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Auszug aus einem Roman - Tage der deutschsprachigen Literatur

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Wettbewerbsbeitrag für die <strong>Tage</strong> <strong>der</strong> <strong>deutschsprachigen</strong> <strong>Literatur</strong> 2011von Gunther Geltinger<strong>Auszug</strong> <strong>aus</strong> <strong>einem</strong> <strong>Roman</strong>Wenn <strong>der</strong> Schnee kommt, wird die Stille zur Bewegung. Der Himmel löst dieWolken auf, löscht den Horizont, nur die Krähen auf dem Feld stecken noch imWeiß, letzte Striche, bald verschluckt. Darüber bildet <strong>der</strong> Dunst eine zweiteSchicht, in Raureif gehüllt ragen die Birken hinein, flüchtige filigrane Gebilde<strong>aus</strong> Kälte und Licht. Dann legt sich <strong>der</strong> Wind. Hier dringt noch ein Rascheln <strong>aus</strong>dem Bruchwald, dort das Knacken eines toten Zweigs von jenseits des Grabens,hinter dem alles aufzuhören scheint, die Kin<strong>der</strong>spiele, die Sommerversprechen,<strong>der</strong> Herbst mit seinen hinfälligen Geräuschen, hüben wie drüben dasVerstummen aller Echos unter <strong>der</strong> dünnen Eisschicht, die sich über Nacht aufdem Wasser gebildet hat, ein leises Glucksen darin, aufsteigende Blasen, einwinziger Hohlraum unterm Eis, die Augen des Winters. Schließlich das Starren<strong>der</strong> Blasen in den blinden Himmel, das Klagen <strong>der</strong> Krähe, die mit <strong>einem</strong> StückAas im Schnabel <strong>aus</strong> den Binsen stößt, ihr Flügelschlag, die schwarze Spur inden Schneewolken, und dann nichts mehr, nur noch Stille, die langsam, ganzlangsam zu fallen beginnt.So erinnere ich es heute: das Moor nach den ersten Frostnächten, die Ruhe vordem Schneesturm, als sie Marga abholten, unter <strong>einem</strong> kreiselnden Licht, dasnoch lange in <strong>der</strong> Dunkelheit flackerte, blau und stumm. Es schien nicht nötiggewesen, das Martinshorn wie<strong>der</strong> einzuschalten, kein Wagen stellte sich auf<strong>der</strong> nächtlichen Landstraße in den Weg, niemand fuhr in Fenndorf nach zehnUhr abends noch irgendwohin. Sie haben sie weggeschafft, still, diskret, fastheimlich, als würden sich selbst noch die Sanitäter ihrer schämen. Einer vonihnen zog ihr die graue Wolldecke bis zum Hals. Ich erinnere mich genau an dieroten Schutzanzüge mit den silbernen Reflektorstreifen darauf, die in denLichtsalven aufblitzten, über den Augenblick hinweg, und durch alle darauffolgenden <strong>Tage</strong> und Nächte meine Träume befeuern sollten, in denen Margawie<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Scheune sitzt, malt o<strong>der</strong> wenigstens zu malen versucht, o<strong>der</strong> dochnur hockt, starrt und säuft, bis die letzte Flasche in die Ecke rollt, zusammen mit1


einer verlorenen Tablette, und die weiße Leinwand sich vor ihren Augen zukrümmen beginnt und in Flocken zerfällt, Schnee, <strong>der</strong> den Sturm entfesselt.Doch zerrt nicht <strong>der</strong> Wind, <strong>der</strong> in jener Nacht wie<strong>der</strong> aufgekommen war, heuteviel stärker an mir, als ich es damals empfand?Irgendwann war das Blaulicht in <strong>der</strong> Ferne verzuckt. Die herumstehendenDörfler kehrten in die Häuser zurück, ihre von den Kapuzen vermummtenGesichter wandten sich noch einmal nach mir um, so dass ich zu Boden blickte,auf meine nackten Füße unterm Schlafanzugsaum, die bereits die Farbe undein Gefühl wie von Eis angenommen hatten. Nur Doris Felber stand nochneben mir. Heute sehe ich die Tante kleiner und gebeugter als damals <strong>der</strong>Junge sie gesehen hat: Ich war ein verängstigtes Kind, dem sie riesenhaft undbedrohlich erschien, obwohl kaum vierzig, doch bereits <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Form