13.07.2015 Aufrufe

Die Hausordnung der Tora - Prof. Dr. Franz Segbers

Die Hausordnung der Tora - Prof. Dr. Franz Segbers

Die Hausordnung der Tora - Prof. Dr. Franz Segbers

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

<strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong><strong>Die</strong> <strong>Hausordnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>Theologie in Geschichte und Gesellschaft 71


<strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong><strong>Die</strong> <strong>Hausordnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>.Biblische Impulse für einetheologische WirtschaftsethikEDITION EXODUSLUZERN 19992


<strong>Die</strong> Veröffentlichung dieses Buches wurde geför<strong>der</strong>t von <strong>der</strong> Hans-Böckler-Stiftung.3


INHALTSVERZEICHNISGELEITWORT VON BISCHOF PROF. DR. WOLFGANG HUBERVORWORT 11PROBLEMANZEIGE 14Beispiel 1: <strong>Die</strong> Diskussion um den SonntagBeispiel 2: Gottes Sozialprogramm. Ein Brief aus AfrikaINTERESSE, ARBEITSWEISE UND METHODE 20ERSTER TEILZUM VERHÄLTNIS VON ETHIK UND ÖKONOMIE1. VOM GARSTIGEN GRABENZWISCHEN GALILÄA UND DEM GLOBALEN MARKT 301.1 Wirtschaftsethik als Krisenindikator 301.2 <strong>Die</strong> Bibel zu Rate ziehen?331.2.1 Das Autoritätsargument <strong>der</strong> Bibel351.2.2 <strong>Die</strong> historische Distanz zur Bibel 361.2.3 Motivationskraft biblischer Traditionen 381.2.4 Hebräische Bibel und christliche Ethik 401.2.5 Kontext <strong>der</strong> Bibel und Kontext <strong>der</strong> Gegenwart 472. ETHISCHE ZUGÄNGE ZUR WIRTSCHAFT 552.1 Ethik des Marktes 552.2 Ethik und Ökonomie: Zwei-Welten-Konzept 592.3 Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen 644


ZWEITER TEILWIRTSCHAFTSETHIK DER BIBEL:WIRTSCHAFTEN AUS DER LOGIK DER HUMANITÄT3. WIRTSCHAFTSETHIK AUS DER OPTION FÜR DIE ARMEN703.1 Diskursethische Begründung von Wirtschaftsethik 703.2 Der spezifische Beitrag bibeltheologischer Aspekteim wirtschaftsethischen Diskurs 733.2.1 Hermeneutischer Ausgangspunkt: Der Arme 753.2.2 Der kategorische Imperativ: Das Recht <strong>der</strong> Armen763.2.3 Das absolute und das konkrete Kriterium <strong>der</strong> Ethik773.2.4 Der kategorische Imperativ wirtschaftsethisch übersetzt813.2.5 Orientierungspunkt: Gerechtigkeit833.3 Kritischer Maßstab und Impuls für Gerechtigkeit:Option für die Armen 873.3.1 Gerechtigkeit - Herstellung und Wahrunglebensfreundlicher Verhältnisse für die Bedrängten873.3.1.1 Unausgewogene Gerechtigkeit: Option für die Armen893.3.1.2 Gerechtigkeit als Rechtsanspruch <strong>der</strong> Benachteiligten913.3.1.3 Gerechtigkeit und Machtkritik 923.4 Gerechtigkeit und Option für die Armen als Problemgegenwärtiger ökonomischer und sozialer Verhältnisse944. TORA ALS GRUNDLAGE THEOLOGISCHER ETHIK994.1 Ethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> 994.1.1 Biblisch fundierte Ethik 994.1.2 <strong>Tora</strong> als Weisung zur Gerechtigkeit 1054.1.3 Erinnerung an den Exodus und Gegenwartsweisung 1074.1.4 Exodusdenken und Exoduspolitik 1084.2 <strong>Tora</strong>-Ökonomie 1125


4.2.1 Unterscheidung <strong>der</strong> Ökonomien:Haushaltsökonomie o<strong>der</strong> Kapitalerwerbswesen1144.2.2 <strong>Die</strong> Politische Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>: Das Haus Israel 1174.2.2.1 Ökonomische Grundeinheit: Das Haus 1184.2.2.2 <strong>Hausordnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> 1214.2.2.3 Ökonomie <strong>der</strong> Fülle 1234.2.3 <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>-Ökonomie: Eine ökonomische Alternative 1274.2.4 Leitlinien einer Haushaltsökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> 1405. OPTION FÜR DIE ARMEN:BEZUGSPUNKT EINER BIBLISCH BEGRÜNDETENWIRTSCHAFTSETHIK 1455.1 Arbeiten - biblische Einsichten 1455.1.1 Arbeit und Zwangsarbeit - eine notwendige Differenzierung1465.1.2 Gottes Arbeit und des Menschen Arbeit 1515.1.3 Arbeit und Ruhe - ein ganzheitliches Verständnis1555.2 Menschenrecht auf Arbeit 1585.3 Wirtschaftsethische Übertragung: Priorität <strong>der</strong> Arbeit 1596. ANSÄTZE ZU EINER BIBELTHEOLOGISCHEN BEGRÜNDUNGVON WIRTSCHAFTSETHIK 1666.1 Wirtschaftsethik in <strong>der</strong> Bibel 1666.1.1 Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> 1676.1.2 Sabbatordnung als Zentrum <strong>der</strong> Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>1776.1.2.1 Der Sabbat 1776.1.2.2 Sabbatjahr und Schuldenerlaß 1856.1.2.2.1 Sabbatjahr (Ex 23.10f.): Brachjahr 1856.1.2.2.2 Sabbatjahr (Dtn 15,1-11): Schuldenerlaß1876.1.2.2.3 Zinsverbot als Strategie gegenVerarmung und Verelendung 192(1) Zinsverbot (Ex 22,24)(2) Zinsverbot (Dtn 23 20f.)(3) Zinsverbot (Lev 25,35f.)6.1.2.3 Jobeljahr (Lev 25,8-55):Schuldenerlaß und Umverteilung 1976


