparadigmatisch zu vereinseitigen.<br />

Identität wird dabei durchweg zu einem innerpsychischen, vor allem selbstreflexiven<br />

Modus verzeichnet; wobei die Trennung von Selbst- und sozialer Identität nur jene<br />

oben skizzierte Zerfällung von privatförmig gedachtem Ich-Kern (individuelle Subjektivität)<br />

und Gesellschaftlichkeit reproduziert, wiederum nur notdürftig zusammengeflickt<br />

durch die Rede von der Vermittlung zur »Ich-Identität«. Vor allem eignen sich die<br />

geläufigen Identitäts-Konzepte <strong>für</strong> eine materialistische Biographieanalyse deshalb so<br />

wenig, weil in ihnen der Aspekt der sinnlich-gegenständlichen Tätigkeit und ihrer Resultate<br />

nahezu gänzlich ausgeschaltet, <strong>das</strong> individuelle, wesentlich praktische Lebensvermögen<br />

psycho- und reflexionstheoretisch aufgelöst wird. Identität ist biographiewissenschaftlich<br />

demgegenüber wesentlich als praktische persönliche Kohärenzbildung zu<br />

fassen, wie sie aus dem gesellschaftlich bestimmten individuellen Lebensgewinnungsprozeß<br />

hervor- und in jenen als tätiges Organ eingeht. Mit der zuletzt genannten<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


192 Fn'edhe!m Krö!!<br />

Schwäche hermeneutisierendcr Biographik korrespondiert schließlich die methodische<br />

Neigung, die Analyse fast ausschließlich auf sprachlich vermittelte personal documents<br />

abzuheben. Demgegenüber kommen beobachtbare, sinnlich konstatierbare biographische<br />

Relevanzen wie etwa die konkrete Arbeitsweise (etwa in ihren haptischen Dimensionen)<br />

oder die Wohnweise (etwa in ihren optischen Dimensionen) als Elemente biographischer<br />

Konstitution entschieden zu kurz.<br />

4. Abschließen möchte ich die Skizze mit drei Fragen, die auf <strong>das</strong> zentrale Analyseproblem<br />

theoretischer Beliebigkeit bzw. Stringenz bei der Auslese biographischer Relevanzen<br />

abheben.<br />

A. Sind die zeitlichen Grenzen einer Biographie deckungsgleich mit den »natürlichen«<br />

Endpunkten der biologischen Individualität)28<br />

B. Ist eine Biographie aus dem individuellen Lebensverlauf entzifferbar, bzw. wie<br />

sind die individual- und gesellschaftswissenschaftlichen Entzifferungsschritte zu setzen<br />

angesichts des Phänomens »individueller Vergesellschaftung«) (Erkenntnistheoretisches<br />

und methodologisches Problem einer Wissenschaft vom »Einmaligen«, hier der Biographie).<br />

C. Wie stellt sich <strong>für</strong> eine soziologische Biographieforschung <strong>das</strong> Uraltproblem, vor<br />

dem alle Biographen immer schon gestanden haben: a) Welche Erscheinungen gehören<br />

zur Biographie eines konkreten Menschen) Nur jene, die rückführbar sind auf die<br />

Quelle seiner konkreten Lebendigkeit, seiner an seine Körperlichkeit gebundenen Lebensäußerungen<br />

(und -»innerungen«)? Wenn nicht,wo liegen dann aber die Zurechnungsgrenzen<br />

dessen, was als gleichsam biographischer Betreff zu bemessen ist, angesichts<br />

der Verschränkung von »individueller« und »gesellschaftlicher Totalität«) Können<br />

die subjektiven Zurechnungsgrenzen dessen, was <strong>für</strong> eine Person als <strong>für</strong> sie selbst »biographisch«<br />

ist, als Index <strong>für</strong> eine wissenschaftliche Rekonstruktion des biographischen<br />

Prozesses genommen werden' b) Welche Erscheinungen aus der riesigen Fülle der zu<br />

einer Biographie eines konkreten Menschen gerechneten sind als konstitutiv, d. h. als lebensgeschichtlich<br />

wesentlichi formativ herauszufiltern )<br />

Die Bestimmung der Umrisse einer kultursoziologischen Kategorie »individuelle Lebensweise«<br />

liefert einen ersten Anknüpfungspunkt. Sie hebt ab auf eine manifeste, sozial<br />

kenntliche Lebensspur , entlang der Lebensäußerungen. die als typisch <strong>für</strong> diesen<br />

einmaligen Lebensprozeß aufgefaßt werden können. Dieser »ganzheitliche« Ansatz.<br />

Aussage über <strong>das</strong>, was <strong>das</strong> Tvpische der Elemente einer Lebensführung und ihrer Organisation<br />

I Komposition ist, bleibt natürlich abstrakt, wenn er nicht sukzessive durch die<br />

Sammlung, Beschreibung und Analyse der zu notierenden einzelnen Lebensvollzüge<br />

verbürgt wird. Ich denke, es bedarf einer vorgängigen Vorstellung dessen, was als integrierter<br />

individueller Lebenszusammenhang zu begreifen ist (vorgestellte Totalität),<br />

ehe es zur Elementaranalyse kommt; die Biographieanalyse wird durch die Detailuntersuchung<br />

der einzelnen Lebensvollzüge hindurch zurückkehren zum vorgestellten Entwurf<br />

der integrierten individuellen Lehensweise (Konkretionsprozeß).<br />

Die vorgängige Vorstellung freilich ist nicht einfach intuitiv zu gewinnen, sondern<br />

hierzu ist zunächst der typisierende Rekurs auf die gesellschaftliche Form der Individuierung,<br />

worin ein konkretes Individuum sich auf einmalige Weise tätig vergesellschaftet,<br />

zu leisten. Endpunkt des Weges von der »ganzheitlichen Vorstellung« über die<br />

empirische Erschließung des teichen Ensembles individueller Lebensvollzüge im Bildungsprozeß<br />

einer Lebensweise bis zur Einsicht in die wegbestimmende Grundstruktur<br />

DAS ARGCMENT 126: H81 e::


Biographie. Ein Sozli:dforJchungsweg ') 193<br />

eines Lebensverlaufes ist die Herausarbeitung einer nun empirisch gesättigten begrifflichen<br />

Reproduktion in Form einer theoretisch bestimmten Biographie. Die Kategorie<br />

Biographie hätte demnach, im Unterschied zur empirisch-deskriptiven Kategorie individuelle<br />

Lebensweise, begrifflich-theoretischen Status. Sie bildet in ihrer auf einen einzelnen<br />

Lebensprozeß hin bestimmten Form die Struktur, Funktions- und Entwicklungsweise<br />

eines individuellen Lebensverlaufes ab. Die Kategorie Biographie ist die<br />

theoretisch bestimmte gedankliche Reproduktion des Lebenslaufes in seiner entwicklungsgeschichtlichen<br />

Bestimmtheit. Die Kategorie individuelle Lebensweise beschreibt,<br />

gliedert und ordnet den Lebensverlauf Auf dieser Grundlage wird in der Kategorie<br />

Biographie der Lebenslauf, die wirkliche Entwicklungslogik des Lebensverlaufes abgebildet.<br />

Erst im Zuge der Gegenstandsbestimmung von Biographie läßt sich schließlich prüfen,<br />

ob biographische Methode ein gangbarer Sozialforschungsweg ist.<br />

Anmerkungen<br />

Wie ein brauchbarer Ansatz, Sozialgeschichte »von unten« in blOgraphischer Form aufzuarbeiten,<br />

in ein politisch-didaktisch höchst problematisches, modisches Verfahren umschlagen<br />

kann, ist anschaulich an der Ausstellung »Lebensgeschichten« des Nürnberger »Centrum Industriekultur«,<br />

die im Herbst 1980 gezeigt worden ist, zu studieren. Verwiesen sei auf den<br />

von W. Ruppert edierten Ausstellungskatalog »Lebensgeschichten«, (1980). Vgl. auch KröH,<br />

Spurensicherung', in: Deutsche Volkszeitung v. 16.10.1980.<br />

Die in Teil IL referierten konzeptionellen Überlegungen beanspruchen nicht mehr zu sein<br />

als orientierende Gesichtspunkte. Sie resultieren aus einer In Arbeit befindlichen Studie des<br />

Verf. unter dem Titel »Biographie. Versuch der Bestimmung einer kultursoziologischen Forschungskategorie«.<br />

Die differenzierende Ausführung der skizzietten Gesichtspunkte muß einem<br />

späteren Beitrag vorbehalten bleiben.<br />

Zur biographisch-autobiographischen Wende in der bundesdeutschen Literaturentwicklung<br />

vgl. Grunenberg/Voigt (1977).<br />

4 Einen plastischen Eindruck über den jüngsten Stand vermittelt die Herbstausgabe von »literarur<br />

konkret« (1980); vgl. auch Haslinger, »Biographismus« in der Gegenwartsliteratur?<br />

(1979).<br />

Zur neuesten biographisch-lebensphilosophlschen Stimmung in der Bundesrepublik Kröll,<br />

Biographie. Notizen zur Geschichte und Aktualität eines Krisen-Syndroms, erscheint in:<br />

Deutsche Volkszeitung.<br />

6 Vgl. Rosenmayt (1979,56), der keineswegs allein steht mit der These, daß die »Konzeptualisierung<br />

Diltheys vermutlich noch immer der beste Ausgangspunkt (ist), um Subjektivität in<br />

der Weise aufzufassen, daß sie <strong>für</strong> die Problemstellung des Lebensverlaufs theoretisch deutbar<br />

und in die soziologische Forschung integrierbar wird.« Diltheys selbstbiographische Basiskategorien<br />

des »Erlebens und Verstehens« ziehen sich wie ein toter Faden durch die jüngste<br />

biographiethematische Literatur, auch wenn mancher Autor sich scheut, ihn zu zitieren ("gI.<br />

Dilthey Gesammelte Schriften Band 7, bes. Kap. III. Erster Teil).<br />

Manche Redewendungen im Umfeld der »Oral Histon'« lassen einen unreflektierten Rekurs<br />

auf Diltheys Verstehensprogramm auch dort vermuten, wo er zitatweise gar nicht in Erscheinung<br />

tritt: s. beispielsweise die merkwürdige, an methodologisch zentraler Stelle gebrauchte<br />

Wendung »nachvollziehbar« bei Bajohr (1980, 670).<br />

8 S die Rezeption des Althusserschen Verfahrens durch Grele (1980, 152ff).<br />

9 So empfiehlt Kohli (1976,324) zur Bewältigung der schlicht als »Analogie« bestimmten Beziehung<br />

»zwischen gesellschaftlicher und petsönlicher Lebensgeschichte« die »hermeneutische<br />

Anstrengung« zweck.:; Hlstorisierung der Begrifflichkeit.<br />

10 Hierzu, in Anknüpfung an Schütze und letztlich wiederum an Dilthev, Fischer (1978, 312).<br />

Zu »bestimmten Berührungspunkten zwischen der biographischen Hermeneutik und der<br />

rückgreifenden Aufarheitung der Psychoanalyse« im Lichte des Dilthevschen Programms<br />

»rückgreifenden deutenden Erleben;« Rosenmavr (1979, 59).<br />

DAS ARGLMENT 126/1981 :;:'


194 Priedhelm Kröll<br />

11 Vgl. kursorisch Hoerning (1980,685); Grele (1980,147); Matthes (1978,207/8); Bajohr<br />

(1980, 673/4). Dieses Schwanken gilt im übrigen auch <strong>für</strong> <strong>das</strong> historische und literarische<br />

Genre Biographie, wenn es als »Sozialbiographie« angelegt wird; vgl. Oelkers (1974), Scheuer<br />

(1979, 226ff.).<br />

12 Vgl. z.B. Bajohr (1980, 6691700), wO die Dialektik von Absolutheit und Relativität von<br />

Wahrheitsproduktion, Engels zitierend, vernebelt wird; s. auch Schütze (1979. 20).<br />

13 Hierzu Kröll u.a. (1980. 6).<br />

14 Dieser passionstheoretische Grundzug trifft nicht nur auf den psychoanalytischen »Ansatz<br />

am Leiden« zu, sondern gilt ebenso <strong>für</strong> die polnisch-amerikanische Tradition der »biographischen<br />

Methode«, wie sie im Polish Peasant entwickelt worden ist. wie <strong>für</strong> die jüngsten Entwürfe<br />

des »narrativen Interviews« (Schütze 1980, bes. 23ff.; Kohli 1980). Diese Erscheinung<br />

hängt nicht zuletzt in allen drei Varianten mit den Populationen der Forschung zusammen,<br />

die exzeptionell in einer Erleidenssituation sich befinden. Merkwürdig genug, daß ausgerechnet<br />

eine solche Optik es leisten soll, von .Spielballmodellen« wegzukommen, wie Kohli<br />

(1978,24) vermeint. Zur Kritik der Leidens-Modelle F. Haug (1977, 209ff.).<br />

15 Vgl. die Warnung von Rähr (1979, 140ff.) vor einem erneuten Rückfall in persönlichkeitstheoretische<br />

Substantialisierung des »menschlichen Wesens« als nur »außermittig«.<br />

16 Der explizite Rekurs aufs »kollektive Subjekt« scheint mir gerade deshalb geboten, weil in<br />

der biographisch-oralistischen Mode eine Tendenz zu beobachten ist, die individuelle Subjektivität<br />

gleichsam als Resurrektion gegen die tradierte Organisationsgeschichte der demokratischen<br />

und Arbeiterbewegung auszumünzen (vgl. z.B. Bajohr 1980, 680; Hack 1977,<br />

149 und <strong>für</strong> die Literatur Buch 1975, 17).<br />

17 Daß hier<strong>für</strong> die biographieanalytischen Werkzeuge noch keineswegs durchgearbeitet sind, ist<br />

nicht einfach Ausdruck nicht ausgereifter subjektwissenschaftlicher Methodologie. sondern<br />

gründet darin, daß bisher der Gegenstand von Biographieforschung noch keineswegs zureichend<br />

bestimmt ist.<br />

18 Exemplarisch Lorenzer (1979,34): »die Psychoanalyse (verbleibt) ganz und gar innerhalb des<br />

Individuums« .<br />

19 Dieser theoretische Aspekt hebt auf die Erscheinung ab, daß ein Individuum etwa durch den<br />

Lohnarbeitsvertrag gleichsam durchschnittsindividuell materiell biographien wird, ohne daß<br />

sich hieran ein genuin »biographisches Bewußtsein«, d.h. ein Bewußtsein, daß hierdurch ein<br />

biographiekonstitutiver Akt vollzogen wird, notwendigerweise bildet.<br />

20 Wesentlich angeregt wurden die hier skizzierten Überlegungen durch subjekttheoretische<br />

Analysen Hegels zur bürgerlichen Dramatik; vgl. .Das Kunstschäne oder <strong>das</strong> Ideal., bes. II .<br />

• Die Handlung« (Hegel Werke 13).<br />

21 Auf den biographiethematischen Aspekt der gesellschaftlichen Umwälzung eines formationstypischen<br />

Ensembles historischer Formen der Individuierung kann hier nicht eingegangen<br />

werden. Er wäre gesondert im Kontext der Kategorie des »kollektiven Subjekts« zu behandeln.<br />

22 Unter biographiekonzeptionellen Gesichtspunkten ist es erforderlich, die zum Teil rollenparadigmatisch<br />

mißverstandene <strong>Theorie</strong> historischer Formen der Individuierung auf ihre<br />

gesellschafts- und individuierungsreferentiellen Bestimmungen hin auszudifferenzieren. Im<br />

Unterschied zu den ersteren (ökonomische Formdetermination) sind die letzteren als Elemente<br />

aufzufassen, die in die Konstitution der Biographie eines einzelnen Individuums<br />

selbst eingeschmolzen sind.<br />

23 Eine weitere Ausarbeitung der Biographie prägenden Beziehung von objektiver Bedeutung<br />

und subjekriver Bedeutsamkeit wird gut beraten sein, Brechts »Die Geschäfte des HerrnJulius<br />

(aesar« (Gesammelte Werke 14) und seine Notiz »Über die historische Selbstbetrachtung«<br />

(GW 12, 548) aufzugreifen.<br />

24 Auf die Darlegung der Verknüpfungsmäglichkeit der gegenwärtigen biographietheoretischen<br />

Diskussion mit Zwischenresultaten materialistischer Kulturtheorie (s. Argument­<br />

Sonderhand 47) muß hier verzichtet werden. Sie wäre besonders im Kontext der weiteren<br />

Ausarbeitung der <strong>Theorie</strong> historischer Formen der Individuierung auszuführen.<br />

25 S. z.B. Luckmann (1979, 1979a) oder die im Sammelband »Identität« (1979) unter der Rubrik<br />

»Identität und Autobiographie« versammelten Aufsätze.<br />

26 So mokiette sich Gaffman in einem Statement während der Arbeitstagung »Biographie in<br />

DAS ARGUMENT l26/ 198\


Biographie. Ein Soztilljorschungsweg? 195<br />

handlungswissenschaftlicher Perspektive« (Nürnberg 1980) über die seiner Meinung nach<br />

fruchtlosen Bemühungen, zwischen life record und life course analytisch differenzieren zu<br />

wollen mit dem Hinweis, beide Aspekte fielen in einem zusammen.<br />

27 Über den praktischen Nutzen autobiographischer Subjektivität vgl. Brechts Notiz »Auch der<br />

Einzelne hat seine Geschichte« (GW 12, 511).<br />

28 M.E. legt die Erinnerung an die Genese der antiken Biographik den Gedanken nahe, die<br />

zeitliche Struktur einer Biographie nicht mit den Grenzen biologischer Individualität zu<br />

identifizieren; s. <strong>das</strong> Fortwirken einer Biographie nicht nur in Form des juristischen Testaments,<br />

sondern vor allem auch in Form des gelebten. vergegenständlichten Lebens insgesamt<br />

als sozial-generatives Testament. (Problem der Kategorie Biographie als »illlergeneratives<br />

Scharnier«).<br />

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DAS ARGCMENT 126 1 11}81 f;;


Gerhard Wegner<br />

Tansania - auf dem Weg zum Sozialismus?<br />

Als Mitte der sechziger Jahre die gerade unabhängig gewordenen Staaten Afrikas von<br />

einer Reihe von Militärputschen erschüttert wurden, in denen, meist unter dem Beifall<br />

der Massen, vermeintlich korrupte Führer abgesetzt wurden, beschloß die Tansania<br />

African National Union (TANU) unter Führung des Präsidenten Nyerere, einen neuen<br />

Weg zur Entwicklung des Landes einzuschlagen. 1967 wurde durch die Partei die<br />

Arusha-Deklaration verabschiedet, in der der Aufbau des Sozialismus in Tansania als<br />

Ziel einer selbstbestimmten, sich auf die eigenen Kräfte verlassenden Strategie festgelegt<br />

wurde.<br />

Unmittelbar darauf wurden die wichtigsten wirtschaftlichen Bereiche verstaatlicht.<br />

Private Wirtschaft und ausländische Entwicklungshilfe sollten nur dann zum Zuge<br />

kommen dürfen, wenn es in <strong>das</strong> Muster der geplanten Gesamtentwicklung paßt. Abhängigkeiten<br />

sollten abgebaut und Ungleichheiten in der Gesellschaft eingeebnet wer­<br />

·den. "Self-Reliance« wurde <strong>das</strong> Kennwort, mit dem Tansania auf dem Weg zum Sozialismus<br />

in Afrika Marksteine setzen wollte.<br />

Zehn Jahre später hat Nyerere in einer Rede, »Die Arusha-Deklaration - Zehn Jahre<br />

danach«, Bilanz gezogen. Sie war ernüchternd. Auf der Positivseite war einiges zu verbuchen:<br />

so wurde die Gleichheit in der Gesellschaft vergrößert und die gröbsten Probleme,<br />

die sich nach den Verstaatlichungen ergaben, konnten gemeistert werden. Andererseits<br />

konnte die Effektivität in Staat und Wirtschaft kaum verbessert werden. Ein<br />

gleichmäßiges und stetiges Wirtschaftswachstum auf der Basis eigener Ressourcen wurde<br />

nicht erreicht. Der Weg zum Sozialismus, so Nyerere, würde viel länger werden, als<br />

manche <strong>das</strong> 1967 angenommen hatten.<br />

Liest man die Rede, so fällt auf, daß von der Entwicklung der Landwirtschaft nur allgemein<br />

und relativ kurz gesprochen wird. Das ist umso erstaunlicher, als der Umwandlung<br />

der Landwirtschaft nach der Arusha-Deklaration höchste Aufmerksamkeit geschenkt<br />

worden war. Dies geschah in klarer Erkenntnis der Tatsache, daß der Umwandlung<br />

der Landwirtschaft in der Entwicklung des Landes zentrale Bedeutung zukommt.<br />

Einfach ausgedrückt: die Landwirtschaft muß den Überschuß produzieren, mit dem der<br />

Aufbau der Industrie, und damit die erweiterte Reproduktion, finanziert werden kann.<br />

E. Preobrazenskij (1971, 158) hat <strong>das</strong> als »eisernes Gesetz« sozialistischer, primitiver<br />

Akkumulation bezeichnet:<br />

»Je wirtSchaftlich rückständiger, kleinbürgerlicher und bäuerlicher ein bestimmtes Land ist, <strong>das</strong><br />

zur sozialistischen Organisation der Produktion übergegangen ist, und je kleiner die Erbschaft ist,<br />

die der Fundus der sozialistischen Akkumulation in der Revolution vom Proletariat dieses Landes<br />

bekommt, um soviel mehr wird die sozialistische Akkumulation sich gezwungen sehen, einen Teil<br />

des Mehrprodukts der vorsozialistischen Formen der WirtSchaft anzueignen. und desto kleiner<br />

wird <strong>das</strong> relative Gewicht der Akkumulation auf seiner eigenen Produktionsbasis sein, d.h. um so<br />

weniger wird sie vom Mehrprodukt der Arbeiter der sozialistischen Industrie genährt werden.«<br />

Modelle der Umwandlung der Landwirtschaft zum Zwecke der Akkumulation sind:<br />

- Die kapitalistische Umwandlung der Landwirtschaft, wie sie sich in West-Europa<br />

vollzogen hat und auch in vielen afrikanischen Staaten (z.B. Kenya) angestrebt wird.<br />

Allerdings konnte die historische kapitalistische Akkumulation in Europa neben der<br />

Ausbeutung der Bauern auch auf die Ausbeutung der Kolonien zurückgreifen.<br />

197<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 ©


Tansania - auf dem Weg zum Sozialismus? 203<br />

abhängigen) zuvorzukommen und eine zunehmende Zahl ihrer Mitglieder da<strong>für</strong> gewinnen,<br />

eine progressive Rolle zu spielen.« (Saul, 246)<br />

Wie kam es zu dieser Situation I Saul zählt Bedingungsfaktoren auf, die allesamt darauf<br />

hinauslaufen, deutlich zu machen, daß die Person und Ideologie Nyereres ausschlaggebend<br />

war. Generell hängt die Möglichkeit, daß eine Person solche Bedeutung<br />

erlangen konnre, damit zusammen, daß Tansania aufgrund seiner Armut an Rohstoffen<br />

wenig in den kapitalistischen Kontext einbezogen war und sich so nach der Unabhängigkeit<br />

als »tabula rasa« darstellte. Dies beinhaltete:<br />

- daß die schmale »Elite« keine Möglichkeiten hatte, sich als nationale Bourgeoisie zu<br />

etablieren;<br />

- daß die Einheit im Volk breit und nicht tribalistisch gespalten war;<br />

- daß <strong>das</strong> kulturelle Enrwicklungsniveau der Massen sehr niedrig war.<br />

Dies läuft darauf hinaus, daß die Situation bei der Unabhängigkeit »formbar« war<br />

und strukturell offen: »Ein Zusammenhang wurde geschaffen, beginnend mit der späten<br />

Kolonialzeit, in dem die Kleinbourgeoisie leichter altruistischen 'Selbstmord' begehen<br />

können sollte; es war auch ein Zusammenhang, in dem die Masse der Bevölkerung<br />

leichter zu einem Bewußtsein ihres Interesses an einer strukturellen Transformation<br />

kommen und in Übereinstimmung damit handeln können sollte.« (Saul, 268)<br />

Mithin konnte <strong>das</strong> idealistische Element in der Politik eine größere Rolle spielen, als<br />

unter anderen Umständen: »Nyerere erscheint als notwendige (wenn auch nicht als zureichende)<br />

Bedingung, als letztes Glied in der Kette von Faktoren, die Tansanias soziales<br />

Experimentieren ermöglicht haben.« (Saul, 269) Aufgrund spezifischer Bedingungen<br />

gelang es einer kleinen Gruppe unter Führung Nyereres, nach der Unabhängigkeit<br />

einen sozialistischen Kurs einzuschlagen, der gegen die Interessen der Kleinbourgeoisie<br />

ging. Sie galt es <strong>für</strong> den sozialistischen Aufbau zu gewinnen; sie sollte als Klasse<br />

»Selbstmord« begehen (der Ausdruck stammt von L. Cabral).<br />

Natürlich ist diese Situation alles andere als eindeutig. Saul wäre der letzte, der die<br />

Widersprüche nicht sehen würde. So vollzieht sich im Staatsapparat und in der Partei<br />

ein stiller Klassenkampf zwischen der Nyerere-Fraktion und den konservativen Teilen<br />

der Kleinbourgeoisie. dessen Waffenstillstände in der Form von Kompromissen zu einer<br />

in vielen Punkten unzureichenden Strategie führen.<br />

So sieht auch Saul <strong>das</strong> Fehlen einer industriellen Entwicklungsstratcgie als schweres Manko an,<br />

ja er geht noch weiter: »Das Fehlen einer Strategie, die garantieren könnte, daß der neu eingerichtete<br />

Rahmen der Staatskontrolle über Überschüsse und Entscheidungen genutzt wird zur Transformation<br />

der Wirtschaft«, ist schwerwiegend (Saul, 273) .• Schließlich mag man sich fragen, ob es<br />

wahrscheinlich ist, daß ein nur zur Hälfte gebautes Haus zu struktureller Transformation lebensfähig<br />

sein wlfd, ob eine ökonomische Revolution mir den Mitteln solchen Reformismus nicht zum<br />

Verschwinden gebracht werden kann.« (Saul, 286)<br />

Wenn die Entwicklung Tansanias von Kompromissen und Unzulänglichkeiten geprägt<br />

ist. so drückt sich darin der Kampf zwischen verschiedenen Teilen der Kleinbourgeoisie<br />

aus. Und eben dieser Kampf ist entscheidend <strong>für</strong> Tansanias Übergang zum Sozialismus:<br />

»Deswegen müssen Nyerere und andere tansanische Progressive wachsam<br />

sein vor einer direkten Umkehrung und der Entstellung des Systems der gesellschaftlichen<br />

Kontrolle über die Produktionsmittel.« (Saul, 293) Der Kampf der »Progressiven«<br />

muß an zwei Fronten geführt werden: es gilr, » ... die Anzahl und Effektivität der progressiven<br />

Kleinbourgeoisie zu vergrößern und die Energien einer bewußteren und sich<br />

artikulierenden Masse der Bauern und Arbeiter freizusetzen.« (Sau!. 298).<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 &:


Tamanza - auf dem Weg zum Sozz'altsmus? 205<br />

Damit trägt sie zur Formierung der Klassen und des Klassenbewußtseins bei:<br />

»Ungeachtet des ideologischen Obskurantismus der Bürokratie haben die Arbeiter und Bauern<br />

und andere bewußte Elemente nicht gezögert. L'nstimmigkeiten aufzuzeigen. Was <strong>für</strong> eine<br />

progressive Rolle diese Klasse auch an einem bestimmten Punkt politisch gespielt haben mag. so<br />

wird sie doch schnell erschöpfr in dem Maße. in dem sich die Widersprüche mit den ausgebeutetell<br />

Klassen. den ""'rbeitern und Bauern verschärfen.« (Shivji, 98)<br />

Die wahren revolutionären Kräfte sind mithin Arbeiter und Bauern, wobei den Arbeitern<br />

die Funktion der Führung zukommt. Sie werden eines Tages die Herrschaft der<br />

bürokratischen Bourgeoisie bemden und die ideologische Rhetorik der Kleinbourgeoisie<br />

verwirklichen.<br />

Soweit Shivji. Es wird deutlich, daß er nicht direkt den Thesen Sauls widerspricht,<br />

sondern anders akzentuiert. Entscheidend 1st seine :--1ethode: er geht nicht vom Selbstverständnis<br />

Tansanias aus. wie Saul, sondern von den sich real vollziehenden Klassenkämpfen,<br />

und kommt von daher zu einer bestimmten, klassenspezifischen Füllung des<br />

Begriffs Sozialismus. Auch wenn man Bedenken an einigen seiner Aussagen haben mag<br />

(z.B. Überschätzung des revolutionären Potentiah der Arbeiter und Bauern), scheint<br />

mir doch sein Vorgehen <strong>das</strong> einzig mögliche zu sein. Shivjis Ansatz wäre weiter zu entwickeln<br />

und empirisch zu prüfen, um zu einer zureichenden Einschätzung der gegenwärtigen<br />

Entwicklung in Tansania zu kommen.<br />

Schlußfolgerungen<br />

TansaIlla ist eines der ärmsten Länder der \V'ell. Und <strong>das</strong> gilt in jeder Beziehung -<br />

sowohl in Bezug auf Rohstoffe als auch auf Manpower. In diesem Kontext vollzieht sich<br />

ein die traditionalen Gesellschaften überlagernder und sie zersetzender Klassenbildungsprozeß.<br />

Dieser Prozeß wird durch die Gleichheitspolitik überdeckt, aber er geschieht<br />

dennoch. Ob es in dieser Hinsicht einen signifikanten Unterschied 7wischen<br />

Tansania und anderen vergleichbaren afrikanischen Ländern gibt, wäre zu untersuchen.<br />

\X1as kann unter diesen Bedingungen <strong>für</strong> Tansania der propagierte Übergang zum Sozialismus<br />

bedeuten? Der spezielle tansanische Weg ist gescheitert:<br />

- Das sozialistische Modell der Transformation der Landwirtschaft konnte nicht durchgehalten<br />

werden und damit fällt Tansania zZ. auf kapitalistische Modelle der Akkumulation<br />

zurück.<br />

- \X1eil die Umwandlung der Landwirtschaft mcht gelang. konnte keine aurozentrierte<br />

Entwicklung \'erfolgt werden. Die Akkumulation blieb extrem abhängig.<br />

Soweit ich sehen kann, bleiben nur zweI \V'ege der tansanischen Führung offen:<br />

- entweder ein offen repressives :--10dell der Auspressung der Bauern zu verfolgen,<br />

- oder zurückzukehren zu einem intensivierten kapitalistischen Modell.<br />

Beide Wege konfligieren mit dem spe-zifisch »christlich-humanIstischen Sozialismus«,<br />

der in Tansania aufgebaut werden soll. Ob sich der Übergang zu dieser Politik \'öllig<br />

bruch los unter der Deckung Nyereres vollziehen kann, ist fraglich. Die Alternative wäre<br />

allerdings wohl kaum eine Arbeiter- und Bauernrepublik.<br />

Angesichts dieser Sachlage sollte man aufhören, immer nur die schönen Absichtserklärungen<br />

Nycreres und seine Beteuerungen antiimperialistischer Solidarität zu hören,<br />

und. ohne sich »moralisch« die Sicht verstellen zu lassen. erst einmal die wirklichen LebellSverhältnisse<br />

in Tansania analvsieren.


Henning Melber<br />

Staat in der Dritten Welt<br />

Zur Analyse von Herrschaft in ländern Mrikas<br />

Vorbemerkung: Während vor allem von Ende der 60er bis Mitte der 70er Jahre eine intensive<br />

Diskussion um die Ableitung und Bestimmung des Staates in den hochentwickelten kapitalistischen<br />

Industriestaaten - insbesondere auch in der Bundesrepublik - geführt wurde, sind der<br />

Staat und die staatstragenden Klassen in der Dritten Welt seit Mitte der 70er Jahre zunehmend<br />

zum Gegenstand von Analysen geworden. In der Bundesrepublik orientierte sich die Behandlung<br />

dieses Themas weitgehend an den Ansprüchen der Herausbildung einer länderübergreifenden<br />

<strong>Theorie</strong> zum »peripheren Staat«. Bislang umfassendster Ausdruck dieser Bemühungen stellt der<br />

Versuch von Evers dar, dessen Bedeutung von Bons im Argument 116 kritisch gewürdigt wurde.<br />

Parallel dazu. aber weitgehend unbeeinflußt, entwickelte sich im englischen Sprachraum seit<br />

Anfang der 70erJahre eine intensive Debatte um Genese, Funktionsbestimmung und Formen von<br />

bürgerlicher Herrschaft in der Dritten Welt, die bezogen auf die Länder Afrikas, <strong>für</strong> den nachfolgenden<br />

Überblick ausgewertet wurde. Die englische Debatte um den post-kolonialen Staat und<br />

seine Herrschaftsträger entwickelte sich dabei - umgekehrt zur Analyse in den bundesrepublikanischen<br />

Ansätzen - nahezu ausnahmslos orientiert an der spezifischen Situation bestimmter Länder<br />

(bevorzugte Bezugspunkte bildeten bisher Tanzania und Kenya). Entsprechend nuancenreich<br />

und vielfältig sind die formulierten Charakteristika der Herrschaftsbedingungen und -funktionen.<br />

Die Verbindung der Resultate dieser Analysen mit den auf allgemeinerer Abstraktionsebene<br />

gewonnenen Aussagen der deutschsprachigen Untersuchungen wurde bislang mit einer<br />

Ausnahme (ztemannlLanzendörjer) nicht in Angriff genommen.<br />

Der vorliegende, eher rezeptiv angelegte Beitrag versucht selbst nicht, dieses Problem zu lösen<br />

und! oder zur Verfeinerung der entwicklungssoziologischen <strong>Theorie</strong>produktion beizutragen. Vielmehr<br />

sollen Grenzen und Möglichkeiten der bisherigen Analysen dargestellt werden. Die Erarbeitllng<br />

eines solchen Überblicks scheint angesichts der Vielfalt an Literatur zu diesem Themenbereich<br />

sinnvoll, um den gegenwärtigen Diskussions- und Erkenntnisstand kritisch diskutieren zu<br />

können. Dies wurde bislang nur unvollständig geleistet (als einer der ersten, recht unbefriedigenden<br />

Versuche im deutschsprachigen Raum kann der Aufsatz von Frank gelten). Hier soll der Versuch<br />

unternommen werden, Differenzen zwischen »metropolitanem« und »peripherem« Staat aufzuzeigen,<br />

sowie die zentrale Rolle der Träger staatlicher Macht im gesellschaftlichen Kontext afrikanischer<br />

Länder zu reflektieren.!<br />

Ausgegangen wird von einer zusammenfassenden Darstellung staatstheoretischer Ableitungen<br />

in den Metropolen (Diskussion des kapitalistischen Staates in der BRD). Im zweiten Teil erfolgt<br />

die Modifikation der Staatstheorie bezogen auf Entwicklungsländer, im dritten Teil werden Rolle<br />

und Funktion des Staates und der staatstragenden Klassen in den Ländern Afrikas dargestellt.<br />

L Genese des bürgerlichen Staates und dessen historisch-konkrete Funktionen<br />

Wie Evers (S. 53ff.) konstatiert, gelten in allen marxistischen Ableitungsversuchen<br />

des bürgerlichen Staates die Warenform und der Äquivalententausch (als die Form, in<br />

der sich die Subjekte der bürgerlichen Gesellschaft aufeinander beziehen) als entscheidende<br />

Konstitutionsbedingungen des bürgerlichen Staates (dazu auch Esser, S. 151).<br />

Dabei kritisiert Esser, daß die marxistische Staatstheorie bislang die Trennung von Politik<br />

und Ökonomie nicht erklärt, sondern jeweils impliziert hätte, indem zwar die funktionale<br />

Notwendigkeit politischer Herrschaft begründet wird, nicht aber ihre notwendige<br />

Form. Esser zufolge müsse diese Politikform jedoch ebenfalls aus der Warenform abgeleitet<br />

werden - als Schaffung einer außerökonomischen Instanz, welche die Bedingungen<br />

der Zirkulation garantiert (also die wechselseitige Anerkennung sich gegenüberstehender<br />

Warenbesitzer sowie die Einhaltung der Gesetze des Äquivalenten-<br />

207<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 ©


208 Hennlng Me/ber<br />

tauschs). Dabei muß die Gewaltfunktion von einer am Warentausch nicht beteiligten<br />

Instanz monopolisiert werden, um ihre Funktion zur Kodifizierung und Durchführung<br />

allgemeiner Gesetze vornehmen zu können, sowie <strong>das</strong> allgemeine Äquivalent - den<br />

Wertmaßstab des Geldes - zu garantieren (Esser, S. 151ft.).<br />

Die Genese des bürgerlichen Staates, seine Basisfunktion und allgemeine Durchsetzung<br />

läßt sich folgendermaßen zusammenfassen (nach Hein /Simonir): Erweiterte<br />

Tauschbeziehungen erfordern ein Netz von Rechtsverhältnissen, um die Gleichheit der<br />

Tauschbeziehungen zu wahren. Somit werden legislative und exekutive Funktion zur<br />

Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse erforderlich. Dabei<br />

sind die Formprinzipien außerökonomischer Zwangsgewalt der Warenform adäquat<br />

durch allgemeine. öffentliche und unpersönliche Gesetze. Der Staat als außerökonomische<br />

Gewaltinstanz schützt damit <strong>das</strong> Grundrecht der Warenproduktion und des Privateigentums.<br />

Dabei ist er der Form nach neutrale Instanz, inhaltlich jedoch als Garant<br />

des Kapitaleigentums zugleich Schurz der Herrschaft des Kapitals. Die kapitalistische<br />

Warenproduktion erzwingt somit eine Verdoppelung der gesellschaftlichen Herrschaft<br />

in sachliche Herrschaft des Kapitals und öffentliche politische Herrschaft. Damit ist die<br />

außerökonomische staatliche Zwangsgewalt zugleich Klassengewalt.<br />

In seinen Arbeiten zur Rolle des bürgerlichen Staates, die <strong>für</strong> die Diskussion um den<br />

Staat in Entwicklungsländern von bislang zentraler Bedeutung gewesen sind, sieht Pou­<br />

/antzas die Funktion des Staates darin, innerhalb einer Struktur mit verschiedenen Ebenen<br />

ungleichzeitigen Entwicklungsstands Kohäsionsfaktor der verschiedenen Ebenen<br />

einer Gesellschaftsformation zu sein. Kohäsionsfaktor (ein Begriff. der auf Gramsei zurückgeht)<br />

ist dabei jener Faktor, der einander widersprechende Interessen zusammenhält,<br />

also die Einheit der Formation vor dem Zerfall bewahrt. (Poulantzas 1'-)75.<br />

S. 360f.) Eine Ausweitung und Konkretion dieses Verständnisses erfolgt in Einer späteren<br />

Arbeit, in der Poulantzas den Staat definiert als »clie materielle Verdichtung eines<br />

Kräfteverhältnisses zwischen Klassenfraktionen« in jeweils spezifischer Ausdrucksform<br />

(Poulantzas 1978, S. 119: dazu auch S 122ff.). Wichtig wird dabei die Betonung des<br />

Aspektes, daß der Staat ein Spiegelbild der Gesamtheit der Interessen(gegensätze) der<br />

jeweiligen Gesellschaft repräsentiert: »Der Staat konzentriert in sich nicht nur da, Kräfteverhältnis<br />

zwischen Fraktionen des Blocks an der Macht, sondern auch <strong>das</strong> Kräfteverhältnis<br />

zwischen diesem Block und den beherrschten Klassen« (Poulantzas 1978, S.<br />

130). Eine Einflußnahme der beherrschten Klassen kann nur svstemimmanent erfolgen,<br />

denn im materiellen Aufbau des Staates - bestehend aus inlernen Reprodukrionsmechanismen<br />

des Verhältnisses von Herrschaft und Unterordnung - sind diese<br />

eben nur als beherrschte Klassen präsent (Poulantzas 1978, S. 132; siehe dazu auch die<br />

<strong>kritische</strong> Würdigung von Hai/).<br />

Als Charakteristika historisch-konkreter Staatsfunktionen können folgende Faktoren<br />

angeführt werden: Stand der Klassenkämpfe (z.B. bewirkt eine wachsende ökonomische<br />

Stärke der Arbeiterklasse und die zunehmende Verschärfung der gesellschaftlichen<br />

Widersprüche sozialstaatliehe oder repressive Intervention); Form der Rechtsstaatlichkeit<br />

(diese garantiert und gestattet möglicherweise, den Klassenkampf politisch auszutragen);<br />

Herstellung allgemeiner Produktionsbedingungen (objektive Erfordernisse der<br />

Gesamtreproduktion verlagern sich zum Aufgabenbereich des Staates als »ideellem Gesamtkapitalist«);<br />

Grad der Monopolisierung (wachsender Zwang des Staatsapparates,<br />

die Verwertungsinteressen zu berücksichtigen; dieser Prozeß verstärkt die Instrumenta-<br />

DAS ARGUMH


210 Henning Me/ber<br />

bietseinheiten festgelegt und okkupiert. Die Entstehung zentralisierter Staatsapparate<br />

(sprich: kolonialer Verwaltungsinstanzen) war keinesfalls Ergebnis notwendiger, systemimmanenter<br />

(endogener) Entwicklung der autochthonen Gesellschaftsformationen<br />

oder Ausdruck ihrer inneren Dynamik zur gesamtgesellschaftlichen Organisation in nationalstaatlichem<br />

Rahmen. Die Entwicklung bürgerlicher Staatsformen in Ländern unter<br />

kolonialer Fremdherrschaft war Ergebnis eines »exogenen Gewaltaktes« (Terzlall<br />

1977, S. 57), bewirkt durch die imperialistische Expansion des europäischen Industriekapitals.<br />

Die oktroyierte, überregionale beziehungsweise stammesübergreifende Staatsbildung<br />

ging schneller vor sich als der Prozeß der Konstituierung der Menschen zu Nationen.<br />

Was Sta/in hinsichtlich der Herausbildung von Nationen in Osteuropa anmerkt,<br />

findet auch in der kolonialen Situation (wenngleich die Konstitutionsbedingungen<br />

voneinander abweichen) seine Parallele: » ... so bildeten sich hier gemischte Staaten,<br />

aus mehreren Völkerschaften bestehend, die sich noch nicht zu Nationen konstituiert<br />

hatten, aber bereits in einem gemeinsamen Staat vereinigt waren.« (Stalin, S.<br />

139; vergleiche auch Evers, S. 107. Zur Kritik Stalinscher <strong>Theorie</strong>n zur nationalen Frage<br />

siehe insbesondere Löwy, S. 118f.).<br />

Somit trug der Kolonialismus zur Beschleunigung des Staatsbildungsprozesses bei,<br />

indem er durch die gewaltsame Installierung seiner zentralen Herrschaftsinstanzen und<br />

Durchsetzungsformen kolonialer Interessen die eigenständige Herausbildung einer den<br />

ursprünglichen gesellschaftlichen Bedingungsmomenten entsprechenden Staatsform<br />

unterdrückte, deformierte und die staatsbildenden Elemente der autochthonen Bevölkerung<br />

zur Verwirklichung der eigenen Interessen benutzte. Aus dieser imperialistischen<br />

Transplantation resultierte als Ergebnis die Unterbrechung historischer Eigendynamik<br />

durch den »exogenen« Kapitalismus (siehe dazu die Aufsätze von Cabral zum<br />

Verhältnis zwischen Kolonialismus und kolonisierter Bevölkerung; ebenso instruktiv ist<br />

in dieser Hinsicht - unter stärkerer Berücksichtigung der sozialpsychologischen Aspekte<br />

solcher Fremdherrschaft - <strong>das</strong> Hauptwerk von Fanon). Dennoch trug der Kolonialismus<br />

eben dadurch zur wenigstens teilweisen Herausbildung der Konstiturionsmomente<br />

einer Nation entscheidend bei, indem er die Schaffung eines nationalen Marktes<br />

(Zusammenschluß des kolonisierten Territoriums zu einer zumindest rudimentären beziehungsweise<br />

heterogenen wirtschaftlichen Einheit) und die Etablierung der<br />

(kolonial)kapitalistischen Produktionsweise bewirkte, diese Produktionsweise im gesamtgesellschaftlichen<br />

Kontext mittels Gewalt zur dominanten erhob, territoriale Gebietseinheiten<br />

per Grenzfestlegung schuf und durch die importierte Sprache ein Kommunikationsmedium<br />

im nationalstaatlichen Rahmen festsetzte. Mit anderen Worten:<br />

Die gesellschaftliche Entwicklung unter der Kolonialherrschaft, beziehungsweise durch<br />

sie, hat eine Gesellschaftsformation in nationalstaatlichem Gewand geschaffen, die<br />

heute nicht mehr grundsätzlich negiert werden kann. 2<br />

Bei einer genetisch-strukturellen Analyse von Staatsfunktionen im peripheren Kapitalismus<br />

ist dieses Kapitel kolonialer Vergangenheit von zentraler Bedeutung, um die<br />

gegenwärtige Gestalt und Funktion des peripheren Staates bestimmen zu können.<br />