gegangenwie ein altes Weib, in ihrem speckigen Morgenrock und den Filzpantoffeln, indenen sie <strong>aus</strong> dem H<strong>aus</strong> gestürzt war, als ich gegen die Tür getrommelt hatte.Sie kam noch näher, packte meinen Kopf und presste ihn in ihre nach Sauerteigriechende Achselhöhle, als sollte ich im harschigen Laub die Reifenspuren nichtsehen, die abtransportierte Trage, Margas von Erbrochenem verklebten Mundmit dem Beatmungsschlauch darin, ein Bild wie <strong>der</strong> Splitter eineszerschlagenen Glücks, <strong>der</strong> sich bereits tief in meinen Körper gebohrt hatte unddort alles abzutöten begann, denn spätestens diese Nacht war <strong>der</strong> Beginn einerlangen, vielleicht lebenslänglichen Kälte, wenn Kälte überhaupt eineBeschreibung für den Zustand ist, in dem ich seither erstarrt bin.Der Frost jedenfalls war früh hereingebrochen, nach den Stürmen, die meist umden Reformationstag herum das letzte Laub von den Bäumen fegten, Blätter, soporös, dass sie am Boden zerbrachen, und ich hörte das Geräusch, zog denKopf <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Umarmung <strong>der</strong> Tante und sah ihr vor Schreck o<strong>der</strong> heimlicherGenugtuung verzerrtes Gesicht vor dem bläulichen Schein am Horizont, <strong>der</strong>nicht verlöschen wollte und vielleicht schon das erste Morgenlicht war,verfangen im Gezweig <strong>der</strong> Weide, die eben noch im Wind gewippt und letzteBlätter abgeschüttelt hatte, nun aber die Äste nackt in die Höhe streckte, alszerrte <strong>der</strong> Baum die Stille herab, um sich zu bekleiden; und tatsächlich: Esbegann zu schneien.2


All das sind heute unscharfe Konturen, zögerliche Striche auf <strong>der</strong> Skizze zu<strong>einem</strong> Bild, das ich nun zu Ende bringen muss, von dem ich aber nicht weiß,wohin es führen und warum gerade ich es fertigstellen soll. Marga könnte esgemalt haben, in <strong>der</strong> ihr eigenen Technik, die nie eine konkrete Form und selteneindeutige Farben zuließ. Sobald sich etwas auf <strong>der</strong> Leinwand abzeichneteo<strong>der</strong> eines ihrer selbst angerührten Pigmente sich mit <strong>einem</strong> an<strong>der</strong>en zu einerFarbe vermischte, die ein Kind dieser Gegend wie<strong>der</strong>erkennen könnte – einDotterblumengelb o<strong>der</strong> das Purpur <strong>der</strong> Heidelibelle - wischte sie mit demSchwamm darüber o<strong>der</strong> trug schnell eine neue Schicht auf, die das soebenErkannte wie<strong>der</strong> tilgte.Ich erinnere mich, wie ich manchmal ungeduldig und sogar wütend wurde,wenn ich ihr beim Malen zuschaute, während ich so tat, als spielte ich imGerümpel: Sie war wie eine Zauberin, die mir Spielzeug hinhielt, das sie, sobaldich danach griff, mit <strong>einem</strong> Zwinkern in ihrem Ärmel verschwinden ließ. So wiemit ihren Bil<strong>der</strong>n ist sie auch mit mir umgegangen, mit all meinenÜberzeugungen: Noch an <strong>einem</strong> <strong>der</strong> Abende zuvor hatte sie trotz Kälte imNegligé und rauchend auf <strong>der</strong> Veranda gestanden, ich vor ihr mitWollgrasbüscheln in Haar und Mund, denn die Alter-Mann-Pantomime, alsomein Herumhinken mit Schirmstock und weißen Bartflocken auf <strong>der</strong> Lippe, hattesie bisher noch immer wie<strong>der</strong> zum Lächeln gebracht. Wenn du nicht wärst,sagte sie, würde ich Schluss machen mit allem, und ich hatte ärgerlich dieSchultern gezuckt; alles war gen<strong>aus</strong>o wenig eine Farbe wie schwarz o<strong>der</strong> weiß,alles war nichts, leer wie ihre Bil<strong>der</strong> oft blieben o<strong>der</strong> zugeschlammt vonGemischen, in denen sie am Ende versackten.Vielleicht hatte sie ja genau das gemeint: ihren Kampf mit dem Malen, das fürsie tatsächlich alles zu bedeuten schien, o<strong>der</strong> ihre Arbeit in <strong>der</strong> HamburgerGalerie, wo sie nicht mehr hinging, weil sie, wie sie behauptete, krank gemeldetwar, obwohl sie mir gar nicht krank erschien, nicht wie von einer Grippe. Wasdiese Krankheit in Wirklichkeit war, sollte ich erst viel später begreifen, auchdass man sich wegen so etwas gar nicht krank melden konnte, damalsjedenfalls noch nicht. Damals dachte ich noch, sie hätte vielleicht endlich dasRauchen drangeben wollen, denn sie starrte in diesem Moment angewi<strong>der</strong>t auf3