6.2 <strong>Die</strong> Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und ihre Wirkungsgeschichte2037. BIBEL IN DER WIRTSCHAFTSETHIK:ZUR REZEPTION BIBLISCHER TRADITIONEN INKIRCHLICHLICHEN ERKLÄRUNGEN 2087.1 Erklärung <strong>der</strong> United Church of Christ: 210“Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit”7.2 Denkschrift <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland212“Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handelnin Verantwortung für die Zukunft”7.3 Wort des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschlandund <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichenund sozialen Lage in Deutschland“Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit” 2147.4 Zusammenfassung 220DRITTER TEILÖKONOMIEN IM WIDERSTREIT8. MARKTWIRTSCHAFT IM PLURAL 2268.1 Soziale Marktwirtschaft 2328.1.1 Protestantische Wurzeln <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft2328.1.2 Denkschrift 234“Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zurSelbstbesinnung des christlichen Gewissens in denpolitischen Nöten unserer Zeit” (1943)8.1.3 Biblische Fundierung <strong>der</strong> Denkschrift 2358.1.4 Konzeptionelle Entfaltung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft2468.2 “Marktwirtschaft pur”:Der Mythos, daß <strong>der</strong> Markt sich selber regelt 2558.2.1 Der Markt als Garant des Gemeinwohls 2558.2.2 Metaphysik des Marktes 2618.2.2.1 KULT-Marketing 2618.2.2.2 Umdeutung christlicher Ethik 2697


8.2.2.3 Neoliberales Credo: Vertrauen auf den Markt2728.2.2.4 Neoliberale Glaubensgemeinschaft 2758.2.2.5 Totaler Markt 2858.2.3 Götzenkritik <strong>der</strong> Hebräischen Bibel im theologischen Erbe2868.2.3.1 Biblische Kritik an den Götzen 2868.2.3.2 Götzenkritik in <strong>der</strong> theologischen Tradition 2898.2.4 Religion des Marktes 297VIERTER TEILWIRTSCHAFTSETHIK UND WIRTSCHAFTSPRAXIS9. WIRTSCHAFTSETHISCHE IMPULSE 3049.1 Erster wirtschaftsethischer Impuls:<strong>Die</strong> Würde <strong>der</strong> menschlichen Arbeit achten 3099.1.1 Arbeit ist keine Ware 3109.1.2 Arbeit begründet Rechte 3179.1.3 Recht auf Arbeit 3179.1.4 Rechte aus Arbeit 3229.2 Zweiter wirtschaftsethischer Impuls:Solidarisch arbeiten 3249.2.1 Gerechter Lohn 3259.2.2 Arbeitsumverteilung 3339.3 <strong>Dr</strong>itter wirtschaftsethischer Impuls:Mit <strong>der</strong> Schöpfung versöhnt arbeiten 3369.3.1 Logik <strong>der</strong> Nutzung 3369.3.2 Regulierungen aus dem biblischen Schöpfungsethos3389.3.3 Soziale und ökologische Marktwirtschaft 3469.4 Vierter wirtschaftsethischer Impuls:Marktwirtschaftliche Effizienz nutzen 3479.4.1 Regulierung des Marktes in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> 3489.4.2 An Gerechtigkeit und Partizipation gebundene Freiheit3569.5 Fünfter wirtschaftsethischer Impuls:Sorgsam haushalten 3618


9.5.1 Ökonomie als Haushaltsökonomie 3629.5.2 Regulierung <strong>der</strong> Wünsche 3699.6 Sechster wirtschaftsethischer Impuls:Bereicherung begrenzen 3759.6.1 Ökonomischer Paradigmenwechsel 3759.6.2 Regulierungen für den sozialen Ausgleich 3839.6.2.1 Schuldenerlaß 384(1) Sabbatjahr und Erlaßjahr 384(2) Sozialethischer Kern:Recht auf einen Neuanfang 3869.6.2.2 Umverteilung 390(1) Zinsverbot und Jobeljahr 390(2) Sozialethischer Kern:Schutz vor ökonomischer Abhängigkeit 3929.6.2.3 Machtkontrolle 39810. ARBEIT VOR KAPITAL:PERSPEKTIVE FÜR EINMITWELTGERECHTES WIRTSCHAFTEN 400ABKÜRZUNGSVERZEICHNIS 406LITERATURVERZEICHNIS 406SACHREGISTERSCHRIFTSTELLENVERZEICHNISVORWORT9