Evers (S. 41) führt die Berücksichtigung dieses »inputs« sogar zur Konstruktion eines<br />

Hilfsbegriffes der >,mittleren Ebene« des Besonderen zwischen dem Allgemeinen der logischen<br />

Gesetze der Wertbewegung und dem Einzelnen ihrer nur noch konkrethistorisch<br />

analysierbaren Durchsetzung in jedem Land (zur Problematik dieses Versuchs<br />

die Kritik von Bons).<br />

DAS ARGUMENT 126' 1981


Staat in der Dn'tten Welt 211<br />

Um nun die gegenwärtige Rolle des Staates in der Dritten Welt einschätzen zu können,<br />

gilt es vorab die Form des Reproduktionsprozesses im peripheren Kapitalismus zu<br />

bestimmen. Heini Simonis benennen dazu zwei Strukturmerkmale:<br />

- Subordinationsverhältnis zum »zentralen« Kapitalismus, bestimmt vom Verwertungsprozeß<br />

der Metropolen: Peripherer Kapitalismus repräsentiert danach ein Moment<br />

der zentralen Mehrwertproduktion (Bestimmungsmomente sind dabei zahlreiche<br />

Mechanismen, wie Weltmarktkonkurrenz, Direktinvestitionen, Kredite und Entwicklungshilfe)<br />

.<br />

- Blockierter Entwicklungsprozeß peripherer Gesellschaften: Eine Verallgemeinerung<br />

der Waren verhältnisse vollzieht sich nicht. Deformierte Durchsetzungsform des<br />

Kapitals durch Reproduktion und Perpetuierung nicht-kapitalistischer Elemente (Zusatz:<br />

die aber funktional und komplementär sind, also elementarer Bestandteil der kapitalistischen<br />

Produktionsverhältnisse in der Peripherie).<br />

In Ergänzung dazu betont Hein in einer späteren Arbeit (1978), daß es innerhalb des<br />

globalen Akkumulationsprozesses Teile gibt, um die periphere Nationalstaaten »eine<br />

politische Klammer schlagen« (Evers, S. 86f.), die sich »qualitativ von Jenen Teilen unterscheiden,<br />

die jeweils den Reproduktionszusammenhang metropolitaner Gesellschaften<br />

bilden« (Hein 1978, S. 65). Die Nationalstaatlichkeit wird als besonderer Faktor damit<br />

verstärkt berücksichtigt.<br />

Diese Strukturmerkmale bedingen zugleich eine dreifache Strukturkrise: ökonomisch<br />

(durch eine nur beschränkte Industrialisierungsmöglichkeit); sozial (durch ständige<br />

Marginalisierung gesellschaftlicher Gruppen); politisch (wobei hier die unterschiedlichen<br />

Aussagen zur Stärke, beziehungsweise Schwäche des Staates in der Peripherie<br />

gemacht werden). Die politische Struktur krise findet ihre strukturellen Ursachen in<br />

- begrenzter Neutralität durch eine geringe Legitimationsbasis, da die Rechtsfunktion<br />

des Staates als Schützet der Besitzenden den Klassencharakter unverschleiert hervortreten<br />

läßt und der Staat somit offen Agent der herrschenden Klasse ist;<br />

- instabiler Klassenstruktur , denn die Fraktionierung und Instabilität des »Machtblocks«<br />

(PouJantzas 1975) führt dazu, daß die politische Herrschaft und die Instrumentalisierung<br />

des Staatsapparates von zentraler Bedeutung <strong>für</strong> partikulare Interessen wird.<br />

Damit entsteht ein Widerspruch zwischen den objektiven Staatsfunktionen (Erhaltung<br />

kapitalistischer Produktionsverhältnisse) und der Indienstnahme des Staates <strong>für</strong> die Interessen<br />

einzelner Gruppen;<br />

- Interventionen im Reproduktionsprozeß durch die tendenzielle Förderung einer<br />

Politisierung der Ökonomie und Privatisierungstendenzen des Staatsapparates. Dies<br />

bewirkt eine bürokratische Aufblähung des Staatsapparats, Klientelwirtschaft und Korruption.<br />

Der Prozeß ist Ergebnis der unvereinbaren Anforderungen an den Staat, die<br />

aus der »strukturellen Heterogenität« resultieren.<br />

Die Folge dessen ist ein instabiles Schwanken staatlicher Herrschaft zwischen Repression<br />

und Populismus. Als Interventionsstaat in Permanenz kann der Staat wirtschaftlich<br />

nicht neutral bleiben. »Seine Funktion als gesellschaftlicher Mittler zwischen den strukturell<br />

heterogenen Teilen seiner Gesellschaft zwingt den Staat in die Rolle des permanenten,<br />

widersprüchlichen, inkohärenten Krisenmanagers« (Evers, S. 126).<br />

Daraus ergibt sich eine zunehmend widersprüchliche Position des Staates, die sich<br />

einerseits in dem Versuch artikuliert, weiterhin die klassische Rolle der Vermittlungsinstanz<br />

aufrechtzuerhalten und auszuüben, andererseits aber gleichzeitig erfordert, daß<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 ©


212 Henning Me/ber<br />

der Staat zunehmend am Produktionsprozeß selbst partizipiert (Go!dbourne, S. 17).<br />

Die nur unvollständig erfolgte Durchsetzung allgemeiner kapitalistischer Warenbeziehungen<br />

in den Gesellschaftsformationen der Dritten Welt macht die ideologische Legitimationsfunktion<br />

dieser Staatsformen zu einem vorrangigen Erfordernis (Ziemann/<br />

Lanzendör/er, S. 148). Evers (S. 164ff.) verweist in diesem Zusammenhang auf <strong>das</strong><br />

Sammelsurium politischer Legitimationsversuche des ideologischen Apparates von Staaten<br />

in der Dritten Welt.<br />

Aufgrund der Schwierigkeit bei der Entwicklung einer allgemeinen Form des Staates<br />

in Entwicklungsländern wird Perez Sainz zufolge der Nationalismus zur wichtigsten Fetischisierungsform<br />

kapitalistischer Dominanz. Der Staat als Garant kapitalistischer Vorherrschaft<br />

wird vor allem durch seine nationale Form mystifiziert. »Staatskapitalismus«3<br />

wird von Perez Sainz so auch als Versuch bewertet, eine Manifestierung der Schwäche<br />

der nationalen Form des Staates in Entwicklungsländern zu verhindern, und zwar<br />

durch eine nationalistische Reorientierung des Akkumulationsprozesses, damit der<br />

Staat seine mystifizierte Erscheinungsform behält und die kapitalistische Reproduktion<br />

nicht beeinträchtigt wird (Perez Sainz, S. 60 und 66). Er <strong>argument</strong>iert weiter, daß aufgrund<br />

der strukturimmanenten Krise des kapitalistischen Systems in Ländern der Dritten<br />

Welt die dortigen Staatsformen (die politische Organisation der Produktion) permanent<br />

existentieller Bedrohung ausgesetzt seien. D1e besitzenden Klassen würden<br />

deshalb die (zeitweilige) Intensivierung staatlicher Eingriffe in den Produktionsprozeß<br />

tolerieren. Damit würde der Staat Aufgaben und Ziele der besitzenden Klassen übernehmen<br />

und jeglichen Anschein relativer Autonomie durch den Interventionscharakter<br />

verlieren (siehe dazu auch E!lIott, S. 7).<br />

3, Staat und staatstragende Klasse(n) in Ländern Afrikas<br />

Die Thesen von Aiavi zum »überentwickelten« post-kolonialen Staat - entwickelt an<br />

Pakistan und Bangla Desh - wirkten sich auch auf die Diskussion afrikanischer Staaten<br />

aus. A!avls Aussage zur »Überentwicklung des Staatsapparates« stützt sich auf zwei Argumente:<br />

1) Die Basis des Staatsapparates, der von der post-kolonialen Gesellschaft ererbt<br />

wurde, lag in der Metropole und war gekennzeichnet durch starke militärisch-administrative<br />

Apparatur. 2) Aufgrund seiner Zentralität eignet sich der Staat peripherer<br />

Gesellschaften unmittelbar einen großen Teil des produzierten ökonomischen Mehrwerts<br />

an, und verwendet diesen <strong>für</strong> bürokratisch gelenkte »Entwicklungsstrategien« und<br />

-aktivitäten. Dabei impliziert die Zentralität des post-kolonialen Staates die zentrale<br />

Rolle der Staats bürokratie .<br />

Während diese Einschätzung A/avls von den meisten Autoren übernommen und im<br />

konkreten Einzelfall modifiziert wurde, beispielsweise von Sau! (1974 und 1976) und<br />

Freyho!d, bemängeln Ziemann/ Lanzendör/er (S. 145), daß eine vergleichbare Bezugsgröße<br />

zum Beleg dieser Aussage fehlt (also ab wann eine solche Struktur als überentwickelt<br />

gelten könne und in Bezug auf was). Weiterhin orientiere sich eine solche Analyse<br />

an der Trennung von administrativer und ökonomischer Struktur. Ziemann / Lanzendär/er<br />

selbst gehen davon aus, daß solange ein Staat die Erfordernisse zur Sicherung<br />

gesellschaftlicher Reproduktion erfüllt, er in Bezug auf seinen Einfluß auf die Gesellschaft<br />

weder zu groß noch zu klein, sondern - unabhängig von quantitativen Aspekten<br />

- adäquat ist. Auch Leys (1976) sieht im Gegensatz zu Vertretern der Position A!avis<br />

eher die administrative, militärische und bürokratische Verhältnismäßigkeit des ko-<br />

DAS ARGUMENT 120,1981 D


Staat in der Dn'tten Welt 213<br />

lonialen Staatsapparates in Relation zu seinen Aufgaben. Nach dem Erringen formaler<br />

Unabhängigkeit fungiert dieser Staatsapparat zur Kontrolle und Integration der neu<br />

aufbrechenden Klassengegensätze post-kolonialer Gesellschaften (wobei Leys in dieser<br />

Phase nach Erlangung formaler Unabhängigkeit eine drastische Zunahme des Staatsapparates<br />

konstatiert). Eine Zusatz bestimmung des staatlichen Aufgabenbereichs in afrikanischen<br />

Ländern ergibt sich nach Cuhen dadurch, daß die Landrechte und Besitzverhältnisse<br />

an Boden immer noch überwiegend kollektiv sind. Während demnach der<br />

Staat entwickelter Gesellschaften mit ausgeprägten Kapitalverhältnissen und Produktionsweisen<br />

klar als Agent zur Aufrechterhaltung und Kontrolle der Produktionsverhältnisse<br />

und des Privatbesitzes definiert ist. sieht Cohen im post-kolonialen Staat Afrikas<br />

dessen Basisfunktion primär mit der Aufgabe verbunden, Besitzverhältnisse und<br />

-rechte privat kapitalistischer Produktion erst zu schaffen und auszuweiten (also auch<br />

der anhaltenden Phase ursprünglicher Akkumulation gerecht zu werden). Das vorrangige<br />

Erkenntnisinteresse bei der Analvse daraus resultierender Herrschaftsverhältnisse<br />

und -strukturen sollte Cuy Martin zufolge darin bestehen, im historischen Kontext den<br />

Charakter der spezifischen vorkapitalistischen Produktionsweisen zu erarbeiten, die<br />

Einwirkungen des kolonialkapitalistischen und imperialistischen Systems zu erfassen<br />

und die Effekte der daraus resultierenden Epoche kolonialer Fremdherrschaft und deren<br />

Ausbeutungsverhältnisse sowie deren Resultate auf diese vorkapitalistischen Produktionsweisen<br />

zu untersuchen, um dadurch die spezifischen Faktoren der Staatsbildung<br />

in den Ländern Afrikas durch die lIlnere Bestimmtheit konkretisieren zu<br />

können 4<br />

Eine Kontinuität staatlichen Handelns seit der Kolonisierung konstatiert Shiv;/'<br />

(1975, S. 32f.): In der kolonialen Phase war der Staat nicht nur Regulator und Schützer<br />

des ökonomischen Systems, sondern übte außerdem eine dominante, aktive Funktion<br />

bei der Schaffung dieses Systems aus. In Kolonien ohne eine starke interne Klassenstruktur<br />

wurde die Dominanz des Staates noch verstärkt. Nach Erlangung formaler Unabhängigkeit<br />

wird dieser Staat erneut als der dominante Faktor hervortreten, sofern <strong>das</strong><br />

Kleinbürgertum (und die nationale Bourgeoisie) - wie dies in den meisten Ländern<br />

Afrikas der Fall war - relativ schwach entwickelt ist. Shiv;/' konzediert so ein gewisses<br />

Maß an Kontinuität des Staates mit einem fundamentalen Unterschied: Der dekolonisierte<br />

Staatsapparat wird zum Instrument der bis dahin embryonalen Klassenformation<br />

des Kleinbürgertums, vermittelt diesem die Absicherung einer ökonomischen Basis<br />

und erhebt es zur herrschenden Klasse. Dadurch initiiert staatliches Handeln die Etablierung<br />

spezifischer sozialer Beziehungen innerhalb der jeweiligen Gesellschaft. Zur<br />

Analyse der bestehenden Ausbeurungsmuster fordert Cohen eine größere Konzentration<br />

auf die Untersuchung der Verteilungs- und Austauschsphäre als auf den Besitz der<br />

Produktionsmittel und der Produktionsverhältnisse. Ausgangspunkt bildet dabei die<br />

Überlegung. daß weniger der Privatbesitz an Produktionsmitteln als deren Kontrolle<br />

sowie die Kontrolle des Verteilungsprozesses und der Austauschverhältnisse die Klassenstruktur<br />

in diesen Gesellschaftsformationen bestimmt und entwickelt. Auf dieser<br />

Grundlage formuliert er die These, daß <strong>das</strong> Potential zur Herausbildung und Entwicklung<br />

von Klassenverhältnissen nicht ausschließlich auf den Privatbesitz an Produktionsmitteln<br />

angewiesen ist, solange Kontrollmechanismen genügend stark ausgeformt sind,<br />

um Machtverhältnisse - die in anderen Produktionszusammenhängen automatisch<br />

aus den Besitzverhältnissen resultieren würden - aufrechtzuerhalten. Eine These, die<br />

DAS ARGCMENT 126/ 19H1


214 Hennzng Me/ber<br />

nicht nur in der bereits skizzierten Staatskapitalismus-Debatte implizit ihren Niederschlag<br />

findet, sondern unlängst auch zur Beurteilung der post-kolonialen Entwicklung<br />

in Mozambique in der Analyse von Schröer zum Ausdruck gebracht wurde,<br />

In seiner weiteren Entwicklung der Methodik geht Cahen deshalb vor allem auf die<br />

staatliche Bürokratie und die Arbeiterklasse ein - deren privilegierte Position als »Arbeiterarisrokratle«<br />

von Cahen im übrigen bezweifelt wird -, die <strong>für</strong> ihn allesamt keinesfalls<br />

bereits endgültig formierte und herauskristallisierte Klassen darstellen (zum<br />

mit Recht umstrittenen Begriff der »Iabour aristocracy« informiert umfassend Rasenberg),<br />

Er begründet seine Konzentration auf diese Klassenbildungen damit, daß es sich<br />

dabei um die deutliehst erkennbaren Formationen handelt, wenngleich er eine latente<br />

Klassenherausbildung im ländlichen Sektor keinesfalls leugnet und darüber hinaus der<br />

Bauernschaft eine wichtige Rolle im weiteren gesellschaftlichen Entwicklungsprozeß<br />

konzediert, Andere Autoren, so z,B, Guy Mart/n, begründen ihre Konzentration auf<br />

die Analyse herrschender Klassen in Afrika damit, daß diese real Herrschaftsträger seien<br />

und Ziel der Analyse somit die Erkundung ihrer Stärke und Schwäche sein müsse, Das<br />

Kleinbürgertum, als Resultat gesellschaftlicher Entwicklungsprozesse zentral an den<br />

Herrschaftsverhältnissen beteiligt. ist somit diejenige Klassenformation in Ländern<br />

Afrikas, der bisher die meiste Aufmerksamkeit der Autoren zuteil wurde,<br />

Die Vielfalt an Analysen korrespondiert dabei mit den unterschiedlichsten Begriff­<br />

Iichkeiten und terminologischen Hilfskonstrukten, mit denen die jeweiligen Autoren<br />

<strong>das</strong> ihrer Meinung zufolge jeweils Spezifische der Staats bürokratie in Ländern Afrikas<br />

zu klassifizieren versuchen (siehe dazu auch Sklar, 1979, S, ')44ff), Unter diesen Termini<br />

zur Charakterisierung der staatstragenden Klasse(n) befinden sich vorsichtige,<br />

neutrale Benennungen wie Staatsbürokratie (Elsenhans 1976 a; Ziemann/Lanzendör­<br />

Jer) oder die Orientierung am allgemeineren Begriff des Kleinbürgertums (Sau/), Dazu<br />

gesellen sich die »Staatsklasse« (Elsenhans 1976 b), die »bürokratische Klasse« von Uayd<br />

und die »politische Klasse« von Cohen (die dieser noch um den Begriff der »intendant<br />

<strong>das</strong>s« erweitert - sinngemäß mit staatlichem Aufsichtspersonal zu übersetzen), Farbiger<br />

wird <strong>das</strong> Begriffsspektrum durch pointierte Formulierungen wie die der »bürokratischen<br />

Bourgeoisie« von Shiv;i (der diese außerdem in ökonomische und administrative<br />

Bürokratie unterteilt), den »nizers« von Freyhald (abgeleitet aus dem Begriff der »Africanization«),<br />

der »militärisch-bürokratischen Oligarchie« (A/avz), der »organizational<br />

bourgeoisie« (Markovitz) und der »managerial bourgeoisie« (Sklar 1979),<br />

In der Beurteilung der Herrschaftsfunktion der Bürokratie und des Kleinbürgertums<br />

greift Freyhold auf eine Unterscheidung zurück, die bereits von Marx gemacht wurde<br />

und von Pau/antzas (197,), S, 2')0) wieder aufgegriffen wurde: die in herrschende Klasse<br />

und regierende Klasse, Während im Kontext der Entwicklungsländer die erstere die<br />

metropolitane Bourgeoisie repräsentiert, entwickelte sich letztere innerhalb der Kolonialverwaltung,<br />

um schließlich im post-kolonialen Staat als nach der formalen Unabhängigkeit<br />

an die Regierungsmacht gelangte Bürokratie die Kontrolle über die Gesellschaft<br />

auszuüben (Freyhald, S, 7'»), Sau/(1974, S, 3')3), der im kolonialen Staatsapparat<br />

ein Repressions- und Integrationsinstrument zur Eingliederung der ökonomisch aktiven<br />

Bevölkerung in die kolonialkapitalistische Produktionsweise siehe (wobei er nicht<br />

erkennt, daß Repression ein Mittel zur Integration ist und deswegen nicht damit gleichgesetzt<br />

werden kann), benennt <strong>für</strong> die Entstehung und Einschätzung der bürokratischen<br />

Elite des post-kolonialen Staates zwei mögliche Alternativen: 1) Die Staatsbüro-<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


Staat in der Dn'tten Welt 217<br />

aussetzung <strong>für</strong> eine empirisch fundierte Staatstheorie des entwickelten Kapitalismus«<br />

(Euer, S. 159).<br />

Zugleich müßte künftig in der Diskussion der bisherige Rahmen einer Herrschaftsbestimmung,<br />

die sich an der Analyse der Staatsbürokratie orientiert. überwunden werden.<br />

Zwar wird dadurch ein substantieller Bereich der Politikform und der Herrschaftsbeziehungen<br />

erfaßt. Andererseits jedoch er!(ibt sich aus der Instabilität des Kleinbürgertums<br />

als Hauptgegenstand bisheriger Analysm die Notwendigkeit, zur Beurteilung<br />

der politischen Sphäre peripherer Gesellschaften eine Analyse der Produktionsverhältnisse,<br />

Klassenbildungstendenzen und daraus resultierendem politischen Bewußtsein aller<br />

gesellschaftlichen Formationen als Bestimmungsmomente politischer Herrschaft den<br />

externen Faktoren gegenüberzustellen.<br />

Eine Kritik der bisherigen analvtischen Vorgehensweise leistet Leys (1976), mdem er<br />

die (in seiner eigenen Arbeit nicht eingelöste) Forderung aufstellt, daß dn Klassenkampf<br />

innerhalb der jeweiligen Gesellschaft jeweils Ausgangspunkt der Analyse zu sein<br />

hätte, nicht der Staat. Nur durch die Analyse der gesellschaftlichen Prozesse und der<br />

Funktionen der jeweiligen Klassen sei eine Einschätzung der Bedeutung des Staates<br />

möglich. Eine Nutzbarmachung der <strong>für</strong> den Agrarsektor entwickelten Analyseansätze<br />

von Stavenhagen (siehe dazu Leggewie) und Bennho/dt- Thomsen! Boeckh scheint dabei<br />

in Bezu!( auf die stärkere Berücksichti!(ung der Bauernschaft vielversprechende<br />

Möglichkeiten in Aussicht zu stdlen.<br />

Die bisherige Debatte zeigt Tendenzen, durch die Verengung des Blickfeldes auf<br />

einzelne, strategisch durchaus wichtige Klassenformationen, wie die der staatlichen Bürokratie,<br />

eine statische Interpretation zu liefern. Dagegen plädierEn wir <strong>für</strong> die Beendigung<br />

einer Debatte, die sich im bisherigen Rahmen weitgehend erschöpft hat, sowie<br />

<strong>für</strong> deren Neubeginn unter anderm Prämissen. Die bisherigen deutschsprachigen Beiträge<br />

versuchten vornehmlich die Ableitung des »peripheren Staates« und eine punktuelle<br />

Bestimmung und Einordnung der staatstragenden Klasse(n) hinsichtlich der Allgemeinheit<br />

ihrer Besonderheit zu leisten. Demgegenüber sind die englischsprachigen<br />

Analysen bislang zumeist charakterisiert durch eine differenzierte, an nationalen Phänomenen<br />

orientierte Diskussion um staatliche Herrschaft und deren Träger. Über diese<br />

Ansätze hinausgehend stellt sich die Aufgahe der stärkeren Berücksichtigung und Einbeziehung<br />

des Wechselverhältnisses von Produktionsweise - Klassenformation -<br />

Klassenkampf - Staat, um in historisch-genetischer Regionalanalyse die tendenzielle<br />

»Herrschaftssoziologie« beziehungsweise Soziologie der herrschenden Klasse(n) abzulösen.<br />

Anmerkungen<br />

Ausgeklammert bleibt dabei die spezifische Situation der Länder unter weißem Minderheits·<br />

regime im südlichen Afrika (Namibia. Südafrika) Zum "Sonderfall« Süd afrika siehe u.a. die<br />

Aufsätze von Clarke. Sa/amons und .Helber (19:9 und 1980).<br />

Es ist eine andere Frage. ob dies gleichzeitig in der Phase der Dekolonisation die rigide Übernahme<br />

der vom Kolonialismus geschaffenen territorialen Einheiten als nationalstaatlich sou·<br />

veräne Gebiete forden, wie dies in Afrib rhmh Beschluß der OAU festgelegt wurde.<br />

Die Notwendigkeit des wachsenden ökonomischen Partizipationsgrades des Staates in Emwicklungsländern<br />

ist dabei häufig mit dem Postulat der Entwicklung einer sozialistischen<br />

Gesellschaft verbunden. Diesen "Sozialismus« ordnet Robert Martin (5. 324) - ähnlich dem<br />

Postulat der »Entwicklung" - der Ideologie einer spezifischen Herrschaftsform bei. die realiter<br />

zu schlichter bürokratischer Herrschaft degeneriert ist. Die ideologische Rechtfertigung<br />

DAS ;\RGL'ME\-T 126/1')81


218 Henning Me/ber<br />

dieser Verbürokratisierung leitet sich aus der Notwendigkeit staatlicher Kontrolle zur gesellschaftlichen<br />

Entwicklung ab. Mafe;" (1978) und Petras haben zur Analyse dieser Formen<br />

staatlicher Herrschaft und gesellschaftlicher Organisation den Begtiff des Staatskapitalismus<br />

in seinet spezifischen Bedeutung füt »Übergangsgesellschaften« in der Dritten Welt entwickelt<br />

und verwendet. Ziemann/Lanzendörferzufolge (5.177) reflektiert ein solcher Staatskapitalismus<br />

die verstärkten gesellschaftlichen Widersprüche. Die damit verbundene Ideologie<br />

wird meist zur Legitimierung der Statusinteressen der Bürokratie mißbraucht. Amin (S.<br />

245) gelangt in der Zusammenfassung seines Vergleichs des Entwicklungsprozesses der<br />

Maghreb-Staaten zu dem Ergebnis, daß anstelle des proklamierten Sozialismus <strong>das</strong> von der<br />

neuen Bourgeoisie etablierte ökonomische und politische System einem schwachen und<br />

letztlich abhängigen Staatskapitalismus zur Geburt verholfen habe.<br />

4 Dabei ist eine Etappe in der Diskussionsphase inzwischen überwunden: Der durch die <strong>Theorie</strong>n<br />

des »afrikanischen Sozialismus« verbreitete Mythos der klassenlosen vorkolonialen Gesellschaftsstrukturen<br />

wurde entschleiert. Die zentrale Erkenntnisfrage zielt somit nicht auf<br />

die Existenz verschiedener Klassen ab, sondern deren Charakter und Zusammensetzung.<br />

Über den »Balanceakt« der staatlichen Vermittlerrolle zur Wahrung des Gleichgewichts zwischen<br />

unterschiedlichen Produktionsweisen (Konservierung bzw. Garantie der Reproduktionsmöglichkeiten<br />

im nicht-kapitalistischen Sektor einerseits und der Minimumofferten effektiven<br />

Wettbewerbs <strong>für</strong> den kapitalistischen Sektor andererseits) sowie die damit verbundene<br />

Funktion der höheren staatlichen Bürokratie informiert Leys (1975, S.193ff.). Im Entwicklungsptozeß<br />

der (petty) hourgeoisie verdrängt <strong>das</strong> neue Klassenbewußtsein Leys zufolgc<br />

(1975, S. 176) die »bonds of language and kinship« früherer Zeiten zugunsten der höheren<br />

Bewertung geschäftlicher Fähigkeiten auf der Grundlage intertribalistischer bzw. stammesübergreifender<br />

kommerzieller Interessen. Tribalismus<strong>argument</strong>e finden sich nur noch bei<br />

Verteilungskämpfen um »white collar jobs« sowie stammesintern zur Verschleierung ökonomischer<br />

Ungleichheiten. Bestehende Formen von Tribalismus - die sich in Krisenzeiten extrem<br />

verschärfen können - sind so einerseits als Ausdruck des Antagonismus zwischen Ausbeuter<br />

und Ausgebeuteten zu bewerten (inter-tribalistische Ebene) und andererseits (auf<br />

stammesinterner Ebene) als Beschwichtigungsinstrument zur »Milderung« bestehender Ungleichheit<br />

(siehe dazu Leys 1975, S. 203 und 206).<br />

Ein genereller Hinweis zur Relativierung scheint angebracht bei der Beurteilung des Phänomens:<br />

Formen des Tribalismus sind konkretes Resultat spezifischer historischer (Kolonisierungs-<br />

)Prozesse und der sozio-ökonomischen Folgen der Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse<br />

in Verbindung mit der jeweiligen Herrschaftssuategie des Kolonialregimes.<br />

Sie müssen deshalb jeweils gesondert im nationalstaatlichen Kontext unter Berücksichtigung<br />

dieser Faktoren ideologiekritisch analysiert werden. An grundsätzlichen Texten dazu<br />

Sklar (1967) und Mafe;e (1971).<br />

6 Vgl. dazu auch die Relativierung der von Cabralunter den Bedingungen des nationalen Befreiungskampfes<br />

vollzogenen Aussage durch Freyhold(S. 87). Die Autorin gelangt abschließend<br />

zu der Meinung, daß zwar individuelle Intellektuelle Illusionen hinsichtlich ihrer Klassenposition<br />

haben mögen oder diese sogar in Solidarität mit den unterdrückten Klassen aufgeben.<br />

Die »nizers« als Klasse dagegen wären frei jeglicher selbstmörderischer Tendenz und<br />

tolerieren solche Intellektuelle nur. weil diese dabei behilflich sind, neue Wege zu erschließen<br />

und ihre /I.ktivitäten zu legitimieren (Freyhold. S. 89).<br />

Literaturverzeichnis<br />

A/avi, Hamza: ,>The State in Post-Colonial Societies - Pakistan and Bangla Desh«, in: new left review,<br />

No. 74, July/August 1972, S. 59-8l.<br />

Amin, Samir: The Maghreb in thc Modern World. Algeria, Tunisia, Morocco. Harmondsworth:<br />

Penguin 1970, pp. 256<br />

Autorenko!!ektiv: Ideenkämpfe in Afrika. Asien. Lateinamerika. Frankfurt am Main: Verlag Marxistische<br />

Blätter 1980. 360 S.<br />

Bennholdt- Thomsen, Veronika! Boeckh, l1.lbrecht: "Zur Klassenanalyse des Agrarsektors:<br />

Mexiko«. in: Arbeitsgruppe Bielefelder Entwicklungssoziologen (Hrsg.): Subsistenzproduktion<br />

und Akkumulation. Saarbrücken: Breitenbach 1979. S. 101-173.<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


222<br />

Materialistische Wissenschaftsgeschichte - Eine Umfrage<br />

Kurt Ba}ertz (Bremen), Michael Heidelberger (Bielefeld), Erika Hickel (Braunschweig),<br />

Michael Jäger (Berlin/West), Wolfgang Krohn/Wolfgang v. d. Daele/<br />

Tilman Spengler (Starnberg), Lars Lambrecht (Hamburg), Jürgen Mittelstraß<br />

(Konstanz), Jörg Sandkühler (Bremen), Michael Wolff (Bielefeld)<br />

Die hier veröffentlichten Beiträge entstammen einer Umfrage, die im Frühjahr<br />

1979 durchgeführt wurde und zur Vorbereitung des soeben erschienenen Argument-Sondcrbandes<br />

AS 54 "Materialistische Wissenschaftsgeschichte - Naturtheorie<br />

und Entwicklungsdenken" gedient hat. Der Sonderband enthält eine Reihe<br />

von Fallstudien zur Herausbildung des Entwicklungsdenkens. hauptsächlich in<br />

der Biologie. Wie dort in der konkreten wissenschaftshistorischen Arbeit "am Material".<br />

wird in der Umfrage auf programmariseher Ebene die Vielfalt der Problemstellungen<br />

und Methoden von Wissem,chaftlern deutlich. die sich mit dem<br />

Anspruch einer mmerialistischen Wissenschaftsgeschichtsschreibung auseinandersetzen.<br />

1. Welche Arbeitsschwerpunkte, Forschungsrichtungen, "Schulen" auf dem Gebiet<br />

der Wissenschaftsgeschichte sollten berücksichtigt werden? Wie würden Sie<br />

ihre methodischen Ansätze charakterisieren?<br />

Bayertz: Die Vielzahl der sich auf dem Feld der Wissenschaftsgeschichte bewegenden<br />

"Schulen" läßt sich (der Übersichtlichkeit halber und nicht ohne Überschneidungen)<br />

in drei große Forschungsrichtungen gliedern. die gleichermaßen sinnvoll<br />

sind und daher auch alle berücksichtigt werden sollten:<br />

(a) die traditionelle fachwissemchaftliche Wissenschaftsgeschichte. die sich meist<br />

mit der hi,torischcn Entwicklung einzelner Disziplinen oder mit einzelnen Etappen<br />

oder Epochen der Wissenschaftsentwicklung befaßt (Beispiel: Dijksterhuis'<br />

Darstellung der Mechanisierung des Weltbildes):<br />

(b) die unterschiedlichen philosophisch orientierten <strong>Theorie</strong>n der Wissenschaftsgeschichte.<br />

deren Ziel über die Darstellung wissenschaftshistorischer Abläufe hinam,<br />

ein Verständnis ("Modell"') der Wissenschaft überhaupt ist (Beispiel: Kuhns<br />

<strong>Theorie</strong> wissenschaftlicher Revolutionen):<br />

(c) eine Reihe teils disparater. teils komplementärer sozialwissenschaftlicher Konzeptionen<br />

der Wi,senschaft und ihrer EntWIcklung (Beispiele: Produktivkraft-, Finalisierungs-<br />

oder <strong>Institut</strong>ionalisierungsansatz).<br />

Heide/herger: Auf jeden Fall sollten auch Ansätze b.:rücksichtigt werden. die aus<br />

der analytischen Philosophie erwachsen sind - darunter auch formallogische Methoden.<br />

Keine Buhmänner sollten aufgestellt werden wie: .. Positivismus" oder<br />

. .Idealismus" - Begriffe. deren Bedeutung kein Mensch mehr richtig kennt bzw,<br />

Richtungen. die von keinem mehr in einer ,olchen Form vertreten werden. wie ,ie<br />

im 19. Jhdt. kritisiert wurden.<br />

Hicke/: Um mit Feyerabend zu sprechen: .. evervthing goes". Alle denkbaren ATlsätLe<br />

sollten darautllin überprüft werden. ob sie einer materialistischen Geschichtsschreibung<br />

dienlich sein können. unter der Voraussetzung, daß den historischen<br />

Tatsachen nicht Gewalt angetan v,ird.<br />

Jäger: Ich möchte mich gegen die angebliche Existenz "soziologischer" oder .,sozialökonomischer"<br />

Ansätze wenden. Es dürfte v,ohl kaum einen Ansatz geben,<br />

der nieht sriziologischisozialökonomisch ist in dem Sinne. daß eine Gesellschafts-<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 (cl


22R Materialistische Wissenschaftsgeschichte<br />

<strong>Theorie</strong> und Empirie deutet. Dabei wird nämlich vergessen. daß beide Disziplinen<br />

eine in ihren jeweiligen besonderen Zugangsweisen zu ihrem Gegenstand begründek<br />

Eigenständigkeit haben (die Geschichtswissenschaft ist auch nicht nur die<br />

empirische Basis der SozIOlogie).<br />

HeidelberRer: Da gibt es eine ganz einfache Antwort von Kant. leicht abgewandelt<br />

\on Lakatos: .. Wissen'ichaftstheorie ohne Wissenschaftsgeschichte ist leer. Wissenschaftsgeschichte<br />

ohne Wissenschaftstheorie ist blind".<br />

Hickel: Naturwissenschaftsgeschichte soll die empirische Grundlage <strong>für</strong> wissenschaftstheoretische<br />

Postulate erbringen: umgekehrt: wissenschaftstheoretische<br />

Konzepte. die wissenschaftshistorisch nicht konkretisiert werden. haben - zumindest<br />

<strong>für</strong> Naturwissenschaftler keine - Überzeugungskraft (z.B. Habermas). Andererseits<br />

kann gerade <strong>das</strong> jetzt sich neu artikulierende Interesse an der Naturwissenschaftsgeschichte<br />

nur befriedigt werden. \\ enn verschiedene wissenschaftstheoretische<br />

Ansätze bereits während der Suche nach den und der Erforschung der<br />

Quellen leitende Funktion haben.<br />

Jäger: (a) Bekanntlich setzen sich <strong>Theorie</strong> und Empirie wechselseitig voraus. daher<br />

auch Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte - soweit man letztere<br />

als zu ersterer gehörige Empirie auffaßt. (b) Ich nehme an. daß sich eine Wissenschaftslogik<br />

formulieren lassen müßte. die nicht .. überhistorische Regeln der Wissenschaftlichkeit<br />

feststellt··. sondern .. Regeln und eine Methodologie <strong>für</strong> die nächstell<br />

Schritte der Wissenschaftsgeschichte vorschlägt: <strong>das</strong> aber ist nur möglich nach<br />

erfolgter Analyse des gegebenen Entwicklungsstands" (Kongreßbericht Kritische<br />

Psychologie Bd. I. Köln 1')77. S. 135). Bei dieser Sicht weise sind formale Wissenschaftslogik<br />

und Wissenschaftshistoriografie (nämlich: <strong>Theorie</strong> einer historisch hestimmten<br />

Wissenschaftsformation) ein und <strong>das</strong>selbe. (cl Auf einer ahstrakteren<br />

Ebene mußte es freilich auch eine <strong>Theorie</strong> der Wissenschaftsgeschichte im allgemeinen<br />

geben. Deren Aufgahe würde weniger in der Suche nach .. formationsühergreifender<br />

Erkenntnis" oder nach den .. allgemeinsten Grundge.,etzen der Wissenschaftsentwicklung"<br />

bestehen als vielmehr in der dringend notwendigen Qualifizierung<br />

der <strong>Theorie</strong> wissenschaftlicher Re\olutionen.<br />

Krohn I·.d. Oaele Spengler: Die Beziehungen zwischen Wissenschaftstheorie und<br />

Wissenschaftsgeschichte sind augenblicklich dadurch gekennzeichnet. daß durch<br />

wis,enschaftshistorische Forschung sowohl der logische Positivismus wie auch der<br />

Konstruktivismus einigermaßen erschüttert worden sind. Wissenschaftstheoretische<br />

Alternativen im engeren Sinne giht es nicht. Es ist auch fraglich. ob es sie geben<br />

kann. Denn wenn Wissenschaft ein durch §:esellschaftliche Prozesse ausgegrenzter<br />

und institutionalisierter Bereich der Erkenntnisgewinnung ist. dann ist<br />

ohne Rücksicht auf diese Ausgrenzungsmechanismen eine allgemeine <strong>Theorie</strong> der<br />

\Vissenschaften nicht aufzustellen. Man kann dann nur einerseits Erkenntnistheorie<br />

und Epistemologie betreiben und auf der anderen Seite sozial wissenschaftlich<br />

getragene Wissenschaftsforschung.<br />

Lalllbrecht: Sofern schon wirklich von <strong>Theorie</strong> gesprochen werden kann. dann formuliert<br />

sie <strong>das</strong> richtige Allgemeine gegen die falschen. leeren Abstraktionen. Diese<br />

Richtigkeit erweist sich jedoch nur korrigierend und relativierend am konkreten<br />

historischen Material. dessen Üherprüfung der Abstraktheit die Vorarheit <strong>für</strong> eine<br />

weitere Konkretisierung und Annäherung der <strong>Theorie</strong> darstellt.<br />

Mittelstraji: Das Verhältnis von Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsgeschichte<br />

läßt sich auf ganz unterschiedliche Weise und aus unterschiedlichen Richtungen<br />

charakterisieren. Der wichtigste Gesichtspunkt ist wohl der. Wissenschaft sowohl<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 @


Umfrage 231<br />

5, Welche Bedeutung geben Sie der Wissenschaftsgeschichte <strong>für</strong> die Weiterentwicklung<br />

der materialistischen <strong>Theorie</strong>'!<br />

Barert;: Die wissenschaftshistorische Forschung sollte dazu beitragen, die allgemeine<br />

These von der sozialen Determiniertheit der Wissenschaftsentwicklung zu<br />

prazisieren und damit zugleich einen Baustein <strong>für</strong> eine generelle <strong>Theorie</strong> der Entwicklung<br />

ideeller Systeme liefern.<br />

Heideiberger: Die materialistische <strong>Theorie</strong> iq nur dann eine hessere <strong>Theorie</strong> als<br />

andere, wenn sie die Geschichte der Naturwissenschaft besser erklären kann als<br />

andere <strong>Theorie</strong>n. Bisher hat sie <strong>das</strong> nicht geleistet.<br />

Hickel: Ausschlaggebende: Das Wechselverhaltnis von Basis und Überbau laßt<br />

sich nirgends so differenziert beohachten und hatte nirgends so schwerwiegende<br />

Folgen wie bei der Entstehung, Entwicklung und Auswirkung von "Iaturwissenschaft.<br />

jüger: Solange die Wissenschaftshi


Umfrage 233<br />

Heidelberger: Ablüsun!! der larmovanten romanti"chen und irrationalen Sponti­<br />

Ökologie durch eine philosophisch-systematische <strong>Theorie</strong> der Rolle der Naturwissenschaft<br />

in der (den) Gesellschaft( en).<br />

Hickel: Selb


234 Materialistische Wissenschaftsgeschichte<br />

genetisch reflektiertes Verständnis. Das gilt insbesondere unter normativen Gesichtspunkten<br />

einer möglichen Reorganisation der Wissenschaftspraxis (unter wiederum<br />

methodologischen und teleologischen Gesichtspunkten).<br />

Sandkühler: Die Wissenschaftsgeschichte kann dazu beitragen, die Erkenntnü, einer<br />

theoretisch, wissenschaftspolitisch und bündnispolitisch folgenreichen Tatsache<br />

zu vertiefen und zu verbreitern: die Tatsache, daß grundlegende Widersprüche<br />

einer Gesellschaftsformation auch <strong>das</strong> Wissenschaftssystem einer Epoche kennzeichnen.<br />

Die Dialektik innerhalb des Wissenschaftssystems verlangt nach einem<br />

ganzheitlichen Begriff von .. Wissenschaft", der Totalität im Widerspruch erklären<br />

kann. Der denunziatorische Gebrauch von .. bürgerliche Wissenschaft" wäre dann<br />

nicht mehr möglich (oder nur um den Preis der Selbstisolierung), <strong>das</strong> Konzept der<br />

.. zwei Wissenschaften" und <strong>das</strong> damit verbundene Freund-Feind-Denken würde<br />

als theoretisch und politisch falsch erkannt, die vereinseitigende Subsumtion von<br />

Wissenschaft unter <strong>das</strong> Kapital als Sackgasse kritisiert, Alternativen der Wissenschaftsentwicklung<br />

materialistisch aus Interessen und Praxen von Klassen auf dem<br />

Wege zur Hegemonie analysierbar. An die Stelle häufig nur noch mit Unterstellungen<br />

arbeitender ,,Ideologie"-Kritik träte eine Wissenschaftskritik, die nach Möglichkeits-<br />

und Notwendigkeitsbedingungen von <strong>Theorie</strong>n fragt. Ohne einen dialektischen<br />

Begriff der Wissenschaftsentwicklung können die auch politisch oft entscheidenden,<br />

ebenso oft ungenutzten Positionen der fließenden Übergänge zwischen<br />

Klasseninteressen in der Wissenschaft nicht wahrgenommen werden. Marx<br />

und Engels waren dann schon immer Klassiker und die Revisionisten der 11. Internationale<br />

schon immer Verräter am Marxismus. Dialektik in der Wissenschaftsgeschichte,<br />

Dialektik in der Wissenschaftstheoric.Dialektik in der Wissenschaftspolitik<br />

- sie ermöglicht nicht nur ErkenntI1lssc. sondern auch politisch notwendige<br />

Flexibilität und - nicht zuletzt - Toleranz ohne faule Kompromisse.<br />

Wo/fT Siehe Punkt 2 und 5. Die praktischen und politischen Probleme, die mit der<br />

wissenschaftsgeschichtlichen Forschung zusammenhängen. ,ind m.E. hauptsächlich<br />

ideologischer Art. Man erhofft manchmal von Seiten dieser Forschung Ergebnisse,<br />

die sich in der Wissenschaftspraxis methodisch z.B. zu Zwecken der Wissenschaftsplanung<br />

verwerten lassen. Doch liegen solche Ergebnisse meines Wissens<br />

kaum vor.<br />

7. Worin sehen Sie dic theoretischen und methodischen Hauptprobleme der gegenwärtigen<br />

wissenschaftsgeschichtlichen Forschung".'<br />

Bayertz: Nach meinem Eindruck stehen gegenwärtig drei eng miteinander verbundene<br />

konzeptionelle Fragen im Vordergrund der wissenschaftsgeschichtlichen<br />

Forschung.<br />

(a) Die Frage nach den (vor allem: gesellschaftlichen) Determinanten der Wissenschafbentwicklung,<br />

d.h. nach den Faktoren. die tür Entwicklungsrichtung. Entwicklungstempo,<br />

Entwicklungsform ctc. der Wissenschaft verantwortlich sind: eine<br />

wichtige Rolle spielt in die,em Zusammenhang <strong>das</strong> Problem der ,.Reichweite"<br />

der gesellschaftlichen Determinanten: in welchem Sinne kann von einer I'ormations,pezifik<br />

der Wissenschaft gesprochen werden')<br />

(b) Die Frage nach den gesellschaftlichen Funktionen der Wissenschaft und nach<br />

den Wandlungen dieser Funktionen im Rahmen der gesellschaftlichen Entwicklung<br />

(wobei die aktuelle Frage nach der Bedeutung der Wissenschaft <strong>für</strong> unsere<br />

gegenwärtige Gesellschaft natürlich von besonderer Relevanz ist): eingeschlossen<br />

ist in dieser Frage <strong>das</strong> Problem der Spezifik der Wissenschaft gegenüber den übri-<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 ©