die Zigarette und drückte sie <strong>aus</strong>, doch solche Sprüche kannte ich schon: abmorgen ist Schluss damit, und dann zack die nächste Fluppe. Vielleicht ödetesie auch die H<strong>aus</strong>arbeit an, die ewigen Zahnpastaspuren im Waschbecken unddas Kochen für mich, dabei hatte es in den letzten Wochen keinKartoffelgulasch mehr, nicht einmal Pellkartoffeln, nur Butterbrote gegeben, mitviel Zimt. Darauf hatte sie noch immer Lust. Alles Mögliche zog ich in Erwägung,nur das nicht: Blaulicht, Sanitäter, die Kotze in m<strong>einem</strong> Bett, die nochwochenlang <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Matratze stank und meine Nächte in Wüsten verwandelte,sauer, voll abgestorbenem Leben, wie das Moor.An jenem Abend hatte sie mir doch noch die Grasbüschel von <strong>der</strong> Oberlippegeblasen, gelangweilt; ihr Atem hatte schlecht gerochen, auch das dauerndeZähneputzen war sie wohl leid. Sie spitzte den Mund, stieß schwere Luft <strong>aus</strong>,o<strong>der</strong> war es schon ihr letzter Seufzer gewesen, ein Todesröcheln, an dem ichhätte merken müssen, wie lästig ihr alles geworden war: das Malen, dieMaloche in Hamburg, und dass beides nichts abwarf, die scheeläugigenDorfweiber mit ihrem Geschwätz, das baufällige H<strong>aus</strong>, ein ewig unfertiges Kinddarin, dieser Rockzipfelzerrer und Sprechkrüppel, den sie nun am Arm packteund dabei sagte: Aber du bist eben da, ein Satz, <strong>der</strong> gleichermaßen Trost wieAnklage war, und weil ich wie<strong>der</strong> nicht genau wusste, wie sie das meinte, habeich eben den Alten Mann weitergespielt, also den Opa ohne Gebiss mimend dieLippen eingesaugt und: Mit achtzig biste mich los, genuschelt, wobei ich garnicht gestottert und für einen Moment sogar gedacht habe, dass das ganzeDilemma mit dem Sprechen auch an meinen Zähnen liegen könnte, die damalsziemlich wüst in <strong>der</strong> Mundhöhle standen.Sie hat dann doch gelächelt, am nächsten Tag einen neuen Rahmen mitLeinwand bespannt, ein Kartoffelgulasch gekocht, sogar mit Würstchen, ist wieimmer rauchend hin und her über den Hof, doch dann, zwei <strong>Tage</strong> später, miteiner Schachtel Vesparax und was weiß ich noch allem intus zu mir ins Bett. IhrTorkeln, die seltsame Blässe, ihr Ausdruck im Halblicht wie irr, <strong>der</strong> Klammergriffmit den nach Kippen und Terpentin stinkenden Fingern, das hingespeichelte,fast schon <strong>aus</strong>gewürgte Ich lieb dich doch so!, bevor sie wegkippte, was ichschon nicht mehr mitbekam, weil ich im nächsten Moment eingeschlafen sein4


musste. Irgendwann dann ein Stoß unter <strong>der</strong> Bettdecke, ihr Körper, <strong>der</strong> sichverkrampfte, ein Stöhnen, das ich im Traum zu hören glaubte, mehr einBlubbern, als tauchte sie ein letztes Mal durch den Teich, wo sie früher so gerngeschwommen war. Plötzlich <strong>der</strong> Kotzeschwall auf dem Kopfkissen, meinePanik, Hände überall, ihre Arme jetzt labberig, wie ohne Knochen, die Augengeschlossen, auch beim Rütteln und Schütteln, selbst nach <strong>der</strong> Ohrfeige, diedurchs Zimmer knallte, blieb <strong>der</strong> Augapfel im Lidbett ganz weiß; es war daserste Mal, dass ich meine Mutter schlug, und dann gleich ins Gesicht.Sekunden, in denen ich nicht wusste, was tun. Eine