Das vorliegende Buch steht in einem Kontext. Wie eine gewaltige Grippewellewan<strong>der</strong>t eine Wirtschafts- und Finanzkrise um den Globus. NachÜberzeugung <strong>der</strong> Welthandels- und Entwicklungsorganisation <strong>der</strong> VereintenNationen (UNCTAD) steht die globale Wirtschaft 1998 “am Randedes Abgrunds”. Von den Län<strong>der</strong>n Südostasiens lernen, war ein Rat, <strong>der</strong>noch vor nicht allzu langer Zeit den kränkelnden Volkswirtschaften Europasgegeben wurde. Doch nur innerhalb weniger Monate werden ausdem Wirtschaftsmusterknaben ein sterbenskranker Patient. ÖkonomischeZukunftsträume schwinden dahin. Verarmung, Hunger und Elendgrassieren. Millionen sind ohne Arbeit. Währenddessen klettern die Aktienkursein Frankfurt und an <strong>der</strong> Wall Street von Rekordmarke zu Rekordmarke.Arbeitslosigkeit, die Krise des Sozialstaates und Verarmungim Weltmaßstab begründen eine ganz an<strong>der</strong>e Globalisierung als jenevielgepriesene <strong>der</strong> Märkte und Finanztransaktionen. Kaum ist <strong>der</strong> realexistierende Sozialismus in sich zusammengefallen, da stürzt <strong>der</strong> vermeintlicheSieger im Westen in eine schwere Krise.Nach einer Ökonomie zu fragen, die dem Leben dienlich sein kann, istangesichts dieses Kontextes beileibe keine akademische, son<strong>der</strong>n einelebensnotwendige Frage. Das sich abzeichnende Scheitern des neoliberalenKonzeptes von Ökonomie hat eine neue Nachdenklichkeit selbstbei den bisherigen Verfechtern hervorgerufen. Wie kann eine Ökonomieaussehen, die menschengerecht und sachgemäß ist? <strong>Die</strong> vorliegendeArbeit nimmt sich vor, einen Beitrag in diese Debatte um eine neue Ordnung<strong>der</strong> Ökonomie einbringen. Sie tut dies unter einer Fragestellung,die gar nicht selbstverständlich scheint. Sie fragt nämlich: Läßt sich ausdem Umgang <strong>der</strong> Bibel mit <strong>der</strong> Ökonomie ihrer Zeit etwas lernen für denUmgang mit <strong>der</strong> Ökonomie unserer Zeit? Jahrtausende liegen dazwischen.<strong>Die</strong> bäuerliche Ökonomie in dem kleinen Land <strong>der</strong> Bibel am Mittelmeerscheint wie durch einen tiefen Graben von <strong>der</strong> globalen Ökonomieunserer Tage getrennt. <strong>Die</strong> Frage ist deshalb nur zu berechtigt: Könnenethische Einsichten und Kategorien aus <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Bauern undHändler zur Zeit <strong>der</strong> Bibel überhaupt irgendeine Weisung für den globalenKapitalismus <strong>der</strong> Gegenwart geben? Sich dieser Frage aussetzen,hat mir gezeigt: Auf die Ökonomie unserer Tage einen Blick zu werfen,<strong>der</strong> durch das Lesen <strong>der</strong> Bibel geschärft worden ist, kann erhellend sein.<strong>Die</strong> vorliegende Arbeit geht auf eine Habilitationsschrift zurück, die imWintersemester 1998/1999 vom Fachbereich Evangelische Theologie10