Umfrage 235<br />

gen Formen der geistigen Aneignung der Realität, d.h. <strong>das</strong> Problem der historischen<br />

Genese und Rechtfertigung der hervorgehobenen Stellung der Wissenschaft<br />

gegenüber Kunst, Philosophie etc.<br />

(c) Die Frage nach dem Verhältnis von Geschichtlichkeit und Objektivität der<br />

Wissenschaft. d.h. die Frage, inwieweit der jeweilige historische "Entstehungszusammenhang"<br />

des Wissens auf dessen erkenntnistheoretischen Gehalt durchschlägt<br />

und diesen historisch relativiert. es handelt sich mithin um die Frage nach<br />

den Grundlagen der Rationalität bzw. Objektivität der Wissenschaft. Der spezifische<br />

Beitrag der Wissenschafts geschichte bei der Lösung dieser konzeptionellen<br />

Probleme besteht m.E. darin, daß sie über diese sehr allgemeinen Problemformulierungen<br />

(die Determinanten der Wissenschaft) hinausführen und die auf rein<br />

metatheoretischem Wege nicht zu gewinnenden Gesichtspunkte <strong>für</strong> eine notwendige<br />

Problemschärfung liefern kann.<br />

Heide/berger: Wie bringt man interne und externe Aspekte einer wissenschaftsgeschichtlichen<br />

Epoche organisch unter einen Hut? Die materialistische Richtung<br />

erhebt den Anspruch, dies zu leisten. Nach meinem Gefühl tut sie <strong>das</strong> auf Kosten<br />

der internen Einflüsse, die nur durch "Mikro-Analyse" der innerwissenschaftlichen<br />

Prozesse und nicht durch globale Beschwörung von allgemeinen Zeitgeistern<br />

zu untersuchen sind.<br />

Hicke/: Daß diejenigen Forscher, die die methodischen Mittel beherrschen. um<br />

neue und weiterführende Forschungsergebnisse zu erzielen, kein politisches Interesse<br />

an einer materialistischen Geschichtsschreibung habcn und andererseits die<br />

im Histomat Bewanderten immer nur die bürgerlichen Forschungsergebnisse früherer<br />

Zeiten übernehmen und allenfalls neu servieren.<br />

Krohlu v.d. Dae/eiSpengler: Unser theoretisches Hauptproblern ist die soziologische,<br />

d.h. nicht internalistische Erklärung kognillvcr Eigendynamik in der Wissenschaftsentwicklung.<br />

Aber natürlich lokalisieren wir dieses Problem in dem theoretischen<br />

Zusammenhang, zu erklären, wie durch gesellschaftliche Entwicklung wissenschaftliche<br />

Fortschritte möglich werden und umgekehrt.<br />

Lambrecht: In der mangelnden Klassifikation und theoretischen Begründung der<br />

(bisherigen und notwendigen) Arbeitsteilung zwischen den Einzelwissenschaften<br />

und ihres einheitlichen allgemeinen Wesens (vgl. B.M. Kedrow und P. Ruben).<br />

Daraus resultiert 2. Ressortblindheit und -eifersucht sowie fach- und detailignorante<br />

Allgemeinheitsarroganz, die sich die hinderliche Waage halten. Damit ergab<br />

sich 3. eine Verwilderung der wissenschaftlichen Zivilisation durch stoffliche Ignoranz<br />

und Ideologicverdächtigungen gleichermaßen, die in einem syndikalistischen<br />

Praxis- und Anwendungsfetischismus aus der "unmittelbaren Erfahrung" vernachten,<br />

wonach die Welt nur aus dem Kapitalismus ab unhistorischer uml perhorriszierter<br />

Totalität = "was Jeder weiß" = "Das Kapital" hesteht nach dem bekannten<br />

Motto: "Es gab zwar eine Geschichte, aber es gibt keine mehr .... '.<br />

Mittelstraß: Fragen von Normativität und Faktizität. Damit zusammenhängend<br />

Probleme eines fakTischen Historismus im Wissenschafts- und Wissenschaftstheorieverständnis<br />

(vgl. 2). Ungeklärte methodische und praktische Verhältnisse zwi­<br />


236 Materia/islische W issenschajtsgeschichle<br />

Sandküh/er: a) Im Mangel an theoretischer Begründung von .,Alternativen", die<br />

aufzuspüren z.B. <strong>für</strong> die archivarische Arbeit solange kaum möglich ist. wie sich<br />

die wisscmchaftstheoretische Alternativen-Diskm,sion um Operationalisicrungs­<br />

Fragen herumdrückt. Was macht herrschende, durchgesetztc Wisscnschaftstypen<br />

zu herrschenden, was alternative Typen zu .,bloß alternativen" Erkenntnisformen?<br />

Wie bestimmt sich, was Alternative wozu ist 0 b) Im Mangel an Ciegenstandsbezug<br />

zahlloser Modelle der Beziehung zwischen wissenschaftlicher Tätigkeit<br />

und Gesellschaft. Arbeit ete. e) Darin, daß <strong>das</strong> Extern-Intern-Dilemma noch<br />

immer nicht aufgelöst ist.<br />

Wo/fr Siehe Punkt 3 und 4. Als Beisplel <strong>für</strong> besonders hinderliche wissensehaftstheorcti'>che,<br />

methodologische Vorurteile nenne ich die heute allzusehr gebräuchliche<br />

Unterscheidung zwischen internalistischer und cxternalistischer I listoriographie.<br />

Da die Neigung besteht. Externalismus und Materialismus gleichzmetzen, ist<br />

diese Unterscheidung nicht ohne Folgen <strong>für</strong> die methodischen Verfahrensv.eisen<br />

und Auffassungen materialisti,cher WiS5cnsehaftshistoriographie. Ich halte die,e<br />

Unterscheidung <strong>für</strong> sinnvollllllr in Bezug auf einen bestimmten Forschungsstand.<br />

Nllr in Bezug auf ihn kann man so etwas wie eine innere Vorgeschichte hinreichend<br />

definieren. (Vgl. <strong>das</strong> Methodenkapitel C) meiner "Geschichte der Impetustheorie").<br />

Absolut genommen ist die Unterscheidung Blödsinn, aber ein trickrciehes<br />

Mittel. materialistische Wissenschafl'icIltwicklungstheoric unmöglich zu machen.<br />

Soziale<br />

Medizin IX<br />

(AS 64)<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 Co)<br />

Naturtheorie und Entwicklungsdenken<br />

am Beispiel der Biologie; Naturwissenschaften<br />

und Philosophie; Evolutionstheorie<br />

und Ökologie; Kontroverse: Makro-Evolution,<br />

Gärtner, Gutmann,<br />

Hickel, Hörz, Mendelsohn, Schurig,<br />

Wolff, u.a,<br />

15,50; 12,80 f, Stud, (Abo: 12,80/11,-)<br />

Prävention - Gesundheit und Politik,<br />

Volkskrankheiten; Krebs und Umweltchemikalien;<br />

Krebsregistrierung; Alkohol-<br />

und Tabakmißbrauch; Arbeitswelt<br />

und Herzinfarkt; Automationsmedizin.<br />

Abholz, Borgers, Karmaus, Oerter, u.a.<br />

15,50; 12,80 f. Stud, (Abo: 12,80/11,-)


Eberhard Göbel<br />

Zur sozialen Lage der Studenten *<br />

Das Deutsche Srudentenwerk in Bonn (DSW) hat im Auftrag des Bundesministers<br />

<strong>für</strong> Bildung und \'Vissenschafr (BMBW) zum neunten Male seit 1950 die Daten zur sozialen<br />

Lage der Studenten veröffentlicht. Die im Sommersemesrer 1979 erhobenCl1 Daren<br />

sind im Unterschied zu 1976 ohne größere Zeitverzögerungen vom BMBW freigegeben<br />

worden. In Argument 113 (45-49) wurden die Ergebnisse der achten Sozialerhebung<br />

unter der Berücksichtigung der vorangegangenen Untersuchungen dargestellt, so<br />

daß Im folgenden nur auf neuere Entwicklungstendenzen aufmerksam gemacht wird.<br />

1. Quantlt,ltZl'e Entwicklung der Studentemchaji<br />

Die Zahl der Studenten an wissenschaftlichen Hochschulen hat sich seit 1970 in der<br />

Bundesrepublik verdoppelt: WS 1970/71: 386.000 und WS 1979/80 "714.775 Beziehen<br />

wir die Studenten an Fachhochschulen. Pädagogischen Hochschulen und Verwaltungshochschulen<br />

ein, so wird die Zahl der bundesrepublikanischen SlUdenten 1980<br />

die Millioncngrenze erreichen. Über den weiteren Anstieg der Srudentenzahlcn in den<br />

80er Jahren streiten sich die Bildungsplaner. Für <strong>das</strong> Jahr 1988 werden als Gipfelpunkt<br />

dieser Entwicklung ca. 1,223 bis 1,321 Millionen Srudenten erwartet. Die genaue Zahl<br />

hängt von Faktoren wie 1.B. Studienverkürzung. durchschnittliche Studienverweildauer.<br />

Arbeitsmarktlage der Akademiker. Studierwillige pro Altersjahrgang und nicht zuletzt<br />

von der absoluten Stärke der Jahrgänge ab. fünf Hochschulen bilden zur Zeit bereits<br />

40.000 bzw. 30.000 Studenten aus (München, FC-Berlin, Hamburg. Münster und<br />

P-onn). In dreizehn Hochschulorten ist von zehn Einwohnern mindestens einer ein Student<br />

und in Tübingen erreicht der Anteil der Studenten bereits 27 ,2 % der Stadtbevölkerung<br />

(vgl. Tagesspiegel vom 10.9.1980). Derartige Studentenmassen werden von<br />

25.500 Professoren und Dozenten (darunter nur 1.400 Frauen) unterrichtet. Insgesamt<br />

sind im akademischen Lehrbetrieb 70.000 Menschen tätig (vgl. Tagesspiegel vom<br />

19.7.1980). Der Anteil der Studentinnen an der Studentenschaft hat sich von 1973 mit<br />

23 % auf 35 % (1979) weiter vergrößert.<br />

2. Favorzslerte Fachgebiete<br />

Die Verteilung der Studenten auf die Fachgebiete hat SICh seil 197G nicht veränden.<br />

Die Ingenieur- und Naturwissenschaften werden weiterhin von Männern dominiert.<br />

Umgekehrt sind Kunst und Geisteswissenschaften nach wie vor »Frauenfächet«. Auffallend<br />

ist. daß der Wunsch, Lehrer zu werden. von 31 % (1976) auf 25% (1979), merklich<br />

nachgelassen hat. Die trotz vorhandenen Bedarfs an Lehrkräften ungünstige Lage<br />

auf dem Lehrermarkt hat hier rückwirkend die Berufswünsche beeinflußt.<br />

3. Bzldung der Eltern<br />

Der BJldungsstand der Eltern liegt nach wie vor im Vergleich zum Bildungsstand der<br />

Gesamtbevölkerung um ein Vie/facheJ über dem Bevölkerungsdurchschnitt. Im Vergleich<br />

zur Sozialerhebung 1976 haben sich 1979 nur unwesentliche Veränderungen ergeben.<br />

Jeder dritte Vater und jede sechste Mutter der Studentenpopulariol1 von 1979<br />

hatten Abitur.<br />

4. Beruf der E/tern<br />

Der A ntei! der Studenten aus Arbeiterfamilien als Indikator <strong>für</strong> Chancengleichheit<br />

im Bildungswesen ist mit 14% gegenüber der letzten Erhebung (1976: 13%) fast<br />

Dcr Bundesminisler <strong>für</strong> Bildung und Wissenschaft (Hrsg.): Das soziale Bild der SLUdentt'I1schafl<br />

in der Bundesrepublik Deutschland. 'J. Sozialcrhebung des Deutschen Sludenrenwerks.<br />

Brllln 1980 ("84 S .. br .. koslenlos erhälclichl.<br />

237


Arheitsgruppe- des Projekts »Regionale Sozialgeschichte«·<br />

Neue Regionalgeschichte: Linke Heimattümelei<br />

oder <strong>kritische</strong> Gesellschaftsanalyse ?<br />

Tendenzen einer neuen Regionalgeschichte<br />

1. Warum Regionalgeschichte ?<br />

Identitätskrise, Wertverlust, Orientierungslosigkeit. Entsubjektivierung, Entfremdung<br />

heißen die Schlagworte in der Diskussion über die geistige Situation der bundes,<br />

republikanischen Gesellschaft. Diese- Schlagworte sollen erklären, warum heute trotz<br />

der angeblich weitreichenden materiellen Absicherung Glück und Zufriedenheit der<br />

meisten Bürger keineswegs größer sind als früher. Die Zunahme psychosomatischer<br />

Krankheiten, Rauschmittelkonsum. Jugendkriminalität stellen der Menschlichkeit unserer<br />

Gesellschaft ein schlechtes Zeugnis aus. Was verbirgt sich hinter den genannten<br />

Schlagworten l Wir können hier zwar nicht umfassend die aktuelle gesellschaftliche Situation<br />

diskutieren, doch läßt sich neben anderen Hintergründen eine Ursache der<br />

»geistigen Krise« feststellen, nämlich <strong>das</strong> Fehlen einer Verortung des Individuums in sozialer<br />

und räumlicher Hinsicht. »Verortung« ist notwendig, um so etwas wie eine<br />

menschliche Identität aufbauen zu können. Diese Verortung. diese Verwurzelung wird<br />

jedoch zunehmend von den Anforderungen einer kapitalistischen Gesellschaft in Frage<br />

gestellt und aufgelöst: Erfolg hat hier. wer mobil, flexibel und anpassungsfähig ist; am<br />

besten, man stellt sein Haus erst gar nicht auf ein Fundament, sondern läßt es auf Rädern<br />

wie die Mobil-Hornes in den USA, denn man ist ja eh nur vorübergehend hier.<br />

Tiefergehende Bindungen an Menschen und Räume sind <strong>für</strong> <strong>das</strong> Fortkommen hinderlich.<br />

Das bedeutet nicht, daß es in unserer Gesellschaft keine Formen einer kapitalistischen<br />

Integration der Persönlichkeit. keine »persönliche Identität« gäbe. doch bieten<br />

sich in einer Gesellschaft, in der weit entrückte ökonomische und politische <strong>Institut</strong>ionen<br />

bürokratisch anonym soziale Rollen Vo[- und umdefinieren und in denen der Handelnde<br />

immer mehr an Bedeutung verliert. zunehmend größere Schwierigkeiten, einen<br />

Sinnzusammenhang zu konstruieren, da der Sinn der Handlungen (z.B. im Arbeitsprozeß)<br />

im wesentlichen auf ein System und nicht auf Personen ausgerichtet ist. 1<br />

Verortung und Verwurzelung. die wesentlich <strong>für</strong> die Bildung einer persönlichen<br />

Identität waren, werden durch Mobilitäts- und Anpassungsanforderungen ersetzt. Die<br />

kapitalistische Il1legration der Persönlichkeit versteht sich als Ausbildung von Teilidentitären,<br />

innerhalb derer »Heimat« nur noch dem Konsum- und Freizeitbereich zugeordnet<br />

ist. Andere Teilidentitäten überdecken gleichzeitig den Verlust einer integralen<br />

Verortung: steigender materieller Wohlstand und die befriedigende Erkenntnis. kleines<br />

Rädchen im Großen sein zu dürfen. Wo nun aber keine Verortung, keine Verwurze-<br />

Der Aufsatz ist <strong>das</strong> Produkt einer Arbeitsgruppe des Forschungsprojekts »ReglOnalc Sozialge·<br />

schichte« an der Uni\'ersität Konstanz. Ihr gehören an: Alfred Georg Frei,Joshua Klindtwonh.<br />

Reinhold Reirh, Kurt Richter, Diner Schall. Thomas Warn dorf. Wesenrhche Gedankengänge.<br />

die in diesem AufsatZ skizziert sind. ergeben sich aus der ProJekrarbeit und gemeinsamen Diskussionen<br />

im Forschungsprojekt. Wir danken besonders Rainer Winz und Gen Zang <strong>für</strong> hilf·<br />

reiche Kritik und zahlreiche Anregungen. (Anschrift: Projekt Regionale Sozialgeschichte. Fachbereich<br />

Philosophie und Geschichte. Universität Konstanz. Poslfa,h 77 33. 7750 Konstanz)<br />

D/\S ARGL'MENT 126/1')81<br />

239


240 Arbeitsgruppe des Projekts "Regionale Sozzalgeschzchte«<br />

lung mehr vorhanden ist, da ist der Bezugspunkt <strong>für</strong> <strong>das</strong> Individuum verlorengegangen,<br />

da hat es gewissermaßen seine Heimat verloren. Dieser »Heimatverlust« im Sinne<br />

einer sich auflösenden sozialen und räumlichen Verortung des Individuums ist ein zentraler<br />

Punkt in der ideologischen Krise unserer Gesellschaft und wird auch von den unterschiedlichen<br />

gesellschaftlichen Kräften erkannt2<br />

Die Strategien dagegen sind jedoch höchst unterschiedlich. So propagiert z.B. die<br />

Rechte lautstark die Wiedereinsetzung alter Werte wie Treue, Gehorsam, Autorität, -<br />

empfiehlt den Frauen, zu Kindern, Küche und Kirche zurückzukehren, - fordert<br />

»Mut zur Erziehung« und versucht durch Heimattümelei (Heimattage, Pflege von<br />

Trachten usw.) und Fassadenarchitektur Heimat künstlich wieder herzustellen. Daß sie<br />

in Widerspruch zu der gleichfalls von ihr vorangetriebenen wirtschaftlichen Entwicklung,<br />

die ja gerade Heimat zerstört, gerät, und daß Traditionspflege ohne die erforderliche<br />

gesellschaftliche Basis zur musealen Volksbelustigung verkommt, wird dabei verleugnet.<br />

Die SPD/FDP-Koalition versucht dagegen nach einer kurzen Phase gesellschaftlicher<br />

Reformversuche, die Hoffnungen auf Demokratisierung und neue soziale Verortung<br />

aufkommen ließen, die Legitimation wieder auf dem Weg des wirtschaftlichen Wachstums<br />

mittels »technischen Fortschritts« zu erreichen, wobei die subjektiven Probleme<br />

Sozialingenieuren und der Pharmaindustrie überlassen bleiben.<br />

Anders ist die Haltung der »Neuen Linken«, womit hier relativ undifferenziert ein<br />

breites Spektrum vom linken Flügel von FDP und SPD über orrhodoxie<strong>kritische</strong> Sozialisten<br />

und Kommunisten, Grüne, Bunte und Alternative gemeint ist. Daß sie sich jetzt<br />

mit Heimat beschäftigen, gar einen Kongreß veranstalten, in dem die Kategorie »Heimat«<br />

emen zentralen Diskussionspunkt bildet (Stadt-Land-Dialog in Berlin,<br />

18. -20 .4.1980), reflektiert die zentrale Erfahrung der Linken in den letzten zehn Jahren,<br />

nämlich: daß die Widersprüche der kapitalistischen Gesellschaft insbesondere in<br />

der Krise nicht allein entlang der vermuteten Hauptkonfliktlinien, d.h. in großen industriellen<br />

Kämpfen ausbrachen, sondern vielmehr die Form von Widerstands aktionen<br />

häufig eher konservativ ausgerichteter Bevölkerungsgruppen, wie der Bauern von Wyhl<br />

gegen die Zerstörung der natürlichen Lebenswelt, annahmen. Mit dieser Erfahrung<br />

und mit der gleichzeitig sich vollziehenden Besinnung auf subjektive Bedürfnisse in der<br />

neuen Linken, unter denen auch solchen nach Wärme, Geborgenheit, Zugehörigkeit,<br />

- eben Heimat in einem weiteren Sinne - einen großen Stellenwert einnahmen, wurde<br />

<strong>das</strong> Thema Heimat <strong>für</strong> die Linke zum Problem.<br />

Das war nicht immer so; die Entdeckung der Heimat bedeutet vielmehr einen Bruch<br />

mit einer langen, schlechten Tradition der Linken und der Arbeiterbewegung: Die<br />

deutsche Sozialdemokratie zeigte bereits vor 1914 mit ihrer auf den Zentralstaat ausgerichteten<br />

Strategie wenig Verständnis <strong>für</strong> die in der engeren Heimat, z.B. der Gemeinde<br />

wirkenden Kräftekonstellationen. Für die Linke nach 1945 kam als Schwierigkeit<br />

noch die außerordentliche Belastung der Begriffe Heimat, Boden etc. durch den Faschismus<br />

hinzu und <strong>das</strong> Feld der Beschäftigung mit der Region wurde kampflos der<br />

Rechten überlassen, d.h. deren kulturelle Hegemonie blieb in der Region weitgehend<br />

ungebrochen.<br />

Heimat, wie sie nun von der »Neuen Linken« entdeckt wird und wie sie beispielsweise<br />

Albert Herrenknecht in seinen Thesen zum »Stadt-Land-Dialog« definiert, ist allerdings<br />

gerade nicht die Heimat der Trachtenvereine, der Ganghafer und Co., sondern<br />

DAS ARGUMENT 126; 1981


242 Arbeltsgmppe des Proiekts »Regionale Sozzalgeschichte«<br />

Die kapitalistische Akkumulation nahm keinerlei Rücksicht auf die Natur als Rahmen<br />

eines idyllischen Heimatbegriffes. Für die Erfordernisse der »mobilen Gesellschaft«<br />

sind enge Bindungen an Regionen, bzw. kleinräumige Lebenszusammenhänge hinderlich.<br />

Heimatkunde verlor daher an Bedeutung und Interesse und wurde in den Lehrplänen<br />

durch Sachkunde ersetzt: Die traditionelle Regionalgeschichtsschreibung geriet dadurch<br />

an den Rand der bürgerlichen Bewußtseinsbildung . Zwar verstanden es fast alle<br />

Geschichtsvereine , deren Stellenwert <strong>für</strong> die politisch kulturelle Hegemonie nicht zu<br />

unterschätzen ist, sich mit Universitätsgelehrten zu schmücken und dadurch einen hohen<br />

wissenschaftlichen Anspruch zu dokumentieren, doch sanken insgesamt Engagement<br />

und Mitgliederzahlen der Vereine.8 Die traditionelle Regionalgeschichte paßte<br />

sich nun, um aus dem Abseits zu kommen, den Trends der Geschichtswissenschaft an,<br />

indem sie die Elle der Modernisierungstheorie an die Geschichte von Stadt und Region<br />

anlegte. 9 Vergangenheit war nur noch Hindernis, <strong>das</strong> nicht nur dinglich, sondern auch<br />

im Bewußtsein weggeräumt werden mußte. Eine faktische Geschichtslosigkeit trat neben<br />

künstliche Brauchtumspflege.<br />

Die »Neue Regionalgeschichte« scheint dagegen, wenn man einmal von ihrer Einheit<br />

ausgeht, ihre Identifikationen aus der Kritik, wenn nicht sogar Ablehnung zentralstaatlicher<br />

Wachstumsmodelle und Infrastrukturmaßnahmen und der damit verbundenen<br />

Lebensformen zu ziehen.<br />

3. Neue regionalgeschichtliche Literatur<br />

Der folgenden Besprechung einiger neuerer Ansätze zur Regionalgeschichte anhand<br />

uns zentral erscheinender Bücher soll unsere Position zur Regionalgeschichte vorangestellt<br />

werden, um die den Einzelbesprechungen zugrundeliegenden Bewertungskrite­<br />

[ien verständlicher zu machen. Das Projekt »Regionale Sozialgeschichte«, dem die Autoren<br />

angehören, versteht Regionalgeschichte nicht als weitere Aspektwissenschaft, als<br />

Bindestrich-Geschichte neben der sich zur Zeit aufblähenden Zahl neuer Teildisziplinen<br />

(Familien-, Haushalts-, Alltagsgeschichte etc.), sondern als Versuch einer Reintegration<br />

der verschiedenen Spezialdisziplinen auf der Basis einer umfassenden Analyse<br />

regionaler Gesellschaften. Die zu erforschende historische Wirklichkeit wird dabei als<br />

sich in Widersprüchen fortbewegendes Ganzes gesehen, als konkrete Totalität. Dieser<br />

Ansatz der »Rekonstruktion der konkreten Totalität«, ein »pragmatisch materialistischer<br />

Ansatz«lO, entwickelte sich in Reaktion auf die Erfahrung, daß <strong>Theorie</strong>n größerer<br />

Reichweite die in der empirischen Arbeit gewonnenen Erkenntnisse nicht erklären und<br />

in einen systematischen Zusammenhang stellen konnten. Statt wie meist üblich in regionalen<br />

Verhältnissen nur den Abklatsch, die Widerspiegelung der allgemeinen Tendenzen<br />

und Entwicklungsprozesse zu suchen, soll die regionale Gesellschaft in ihrer relativen<br />

Eigengesetzlichkeit (d.h. aber nicht Losgelöstheit) untersucht und begriffen<br />

werden. Vom harmonistischen Totalitätsbegriff der alten Heimatgeschichte unterscheidet<br />

diesen Ansatz, daß er grundsätzlich die bewegende Instanz der Geschichte in der<br />

materiellen Basis sieht, daß die Totalität keine harmonische, in sich ruhende, sondern<br />

widersprüchliche, konfliktorische, sich fortentwickelnde ist.<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 Cf


Neue Regionalgeschichte 243<br />

3.1. Archäologie demokratischer Traditionen<br />

Die nach dem Scheitern der Studentenbewegung erfolgte Hinwendung zur Geschichte,<br />

insbesondere aber der Versuch, <strong>für</strong> die im Zeichen der Ökologiebewegung<br />

auftretenden Kämpfe in der Provinz ll Vorläufer zu finden, erzeugte eine Flut von Literatur,<br />

die hier schlagwortartig auf den Begriff »Archäologie demokratischer Traditionen«<br />

gebracht und anhand der Bücher der Wagenbach-Reihe und des Sammelbandes<br />

»Vom Hotzenwald bis Wyhl« vorgestellt wird.<br />

Der Wagenbach Verlag führt zahlreiche regionalgeschichtliche Bücher in seinem Verlagsprogramm12<br />

Die Vorstellung historischer Quellen ohne größere Quellenkritik erinnert<br />

stark an die traditionelle Regionalgeschichtsschreibung der alten Geschichtsvereineo<br />

Unterschiedlich ist allerdings der politische Anspruch: Im Gegensatz zu den älteren<br />

Regionalhistorikern wollen die Verfasser der Wagen bach-Geschichte <strong>kritische</strong> Traditionen<br />

wieder ins Bewußtsein rücken. Nach der Klassifizierung von Peukertl3 würde es<br />

sich bei den Wagenbach-Taschenbüchern um Beispiele »sozialistischer Heimatgeschichte«<br />

handeln, die zwar keinen weitergehenden wissenschaftlichen Anspruch erheben,<br />

aber wichtig <strong>für</strong> die Überwindung der Traditionslosigkeit der sozialistischen und demokratischen<br />

Bewegung sind. Dabei werden oftmals vergessene Ereignisse wieder in Erinnerung<br />

gebracht, wie z.B. <strong>das</strong> Wirken deutscher Einwanderer in der nordamerikanischen<br />

Arbeiterbewegung. Wichtige Quellen und Dokumente werden wieder zugänglich<br />

gemacht l4 und falsche Mythenbildungen, wie z.B. der Schinderhannes, werden<br />

kritisch analysiert.<br />

Aktuelle Bezüge sind zwar zu begrüßen, doch manchmal bringen die Wagen bach­<br />

Historiker zu gewagte Verknüpfungen: Lehner unterstellt eine Kontinuität zwischen<br />

der Bewegung der Hotzenwälder Bauern im 18. Jahrhundert und dem Kampf gegen<br />

<strong>das</strong> geplante Atomkraftwerk in Wyhl. Franke huldigt in seinem Büchlein über den<br />

Schinderhannes einer undifferenzierten Modernisierungstheorie (z.B. wenn er meint,<br />

daß die unterprivilegierte Landbevölkerung» auf Seiten des Neuen hätte stehen<br />

müssen«). Piper versucht die Ciompi-Bewegung des 14. Jahrhunderts mit den Begrifflichkeiten<br />

des 19. und 20. Jahrhunderts zu fassen. Die Dimension des Alltags hat in der<br />

»Wagenbach-Geschichte« noch kaum Eingang gefunden. Primärquellen werden nur<br />

selten verarbeitet, bei den meisten Büchern handelt es sich praktisch um Literaturreferate<br />

, die allerdings sorgfältig ausgearbeitet sind. Ein Schritt nach vorn wäre es, nicht<br />

nur die Inhalte, sondern auch die Methoden zu wechseln, um die bis jetzt rein ereignisgeschichtliche<br />

Ausrichtung aufzuheben. Von dem klaren und gut verständlichen Stil<br />

der Wagenbach-Historiker, von denen viele journalistisch oder schriftstellerisch tätig<br />

sind, könnten allerdings die meisten der akademischen Historiker lernen.<br />

Der Sammelband» Vom Hotzenwald bis Wyhl. Demokratische Traditionen in Badem<br />

ging aus einer Tagung hervor, die im Mai 1977 vom Arbeitskreis »Demokratische<br />

Erziehung« ve-ranstaltet wurde. Unter dem Thema: »Dem gemeinen Mann soll die Gewalt<br />

gegeben werden« sollten vor allem Themen ins Bewußtsein der Öffentlichkeit gerückt<br />

werden, »die in Wissenschaft und Unterricht bislang, wenn überhaupt, nur einseitig<br />

und verkürzt behandelt wurden«.l j Der Sammelband bietet zwar »echte Alternativen<br />

zu den gegenwärtig vorherrschenden Lehrinhalten«, indem er Themen aufgreift,<br />

deren Bedeutung lange Zeit verdrängt wurde, man könnte ihn somit als Beitrag zu einer<br />

alternativen Politikgeschichte verstehen. Für die Schulpraxis und zur »selbständigen<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


244 Arbeitsgruppe des Proiekts »Regionale Sozialgeschichte«<br />

Weiterarbeit« wären Hinweise auf vorhandene Quellen und didaktische Hinweise hilfreich<br />

gewesen, um die vom Herausgeber formulierte Forderung zu erfüllen:<br />

» ... der Schüler - oder wer sich sonst mit Geschichte beschäftigt - soll sich mit dem Denken<br />

und Handeln verschiedener Personen oder sozialer Gruppen und ihren gesellschaftlichen Hintergründen<br />

auseinandersetzen. Im allgemeinen wird er sich dann mit einer Position identifizieren,<br />

jetzt aber nicht nur gefühlsmäßig, sondern auch kritisch-reflektiert'. (35)<br />

Problematisch bleibt auch der Titel des Sammelbandes, da durch die Aneinanderreihung<br />

historischer Themen sich kaum im Zusammenhang stehende historische bzw. demokratische<br />

Traditionen erkennen lassen.<br />

3.2. lokalgeschichte - lokale Geschichten<br />

Es ist kennzeichnend <strong>für</strong> die Situation des Fachs Geschichte, daß wir hier auf zwei<br />

Arbeiten von Volkskundlern zurückgreifen müssen, die »Alltagsgeschichte« und »Geschichte<br />

von unten« thematisieren. Es ist vor allem ihre Art, sich mit Sympathie ihrem<br />

Forschungsgegenstand zu stellen, und zu versuchen, ihn aus seiner Logik heraus zu rekonstruieren.<br />

Um die Rekonstruktion des bäuerlichen Lebenszusammenhangs vor der Durchsetzung<br />

des Kapitalismus auf dem Lande geht es UtzJeggle in seiner Arbeit »Kiebingeneine<br />

Heimatgeschichte« .16 Ausgangspunkt Jeggles und seiner Mitarbeiter war eine<br />

volkskundliche Untersuchung der gegenwärtigen Dorfstrukturen Kiebingens, einem<br />

kleinen Dorf in der Nähe von Tübingen. Die durch die Methoden der Befragung und<br />

der teilnehmenden Beobachtung gewonnenen Erkenntnisse ließen jedoch zu viele Fragen<br />

offen und erlaubten keinen Einblick in den spezifischen »Sinn« der Kiebinger<br />

Welt, sodaß eine historische Quellenuntersuchung anhand der Akten aus Gemeinde<br />

und Staat <strong>für</strong> den Zeitraum 1790-1900 angeschlossen wurde. Jeggle versucht durch die<br />

Analyse der verschiedensten Aspekte dörflichen Alltags zum »Sinn« der Kiebinger<br />

Welt, zu dem die Kiebinger in allen ihren Handlungen bewußt oder unbewußt bestimmenden<br />

Imperativ vorzudringen. Diesen sieht er in der Subsistenzsicherung mittels der<br />

bäuerlichen Arbeit. Aus diesem Grund erhält der Boden als wichtigste und nicht vermehrbare<br />

Ressource bäuerlichen Wirtschaftens eine besondere Bedeutung, was sich in<br />

allen Bereichen von Produktion und Reproduktion (von der Herbstordnung über <strong>das</strong><br />

Heiratsverhalten, die Kindersterblichkeit bis hin zur Erbverteilung) nachweisen läßt.<br />

Jeggle verfolgt in seiner Analyse ein hermeneutisches Verfahren, indem er von der<br />

Außenperspektive (Betrachtung des Dorfes als Ganzes) zur Innenperspektive (bis hin<br />

zur Analyse der psychischen Strukturen der Kiebinger) fortschreitet. Er entdeckt dabei,<br />

daß unter der scheinbaren Geschlossenheit und Einheitlichkeit des Kiebinger Lebens<br />

große Widersprüche sowohl innerhalb der Familien, als auch zwischen den verschiedenen<br />

Familien existieren. Diese Widersprüche, die sich häufig in einem ambivalenten<br />

Verhältnis von Kooperation und Konkurrenz ausdrücken, haben jedoch keine den<br />

dörflichen Lebenszusammenhang sprengende Kraft, da die Sozialisation der Kiebinger<br />

einer möglichen Individualität enge Grenzen setzt und die Kiebinger dazu bringt, richtiges<br />

Verhalten nicht abstrakt, sondern situativ zu definieren, - im Laufe ihres Lebens<br />

äußerst verschiedene Rollen mit verschiedenen Anforderungen zu übernehmen.<br />

Jeggle versteht es meisterhaft, den inneren Zusammenhang, oder um es mit Thompson<br />

zu sagen, die »soziale Logik« Kiebingens herauszuarbeiten und plastisch (mittels<br />

Familienrekonstitution und Spaziergang durchs Dorf) darzustellen. Er verfällt<br />

DAS ARGUMENT l26/198l :9


Neue Regiona!ge.fchichte 245<br />

weder der modcrnisierungstheoretischen Verdammung der vorkapitalistischen Zustände<br />

als irrational, noch einer unter Volkskundlern so beliebten Idyllisierung und Überhöhung<br />

als heile und nicht entfremdete Welt, sondern sieht die dörfliche Gemeinschaft<br />

als »Not- und Terrorzusammenhang« . ,',10dernisierung war zwar ein Ausweg aus<br />

dn ökonomischen Sackgasse, in der sich Kiebingen Ende des 19. Jahrhunderts befand,<br />

verursachte jedoch auch bedeutsame soziale und psychische Kosten.<br />

Kritisch anzumerken wäre die in bestimmten Bereichen isolierte Sehweise J eggles, In<br />

dn die zunehmende Staatstätigkeit kaum Raum einnimmt. Kiebingen erscheint als ein<br />

fast völlig von der Außenwelt abgeschlossenes Exotikum. - die Interdependenz von reglOnaler<br />

und Makrogesellschaft wird somit mcht angemessen berücksichtigt. Die<br />

(durchaus vorhandenen) Bezüge zur allgemeinen Krise der bäuerlichen Lebensweise im<br />

19. Jahrhundert werden nur ansatzweise hergestellt. Kiebingen erscheint so als ein Spezifikum,<br />

<strong>das</strong> es in dieser Ausschließlichkeit wohl nicht war.<br />

L'm die »Kultur und Lebensweise der Unteren Stadt im 19. Jahrhundert« geht es einem<br />

Autorenkollektiv der Tübinger Volkskundler in ihrem Band ))Das andere Tübwgen"<br />

l' Der Band dokumentiert in Montagetechnik auf überschaubarem Raum <strong>das</strong><br />

Schicksal derjenigen, die lange Zeit in regionalgeschichtlichen Veröffentlichungen eher<br />

einen exotischen Rang, als einen real-kulturellen Stellenwert hatten. Es geht um die<br />

»vielen und vermeintlich Namenlosen. die einfachen Leute. die mehr schlecht al; recht von ihtet<br />

Hände Arheit gelebt - und dennoch eine eigene Kultur geschaffen haben: Kultur als bestimmte<br />

Lebensweise. mit der <strong>das</strong> Leben unter vorgegebenen Bedingungen bewältigt und gestaltet<br />

wird: Kultur auch als Grundlage <strong>für</strong> die sog. 'höhere Kuhur' . die allein in den Büchern erscheint<br />

und dennoch nicht denkbar ist ohne die Arbeit derer. die den 'Herren' <strong>das</strong> Studieren.<br />

:;achdenken. Erfinden und Gestalten ermöglichten.« (9)<br />

Die Autoren brechen also mit einem Kulturverständnis, <strong>das</strong> die Kultur der Unterschichten<br />

als einen Abklatsch der bürgerlichen Kultur versteht und ihr keinen Eigenwert<br />

zuspricht.<br />

Der Band zeigt. wie die ökonomische Basis die weiteren Lebensbereiche entscheidend<br />

fundiert, dabei wird jedoch nicht linear schematisch, von den existentiellen<br />

Grundlagen aus ableitend, betrachtet, sondern eine gewisse Eigenständigkeit und Eigendvnamik<br />

der Kultur und Lebensweise eingeräumt. Widersprüche und Brüche können<br />

somit ungeschmälert als wichtige Bestandteile, wenn nicht gar als Notwendigkeiten<br />

historisch kultureller Entwicklungstendenzen erscheinen. Insgesamt wirkt sich positiv<br />

aus. daß die Publikation aus einer Ausstellung hervorging, wobei besonders hervorzuheben<br />

ist, daß auch die Bevölkerung selbst mItgearbeitet hat, indem sie Informationen,<br />

Fotos. private Quellen etc. zur Verfügung gestellt hat.<br />

Gewisse Schwächen des Bandes bestehen in der zu homogenen und kontliktfreien<br />

Darstellung des Verhältnisses der Weinbauern untereinander. sowie in der mechani,<br />

sehen Übertragung des Bevälkerungswachstums aus der gesamt-nationalen Statistik.<br />

Auch die Häufung des eingefügten Quellenmaterials nimmt stellenweise gegenüber<br />

der Analyse zuviel Raum ein. Der Band ist jedoch insgesamt aufgrund der konzeptionellen<br />

Auffassung der Tübinger empirischen Kulturwissenschaftler und der Art der<br />

Vermittlung ein Novum in der neueren Kulturgeschichtsschreibung der BRD.<br />

:3.:3. Regionalgeschichte der Arbeiterbewegung<br />

Gerade in der Regionalgeschichte der Arbeiterbewegung ist in der Vergangenheit viel<br />

zu oft der grobe Leisten nationaler Partei- und Organisationsgeschichte an die regionale /


246<br />

Arbeitsgruppe des Projekts »Regionale Sozialgeschichte"<br />

lokale Entwicklung angelegt worden. So kann Peukert18 feststellen, - daß die soziale<br />

Lage der Arbeiterklasse nur in sehr allgemeinen Zügen erforscht sei, die kaum Aussagen<br />

über den Zusammenhang von sozialer Lage und politischem Handeln erlauben, - daß<br />

die Frage der inneren Struktur der Arbeiterklasse und ihrer Organisationen noch weitgehend<br />

ungeklärt sei, und - daß die Analyse der Vermittlungen von Führung und Basis<br />

notwendig sei. Diese Defizite können nur durch regionale Untersuchungen beseitigt<br />

werden, die allerdings ihre Kriterien und Kategorien nicht einfach von der nationalen<br />

Ebene übernehmen dürfen, sondern vielmehr am Gegenstand selbst entwickeln müssen.<br />

Einen Wendepunkt in der Historiographic der Arbeiterbewegung stellt <strong>das</strong> Buch von<br />

Erhard Lucas »Zwei Formen von Radikalismus in der deutschen Arbeiterbewegung"<br />

darI'! Lucas will die äußerst verschiedenen Formen des Arbeiterradikalismus in Harnborn<br />

und Remscheid während der Novemberrevolution erklären und geht (heute schon<br />

fast ein Gemeinplatz, damals jedoch völlig neu) davon aus, »daß es bei weitem nicht<br />

genügt, Momente der Betriebssituation zu untersuchen, sondern daß alle Bereiche<br />

der proletarischen Lebenswirklichkeit erfaßt und miteinander in Beziehung gesetzt werden<br />

müssen


Neue Regionalgeschichte 247<br />

In diesem Sinne werden ihrer Meinung nach in der traditionellen Arbeitergeschichtsschreibung<br />

der I'ortschrittsbegriff. der Klassenbegriff. der Begiff des Klassenbewußtseins<br />

und der Arbeiterbewegung gebraucht.<br />

Die beiden Haupttede der Arbeit bestehen in der Rekonstruktion zweier Arbeitskämpfe<br />

und ihrer Hintergründe: es geht einmal um die Zerstörung einer Schermaschine<br />

in der Webstadt Eupen 1823 und zum anderen um eine'1 Streik der Solinger Schleifer<br />

1826. Beide Studien bestechen durch ihre, die Ereignisse sehr detailliert nachvollziehende,<br />

ihre sozialen, wirtschaftlichen und politischen Hintergründe geschlossen analysierende<br />

Methodik. Taubert und Henkel gelingt es, den FoftSchrittsbegriff und die damit<br />

verbundene Charakterisierung der Maschinenstürmer als »fortschrittsfeindlich« infrage<br />

zu stellen, und zu zeigen, wie ohsolet Bewertungen sind, die kritiklos Industrialisierung<br />

und Technisierung als fortschrittlich. da sich durchsetzend bestimmen. Sie<br />

durchhrechen zudem die Perspektive von Arbeiterbewegungsgeschichte als Geschichte<br />

der etablierten Arbeiterorganisationen; indem sie die Zusammensetzung der Arbeiterschaft<br />

und die Gründe ihrer }}Bewegung« aufrollen. zeigen sie, daß neben der Arbeiterbewegung<br />

in der »Bewegung von Arbeitern« schon lange vor der 48er Revolution Arbeiterbewegung<br />

existierte. Positiv an dieser Arbeit ist, daß es den Autoren geilIlgt, aufgrund<br />

einer genauen und umfassenden Detailuntersuchung Korrekturen an Geschichtsbildern<br />

anzubringen, die aus Globalanalysen entstanden sind und allzu leicht<br />

Idealisierungen und funktionalisierte Ex-post-Interpretationen produzieren.<br />

Die »Theoretisierung« und Kritik ist jedoch allzu grobmaschig geraten. Tauben und<br />

Henkel machen es sich mit der Auswahl der von ihnen kritisierten Arbeiten (v.a. marxistischer<br />

Historiker) leicht, sie bauen Popanze der marxistischen Geschichtsschreibung<br />

auf. um ihre Angriffe nur recht drastisch zu gestalten. Sie berücksichtigen kaum. daß es<br />

hier seit eimger Zeit neue Entwicklungen und Lernprozesse gibt. 21 Mit der Ablehnung<br />

zentraler Begnffe marxistischer Gesellschaftsanalyse (unter stillschweigender Beihehaltung<br />

einer materialistischen Methodik) schütten sie zudem <strong>das</strong> Kind mit dem Bade aus.<br />

Sie häteen besser fragen sollen, wie dieses Instrumentarium, mit dem sie, ohne es zu<br />

benennen, ja auch selbst hantieren, im Rahmen einer })neuen Reglonalge"hichte« -<br />

gereinigt von politischen Idealisierungen - konstruktiv verwandt werden kann.<br />

3.4. Geschichte des Widerstandes<br />

Über die Geschichte des Widerstandes im III. Reich zu schreiben, hieß bis vor wenigen<br />

Jahren noch fast ausschließlich. sich mit dem 20. Juli zu befassen. Auch <strong>für</strong> die regionale<br />

Geschichtsforschung war der lokale der regionale Widerstand - wie überhaupt<br />

<strong>das</strong> Thema Nationalsozialismus - kein Gegenstand. So hat sich zum Beispiel in Stuttgart<br />

unlängst ein Meinungsstreit über die »Chronik der Stadt Stuttgart« entwickelt.<br />

Nachdem die Aufarbeitung des l\;ationalsozialismus nahezu dreißig Jahre hinausgeschoben<br />

worden war, kam es zu einer heftigen Kontroverse über die Frage, ob <strong>das</strong> Werk<br />

nach Ansicht von Oberbürgermeister Rommel und seinem Archivdirektor >,im Stile einer<br />

von Tag zu Tag und von Jahr zu Jahr fortschreitenden Auflistung von Ereignissen«<br />

verfaßt sein müsse, oder ob, wie andere Stadträte fordern, »auf eine wertende Einordnung<br />

der Geschehnisse nicht verzichtet werden dürfte«. Auch die Frage der Quellenauswahl<br />

war Gegenstand der Kontroverse. Dem Archiv wurde vorgeworfen, bei seinen<br />

Nachforschungen auf wichtige Quellen, wie die persönliche Anhörung von noch lebenden<br />