unbeschreibliche Angst, diewie Feuer <strong>aus</strong> dem Bauch durch die Kehle stieg und an den Schläfen zu Eiswurde, ein Zitterkrampf o<strong>der</strong> Schüttelfrost, bis ich nichts mehr an<strong>der</strong>es wollteals schlafen. Dann doch runter zum Telefon. Das Freizeichen in <strong>der</strong> Stille einschwarzes Loch, das alles verschlang, also den Hörer wie<strong>der</strong> eingehängt, hätteeh kein Wort r<strong>aus</strong>gebracht. Stattdessen rüber zum Felberhof, barfuß, Steine,die sich in die Fußsohlen bohrten, die Stiche fast außerhalb des Körpers, schondamals eine Art Phantomschmerz. Stolpern, noch mehr Steine, die irgendwietröstliche Vorstellung von einer Blutspur auf dem Heidedamm, aber auch das istvielleicht erst später, mit den Jahren, hinzugekommen. Die Dunkelheit zwischenden Treckern war fast flüssig, ein Klumpen darin, <strong>der</strong> Kettenhund, <strong>der</strong> nichtkläffte, nur müde mit den Eisen rasselte, weil er schon damals taub gewesenwar o<strong>der</strong> mich erkannte. Eine Ewigkeit, bis jemand öffnete. Es war Andreas, <strong>der</strong>Älteste <strong>der</strong> Felber-Söhne, mit vom Kopfkissen zerdrücktem Haar. Gestotter,Stampfen, Stille. Er schaute mich genervt an, dreht sich um und rief: Mud<strong>der</strong>!Auch bei Doris brachte ich kein Wort her<strong>aus</strong>, doch in meinen Augen musste sieetwas gesehen haben; trotz ihres Gewichts und <strong>der</strong> Schlaftrunkenheit war sieauf einmal sehr flink. Sie warf den Morgenmantel über, kramte in einerSchublade, nach <strong>einem</strong> Schlüssel, einer Taschenlampe vielleicht, aber wozudie Taschenlampe, zwar war <strong>der</strong> Heidedamm finster, aber doch ihr eigener sooft begangener Grund. Plötzlich fuhr sie herum, schüttelte mich und rief: Junge!,nur dieses Wort, das haltlos durch die Diele schallte; auf <strong>der</strong> Treppe erschienOnkel Karl.5


Die Nacht jetzt kälter als noch Minuten zuvor. Wie<strong>der</strong> rüber zum H<strong>aus</strong>, dasFlappen von Doris’ Pantoffeln, ein leises Fluchen, vielleicht ein Kiesel im Schuh.Sie blieb stehen, bückte sich, holte wie<strong>der</strong> auf, jetzt doch die Taschenlampe in<strong>der</strong> Hand. Der Lichtstrahl kroch über den Schotter, funzelig, verdrossen, alswollte er den Weg nicht weisen. Als etwas im Gebüsch raschelte, zuckte er weg,über den Graben, verlor sich im Moor. Ich begann zu schlottern. In <strong>der</strong> Dielebaumelte <strong>der</strong> Telefonhörer an <strong>der</strong> Schnur, ich war mir sicher, ihn aufgelegt zuhaben, hoffte, sie wäre wie<strong>der</strong> zu sich gekommen, hätte selbst den Notrufgewählt. Doch sie lag noch immer bäuchlings in m<strong>einem</strong> Bett, das Gesicht aufdem Kissen mir zugewandt, schlafend, schön wie eh und je. Davor, wie eineGlaswand zwischen ihr und dem Jungen, <strong>der</strong> Geruch von Kotze, Kin<strong>der</strong>schlaf,Tod. Doris prallte zurück und rief: Herrgott, Marga!, verärgert, als hätte sie alldas bereits kommen sehen. Sie stürzte hin, hievte sie hoch, <strong>der</strong> Kopf klapptevor, Doris hielt das Kinn, strich ihr das Haar <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Stirn. Ihre Hände aufMargas Herz, am Handgelenk, Sekunden atemloser Stille, dann rief sie: Puls!Ich weiß nicht mehr, wo ich in diesem Moment stand - noch auf dem Flur, imTürrahmen o<strong>der</strong> schon am Bett? Eine Weile kommt <strong>der</strong> Junge auf diesenBil<strong>der</strong>n überhaupt nicht vor, als wäre er in ein Zeitloch gerutscht, durch seineaufgefächerten Blicke hindurch in den eigenen Kopf: dort das H<strong>aus</strong>, vom Moor<strong>aus</strong> gesehen jetzt hell erleuchtet, zackig <strong>der</strong> Giebel, rußige Klinker,Lichtsprengsel darüber, fast wie ein Feuer in <strong>der</strong> mondlosen Nacht,nie<strong>der</strong>gewalzt von schneeschweren Wolken. An den Rän<strong>der</strong>n des Bildes, wo es<strong>aus</strong>franst und in das nächste übergeht, beginnt es zu grießeln. Doris’ Stimmedringt <strong>aus</strong> <strong>der</strong> offenen H<strong>aus</strong>tür, sie ruft, als Schattenriss in <strong>der</strong> Diele stehend,mehrmals die Adresse in den Telefonhörer; drei, vier Mal wie<strong>der</strong>holt sie dieWegbeschreibung zu <strong>einem</strong> H<strong>aus</strong> in Fenndorf, das sie schließlich als das letzteGebäude hinter den Ställen bezeichnet; offiziell gab es nämlich am Heidedammnur die Nummer zwei, den Schweinehof, und dahinter nichts mehr als das Moor.Als sie nach oben kam, schien sie ruhiger. Sie blieb im Türrahmenstehen, reglos, fast ehrfürchtig, so, wie man für einen Moment von <strong>einem</strong> Gipfelo<strong>der</strong> Turm <strong>aus</strong> in eine unverhoffte Aussicht versinkt. Nur ihr Busen schwoll undschwoll; sie schien nur noch ein-, doch nicht mehr <strong>aus</strong>zuatmen. Plötzlich ist6


auch <strong>der</strong> Junge wie<strong>der</strong> im Bild, er steht vor <strong>der</strong> Tür zu Margas Schlafzimmer,die er zugezogen hat, weil auf dem Bett die aufgerissene Vesparax-Schachtelliegt. Doris schiebt ihn zur Seite, stößt die Tür auf, sagt: Herrje! Zwischen ihrenFingern knistert ein Blister, <strong>der</strong> Beipackzettel, lies vor, ich habe die Brille nich’hier, sagt sie und drückt ihm das Papier in die Hand. Ich starrte auf die winzigeSchrift, die vor meinen Augen tanzte, riss den Mund auf, <strong>der</strong> Geruch dar<strong>aus</strong>süßlich wie morgens um sieben, wenn Marga mich weckte und mir denStirnkuss gab mit dem Hauch letzter Träume.In meiner Kehle aber jetzt kein Wortstau, nicht einmal ein Stammeln, nur dieZunge stocherte in <strong>der</strong> Zahnlücke, als ich unter Anwendungsgebiete die Gründelas, warum Marga mit allem hatte Schluss machen wollen, und fast erleichtertwar, dass dort nicht mein Name o<strong>der</strong> etwas wie eine akuteKartoffelgulaschallergie stand, doch auch das eher eine Idee von heute als <strong>der</strong>tatsächliche Gedanke des Kindes, <strong>der</strong> hilflose Versuch eines Schlaglichts in<strong>einem</strong> Tunnel <strong>aus</strong> Stummheit und Angst. Nun sag schon! rief Doris und riss mirden Zettel <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Hand. Sie starrte ihn an, presste mich dann in ihr Fett undseufzte: Mein armer Junge, ein Satz, den nur Marga hätte sagen dürfen. Kaumwar die weg, hatte die Tante ihr den schon abgeluchst.Sie eilte ins Zimmer zurück und zerrte Marga auf die Seite. Das Kissen t<strong>aus</strong>chtesie <strong>aus</strong>, deckte sie zu und ging ins Bad. Ich hörte das Wasser r<strong>aus</strong>chen und imR<strong>aus</strong>chen noch einmal das Herrje!, dachte an die Zahnpastaspuren und dassDoris bei sich zu H<strong>aus</strong>e so etwas nie geduldet hätte. Sie kam mit demPutzeimer zurück und begann zu feudeln. Wie<strong>der</strong> ist <strong>der</strong> Junge eine Zeit langnicht im Bild. In meiner Erinnerung sehe ich an <strong>der</strong> Wand nur die von Marga mitdem Kopf einer Heidelibelle bemalte Holzuhr, die halb acht anzeigte, siebenUhr achtundzwanzig, um genau zu sein, seit irgend<strong>einem</strong> Tag im Herbst, andem die Zeiger auf den blasenartigen Facettenaugen stehen geblieben seinmussten. Marga wollte Batterien <strong>aus</strong> <strong>der</strong> Stadt mitbringen, war aber seitdemnicht mehr hingefahren. Seit in m<strong>einem</strong> Zimmer die Zeit stillstand, war allesan<strong>der</strong>s geworden: die <strong>Tage</strong> kürzer, die Sonne rar, endlose Nächte, weil wirmorgens nicht mehr zum Teich gingen und den Vormittag verpennten. Sieschlief nicht mehr in m<strong>einem</strong> Bett, son<strong>der</strong>n drüben in ihrem Zimmer, hinter7