<strong>der</strong> Universität Marburg angenommen. Für die <strong>Dr</strong>ucklegung wurde siebeson<strong>der</strong>s im Hinblick auf neuere Literatur überarbeitet. Mein herzlicherDank, <strong>der</strong> sich an alle Mitglie<strong>der</strong> des dortigen Fachbereichs richtet, gilt inerster Linie <strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. <strong>Dr</strong>. Siegfried Keil, <strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Wolfgang Nethöfel und<strong>Prof</strong>. <strong>Dr</strong>. Rainer Kessler, die durch Ratschläge und Anregungen die Arbeitgeför<strong>der</strong>t und das Gutachten angefertigt haben. Zu danken ist demFachbereich Evangelische Theologie an <strong>der</strong> Universität Marburg dafür,einem alt-katholischen Theologen die Möglichkeit zur Habilitation imFach evangelische Sozialethik eröffnet zu haben. Ohne das Wohlwollenund die Unterstützung vieler Menschen hätte ich diese Arbeit nichtschreiben können. Sie wäre nicht zustande gekommen ohne die zahlreichenGespräche mit Gewerkschaftern, Unternehmern und an<strong>der</strong>en Interessiertenan <strong>der</strong> Evangelischen Sozialakademie Friedewald. Ausdrücklichbedanken möchte ich mich für die anregenden Gespräche mit <strong>Prof</strong>.<strong>Dr</strong>. Günter Brakelmann, <strong>der</strong> unermüdlich Sozialethik mit Blick auf dieRealitäten <strong>der</strong> Arbeitswelt treibt. In den letzten Jahren ist mir die Grundsatzfrageimmer dringlicher geworden: Was haben Theologie und Kircheals ein Spezifikum einzubringen, das eben nicht nur verdoppelt, was vernünftigerweisean an<strong>der</strong>en Stellen auch vertreten wird? Was könnenTheologie und Kirche in Fragen einer menschenwürdigen Gestaltung <strong>der</strong>Ökonomie beitragen? Meine Frau Victoria hat sich das Manuskript zugemutetund mit mancher kritischen Hilfe weitergeholfen. Unseren Kin<strong>der</strong>nDavid und Teresa will ich auf diesem Weg für ihr Verständnis danken,daß sie mich öfter als sonst entbehren mußten, da ich vor Büchernam Schreibtisch und Computer saß. Zu danken ist auch HildegardKipping für die sorgfältige und kompetente Betreuung <strong>der</strong> Endgestalt desTextes und Lic. phil. et theol. Hubert Huppertz für die Mühe <strong>der</strong> Endkorrektur.Der Hans-Böckler-Stiftung möchte ich danken, die durch einen großzügigen<strong>Dr</strong>uckkostenzuschuß die Veröffentlichung <strong>der</strong> Arbeit ermöglichthat. Zu den vorrangigen Aufgaben einer gewerkschaftsnahen StudienundForschungsför<strong>der</strong>ung gehört es zweifelsohne nicht, theologischePublikationen zu för<strong>der</strong>n. Gleichwohl jedoch macht die För<strong>der</strong>ung Sinn:Gerechtigkeit und Solidarität bilden den Kernbestand <strong>der</strong> christlichjüdischensozialethischen Orientierung und gehören zu den zentralenÜberzeugungen, die Kirchen und Gewerkschaften verbinden und für diesie auf je eigene Weise eintreten.<strong>Die</strong> Diagnose, daß die Mo<strong>der</strong>nisierung zu einer Spaltung <strong>der</strong> Gesellschaftin Gewinner und Verlierer führt, ist ein inzwischen alter, aber lei<strong>der</strong>noch immer richtiger Befund. In ihrem Wirtschafts- und Sozialwort Füreine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit beklagen die Kirchen: “Solidaritätund Gerechtigkeit genießen heute keine unangefochtene Wert-11


schätzung.” Doch Gerechtigkeit ist <strong>der</strong> Schlüsselbegriff christlicher Orientierung.Sie macht die Mitte einer in Jahrhun<strong>der</strong>ten gewachsenen Sozialkulturaus, die sich zutiefst Impulsen christlich-jüdischer Traditionen verdankt.Nicht wenige meinen, Gerechtigkeit wie einen übriggebliebenenRestbestand vergangener Zeiten beiseite legen zu können. Sie taugenicht als Maßstab zur Beurteilung ökonomischer und gesellschaftlicherVerhältnisse.Kirchen und Gewerkschaften sind auch heute noch Orte <strong>der</strong> alten Visionenund <strong>der</strong> verdrängten Worte wie Recht und Gerechtigkeit für alle,Würde des Menschen, Empörung über Unrecht, Wahrnehmung <strong>der</strong> Weltaus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Schwächeren. <strong>Die</strong> aktuellen Herausfor<strong>der</strong>ungenerinnern an die alten Themen: die neue Massenarbeitslosigkeit an die alteSehnsucht nach Gerechtigkeit; die neuen Risse zwischen Wohlstandund Armut an die Solidarität <strong>der</strong> Starken mit den Schwachen; die neueArmut an Erbarmen und Barmherzigkeit. Vielleicht kann diese Arbeit dazubeitragen, unverdrossen an den alten Aufgaben, die nach wie vornicht erledigt sind, weiterzuarbeiten und Solidaritäten für eine Mo<strong>der</strong>nisierungin und durch Gerechtigkeit zu stiften.12