Mitgliedern des Widerstandes, verzichtet zu haben. Der Meinungsstreit zeigt<br />

DAS ARGL\1F\T 126/1981


248 ArbeitsgrujJjJe des Projekts »Regzonale Sozialgeschichte«<br />

schlaglichtartig die Bedeutung von Lokal- und Regionalgeschichte <strong>für</strong> die politischkulturelle<br />

Hegemonie, <strong>das</strong> Porential und die politische Brisanz, die in einer lokal- und<br />

regionalhistorischen Aufarbeirung des Widerstandes im Nationalsozialismus liegen,<br />

Um die Aufarbeirung des Widerstandes in Ostfriesland geht es Poppinga u,a, in den<br />

1977 erschienenen »BlOgraphien aus dem Widerstand«, Poppinga und seine Mitarbeiter22<br />

interessiert weniger die akademische Diskussion der Historiker über den Widerstand<br />

und neue sozialgeschichtliche Methoden seiner Erforschung, vielmehr verfolgen<br />

sie einen politischen Anspruch, der letztlich auch Grundlage ihrer Methode wird: sie<br />

wollen, »daß hier eine schweigend gehaltene Minderheit (die kleinen Leute des sozialistischen<br />

und kommunistischen Widerstandes) Rederecht erhält.« (10)<br />

"Wir stellen Beispielhaftes zum ökonomischen. sozlalen. politischen Ostfriesland vor - so wie<br />

es sich heute im Bewußtsein von Ostfriesen darstellt. Es ist Sozialgeschichte, nicht wie sie von Archiven<br />

ausschnittweise konservlert wird, sondern wie sie sich in <strong>das</strong> Bewußtsein handelnder Menschen<br />

eingeprägt, erhalten hat.« (11)<br />

Das Buch schildert vor dem Hintergrund der Lebensbedingungen der Bevölkerung<br />

im späten 19. und 20. Jahrhundert den Widerstand v.a. linker Arbeiter, Bauern und<br />

Angestellter in Ostfriesland gegen <strong>das</strong> Naziregime, Die Darstellung basiert nicht primär<br />

auf Archivmaterial. sondern hauprsächlich auf Interviews, die die Autoren mit<br />

Überlebenden des Widerstandes gefühn haben. Die Arbeit ist in drei Hauptkapitel gegliedert:<br />

die allgemeinen wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen und <strong>das</strong> Alltagsleben<br />

der Region, die polirische Kulrur bis 1933 und der Widerstand. Ein kurzes Schlußkapirel<br />

zur pol irischen Kulrur nach 1945 schließt sich an, <strong>das</strong> zeigt, wie aktuell und politisch<br />

notwendig die Hebung dieser verschütteten demokrarischen Traditionen gerade<br />

heute ist (etwa wenn man hört, daß die Verfolgten von damals auch heute noch unter<br />

sozialen und ökonomischen Pressionen leiden müssen).<br />

Kurze einführende Darstellungen der Autoren zu den einzelnen Kapiteln verbinden<br />

sich mit den thematisch geordneten Interviewsequenzen. Obwohl man die Segmentierung<br />

und Umgruppierung des Interviewmaterials zu verschiedenen thematischen<br />

Blöcken bedenklich finden kann, sind die »Biographien aus dem Widerstand« doch ein<br />

sehr gelungenes Beispiel <strong>für</strong> die produktiven Möglichkeiten, die in der »oral history« als<br />

einem Ansatzpunkt <strong>für</strong> regionale Gesellschaftsanalyse liegen. Beeindruckt hat uns, wie<br />

<strong>das</strong> moralische und politische Engagement der Autoren sie folgerichtig zur adäquaten<br />

Methode hat greifen lassen: sie haben nicht zum wiederholten Mal über den Widerstand<br />

geschrieben, sondern jene unterdrückte Minderheit des Widerstandes zu Wort<br />

kommen lassen:<br />

"Wir waren oft die ersten, die die alten Genossen nach ihren Erinnerungen und Erfahrungen<br />

gefragt haben. Das ist traurig und bezeichnend. Traurig, weil wertvolle Erfahrungen verloren gehen.<br />

Wenn es gelänge. unser Bewußtsein frei von Wissen über den Widerstand zu halten, wäre<br />

der \'Viderstand nicht nur weitgehend erfolglos gewesen, er wäre auch vergebens, wäre unnütz geleistet.<br />

Die Gestapo würde triumphieren noch lm)ahre 1977. Bezeichnend ist es. weil der Widerstand<br />

gegen den Faschismus nicht zu den staatlich gepflegten Traditionsbeständen gehört. Stauf<br />

fenherg, Goerdeler. Rammel: ja: Geschwister Scholl: gerade noch: aber Widerstand von Linken)<br />

Das Wissen darüher fördern hieße doch auch, die von unserer Öffentlichkeit heftig betriebene<br />

Aussperrung sozialistischer Positionen zu unterlaufen.« (10)<br />

DAS ARGCME:\T t26/ 198t


Neue Regionalgeschichte 249<br />

4. Gesellschaftsanalyse und Totalität:<br />

zu den Perspektiven einer »neuen« Regionalgeschichte<br />

Wenn wir die skizzierten Arbeiten insgesamt betrachten, können wir durchaus variiErende<br />

methodische Ansätze und bei ihren Autoren auch verschiedene wissenschaftliche<br />

»Herkunftsorte« feststellen. Trotzdem verbindet sie mehr als die Konzentration auf<br />

geographisch begrenzte Untersuchungsräume. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt ist die<br />

implizite oder explizite Kritik »herrschender« Geschichtsauffassungen; derjenigen, die<br />

nur <strong>das</strong> sich Durchsetzende, Erfolgreiche. Herrschende im Blick haben und es zur<br />

zwangsläufigen Entwicklung stilisieren. Dieser Ausgangspunkt ist nicht neu: Bereits<br />

Walter Benjamin kritisierte in seinen »Geschichtsphilosophischen Thesen« eine Geschichtsschreibung<br />

und politische Sehweise. die von der technischen Entwicklung automatische<br />

Befreiung erhofft. Rexroth formulierte in Anlehnung an Benjamin: »Wo nicht<br />

die Geschichte des Zwangs und die Wendepunkte, an denen es hätte anders laufen<br />

können, den Unterdrückten, wie bruchstückhaft auch immer, parat ist. bleibt es bei<br />

Empörung. die in Stumpfheit mündet. Aktion enthälc jenes' So soll es nicht weiterlaufen',<br />

mit dem noch in der Juli-Revolution Uhren durch Schüsse angehalten wurden.«23<br />

Die Aufforderung, erlebte Zwänge, Wendepunkte, »hinter dem Rücken der Beteiligten<br />

abgelaufene Entwicklungen« wieder an die Oberfläche zu bringen. Geschichte in<br />

ihrer subjektiven Prägung und ihrem Potential an abgebrochenen. verschütteten Möglichkeiten<br />

wiederzuentdecken, versuchen die neuen und <strong>kritische</strong>n Ansätze der Regionalgeschichte<br />

einzulösen. Daß die Diskussion darum stellenweise in einer breiten Öffentlichkeit<br />

abläuft2' . zeigt. welche Bedeutung auch außerhalb der interessierten Historikerkreise<br />

v.a. in weiten Teilen der Linken Begriffe wie Alltag und historische Subjektivität<br />

gewonnen haben.<br />

Die Grundlagen <strong>für</strong> diese Diskussion sind bereits vor etlichen Jahren durch englische<br />

und französische Beiträge gelegl worden 2j Doch es brauchte lange. bis dieses Potential<br />

erkannt wurde. Die Hinwendung zum Studium von Basisprozessen lag - neben den<br />

politischen, sozialen Gründen - auch am Versagen globaler sozial- und wirrschaftsgeschichtlicher<br />

Analyse-Schulen der sechziger Jahre.<br />

Die orthodox-marxistische Geschichtsschreibung vermochte <strong>das</strong> Ausbleiben bereits<br />

poslUlierter Gesellschafts- und Lebensreform nicht zu erklärer:. Bürgerliche Modernisierungstheorien.<br />

die bisher Geschichte unter der Prämisse eines fast naturprozeßhaften<br />

industriellen Fortschritts betrachteten. standen der massiven Infragestellung industriegesellschaftlicher<br />

Normen fassungslos gegenüber.<br />

Die Kritik an diesen traditionellen historischen Linearansätzen richtet SlCh gegen deren<br />

Inhalte und die dadurch bedingten Methoden: da diese hochaggregienen Konzepte<br />

einer linearen historischen Entwicklung die Widersprüchlichkeit und Gebrochenheit<br />

gesellschaftlicher Entwicklung entweder nicht erkennen, oder sie nicht <strong>für</strong> geschichtsrelevant<br />

halten. sind sie nicht in der Lage. diese in den Tiefen des Alltags methodisch zu<br />

erfassen. So produzieren sie entweder idealistische Interpretationen historischer Vorgänge<br />

(wie es etwa die bisherigen »Kulturkampf«-Thesen taten, die die materiellen<br />

Hintergründe kaum beachteten)26. oder mechanistische Modelle gesellschaftlicher Entwicklung.<br />

Diese sind mechanistisch nicht nur im Sinne einer »Durchsetzung des technischen<br />

und damit sozialen Fortschritts« in der bürgerlichen und sozialdemokratischen<br />

Geschichtsschreibung, sondern auch in der sozialistischen Geschichtsschreibung, die<br />

DAS ARGL\.1E:\.T 126iJl)Hl 'S:


Günther Bachmann<br />

Sozialistische Umweltpolitik<br />

Kommentierte Bibliographie: Umweltfragen (6)<br />

1. Vorbemerkung<br />

253<br />

In den sozialistischen Ländern ist seit Ende der sechziger Jahre die Frage der langfristigen<br />

Erhaltung und Entwickung der natürlichen Ressourcen in zunehmendem Maße<br />

auf die politische und wissenschaftliche Tagesordnung gerückt. Entstehung und Verlauf<br />

der sozialistischen Umweltpolitik werden stark von den internationalen Verflechtungen<br />

und Systemauseinandersetzungen geprägt. Die philosophisch, wirtschaftswissenschaftlieh<br />

und planungspolitisch geführte Diskussion ist durch drei Etappen charakterisiert,<br />

die sich abstrakt beschreiben lassen als Etappe der<br />

ersten pragmatischen Bewältigungsversuche der Umweltprobleme;<br />

wissenschaftlichen Problementfaltung;<br />

der öffentlichen Erörterung dieser Diskussionen sowie der verstärkten Bemühungen<br />

um produktionsrelevante Umsetzung ihrer Ergebnisse.<br />

Die sozialistische Umweltdebatte wird zunächst in ihrer Entstehung und methodischen<br />

Grundlegung dargestellt. Die Entfaltung der ökologischen Diskussion wird nachvollzogen,<br />

indem die einzelnen Themenschwerpunkte mit ihrer unterschiedlichen<br />

Problemwahrnehmungs- und Problembewältigungskapazität aufgezeigt werden. Sie<br />

sind insofern geordnet, als sie inhaltlich und zeitlich aufeinander aufbauen.<br />

2. Begründung und methodische Grundlagen<br />

Nowikow, R.A.: Die Zusammenarbeit im Bereich des Schutzes und der Verbesserung<br />

der Umwelt. In: Proektor, D.M. (Leiter des Autorenkollektivs): Europäische Sicherheit<br />

und Zusammenarbeit: Voraussetzungen, Probleme, Perspektiven. Verlag<br />

Progreß, Moskau 1978.<br />

Leonhardt, A/ji-ed und Gerhard Speer: Umweltreproduktion im staatsmonopolistischen<br />

Kapitalismus. Zur Kritik bürgerlicher Konzeptionen einer marktwirtschaftlichen<br />

Lösung des Umweltproblems. Reihe: Zur Kritik der bürgerlichen Ideologie Nr.<br />

79, Verlag Marxistische Blätter GmbH, Frankfurt IM. 1977<br />

(109 S., br., 4,20 DM).<br />

Maier, Harry: Gibt des Grenzen des ökonomischen Wachstums? Reihe: Zur Kritik<br />

der bürgerlichen Ideologie Nr. 78, Akademie-Verlag, Berlin (DDR) 1977 (82 S., br.,<br />

3,50 M).<br />

Der Mensch und seine Umwelt. Rundtischgespräch sowjetischer Wissenschaftler, veranstaltet<br />

von Voprossy filosofii; abgedruckt in: Sowjetwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliehe<br />

Beiträge, Verlag Kultur und FortSchritt, BerlinlDDR 1973, 26. Jahrgang,<br />

Heft llff.<br />

Buhr, Manfred, und Günter Kräber (Hrsg.): Mensch Wissenschaft Technik. Versuch<br />

einer marxistischen Analyse der wissenschaftlich-technischen Revolution. Pahl-Rugenstein<br />

Verlag, Köln 1977 (345 S., br., 14,80).<br />

Ihre Entstehung verdankt die sozialistische Umweltdebatte einer Reihe von Faktoren,<br />

deren gemeinsamer Hintergrund der globale Charakter der Krise der ökologischen Reproduzierbarkeit<br />

ist. Das Umweltproblem wird daher in mindestens drei Bereichen thematisiert:<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 Cf;


254 Günther Bachmann<br />

- Mit den Begriffen »Ökologische Sicherheit« und »internationale ökologische Ethik«<br />

beschreibt der sowjetische Autor R.A. Nowikow die ökologischen Probleme als notwendigen<br />

Teil der internationalen Friedens- und Entspannungspolitik. Die stürmische Entwicklung<br />

der Produktivkräfte v. a. in Europa, die große Staatendichte und der weltweite<br />

Charakter der ökologischen Krisenphänomene - dies alles führt zu der Auffassung,<br />

daß im "internationalen Leben eine neue Realität entstanden ist, die durch die Einheit<br />

und Unteilbarkeit der ökologischen Sphäre der Erde hervorgebracht wurde« (Nowikow.<br />

321). Nowikow sieht die Zukunft dieses Problems in der auch durch die Ökologie zu<br />

leistenden Materialisierung der Entspannungspolitik. In der Auseinandersetzung mit<br />

den bisherigen Abkommen und Vereinbarungen zeigt er deren Unzulänglichkeit sowie<br />

die Ansatzpunkte einer Politik der ökologischen Sicherheit auf.<br />

- Die zweite wichtige Begründung der sozialistischen Umweltpolitik und -diskussion<br />

ist die ideologische Systemauseinandersetzung. Leonhardt und Speer analysieren<br />

die westdeutsche Umweltpolitik, vorrangig unter sozialökonomischen Aspekten, Maier<br />

beschäftigt sich mit den Nullwachstums-<strong>Theorie</strong>n des Club of Rome.<br />

- Die dritte Entstehungskomponente ist die Frage der Lösung der eigenen Umweltprobleme;<br />

dieser Fragestellung soll ausschließlich nachgegangen werden.<br />

Eine erste Übersicht über die Vielfalt ökologischer Probleme im Sozialismus liefert<br />

der »Club of Moscow«, ein von der sowjetischen Zeitschrift Voprossy filosofii 1972 veranstaltetes<br />

Rundtischgespräch sowjetischer Wissenschaftler. Die Wissenschaftler äußern<br />

sich zu wesentlichen Ursachen und Bewältigungsformen der ökologischen Krise im Sozialismus.<br />

Dabei werden recht unterschiedliche und teilweise auch überraschend »grüne«<br />

Ansichten vertreten. wie z.B. jene, daß <strong>das</strong> Problem nicht ursächlich im Stoffwechsel,<br />

sondern im Wachstum und im technisch orientierten Weg der Gesellschaft gesehen<br />

werden müsse und die Möglichkeit eines stationären Zustands der Menschheit im System<br />

der Natur erwogen werden solle. Lesenswerte Denkansätze finden sich überdies zu<br />

den Themen Ökologie und Bedürfnisse. Ökologie und Medizin.<br />

Die methodische Grundlegung erfährt die Problem-Identifizierung 1973. als sowjetische<br />

Wissenschaftler den Versuch unternehmen. <strong>für</strong> den Weltkongreß der Philosophie<br />

in Varna eine umfassende Charakteristik der allgemeinen Bewegungsgesetze von Gesellschaft,<br />

Natur und Produktion ZU liefern: Der Begriff der wissenschaftlich-technischen<br />

Revolution (WIR) erlaubte es in methodischer und analytischer Hinsicht, die gegenwärtige,<br />

widersprüchliche Entwicklung in den Wissenschaften. in Technik, Produktion<br />

und Umwelt, sowie Sozialstruktur und Bedürfnisentwicklung zu erklären. Wenngleich<br />

die Begriffsbestimmung nicht voll in ihrer Bedeutung <strong>für</strong> die ökologische Fragestellung<br />

untersucht wird, so wird doch deutlich genug, daß Ökologie nicht isoliert von<br />

Gesellschafts- und Produktivkraftentwicklung betrachtet wird.<br />

3. Umweltpolitik als Aufgabe des traditionellen Naturschutzes und der Landespflege<br />

Neef E., und Vera Nee/ (Hrsg.): Sozialistische Landeskultur. Umweltgestaltung -<br />

Umweltschutz mit einem ABC. Brockhaus Handbuch. VEB F.A. Brockhaus Verlag,<br />

Leipzig 1977 (604 S, Ln., 16.- M).<br />

Richter. H. (HrJg.): Beiträge zur planmäßigen Gestaltung der Landschaft. Wissenschaftliche<br />

Abhandlungen der Geographischen Gesellschaft der DDR, VEB Hermann<br />

Haack Geographisch-Kartographische Anstalt, Gotha/Leipzig 1978 (263 S.,<br />

kart., 33,- M).<br />

DAS ARGUMENT 12611981


Umwelt-Bibliographie (6): SOZialistische Umweltpolltik 255<br />

Fedorenko, N., und K. Go/man: Rationelle Gestaltung der Umwelt als Problem der<br />

optimalen Planung und Leitung. In: Sowjerwissenschaft. Gesellschaftswissenschaftliehe<br />

Beiträge. Verlag Kultur und Fortschritt, Berlin (DDR) 1973, 26. Jg., Heft 3,<br />

S.229-239<br />

1970 wird mit dem Landeskulturgesetz in der DDR ein umfassendes umweltpolitisches<br />

Eingriffsinstrument modifiziert. Bereits in den 50- und 60er Jahren gab es zwar eine<br />

große Zahl von Untersuchungen zu den verschiedensten landeskulturellen Einzelproblemen,<br />

aber sie waren fast ausschließlich medial (Wasser-Boden-Luft-Landschaft)<br />

orientiert; mit dem neuen Gesetz werden sie zu einer systemaren Betrachtungsweise zusammengefaßt.<br />

Dieser Betrachtungsweise ist <strong>das</strong> Nachschlagewerk von Ernst und Vera<br />

Neef verpflichtet. Das Mensch-Natur-Verhältnis wird zum Ausgangspunkt der Überlegungen<br />

gemacht, die real existierende Umweltproblematik in ihrer historischen Bedingtheit<br />

gesehen (Aufbau der DDR, internationale Systemauseinandersetzung), die<br />

sozialistische Umweltpolitik sowohl in Beziehung zur Ökonomie als auch zur territorialen<br />

Planung gesetzt. Es werden allerdings noch nicht jene philosophischen und ökonomischen<br />

Problemhorizonte verarbeitet, die in der Fachliteratur jener Zeit bereits erörtert<br />

worden sind. Dies leisten die »Beiträge«, ein interdisziplinärer Reader, der im Auftrage<br />

der Geographischen Gesellschaft der DDR herausgegeben wurde. Gegliedert in<br />

drei Teile - Problemsicht und Ursachenanalyse, Planungsmethoden, regionale und<br />

mediale Planungsbeispiele - macht er sehr offene und <strong>kritische</strong> Ausführungen zur<br />

Praxis der sozialistischen Landschaftsplanung. Hier wird verdeutlicht, warum trotz Existenz<br />

des Landeskulturgesetzes »Vollzugsdefizite« nachweisbar sind: durch ungelösten<br />

Problemdruck sowohl in methodischer (Bestimmung der Belastbarkeit des Naturhaushaltes,<br />

ökonomische und ökologische Kriterien <strong>für</strong> die Standortnutzung, Bestimmung<br />

von ökologischen Risiken etc.), als auch planungspolitischer (Einordnung in die generelle<br />

Entwicklungsplanung und -abstimmung) und planungspraktischer Hinsicht (mangelnde<br />

Berücksichtigung bereits gesicherter Erkenntnisse).<br />

Auf ein zentrales Problem sozialistischer Umweltpolitik weist der Aufsatz von N. Fedorenko<br />

und K. Gofman hin, der in der DDR-Literatur häufig zitiert wird. Die beiden<br />

Autoren geben einen Überblick über die sozialen Probleme der Umweltpolitik. Neben<br />

der Abhandlung von methodologischen Fragen, der Perspektivplanung sowie der organisatorischen<br />

und rechtlichen Probleme der Planung von Umweltqualitäten wird als<br />

grundlegende Frage <strong>für</strong> Strategie und Politik des Umweltschutzes folgendes formuliert:<br />

»Ist die Verbessetung der Umweltqualität ein Faktor, der die ökonomische Effektivität<br />

der gesellschaftlichen Produktion erhöht (und zwar nicht nur unter dem Gesichtspunkt<br />

ferner Zukunft, sondern auch <strong>für</strong> den nächsten Planzeitraum), oder verhalten sich Umweltschutz<br />

und wirtschaftliche Effektivität antagonistisch zueinander, so daß <strong>das</strong> eine<br />

nur auf Kosten des anderen möglich ist?« (Fedorenko! Gofman, 233) Die Konsequenz<br />

der Beantwortung dieser Frage ist: Entweder kann der Umweltschutz nur durch<br />

moralisch-rechtliche Argumentation vertreten werden, die durch Systemkonkurrenzund<br />

Weltmarktlogik leicht zurückgedrängt werden kann, oder die Erhaltung und Entwicklung<br />

der Umwelt werden selbst Teil der Bemühungen zur Effektivierung der Volkswirtschaft.<br />

Die sowjetischen Autoren beantworten dies


256 Günther Bachmann<br />

wird, soll auf die Fragen der ökonomischen Bewertung der Naturressourcen eingegangen<br />

werden. da sie <strong>das</strong> zentrale methodische Problem der zitierten Fragestellung sind.<br />

4. Umweltpolitik als Problem der ökonomischen Bewertung<br />

Afine, Alt:kJe; AlekJ.mdruZ'lc. Die ökon0I11lsche Bewertung der .\Jaturressourcen. VEB<br />

Hermann Haack Geographisch-Kartographische Anstalt, GothalLeipzig 1976<br />

(255 S .. Ln., 53,40 M).<br />

Lo;ier, M.!',;.: Naturressourcen. Umwelt und Investitionsdfcktivität. Akademie­<br />

Verlag. Beflin 1977 (268 S .. br, 21,- M).<br />

Gral Dze/er: Zu einigen Grundfragen der ökonomischen Bewertung von Naturressourcen<br />

im entwickelten Sozialismus. In: Wirtschaftswissenschaft. Verlag Die<br />

Winschaft, Berlin 1978, 26.Jg .. Heft 7. S.811-823<br />

Mit der Ausweitung der Produktion und der zunehmenden Inanspruchnahme der<br />

Natur entstehen neue Stoff- und Energieströme, die nicht mehr nur als Gebrauchswerte<br />

zu erfassen sind. sondern auch als Werte. Die bislang sogenannten »freien Güter«<br />

sollen ökonomisch bewertbar werden, damit sie der rationalen Gestaltung und Berechnung<br />

der Produktion und der Umweltfaktoren zugänglich werden. Nachdem in der Sowjetunion<br />

dieses Problem bereits Ende der 50er Jahre relevant wurde, und zunächst eine<br />

Diskussion um die Sinnhaftigkeit der Fragestellung begann, hat sich jetzt die Erkenntnis<br />

der Notwendigkeit. ökonomische Bewertungen zu ermitteln, durchgesetzt.<br />

Mine faßt als erster die Materialien aus Wissenschaft und Praxis zusammen, definiert<br />

den BegritI der Naturressourcen als natürliche Produktivkräfte und stellt den methodischen<br />

Stand der ökonomischen Bewertung sowohl einzelner Ressourcen als auch sog.<br />

Territorialverbände von Naturressourcen dar Er registriert ein Forschungsdefizit sowie<br />

wesentliche Meinungsverschiedenheiten bezüglich des methodischen Vorgehens. Er<br />

hält die Ausarheitung einer einheitlichen, universellen und gleichzeitig hinreichend<br />

konkreten Methodik der ökonomischen Bewertung <strong>für</strong> unmöglich. Gleichwohl erscheinen<br />

Teilmethoden der Bewertung je spezifischer Ressourcen machbar<br />

Lojter befaßt sich hauptsächlich mit den Nutzeffektsberechnungen in den extraktiven<br />

Zweigen der Produktion und folgt Mincs Auffassung des Sinns von Teilmethüden,<br />

die je nach Zielstellung und Objekt verändert werden und an langfristigen Bedarfsprogno;cn<br />

ausgerichtet werden sollen.<br />

Beide Autoren weisen ausdrücklich darauf hlI1, daß die Bewertung lediglich als Teil<br />

der wissenschaftlichen Beratung der Politik zu verstehen 1st, nichr bereirs als politische<br />

Entscheidung selbst. Vorrangig smd langfrisuge Bedarfsprognosen auf der Basis natura­<br />

!er Kennziffern. Die Einheit von namralen und wertmäßigen Kennziffern muß durch<br />

den Volkswinschaftsplan herge-stellt werdm. Die Fragen der ökonomischen Bewertung<br />

verweisen auf <strong>das</strong> grundlegende Problem der Berechnung der volkswirtschaftlichen Effektivirät<br />

im Zusammenhang mit dem produkrionsrelevanten Einsatz der Natur. Die<br />

oben zirierte Fragestellung von Fedorenkol Gofman ist bisher nicht einhellig beantwortet,<br />

wie gezeigt werden soll.<br />

5. Umweltpolitik zwischen Ökologie und Ökonomie<br />

Köhler, johuml. Zur Problematik der produktiven und unproduktiven Arbeit sowie<br />

der Dienstleistungen. In: \);'irtschaftswissenschaft. Verlag Die Wirtschaft Berlin<br />

1')74. 22.Jg .. Heft 6, S.il52-8il7.


Umwelt-Blbllographle (6). Sozzi:t!zitzsche Umweltpolitik 257<br />

Maler, Harry: Das Wechselverhältnis von produktiver und nichtproduktiver Arbeit<br />

als theoretisches und praktisches Problem bei der Schaffung der entwIckelten sozialistischen<br />

Gesellschaft. In: Wirtschaftswissenschaft. Verlag Die WirtSchaft, Berlin<br />

1975, 23. Jg., Heft 11, S.1629-1649.<br />

Strelbel. Günter: Umweltschutz und Umweltgestaltung als volkswirtschaftliche Aufgabe.<br />

In: Wirtschaftswissenschaft. Verlag Die Wirtschaft, Berlin 1975, 23.Jg"<br />

Heft 8, S.1139-1156.<br />

Köhler, Johann: Der Charakter der Kosten <strong>für</strong> den Cmwehschutz. In: Autorenkollektiv:<br />

Ausgewählte Probleme der Leirung und Planung des Umweltschutzes. Freiberger<br />

Forschungshefre D 102, VEB Leipziger Verlag <strong>für</strong> Grundstoffindustrie,<br />

Leipzig 1976<br />

Die Autoren gehen gemeinsam von der :'\otwendigkeit aus, die »Gratiseffekte« der<br />

natürlichen Produktivkräfte vergleichbar zu machen und in ökonomische Überlegungen<br />

einfließen zu lassen. Ob die ökonomische Bewertung der Naturressourcen mit der<br />

Marx' sehen Werttheorie übereinstimmt, ob die Verbesserung der Umweltqualirät die<br />

ökonomische Effektivität der gesellschaftlichen Produktion erhöht, darüber gibt es unter<br />

den Wirtschaftswissenschaftlern einen Meinungsstreit, der mitunter die Formen gegenseitiger<br />

wissenschaftlicher Exkommunikation annimmt.<br />

So wirft Köhler den bewertenden Ökonomen »wissenschaftlich ein(en) Rückfall in<br />

die Zeit vor Marx« vor. Unter Berufung auf Marx und seinen Begriff »produktiver Arbeit«<br />

stellt er fest, daß der Umweltschutz den Sozialismus nicht reicher an materiellen<br />

Gütern macht, mithin also unproduktive Arbeit sei. Nach Meinung von Maier entgeht<br />

Köhler die neue Qualität des Wechselverhältnisses von produktiver und nichtproduktiver<br />

Arbeit und steht daher im Widerspruch zur marxistisch-leninistischen Auffassung.<br />

Denn: Bei der Reproduktion der natürlichen Umwelt handelt es sich lediglich vom<br />

Standpunkt der kapitalistischen Produktionsverhältnisse um Unkosten der Produktion<br />

(insofern stimmt er Köhler zu). Vom Standpunkt des gesellschaftlichen Reproduktionsprozesses<br />

wird der Aufwand zur natürlichen Reproduktion jedoch als gesellschaftlich<br />

notwendiger Aufwand und die hierzu erforderliche Arbeit als produktiv angesehen.<br />

Diese Argumentation findet sich detaillierter bei Streibel. der sich ebenfalls auf Köhlers<br />

Verdikt bezieht. Um den volkswirtschaftlichen Charakter der Umweltpolitik zu<br />

analysieren, differenziert er sie in den Umweltschutz als Erhaltung und Sanierung der<br />

natürlichen Umwelt und in die weitergehende Umweltgestaltung als aktive Umgestaltung<br />

und Kultivierung der Natur zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen.<br />

Die planmäßige, aktive Umweltgestaltung wird seiner Meinung nach notwendig,<br />

da zum einen der gesellschaftliche Bedarf <strong>das</strong> Dargebot bestimmter natürlicher Ressourcen<br />

übersteigt und zum anderen die Stoffwechselprodukte des Arbeitsprozesses<br />

nicht mehr ohne vorherige Behandlung schadlos in die Natur zurückgeführt werden<br />

können. Streibel betrachtet so die Reproduktion der natürlichen Umwelt als Teil der<br />

materiellen Produktion. Ein Produktionszyklus ist demnach erst dann abgeschlossen,<br />

wenn die zu seinem erneuten Beginn notwendigen naturalen Voraussetzungen wiederhergestellt<br />

sind.<br />

6. Das Konzept der Ökologisierung der Produktion als Prinzip<br />

kollektiver Ressourcenplanung<br />

Paucke, Horst, und Günter Strelbel: Zur Wechselbeziehung von Materialökonomie,<br />

Technologie und Umweltschutz. In: Winschaftswissenschaft. Verlag Die Wirtschaft,


258 Günther Bachmann<br />

Berlin 1977, 25.Jg., Heft 10, S.1467-1482.<br />

Kutzschbauch, Kurt: Stoff- und energiewirtschaftliche Aspekte der Umweltnutzung.<br />

In: Autorenkollektiv: Rohstoff und Energie im gesellschaftlichen Reproduktionsprozeß<br />

und ihr Wechselverhältnis zur materiell-technischen Basis. Forschungsbericht 28,<br />

hrsg, vom Zentralinstitut <strong>für</strong> Wirtschaftswissenschaften der Akademie der Wissenschaften<br />

der DDR, Akademie-Verlag, Berlin 1978 (135 S., br., 12,- M), S.69-92.<br />

Roos, Hans, und Günter 5treibel (Leiter des Autorenkollektivs): Umweltgestaltung<br />

und Ökonomie der Naturressourcen, Verlag Die Wirtschaft, Berlin 1979<br />

(270 S., Ln" 15,80 M).<br />

Paucke, Horst, und Günter 5treibel: Zur Verflechtung von Naturprozessen und<br />

volkswirtschaftlichem Reproduktionsprozeß. In: Wirtschaftswissenschaft. Verlag Die<br />

WirtSchaft, Berlin 1980, 28. Jg., Heft 4, S.405-42l.<br />

Nick, Harry (Leiter des Autorenkollektivs) : Zur materiell-technischen Basis in der<br />

DDR. Hrsg. von der Akademie <strong>für</strong> Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED,<br />

Dietz Verlag. Berlin 1979 (200 S., 40 Tabellen, Ln., 10,50 M).<br />

Paucke, Horst, und Ado/f Bauer: Umweltprobleme - Herausforderung der Menschheit.<br />

Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt1M. 1980 (284 S" br., 9,80 DM).<br />

Auf der Basis dieses Diskussionsstandes werden eine Reihe von öko-strategischen<br />

Schlußfolgerungen angeboten: Aus Streibels Sichtweise stehen Produktions- und Reproduktionsprozeß<br />

lfl ihrer umweltpolitischen Totalität zur Debatte. Wenn die Wiederherstellung<br />

der natürlichen Umwelt zur Aufgabe gesellschaftlicher Produktion wird,<br />

so ist es eine naheliegende Strategie, die verschmutzenden Materialströme zu minimieren,<br />

und zwar mit dem Instrument der Materialökonomie (Streibel, Kutzschbauch). -<br />

Die Materialökonomie kann in diesem Sinne als Beseitigung unerwünschter Stoffe aufgefaßt<br />

werden. Als Vermeidungsstrategie führt sie zu der Konzeption geschlossener<br />

Produktionskreisläufe oder gesellschaftlicher Naturstoffwirtschaft (Roosl Streibel und<br />

Paucke/Streibel), - Sind derartige geschlossene Produktionskreisläufe als ökologisch<br />

sinnvoll erkannt, stellt sich die Frage, warum überhaupt ein Typ der Produktivkräfte<br />

vorherrschend ist, der in bekannt hohem Maße umweltschädigend wirkt. - Oder positiv<br />

formuliert: Wie können die Prinzipien und Mechanismen ökologischer Systeme auf<br />

die Struktur menschlicher Produktivkräfte übertragen werden, so daß es zu einer »Ökologisierung<br />

der Produktion«, zu einer ökologischen Revolution als Teil der wissenschaftlich-technischen<br />

Revolution kommt (Nick, Paucke/Bauer)?<br />

Als erste thematisieren Paucke/Streibel 1977 den Zusammenhang von Materialökonomie,<br />

Technologie und Umweltschutz. Sie skizzieren in ihrem Artikel den Argumentationshaushalt,<br />

der in den folgenden Jahren ausgebaut wird; aus dem Marxschen Verständnis<br />

des Mensch-Natur-Verhältnisses leiten sie die Notwendigkeit der Einführung<br />

geschlossener Produktionszyklen ab, die in wertmäßiger Hinsicht die Zahlungsbilanz<br />

entlasten und in naturaler Hinsicht die Umweltqualität verbessern. Kutzschbauch berichtet<br />

über V.ersuche in der Sowjetunion, die Größenverhälrnisse stofflicher Substanzen<br />

zu bestimmen, die aus der Biosphäre in die Volkswirtschaft gelangen und dann in<br />

Gestalt fester, flüssiger und gasförmiger Abprodukte in die natürliche Umwelt abgegeben<br />

werden. Die Ergebnisse bildet er in einer Verflechtungsbilanz <strong>für</strong> <strong>das</strong> bioäkonomische<br />

System der UdSSR ab, um dann festzustellen, daß <strong>für</strong> die DDR derartige Stoffbilanzen<br />

nicht bekannt sind, Damit kann auch nicht der stofflich-energetische - d.h.<br />

der ökologische - Wirkungsgrad der gesellschaftlichen Arbeit <strong>für</strong> die Volkswirtschaft<br />

O;\S ARGLMENT 12()/1981


Umwelt-Bibliographie (6): Sozialistische Umweltpolitik 259<br />

insgesamt eingeschätzt werden. Kutzschbauch vollzieht entsprechende Teilrechnungen<br />

exemplarisch an der Lebensmittelproduktion, da hier die empirischen Grundlagen vorhanden<br />

sind.<br />

Das von Roos und Streibel herausgegebene Buch vereinigt die Ansätze und Fragestellungen<br />

der Ökonomen zu einer kollektiven Ressourcenplanung. Das Problem des rationalen<br />

Stoffwechsels des Menschen mit der Natur wird ausgehend von der wissenschaftlich-technischen<br />

Entwicklung und einer Kritik der aktuellen Form der Produktivkraftentwicklung<br />

betrachtet. Die traditionellen Methoden der (Umwelt-)Bewirtschaftung<br />

sollen auf wissenschaftlich-technische Grundlagen gestellt werden, wobei jedoch die<br />

WTR noch nicht den Durchbruch zu dieser »ökologischen Revolution« vollzogen hat.<br />

Die Autoren analysieren die Hauptprinzipien der von ihnen so bezeichneten »gesellschaftlichen<br />

Naturstoffwirtschaft«. Wichtiger Bestandteil der Naturstoffwirtschaft ist<br />

die Materialökonomie, bzw. die Intensivierung der Stoff- und Energieausnutzung. Es<br />

soll ein höherer Veredelungsgrad der Rohstoffe erreicht werden, der aus weniger Rohstoff-Input<br />

mehr Gebrauchswert-Output erzielt. Das Stoffausnutzungsvermögen ist<br />

schneller zu steigern als <strong>das</strong> Stoffumsatzvermögen. Schrittweise soll <strong>das</strong> bisher vorherrschende<br />

Stoffdurchlaufprinzip durch <strong>das</strong> Kreislaufprinzip ersetzt werden.<br />

Paucke und Streibel stellen die Prinzipien und Kennziffern von Natur- und (industriellen)<br />

Produktionsprozessen gegenüber, um zu zeigen, welche Aufgaben und Konsequenzen<br />

sich <strong>für</strong> die Leitung und Planung der Volkswirtschaft ergeben, wenn im Zeichen<br />

der Ökologisierung der Produktion die Nachahmung der Auf- und Abbauprinzipien<br />

und der Funktionsmechanismen der natürlichen Systeme geboten ist. - Die offiziöse<br />

Veröffentlichung zur materiell-technischen Basis in der DDR hält ebenfalls in den<br />

kommenden Jahrzehnten grundlegende Veränderungen <strong>für</strong> erforderlich. die nicht auf<br />

die aufwendige Beseitigung der Folgen des Verhaltens zur Natur (entsorgende Öko­<br />

Strategie) gerichtet sind, sondern auf die Veränderung dieser Verhaltensweisen selbst.<br />

Die WTR wird - so die Prognose - generell andere (') Beziehungen zwischen Produktion<br />

und Natur realisieren und zur Herausbildung der materiell-technischen Basis des<br />

Kommunismus führen. - Paucke und Bauer fassen die philosophische Ökologie-Diskussion<br />

zusammen: Das Ökologie-Problem wird als Problem der menschlichen Naturaneignung,<br />

in seinen systemspezifischen Ursachen, unter Rückgriff auf die naturwissenschaftliche<br />

Darstellung ökologischer Systeme und die empirische Beschreibung<br />

anthropogener Einflüsse auf den Naturhaushalt beschrieben. Wie reagiert die Menschheit<br />

auf die ökologische Herausforderungl Im Rahmen dieser Fragestellung enrwerfen<br />

sie die Ansätze einer <strong>Theorie</strong> der Ökologisierung der Produktion. Nach ihrer Meinung<br />

weist die derzeitige Produktionsstruktur Defekte auf. Die Ökologisierung der Produktion<br />

wird als integraler Bestandteil des neu sich herausbildenden Produktivkraftsystems<br />

und als ebensolche historische Naturnotwendigkeit wie die Ablösung des Kapitalismus<br />

mit seinem ökologisch in vieler Hinsicht untauglichen Produktivkraftsystem verstanden.<br />

Im Weiteren geben Pauckc und Bauer einige Prinzipien sozialistischer Naturnutzung<br />

an, die -- wie sie selbst sagen - weder vollständig noch endgültig sind. Die Diskussion<br />

über die richtige Erfassung ökologischer Probleme durch die WTR-<strong>Theorie</strong>.<br />

über neue ökologische Gesetzmäßigkeiten und gesellschaftliche Suategien, über die sozialistische<br />

Naturtheorie »kommt eben erst in Gang« (215).<br />

DAS ARGL:MENT 126/1981


ThemenauJJchrelbung: Umgang mit AlltagJgütern 261<br />

chie von Feiertags- herab zu Allzeitgütern, die Skala der Nutzungsintensität, die von<br />

Anschauendürfen bis Abnutzendürfen reicht. Offensichtlich drückt sich in vielen dieser<br />

Regeln mehr aus als <strong>das</strong> Interesse am NiedrighalteI1 von Reproduktionskosten: es<br />

spielen hier auch Kulturstile, es spIelen soziale Rangordnungen von Gütern und Personen<br />

eIne Rolle (Wer im Haushalt, in der Schule usw. darf was benutzcn?) DIe Rolle solcher<br />

Regeln <strong>für</strong> dIe Sozialisation dürfte nicht unterschätzt werden: zu fragen wäre nach<br />

klas,en- und schichtspezifischen Umerschieden dieser Seite der »Weltaneignung«, zu<br />

diskutieren wäre auch <strong>das</strong> Problem des »kulturellen \lCertS« der jeweiligen Gebrauchsweisen,<br />

<strong>das</strong> äußerst vielschidnig sein dürfte. (»Schollen« korreliert ja z.B. mit »Rücksicht«,<br />

mit »Kontemplation«, aber eben auch mit »Finger weg!«)<br />

Putzen<br />

Wie <strong>das</strong> Schonen geht auch <strong>das</strong> Purzen, Reinigen. Waschen von Haushaltsgütern<br />

vielfach über materiell-praktische Zwecke hinaus: neben - häufig natürlich als Reimgungsgrund<br />

ausreichenden - Absichten der Sicherung langn Gebrauchsdauer und einer<br />

hygienisch sauberen Umwelt spielen auch hier kulturelle Normen im engeren Sinn<br />

herein: »Putzfimmel« und »Putzwut« führen dabei mitumer zu einer erheblichen Ausdehnung<br />

der Reinigungszeiten und damit zur Blockierung anderer, <strong>für</strong> die Persönlichkeitsentwicklung<br />

wohl doch produktiverer Tätigkeiten insbesondere bei den betruffenen<br />

Frauen.<br />

Zu unterscheiden wären Genese und Funktion eines solchen Putzverhalrem. Kann<br />

man, trotz ähnlicher Erschc1l1ungsweise. »bürgerliches« und »proletarisches« Putzen<br />

und Pflegen der \V'ohnung, det Möbel, det \V'äsche. der Geräte, des l\UtoS unterscheiden)<br />

Welche sozialen Ängste und Wünsche verbergen sich hintet der Dreckabwehr -<br />

ist z. B. <strong>das</strong> tedweise exzessive Blankputzen von bäuerlichen und AtbeltCfwohnungen<br />

auch eine Symbolhandlung, mir der man sich den ganzen von draußen mitgebrachten<br />

»Dreck« vom Halse schaffen wilP Wie hängt <strong>das</strong> berutliche Umgehen mit - fremden<br />

- Atbeltsmitteln und der Pflege der privaten Gebrauchsgüter zusammen) ErsetZt Pflege<br />

von Dingen durch Intensität, was einem an extenslvet Weltaneignung abgeht) Auch<br />

psychoanalytische Deutungen sind gewiß nötig. will man die im Putzen stattfindende<br />

Zuwendung zu Dingen, mit der z.B. oft ellle Abwehr der ja nur »dreckigmachenden«<br />

Personen zusammengeht, angemessen verstehen.<br />

Zur Frage nach der Purzmoti\'ation gehört die Ftage nach den gesellschaftltchen<br />

Sanktionen bei »ungenügendem« Purzen . Kaum leugbar dürfte sein, daß der ReinIgungsgrad<br />

der Wohnung oder des Autos bei der gegenseiugen Beurteilung von Arbeiterfamilien<br />

z.B. eInen großen, übergroßen Stellenwert hat. »Asozilllität« als be<strong>für</strong>chteter<br />

Vorwurf ist allgegenwärtIg. Hier kommen denn auch explizit politische Aspekte ins<br />

Spiel. So wäre etwa zu fragen, in welcher Art und Weise ideologische und praktische<br />

Maßnahmen des Nationalsozialismus gegen »Asoziale« auf <strong>das</strong> damalige und eben auch<br />

noch <strong>das</strong> heutIge Ptlcgeverhalten im Haushalt Einfluß hatten. Insbes\)fldere wäre natürlich<br />

die Bedeutung zu untersuchen. dIe reale oder vorgebliche Unterschiede der Güterpflege<br />

<strong>für</strong> zwischennationak Beziehungen z.B. VOll Arbeitern haben: er1l1nert sei an<br />