verschlossener Tür, wo es zu müffeln begann. Ich stürzte mit demP<strong>aus</strong>enklingeln ins Klassenzimmer. Strafarbeiten, meine erste Fünf imH<strong>aus</strong>aufsatz, weil kein Mitschüler mir das Blatt mit <strong>der</strong> Aufgabe gegeben hatte,Thema verfehlt. Grumbach, <strong>der</strong> Deutschlehrer, schrieb wegen <strong>der</strong> Trödeleieinen Tadel nach dem an<strong>der</strong>en, die Marga nicht abzeichnete, auch dieKlassenarbeiten nicht, einmal ranzte sie nur: Ich hatte keine Mutter für jedenScheiß. Dann die Vorladung des Direktors, <strong>der</strong> sie nicht folgte. In einerSchublade fand ich einen alten Wecker zum Aufziehen, sein Morgenruf war kaltund schrill. Ich sehnte mich nach Margas Lippen auf meiner Stirn, ihremFlüstern, dem Haar, das mir über die Wangen fiel und mich hochkitzelte in denTag. Doch wenn ich aufschreckte, glotzte nur die Libelle mit blutrotem Kopf.Weil auch das Moor sich von seiner abweisendsten Seite zeigte, bin ich damals,in diesem späten Oktober, viel in <strong>der</strong> Ritze gewesen, dem geheimen Ortzwischen Bett und Wand. Vorm Einschlafen quetschte ich meinen Schwanzhinein und rieselte mich mit zusammengebissenen Zähnen <strong>aus</strong>. Doch auch dieRitze war jetzt an<strong>der</strong>s geworden, weiter, langweiliger, kein enger Schlund mehrin unbegreifliche Tiefen, nur ein Spalt, <strong>der</strong> sich langsam zum Fußende hinöffnete, ein Grab für Staub, Spinnen, vertrocknete Popel, Kindheitsrätsel. Oftverschwand das Geriesel nicht mehr, staute sich an den Buckeln <strong>der</strong>Raufasertapete und zerfloss auf <strong>der</strong> Bettkante, noch bevor ich mich ganz<strong>aus</strong>geschüttelt hatte. Ob das Moor schon von unten dagegenhielt?Draußen stieg mit dem anhaltenden Regen das Wasser, drückte <strong>aus</strong> denGräben auf die Fel<strong>der</strong>, gluckste bei jedem Schritt unter den Schuhen, lauerteüberall. Der Teich war angeschwollen, eine metallisch schimmernde Beulezwischen den Bulten, das Wollgras platt, die Erlen abgesoffen bis zum erstenRindengesicht. Bald wurde <strong>der</strong> davonschwimmende Heidedamm mit Bretternans Dorf geklammert, provisorischen Stegen <strong>aus</strong> Bauholz, die Karl Felber<strong>aus</strong>legte, damit <strong>der</strong> Trecker nicht zu tief in den Schlamm sackt. Der Schulwegwand sich als Pfützenband ins Dorf, war plötzlich ein trüber See, <strong>der</strong> sichlangsam ans H<strong>aus</strong> heranfraß. Irgendwann stand die Brühe im Keller, dann warsogar das Klo verstopft, meine Kacke ging nicht mehr runter, dieaufgequollenen Bröckchen schwammen in <strong>der</strong> Schüssel. Ich schämte mich8


dafür und erledigte fortan das große Geschäft in <strong>der</strong> Schule und den Rest hinter<strong>der</strong> Scheune, wo <strong>der</strong> Regen spülte und spülte. Wann Marga schiss, weiß ichnicht, vielleicht gar nicht mehr bei den paar Happen, die sie noch aß. Siequalmte jetzt auch beim Essen, in einer Hand den Löffel, in <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en dieFluppe, aber das hatte sie auch früher schon getan, wenn sie vomstundenlangen Starren und Stricheln wie weggeschossen war o<strong>der</strong> es eilighatte, in die Scheune, nach Hamburg, wie<strong>der</strong> in ihre Welt zu kommen.Manchmal verwechselte sie Besteck und Zigarette; es sah komisch <strong>aus</strong>, wie siedie Lippen spitzte, dann aber statt des Filters den Löffel an den Mund führteo<strong>der</strong> sich die Kippe zwischen die Zähne schob; ich grinste sie an, bohrte denMessergriff ins Nasenloch und sagte: h-hlecker. Deine Mutter wird debil, lalltesie und machte auf Idiot. Wir lachten und