PROBLEMANZEIGEBeispiel 1: <strong>Die</strong> Diskussion über den SonntagAngesichts <strong>der</strong> rasanten Ausweitung <strong>der</strong> Sonntagsarbeit in den letztenJahren haben die Kirchen sich mit einer solchen Anzahl von Erklärungenund Verlautbarungen geäußert wie zu kaum einem an<strong>der</strong>en gesellschaftlichenThema. In ökumenischen Erklärungen <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenzund des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland, Verlautbarungen<strong>der</strong> EKD-Synode und von Landessynoden o<strong>der</strong> kirchlichenSozialverbänden haben die Kirchen versucht, gegen den Trend <strong>der</strong> Ausweitung<strong>der</strong> Arbeitszeit auf den Sonntag Argumente aus <strong>der</strong> kirchlichenund biblischen Tradition zur Geltung zu bringen. <strong>Die</strong> Erklärungen stimmenin einem Aspekt überein: in <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung des biblischenSabbat.In <strong>der</strong> Gemeinsamen Erklärung <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz unddes Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland vom 25.1.1988 UnsereVerantwortung für den Sonntag heißt es: “Der Sonntag steht in einemursprünglichen Zusammenhang mit dem Sabbat. (...) Wenn <strong>der</strong>Mensch am Sonntag von all seiner Arbeit innehält und diesen Tag als einefür Gott geheiligte Zeit achtet, sich Gott seinem Schöpfer und Erlöserzuwendet, auf sein Wort hört und Orientierung und Kraft schöpft für dieAufgaben, die vor ihm liegen, erfährt er etwas von <strong>der</strong> Freiheit, Würdeund Menschlichkeit, die Gott schenkt. Der Mensch darf nicht in seinerArbeit aufgehen. (...) <strong>Die</strong> Sonntagsruhe ist ein Zentralwert unserer Kultur.(...) Produktion und ebenso ein erfolgreiches Wirtschaften sind wichtig,dürfen aber nicht auf Kosten einer humanen Lebensgestaltung, auf dieuns das Gebot Gottes verweist, gehen.” 11DBK u. EKD, Unsere Verantwortung für den Sonntag. Gemeinsame Erklärung, EKD-Texte 22,Hannover 1988, 5-8.13


<strong>Die</strong> Kirchen unterstellen eine Analogie zwischen dem biblischjüdischenSabbat und dem christlichen Sonntag. Zur Begründung desSonntag nehmen sie eine in die frühesten Traditionsschichten <strong>der</strong> HebräischenBibel zurückreichende Institution in Anspruch. <strong>Die</strong> wohl ältesteFassung des Gebotes einer zyklischen Arbeitsruhe am siebten Tagstammt vermutlich aus dem 8. Jahrhun<strong>der</strong>t v.Chr. (Ex 34,21). <strong>Die</strong> selbstverständlicheBezugnahme <strong>der</strong> Kirchen auf diese mehr als zweieinhalbtausendJahre alte Einrichtung wirft jedoch einige Fragen auf:Das Arbeitsruhegebot am Sabbat entstammt einer bäuerlichen Kultur.Kann es für die industrielle Arbeitsgesellschaft, die einem Transformationsprozeßin eine postindustrielle <strong>Die</strong>nstleistungsgesellschaft unterliegt,immer noch gelten?Das Sabbatgebot ist Teil des biblischen Gesetzeswerkes.Hat nicht Jesus selber Kritik an <strong>der</strong> rigiden Sabbatpraxis seiner Zeit geübt(Mt 12,1-8.9-14; Mk 2,23-28; 3,1-6; Lk 6,6-11; 14,1-6 u.ö.)?<strong>Die</strong> Arbeitsruhe am Sonntag ist Ergebnis einer Übertragung des Sabbat<strong>der</strong> Bibel auf den Sonntag als Tag <strong>der</strong> Auferstehung. <strong>Die</strong> Kirchen unterstelleneine ungebrochene Traditionsverbindung zum biblischen Sabbat.Immerhin haben die Reformatoren den Tag nicht durch Arbeitsruhegeheiligt sehen wollen. In <strong>der</strong> Confessio Augustana heißt es: “Denn es irrendiejenigen sehr, die meinen, es sei die Ordnung des Sonntags anstelledes Sabbat als (heils)notwendig eingeführt worden. Denn die HeiligeSchrift hat den Sabbat abgetan und lehrt, daß alle Zeremonien desalten Gesetzes (des Mose) nach <strong>der</strong> Eröffnung des Evangeliums unterlassenwerden können.” 2 Ruhezeit und Zeit für den Gottesdienst sindnach Martin Luther in seinem Großen Katechismus “nicht so an bestimmteZeiten wie bei den Juden gebunden, daß es eben dieser o<strong>der</strong> jenerTag sein müsse. Denn es ist an sich selbst keiner besser als <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e,son<strong>der</strong>n das sollte wohl täglich geschehen.” 3 <strong>Die</strong> Arbeitsruhe am Sabbatist hier von Luther theologisch entlegitimiert.Mit welcher Begründung beziehen sich die Kirchen, zumal die Kirchen<strong>der</strong> Reformation, nun auf ein biblisches Sabbatgebot, um gegen eineAusweitung <strong>der</strong> Sonntagsarbeit zu argumentieren? Sind die kritischenVorbehalte gegenüber ethischen Indikativen und Imperativen nicht einunaufgebbares Erbe <strong>der</strong> Reformation?2 Confessio Augustana. Zit. nach: Unser Glaube. <strong>Die</strong> Bekenntnisschriften <strong>der</strong> evangelischlutherischenKirche. Im Auftrag <strong>der</strong> Kirchenleitung <strong>der</strong> VELKD hg. vom Lutherischen Kirchenamt,2. Aufl. Gütersloh 1987, 115f.3 Martin Luther, Der Große und <strong>der</strong> Kleine Katechismus, ausgew. von K. Aland und H. Kunst, Göttingen1983, 15. An an<strong>der</strong>er Stelle heißt es bei Luther: “Ist Christus unser, so können wir leichtGesetze aufstellen und alles recht richten. Ja, selbst neue Dekaloge werden wir dann machen,(...). Und diese Dekaloge sind klarer als <strong>der</strong> des Mose, gleichwie Christi Angesicht klarer ist alsdas des Mose” (WA 39, 1; 47).14