Stereot)'l'e!1 wie <strong>das</strong> verbeulte Auto der Italiener, den polnischen Dreck, <strong>das</strong> Hausen<br />

von Gastarbeitern in »unseren« \V'ohnungen. Sie machen einen guten Ted des Alltagsmörtels<br />

aus, mit dem Mauern zwischen prinzipiell inreressengleichen Gruppen errichtet<br />

wetden können.<br />

Schrottmachen<br />

Gemeint ist hiet der alltägliche Kleinktleg \UI1 Arbeitern mit ihren Arbeitsmitteln,<br />

der VOI1 unsorgsamer Behandlung bis zu bewußter »Sabotage« reicht. Das Phänomen ist<br />

bekannt, es fehlt jedoch - soviel ich es übnsehe - an .gcnaueren Cntetsuchungen


262 Bernd}ürgen Warneken<br />

darüber. Wie vollzog sich der Umbruch vom bäuerlichen und handwerklichen Umgang<br />

mit dem eigenen Werkzeug zum Werkzeuggebrauch des Lohnarbeiters in der industriellen<br />

Produktion) Wie differenziert sich <strong>das</strong> »Schrottmachen« angesichts verschiedener<br />

Arbeitstechnologien und Arbeitsorganisationsformen? Zur Debatte steht natürlich<br />

auch <strong>das</strong> konträre, »partnerschaftliche« Verhalten zu Arbeitsmitteln - z.B. zu solchen<br />

Apparaturen, die ein erhebliches Maß an »Bedienungslust« implizieren - und die Ursache<br />

da<strong>für</strong>.<br />

In der marxistischen Literatur wird Schrottmachen vor allem im Kontext »Maschinenstürmcrci«<br />

behandelt und entsprechend beurteilt. So heißt es im Argument Sonderband<br />

14, Humanisierung der Lohnarbeit, auf S. 38: »Die unüberlegte und oft emotional-affektive<br />

/\ggression etwa gegen die Produktionsmltlel ist ein Indiz <strong>für</strong> <strong>das</strong> verdinglichte<br />

und insofern entfremdete Bewußtsein, da5 die Sache fälschlicherweise noch mit<br />

ihrer Ursache unmittelbar in eins setzt und noch nicht die sozialökonomischen Grundsachverhalte<br />

hinter den materiellen Erschelflungsformen im Produktionsprozeß als gesellschafthche<br />

Herrschaftsverhältnisse von Arbeit und Aneignung zu identifizieren vermag.«<br />

Diese Ableitung des Schrottrnachens aus falschem, fetischistischem Bewußtsein<br />

und die damit verbundene Annahme, daß es mit dem Verzicht auf politische Formen<br />

der Gegenwehr einhergehe. ist fragwürdig: Sie geht offensichtlich an den Alltagsursachen<br />

und -zwecken dieses Handeins vorbei. Auch die im Zitat anklingende Meinung,<br />

es handle sich beim Schrottrnachen vorwiegend um eine »dumpfe« Aggression, müßte<br />

wohl korrigiert werden; rationale Motivationen - z.B. die Absicht, Arbeitspausen zu<br />

erlangen - wären ebenfalls in Rechnung zu stellen.<br />

» Vandalismus«<br />

Nun beschränkt sich aggressiver Alltagsumgang mit fremdem Eigentum nicht auf die<br />

Arbeitswelt. Peflodlsch beklagt wird der - wie es jeweils heißt: zunehmende - Vandalismus,<br />

dem sich öffentliche Einrichtungen von Telefonzellen über Straßenbahnen<br />

bis zu Schulgebäuden ausgesetzt sähen. Die Vermehrung nur apparativer, nicht mehr<br />

personal vermittelter Dienstleistungen vermehrt die Gelegenheiten zu schonungslosem<br />

biS zerstörerisehern Güterumgang - und dies gilt nicht nur <strong>für</strong> den staatlichen, sondern<br />

auch <strong>für</strong> den privatwirtschaftlichen Sektor (il.utomatenverkauf usw.). Notwendig<br />

wäre es nun, den gängigen Jeremiaden über »s1I1nlosc Zerstörungswut« wirkliche Ursachenanah'scn<br />

entgegenzusetzen. Dabei ist der ,)Vandalismus« zum einen nicht einfach<br />

als Ausdruck ungezielter, irgendwnher aufgeladener Emotionen zu sehen, sondern -<br />

in einer Durchforsrung der vor allem betroffenen Dingbereiche und der hauptsächlichen<br />

Zerstörungsanlässe - die der Mißhandlung vorausgehende Beziehung zwischen Subjekt<br />

und Objekt des »Vandalismus« zu untersuchen. (Erinnert sei hier an ein scheinbar<br />

ausgefallenes Beispiel: den Tritt gegen den Flipperautomaten, mit dem sich der Spieler<br />

oft von seinem geldheischenden und dennoch meist spröde bleibenden Spielpartner<br />

verabschiedet.) Zum anderen freilich ist im unachrsamen bis groben Gebrauch gegenüber<br />

öffentlich zugänglichen Einrichtungen auch die Alltagsform des Prinzips der »verbrannten<br />

Erde« zu sehen, <strong>das</strong> Güter, die dem Eigengebrauch momentan ausgedient<br />

haben, dem Nachfolger nurmehr als Ruinen überläßt; auch hier wäre über eine hilflose<br />

moralische Kritik hinauszugelangen .<br />

Sowohl bei Erscheinungen des »Schrottmachens« 111 der Arbeitswelt wie beim öffentlichm<br />

»Vandalismus« wäre es im übrigen interessant zu erfahren, wo sie in sozialistischen<br />

Gesell:;chaftcn verschwunden sind und wo sie sich gehalten haben; in den letzteren<br />

Fällen gälte es nachzuforschen, inwiefern die verbreitete These vom »Verhaltenserbe<br />

des Kapitalismus« ausreicht und inwiefern neue Ursprünge und Funktionen in Anschlag<br />

gebracht werden müssen.<br />

DAS ARGl'ME'-'T 126,' llJH 1


264<br />

Kongreßankündigungen und -berichte<br />

Gesundheitspolitisches Planungstreffen der VDS-Fachtagung Psychologie,<br />

31.3.-3.4.1981 in Oelde bei Hamm<br />

Schwerpunkte der Tagung, die offen ist <strong>für</strong> interessierte Studenten und Lehrende der<br />

Psychologie und Medizin, sind u.a.: Darstellung der Lage psychosozialer Versorgung<br />

und der entsprechenden Ausbildung; Entwicklung einer Konzeption gesundheitspolitischer<br />

Seminare; Möglichkeiten fortSchrittlicher Alternativen in Ausbildung und Versorgung.<br />

Weitere Informationen: Achim Wirk, Soester Str. 56, 4400 Münster.<br />

»Perspektiven der Fachhochschulen«. Kongreß des Projektbereichs<br />

Fachhochschulen/Gesamthochschlen der VDS, 16.-17.5.1981 in Frankfurt/M.<br />

Themenbereiche werden sein: Auswirkungen der Sparpolitik im Bildungsbereich;<br />

Alternativen zur Teilung des tertiären Bildungsbereichs; Folgen der Kurzstudiengänge<br />

<strong>für</strong> FH-Studenten und -Absolventen; Argumente der Unternehmerverbände zur<br />

Rechtfertigung »anwendungsbezogener Ausbildungsgänge«; soziale Verantwortung<br />

von FH-Absolventen; aktuelle Tendenzen der Studienreform an FH's.<br />

Informationen: VDS, Postfach 1829, 5300 Bonn 1, Tel.: 0228/22 3075.<br />

2. Sozialistische Konferenz: »Der herrschende Block und<br />

die Alternativen der Linken«<br />

Marburg, 13.-15.2.1981<br />

Diese Konferenz stand im Zeichen Rudolf Bahros - seiner zum Teil produktiven<br />

Fragen, seiner zweideutigen Antworten, seiner Machttaktiken. Die einjährige Vorbereitungsarbeit<br />

an der 2. Sozialistischen Konferenz (SK) hatte zu einer weitgehenden Vorstrukturierung<br />

des organisatorischen Ablaufs wie des Arbeitsprogramms geführt. Es waren<br />

zwei Reader mit Konferenzpapieren erstellt worden, die im wesentlichen auf die<br />

Diskussion folgender Fragen orientierten: Worauf beruht die Stabilität der sozialliberalen<br />

politischen Herrschaft und wie lange wird sie der ökonomischen Krise standhalten?<br />

Was können und müssen die Frauen an der »politischen Dimension« des sozialistischen<br />

Kampfes verändern? Werden die Gewerkschaften sich in absehbarer Zeit aus der sozialdemokratischen<br />

Hegemonie befreien? Wie analysieren und bekämpfen wir die Kriegsgefahr?<br />

- Dieser Rahmen der Konferenz wurde von Bahro kurz vor ihrem Beginn<br />

durch Veröffentlichung des »Etwas anderen Vorschlags« gesprengt (vgl. Materialien Bd.<br />

IV, 11ff.). Ihm schienen die Resultate der Vorbereitung und die sie tragenden Gruppen<br />

zu »traditionalistisch«. Tatsächlich waren viele Papiere trotz guten Willens und der Verwendung<br />

von Vokabeln wie »B1öcke«, »Hegemonie« usw. über <strong>das</strong> Verfahren, eine<br />

Wende der Politik schlicht aus der ökonomischen Krisenentwicklung abzuleiten, nicht<br />

hinausgelangt. In einer solchen Lage können Einzelne Furore machen, die - auf die<br />

Erwartungen der Teilnehmer reagierend - einfache und radikale Vorschläge zur politischen<br />

Strategie bringen. - Statt nun Kritik im Plenum und in den vorgesehehenen Arbeitsgruppen<br />

vorzubringen, drehte Bahro den Spieß um und forderte neue, unvorbereitete,<br />

von seiner Thematik ausgehende AGs. Obwohl es zwischen Bahro und der<br />

Konferenzleitung zu einem - manipulativen, weil der Masse der Teilnehmer nicht zur<br />

Diskussion vorgelegten - Kompromiß kam. der die Amalgamierung des ursprüngli-<br />

DAS ARGCME:-';T 126/1981 ;


266 Kongreßankündigungen und -benchte<br />

- die den Hintergrund der Gegenüberstellung von Arbeiterinteresse und »es ist alles<br />

gemeint« bildet - in der realsozialistischen Marxismus-Philosophie unter dem Stich­<br />

WOrt »Humanismus« vorgeprägt. Und seine Identifikation von Arbeiter- und Lohninteresse<br />

bewegt sich, wie ein Genosse treffend bemerkte, in der »von Helmut Schmidt<br />

stammenden Alternative Arbeitsplätze oder saubere Luft«. Bahros Verknüpfung Marxismus-Arbeiterinteresse-Lohninteresse<br />

suggeriert, der Marxismus wäre die' sozialliberal-korporative<br />

Strategie. Sie macht vergessen, daß Marxismus eine <strong>Theorie</strong> des Kampfes<br />

der Arbeiter gegen Kapital und Lohnarbeit, nämlich <strong>für</strong> die klassenlose Gesellschaft<br />

ist. Ist es nicht doch besser, Klassenlosigkeit mit Marx als Zukunft zu begreifen, die wir<br />

unter Mühen durchsetzen müssen, statt mit Bahro als Gegenwart, über die wir per Entscheidung,<br />

»alles zu meinen«, jederzeit verfügen? - Bahro hätte seine Prämissen, wie<br />

wir sie aus der »Alternative« kennen, in der Diskussion offenlegen sollen. Es heißt dort,<br />

daß »die unmittelbaren Bedürfnisse der subalternen Klassen und Schichten ... immer<br />

konservativ (sind)« (S.174) und daß neue Perspektiven zur Lösung gesamtgesellschaftlicher<br />

Krisen erst dann enstünden, wenn »eine Fraktion der Oberschichten bzw. -klassen<br />

oder, effektiver, eine neue 'Mittelklasse' die Massen der Unterdrückten ... organisiert«<br />

(S.175). Bahros Abschied vom Proletariat ist Ankunft bei den Mittelklassen, nicht bei<br />

der »Menschheit«. Dagegen ist an sich nichts zu sagen: eine sozialistische Mittelklassenbewegung<br />

könnte geradezu eine Schlüsselrolle bei der Überwindung des Kapitalismus<br />

und der Ökologiekrise spielen. Aber wenn nicht auch die Arbeiter sozialistisch werden,<br />

wird nichts laufen. Deshalb sollte Bahro seinen politischen Diskurs nicht auf Kosten der<br />

sozialistischen Intellektuellen der Arbeiterbewegung zu entwickeln versuchen.<br />

Das umgekehrte Konzept, die Mittelklassen den Arbeitern, und zwar den sozialdemokratischen<br />

Arbeitern unterzuordnen, ist freilich ebenso fragwürdig. In der AG »Gewerkschaften<br />

und neue soziale Bewegungen« führte der Göttinger Juso Krumbein aus,<br />

die neuen sozialen Bewegungen entstammten den neuen Mittelschichten und könnten<br />

eine Gemeinsamkeit mit der Arbeiterbewegung nur über gemeinsame Erfahrungen der<br />

Lohnabhängigkeit in gewerkschaftlichen Kämpfen ausarbeiten. Hier führt die Problemsicht<br />

des Nicht-Sozialdemokraten Bahro weiter: die Arbeiter stehen nicht als Arbeiter<br />

außerhalb der sozialen Bewegungen, sondern gehören ihnen teils selbst an, teils<br />

sind die Stützen der Staats macht , weil sozialdemokratisch. Man muß <strong>das</strong> Bündnisproblem<br />

auf der politischen, auch parteipolitischen Ebene angehen. In diesem Sinne<br />

schlug Kostede (SB) vor, Arbeiter- und Ökologiebewegung durch eine ökologisch<br />

orientierte Reformpolitik zu verknüpfen. Dzetk (Schleswig-Holsteinische Vorbereitungsgruppe)<br />

und Elfferding (Argument) suchten die Mechanismen solcher »Artikulation«<br />

und gegenseitigen Verstärkung der sozialen Bewegungen in Kategorien der <strong>Theorie</strong><br />

politischer Diskurse zu erfassen (vgl. W.F. Haugs Thesen über Ökologie und Sozialismus,<br />

in: Materialien Bd. II). In der anderen, von Bahro geleiteten AG konnte man<br />

die Arbeit an einem gemeinsamen Diskurs beider Bewegungen praktisch beobachten.<br />

Die anwesenden Grünen setzten hier andere Akzente als Bahro, auch wenn sie als<br />

Gruppe zu dessen Unterstützung auftraten. Die Umstrukturierung der Produktionsweise,<br />

äußerte ein Genosse, sei selbst kulturrevolutionäre Arbeit, deshalb stehe Kulturrevolution<br />

nicht außerhalb des Widerspruchs von Lohnarbeit und Kapital. Ähnlich <strong>argument</strong>ierte<br />

Josef Beuys.<br />

Deutlich anders als Bahro reagierten die meisten Grünen auf <strong>das</strong> Thema Machterwerb.<br />

Sie fragten nicht, »wie weit man ausholen muß«, um Macht zu erwerben, sondern<br />

problematisierten die Macht selbst. Ein Genosse vertrat die Ansicht, der Wille zur<br />

Macht statt zur Solidarität sei als solcher Ursache des Scheiterns aller bisherigen sozialistischen<br />

Revolutionen. Man müsse den Sozialismus in der eigenen Praxis antizipieren,<br />

bevor man ihn zum Gegenstand von Veränderungswillen machen könne. Das Problem<br />

bestehe darin, daß Bewegungen gegen die Macht deren Struktur nur zu leicht in sich<br />

DAS ARGlJME"T 12611981 ',:


Kongreßankündigungen und -berichte 267<br />

selbst reproduzierten. Man dürfe auf keinen Fall eine Politik machen, die auf den Aufbau<br />

neuer Apparate hinauslaufe. - Und wie können wir dieser Gefahr begegnen I Mit<br />

der Entscheidung gegen die Macht ist es sicherlich nicht getan. Hier zeigt sich, daß die<br />

wirklich weiterführende Diskussion über Macht und Kulturrevolution in der AG der<br />

Frauen geführt wurde. Im Reader hatte eine Vorbereitungsgruppe die Forderung, »persönliche<br />

Befreiung, materielle und ideologische Veränderung« miteinander zu verbinden,<br />

als den »großen Beitrag der Frauen zur Revolution« bezeichnet. Rossana Rossanda<br />

wurde zu der Frage zitiert, ob Frauen ein spezifisches Verständnis von Politik haben: da<br />

deren geschichtlich erworbenen Rollen »stets von der Individualität geprägt sind«, geraten<br />

sie notwendig in Konflikt mit jener - auch die 2. SK charakterisierenden - »politischen<br />

Dimension«, die auf der Vorstellung gründet, politische Beziehungen seien<br />

»einzig zwischen abstrakten austauschbaren Größen« möglich. Mit ihrer Losung »Das<br />

Private ist politisch« bilden die Frauen eine Avantgarde vor den männlichen Sozialisten,<br />

die, wie jeder beobachten kann, in der Logik bürgerlicher Apparatparteien, in der<br />

Trennung von Privathelt und Öffentlichkeit, in den hieraus sich ergebenden selbstzerstörerischen<br />

und machtdurchsetzten Diskursen weiterhin gefangen sind. Die Frauen<br />

haben mit jener Losung schon praktische Erfahrung gesammelt. Sie hat häufig dazu geführt,<br />

daß frau sich ausschließlich auf subjektive Momente ihrer Unterdrückung und<br />

Befreiung konzentrierte. Das hatte Isolierung von der linken (Männer-)Bewegung zur<br />

Folge. Jetzt geht es darum, die Gefahr einer neuen Vereinseitigung zu überwinden: es<br />

nützt nichts, jetzt <strong>das</strong> Politische mit dem »Privaten«, wie vorher <strong>das</strong> »Private« mit dem<br />

Politischen zu erschlagen. - Die Frauen werden sich mit einer Vorkonferenz auf die 3.<br />

SK vorbereiten; <strong>das</strong> erste nationale Treffen der Vorbereitungsgruppe findet am<br />

21.-23.3. unter dem Thema »Die Politik der Frauen« statt. Sie sind sich noch nicht<br />

schlüssig, ob sie auf der 3. SK wiederum eine separate Frauen-AG bilden oder sich über<br />

allen AGen verteilen sollen. Uns scheint die zweite Lösung besser: die Problematik von<br />

Politik. Individualität und Macht ist mehr als ein Frauenthema: die ganze Sozialistische<br />

Konferenz muß sich damit beschäftigen.<br />

Die 3. SK wird dem Kampf gegen die Vorbereitung des Dritten Weltknegs dienen.<br />

Durch die Verbreitung des Aufrufs der Bertrand Russell Peace Foundation zur Schaffung<br />

einer aromwaffenfreien Zone in Europa kommt neues Leben in die /n'edenspolitisehe<br />

Dükussion. Jetzt stehen verschiedene. teils alternative Strategien zur Debatte. Auf<br />

der 2. SK wurde sie bereits begonnen: soll die Abrüstungsforderung nur an die USA<br />

und die Bundesregierung gerichtet werden oder auch an die Sowjetunion' Durch die<br />

Verabschiedung des Beschlusses zur END (European Nuclear Disarmament) wie der<br />

Krefelder Erklärung ist der Diskussionsprozeß offengehalten worden. Es wird um folgende<br />

Fragen gehen: Wie können wir <strong>das</strong> Militärische in seiner Eigenlogik begreifen I<br />

(Vgl. die »Exterminismus«-Analyse von E.P. Thompson, in: Befreiung 19/20, demnächst<br />

auch im Argument; ferner z.B. Dieter S. Lutz: Kriegsgefahr und Kriegsverhütung<br />

in den 80erJahren, in: aus politik und zeitgeschichte 3/81 vom 17. Januar.) Brauchen<br />

wir <strong>für</strong> die BRD eine Strategie der Blockunabhängigkeitl Brauchen wir Atomwaffenfreiheit,<br />

Keutralisierung oder alternative Verteidigungsstrategie' Wie können wir<br />

die Stationierung der Pershing-2-Raketen in der BRD verhindern' Wie können die verschiedenen<br />

Friedensbewegungen zusammenarbeiten I<br />

Bahros Machttaktik war mit einem dramatischen Appell verbunden gewesen, die Sozialisten<br />

sollten Thompsons »Exterminismus«-Analyse zur Kenntnis nehmen. Obwohl<br />

er mit ihm offene Türen einrannte, elenn <strong>das</strong> Thema der 3. SK war bereits in den Vorbereitungsgruppen<br />

Konsens, mag hier ein positiver Aspekt seines Vorstoßes gesehen<br />

werden. Man kann die Kriegsgefahr nicht genug dramatisieren. Die Panzerwände der<br />

Atomwaffenbunker sind nichts gegen die ideologischen Panzer, die sie gegen eine radikale<br />

Umkehr in der Politik schützen. Die Langeweile, die von einem großen Teil gutge-


270 Kongreßankündigungen und -berichte<br />

Die Tendenz zum integrierten Einsatz aller Automatisierungsmittel eröffnet eine bislang<br />

ungeahnte Transparenz des gesamten Betriebsgesche)1ens, die rasche Verfügbarkeit<br />

aller Daten, die schnelle Eingriffs- und Steuerungspotenz an allen Punkten des<br />

Produktionsablaufs. Wem die hier entstehende gewaltige Kontrollrnacht über die Arbeit<br />

zuwächst, darüber stehen die heftigsten Kämpfe erst noch bevor. Daß die Unternehmer<br />

hier längst vorbauen, wurde auf der VDI-Tagung überdeutlich: wie ein roter<br />

Faden zog sich durch die Vorträge, auch den von Hammer, die Orientierung auf Hierarchisierung<br />

der Automatisierungsmittel, »zu einem Verbund mit hierarchischer Aufgabenverteilung<br />

zusammengeschlossen«, mit hierarchisierten Datenbeständen, Zugriffsmöglichkeiten<br />

und Verarbeitungskapazitäten. Für die Beschäftigten wird es von<br />

Wichtigkeit sein, zu wissen, daß es einen technischen und/ oder ökonomischen Imperativ<br />

<strong>für</strong> diese Orientierung nicht gibt. Werner van Treeck (Kassel)<br />

Fachtagung des BdWi: »Demokratische Wissenschaft,<br />

psychotherapeutische Praxis und psychosoziale Versorgung«<br />

Oldenburg, 23,-25,1.1981<br />

Anspruch der von der Sektion Oldenburg organisierten Fachtagung des BdWi war es,<br />

primär ein Forum <strong>für</strong> die Artikulation und Diskussion solcher Erfahrungen und Probleme<br />

zu bieten, mit denen sich Kollegen aus der psychiatrischen und psychosozialen Berufspraxis<br />

tagtäglich und zumeist isoliert auseinanderzusetzen haben. Statt des kongreßüblichen<br />

<strong>Theorie</strong>streits unter Wissenschaftlern, der auch bei fortschrittlich-demokratischem<br />

Wissenschaftsanspruch allzu leicht eine von den unmittelbar praktischen<br />

Problemen sich abhebende Eigendynamik gewinnt, sollte hier eine Erfahrungsvermittlung<br />

stattfinden, bei der sich die »überwiegend in Forschung und Lehre tätigen Kollegen<br />

ebenso der Praxis stellen wie die Kollegen aus der Berufspraxis ihre Arbeit einer<br />

theoretischen Verallgemeinerung zugänglich machen« (Kongreßankündigung). Entsprechend<br />

wurde eine möglichst offene und flexible Organisationsform gewählt, die<br />

mit zwei Podiumsdiskussionen, acht thematisch nicht scharf gegeneinander abgegrenzten<br />

Arbeitsgruppen, workshops und möglichst viel Raum und Zeit <strong>für</strong> informelle Zusammenkünfte<br />

maximale Chancen zur Kommunikation und Diskussion bieten sollte.<br />

Mit über 500 Teilnehmern aus den verschiedensten Praxisbereichen - u.a. Psychiatrie,<br />

(Sonder-)Pädagogik, Psychotherapie -, aus psychologischen Berufsverbänden wie<br />

Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong> Soziale Psychiatrie (DGSP) und Deutsche Gesellschaft <strong>für</strong><br />

Verhaltenstherapie (DGVT) und Gästen aus Holland, der Schweiz und Italien übertraf<br />

die Fachtagung allein schon durch Anzahl und Zusammensetzung der Teilnehmer die<br />

kühnsten Erwartungen der Veranstalter.<br />

DIe Thematik der ersten Podiumsdiskussion »Strukturelle und institutionelle Bedingungen<br />

der pSJchosozialen Versorgung« begründete Moderator B, Wzlhelmer damit,<br />

daß es nicht in erster Linie an Forschung und <strong>Theorie</strong> und auch nicht am Engagement<br />

der Berufspraktiker mangele, sondern u.a. die instirutionell festgefügten Strukturen<br />

Verbesserungen im Bereich psychosozialer Versorgung verhindern. Die Diskuranten des<br />

Podiums (A. Albers. P. Guttwald, D, Kleiber, H.-G. Güse, M. Regus - Psychotherapeurin,<br />

Hochschullehrer, Ärzte) waren sich mit den Plenumsteilnehmern darin einig,<br />

daß psychiatrische Großkrankenhäuser und jedwede »aussondernden« Einrichtungen<br />

der psychosozialen Versorgung mit ihren isolierenden lInd stigmatisierenden Wirkungen<br />

auf die Betroffenen verändert und ersetzt werden müssen durch Formen ambulanter<br />

und gemeindenaher Versorgung - wie sie etwa in Italien im Rahmen der »Demokratischen<br />

Psychiatrie« schon viel weiter entwickelt sind. Die Podiumsteilnehmer wiesen<br />

auf die vielfältigen Hindernisse auf dem Wege zu einer integrativen und dezentra-<br />

DAS :\RGl"ME:\T 126 1\)81 -


Kongreßankündigungen und -bemhte 271<br />

Ien psychosozialen Versorgung hin, die in den historisch überkommenen standesrechtlichen<br />

Regelungen im Gesundheitssystem ebenso zu suchen sind wie in den Mängeln der<br />

psvchologischen bzw. psychotherapeutischen Ausbildungspraxis, die u.a. durch die fatale<br />

Konkurrenz von privatwirtschaftlieh organisierten und öffentlicher Kontrolle kaum<br />

zugänglichen Therapieinstituren mit den Hochschulstudiengängen gekennzeichnet ist.<br />

Daß aLerdings Mängelkataloge. Kritik der Versäumnisse offizieller Politik und auch<br />

die positive Formulierung V()[l Forderungen wie die nach Auflösung der psychiatrischen<br />

Großkrankenhäuser allein nicht nur ungenügend sind. scmdern unter den derzeltlgen<br />

politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik auch leicht in oas Gegenteil einer fortschrittlichen<br />

Lösung umschlagen können. machten die intensiven z.T. auch kontroversen<br />

Diskussionen um diese Frage in den verschiedenen Arbeitsgruppen deutlich. So<br />

könntm etwa die Selbsthilfegruppen im Gesundheitssektor durchaus auch <strong>für</strong> die Ziele<br />

einer konservativen Kostendämpfungspolitik im öffentlichen Gesundheitswesen genutzt<br />

werden und unfreIwillig der Reprivatisierung öffentlicher Leistungen und Kosten<br />

Vorschub leisten. - Die AG "PJychzatmche Dienste - jJsychoJOzzale Versorgung«<br />

(Moderator: D. Henkel) zog daraus die Konsequenz. daß der Prozeß der schrittweisen<br />

Auflösung der Anstaltspsvchiatrie nicht ohne Einbeziehung der verschiedenen Beschäftigtengruppen<br />

in diesem Bereich und Demokrarisierung oer Entscheidungs- und Arbeitsstrukturen<br />

der Großkrankenhäuser im Sinne der Stärkung der Gewerkschaftsarbeit<br />

voranzutreIbm ist. Die Sclbsthilfearbeit müsse, wenn sie nicht doch wieder nur privilegienen<br />

Schichten, sondern den GesundheitsbedürfnIssen der lohnabhängigen Bevölkerung<br />

zugute kommen solL öffentlich finanziert und demokratischer Kontrolle zugänglich<br />

werden. Auch in der AG "Berufliche Rehabzlitati()n Behmderter« (Moderation: E.<br />

Rczchmann, K. 5trul'e) wurde die Forderung nach Auflösung ausgrenzender GroßcinheitCl1<br />

wie Werkstätten <strong>für</strong> Behinderte mit oft über 800 Arbeitsplätzen nicht im Sinne<br />

ihrer ersatzlosen Abschaffung verstanden. sondern verbunden mit den Forderungen<br />

nach Durchscrzung bzw. Heraufsetzung der Beschäftigungspflicht von Behinderten in<br />

den Betrieben. Wegfall bzw. Erschwerung der "'1öglichkel1 der Betriebe. auf die sog.<br />

Ausgleichsabgabe auszuweichen. und Umwandlung der bestehenden Werkstätten in<br />

kommunale bzw. regionale Berufsbildungszenrren <strong>für</strong> Behinderte zmdNichtbehinderte.<br />

Großen Zulauf hatte die AG "Therapie: Theune-Praxirbeziehungen«, weil sie mit Ihref<br />

Thematik den zentralen und zugleich empfindlichsten Nerv im Problemgeflecht einer<br />

<strong>kritische</strong>n, die Gesellschaftlichkeit des Individuums einbeziehenden. psychotherapeutischen<br />

Praxis traf. Ist psychotherapeutische Praxis Iedtglich als <strong>Theorie</strong>anwendung<br />

zu fassen oder hat sie nicht vielmehr ihre relativ eigenständige Logik? Wie ist mit konkurrierenden<br />

allgemeinen <strong>Theorie</strong>n oer TherapIe umzugehen - taugt hier <strong>das</strong> Wahrheitskriterium<br />

zur Beurteilung und Auswahl? Solire überhaupt ausgewählt werden.<br />

statt in der Umerschiedlichkeit und Vielfalt des Gebrauchs wissenschaftlicher Begriffe<br />

und Sprachsysteme und der Standort- und TraditionsabhängIgkeit von <strong>Theorie</strong>n deren<br />

jeweilige praktische Potenz zu suchen' Wie läßt sich eine <strong>Theorie</strong>, die wie die Kritische<br />

Psychologie aufgrund ihres umfassenderen Begreifens der Individuen aus ihrer gesellschaftlichen<br />

Lebenspraxis auch einen viel weiterrelchenoen Anspruch an Veränderung<br />

der Praxis hat, therapcutisch einholen) Wenn der Durchsetzung kritisch-psychologischer<br />

Praxis vor allem auch gesellschaftspolitische Widerstände entgegenstehen - WO<br />

liegt dIe Grenze zwischen therapeutischer und gesellschaftspolitischer Praxis (des Therapeuten<br />

bzw. Kliemen) und W/C vermitteln sich beide'<br />

Derlei Fragen bestimm ren die rege und durchweg kontroverse Diskussion in oieser<br />

AG (Moderatoren: P. GOftwald. B. rrz/helmer). So wurde H. Brandes, der auf der<br />

Grundlage oer Handlungstheorie zwischen der Ebene der praktischen therapeutischen<br />

Handlungskompetenz (mit einer eigenen. an Sinnlichkeit, Unmittelbarkeit, Einfüh-<br />

DAS ,>\t


Kongreßankündtgungen und -benchte 273<br />

chologie« u.ä. als wichtiges Element einer <strong>kritische</strong>n Berufspraxis vorgeschlagen.<br />

Hier zeigt sich, daß die Begegnung zwischen <strong>Theorie</strong> und Praxis von beiden Seiten<br />

nicht bloß als »Treffen auf halbem Wege« oder vorschnelles Abstecken des jeweiligen<br />

Terrains, sondern als harte gegenseitige Herausforderung verstanden wurde. deren produktive<br />

Potenzen auch über den Kongreß hinaus genutzt und weiterentwickelt werden<br />

sollten Ilse Schütte (Oldenburg)<br />

Sportmotorische Lernprozesse und Persönlichkeitsentwicklung<br />

im Erwachsenensport<br />

Bremen, 20. -22.11.1980<br />

Veranstalter des »Dritten Bremer Symposiums zum Hochschulsport« waren der Allgemeine<br />

Deutsche Hochschulsportverband (ADH) und die Universität Bremen, unterstützt<br />

wurde die Tagung vom Deutschen Sport bund und der Deutschen Vereinigung<br />

<strong>für</strong> Sportwissenschaft. Zu den ca. 150 Teilnehmern zählten neben Wissenschaftlern aus<br />

dem In- und Ausland vor allem Studenten der Sportwissenschaft sowie Lehrkräfte des<br />

Hochschulsports.<br />

Sportwissenschaft , so die Veranstalter. soll nicht beschränkt sein auf die Optimierung<br />

von Bewegungshandlungen; sie stellt sich einem Praxisfeld, auf dem Massen handeln,<br />

und versucht, es in der Einheit sportmotorischen und sozialen Lernens zu gestalten.<br />

Den Hintergrund bilden die stark gestiegene Beteiligung am Breiten- und Freizeitsport,<br />

<strong>das</strong> Wachstum des DSB auf inzwischen 17 Millionen Mitglieder und die Tatsaehe,<br />

daß auch bisher besonders vernachlässigte Gruppen wie Frauen und Arbeiter jetzt<br />

mehr von den Angeboten Gebrauch machen. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit<br />

dem Sport soll demokratische Ansprüche auf Entfaltung der Persönlichkeit und Befähigung<br />

zu gesellschaftlich eingreifendem Handeln gemäß den eigenen Interessen aufnehmen<br />

-- Sportwissenschaft will Gesellschafts- und Kulturwissenschaft werden.<br />

Diese Entwicklung hat inzwischen einen Teil vot allem der jüngeren Sportwissenschaftler<br />

erfaßt und bestimmte die Bremer Tagung. Begonnen hat diese Orientierung<br />

hierzulande allerdings erst vor kurzer Zeit und fast am Nullpunkt; die fortgeschrittensten<br />

Positionen sind etwa zu verfolgen in den Veröffentlichungen der Reihe »Sport -<br />

Arbeit - Gesellschaft« (seit 1973 im Pahl-Rugenstein-Verlag). Auch auf diesem Symposium<br />

war man noch weit von einer eigenständigen und kohärenten Sportwissenschaft<br />

entfernt. Die Veranstalter betonten die Prinzipien »Interdisziplinarität« und »Vielfalt<br />

theoretischer Ansätze«. Als Fächer waren u.a. vertreten Soziologie, Anthropologie, Psychologie,<br />

Bchinderten- und Erwachsenenpädagogik, Arbeitsmedizin, Kulturtheorie;<br />

vorgebracht wurden positivistische und phänomenologische Positionen ebenso wie marxistische.<br />

Den Rahmen setzten Vorträge des polnischen Sportsoziologen Wohl und des PsychologenJantzen<br />

über "Sport, Kultur, Gesellschaft« und »Persänlichkeitstheoretische Dimensionen<br />

von Lernen und Sport«. Daran schloß sich die erste Vortragsrunde zum Thema<br />

»Persänlichkeirsentwicklung von Erwachsenen in Arbeit, Lernen, Kultur und SPOrt«<br />

mit Beiträgen von Albanico, Sieber! und Dallgs an. Die Diskussion griff dann jedoch<br />

kaum die theoretischen Angebote auf, sondern machte sich an der Kontroverse um den<br />

Spitzensport fest: Die sehr positive Funktionsbestimmung Wohls stieß auf breiten, teilweise<br />

emotionalen Widerstand unter den Teilnehmern.<br />

Beiträge von Pretsing, Eimer, GeSJulat und Smger/ Kreiter leiteten die Runde zur<br />

Frage »Lernhemmungen und Sportpassivität« ein. Diskutiert wurde - mit recht optimistischer<br />

Sicht - über die sportliche Lernfähigkeit Erv;achsener und dementsprechende<br />

pädagogische Strategien; der Beitrag der Arbeitsmedizinerin Elsner, die empirisches


276 KongrejSankündzgungen und -beric'hte<br />

in Spanien zu erkennende Tendenzen zum Aufbau eines dualen Venretungssystems.<br />

- AG 2 war der Integrd/lOn gewerkschaftlzcher Betriebs· und Tdnfpolitzk gewidmet.<br />

H. Martem (Dortmund) stellte die These auf, daß die bisher <strong>für</strong> die BRD signifikante<br />

relative Beuiebsferne gewerbchaftlicher Tarifpolltik bisher die Handlungsfähigkeit der<br />

Gewerbchaften nicht nachhaltig behindert hat. gegenwärtig aber eine engere Verklammerung<br />

und eine qualitative Veränderung der Betriebspolitik vonnöten ist. um die gewerkschaftliche<br />

Stärke zu erhalten. EI! MaJx (TGWU-Vorstand London) verdeutlichte<br />

die Komplexität und Diversität des shop steward-Systems in Großbritannien. <strong>das</strong> als<br />

Ausdruck eines konfliktfähigen Basispotenrials mir hoher Idenrifikarionschance gelten<br />

kann. in der aktuellen Vertcidrgungsrolle aber nach einer institutionell gesicherten Integration<br />

in ein System des collecrive bargaining verlangt. Sophle Alf(Rom) referrerte<br />

über die »artikulierte Tarifpolitih in Italien. die den Delegiertenräten lange Zeit eine<br />

große Autonomie betrieblicher Verhandlungsführung einräumte. sich aber aktuell als<br />

sehr verwundbar erweist -- auch hier also ein von den überberrieblichen Gewerkschaftsinstanzen<br />

getragener Trend zur Anerkennung von <strong>Institut</strong>ionalisicrungszwängen. der<br />

allerdings angesichts der permanenren Regierungskrise sozusagen ohne Partner (einer<br />

nationalen WirtSchafts- und Arbeitsmarktpolitik) bleibt. H. BIassei (CfDT-Vorstand<br />

Paris) erläuterte <strong>das</strong> Konzept seiner Gewerkschaft. die in Frankreich überhaupt erst<br />

zum Aufbau eines verbindlichen Verhandlungssystems beitragen will. <strong>das</strong> die bisherige<br />

Interventionsmacht des Staates begrenzt und die Arbeltgeber zur Anerkennung der gewerkschaftlichen<br />

Verhandlungspartner zwingt. - AG 3 hane die VerrechtlZchungsproblematzk<br />

zum Thema. R. Erd (Frankfurt) kennzeichnete Rechtsfixietung und Legirrmationsverlust<br />

(wenn nämlich Gewerkschaften als mitverantwortlich bei negativen Krisenfolgen<br />

identifiziert werden) als :\achteile der hochgradigen Verrechtlichung in der<br />

BRD. die in anderen Ländern Westcuropas erheblich geringer ist. sich jedoch. wie die<br />

Referate von M. Pedrazzolz (Bologna). H. Hart (Göteborg) und B. Remolda (Nijmegen)<br />

zeigten. zunehmend durchsetzt. - AG 4 über die Veränderung der ArbeitJStrukturen<br />

durch gewerkJIAlftlZc!le BetnehJpolztzk zeigte anhand des Lohnrahmentarifvertrags<br />

II (R. Bzrkwald. IGM-Vorstand). der Stagnation betrieblicher Arbeitskol1lrolle in<br />

Italien (E. Ta!iani. Pisa). Schweden (S. GUJtajJOn. TCO) und in den Niederlanden (T<br />

Ftly. FNV). wO die aktuellen Grenzen der Berriebspolitik am stärksten spürbar sind:<br />

die in den 70er Jahren erreichten Fortschritte in der qUd!z!atlllerz VerbeSJerung der Arbezt<br />

(Requalifizierung. Humanisierung und Enrhierarchisierung) sind insular geblie·<br />

ben. werden gegenwärtig vor allem zur Abfederung von Rationalisierungsmaßnahmen<br />

»umgepolt« und weichen wieder dem Rückzug auf quantitative Verhandlungsgegenstände<br />

und status-quo-Sicherung. - AG 5 und die abschließende Podiumsdiskussion<br />

(u.a. mit G. Köpke. EGI; E. Piehl, EGB; WOlle. Berlin; G.Benz. IGM-Vorstand; R.<br />

Hel/er. Betriebsrat Opel Rüsselsherm) zergten die Grenzen national übergreifender gewerkschaftlicher<br />

OrganisatZonJJtrukturen auf. die in der Krise sich [[O[Z gewünschter<br />

Solidarität und Vereinheitlichung der Aktion eher noch zentrifugal verstärken. Deutlich<br />

machte dies auch ein Gespräch mit Betriebsräten der Dortmunder Hoesch-Hüttenwerke.<br />

die in einen bi nationalen Stahlkonzern (Estel) eingebunden sind. ohne hier bisher<br />

<strong>das</strong> erforderliche Maß an Kooperation mit den niederländischen Kollegen erreicht<br />

zu haben. Eine Zusammenfassung der Ergebnisse unterblieb; wollte man sie dennoch<br />

versuchen. bleibt nur der wenig euphorische Schluß. daß. egal ob stärker zentrale oder<br />

dezentrale Organisations- und Aktionsformen historisch ausgebildet sind. angesichts<br />

det aktuellen Großoffensive des Kapitals die Gewerkschaften in eine unbequeme Defensivpositron<br />

geraten slnd. und daß sich angesichts bisher eher abnehmender Konflikt·<br />

bereitschaft der Belegschaften unter dem Damoklesschwert der "1assenarbeitslosrgkeit<br />

eher ein Trrend zur Zentralisierung der Gewerkschaftsaktivität als eine neue Dezenttalisierungs-<br />

(und damit Demokratisierungs)welle abzeichnet. Claus Leggewie (Kassel)


280 BeJprechungen<br />

Strenge mit den Intentionen eines über Russell vermittelten Pragmatismus verbinden<br />

(54f.). Im Ergebnis erhält er dabei eigenständige. bis in die Gegenwart fortwirkende<br />

Problemstellungen und -lösungen. Ramsey kritiSiert z.B .. ohne sich auf eine nominal istische<br />

Ontologie festzulegen, die Unterscheidung von Individuen und Universalien. Er<br />

behauptet. daß diese Unterscheidung nur aus dem Interesse der Mathematik geboren<br />

ist: wenn man aber nicht nur an Klassen von Dingen (wie die Mathematik). sondern<br />

auch an solchen von Qualitäten interessiert sei. ergäbe sich zwischen Qualitäten und Individuen<br />

eine vollständige Symmetrie. Erfände man auf Grund dessen einen "Symbolismus.<br />

der in Hinblick auf Individuen und Qualitäten vollständig symmetrisch ist«<br />

(39). machte dies deutlich. »daß in den Wörtern 'Individuum' und 'Qualität' kein Sinn<br />

steckt« (39). Das, was man tut, wenn man diese Wörter benutzt, ist. »über zwei Typen<br />

von Gegenständen so zu teden. daß zwei Gegenstände. jeweils einer von jedem Typ,<br />

die einzigen Konsütuenten einer atomaren Tatsache sein können« (39). Weil diese Typen<br />

symmetrisch aufeinander bezogen sind, ist damit nichts gesagt, und »diese beiden<br />

Wörter besitzen keine Konnotation« (39). Ramsey zielt mit dieser Argumentation<br />

schon nicht mehr, wie der reine Logizismus. auf die Sprachform, sondern auf den<br />

Sprachgebrauch. wenn er <strong>das</strong> Universalienproblem aus dem »Sprachspiel« der Mathematik<br />

entstehen läßt. Lösbar werden die Probleme der Sprache <strong>für</strong> ihn unter Berücksichtigung<br />

des Gebrauchs der Sprache. nicht mehr ailein aus der Rd1exion über ihre<br />

Form.<br />

Eine andere, bis heute wirksame Problematik ist die von Ramsey behauptete Redundanz<br />

der Wahrheit. Für ihn gibt es nämlich »kein eigenständiges Wahrheitsproblem.<br />

sondern nur eUI sprachliches Durcheinander« (44). Semem Analvsevorschlag gemäß<br />

kann man den Satz »er hat immer recht« z.B. »durch 'Für alle a.R,b gilt: wenn er aRb<br />

behauptet. dann aRb' ausdrücken. es wäre offensichtlich überflüssig, dem Satz noch<br />

'ist wahr' hinzuzufügen« (45). Das eigentliche Problem betrifft daher auch nicht »<strong>das</strong><br />

Wesen der Wahrheit \Jnd Falschheit. .. , sondern <strong>das</strong> Wesen des Urteils oder der Behauptung«<br />

(45), und Ramsey stellt sich die Aufgabe: ,>Wir müssen daher erklären. was<br />

die Aussage bedeutet, <strong>das</strong> Urteil sei ein Urteil. daß a in der Beziehung R zu b steht«<br />

(45). Diese Problemstellung reicht sicher weit über die von Ramsey selbst vorgelegte logizistische<br />

Lösung hinaus. Eine andere Richtung der neopositivistischen Tradition<br />

nimmt Ramsey in seiner kurzen Notiz »Wissen« aus dem Jahr 1929 z.T. vorweg, wenn<br />

er »Wissen« als einen Glauben, der »durch einen verläßlichen Prozeß erworben« (109)<br />

ist, kennzeichnet und damit die Verbindung von Wissen und Rechtfertigung auflöst.<br />

Hier klingen Gedanken an. die z.B. von Popper weiter entfaltet werden.<br />

In den Aufsätzen zur Mathematik bekennt sich Ramsey entschieden zur logizistischen<br />