futterten weiter.Eigentlich ist alles wie immer gewesen, doch gerade dieses Immer schien sichnun auf eine mir unbegreifliche Art verän<strong>der</strong>t zu haben. In je<strong>der</strong> von Margasaltbekannten Gesten, in all ihren so oft gehörten Witzen, über die ich lachte,weil ich schon immer darüber gelacht hatte, lauerte bereits das letzte Mal. Dochdas wusste ich damals noch nicht und kann es heute nur behaupten. Längstsind die Gefühle des Jungen im Moor versunken, das Ende meiner Kindheit einSchlamassel <strong>aus</strong> zerlaufenen Ölfarben und Schnee. Doch was tun mit alldiesen Bil<strong>der</strong>n, meiner Erinnerungssucht? Wohin mit <strong>der</strong> Mutter, ihremKotzmund, dem eisigen Kuss, den sie mir im Traum auf die Li<strong>der</strong> drückt?Vielleicht habe ich sie ja im Nachhinein selbst <strong>aus</strong> m<strong>einem</strong> Leben weggeschafft,wegschaffen müssen, um irgendwie weiterzumachen. O<strong>der</strong> war es doch KarlFelber gewesen, <strong>der</strong> sie abholen und in die Anstalt bringen ließ? Sie vielleichtsogar vergiftet hat, um den ollen Schuppen, die verrückte Schwägerin darin,den verseuchten Abhub <strong>der</strong> gemeinsamen Vergangenheit endlich <strong>aus</strong> demWeg zu schaffen? Heute reihen sich auf dem Heidedamm die röhrenförmigenMasthallen <strong>aus</strong> Holland, von denen er damals dauernd sprach.Tatsächlich stand er plötzlich auf dem Flur. Er trug eine Schirmmütze, einenPullover mit Norwegermuster, darüber den Overall, als wollte er in den Stall.Nur die dreckigen Schlappen an seinen Füßen störten das Bild des bösenNachbarn, <strong>der</strong> dem Nebenbuhler heimlich Rattengift in den Brunnen kippt. Auch9


er schien von den Ereignissen <strong>aus</strong> dem Schlaf gerissen. Er stellte sich Doris inden Weg, die den Putzeimer zum Bad zurückschleppte. Was hat sie? Erdeutete ins Zimmer. Das Zeug hat sie geschluckt, sagte Doris und schmiss ihmdie Tablettenschachtel hin. Der Onkel warf einen Blick darauf und zeigte zu mir:Ich hab s<strong>einem</strong> Vater damals gleich gesagt, dass die nichts taugt. Doris bautesich vor ihm auf, ein Schwall Wasser spritzte <strong>aus</strong> dem Eimer auf den Boden.Beide nun bildfüllend, fast überlebensgroß, die fahlen, von Müdigkeit undFragen entstellten Gesichter, talgige, auf Karls Wangen pockennarbige Haut,die Haare wirr, an Doris’ Schläfen bereits ergraut. Dass sie zur Hölle fahren soll,hast du gesagt, zischt sie, und dein Bru<strong>der</strong> gleich mit!, und sie macht einefahrige Bewegung zum Bildrand, halb nach vorn, halb in die Höhe, in einenimaginären Himmel. Dann ist sie plötzlich weg und Karl allein. Der lehnt sichgegen den Türrahmen und sinkt ein Stück in die Knie. Im Bad jetzt das Gurgeln<strong>der</strong> Klospülung, einmal, dann, nach ein paar Sekunden, ein zweites Mal; dieKotze <strong>der</strong> Mutter, die verseuchte Verwandtschaft das Rohr runter und r<strong>aus</strong> insMoor. Aber das Klo, denkt <strong>der</strong> Junge in <strong>der</strong> Ecke, ist doch verstopft, und ersieht in Gedanken das Erbrochene über die Schüssel schwappen und dasschwarze Wasser <strong>der</strong> Gräben hinein in das H<strong>aus</strong>.Seltsamerweise ist mir von all den Bil<strong>der</strong>n, die ich hier heraufbeschwöre, amdeutlichsten diese Kotze in Erinnerung geblieben. Sie passt am wenigsten indas Bild meiner Mutter, an das ich mich noch immer klammere. Selbst auf <strong>der</strong>Bahre lag sie noch in <strong>einem</strong> dieser Seidenfetzen, die nie etwas verbargen.Bestimmt hätte sie die Wolldecke als Beleidigung empfunden. BeimToilettengang hat sie stets Streichhölzer abgeflammt, sich jeden Tag gebadetund gepu<strong>der</strong>t, ist immer um jeden Kuhfladen naserümpfend herum, und danndas. Welches Kind hat schon seine Mutter je kotzen gesehen? Mütterübergeben sich, wenn überhaupt, heimlich. Keine Mutter will sich in denErinnerungen ihres Kindes in ihrem Mageninhalt schwimmen sehen, und Doris,als vorbildliche H<strong>aus</strong>frau, hat es ja dann auch ganz schnell weggeputzt.Als sie mit <strong>einem</strong> Handtuch wie<strong>der</strong>kam, ging sie wortlos an Karl vorbei. Mall imKopf ist sie gewesen, rief <strong>der</strong> ihr hinterher, von Anfang an! Doris wischte denBettpfosten ab, dann Margas Mund, schlug das Handtuch auf, es peitschte10