Beispiel 2: Gottes Sozialprogramm. Ein Brief aus AfrikaVon seinem Partnerkirchenkreis in Muku/Kongo erhielt <strong>der</strong> evangelischeKirchenkreis Altenkirchen / Westerwald 1997 zum Tag <strong>der</strong> Partnerschafteine Lesepredigt, die in einer beeindruckenden Weise die eigene sozialeRealität und die <strong>der</strong> Bibel zusammensieht:An diesem Tag <strong>der</strong> Partnerschaft zwischen unseren Kirchen in Afrika unddenen in Deutschland legen wir Wert darauf, unsere Kirchen daran zu erinnern,daß sie den schwierigen Auftrag haben, den Armen, den Unterdrückten,den Waisen, den Fremden (...) kurz, den Schutzlosen, <strong>der</strong>enZahl wächst, Hilfe zu leisten und Schutz zu geben. (...) Niemals haben soviele Menschen unter <strong>der</strong> Herrschaft des totalen Elends, <strong>der</strong> Unterdrückungund Gewalt leben müssen. So drängt sich die Frage auf: “Vonwo soll Hilfe für uns kommen?”<strong>Die</strong>se Frage ruft die Verantwortung <strong>der</strong> Kirche in Erinnerung gegenüberdenen, die leiden und schutzlos sind. Wir wollen antworten mit einer Meditationüber Psalm 146.Der Psalmist beginnt mit dem negativen Aspekt <strong>der</strong> Frage, er kritisiertnämlich die Menschen dafür, daß man sich nicht auf sie verlassen kann,wenn man Hilfe und Schutz sucht.Verlaßt euch nicht auf Fürsten,auf Menschen, bei denen es doch keine Hilfe gibt (Ps 146,3).So wird uns klar gemacht, wie vergeblich es ist, sich auf die Großen dieserWelt zu verlassen.Positiv zeigt <strong>der</strong> Psalmist auf, daß Gott die Quelle <strong>der</strong> Hilfe ist. Er ist <strong>der</strong>einzige För<strong>der</strong>er <strong>der</strong> Gerechtigkeit (Ps 103,6), <strong>der</strong> einzige Schutz und Halt(Ps 101). Von wem bekommen Menschen Hilfe?Wohl dem, dessen Halt <strong>der</strong> Gott Jakobs ist,und <strong>der</strong> seine Hoffnungauf den Herrn, seinen Gott, setzt (Ps 146,5).In zwölf Aussagen skizziert <strong>der</strong> Psalmist das Sozialprogramm o<strong>der</strong> HilfsprogrammGottes für diejenigen, die schutzlos sind, die keine Stimme haben,die Vergessenen dieser Erde (...).Recht verschafft er den Unterdrückten,den Hungernden gibt er Brot;<strong>der</strong> Herr befreit die Gefangenen.Der Herr öffnet den Blinden die Augen,er richtet die Gebeugten auf.Der Herr beschützt die Fremdenund verhilft den Waisen und Witwen zu ihrem Recht.Der Herr liebt die Gerechten,doch die Frevler leitet er in die Irre (Ps 146,7-9).15