Tradition der »Principia Mathematica«. In dem Aufsatz »Die Grundlagen der<br />

Mathematik« versucht er, »durch die Verwendung des Werkes von Wittgenstein« (131)<br />

eine bereinigte und gegen die Angriffe des Formalismus Hilbens und des Intuitionismus<br />

Brouwers gefeite Fassung der Grundgedanken der »Principia Mathematica« vorzulegen.<br />

Den Hauptmangel der <strong>für</strong> ihn hoffnungslos inadäquatEn formalistischen <strong>Theorie</strong><br />

sieht er als »Ergebnis der Einschränkung. daß man nur Sätze der ;\1athematik betrachtet<br />

und die Analvse ihrer Begriffe vernachlässigt hat« (132), an; der Intuitionismus<br />

andererseits führt zur »Aufgabe einer ganzen Reihe der ftuchtbarsten Methoden moderner<br />

Analyse« (132).<br />

Den Abschluß des Bandes bilden zwei Aufsätze zur mathematischen Ökonomie über<br />

die <strong>Theorie</strong> der optimalen Besteuccrung und die dn optimalen Akkumulation.<br />

Michael Lönz (Münster)


PhdoJOphte 281<br />

Billing, Hans: Wittgensteins Sprachspielkonzeption. Bouvier Verlag,<br />

Bonn 1980 (139 S" br., 28,- DM).<br />

Eine Wingensteininterpretation darf nicht eine endgültige Klärung der Grundterme<br />

Wingensteins versuchen. Sie kann nur versuchen, 1. entweder die »Therapie sprachlicher<br />

Verwirrungen« weiterzutreiben, indem sie Wmgenstellls Erkenntnisse auf konkrete<br />

Probleme der Philosophie oder der Methodologie der Sprachwissenschafr, wie z,B.<br />

<strong>das</strong> Universalienproblem, anwendet, oder 2., bleibt die Interpretatlon systemimmanmt,<br />

eine Weitererklärung der Begriffe der PhilosophIschen Untersuchungen zu machen,<br />

indern bisher nicht aufgezeigte Verbindungen, Nuancen, Zusammenhänge der<br />

Entwicklungsgeschichte der Begriffe aufgezeigt werden. Diese Erläurerungen können<br />

nach Wittgensteins eigener Ansicht nie zu einem gültigen Ende kommen,<br />

Billings Interpretation gehört zur zweiten Kategorie: Forterläuterung der Wittgensteinsehen<br />

Grundterme, Verfolgung der historischen Dimension dieser Terme in Wittgensteins<br />

Philosophie, wobei als Resultat dieser historischen Interpretation die Kontinuitätsthese<br />

untermauert wird. Billings Methode ist Wittgensteins eigene Methode der<br />

BeJchretbung.<br />

Ich will genauer nur auf den auch umfangmäßig bedeutendsten Teil der Arbeit, den<br />

Abschnin »Grammatik - Regel« eingehen. Es geht dort um die Klärung von drei<br />

Punkten: 1. Die Erstellung, Befolgung und die Eigenart von Regeln. 2. Die Entwicklung<br />

dieses präzisierten Regdhegriffs im Gesamrwerk Wittgensteins. 3 Die Frage, ob<br />

die »Regeln des Spätwerks« immer noch als Kalkii/rege/n beschrieben werden können.<br />

An der Behandlung dieser drei Punkre werden die Stärken und Schwächen des ganzen<br />

Buches deutlich. Es wird versucht, und <strong>das</strong> ist m.E. der gelungenste Teil. den Weg<br />

Wittgensteins von der vorschreibenden zur nachschreIbenden Regel zu verfolgen, parallel<br />

dazu wird der Ühergang vom Kalkül zum Sprachspiel beschrieben und die Betrachtung<br />

des isolierten Satzes, der mit der Wirklichkeit korrespondiert versus Betrachtung<br />

des Satzes in seiner Verwohenheit in den Kommunikationszusammenhang. Dadurch<br />

daß sich Billing aber völlig mit der Philosophie Wittgcnsteins identifiziert. fällt<br />

inhaltlzch eine gewisse Kritiklosigkeit gegenüber Wittgenstein auf, die sich v.a. darin<br />

zeigt, daß, wenn die Gedanken Wittgensteins überhaupt auf andere Systeme, wie z.B.<br />

auf Chomsky und andere strukturalistische Systeme, bezogen werden, dies nicht in angemessener<br />

Weise geschieht.<br />

Zur BeschreibungsmetlJode: Das Buch erscheint wenig svstematisch und dadurch etwas<br />

unübersichtlich. Es zwingt zu mindestens zweimaligem Lesen, was nicht unbedingt<br />

als Nachteil zu werten 1St. Dies liegt Z.T. auch in der Natur der Sache: Die Verwobenheit<br />

der Begriffe Witrgensteins ineinander ist wohl nicht anders darstellbar.<br />

Paul Schmidt (Mannheim)<br />

Danto, Arthur c.: Analytische Handlungsphilosophie. Scrip tor Verlag,<br />

KönigsteinlTs. 1979 (3')4 S" br" 48,-- DM).<br />

Der Autor, Philosophieprofessor an der Columbia University, ist hierzulande vor allem<br />

durch sein Buch »Analytische Philosophie der Geschichte« (Ffm .. 1970; rezensiert<br />

in Argument 109) bekannt. Gegenstand des Buches ist »die logische Architektur von<br />

Handlungen« und deren Parallelität zur Struktur des Wissens. Im ersten Kapitel stellt<br />

Danto Handlungs- und Wissenstvpen vor. die er »vermittelt« nennt. Das sind solche,<br />

»bei denen Jemand etwas weiß oder tut, durch etwas anderes was er weiß oder tut,<br />

Handlungen und Erkenntnisse also, die andere Handlungen und Erkenntnisse sozusagen<br />

enthalten.« (41)Jedoch, so folgert er, »wenn ich immer, wenn ich etwas tue, etwas<br />

anderes tun müßte, wodurch die erste Sache getan wird, könnte überhaupt nichts getan<br />

werden.« (41) Und <strong>das</strong> gilt auch <strong>für</strong>s Wissen. Diese Erkenntnis führt ins eigentliche<br />

Zentrum der Untersuchung (Kap. 2,3.4), zum Begriff der Basishandlung bzw. Ba-<br />

DAS ARGU.\1E:\1 126/I\}SI


Phzlosophie 283<br />

und den Gegenstand bloßer Vereinbarungen herangefühn werden soll. Diesem Herleitungszwang<br />

, der in seinem wissenschaftlich akribischen Detaillismus keine Lücke lassen<br />

will <strong>für</strong> ein von der Realität etwa selbst geschaffenes fait accompli - der vorherrschende<br />

Eindruck angeSlChts dieses im Medium akademischer Wissenschaft rekonstruierten Universums<br />

ist folgerichtig der einer ungeheuren Willkür -, kontrastiert eindrucksvoll<br />

nicht nur <strong>das</strong> Fehlen jeglicher 'Herleitung' , i.e. Begründung der zeichentheoretischen<br />

Begriffe; es kontrastiert ihm nicht weniger auch die kalte, erkenntnistheoretische Attitüde,<br />

mit der Fischer-Lichte die von ihr mit äußerster Akribie zusammengetragenen<br />

sprachtheoretisch relevanten Positionen, von Plato bis Lorenzer, auf ihre Leistungsfähigkeit<br />

im Sinne der abstrakt vorgegebenen Fragestellung prüft.<br />

Angesichts einer so abstrakt akademischen Fragestellung gerät nicht nur <strong>das</strong> Problem<br />

der gesellschaftlichen Determination der Bedeutungskonstitution - bzw. Konstitution<br />

des Bedeutungsproblems - nicht in den Blick; in den Ergebnissen solcher Fragestellung<br />

reproduzieren sich auch wie immer ungewollt die ebenso unausgesprochenen wie<br />

unbefragt bleibenden Dogmen der herrschenden Gesellschaft, i.e. parlamentarisch-liberalen<br />

Demokratie. Daß Bedeutungskonstitution sich nicht syntaktisch, sondern wesentlich<br />

pragmatisch vollziehe, diese Einsicht ist ja nichts anderes als der spontane Reflex<br />

einer Gesellschaft, die der drohenden Austragung ihrer materiellen Konflikte mit<br />

dem inszenatorischen Aufwand der Spielregeln begegnet. Tatsächlich ist bei Fischer­<br />

Lichte die Ablehnung der Syntax als vermeintlicher Inbegriff sprachtheoretischer Borniertheit<br />

und in Wirklichkeit Chiffre <strong>für</strong> eine lästige Objektivität eklatant. Noch <strong>das</strong><br />

Symbol Benjamins krankt ihr zufolge daran, daß »die ihm fehlende semantische Dimension,<br />

die an sich. in Abhängigkeit von der pragmatischen konstituiert wird, mit<br />

der syntaktischen bereits <strong>für</strong> <strong>das</strong> jeweilige bedeutungskonstituierende Subjekt gegeben<br />

sein soll« (188), während in der Allegorie Subjektivität sich wie immer verzweifelt realisiert.<br />

Strikt lehnt sie auch Blochs Objektivismus als »<strong>für</strong> uns nicht akzeptabel« (165) ab.<br />

Insgesamt handelt es sich dabei offenbar weniger um die selbstbewußte liberale Zurückweisung<br />

metaphysischer Positionen als vielmehr um eine eher ängstliche Vergewisserung<br />

hinsichtlich der Fundamente eines keineswegs unangefochtenen Liberalismus.<br />

Darauf deutet nicht zuletzt der aporetisch-radikalistische Zug von Fischer-Lichtes Argumentation.<br />

Er hat jedenfalls nichts damit zu tun, daß, wie sie an Stellen glauben machen<br />

will, eine hermeneutisch sich verstehende Semiotik durchaus die Revolution systematisch<br />

zu reflektieren imstande ist; er ist vielmehr der Reflex der liberalen Aporien, in<br />

denen die Freiheit vom äußeren Zwang sich immer auch als "Willkürherrschaft der Subjektivität«<br />

(192) darstellt, wobei die Revolution als paradoxer Ausdruck der liberalen<br />

Freiheit zum Faszinosum der akademischen Auseinandersetzung gerät (vgl. 114f. und<br />

202f.). Um dieser Herrschaft die Willkür auszutreiben, muß sie vom Subjekt reflektiert<br />

werden. Daß dazu <strong>das</strong> systematisch entmündigte Subjekt der verwalteten Konsumgesellschaft<br />

am wenigsten in der Lage ist, hat auch der Aurürin gedämmert: denn ausdrücklich<br />

verweist sie diese Selbstreflexion in den utopischen Bereich des Äsrhetischen.<br />

"Der Prozeß ästhetischer BedeUtungskonstitution«. resümiert sie am Schluß, »setzt <strong>das</strong><br />

von sogenannten objektiven Zwängen entmündigte Subjekt in seine Rechte als ein bedeutungskonstituierendes<br />

Subjekt in jedem seiner Verlaufsmomente wieder ein« (206).<br />

Ilse Bindseil (Berlin/West)<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


284 Besprechungen<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Götze, Karl-Heinz: Grundpositionen der Literaturgeschichtsschreibung<br />

im Vormärz. Verlag Peter D. Lang, Frankfurt/M.-Bern-Cirencester/U.K.<br />

1980 (629 S, br., 64,- m·l)<br />

Zu einem Zeitpunkt, an dem Ankündigungen und Erscheinen neuer Literaturgeschichten<br />

sich häufen, wobei häufig ein mehr oder minder geschickt hergestellter Bezug<br />

zur »Sozialgeschichte« den Mangel an theüretisch-methodologischer wie geschichtsphilosophischer<br />

Reflexion legitimieren soll, kann eine Untersuchung zur Literaturgeschichtsschreibung<br />

besonderes Interesse verlangen. Dies umso mehr, wenn es sich um<br />

die breit angelegte Untersuchung von 'Grundpositionen der Literaturgeschichtsschreibung<br />

im Vormärz' handelt. dessen Literatur der literaturwissenschaftlichen Diskussion<br />

seit Ende der (iOcr Jahre wesentliche Anstöße gab. Götze warnt in diesem Zusammenhang<br />

vor vorschneller Aktualisierung der Literatur des Vormärz - er versteht darunter<br />

begründet den Zeitraum zwischen 1830 und 1848 (nicht ohne weiteres ist mir allerdings<br />

die gattungsbezogene Abgrenzung <strong>für</strong> die Zeit nach 1848, z.B. <strong>für</strong> J. Schmidt,<br />

einsichtig). Aktuell ist ihm die Literaturgeschichtsschreibung dieser Zeit v.a. hinsichtlich<br />

ihrer bewußten gesellschaftlichen Zielsetzung und hinsichtlich ihres Verständnisses<br />

von wissenschaftlicher Tätigkeit als Praxis (501). So kann die vormärzliehe Literaturgeschichtsschreibung<br />

»Medium der (bürgerlichen) Sclbstreflexion« werden, aus dem Bedürfnis<br />

nach »geschichtsphilosophischer Vermittlung des vergangenen mit dem gegenwärtigen<br />

Zeitalter deutscher Geschichte«, jenes geprägt durch Literatur und Philosophie,<br />

dieses durch die politische Subjektwerdung der Deutschen (493/494). Literaturgeschichte<br />

wird so Bestandteil des oppositionellen bürgerlichen »Kampfes um ideologische<br />

Hegemonie« (44; s. 56), erhält In diesem Sinne operative Funktion (49). Aus dieser<br />

grundlegenden Intention begründet sich die <strong>für</strong> den Autor typische Form der Literaturgeschichte<br />

im Vormärz als »nationallirerarische Gesamtdarstellung mit oppositioneller<br />

Absicht und geschichtstheoretischem Konzept« ('i8), verbunden mit dem Interesse an<br />

empirischer Breite (28) (gilt dies <strong>für</strong> Heine'). Von dieser Bestimmung der wesentlichen<br />

Kennzeichen der Gattung ausgehend kommt Götze zur Auswahl ihm exemplarisch erscheinender<br />

Literaturgeschichten der Zeit; stellveruetend zugleich <strong>für</strong> die wichtigsten<br />

bürgerlichen Gruppen (Aristokratie wie Unterschichten produzieren im Vormärz keine<br />

Literaturgeschichten). Behandelt werden so Menzel (als Beispiel <strong>für</strong> die noch nicht erfolgte<br />

Trennung von bürgerlich-libnaler, jungdeutscher und national-konservativer<br />

Haltung), Vilmar (kleinbürgerlich-konservativ), Gervinus (bürgerlich-liberal), Zimmermann<br />

(radikal-demokratisch) und Heine (über bürgerliche Positionen hinausgehend).<br />

Die Nennung dieser Autoren allein deutet nicht nur den Umfang des zu bearbeitenden<br />

Materials an, sondern mehr noch die Aufgabe, dies z.T. (<strong>für</strong> Zimmermann<br />

z .B.) erst zu erschließen und aufzuarbeiten. In dieser Hinsicht leistet Götze Beachtliches,<br />

v.a. wenn man bedenkt. daß wesentliche Voraussetzungen dazu fehlten - selbst<br />

etwa der Versuch einer Gattungsbestimmung. Dies begründet aber zugleich die Ungleichgewichtigkeit<br />

der einzelnen Kapitel. geht es doch darum, »eine Sammlung von<br />

Kritiken (Menzel), eine Literaturgeschichte <strong>für</strong> <strong>das</strong> Laienpublikum (Vilmar), eine 'wissenschaftliche'<br />

Literaturgeschichte (Gervinus), einen didaktischen Leitfaden <strong>für</strong> die<br />

Schule (Zimmermann) und literarische Essays (Heine) zu vergleichen« (75). Herrscht<br />

z.B. im Kapitel über Viln1ar zunächst die referierende Inhaltsübersicht vor, so wird die<br />

Darstellung der "Literaturgeschichte« Heines weitgehend aus Bezug und Ahgrenzung<br />

zu den vorhergehend dargestellten Positionen, v.a. von Gervinus, entwickelt.<br />

Die dargestellten Positionen bleiben im wesentlichen dann doch auf die jeweiligen<br />

Autoren bezogen, ihre gesellschaftliche Wirkung und Rückwirkung wird nur am Rande<br />

Gegenstand der Untersuchung; die Angabe von - häufig nur mühsam zu ermitteln-


Kunst- und KultuTW,ssenschaften 287<br />

Historisieren der Fabel (Kap. 8) und die Konzeption der Figuren (Kap. 8 und 10) zu<br />

diskutieren. Der Leser gewinnt also den Eindruck eines Baukastens verschiedener <strong>Theorie</strong>fragmente,<br />

aus denen man sich beliebig bedienen kann und nicht den einer zunehmend<br />

differenzierten Organisation des ästhetischen Materials. Dazu paßt auch. daß<br />

Schmitt den Tragödienbegriff bei Eisler sehr vage auf nur einer Seite behandelt (246).<br />

Gerade weil Brechts Herangehensweise von ihm selbst oft nur flüchtig skizziert ist.<br />

wäre es günstiger gewesen. die zentralen Kategorien aus seinem theaterpraktischen<br />

Umgang mit dem Stoff abzuleiten, anstatt sich bei Widersprüchen auf die schlechte<br />

Quellcnlage zurückzuziehen oder ohne Konsequenzen bleibende <strong>Theorie</strong>fragmente<br />

vorzuführen, so z. B. den theoretischen Ansatz Arno Pauls und seine Erweiterung durch<br />

Wekwerth.<br />

Das vorletzte Kapitel referiert Eislers Opern libretto »Johann Faustus«, ohne die inzwischen<br />

- z.B. im AS 5 - fortgesetzte Diskussion zu berücksichtigen. Hierbei wird<br />

im übrigen der Erzähler von Thomas Manns Roman »Doktor Fausrus« als »Serenius<br />

Zeitblohm« (215) vorgestellt I Im letzten Kapitel gibt Schmttt den Ablauf der »Faustus­<br />

Debatte« in der DDR wieder und benutzt die Mängel dIeser Diskussion zur Diskreditierung<br />

der Kulturpolitik der DDR.<br />

Die Schlußfolgerung. daß Brecht und mit ihm <strong>das</strong> dialektische Theater tot seien,<br />

während sich die Lehrstücktheorie und -praxis von ihm ,>emanzipiert« (258) hätten, läßt<br />

den Grundtenor des Buches vollends klarwerden: Brecht dort zu akzeptieren. wo er sich<br />

als Parteigänger der eigenen Meinung benutzen läßt und ihn dort abzulehnen. wO seine<br />

Theatertheorie und -praxis die herrschende Gesellschafrsformation in Frage stellen<br />

könnte. Claudia Albert (Berlin/West)<br />

Kunst- und Kulturwissenschaften<br />

Henze, Hans-Werner (Hrsg.): Zwischen den Kulturen. !\me Aspekte der<br />

musikalischen Asthetik 1. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1979<br />

(271 S, br, 37,- DM).<br />

In den letltenJahren haben sich im Zusammenhang mit sozialen und politischen Bewegungen<br />

Ansätze einer neuen Musikkulrur herausgebildet. Ein besonderes Merkmal<br />

vieler Initiativen ist ihr Laiencharakter. Es haben sich aber auch einige zeitgenössische<br />

Komponisten dieser neuen Musikkultur zugewandt. Ihre Kompositionen beziehen sie<br />

unmittelbar auf die politischen Auseinandersnzungen (z.B. Berufsverbote. Frieden,<br />

Ökologie). In dIesem Zusammenhang wird der Begriff der »politischen Musik« verwendet.<br />

Bürgerliche ",-1usikkritiker und Theoretiker sprechen dieser Musik Jeglichen ernstzunehmenden<br />

»Kunstcharakter« ab. und 'legitimieren' die })Lockerung des Kunstan·<br />

spruchs« dieser Musik durch ihre ,>Rücksicht auf soziale und politische Funktionen«<br />

(Dahlhaus). Die »peJlitische Musik« will unmittelbar verstanden werden. Vielfach wird<br />

Folklorematerial außereuropäischer Länder aufgegriffen, womit zugleich eine Verbindung<br />

zu den Befreiungskämpfen in der 3. Welt hergestellt werden soll.<br />

Solche musikalischen Praxen sind insofern fortschrittlich, als sich in Ihnen vielfältige<br />

kulturelle Aktivitäten »von unten« herausbilden. Wie verhält sich diese fortschrittliche<br />

Seite zu dem, was ästhetischer, künstlerischer Fortsehnte genannt wad) Wie stehen die<br />

Musikgruppen zu musikalischer Tradition. wie versuchen sie zu erben) Wie verhindern<br />

sie die Barbarei in der Asthetik durch Überpolitisierung der Kunst, vor der Hanns Eisler<br />

warnte) Um solche Fragen geht es in diesem Buch. Henze fragt in seinem programmatischen<br />

Aufsatz, wie eine nicht volkstümelnde Volkskunst möglich ist) Ausgehend von<br />

seinen Erfahrungen beIm »Cantiere Internazionale d' Arte« in Montcpulciano zielen seine<br />

Überlegungen auf eine Demokratisierung der Musikkultur. Vermittlung zwischen


Kunst- und KultuTwissenschaften 289<br />

nur halbwegs tragfähigen und durchgängigen theoretischen Auffassung des Gegenstandes<br />

- der Zusammenhänge von Entwicklung der kapitalistischen Gesellschafrsformation<br />

und der Ausbildung von Massenfreizeit. Darin äußert sich ein Grundmangel<br />

der Sozialgeschichtsschreibung der letztenjahre, soweit sie von einem allgemeinen Industrialisierungs-Konzept<br />

ausgeht; hinzu tritt in diesem Fall <strong>das</strong> weitgehende Fehlen<br />

einer Forschungstradition der Historiker zum Gegenstand und <strong>das</strong> <strong>Theorie</strong>-Defizit der<br />

aktuellen Freizeitsoziologie in der Bundesrepublik, Zwar sind die Beiträge in ihrer<br />

theoretischen Reichweite durchaus verschieden, aber selbst die besten sind hier nicht<br />

mehr als Mosaiksteine, die der Einfügung in ein Gesamtbild bedürfen,<br />

Das hätte zumindest der Anspruch an den einleitenden Aufsatz des Herausgebers<br />

sein können, Er versucht jedoch gar nicht, die folgenden Texte ordnend aufzugreifen,<br />

Neben einigen kurzen Bemerkungen zur freizeitsoziologischen Diskussion entwickelt<br />

Huck einen Leitgedanken zur Sozialgeschichte der Freizeit: die Veränderung des Zeitbewußtseins<br />

mit dem >,Übergang zur industriellen Weltepoche« (13) - die Abkehr von<br />

natürlich oder rituell bestimmten Zelteinteilungen zugunsten der Vorstellung eines<br />

gleichmäßigen, mathematisch-mechanisch in gleichartige Abschnitte einteil baren Zeitflusses,<br />

Dieser Ansatz ist nicht neu, bei Huck jedoch weitgehend idealistisch pointiert: »Erst<br />

seit Zeit von konkret ausgefüllter Zeit zur abstrakten Verrechnungseinheit <strong>für</strong> jegliches<br />

menschliche Tun geworden war, konnte der Gedanke Sinn gewinnen, Zeit zu teilen,<br />

Zeit zu sparen, Zeit zum Maß <strong>für</strong> Leistung zu machen, 'freie' Zeit von Arbeitszeit strikt<br />

abzugrenzen« (14),<br />

Die Verbindung von Naturwissenschaften, Kapitalentwicklung, Industrialisierung<br />

und Zeitbewußtsein ist hier stark verkürzt. Die moderne Zeitauffassung erscheint darüber<br />

hinaus im Leben der unterdrückten Klassen als zentraler Verlust gegenüber der<br />

vorindustriellen Epoche: »Soziale Abhängigkeit wurde fühlbar vor allem im Verlust der<br />

freien Verfügung über die Zeit« (14) - seit Marx' Analyse der doppelt freien Lohnarbeit<br />

kann diese Auffassung nicht mehr als wissenschaftlich gelten, Sozialgeschichte<br />

steht hier in - allerdings nicht offen entfalteter - Polemik mit der marxistischen Auffassung,<br />

die die Entwicklung von Lebensweise der Arbeiter und Kapitalismus aus der<br />

Zukunftsperspektive notwendig frei vergesellschafteter Produzenten untersucht. Nahegelegt<br />

wird, vor allem die »dunklen Seiten« der historischen Entwicklung (zumindest<br />

bis zum Ende der Weimarer Republik) zu sehen in der Disziplinierung durch großindustrielIes<br />

Zeitregime, <strong>das</strong> freie, spontane >>Verausgabung« der Individuen durch moralische<br />

Vndammung und herrschaftliche Reglementierung aumeibt. Nicht die Ausbildung<br />

einer kollektiv handlungsfähigen Klassenbewegung, die Freizeit in ihrem Interesse<br />

zu gestalten versucht, liefert <strong>das</strong> Paradigma, sondern die Einengung der Freiheit der<br />

kleinen Leute durch die großen Apparate von Industrie und herrschenden Mächten,<br />

Das mündet dann konsequent in der kultur<strong>kritische</strong>n Sorge, daß in unserer heutigen<br />

Gesellschaft »Freizeit am Ende nichts anderes sei als der fahle Abglanz eines unerfüllten<br />

Traums, eine Strafe, eine zwanghafte Jagd nach 'Zerstreuung von der Zerstreuung<br />

durch Zerstreuung' (R, Glasser)« (7),<br />

Fazit: Der Band bietet Episoden aus der Entwicklung der Freizeit, die immer mit Interesse<br />

und meist mit Erkenntnisgewinn zu lesen sind, Von einer Sozialgeschichte der<br />

Freizeit ist er weit entfernt - weiter, als beim heutigen Erkenmnisstand unvermeidbar.<br />

Die knappcn Literaturhinweise können in ihrer Zufälligkeit da auch nicht weiterhelfen,<br />

Kaspar Maase (Bad Vilbel)<br />

DAS ARGL\1U\T 12(J i 1.981


290 Besprechungen<br />

Armanski, Gerhard: Die kostbarsten Tage des Jahres. Massentourismus­<br />

Ursachen, Formen und Folgen. Rotbuch Verlag, Berlin/W. 1978<br />

(111 S., br., 7,- DM). -zit. I<br />

Prahl, Hans-Werner, und Albrecht Steinecke: Der Millionen-Urlaub. Von der<br />

Bildungsreise zur totalen Freizeit. Luchterhand Verlag, Darmstadt/Neuwied 1979<br />

(276S.,Ln.,28,-DM). -zit.Il<br />

Der moderne Massentourismus ist ein Privileg der Bewohner der entwickelten Industriestaaten,<br />

die sich die geeignetsten Regionen der Erde auf möglichst billige Art da<strong>für</strong><br />

reservieren. Wahrgenommen werden können seine Möglichkeiten inzwischen nicht<br />

mehr nur von den Besitzenden, sondern auch von Teilen der arbeitenden Klassen, die<br />

damit einen Teil ihres formationsspezifischen Regenerations-(Entmüdungs-)Bedürfnisses<br />

(I, 69) abdecken. Teilweise haben sich zwischen Tourist und Urlaubsaufenthalt als<br />

Vermittler kapitalistische Unternehmen geschaltet, die durch ihre profitorientierte Praxis<br />

die konkrete gesellschaftliche Form des Tourismus prägen - vielfach zuungunsten<br />

der Zielregionen und der Touristen.<br />

Obwohl dieser Tourismus ein Massenphänomen mit bedeutenden gesellschaftlichen<br />

Auswirkungen ist, kommt die Tourismus-Forschung nur langsam voran. Allein neue<br />

Bücher sind noch kein FortSchritt, zumal wenn sie wenig Neues bieten. Die beiden Titel<br />

fassen zusammen, was man weiß oder ahnt: daß der moderne Massentourismus ein<br />

Phänomen der kapitalistischen Gesellschaft ist (allerdings, und <strong>das</strong> moniert Friedrich<br />

A. Wagner in seiner vorurteilsvollen FAZ-Kritik vom 3.1.1980 mit Recht, konzentriert<br />

auf den kommerziellen Tourismus. der nur den kleineren Teil des Phänomens ausmacht).<br />

Nur: So präzis wie <strong>das</strong> heute notwendig und möglich wäre, wird die widerspruchsreiche<br />

Formationsspezifik der Entwicklung nicht nachgezeichnet.<br />

Il bringt leicht lesbare muntere kultur- und sozialgeschichtliche Reportagen zur Entwicklung<br />

von Badetourismus, Alpinismus, Skifahren usw. (wobei die Spezifik des alpinen<br />

Vereinstourismus nicht herausgearbeitet wird: der Alpenverein erschließt mit anderen<br />

Folgen als der kommerzielle Massentourismus). Relativ neu ist die Aufarbeitung der<br />

(kurzen) Geschichte des Spanientourismus. Dargestellt wird die Marketing-Strategie<br />

<strong>für</strong> Irland, die auf Individualisten setzt, und die Entwicklung in Kenia (auf S. 89 und<br />

92 werden gleiche Investitionszahlen <strong>für</strong> unterschiedliche Zeiträume genannt) mit<br />

Aspekten wie »Bordell der Industrieländer« (99), der Devisen-Sickerrate und der indirekten<br />

externen Gewinnabschöpfung . Das alles ist nicht besonders neu und nicht sehr<br />

intensiv recherchiert - genau so, wie an anderer Stelle die ökonomische Dynamik des<br />

Tourismusgeschäftes <strong>für</strong> die Anbieter nicht wirklich analysiert, sondern nur wiedergegeben<br />

wird. Der erste Teil von Il ist nach Regionen und Ländern geordnet, der zweite<br />

Teil bring I einen historischen Exkurs: Wiederholungen und Überschneidungen sind<br />

nicht vermieden worden. Angedeutet werden die gesellschaftsgeschichtlichen Implikationen:<br />

"der Tourismus wurde zum Kitt der auseinanderklaffenden gesellschaftlichen<br />

Widersprüche« (155) - schon mit Cook angeblich, deutlicher aber bei »Kraft durch<br />

Freude«-Reisen. (Inzwischen gibt es eine neuere Zusammenfassung dazu: Hasso Spode,<br />

»Der deutsche Arbeiter reist«: Massentourismus im Dritten Reich. In: Gerhard Huck<br />

(Hrsg.), SOZIalgeschichte der Freizeit. S. die Rezension in diesem Heft.) Enttäuschend<br />

ist, daß zwischen »deutscher Sommerfrische« (159) und KdF überhaupt nichts erwähnt<br />

1St: Naturfreunde und dergleichen kommen nicht vor.<br />

Deutlich wird die Formationsspezifik auch in ihrer Bedeutung <strong>für</strong> <strong>das</strong> touristische Erleben<br />

(1, 74: »der Tourist lernt nicbI«). In beiden Titeln werden die negativen Folgen<br />

und die Strategien der Unterwerfung unter touristische Bedürfnisse dargestellt (bezogen<br />

auf ptofitorientierte Tounsmusindustrie und die ihr zuarbeitende Planung z. B. im<br />

französischen Roussillon 1,83: in Spanien I, 57: in Bali 1. 65). Deutlich wird die damit<br />

induzierte Dvnamik: »Der Tourismus zerstört, wonach zu suchen er angetreten ist« (I,


Soziologie 291<br />

56: am Beispiel Sylt 11. 37f): es gibt ausgesprochen kolonialistische Aspekte (l, 50) und<br />

Ausbeutung ohne Rücksicht auf die Folgen (»Was vernichtet ist, wird liegengelassen«,<br />

I, 65), Enzensbergers Kategorien »Normung, Montage, Serienfertigung« (1, 39: II 200<br />

und 232) werden ausführlich rekapituliert,<br />

Die Autoren von II betonen, daß man dem Tourismus nicht gerecht wird, wenn man<br />

in ihm nur die »ständige Wiederholung unerfüllter und unerfüllbarer Bedürfnisse<br />

sieht« (PrahllII 10), Besonders eindringlich mahnt Armanski, die auch in den verzerrten<br />

Formen des kommerziell formierten Toutismus vorhandenen Bedürfnisse nach Erholung<br />

(die offene Frage, wieso sich eigentlich diese Entmüdung in den letzten 7 Jahrzehnten<br />

so intensiv auf den Jahresurlaub konzentriert hat, wird nicht gestellt) und <strong>das</strong><br />

auch im bürgerlichen Fluchttraum enthaltene Glücksverlangen (I, 84) ernstzunehmen,<br />

Man solle nicht »falsche Bedürfnisse« unterstellen, sondern die »Frage nach den gesellschaftlichen<br />

Triebkräften« (II, 199) stellen, fordern auch die anderen Autoren,<br />

Linke Tourismuskritik, solange sie nichts anzubieten hat als den Alternativtourismus,<br />

der doch wieder nur der Vorreiter des Massentourismus ist, verkommt oft genug zur<br />

»Kritik der Edeltouristen an ihren armen Vettern« (1, 90), Aber auch bei diesen Arbeiten<br />

sind die Alternativen schaL Da gibt es die gut vorbereitete »bewußt-assoziierte Aneignung<br />

der Welt« in der kleinen Bildungs-Gruppenreise, ausdrücklich kein Vorbild <strong>für</strong><br />

den Massentourismus (1,95, zitiert dann bei II 25 7 f), da gibt es bei beiden den Verbraucherschutz<br />

und die Forderung nach »<strong>kritische</strong>r Reiseerziehung« sowie den Hinweis<br />

auf die Aufgaben der Gewerkschaften und die Vorteile der »Reiseziel beständigkeit«,<br />

Daß eine »Erweiterung der Erlebnismöglichkeiten« und entsprechende Tourismusformen<br />

erst entwickelt werden müssen, sieht jeder ein - nur sind die neuen Ideen und ist<br />

die Aufarbeitung der z,B, in der Arbeiterbewegung und in dem genossenschaftlich organisierten<br />

Vereinstourismus der Gcbirgs- und Wandervereine bereits praktizierten anderen<br />

Formen zu marginal, um Impulse zu geben, Man müsse endlich den Massencharakter<br />

des Tourismus akzeptieren und davon ausgehend Alternativen entwickeln, heißi<br />

es (II, 256) - aber die Realität der linken Tourismuskritik und -theorie ist noch meilenweit<br />

davon enternt,<br />

Fazit: Lesbare Zusammenfassungm ohne viel Neues (wobei im Gesamtvergleich,<br />

Preis inbegriffen, I ein wenig besser abschneidet als 11. <strong>das</strong> da<strong>für</strong> reicher an historischem<br />

Material ist). Dieter Kramer (Marburg)<br />

Soziologie<br />

Hammerich, Kurt, und Michael Klein (Hrsg.): Materialien zur Soziologie<br />

des All tag s. Kölner Zeitschrift <strong>für</strong> Soziologie und Sozialpsychologie (Sonderheft<br />

20/1978), Westdeutscher Verlag, Opladen 1978 (466 S .. br., 52,- DM). -zit.: a<br />

Sprondel, Walter M., und Richard Grathoff (Hrsg.): A lf red Sc h ü t z und die<br />

Idee des Alltags in den Sozialwissenschaften. Ferdinand Enke Verlag,<br />

Stuttgarr 1979 (213 S., br. 29,80 DM). -zit.: b<br />

Die Frage, warum im alltäglichen Leben als große Veränderung wahrgenommen<br />

wird, »wenn etwa die Tapete im Wohnzimmer gewechselt wird, kaum aber ein Regierungswechscl«<br />

(a, 12), ist ein schönes Beispiel da<strong>für</strong>, was von einer Soziologie des Alltags<br />

an Erklärungen zu erwarten ist. Je mehr den Sozialwissenschaften <strong>das</strong> Alltägliche<br />

zum Problem wird (man vergleiche z.B. die Themenausschreibung zur »Krisenverarbeitung<br />

im Alltag« im Argument 121. 420ff), desto größer wird auch die Verwirrung. was<br />

denn Alltag sei und wie man ihn untersuchen könne. »Alltag« ist zu einem Schlüssclbegriff<br />

und, »schwer beladen mit dem Gewicht theoretischer Ref1exionen«, zu einem<br />

»recht unalltäglichen Begriff« geworden (Elias in a, 22). Einer inflationären Verwen-


292 Besprechungen<br />

dung des Alltagsbegriffs samt seiner Komposita (Alltagswissen, -bewußtsein, -erfahrung,<br />

-phantasie, -handeln, -gespräch, -kultur etc.) läuft die Entwicklung der verschiedenen<br />

<strong>Theorie</strong>- und Forschungsparadigmen paralleL Zwischen Konzepten, die den Alltag<br />

zum Gegenstand von Analyse und Kritik machen und denen, die <strong>das</strong> alltägliche<br />

Wissen als <strong>kritische</strong> Gegen-Instanz begreifen wollen, Alltagssoziologie damit in Ablehnung<br />

'herrschender' Soziologie gleichsam in den Rang einer Basiswissenschaft erheben<br />

(im Alltag sei eben jeder Mensch kompetent), haben sich eine Fülle von Ansätzen herausgebildet,<br />

die zu destillieren bisher wenig Anstrengungen unternommen wurden.<br />

Der Sonderband der Kölner Zeitschrift unternimmt in seinem ersten Teil den Versuch<br />

einer differenzierenden Klärung von Begriffen und Konzepten. Zwei Beispiele:<br />

Norbert Elias, der allerdings die Einordnung als Theoretiker des (historischen) Alltags<br />

abweist (a, 24), gibt in seinem Beitrag »Zum Begriff des Alltags« eine sehr anschauliche<br />

Auslese von Typen zeitgenössischer Alltagsbegriffe: Alltag = Routine, Alltag = Arbeitstag,<br />

Alltag = Leben der Masse der Völker, Alltag = Ereignisbereich des täglichen<br />

Lebens, Alltag = Privatleben. Alltag = Sphäre des natürlichen Erlebens und Denkens,<br />

Alltag (Alltagsbewußtsein) = Inbegriff des ideologischen und undurehdachten Erlebens<br />

und Denkens (a, 26). In ihrer Einführung »Alltag und Soziologie« unterscheiden<br />

die Herausgeber Hammerich und Klein (a, 7f.) einige zur Zeit dominante Ansatzpunkte<br />

einer Soziologie des Alltags: (I) als Übertragung soziologischer Kategoriensysteme<br />

auf nicht-definierte, scheinbar selbstverständliche Situationen zum Nachweis von deren<br />

Strukturiertheit und Regelhaftigkeit, wo<strong>für</strong> besonders die Arbeiten von Goffman<br />

stehen; (11) als Untersuchung eines gesonderten Bereichs der Reproduktionssphäre jenseits<br />

der übrigen institutionalisierten Lebensbereiche; (III) als 'Geschichte von unten',<br />

d.h. als Beschäftigung mit der Lebens- und Denkweise des 'kleinen Mannes' (und nicht<br />

geschichtsträchtiger Persönlichkeiten) - repräsentiert u.a. in der Methodologie und<br />

Forschungspraxis der »Oral History« (vgL dazu Bajohr im Argument 123, 667ff.); (IV)<br />

schließlich - in der Tradition von Phänomenologie und Wissenssoziologie - als Fundierung<br />

soziologischen Wissens im Alltagswissen und seiner Verstehensvorgänge, wie in<br />

der phänomenologischen Soziologie von Alfred Schütz und seinen Nachfolgern.<br />

Der Vorzug des Kölner Sammelbandes liegt darin, daß er in seinen drei Teilen (ausschließlich<br />

mit Original bei trägen oder deutschen Erstveröffentlichungen) <strong>das</strong> Ausmaß<br />

der Untersuchungen zum Alltag breit dokumentiert. Hervorzuheben ist die Auswahlbibliographie,<br />

die fast 400 Titel zählt. Der erste, theoretische Teil enthält neben den referierten<br />

Beiträgen von Elias und Hammerich/Klein eine Analyse der deutschen Rezeption<br />

des Symbolischen Interaktionismus von Krappmann und der Ethnomethodologie<br />

von der Bielefelder Soziologengruppe (Hammerich), Arbeiten über »den Umgang mit<br />

Motiven« (Stone/Hagoel) und über »Normen im Alltag« (Zimmerman) sowie einen in<br />

Aufbau und Stringenz der Darstellung ausgezeichneten Beitrag von Grathoff zum Thema<br />

»Alltag und Lebenswelt als Gegenstand phänomenologischer Sozialtheorie«. Grathoff<br />

ist der einzige Autor in diesem Sammelband, der eine systematisch abgeleitete Bestimmung<br />

von 'Alltag' gewagt hat: »Alltag ist bereits 'vorgegeben', d.h. eine in sozialen<br />

Konstruktionen (Sprache, Wissen, Sozialstruktur) vorkonstituierte Welt, die spezifische<br />

Stile der Erlebniserfahrung des Alltags (insbesondere: Arbeit) bereits vorgibt« (a,<br />

78; vgL ebenfalls 68). Der zweite und dritte Teil enthält Untersuchungen über Aspekte<br />

des Alltagshandelns: »Erwiderungen und Reaktionen« (Goffman), »Sozialpsychologie<br />

des Raumes und der Bewegung« (Kruse/Graumann), »Zeitbewußtsein und Kontrolle<br />

der Zeit« (Heinemann/Ludes), »Zur sozialen Bedeutung des Körpers« (Field), »Technik<br />

im Alltag« (Lenk/Ropohl), »Ästhetik im Alltag« (Treinen), »Reflexionen über <strong>das</strong> Alltägliche«<br />

(Szczepahski), »Literatur und Alltag« (Thurn), »Jedermanns-Soziologie und<br />

soziale Realität« (Wieder), »Über die sozialen Bedingungen <strong>für</strong> <strong>das</strong> Gelingen von 'Parties'«<br />

(Lacrosse), »Alltagstheorien und Handlungsselbstverständlichkeiten« (Klein),<br />

DAS ARGLJMEKT 12611'.)81 E


294 Besprechungen<br />

Rezeption des Fanonschen Ansatzes auch im deutschsprachigen Raum. Die Veröffentlichung<br />

des Erstlingswerkes 'Peau noire, masques blancs' (Paris 1952), als 'Black Skin,<br />

White Masks' 1967 erstmals in englisch erschienen, blieb dagegen nahezu 30 Jahre aus.<br />

Daß diese Frühschrift Fanons keinesfalls durch die späteren Arbeiten entbehrlich<br />

wurde. ergibt sich aus der unterschiedlichen Dimension des Ansatzes sowie dem behandelten<br />

Thema. Im Urteil Aime Cesaires z.B. stellt 'Schwarze Haut. weiße Masken' die<br />

bedeutendste Studie über die menschlichen Folgen von Kolonialismus und Rassismus<br />

dar. während 'Die Verdammten dieser Erde' als Schlüssel zum Verständnis des Dekolonisierungsprozesses<br />

diene. Das Erstlingswerk Fanons hat den entfremdeten Menschen<br />

unter Kolonialverhältnissen (sei es unter unmittelbar physischen eines besetzten Landes<br />

oder im Sinne der geistigen Kolonisation als Schwarzer im »europäischen Mutterland«,<br />

wie von Fanon während seines Studiums in Paris erfahren) zum Gegenstand. Seine<br />

Ausbildung zum Psychiater findet in dieser Schrift ebenso Ausdruck wie seine Auseinandersetzung<br />

mit der Negritude-Bewegung, deren Genese unter den in Paris lebenden<br />

schwarzen Intellektueilen und deren Beeinflussung durch den von Sanre geprägten existentialistischen<br />

Humanismus der 40er und frühen 50er Jahre Fanon miterlebte.<br />

Fanon exemplifiziert seine Aussagen anhand der eigenen Erlebnisse. Trotz dieser<br />

Subjektivität sieht er aber Grund genug zur Generalisierung seiner individuellen sinnlichen<br />

Erfahrungen und deren Verarbeitung in der weißbestimmten Umwelt: » ... freilich<br />

ist uns bekannt. daß dieselben Verhaltensweisen bei jeder Rasse anzutreffen sind, die<br />

kolonisiert worden ist« (19). »Wertfreiheit« beansprucht Fanon nicht, er ergreift Partei:<br />

»Ich habe es mir zum Ziel gesetzt. <strong>das</strong> Elend des Schwarzen zu berühren. Mit den Händen<br />

und mit dem Herzen. leh wollte nicht objektiv sein. Das stimmt übrigens nicht: es<br />

war mir nicht möglich. objektiv zu sein.« (58)<br />

Die Umsetzung und Vermittlung von Gefühlen und Empfindungen prägen diese<br />

humanistische Streitschrift, die versucht, »es dem Farbigen zu ermöglichen, an hand<br />

präziser Beispiele die psvchologischen Umstände zu versrehen, die seine Artgenossen<br />

entfremden können« (54). Für eine weiße Leserschaft impliziert dies die Konfrontation<br />

mit zutiefst emotionalen Aussagen, die Betroffenheit wecken und Herausforderung<br />

sind: »Scham. Scham und Selbstverachtung. Ekel. Wenn man mich liebt, dann sagt<br />

man mir. daß man mIch trotz meiner Hautfarbe liebe. Verabscheut man mich, dann<br />

fügt man hinzu, daß dies nichts mit meiner Hautfarbe zu tun habe ... Hier wie dort bin<br />

ich ein Gefangener des HöllenkreIses.« (76) Eines Höllenkreises, den Fanon vor allem<br />

nach der gewaltsamen Unterwerfung fremder. außereuropäischer Völker durch die weißen<br />