durch die Luft: Halt endlich die Schnauze, du alter Arsch! Karl schnellte vor,wirbelte sie herum, du! rief er, du nennst mich so nich’! Doris hob den Lappengegen ihn wie eine Waffe. Nee? höhnte sie, aber ihr’n Arsch – und sie deutetezum Bett – den find’ste doch nich’ übel! Sie riss sich los, taumelte kurz, und ab.Auftritt des Jungen. Er stolpert <strong>aus</strong> irgend<strong>einem</strong> Winkel zum Bett, direkt in KarlsHände. Mama! ruft er und windet sich in den Armen des Onkels. Der kräftigeLeib schwankt unter den Schlägen, die <strong>der</strong> Bauch abfe<strong>der</strong>t, Fußtritten, die insLeere gehen, <strong>einem</strong> Schrei, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> großen Hand erstickt. Am Ende dieOhrfeige, <strong>der</strong> ein kurzes Schwarzbild folgt, als hätte jemand versucht, hier <strong>aus</strong>dem Film etwas her<strong>aus</strong>zuschneiden o<strong>der</strong> einzufügen. Ihn schlägst du nich’auch noch! rief Doris, zog mich von Karl weg und drückte mich an ihren Kittel.Der Sauerteiggeruch, das schwarze, flimmernde Bild, Karls Schnauben darinfür mehrere Sekunden, eine Viertelminute vielleicht, in <strong>der</strong> ich daran dachte,dass ich am an<strong>der</strong>en Tag die strenge Galeristin würde anrufen müssen, um ihrzu sagen, dass Marga länger krank sei, wie<strong>der</strong>, immer noch krank, eineVorstellung, die mir die Kehle zuschnürte; ob es <strong>der</strong> Gedanke war, telefonierenzu müssen, <strong>der</strong> mich so würgte, denn am Telefon stotterte ich schlimm, o<strong>der</strong>die Tatsache, dass ich entwe<strong>der</strong> lügen o<strong>der</strong> die Wahrheit sagen musste?Dazwischen schien es nun nichts mehr zu geben, keine Möglichkeit, etwasungeschehen zu machen; nur noch das Schwarzbild im Busen <strong>der</strong> Tante, diemich nun in ihr H<strong>aus</strong> holen würde, wo ich Sülzfleisch kauen und dem Martin,Thorsten und Andreas ein neuer Bru<strong>der</strong> sein müsste, <strong>der</strong> beim Cowboyspielvon hinten erschossen wird, und je länger Doris meinen Kopf streichelte, destounerträglicher wurde mein Verlangen nach Margas Rührkuchen, <strong>der</strong> Zimtkruste,nach Zimt überhaupt, ich hätte Zimt fressen wollen bis ans Ende meiner <strong>Tage</strong>,wie Marga den Quark, das Butterbrot, den Zeigefinger damit bestäuben, ja,selbst die Pellkartoffeln hätte ich in Zimt gewälzt und, wenn uns irgendwannauch noch das Geld für die Kartoffeln <strong>aus</strong>gegangen wäre, das Zimtfässchenselbst noch genüsslich zwischen den Zähnen zerknackt, alles getan, damit siewie<strong>der</strong> die Augen aufschlägt, mir zuzwinkert und sagt: Guten Morgen, Liebling,gehen wir zum Teich?11


Doch stattdessen, als Doris den Jungen endlich entlässt, das Tatütata in <strong>der</strong>Ferne, o<strong>der</strong> auch keine Sirene, gar kein Geräusch, nur draußen vorm Fenster<strong>der</strong> Schneesturm und die roten Männer, die plötzlich im Zimmer stehen.Vielleicht waren sie schon auf dem Hinweg ohne Martinshorn, nur mit Blaulichtgekommen, <strong>aus</strong> Rücksicht auf die Träume <strong>der</strong> schlafenden Kin<strong>der</strong>.© Gunther Geltinger 201112

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