<strong>Die</strong>se Aussagen beschreiben das Sozialprogramm Gottes. Um diesesProgramm zu realisieren, greift Gott auf den Menschen zurück, dieser istdas Werkzeug, <strong>der</strong> Gottes Programm in die Tat umsetzen soll. Und damitist klar, daß die Kirche sich Jahwes großes Sozialprogramm für die „ohneSchutz‟ zu eigen macht. Für die Kirche kann es nicht darum gehen, bloßzuzuschauen.An diesem Sozialprogramm ist die Kirche beteiligt, sie ist Mitarbeiterin Gottes.Ihre Mitwirkung beruht auf einer Dynamik, in <strong>der</strong> es nicht auf Reichtümerankommt, son<strong>der</strong>n auf die Menschen, die von dem lebendig gehaltenwerden, <strong>der</strong> die Quelle <strong>der</strong> Hilfe schlechthin ist.- (Gekürzt)<strong>Die</strong> Auslegung des Psalms und die Begründung <strong>der</strong> Arbeitsruhe amSonntag stellen zwischen den sozialethischen Aussagen <strong>der</strong> Bibel undgegenwärtigen Herausfor<strong>der</strong>ungen eine Verbindung her. Mit Argumentenaus <strong>der</strong> biblischen Überlieferung wird die eigene Notlage im Kongo zurSprache gebracht. Das Elend im Kongo und die Situation, die hinter demPsalm steht, scheinen einan<strong>der</strong> so nah, daß sie sich gegenseitig interpretierenkönnen. Der Kontext in dem vom Bürgerkrieg geschütteltenLand und <strong>der</strong> Text des Psalms legen sich wechselseitig aus.Es gibt einen Aufbruch zu einer neuen Lesart <strong>der</strong> Bibel, die sich ganzwesentlich <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung verdankt. <strong>Die</strong> Bibel wird wie<strong>der</strong>entdeckt.<strong>Die</strong> konkreten Erfahrungen mit Armut, Unterdrückung undElend werden zum Spiegel <strong>der</strong> Bibellektüre - und umgekehrt. Kaum beachteteTraditionen <strong>der</strong> Bibel werden gelesen, wie<strong>der</strong>entdeckt und in dieAuseinan<strong>der</strong>setzung um mehr Gerechtigkeit und Würde eingebracht.<strong>Die</strong>se Lesart <strong>der</strong> Bibel ist nicht abstrakt. Sie kommt aus <strong>der</strong> Praxis undist auf sie hingerichtet.<strong>Die</strong>sen Aufbruch zu einer neuen Art <strong>der</strong> Bibellektüre gibt es auch inDeutschland. An<strong>der</strong>s als früher garnieren die Kirchen ihre Erklärungennicht mehr nur mit assoziativen Bibelzitaten. <strong>Die</strong> WirtschaftsdenkschriftGemeinwohl und Eigennutz(1991) und das Gemeinsame Wort Für eineZukunft in Solidarität und Gerechtigkeit(1997) sind markante Beispiele füreine Wie<strong>der</strong>entdeckung des biblischen Arguments in <strong>der</strong> Ethik. Auch dieBegründungen für den Erhalt des Sonntags belegen diesen Lernprozeß<strong>der</strong> Kirchen, hatte doch die EKD-Studie zur Arbeitslosigkeit Solidargemeinschaftvon Arbeitenden und Arbeitslosen noch 1982 ohne Gedankenan den Sonntag reine Wochenendschichten, also über den Sonntag hinweg,vorgeschlagen. 44 Gütersloh 1982, 53. - Dort heißt es: “... beson<strong>der</strong>e Arbeitsplätze für das Wochenende bei vollkontinuierlichemBetrieb anzubieten,...; hier muß also allerdings die Gefahr einer vermehrtenSchichtarbeit bedacht werden.” - Kein Hinweis auf das Problem des gesellschaftlichen Ausschlusseso<strong>der</strong> auf die Frage nach dem Erhalt des Sonntags.16


Der Konflikt um die Geltung <strong>der</strong> Arbeitsruhe am Sonntag hat exemplarischeBedeutung. Angesichts des Aufeinan<strong>der</strong>treffens von ökonomischerLogik und ethischen Orientierungen wird mit dem Sabbat einenormative Entscheidung zugunsten einer “humanen Lebensgestaltung”getroffen, wie es in <strong>der</strong> Gemeinsamen Erklärung <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenzund des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschlandzum Sonntag heißt. <strong>Die</strong> Kirchen orientieren sich an einer jahrtausendealtenTradition, die den biblischen Sabbat als Garanten einer “humanenLebensgestaltung” betrachtet. Er stehe für eine “Freiheit, Würdeund Menschlichkeit, die Gott schenkt.” Doch diese unmittelbare Orientierung<strong>der</strong> Kirchen am biblischen Sabbatgebot trügt. Der heutige Sonntagist nämlich keineswegs <strong>der</strong> direkte Erbe des biblischen Sabbat. Der Sabbatdurchlief immer schon einen Prozeß <strong>der</strong> Anpassung. Unter den sehrverschiedenen sozio-ökonomischen Verhältnissen in <strong>der</strong> frühen Agrarkulturund Stadtkultur im Alten Israel wurde <strong>der</strong> Sabbat keineswegs einheitlichgehalten. Auch durch die Geschichte des Christentums zieht sicheine vielschichtige Traditionslinie im Erbe des Sabbat. Es gibt eine bewußteDistanzierung von <strong>der</strong> biblischen Sabbattradition und eine Geschichte<strong>der</strong> Neuanpassung des biblischen Gebots an verän<strong>der</strong>te gesellschaftlicheVerhältnisse. Das Gesicht des biblischen Sabbat hat sichverän<strong>der</strong>t, wie sich auch das des christlichen Sonntags. Gibt es eineKontinuität? <strong>Die</strong> Kontinuität besteht in einem doppelten Anliegen: zumWohl des Menschen und <strong>der</strong> Schöpfung die Arbeit zu unterbrechen undden ökonomischen Anspruch auf die ganze Zeit zu begrenzen. DerRückbezug auf die biblische Tradition ist allerdings nicht unproblematisch,wie unterstellt wird, son<strong>der</strong>n stellt Fragen, die im Folgenden angesprochenwerden sollen.<strong>Die</strong> Hebräische Bibel kennt ein Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht.Kann jene kreative Aneignung <strong>der</strong> biblischen Traditionen, wie sie dieKirchen bei <strong>der</strong> Begründung <strong>der</strong> Arbeitsruhe am Sonntag mit dem samstäglichenSabbat vollziehen, in ähnlicher Weise auch für an<strong>der</strong>e biblischeWeisungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gelten? Kann das biblische Sozialrecht irgendeineBedeutung für eine konstruktive Gestaltung einer menschengerechtenOrdnung <strong>der</strong> heutigen Wirtschaft haben?Jesus hat Kritik am Gesetz geübt. Paulus betont die Freiheit gegenüberdem Gesetz.Deuten die torakritischen Aussagen <strong>der</strong> neutestamentlichen Schriftenauf einen Gegensatz zwischen Jesus und <strong>der</strong> neutestamentlichen Traditioneinerseits und <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> an<strong>der</strong>erseits? O<strong>der</strong> sind diese torakritischenAussagen im Horizont des innerjüdischen Ringens um die Geltung <strong>der</strong><strong>Tora</strong> und <strong>der</strong>en rechtes Verständnis zu verstehen? Zeichnet sich in den17