Kolonisatoren SIch konstituieren sah. Den psychischen Konflikt des kolonisiertcn<br />

Individuums. dessen Kulturzwiespalt und Ambivalenz durch unvereinbare Systeme gewachsen<br />

und verstärkt wurde: >>Von heute auf morgen hatten die Neger zwei verschiedene<br />

Bezugssl'steme. im Hinblick auf die sie sich situieren mußten. Ihre Metaphvsik<br />

oder, bescheidener ausgedrückt. ihre Bräuche sowie dIe Instanzen, auf welche sie verwiesen,<br />

waren außer Kraft. weil sie in Widerspruch zu einer Zivilisation standen, die sie<br />

nicht kannten und die sie betrog.« (72) Schwarzer ?v1vstizismus als Fluchtmechanismus<br />

und Schaffung von Gegenwerten zur weißen Rationalität sieht Fanon mit diesem Prozeß<br />

untrcnnhar verknüpft (83f). Ebenso die »ethische SelbstvaloflSierung« als Ausdruck<br />

des gelSt1gen Kolonisierungsprozesses auf der Ebene sekundärer Sozialisation<br />

durch weiß definierte Medien und Inhalte: »Es 1st leicht gesagt: der Neger infeflorisiert<br />

sich. In Wahrheit wird er inferiorisiert.« (96)<br />

Daß der 1I1 »Schwarze Haut, weiße Maskerl« artikulierte hu manistischc Ansatz eines<br />

Menschen, der sich seiner Seihstentfremdung bewußt wird und sich gegen sIe auflehnt,<br />

erst den Anfang einer in »Die Verdammten dieser Erde« vollzogenen Analyse im sozialrevolutionären<br />

Kontext signaliSIerte, deutet sich schon in den Schlußbemerkungcn dieses<br />

Buches an: »Wir sind nicht so naiv zu glauben, daß Appelle an die Vernunft oder an


296 Besprechungen<br />

S.20-28). Dies vermeidet Kossodo jedoch tunliehst, will sie doch <strong>für</strong> Verständnis und<br />

Aufklärung werben ...<br />

Neben dieser Kritiklosigkeit fällt die lobenswerte Absicht auch dem latenten Fortschrittsglauben<br />

der Autorin zum Opfer. Als Vertreterin einer relativ un<strong>kritische</strong>n Modernisierungstheorie<br />

stellt Kossodo im zweiten Teil ihres Buches, der sich mit den Gegenwartsproblemen<br />

afrikanischer Frauen befaßt (Anpassungsschwierigkeiten im Konflikt<br />

zwischen Tradition und Modernisierung, dargestellt in den Bereichen Arbeitsleben,<br />

Familie und gesellschaftliche Stellung der Frauen), die seit Beginn des gewaltsamen<br />

Zerstörungsprozesses afrikanischer Stammesgesellschaften durch Kolonisierung<br />

und Imperialismus bewirkten sozio-ökonomischen Veränderungen selten in Frage. Folgende<br />

Beispiele dürften zur Belegung dieser Tendenz ausreichen. Sie verdeutlichen<br />

gleichzeitig, wie sehr sich die Autorin durch ihre Tummelei auf Gemeinplätzen oftmals<br />

in Unklarheiten und Widersprüchen verfängt: Kossodo bewertet den in jüngerer Zeit<br />

stattfindenden Zugang von Frauen zu Lohnarbeit im peripheren Kapitalismus afrikanischer<br />

Nationalstaaten als »Fortschritt von ganz besonderer Bedeutung« (214). Die Autorin<br />

begründet diese Einschätzung damit, daß durch diese Entwicklung die traditionell<br />

vorherrschende Einstellung Zut Ehe unter den afrikanischen Frauen abgebaut wird und<br />

die ökonomische Unabhängigkeit durch eine berufliche Karriere die Ehe nicht mehr<br />

zur Reproduktion erfordert. Dieser Aussage folgt einige Seiten später die kategorische<br />

Feststellung, »die Ehe ist <strong>für</strong> die Frau immer noch der einfachste Weg, sich Eintritt in<br />

die soziale Oberschicht zu verschaffen« (248). Andererseits jedoch: »Der Typ der unverheirateten<br />

Frau, die beruflich Karriere macht, ist heute in Afrika keine Seltenheit<br />

mehr« (214). Im Gegensatz dazu wiederum resümiert Kossodo, daß .die Stellung der<br />

Frau in Afrika immer noch fast ausschließlich von ihrer Ehe und Verwandtschaft und<br />

viel weniger von ihren eigenen Fähigkeiten und Leistungen abhängt« (260).<br />

Ausgehend von dieser Wahrnehmung gelangt Kossodo auch zu der Einschätzung,<br />

daß »der exklusive und konventionelle Charakter der Frauenverbände im heutigen Afrika<br />

... ein typisches Phänomen der jetzigen Enrwicklungsphase (ist)« (248). Einer Entwicklungsphase,<br />

die von der Autorin ruhig in sehr viel <strong>kritische</strong>rem Maße hätte reflektiert<br />

werden können, nicht zuletzt auch um der Verwirklichung ihrer Zielsetzung dabei<br />

ein gutes Stück näher zu gelangen. So allerdings bleibt Kossodos Versuch sicherlich auf<br />

einer Ebene beschränkt, die dem Anliegen nicht gerecht wird. Als einführende Übersicht<br />

(der eine sehr verständliche Sprache und die völlig nicht-akademische Behandlung<br />

des Themas zugute kommt) mag »Die Frau in Afrika« <strong>für</strong> einen Leserkreis, der in etwa<br />

Parallelen zum Charakter der oben beschriebenen afrikanischen Frauenverbände aufweist,<br />

ein lesenswertes Buch darstellen. Für die Leserschaft des Argument allerdings<br />

wohl kaum. Henning Melber (Berlin/West)<br />

Fiebach, Joachim: Li t e ra tur de rB ef re i u n gin A fr ika. Damnitz Verlag,<br />

München 1979 (301 S., br., 12,- DM)<br />

Fiebach, Theaterwissenschaftler an der Humboldt-Universität, der die literarischen<br />

Bewegungen Afrikas »von den Interessen europäischer marxistischer Kunstwissenschaften<br />

bestimmt« betrachtet (7), demonstriert an ausgewählten Beispielen, »wie sich moderne,<br />

über den Druck verbreitete Literatur als Faktor der nationalen und sozialen Befreiung<br />

von den vierziger bis Mitte der siebziger Jahre unseres Jahrhunderts entfaltete<br />

und veränderte« (7). Durch Kapitel über »Tendenzen und Elemente gesellschaftlicher<br />

Umwälzungen im subsaharischen Afrika« (9-49) und die Tradition der mündlichen<br />

Dichtung (50-72) wird eine Einführung und Vorkenntnis vermittelt, die über die Darstellung<br />

der einzelnen Werke afrikanischer Autoren hinausgehend grundlegendes Verständnis<br />

<strong>für</strong> die sozio-kulturelle Situation in Ländern Afrikas ermöglicht. In den weiteren<br />

Teilen der Arbeit hält Fiebach diese Einordnung kultureller Ausdrucksformen (und<br />

DAS ARGUME:>IT 126: 1981 .':


Soziologie 297<br />

zwar bezogen auf den jeweiligen nationalstaatlichen Rahmen und die bestehenden sozialen<br />

Verhältnisse) ebenfalls aufrecht, auch wenn er die Darstellung anhand einiger<br />

der bekanntesten Autoren Afrikas exemplarisch vollzieht,<br />

Die Auseinandersetzung mit Einzelwerken der modernen Literatur Afrikas beginnt<br />

mit der kolonialen Situation, unter deren Bedingungen sich die »Entwürfe <strong>für</strong> ein goldenes<br />

afrikanisches Zeitalter« (75) entwickelten. Gegenüber der Lyrik des senegalesischen<br />

Staatspräsidenten Senghor als dem führenden Vertreter der »konservativ-romantischen«<br />

Negritude wird von ihm die Prosa Sembene Ousmanes als »proletarisch-revolutionäre<br />

Alternative« gesetzt. Daß trotz dieser unterschiedlichen Bewertung der literarischen<br />

Aussagen auch gemeinsame Ansatzpunkte und strukturelle Ähnlichkeiten im<br />

Werk dieser beiden Autoren bestehen, betont auch Fiebach (lll).<br />

Die Phase formaler Dekolonisation setzte der afrikanischen Literatur neue Aufgaben:<br />

die antikoloniale Kulturbewegung mußte sich mit dem nationalen Entwicklungsweg<br />

der unabhängigen Länder auseinandersetzen. Die Realität gesellschaftlicher Emanzipationsprozesse,<br />

die Auswirkungen kolonialer Hypotheken und die Enttäuschung darüber,<br />

daß die idealtypischen Zukunfts bilder freier und gleicher afrikanischer Gesellschaften<br />

nicht zu vetwirklichen waren, bewirkten eine »Literatur der Ernüchterung«<br />

und die Re-Orientierung auf einen neubestimmten revolutionären Ansatz (136ff.).<br />

Stellvertretend <strong>für</strong> die »literarische Diagnose der Unabhängigkeit« (152) stellt Fiebach<br />

die Entwicklung des Romanwerks des Nigerianers Chinua Achebe vor. Ähnlich wie in<br />

den Arbeiten Ousmanes und Mongo Betis glaubt Fiebach dabei jedoch zu entdecken,<br />

daß die Reflexion der neuen, komplizierten Situation kaum neuartige Wahrnehmungrn,<br />

Assoziationen und emotionale Regungen verursacht (178). Als Beispiel der »Sensibilisierung<br />

<strong>für</strong> eine schwierige Wirklichkeit« (178) stellt er demgegenüber die Prosa des<br />

ghanaischen Schriftstellers Ayi Kwei Armah vor. Dennoch bleibt Fiebach zufolge auch<br />

die Kritik Armahs an den gesellschaftlichen Verhältnissen des Neokolonialismus in<br />

idealistisch ungenauen Einschätzungen verfangen (200). Anders dagegen <strong>das</strong> Werk des<br />

Kenyaners Ngugi wa Thiongo, den Fiebach als Protagonisten einer Literatur revolutionärer<br />

Haltung charakterisiert.<br />

Der Nigerianer Wole Soyinka schließlich dient zuletzt als Beispiel jener Literatur, die<br />

der Autor als »Dialektik, Mythos und Suche nach Alternativen« kategorisiert (222). Etwas<br />

zu abrupt schließt damit <strong>das</strong> Buch. Eine abschließende Zusammenfassung und<br />

komprimierte Übersicht, eventuell auch noch ein chronologisches Verzeichnis der im<br />

Text behandelten Literatur, hätte nicht geschadet. Das Personenregister vermag da<br />

kaum Abhilfe zu leisten. - Auch der westdeutsche Verlag wäre gut beraten gewesen,<br />

wenigstens im Anhang der Lizenzausgabe die notwendigen ergänzenden Informationen<br />

anzubieten, die zur vollständigen Erschließung der von Fiebach vorgestellten Literatur<br />

hilfreich sind. In den in deutscher Übersetzung erschienenen Werken bezieht sich<br />

Fiebach natürlich auf die in der DDR publizierten Titel - wie z.B. die Übersetzung<br />

des Romans von Wole Soyinka »Season of Anomy« als »Zeit der Gesetzlosigkeit« (Berlin<br />

1977). Die entsprechenden Vetweise auf Ausgaben in westdeutschen oder schweizerischen<br />

Verlagen dagegen - in einer Lizenzausgabe <strong>für</strong> die Bundesrepublik sicherlich<br />

angebracht - finden sich nicht. So liegt im Falle Soyinkas derselbe Roman in der seit<br />

1979 produzierten Buchreihe zweier Verlage (»Dialog Afrika«) unter dem Titel »Die<br />

Plage der tollwütigen Hunde« vor. In eben dieser Reihe erscheinen u.a. auch Arbeiten<br />

von Ngl,Jgi wa Thiongo (dessen Buch »Petals of Blood« als »Freiheit mit gesenktem<br />

Kopf« veröffentlicht wurde), Sembene Ousmane, Mongo Beti, Ismael Mbise. Ist es <strong>für</strong><br />

den Interessierten, aber nur begrenzt des Englischen oder Französischen mächtigen Laien<br />

ohnehin schwer genug. die von Fiebach sehr ausführlich vorgestellte Literatur zu lesen,<br />

wird dies durch solche »Unterlassungssünden« seitens des Verlages noch zusätzlich<br />

behindert. Henning Melber (Berlin/West)<br />

DAS ARGUMENT 12611981 eS


298 Besprechungen<br />

Turner, John F.C.: Verelendung durch Architektur. »Housing by People«.<br />

Plädoyer <strong>für</strong> eine politische Gegenarchitektur in der Dritten Welt. Rowohlt Verlag,<br />

Reinbek 1978 (142 S., br., 47 Abb., 6,80 DM).<br />

Turner hat als staatlich angestellter Architekt in Lateinamerika gearbeitet und dort<br />

die illegal errichteten Ansiedlungen am Rande der Großstädte kennengelernt und sich<br />

mit ihnen beschäftigt; dabei wurde sein Architektenselbstverständnis nachhaltig erschüttert<br />

und radikal verändert. Er wendet sich gegen <strong>das</strong> Kopieren europäischer hochzentralisierter<br />

Produktions-, Verteilungs- und Dienstleistungssysteme durch Länder der<br />

Dritten Welt. Die großen Wohnungsbauvorhaben als Kennzeichen »zentralverwalteter<br />

bürokratischer Systeme« - sind nach Meinung des Autors sowohl in den sozialistischen<br />

als auch in den kapitalistischen Staaten anzutreffen -, die nur den Bautyp des »Superblocks«<br />

kennen, verursachen hohe gesellschaftliche Kosten. Der finanzielle Aufwand<br />

<strong>für</strong> Management, Wartung und Verwaltung übersteigt oft die Mieteinnahmen, vom<br />

hohen Energieverbrauch und Energieaufwand <strong>für</strong> die Baumaterialien ganz zu schweigen.<br />

Die großen Wohnungsbauvorhaben können nur <strong>für</strong> einen Bruchteil der Bevölkerung<br />

zur Verfügung gestellt werden und ignorieren die variablen Wohnbedürfnisse ihrer<br />

Bewohner.<br />

Die Frage nach dem »Wohnwert« steht bei Turner im Mittelpunkt und ist Ausgangspunkt<br />

seiner Reformvorstellungen. »Solange irrigerweise angenommen wird, daß ein<br />

Haus von materiell höherem Standard notwendigerweise ein besseres Haus ist, solange<br />

werden Wohnungsprobleme falsch in Begriffen wie Zahl der 'benötigten' Einheiten,<br />

die 'unter Standard' sind, falsch dargestellt« (50). Die staatlichen Bauverwaltungen in<br />

zentralverwalteten Systemen bauen »im allgemeinen nach Standards, die sich die Mehrheit<br />

nicht leisten kann und die von den Ländern unmöglich im großen Maßstab subventioniert<br />

werden können« (64/65). Die Fremdbestimmung der Bewohner und die Ignorierung<br />

ihrer Wohnbedürfnisse müssen sich zwangsläufig in Nachlässigkeit und Vandalismus<br />

gegenüber den Wohnungen äußern.<br />

Aufgrund seiner Beobachtungen in den selbsterbauten Hüttensiedlungen, in denen<br />

die Kosten <strong>für</strong> Herstellung und Unterhalt gering sind sowie die Lage meist sehr verkehrsgünstig<br />

ist, setzt sich Turner <strong>für</strong> die Einführung des Prinzips der Selbstverwaltung<br />

ein. Gedacht ist dabei nicht so sehr an Selbsthilfe im Sinne von »Do-it-yourself-Häuserbauern«<br />

sondern an Selbstverwaltungsorgane , die die Wohnhäuser mit möglichst wenig<br />

Energie und kleinen Werkzeugen (kleine Betriebsgrößen - »angemessene Technologie«)<br />

und hohem Gebrauchswert errichten und die örtlichen Grundressourcen ausschöpfen.<br />

Staatliche Eingriffe sollen nur im infrastrukturellen Bereich geduldet werden.<br />

Die Übernahme von örtlicher und persönlicher Verantwortung und Kontrolle<br />

wecke Eigeninitiative, Einbildungskraft bzw. schöpferische Phantasie und den Willen,<br />

sich um etwas zu kümmern. »Die Entschlossenheit eines Haushaltes, Zeit, Anstrengungen<br />

und Fertigkeiten in sein Heim zu investieren«, hänge »von der zu erwartenden Zufriedenheit<br />

und von der Nützlichkeit seiner Wohnung ab« (75).<br />

Das Buch läßt eine sozioökonomische Analyse des Wohnungsbaus Lateinamerikas<br />

vermissen, genauso wie man vergeblich die Entwicklung einer Durchsetzungsstrategie<br />

erwartet. Die angestrebte Selbsthilfe bzw. individuelle Verwirklichung wird sich mit<br />

den Appellen an die Tüchtigkeit des Einzelnen und der Forderung nach Einstellungsänderung<br />

wohl kaum durchführen lassen, auch nicht durch den Austausch von Informationen.<br />

Was geschieht z.B. mit dem »Nichttüchtigen«, der sich Kleineigentum nicht<br />

leisten kann l Hält der Autor kleinkapitalistische Zustände wirklich <strong>für</strong> erstrebenswert'<br />

Vielen Beobachtungen und Überlegungen ist jedoch zuzustimmen, und aufgrund der<br />

ehrlichen Intentionen des Autors ist es ein sympathisches Buch, auch wenn die Übersetzung<br />

miserabel ist. Joachim Petsch (Bonn)<br />

DAS ARGUMENT 126!l981


Soziale Bewegung und Politik 299<br />

Soziale Bewegung und Politik<br />

Staritz, Dietrich (Hrsg.): Das Parteien system der Bundesrepublik.<br />

Geschichte - Entstehung - Entwicklung. Eine Einführung. Leske Verlag, Opladen<br />

1980 (277 S., br., 16,80). -zit. I<br />

Schönbohm, Wulf: CDU. Portrait einer Partei. Geschichte und Staat 215,<br />

Günter Olzog Verlag, München/Wien 1979 (175 S., br., 5,80 DM). -zit. II<br />

Gutjahr-Löser, Peter: CSU. Portrait einer Partei. Geschichte und Staat 216,<br />

GünterOlzogVerlag, München/Wien 1979(151 S., br., 5,80 DM). -zit. III<br />

Der von Staritz herausgegebene Band ist die aktualisierte zweite Auflage der 1976 erschienenen<br />

»einführenden Überblicksdarstellung des westdeutschen Parteiensystems«,<br />

die eine »Einordnung des Parteiensystems und der Parteienentwicklung in den jeweiligen<br />

übergreifenden sozio-ökonomisch-historisch-politischen Kontext« ermöglichen soll<br />

(1/7). Nach einem Überblick über <strong>das</strong> deutsche Parteiensystem vor 1945 (Teil I) und die<br />

Wiederentstehung der Parteien in den Westzonen und der DDR (Teil II) wird im<br />

Hauptteil III die Entwicklung der westdeutschen Parteien von 1949 bis 1979 analysiert.<br />

Der Band schließt mit einem empirischen Aufsatz über Sozialstruktur und Parteiensystem.<br />

Wenn es so etwas wie ein »Ergebnis« der historischen Entwicklung des deutschen Parteiensystems<br />

gibt, so läßt es sich mit zwei widersprüchlichen Zitaten belegen: »Aus einem<br />

historischen Rückblick und Vergleich geht hervor ( ... ), daß sich die Grundstruktur<br />

des Parteiensystems vom Kaiserreich, in der Weimarer Republik, über den Nationalsozialismus<br />

bis heute grundsätzlich nicht verändert hat.« (I1 198) Dies läßt sich nicht allein<br />

»politisch", sondern nur sozialstruktureIl - marxistisch also: klassentheoretisch -<br />

erklären. Andererseits: so richtig die Kritik am Begriff der »Volkspartei. ist, so sehr gilt<br />

doch: »Es gibt keine 'Klassenparteien' mehr, also auch keine Partei, die ausschließlich<br />

die Bourgeoisie organisiert; und es gibt in diesem Sinne auch keine Arbeiterpartei.<br />

Aber es bestehen ( ... ) eben doch Parteien, die sich schwergewichtig auf relativ homogene,<br />

unterschiedliche soziale Basen stützen.' (1/250) Die Vermittlung beider Ergebnisse,<br />

die Schmollinger / Stöss mit dem Begriff der »Massenlegitimationspartei« vorschlagen,<br />

führt nicht weit, da ja gerade unklar bleibt, wieso bzw. nach welchen Gesetzmäßigkeiten<br />

verschiedene Parteien langfristig verschiedene »Massen« an ihre Politik zu binden<br />

vermögen.<br />

Trotz dieses theoretischen Mangels (der ja nur einen generellen der bisherigen marxistischen<br />

Politiktheorie reflektiert) ist die Lektüre des Bandes nur zu empfehlen: sie vermittelt<br />

nicht nur einen gebündelten Überblick über die deutsche Parteienentwicklung,<br />

sondern macht - trotz der notwendigen Kürze der Beiträge - die Vielfalt der Faktoren<br />

sichtbar, die eine genetisch-strukturelle Parteitheorie berücksichtigen muß.<br />

Die beiden Monografien über die Unionsparteien fallen demgegenüber deutlich ab.<br />

Während Schönbohm immerhin einen recht informativen historischen Überblick der<br />

CDU-Entwicklung bietet, gelingt es Gutjahr-Löser nicht, die enormen CSU-Erfolge in<br />

Bayern auch nur ansatzweise durch eine konkrete Beschreibung bzw. Analyse der CSU­<br />

Politik zu begründen. Typisches Beispiel: .Die erfolgreiche Arbeit Seidels als Parteivorsitzender<br />

und als Ministerpräsident zeigte sich ein Jahr später wiederum eindrucksvoll<br />

bei der Landtagswahl.« (III/ 36) Worin diese »erfolgreiche Arbeit« bestand, erwähnt der<br />

Autor nicht. Fragen wie die nach der Spezifik der CSU-Politik oder die ihrer Verallgemeinerbarkeit<br />

zu einer erfolgreichen Bundespolitik stellen sich dem Autor konsequenterweise<br />

gar nieh t erst.<br />

Die Autoren - beide Mitglied ihres Untersuehungsobjekts - bleiben ganz kritikund<br />

distanz los den Argumentationsmustern der offiziellen Unionsprogrammatik verhaftet.<br />

So überrascht es nicht, daß Schänbohm <strong>das</strong> Konzept der »sozialen Marktwirt-<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 ©


300 Besprechungen<br />

schaft« als »wahrhaft revolutionär« (11 141), weil »jenseits von Kapitalismus und Sozialismus«<br />

befindlich (1I/43), bezeichnet. Und Gutjahr-Löser entdeckt eine »Ökonomie, die<br />

nach Ansicht von Karl Marx von 'Natur-Gesetzen' bestimmt ist« (III/12). Überraschend<br />

ist aber, daß die Autoren glauben, die Unionspolitik durch deren Selbstverständnis<br />

als Volkspartei charakterisieren zu können (II/43f., IlI/14). Daß Mitgliederwie<br />

Wählerbasis der CDU I CSU keineswegs repräsentativ <strong>für</strong> die Sozialstruktur der<br />

BRD sind, kann sich Schönbohm z.B. nur durch oberflächliche Bemerkungen wie der<br />

folgenden erklären: »( ... ) die Hemmschwelle <strong>für</strong> einen Arbeiter, Mitglied in der CDU<br />

zu werden, war und ist nach wie vor recht hoch.« (III 128) Warum nur, warum? Ein weiteres<br />

Manko des Volksparteien-Konzepts liegt darin, daß Schönbohm auch der SPD eine<br />

»Entwicklung zur Volkspartei« (ebd.) bescheinigt. Wo liegen dann aber die politischen<br />

Unterschiede zwischen SPD und CDU? Indem Schönbohm nicht in der Lage ist,<br />

die politischen Alternativen der Union zur sozialliberalen Koalition herauszuarbeiten,<br />

bringt er unfreiwillig die Hegemonie des Sozialliberalismus zum Ausdruck.<br />

Karl-Ernst Lohmann (Berlin /West)<br />

Schacht, Kurt: Die F.D.P. Zur Geschichte und Politik. Marxismus aktuell Bd.<br />

145; Verlag Marxistische Blätter, Frankfurt/M. 1980 (131 S, br .. 8,50 DM).<br />

Publikationen zur Geschichte und Politik der FDP sind rar. Die umfangreichen Studien<br />

von Kaack und Juling haben gewissermaßen MonopolsteIlung. Sie sind in ihrem<br />

reichen Aufkommen an Informationen dem Politologen unentbehrlich geworden. Jedoch<br />

in ihren Interpretationen und auch im Selektionsverfahren zeigen sie sich ihrem<br />

Gegenstand kaum in Distanz. Man wird sagen dürfen, sie sind ausgesprochen FDPfreundlich<br />

gehalten. - Und unsere Linke? Sie hat zum Thema »FDP« weitgehendst geschwiegen.<br />

Zu sehr wirkte wohl ihr Verdikt »scheiß-liberal« aus Zeiten der Studentenbewegung<br />

blockierend. So muß die hier angezeigte marxistische Arbeit, <strong>das</strong> Taschenbuch<br />

von Kurt Schacht, als ein Anfang, als ein Denkanstoß gewertet werden.<br />

Der Autor zeichnet die Geschichte der FDP als konstituierenden Teil bundesrepublikanischer<br />

Entwicklung nach. Nicht nur programmatische Texte und Äußerungen führender<br />

Politiker werden herangezogen, es wird vor allem nach dem Verhältnis von Programmatik<br />

und Realisierung, nach den von der FDP vertretenen Interessen bzw. der <strong>Institut</strong>ion<br />

»Interessenvertretung« gefragt. Auf diesem Weg gelangt Schacht zu der Einschätzung:<br />

» ... die Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik der FDP-Spitze ist kein Beitrag<br />

zur Sicherung der Existenz der Mittelschichten, kein Beitrag zur Bekämpfung von Arbeitslosigkeit<br />

und inf1ationärer Entwicklung. Sie folgen in allen entscheidenden Punkten<br />

der Strategie und Taktik der Monopolgruppierungen.« (nf.) Das Verhältnis von<br />

Kapital und Partei-Spitze klingt hier als ein unmittelbares an. Diese Sichtweise ist Produkt<br />

einer <strong>Theorie</strong>, die die Politik der bürgerlichen Parteien im Monopolkapitalismus<br />

als von Interessen bestimmter Kapitalfraktionen getragen versteht. Die Parteibasis erscheint<br />

in diesem Umkreis als relativ ohnmächtige Kraft, die bestenfalls Kurskorrekturen<br />

bewirken kann. Die Programmatik der Partei muß in diesem Sinne immer auch verschleiern.<br />

Und so werden von Schacht alle Ebenen der freidemokratischen Politik konsequenterweise<br />

auf diese Interessen zurückgeführt. Zur Entspannungspolitik, einem<br />

Terrain, auf dem die Freien Demokraten phasenweise recht progressiv wirkten (z.B.<br />

Aufgabe des Alleinvertretungsanspruchs), konstatiert Schacht in aktueller Sicht: »Zwar<br />

kann die FDP-Führung <strong>das</strong> Drängen aus ihrer Partei nach Fortsetzung der Entspannungspolitik<br />

nach konstruktiven Beiträgen zur Abrüstung nicht völlig unberücksichtigt<br />

lassen, aber ihre dominierende Position in der Partei erlaubt es ihr, sich darüber hinwegzusetzen.«<br />

(110) Die Begründung dieses Kurses, als Politik in der sozial-liberalen<br />

Koalition, fällt dann zurück auf den Begriff einer Politik, die den »Anforderungen f1exibler<br />

Kräfte des Großkapitals« (48) entspricht. So bleibt die Partei-Basis letztendlich<br />

DAS ARGUMENI 12()j ll)Sl S


302 Besprechungen<br />

nahmen in diesem Bereich letztlich scheitern mußten und weitgehend durch eine Anpassungspolitik<br />

an die ökonomische Entwicklung ersetzt wurden, beantworten die Autoren<br />

mit dem Hinweis auf drei Ursachenkomplexe: 1. die politische Ebene mit der<br />

Konkurrenz zwischen den staatlichen Instanzen von Bund, Ländern und Kommunen,<br />

was letztlich zur Ineffektivität, wenn nicht sogar zur Selbstblockierung staatlicher Politik<br />

führt; 2. die Verwaltungsebene mit der einseitigen Klientelbeziehung der staatlichen<br />

Verwaltung zu einigen Großunternehmen und somit die wachsende strukturelle<br />

Abhängigkeit der Bürokratie von jenen Großunternehmen; und 3. die Ebene zwischen<br />

Staat und Wirtschaft mit der prinzipiellen Marktkonformität und dem Credo der privaten<br />

Unternehmerentscheidung als Grenze jeglicher staatlicher Politik. Während die politische<br />

und die Vetwaltungsebenen in den einzelnen Beiträgen eingehend analysiert<br />

werden, wird die Ebene der Marktkonformität als Vorgabe staatlicher Politik zwar thematisiert,<br />

aber nicht systematisch analysiert. So wird in einigen Beiträgen die Struktur<br />

mittlerer und kleinerer Unternehmen im Zusammenhang mit der Raumrelevanz staatlicher<br />

Forschungsförderung analysiert, doch blenden diese Analysen die politische Vermittlung<br />

ökonomischer Gegebenheiten aus (vgl. Handwerkskammern, Industrieverbände<br />

ete.). Ökonomische Entwicklungen werden so mit der Veränderung politischer<br />

Programme auf staatlicher Ebene kurzgeschlossen, ohne hierbei vermittelnde ideologische<br />

Instanzen als Erklärungsgrundlage zu berücksichtigen.<br />

Was bleibt somit angesichts der Notwendigkeit von Raumordnung <strong>für</strong> die zukünftige<br />

gesellschaftliche Entwicklung bei gleichzeitigem Versagen der staatlichen Steuerungsfähigkeit<br />

t Neben einem allgemein resignativen Grundton der Analysen nennen<br />

die Autoren auch Forderungen wie jene nach Dezentralisierung, Regionalisierung, Integration<br />

mit Fachpolitiken, erhöhte Diagnose- und Prognosekapazität ete. Quintessenz<br />

all dieser Forderungen ist jedoch die nach einer innovationsorientierten Raumordnungspolitik<br />

in Verbindung mit einer effektiven Forschungspolitik. Unter dem Stichwort<br />

der »'funktionalen Arbeitsteilung' zwischen Regionen« (R.W. Wettmann/H.-J.<br />

Ewers, 261) soll <strong>das</strong> Eigenpotential der unterschiedlichen Teilräume mit dem Ziel der<br />

selbständigen Strukturanpassung aktiviert werden. Doch muß letztlich eine solche<br />

Raumordnungspolitik sich vor allem an den innovationsfreudigen Großunternehmen<br />

orientieren, an jenen Großunternehmen, die gerade durch die Ansiedlung ihrer .Headquarter«-Funktionen<br />

in den Verdichtungsgebieten die bestehende räumliche Disparität<br />

zementieren. Strukturschwache Gebiete blieben auch hier wiederum dem »Spiel der<br />

freien Marktkräfte« überantwortet, oder besser: den Entscheidungen einiger Monopolunternehmen.<br />

- "Schaffung bzw. Erhaltung von Arbeitsplätzen« (H. Afheldt, 113) ist<br />

<strong>das</strong> erklärte Ziel der Raumordnungs- und Regionalpolitik. Und doch setzt diese Politik<br />

nicht unmittelbar bei den Arbeitsplätzen an, sondern versucht jenes arbeitsmarktpolitische<br />

Ziel mittels »einer verbesserten Ausrüstung des Faktors Arbeit mit Kapital« (c.<br />

Böhret u.a., 78) zu erreichen. Eine solche staatliche Politik orientiert sich somit allein<br />

an den unternehmerischen Investitionsentscheidungen und versucht, die Kapitalmobilität<br />

zu lenken. Gewerkschaftliche Interessen müssen hierbei konsequenterweise herausfallen.<br />

Sie erscheinen lediglich als Störfaktor <strong>für</strong> eine vorgebliche Steuerungsrationalität<br />

und müssen anderweitig durch Zugeständnisse befriedigt werden (Integration<br />

durch Sozialpolitik). Gerade hier, bei der räumlichen Entwicklung von Arbeit und Kapital,<br />

muß jedoch eine gewerkschaftliche Politik ansetzen, die sich die maßgebliche<br />

Beeinflussung der zukünftigen Arbeitsmarktentwicklung zum Ziel gesetzt hat. Dies<br />

nJCht thematisiert zu haben, muß dem vorliegenden Band als entscheidender Nachteil<br />

angerechnet werden. Was die Beiträge vor allem behandeln, ist eine staatliche Regionalpolitik<br />

von oben. Soziale Bewegungen - wie z.B. die Arbeiterbewegung -, die<br />

sich jedoch ausdrücklich auf regionale Probleme beziehen (vgl. Regionalismus-Diskussion),<br />

bleiben hierbei auf der Strecke. Gerd-Uwe Watzlawczik (München)<br />

DAS ARGUMENT 126.1l981 ©


Soziale Bewegung und PolitIk 303<br />

Kühn, Hagen: Poli tisch-ökonomische En twickl ungs bedingunge n des<br />

Gesundheitswesens. Eine Untersuchung am Beispiel der Krankenhauspolitik in<br />

der Bundesrepublik Deutschland von 1958-1977/78. Anton Hain Verlag,<br />

Königstein/Taunus 1980 (500 S., br., 76,- DM).<br />

Es handelt sich um die wohl umfassendste und differenzierteste politisch-ökonomische<br />

Analyse des Gesundheitswesens, die bislang in der Bundesrepublik vorgelegt wurde.<br />

Den Schlüssel <strong>für</strong> ein sozial-ökonomisches Verständnis dieser Bereiche sieht Kühn<br />

in der politischen Ökonomie des Lohnes bzw. der Reproduktion der Arbeitskraft. Gesundheitspolitik<br />

wird im Bedingungszusammenhang der politischen, sozialen und ökonomischen<br />

Reproduktion des gesellschaftlichen Systems insgesamt interpretiert, wobei<br />

<strong>das</strong> Gesundheitswesen jedoch nicht nur als Objekt dieser Gesamtbewegung, sondern<br />

auch als dessen Bestandteil, dessen Besonderheiten selbst als gesellschaftliche Entwicklungsdeterminanten<br />

anzusehen sind, begriffen wird (5). Ausgangspunkt der Analyse<br />

sind diese Besonderheiten. In Teil A wird der konkrete Arbeitsprozeß im Krankenhaus<br />

untersucht. Kühn widerlegt die These, daß <strong>das</strong> Krankenhaus die »entwicklungsleitende<br />

<strong>Institut</strong>ion« im arbeitsteiligen Zusammenhang des Gesundheitswesens sei. Vielmehr<br />

sind sowohl die Anforderungen an <strong>das</strong> Krankenhaus als auch die dortigen Leistungsund<br />

Interaktionsprozesse weitgehend extern bestimmt. Damit sind aber - entgegen<br />

der Auffassung konservativer Autoren - die empirisch faßbaren Leistungsausweitungen<br />

nicht in erster Linie als angebotsinduzierte Nachfrage, sondern vielmehr als Ausdruck<br />

der Dysfunktionalität anderer sozialer Teilbereiche innerhalb und außerhalb des<br />

Gesundheitswesens zu verstehen (57). Die Leistungsexpansion im Krankenhaus ist nach<br />

Kühn vor allem der unzureichend präventiven Orientierung des Gesundheitswesens,<br />

strukturellen Defiziten im ambulanten Bereich und einer wachsenden »Absorptionsfunktion«<br />

des Krankenhauses <strong>für</strong> allgemeingesellschaftliche Probleme (z.B. Altersproblematik)<br />

zuzuschreiben. Daraus folgt, daß isolierte Krankenhauspolitik als Hebel zur<br />

Lösung der heutigen gesundheitspolitischen Probleme untauglich ist. Kühn fordert<br />

statt dessen Entlastung des Krankenhauses durch präventive Ausrichtung der vorgelagerten<br />

Sektoren und Verbesserung der sozialen Lage der Bevölkerung (88). Thematisiert<br />

wird aber auch der qualitative Aspekt der Krankenversorgung selbst, sowie die Tendenzen<br />

der Privatisierung vor allem im Bereich der Sonderkrankenhäuser. Hiermit verbin.<br />

det der Autor die Analyse der interessenpolitischen Lage der Patienten und Krankenhausbeschäftigten.<br />

Dabei werden wichtige Begründungen <strong>für</strong> die Bedeutung gewerkschaftlicher<br />

Interessenvertretung und die schrumpfende Reichweite individueller und<br />

ständischer Konfliktbewältigungsstrategien der Krankenhausbeschäftigten entwickelt<br />

(115ff.). Kühn mißt der Übetwindung des ständischen und der Entwicklung gewerkschaftlichen<br />

Bewußtseins im Krankenhaus auch eine wichtige Funktion bei der Abwehr<br />

inhumaner und versorgungsinadäquater Entwicklungen zu (108ff.).<br />

In Teil B der Untersuchung wendet sich Kühn der Analyse des gesamtgesellschaftlichen<br />

»politisch-ökonomischen Magnetfeldes«, in dem sich die gesundheitspolitischen<br />

Akteure bewegen, zu (141). Dieses theoretische Kernstück ist ein Beitrag von prinzipieller<br />

Bedeutung <strong>für</strong> die Entwicklung einer materialistischen <strong>Theorie</strong> des Gesundheitswesens.<br />

Ausgangspunkt ist die Überlegung, daß die Leistungen des Gesundheitswesens<br />

nutzenmäßig in die Reproduktion der Arbeitskraft eingehen und wertmäßig Bestandteil<br />

des Reproduktionsfonds der Arbeitskraft sind. Die Untersuchung der Bewegungsfaktoren<br />

der allgemeinen Reproduktionsbedingungen und vor allem der Rolle des Staates<br />

bei der Sicherung der Reproduktionserfordernisse (196ff.) ist damit Voraussetzung<br />

<strong>für</strong> die Erklärung der spezifischen Prozesse im Gesundheitsbereich. Kühn entwickelt<br />

die These, daß mit der wachsenden Bedeutung der über Sozialversicherungsfonds und<br />

staatliche Haushalte umverteilten »vergesellschafteten« Elemente des Reproduktions.<br />

fonds der Arbeitskraft die klassischen antagonistischen Interessen zwischen Kapital und<br />

DAS ARGUMENT 12611981 :C'


304 Besprechungen<br />

Arbeit in zusätzlichen neuen Formen in Widerspruch geraten. Damit wird aber auch<br />

die Durchsetzung demokratischer Gestaltungsrechte immer zwingender zum Bestandteil<br />

des Kampfes der Lohnabhängigen um die Sicherung ihrer Reproduktionsbedingungen<br />

und soziale Demokratie zur Bedingung der Sicherung der Zweckrationalität des<br />

Gesundheitswesens (217).<br />

1m Teil C der Arbeit werden die Ergebnlsse der theoretischen Analyse auf die konkrete<br />

Entwicklung der Gesundheits- und besonders der Krankenhauspolitik seit den 50er<br />

Jahren angewendet. Die Auseinandersetzungen um die Finanzierungsreform des Krankenhauses<br />

werden im Zusammenhang mit den verteilungs- und ordnungspolitischen<br />

Interessen und der politisch-ökonomischen Gesamtentwicklung detailliert dargestellt<br />

und diskutiert. Deutlich wird, daß sich Gesundheitspolitik in einem Spannungsfeld<br />

zwischen den Ebenen der ökonomischen und der politisch-sozialen Systemstabilisierung<br />

befindet. Die Konkretisierung dieses Widerspruchs in der Politik der jeweiligen<br />

Bundesregierungen wird nachgezeichnet. Dabei zeigt Kühn, warum die CDU-Regierungen<br />

in ihrer engen Verflechtung mit konservativen Interessen <strong>das</strong> Problem der Krankenhausfinanzicrung<br />

nicht lösen konnten und die Reformen der sozialliberalen Koalition<br />

zwischen 1969 und 1974 widersprüchlich blieben. Als wesentlich <strong>für</strong> <strong>das</strong> letztliche<br />

Scheitern der sozialliberalen Reformpolitik wird ihre feblende Verbindung mit einer in<br />

die privatwinschaftliche Entscheidungssphäre eingreifenden Wachstums- und Strukturpolitik<br />

gesehen. Abschließend behandelt Kühn die forcierte Kostendämpfungspolitik<br />

seit 1974. Herausgearbeitet wird der häufig demagogische Charakrer der öffentlichen<br />

Kostendebatte (418) sowie <strong>das</strong> inhumane und unsoziale Wesen des Kostendämpfungsinstrumentariums<br />

und seine auf Dauer auch ökonomisch dysfunktionalen Wirkungen.<br />

Insgesamt macht die Arbeit deutlich, daß Verbesserungen des Gesundheitswesens<br />

und die Abwehr destruktiver Tendenzen entscheidend vom Druck der Arbeiterbewegung<br />

abhängen. Kühn betont aber im Hinblick auf aktuelle Strategien der Gegenseite,<br />

daß dieser Druck um so schwerer zu entfalten sei, je mehr sich die Gewerkschaften eine<br />

Fragmentierung ihrer Interessenpolitik in den Bereich der individuellen Einkommenssicherung<br />

einerseits und den der kollektiven Reproduktion andererseits aufzwingen lassen<br />

(452).<br />

Die Studie ist nicht nur <strong>für</strong> die gesundheitsökonomische Diskussion im engeren Sinne<br />

von Interesse. Sie vermittelt eine Fülle interessanter Anregungen auch <strong>für</strong> medizinsoziologische<br />

und sozialmedizinische Fragestellungen sowie <strong>für</strong> die allgemeine gesundheitspolitische<br />

Diskussion. Etwas kutz kommt vielleicht die Analyse des Widerspruchs<br />

zwischen reproduktiven und repressiv-ausgrenzenden Funktionen des Krankenhauses,<br />

wie er vor allem im psychiatrischen Bereich noch immer deutlich hervortritt. Ein vertieftes<br />

Verständnis dieser Problematik - wie der spezifischen Besonderheiten des Krankenhauses<br />

überhaupt - setzte allerdings eine umfassendere Aufarbeitung seiner Geschichte<br />

voraus. Diese Anmerkung kann jedoch die Bedeutung der Arbeit, die durch<br />

ihre produktive Verknüpfung von theoretischer und empirischer Analyse besticht, nicht<br />

relativieren. Bedauerlich ist dagegen der hohe Preis des Buches, der die wünschenswerte<br />

Verbreitung eher behindern dürfte. Michael Regus (Siegen)<br />

Koch, Egmont R., und Fritz Vahrenholt (Hrsg.): Im Ernstfall hilflos?<br />

Katastrophenschutz bei Atom- und Chemieunfällen. Kiepenheuer & Witsch, Köln<br />

1980 (381 S., br., 19,80 DM).<br />

Die nach Seveso, aber auch nach Harrisburg gegebenen Versicherungen einer deutschen<br />

Überlegenheit in Sicherheitsfragen sollen in dieser Textsammlung mit internationalem<br />

fachlichem Beistand auf ihre Haltbarkeit überprüft werden (10). Den Herausgebern<br />

erschienen dabei die Vorteile einer pluralistischen Bandkonzeption wesentlicher<br />

als die Nachteile einer »manchmal nicht ganz einheitlichen Darstellungsform«, da dies<br />

DAS ARGUMENT 12611')81


Soziale Bewegung und Polz'tik 305<br />

eine kontroverse Diskussion ermögliche. - Nach einem Problemaufriß der Herausgeber<br />

über die trotz aller Vorkehrungen verbleibenden Rest-Risiken rekonstruieren Egmont<br />

R. Koch undJohnJ. Berger die in der <strong>kritische</strong>n Periode um die Reaktoren von<br />

Three Miles Island zutagegetretenen Mängel und Unzulänglichkeiten zumal des sekundären<br />

Katastrophenschutzes: »auf einen Massenexodus war niemand vorbereitet« (10).<br />

Die Konsequenzen hieraus formuliert Jan Beyea, mdem er »eine Revision der bisherigen,<br />

nur <strong>für</strong> die unmittelbare l.:mgebung der Kernkraftwerke ausgelegten Katastrophcnpläne«<br />

fordert (73). Er stützt sich dabei auf Studien über Unfallfolgen , die <strong>für</strong> die<br />

Reaktoren von Harrisburg, Barsebäck (20 km von Kopcnhagen) und im NiedereIberaum<br />

durchgerechnet wurden. Das Unfallfolgemodell wird außerdem am Beispiel des<br />

französischen Reaktors von Fessenheim dargestellt. Die Folgerung: »Bis zu einem Umkreis<br />

von etwa 50 km sollte die Bevölkerung. so schnell wie möglich evakuiert werden«,<br />

z.B. die Bevölkerung von Hamburg.<br />

Die Einsicht in die Notwendigkeit, welche Beyea »noch vor und nicht erst nach einem<br />

Reaktorunfall« <strong>für</strong> die BRD erhofft. war nun aber kaum Leitstern der Deutschen<br />

Risikosrudie, deren Ergebnisse Hans-Jürgen Danzmann langatmig und unkritisch vorträgt:<br />

Die Gefahren niedriger Dosen radioaktiver Strahlung beurteilt er nach dem, was<br />

»überwiegend als anerkannt gilt« (109). Kein Wort über den Erkenntniswert der <strong>kritische</strong>n<br />

Studien von Mancuso. Kneale u.a., die eine verhältnismäßig hohe Krebsgefährdung<br />

bei geringen Dosen nachgewiesen haben - eine Frage, die von der Chemikalienseite<br />

her schon Anfang der sechziger Jahre von Rachel Carson aufgeworfen worden war<br />

(»Der stumme Frühling«, Neuauflage Beck 1976).<br />

Die von Danzmann an den Tag gelegte Diskussionsunwilligkeir ist nicht eben geeignet,<br />

die grundsätzlichen methodischen Mängel der Deutschen Risikostudie wettzumachen,<br />

die diese mit dem Mitte der siebziger Jahre in den USA vorgelegten Rasmussen­<br />

Bericht als ihrem Vorbild teilt. Die Lehren aus Harrisburg wurden hier übersehen, daß<br />

man in einem unbeherrschten Prozeß von Versuch und Irrtum herumtappt (Klaus<br />

Traube).<br />

Wie wenig auch in der BRD der sekundäre Katastrophenschutz »Friedenskatastrophen«<br />

(Menke-Glückert, 332) gewachsen ist, dokumentiert E.R. Koch am Fehlen von<br />

ABC-Zügen zur Aufdeckung und Bekämpfung atomarer, biologischer und chemischer<br />

Verseuchungen; völlig unzureichender medizinischer Vorbereitung auf den Ernstfall;<br />

unzureichender Alarmpläne <strong>für</strong> die Bevölkerung. Politiker tabuisieren entweder insgesamt<br />

diese Fragen oder ritualisieren ihre Behandlung mit unsinnigen detaillierten Festlegungen<br />

etwa bei Großübungen: die Einübung der Kommandowege erscheint hier<br />

wichtiger als die Lernfähigkeit der Betroffenen - ein Bestreben, dessen skandalöse Seiten<br />

unlängst beim italienischen Erdbeben-Ernstfall zutagetraten.<br />

Dasselbe Thema nimmt Peter Menke-Glückert vom Bundesinnenministerium in einem<br />

»Plädoyer <strong>für</strong> ein neues Katastrophenbewußtsein« wieder auf. Er stützt zwar die<br />

Forderung nach Entmilitarisierung des Zivilschutzes, will aber »alle denkbaren Notstände<br />

(einschließlich des Verteidigungsfalles) von eznem Grundkonzept der Gefahrenabwehr<br />

her geplant« wissen (332). Er fordert zwar »Bürgerbeteiligung statt Tabuisierung«<br />

(344ff.), setzt dabei aber auf Illusionen der Art: »Eine erkannte Gefahr ist meist keine<br />

Bedrohung mehr« (339), was als Ernüchterung verkauft wird: Das Restrisiko ist im<br />

»emotionalen Unterton« verschüttet (330).<br />

Eine andere Sprache sprechen dagegen die zur Chemieproblematik von Fritz Vahrenholt<br />

beigesteuerten Materialien. Ein Beitrag klärt die unterschätzen Gefahren durch<br />

Giftgaswolken auf, wodurch nun aber die Bedrohungen beileibe nicht verschwunden<br />

sind. Im Gegenteil: Wie es in einer Beilage zum Buch heißt, ist die Deutsche Marathon<br />

Petroleum GmbH laut Gerichtsbeschluß gar nicht ,,verursacherin der Gaswolke vom<br />

Dreikönigstag«. Und die Erfolgsmeldungen von Hans-Ingo Joschek von der BASF über<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 'f


306 Besprechungen<br />

die Störfallabwehrplanung des Konzerns werden durch die von der IG Chemie dokumentierte<br />

Vertuschungspraxis an läßlich eines Brandes im Ludwigshafener Werk Lügen<br />

gestraft. Unter diesen Voraussetzungen sind die Möglichkeiten einer Diskussion, geschweige<br />

denn fruchtbarer Kontroversen, gewiß gering einzuschätzen.<br />

Rolf Czeskleba-Dupont (Aalborg)<br />

Brünneck, Alexander von: Pol i t i s ehe Jus t i z ge gen Kom m uni s t e n 1 n<br />

der Bundesrepublik Deutschland 1949-1968. Vorwort von Erhard<br />

Denninger, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 1978 (404 S., br., 14,- DM).<br />

Wer nach der grundlegenden und überzeugenden Arbeit von Werner Hofmann über<br />

»Stalinismus und Antikommunismus« (es 222) noch Zweifel an der Existenz der westlichen<br />

Variante der politischen Grundtorheit gehabt haben sollte, hat seit dem Erscheinen<br />

des Buches von A.v. Brünneck eine gut ausgewählte und vorgestellte Materialsammlung<br />

des justizförmigen Antikommunismus. Die ca. 1900 Einzelbelege sind<br />

ebenso zahlreich wie erdrückend.<br />

Das Buch ist schon mehrfach als Standardwerk bezeichnet und positiv aufgenommen<br />

worden. Obwohl dieser Umstand zunächst bedenklich stimmen muß, wenn man die<br />

Bandbreite der Besprechungsorgane berücksichtigt (von der FAZ bis zu konkret), soll<br />

der Hauptverdienst der Arbeit nicht geschmälert werden: Es ist eine klar gegliederte,<br />

gut lesbare und hervorragend recherchierte Dokumentation der Justizaktionen gegen<br />

Kommunisten, Sozialisten, Marxisten und alle tatsächlichen oder mutmaßlichen »Sympathisanten«.<br />

Daß von Anlage und Gehalt keine typische Rechts(zeit)geschichte im<br />

Sinne gewohnter Rechtsnormen- und Urteilsgeschichte beabsichtigt war, ergibt sich aus<br />

einer vorangestellten Schilderung der KPD-Politik von 1945-1968 und einer Übersicht<br />

über die Kommunistenverfolgungen von 1949-1951, die in nachfolgenden Kapiteln jeweils<br />

spezifisch fortgesetzt wird.<br />

Schwerpunkt der Darstellung ist die politische Strafjustiz, die sich bestehender und<br />

neugeschaffener Straf tatbestände bediente und mithilfe extensiver (»grenzenloser«)<br />

Auslegung die Organisationen selbst, ihre Aktionen und Verlautbarungen sowie ihre<br />

Mitglieder verfolgte. Dazu gehörten auch politische und private Kontakte zur DDR, sofern<br />

sie nicht in deutlichem »Wieder«vereinigungszusammenhang standen. Die Berührung<br />

mit dem Kommunismus bzw. mit den Ländern, die ihn <strong>für</strong> sich reklamierten, war<br />

nur dem erlaubt, der sich hinreichend als Antikommunist ausgewiesen hatte. V. Brünneck<br />

folgt geduldig der gesamten Palette des politischen Strafrechts: vom Hochverrrat<br />

bis zum Zeitungsverbot. Das Charakteristikum jedes politischen Strafrechts tritt hervor:<br />

je unmittelbarer der Bezug zur laufenden politischen Auseinandersetzung ist, desto generalklauselartiger<br />

und weiter wird der Tatbestand gefaßt, womit <strong>das</strong> »rechtsstaatlichste«<br />

Element des Strafrechts überhaupt, die Garantiefunktion des gesetzlichen Tatbestandes,<br />

über Bord geworfen wird.<br />

Auch <strong>das</strong> Vorfeld der Kriminalisierung wird eindrucksvoll beleuchtet, indem auch<br />

administrative, vor allem polizeiliche, und zivil- und arbeitsrechtliche Sanktionen gegen<br />

Kommunisten dokumentiert werden. Aus allen Teilbereichen der insoweit unterschiedslos<br />

politischen Justiz fugt sich ein wirksamer Einschüchterungsapparat zusammen,<br />

der historisch adäquat die damalige Politik der Westintegration absicherte. Historisch<br />

adäquat deshalb, weil im Verbund einer relativen Wirtschaftsprosperität mit einer<br />

schwachen Arbeiterbewegung ohne Gegenmachtstrategien gerade offene Repression<br />

den gewünschten Effekt erzielte. Seit den bei den bedeutsamen Krisen. deren zweite<br />

praktisch seit sechs Jahren anhält, und nach Ablösung der »reinen« Unionsregierungen<br />

sind die Mittel und Mechanismen bei gleichen Zielen anders geworden, obgleich sich<br />

an der Hauptmalaise der Arbeiterbewegung nichts geändert hat. In dieser Hinsicht ist<br />

<strong>das</strong> Buch ein Lehrstück zur Analyse und Einschätzung der Berufsverbote, die nach einer<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 ce


Soziale Bewegung und Politik 307<br />

Atempause von 4 Jahren (gab es wirklich eine Atempause?) den Antikommunismus in<br />

eine neue Form überführten.<br />

Den dauerhaften Verlust des Arbeitsplatzes gab es allerdings schon früher (299ff.) als<br />

selbständigen und oft wirksamsten Bestandteil der politischen Justiz. Die Landesarbeitsgerichte<br />

und ab 1954/55 auch <strong>das</strong> Bundesarbeitsgericht billigten fristlose Entlassungen<br />

wegen (partei)politischer Betätigung im Betrieb bzw. wegen politischer Ermittlungs-<br />

und Strafverfahren. Auch die Einstellung eines Straf- oder bereits eines Ermittlungsverfahrens<br />

(von den betroffenen mindestens 125000 Personen wurden erwa 6 500,<br />

also jeder 20., verurteilt; im Strafrecht insgesamt kommt auf 5-6 Ermittlungen eine<br />

Verurteilung) änderte nichts an dem endgültigen Verlust der Arbeitsstelle. »Schwarze<br />

Listen« der Unternehmer und Hinweise der Ämter <strong>für</strong> Verfassungsschutz sorgten <strong>für</strong><br />

den Ausschluß vom Arbeitsmarkt überhaupt (304).<br />

Bei flüchtiger Durchsicht könnte man meinen, v. Brünneck wollte eine Lanze <strong>für</strong> den<br />

Positivismus brechen und herausarbeiten, daß <strong>das</strong> Rechtsinstrumentarium letztlich<br />

doch Bürgerschutz garantieren kann. Abendroth (konkret 5/79, 27) scheint <strong>das</strong> mit<br />

dem Vorwurf .Überpositivismus« gemeint zu haben. Nach meinem Verständnis geht es<br />

v. Brünneck vielmehr darum, zu zeigen, wie Gesetze und deren Anwendung unmittelbare<br />

Waffen im politischen Kampf sind. Das am ehesten theoretische Kapitel Nr. 17<br />

(334ff.) belegt eine materialistische Gesetzesauffassung des Autors. Allerdings bleibt<br />

am Ende eine Unklarheit, auf die auch Abendroth in seiner Kritik verweist: Ist die politische<br />

Justiz gegen links nun ein Beweis da<strong>für</strong>, daß der Rechtsstaat »ein Gebilde mit<br />

'beträchtlichen Randunschärfen'« (366; auch Denninger im Vorwort) ist oder da<strong>für</strong>,<br />

daß sich die politische Macht auf der Basis ökonomischer Macht stets derjenigen Mittel<br />

- in rechtsstaatlicher Gewandung oder nicht - bedient, die zur Erhaltung und Festigung<br />

der gegebenen Struktur- und Verteilungsverhältnisse erforderlich sind (so der Verweis<br />

auf Kap. 16, 310ff., <strong>das</strong> vom Kampfgegen die politische Justiz handelt)? Die fehlende<br />

Standortbestimmung <strong>für</strong> Verfassungsprinzipien wie Rechtsstaat, parlamentarische<br />

Demokratie ete. ist ein Mangel, der leicht zu Mißverständnissen führt, erwa dazu,<br />

den Verfasser <strong>für</strong> einen Rechtsstaats-, wenn auch keinen Gesetzespositivisten zu halten.<br />

Doch sollte in erster Linie der enorme Wert der akribischen Dokumentation gewürdigt<br />

werden; daß sie zur Pflichtlektüre <strong>für</strong> alle gehört, die sich kompetent zur Geschichte<br />

der BRD äußern wollen, steht außer Frage. Die politische Einschätzung des Gelesenen<br />

kann getrost denjenigen überlassen werden, die Tatsachen noch zur Kenntnis nehmen<br />

- und die politische Justiz gegen Kommunisten ist nun eben in Deutschland eine<br />

kontinuierliche Tatsache. Joachim Heilmann (Hannover)<br />

Fangmann, Helmut D,:Justiz gegen Demokratie. Entstehungs- und Funktionsbedingungen<br />

der Verfassungsjustiz in Deutschland, Campus Verlag,<br />

Frankfurt/M./New York 1979 (256 S., br., 34,- DM).<br />

Der Titel des Buches bezieht sich auf ein Doppeltes: Zum einen auf die Rolle der Justiz<br />

während der Weimarer Republik überhaupt, deren eindeutige Stoßrichtung im Bereich<br />

des politischen Strafrechts bekanntlich gegen die Arbeiterbewegung zielte. Zum<br />

anderen auf die Tatsache, daß die Einrichtung bzw. Existenz eines (Staats- )Gerichts,<br />

<strong>das</strong> die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen prüft, in einem auf allgemeinem Wahlrecht<br />

basierendem (bürgerlichen) demokratischen System per se antidemokratische Züge<br />

trägt. Die aktuelle Bedeutung der Arbeit liegt darin, daß »die in Weimar eingeleitete<br />

Entwicklung der Verfassungsverrechtlichung (".) ihre Fortsetzung in der aktuellen<br />

Verselbständigung des Bundesverfassungsgerichts von der Verfassung (findet)« (11).<br />

Bevor es in der zweiten Hälfte der 20er Jahre zu einer Diskussion über Erweiterung<br />

der Kompetenzen des Staatsgerichtshofes kam, war bereits die Frage, ob die Justiz allgemein<br />

die Befugnis zur Prüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin be-<br />

DAS ARGUMENT \2611981


308 Besprechungen<br />

sitze, diskutiert und in bejahendem Sinne von der Justiz selbst beantwortet worden.<br />

»Die Befugnis wird zumeist als richterliches Prüfungsrecht bezeichnet und meint den<br />

Vorgang der inzidenten Normenkontrolle des Richters, der <strong>das</strong> von ihm aus Anlaß bzw.<br />

im Verlauf eines konkreten Rechtsstreits anzuwendende Gesetz einerseits auf die Einhaltung<br />

des verfassungsrechtlich vorgeschriebenen Gesetzgebungsverfahrens von der<br />

Abstimmung im Parlament bis zur Verkündung des Gesetzbeschlusses im Gesetzesblatt<br />

(formelles Prüfungsrecht) und andererseits auf dessen Vereinbarkeit mit Grundrechten<br />

und Grundsätzen der Verfassung prüft (materielles Prüfungsrecht) und es unter<br />

Umständen <strong>für</strong> nichtig erklärt. Nicht <strong>das</strong> Prüfen, sondern <strong>das</strong> außer Kraft setzen des<br />

Gesetzes durch den gesetzesgebundenen Richter ist <strong>das</strong> Entscheidende, deshalb ist der<br />

überkommene, noch dem Gesetzespositivismus des 19. Jahrhunderts verhaftete Ausdruck<br />

'Prüfungsrecht' irreführend bzw. verharmlosend.« (7, Fn.1)<br />

Interessant ist der methodische Ansatz der Arbeit. Dem Verfasser geht es nämlich<br />

nicht darum, »die Rechtsprechung und Literaturmeinungen (zum richterlichen Prüfungsrecht,<br />

AL) einmal mehr unter ausschließlich normativen Gesichtspunkten zu bewerten,<br />

indem er sie <strong>für</strong> rechtmäßig oder rechtswidrig hält ... gefragt wird (darüber<br />

hinaus, AL) nach Widersprüchen zwischen verschiedenen Rechtsideologien ... , es geht<br />

um die Abweichungen in den Gerichtsentscheidungen und literarischen Darstellungen<br />

von der vorrevolutionären Rechtsideologie, dem Verfassungstext von 1919 und der Entstehungsgeschichte.<br />

« (2 2f.)<br />

Im Zentrum der Entwicklung des richterlichen Prüfungsrechts stand <strong>das</strong> Reichsgericht<br />

in Zivilsachen, welches, bereits seit der Reichsgründung existierend, alle ökonomisch<br />

relevanten Streitfälle zu entscheiden vermochte. Der primäre Anwendungsbereich<br />

des richterlichen Prüfungsrechts war die Aufwertungsjudikatur des Reichsgerichts.<br />

Mit einer bis 1923 rapide zunehmenden Inflation in Deutschland, die <strong>das</strong> Geldvermögen<br />

entwertete, wurde der gesetzliche Grundsatz »Mark = Mark« allmählich zur Farce.<br />

»Durch die Inflation sah sich die Richterschaft in den Konflikt gedrängt, entweder den<br />

in den vorkonstitutionellen Währungsgesetzen enthaltenen Grundsatz 'Mark = Mark'<br />

zu akzeptieren oder diesen aufzugeben und sich <strong>für</strong> die inhaltlichen Interessen der Inflationsgeschädigten<br />

des Bürgertums zu entscheiden.« (101) In diesem Sinne hatte der<br />

Vorstand des Richtervere'ins beim Reichsgericht Anfang 1924 be'reits erklärt, jede gesetzliche<br />

Maßnahme', die auch nur partiell die Aufwertung verbieten würde, würde<br />

wieder aufgehoben.<br />

In der zweiten Hälfte der 20er Jahre stand dann in Fortsetzung der Diskussion über<br />

<strong>das</strong> richterliche Prüfungsrecht die Diskussion über die Erweiterung der Kompetenzen<br />

des Staatsgerichtshofes an. Zu einer gesetzlichen Verabschiedung einer erweiterten Befugnis<br />

des Staatsgerichtshofes kam es jedoch nicht mehr. Die Verfassungsjustiz vermochte<br />

in der Weimarer Republik, die von heftigen sozial-ökonomischen und politischen<br />

Krisen wie von stark entwickeltem Klassenbewußtsein geprägt war (207), nur eine<br />

geringe ideologische Funktion zu entfalten. Immerhin wurden die ersten Fundamente<br />

des heutigen Systems der Verfassungsjustiz in der Weimarer Zeit gelegt.<br />

Zweifelhaft dürfte allerdings die These sein. daß die heutige »Verfassungsverrechtlichung«<br />

auf Ursachen hindeutet, »die nicht so sehr in der akruellen Entwicklung der<br />

Bundesrepublik, sondern mehr im Entwicklungsprozeß ... vor allem der Weimarer<br />

Epoche beschlossen liegen und in der Rekonstruktionsphase nach 1945 rezipiert und<br />

entwickelt wurden« (17). Diese These dürfte nämlich nicht genügend die unterschiedliche<br />

politische Konstellation der offenen Klassenkonfrontation in Weimar einerseits und<br />

des Systems eines »autoritären Pluralismus« in der Bundesrepublik andererseits berücksichtigen.<br />

Daß mit Hilfe unter anderem des Bundesverfassungsgerichts die Verrechtlichung von<br />

politischen Konflikten in der Bundesrepublik gelingt, ist eine »höchst voraussetzungs-<br />

DAS ARGUMENT 126/1981


Soziale Bewegung und Polztlk 311<br />

lung der Miethöhe. Dabei steht er nicht vor denselben Schwierigkeiten, da <strong>das</strong> Wohnungsmietrecht<br />

sich zu einem relativ geschlossenen Rechtsgebiet entwickelt hat, <strong>das</strong><br />

immer weniger auf allgemeine Regeln rekurriert. Es mag vor allem auch daran liegen,<br />

daß dieser Teil <strong>das</strong> Anliegen des Kommentars besonders gelungen zum Ausdruck<br />

bringt. Fast gleichgewichtig wird juristische und soziologisch-historische Literatur zu<br />

Miete und Wohnen (199) angegeben. Die Kommentierung beginnt mlt der Kritik der<br />

formalen Abstraktion der Miete von ihrem wesentlichen sozialen Zweck »Wohnen«.<br />

Anschließend wird (201-222) genau dieser vernachlässigte Gegenstand »Wohnung« in<br />

seiner tatsächlichen Entwicklung, Ideologie und verfassungsmäßigen Bedeutung erläuten.<br />

Durch diese in herkömmlichen Kommentaren ausgelassene soziale Information erhält<br />

dann die weitere Kommentierung eine neue Fundierung, die <strong>das</strong>, was bisher als<br />

Ausnahme verstanden wurde, als sozial notwendige Regel verständlich macht. Insbesondere<br />

die eingehende Kommentierung, z.B. zu § 564b, dem Kündigungsrecht des<br />

Vermieters zur Ermöglichung seiner »angemessenen wirtschaftlichen Verwertung«, zeigt<br />

dann, wie wichtig eine solche Grundlegung ist. um hier stringente Argumente gegen<br />

eine quasi städtebauliche Aufhebung des nur noch im Einzelfall gewährleisteten Bestandsschutzes<br />

der Wohnung zu haben.<br />

Jedoch nicht überall gelingt dieser Durchgriff auf die soziale Bestimmung. Häufig<br />

wird auch nur eine in den herkömmlichen Kommentierungen mieterfreundliche Meinung<br />

übernommen und unterstützt, manchmal sogar, wie bei dem Verhälrnis von<br />

Konsumenten-. Leasing- und Abzahlungsgesetz (227; ebenso Reich. 182), die nicht gerade<br />

verbraucherfreundliche herrschende Meinung referiert.<br />

Weniger überzeugend als <strong>das</strong> Mietrecht ist dann die Kommentierung des Arbeitsrechts<br />

durch denselben Autor, wo sowohl bei der Einführung als auch bei der Anordnung<br />

der Einzelmaterien z.T. doch ein individualistisch anmutender Aufbau vom Einzelarbeitsverhältnis<br />

zur Kollektivvereinbarung gewählt wurde und natürlich bereits<br />

vom Umfang bedingt die hier weit zahlreicheren Regelungen außerhalb des BGB unberücksichtigt<br />

bleiben.<br />

Sehr stark durch system theoretische Erklärungsmuster und Sprache bestimmt ist die<br />

Kommentierung des Gesellschaftsrechts durch Teubner. Mit Hilfe von organisationstheoretischen<br />

Konzepten wird eine dogmatische Neuformulierung der BGB-Gesellschaft<br />

versucht, bei dem (in Anlehnung wohl an deutschrechtliche Traditionen) die<br />

BGB-Gesellschaft nicht mehr aus dem Individualhandeln, sondern aus dem Kollektivhandeln<br />

erklärt wird. Im übrigen wird auch hier eine auf die jeweiligen sozialen Kontexte<br />

abstellende Imerpretation versuchr. Zu fragen ist hier, ob die Zielgruppe des<br />

Kommentars (Praktiker und Studemen) erreicht werden kann. wenn sich sprachliche<br />

Gebilde häufen wie »daß die rechtliche Normierung der Zurechnungsendpunkte nicht<br />

notwendig der Kombination von Umweltfunktionen. Mitgliederanforderungen und internen<br />

Vorkehrungen folgt ... « (726).<br />

Eine interessante Form der Kommentierung findet sich bei § 82 3 BGB als dem zentralen<br />

Haftungstatbestand des BGB. Hier teilen sich die Autoren die sozialen Funktionsbereiche<br />

dieses Paragraphen und kommentieren nach einer historischen Einführung<br />

zum klassischen Tatbestand (Koch) seine Anwendung im Verbrauchsbereich, bei<br />

den Verkehrssicherungspflichten (Dubischar), beim Recht am eingerichteten und ausgeübten<br />

Gewerbebetrieb (Däubler) und beim Persönlichkeitsrecht »im politischen Meinungskampf«<br />

(Derleder). Bei § 823 Abs. 2 BGB geht Reich auf die damit erreichten Regeln<br />

zum Schutz von Verbrauch, Gesundheit, Umwelt und Vermögen ein. Teubner<br />

kommentiert wiederum § 826 BGB.<br />

Rittstieg, Rüßmann und Ort sind ebenfalls noch innerhalb dieser 150 Seiten zum<br />

Recht der unerlaubten Handlung vertreten. Hier ist tatsächlich kein Platz verschenkt.<br />

Die je individuelle Vertrautheit mit dem Gegenstand und die Beschränkung auf solche<br />

DAS AKGeME!\lT 126/1981


VIII<br />

2/3'81<br />

TlteiftOry: Die polnische Knse<br />

Hochschule<br />

Tagebuch eines Erstsemesters<br />

Kooperation IG Metall - Studenten<br />

Neue Burschenherrlichkea<br />

Unter der Lupe: "Studle über Studentenverhalten«<br />

Bundesrepublik<br />

Hausinsta nd bes.et zungen<br />

Texte zum Frauentag<br />

Aufschwung in der Friedensbewegung'<br />

Dönitz - Verherrlichung eines Kriegsverbrechers<br />

lrlternationales<br />

US-Völkermord: Gestern Vietnam<br />

- heute EI Salvador<br />

Parteitag in Kuba<br />

Kultur<br />

Amendt! Krämer: Peep-Shows<br />

Peter Maffav - ein Schnulzi'<br />

Festival der Jugend' 81<br />

Illusionen und John Lennons Tod<br />

11. Jg. 1981<br />

DAS ARGUME:'\:T !:.'6 i 1\)81<br />

ZeitschnJtenschau<br />

SOCIALISM<br />

IN<br />

THEWORLD<br />

21<br />

L Alaoui: La coopora[ion et I'alliance des<br />

forces socialistes subjectJves<br />

D. Albers: Six [heses sur les rapports des<br />

socialistes de gauche e[ des curocommunistes<br />

A. Grlickov: International Cooperation<br />

and Solidari[\' among [he Subjective Forces<br />

of Socialism<br />

R. Mesa: The People as Pro[agonists of In­<br />

[ernational Life<br />

DiJcUHion:<br />

Stra[egies of Subjective Forces of Socialism<br />

:-..Jat;onal and International Cooperation of<br />

Subjective FOfces in Socialism<br />

General Deba[e<br />

COTrlTlZentant?s and Informatl"on<br />

RezJiews<br />

Special Issue<br />

jo.rzp BTOZ Tlto (J 8921980)<br />

Preparing for the Revolu[ion<br />

The Pcople's Libera[ion S[tuggle and the<br />

Socialist Revolution<br />

On Marxism<br />

On Socialism<br />

Self-Management and the League of Communists<br />

of Yugaslavla in the Socialist Revolution<br />

On \'('orld Affancs and Interna[ional So­<br />

ClaiIsm<br />

3. )g. ]980<br />

EdJtor: International Conference .Socialism in the<br />

Wodd'l, Cavtat, and Je .Kommunistc, NIP Kommunist,<br />

Beograd,]ugoslavla. Auslieferung <strong>für</strong> BRD und Westberlin:<br />

Argument-Vertrieb. Tegeler Str. 6,1000 Berhn 65,<br />

Preise wie Argument-Sondetbände AS (ca, 300 S.).


Endlich auf dem Plattenteller -<br />

Live-Aufnahme<br />

des Argument-Workshops<br />

HANNS EISLER -<br />

MUSIK GEGEN DIE DUMMHEIT<br />

Johannes Hodek: Gesang und<br />

Entertai nment<br />

Thomas Kühn: Klavier<br />

u.a. mit den Titeln:<br />

Die haltbare Graugans<br />

lied von der belebenden Wirkung des<br />

Geldes<br />

Die Ballade vom Wasserrad<br />

Das Saarlied<br />

Aus: Hollywood-Elegien<br />

Hollywood<br />

»Unter den grünen Pfefferbäumen«<br />

»Die Stadt ist nach den Engeln ge·<br />

nannt«<br />

»In den Hügeln wird Gold gefun·<br />

den«.<br />

Die Weißbrotkantate<br />

Verfehlte Liebe<br />

LP mit ausführlichem Beiheft:<br />

Texte, musikalische Analysen,<br />

Geschichten.<br />

Preis: 19,80 DM zzgl. Versandkosten<br />

Erscheint Mai 1981<br />

Vorbestellungen an:<br />

Argument·Vertrieb, Tegeler Str. 6,<br />

1000 Berlin 65, Tel. 030/4619061<br />

» ... die Trommelfelle jauchzen ... «<br />

(Martin Buchholz, »Die Neue«)<br />

» ... eine wohltuende Bereicherung der<br />

engagierten Musikszene«<br />

(Tagesspiegel Berlin)<br />

»ein zugleich unterhaltender und auf·<br />

klärender Abend«<br />

(Südwest·Presse, Tübingen)<br />

»Hodek entwickelte einen imponie·<br />

rend eigenständigen Interpretations·<br />

stil« (Weser·Kurier, Bremen)<br />

»Der intelligente Komponist auf intel·<br />

ligente Weise vorgestellt ... «<br />

(Erlanger Tageblatt)<br />

Mit musikalischer und interpretatori·<br />

scher Schläue wird der Kampf gegen<br />

die Verschmutzung unserer Gefühle<br />

aufgenommen.<br />

Singend, spielend, kommentierend,<br />

analysierend entwickeln J. Hodek<br />

und Th. Kühn mit ihrem Programm ei·<br />

ne neue Hörweise der Musik von Eis·<br />

ler, in der man sich lustvoll bilden<br />

kann.<br />

Sie wenden sich damit heftig und er·<br />

folgreich gegen passives Mitdösen<br />

im Parkett.<br />

Der Abend ist eine heitere Schule <strong>für</strong><br />

all die, denen es um die Entwicklung<br />

ihrer Gefühle und ihres Verstandes<br />

geht, die Spaß an Musik haben und<br />

die Eisler in seiner Vielfalt als Kompo·<br />

nist kennenlemen wollen.<br />

(A. Bünz·Elfferding, »Die Neue«)<br />

D.A.S f\RGL'\.iENT 126/19131


Pfingsten 1981 zum zweiten Mal!<br />

5. bis 8. Juni<br />

im Henry·Ford-Bau der FU Bertln<br />

Vorlesungen, DIskussionen,<br />

Kultur zum SelbennlChen.<br />

Lernen, Streiten, Genießen!<br />

Was? Wer? Wie?<br />

Gramsci-Diskussion.<br />

Spontaneität und Politik.<br />

Was ist Ökologie?<br />

VOLKSUNI-Büro:<br />

Muthesiusstr. 38<br />

1 000 Berlin 41<br />

Tel.: 7928920<br />

(dienstags und donnerstags)<br />

Politik und Recht im Betrieb. Erfahrungen eines shop stewart aus<br />

England und eines Betriebsrats aus der BRD. Agitationstheater<br />

von und <strong>für</strong> Kollegen.<br />

Frauenbewegung und Arbeiterbewegung. Geschichte der Familie.<br />

Werkstatt schreibender Frauen.<br />

Ökologie - Gewerkschaften. Christentum - Sozialismus. Kirche<br />

- Staat. Friedens· und Ökologiebewegung. Friedensstrategien.<br />

Ausländerpolitik.<br />

Musik - Literatur - politische Plakatkunst: Zum Zuhören, Ansehen<br />

und Selbermachen.<br />

Vorstellung von Projekten der Gewerkschafts-, Frauen- und Alternativbewegung.<br />

Wer mehr wissen will, soll den Volksuni-Brief bestellen.<br />

))In dieser (von Axel Eggebrecht und Peter von Zahn<br />

herausgegebenen) Zeitschrift erschienen ausgewählte<br />

Sendungen des NWDR ... Im Herbst<br />

1980 ist ein Band herausgekommen, der 82 Beiträge<br />

der ZeitschrifT enthält, dazu außer einem<br />

Vorwort des Herausgebers auch ein von ihm jetzt<br />

geführtes, und zwar intelligenT und treffend geführtes<br />

Interview mit Axel Eggebrecht. Allein schon dieses<br />

Interview macht <strong>das</strong> Buch lesenswert: ein Stück<br />

RundfunkgeschichTe, ein Stück Zeitgeschichte ...<br />

Ein Buch mit Texten, die jetzt doch, nach einem<br />

Jahrhundert-Drittel. da und dort fremd anrühren,<br />

nicht weil sie etwas Museales an sich hätten,<br />

sondern weil sie radikaler und entschiedener sind,<br />

als es im heutigen Programm möglich erscheint ...<br />

Diese in ihrer Art originelle Dokumentation spiegelt ein Stück ZeitgeschichTe: Was<br />

damals aktuell war und die Gemüter bewegte, ist unbefangen, engagiert und ohne<br />

die abgekühlte Distanz des GeschichTsschreibers dargestellt. Charles Schüddekopf hat<br />

die hier abgedruckten Sendetexte vernünfiig in einzelne Kapitel gegliedert und hat<br />

<strong>das</strong> Verständnis durch die Beigabe einer umfangreichen politischen Zeittafel erleichtert.<br />

Ein Lesebuch <strong>für</strong> alle: <strong>für</strong> die Alten gewiß überwiegend zu wehmütigen<br />

Erinnenlng .. fiir die Jungen ein üherras('hungsrri('hes Jophrbuch,«<br />

F.W. Hymmen im epd über<br />

CharIes Schüddekopf (Hg,): Vor den Toren der Wirklichkeit. Deutschland 1946/47 im<br />

Spiegel der Nordwestdeutschen 'lerlag J.H.W. DI'etz Nachf.<br />

Hefte. 385 Seiten. 22,- DM ,..


Summaries<br />

A. Lorenzer: The Possibilities of a Qualitative Contem Analysis<br />

XIII<br />

The anicle deals wi,h the inherent meaning. rhe »opening of freedom« of subjeetivity in soeiery<br />

and ilS analysis. Berween a eritique of ideology. which seeks to point tO rhe historieal inadequaey<br />

of the subjeetive formulas of paralysed relarionships in their eontradietoriness. and psyehoanalysis.<br />

wh ich has to work out the neurotie non-freedom of individuals and the repression of their historieally<br />

possible needs. a third procedure is presented: the deep-hermeneutie analysis whieh eritieally<br />

pursues the forms of interaction in human praetiee debated in eultural formations. The proeedure<br />

will be exemplarily elueidared in an analysis of the Mephtsto novel by Klaus Mann wh ich works<br />

out the selfde;truetion of the anti-fascist intention by holding on to fundamental elements of<br />

bourgeois subjectivity.<br />

F. Kröll: The Biography. A Form of Social Research?<br />

The first part of the artide diseusses euerent initiatives. mouves and consequenees in overeoming<br />

»objeetivism« in the soeial seiences. A warning is given about misleading justifieations of a seienee<br />

of the subjen (»5ubjektwissensehaft«) by fitstly eonfusing subjective private fotms of living and<br />

thinbng with subjeetivity. by secondly secretly slipping in theoretieal elements of a phJiosophy of<br />

life and. in conclusion. by inadequately defining that wh ich is tu be understood as an unique. individual,<br />

life proeess or biography. respeetively. The seeond part investigates how the »biography«<br />

as a subject·scientific category is to bc intcgrated ioto a materialistic conceprion of an individual<br />

soeial disposition. Ir will be attempted do define the »biography« as a eategory for the theoretieal<br />

mttrorlOg of a mode of movement in tbe course of a human life.<br />

G. We,l(ner: Tanzania - On the way to Socialism?<br />

This contribution investigates the Tanzanian a[(empt tu establish a soeialist soeiety after the Arusha<br />

Declaration in 1967. Sinee that time very lirtle sueeess was aehieved in the etueial areas of agrimiture<br />

and industrialisation: neither the transformation of agrieulrure. wh ich was intended under<br />

the headings of 'Ujamaa' and 'Villigization'. nor indusrrial planning really worked. Today Tanzania<br />

is probably more dependend on the West. esp. the World Bank. than befare 1967. This failure<br />

of official Tanzanian policy necessitates (he analysis of class·intereSls, which derermine Tanzanian<br />

soeial reality beyond the offieial Christian-humanitarian ideology. Therefare the authar deseribes<br />

the <strong>das</strong>s-analyses ofJohn S. Saul (1974) and Issa G. ShivJi (1976. The author condudes that instead<br />

of admiring the antiimperialism ofTanzanian politicians one has (0 assess it in relation (0 inter·<br />

nal contradictions of the eountrv.<br />

H. Melber: The State in the Third World<br />

The attempt to sketch similarities and differenees between 'metropolitan' and 'periphera!' state<br />

formations and to reflect the eentral role of the bearers of state power in the eontext of Afriean<br />

countries is based on the summary of thcoretieal derivat ions in highly developed capitalist eountries,<br />

followed bv a modification of stare theories wirh regard to Third World eountrie; and an analysis<br />

of rhe role and funcrions of the state and the state-supporting class( es) in !\ff;can countries.<br />

The authar argues that a reorientation towards srronger emphasis of the intef-relationship beeween<br />

mode of ptoducrion - <strong>das</strong>s formation - class suuggle - state apparatus would be neeessary to<br />

re ach by historie-genetie regional analyses a new dimension able to overeome the soeiology of<br />

ruling I dominating class( es) and institutions.<br />

Project for Regional Social History: Kew Regional History. Leftist Provincial Patriotism or Critical<br />

Social Analysis'<br />

Thc aims are to show some new tendeneies in some relevant books on IDeal! regional history . The<br />

authors wanr to elaborate the common eore and the diversitv of the literature diseussed and show<br />

how new approaehes on regional hiscory are being developed. The centeal aspeers of these new approaches<br />

are (1) their view from the botcom: The hisrorians trv co reeaptufe 1 he perspeerive of the<br />

lower classes to understand thelT reality: (2) the discovery of a speeific »soeiallogic« in the awons<br />

of these lower c1asses. (3) the rejecrion of unlinear development theories of social change. In the<br />

understandlOg of the authors such a regional hisrory could be a tield of re-integratlon of the meanwhile<br />

exploding seetoral diseiplines in soeial history.<br />

DAS ARGUME:\iT 126/11)81


XVI Inhaltsverzeichnis (Fortsetzung von UII)<br />

Sprach- und Literaturwissenschaft<br />

Götze, Karl-Heinz: Grundpositionen der Literaturgeschichtsschreibung im Vormärz<br />

(H. -J. Ruckhäberle) 284<br />

Bumke, Joachim: Mäzene im Mittelalter (u. See/bach) 285<br />

Schmitt, Peter: Faust und die »Deutsche Misere«. Studien zu Brechts dialektischer<br />

Theaterkonzeption (c. Albert) 286<br />

Kunst- und Kulturwissenschaften<br />

Henze, Hans- Werner (Hrsg.): Zwischen den Kulturen. Neue Aspekte der musikalischen<br />

Asthetik I (A. Bünz-Elfferding) 287<br />

Huck, Gerhard (Hrsg.).' Sozialgeschichte der Freizeit (K. Maase) 288<br />

Armanskl, Gerhard: Die kostbarsten Tage des Jahres. Massentourismus<br />

(D. Kramer) 290<br />

Prahl, Hans- Werner, und Albrecht Stemicke.· Der Millionen-Urlaub<br />

(D. Kramer). 290<br />

Soziologie<br />

Hammerzch, Kurt, und Michael Klein (Hrsg.): Materialien zur Soziologie des<br />

Alltags (G. Beiersdorf und D. Schöttker) 291<br />

Sprondel, Walter M., und Richard Grathof((Hrsg.): Alfred Schütz und die Idee<br />

des Alltags in den Sozialwissenschaften (G. Bezersdorf und D. Schöttker) 291<br />

Fanon, Frantz: Schwarze Haut, weiße Masken (H. Melber) 293<br />

Kossodo, Blandena Lee: Die Frau in Afrika. Zwischen Tradition und Befreiung<br />

(H. Me/ber) 295<br />

Fiebach, Joachim: Literatur der Befreiung in Afrika (H. Melber) 296<br />

Turner, John F. c.: Verelendung durch Architektur. Plädoyer <strong>für</strong> eine politische<br />

Gegenarchitektur in der Dritten Welt O. Petschj 298<br />

Geschichte<br />

Zang, G. (Hrsg.): Provinzialisierung einer Region<br />

(Projekt Regionale Sozlftlgeschichte) 239<br />

Schröder W. (Hrsg,): Moderne Stadtgeschichte<br />

(Projekt Regionale Sozialgeschichte) 239<br />

Brandstätter, H.: Asperg. Ein deursches Gefängnis<br />

(Projekt Regionale SOZialgeschichte) 239<br />

Plper, E.: Der Aufstand der Ciompi (PrOjekt Regionale SOZialgeschichte) 239<br />

Haumann, Heiko (Hrsg.): Vom Hotzenwald bis Wyhl<br />

(PrOjekt Regionale SOZialgeschichte) 239<br />

Jeggle, Utz: Kiebingen - eine Heimatgeschichte<br />

(Pro;ekt Regionale Sozialgeschichte) 239<br />

Scharfe, M. (Hrsg.): Das andere Tübingen (Projekt Regionale SOZialgeschichte) 239<br />

Henkel, M., und R. Tauber: Maschinenstürmer<br />

(PrOjekt Regionale Sozialgerchichte) 239<br />

Poppinga, ünno, u.a.: Ostfriesland. Biographien aus dem Widerstand<br />

(PrOjekt Regionale SOZialgeschichte) 239<br />

Thompson, Edward P.: Plebeisehe Kultur und moralische Ökonomie<br />

(Projekt Regionale SOZialgeschichte) 239<br />

DAS ARGUMENT 126/1981 :s


Inhaltsverzeichnis XVII<br />

Soziale Bewegung und Politik<br />

Stantz, Dietnch (Hrsg .): Das Parteiensystem der Bundesrepublik<br />

(K. -E. Lohmann).. 299<br />

Schönbohm, Wulf: CDU. Portrait einer Partei (K. -E. Lohmann) 299<br />

Gutjahr-Löser, Peter: CSU. Portrait einer Partei (K. -E. Lohmann). . 299<br />

Schacht, Kurt: Die F.D.P. Zur Geschichte und Politik (R. Budde).. 300<br />

Bruder, Wo/jgang , und Thomas EI/wein (Hrsg .): Raumordnullg und staatliche<br />

Steuerungsfähigkeit (G. -U. Watzlawczik) 301<br />

Kühn, Hagen: Politisch-ökonomische Entwicklungsbedingungen des Gesundheitswesens<br />

(M. Regus) .. 303<br />

Koch, Egmont, R. , und Fntz Vahrenholt (Hrsg .): Im Ernstfall hilflos? Katastrophenschutz<br />

bei Atom- und Chemieunfällen (R. Czeskleba-Dupont).. 304<br />

Brünneck, Alexander von: Politische Justiz gegen Kümmunisten in der Bundesrepublik<br />

Deutschland 1949-1%8 (j. Hetlmann).. 306<br />

Fangmann , Helmut D.: Justiz gegen Demokratie (H. -A . Lennartz). . 307<br />

Klein, Harld' Koalitionsfreiheit im pluralistischen Sozialstaat (c. Seegert) .. 309<br />

Wassermann , Rudolf(Hrsg .): BGB. Kommentar zum Bürgerlichen Gesetzbuch.<br />

Band 3: Besonderes Schuldrecht (u. Relfner). . 310<br />

Ökonomie<br />

Nowikow, R.A .: Die Zusammenarbeit im Bereich des Schutzes und Verbesserung<br />

der Umwelt (G. Bachmann). . 253<br />

Leonhardt, Alfred, und Gerhard Speer: Umweltproduktion im staatsmonopolistischen<br />

Kapitalismus (G. Bachmann). . 253<br />

Maier, Harry: Gibt es Grenzen des ökonomischen Wachstum? (G. Bachmann). . 253<br />

Buhr, Man/red, und Günther Kröber (Hrsg.): Mensch - Wissenschaft - Technik<br />

(G. Bachmann). . 253<br />

Neef, E., und Vera Nee/ (Hrsg.): Sozialistische Landeskultur (G. Bachmann). . 254<br />

RIchter, H. (Hrsg.) Beiträge zur planmäßigen Gestaltung der Landschaft<br />

(G. Bachmann). . 254<br />

Mine, Aleksej Aleksandrovic: Die ökonomische Bewertung der Naturressourcen<br />

(G. Bachmann). .. 256<br />

Lojter, M.N. : Naturressourcen (G. Bachmann). . 256<br />

Köhler, Johann: Der Charakter der Kosten <strong>für</strong> den Umweltschutz<br />

(G. Bachmann). . 256<br />

Kutzschbauch, Kurt: Stoff- und energiewirtschaftliche Aspekte der Umwelrnutzung<br />

(G. Bachmann) .. 258<br />

Roos, Hans, und Günter Streibel: Umweltgestaltung und Ökonomie der Naturressourcen<br />

(G. Bachmann). . 258<br />

NICk, Harry: Zur materiell-technischen Basis in der DDR (G. Bachmann). . 258<br />

Paucke, Horst, und Adolf Bauer: Umweltprobleme - Herausforderung der<br />

Menschheit (G. Bachmann). . 258<br />

DAS ARGUMENT 126 / 1981 ©

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