neutestamentlichen Schriften ein eigener, selektieren<strong>der</strong>, interpretieren<strong>der</strong>,kreativ-neuschaffen<strong>der</strong> Umgang mit <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>überlieferung ab?Den Sabbat verstehen die Kirchen in ihrer Erklärung als Symbol einer“humanen Lebensgestaltung”.Gibt es wie beim Sabbat einen bleibenden Kern o<strong>der</strong> wertentscheidendeNormen, an denen die <strong>Tora</strong> bei aller Dynamisierung festgehaltenhat? Enthält die <strong>Tora</strong> Vorstellungen von einem guten Leben, von denenwir uns - auch in an<strong>der</strong>er Hinsicht - inspirieren lassen können?Ökonomie in einen Zusammenhang mit Ethik zu bringen, ist das Anliegendes wirtschaftsethischen Diskurses.Welche Impulse zu einem sozial und ökologisch gerechten Wirtschaftenlassen sich aus <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gewinnen? Wie kann eine kreative und dynamischeAneignung <strong>der</strong> biblischen Traditionen für heutige wirtschaftlicheHerausfor<strong>der</strong>ungen gelingen? Wo liegen die Grenzen?<strong>Die</strong> Bibel stammt aus einer fremden Kultur, einer fremden Ökonomie undGesellschaft.Gibt es Weisheiten, Einsichten, Kategorien o<strong>der</strong> Orientierungen <strong>der</strong>biblischen Tradition, die gerade dadurch, daß sie einer fremden Zeit entstammen,einen neuen Blick auf unser Haus “Erde” erlauben, unserePlausibilitäten durchbrechen und die Fähigkeit zu utopischem Denkenwecken können?18


INTERESSE, ARBEITSWEISE UND METHODE<strong>Die</strong> Ausgangshypothese <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit bildet die Aussage desAlttestamentlers Frank Crüsemann: “Christliche Wirtschaftsethik wirdsich wie jede Form protestantischer Theologie letztlich an <strong>der</strong> Bibel zuorientieren haben.” 5 In seiner Monographie über die <strong>Tora</strong> präzisiert erdiese Aussage zu einer For<strong>der</strong>ung an die Sozialethik, wenn er sagt, “daßunbeschadet des historischen Abstandes allein die <strong>Tora</strong> die Grundlageeiner biblisch orientierten christlichen Ethik sein kann.” 6 Frank Crüsemannbegründet diese kritische Anfrage an die theologische Ethik mit <strong>der</strong>Beobachtung, daß wirtschaftsethisch relevante Traditionen <strong>der</strong> Bibelkaum bekannt seien und in <strong>der</strong> Ethik nicht rezipiert würden. Seine Anfragean die Ethik soll als eine Hypothese aufgenommen werden, die einerkritischen Prüfung unterzogen wird.<strong>Die</strong> vorliegende Arbeit greift die For<strong>der</strong>ung des Alttestamentlers FrankCrüsemann auf, die <strong>Tora</strong> als Grundlage <strong>der</strong> christlichen Ethik zu verstehenund fragt danach, ob die <strong>Tora</strong> Impulse und Orientierungen enthält,die für den wirtschaftsethischen Kontext von heute fruchtbar gemachtwerden könnten. <strong>Tora</strong> meint im engeren Sinn die Gesetzestexte <strong>der</strong>Hebräischen Bibel, darüber hinaus aber auch den Pentateuch, und wurdespäter ausgeweitet zur Bezeichnung des ganzen biblischen Kanons.Umstritten ist die Geltung und Reichweite biblischer Grundlagen einerSozialethik. Wirtschaftsethik soll in dieser Arbeit mit <strong>der</strong> Exegese so ineinen Zusammenhang gebracht werden, daß die <strong>Tora</strong>tradition mit ihren56F. Crüsemann , “... wie wir vergeben unseren Schuldigern.” Schulden und Schuld in <strong>der</strong> biblischenTradition, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionenin gegenwärtigen Konflikten, München 1992, 90.F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichen Gesetzes, München1992, 424f.19


Einsichten, Orientierungen, Wertüberzeugungen und Kategorien zur Geltungkommt und einen konstruktiven, inspirierenden Beitrag zur Gestaltungeiner menschengerechten Ordnung <strong>der</strong> Ökonomie leisten kann.<strong>Die</strong> Hebräische Bibel enthält eine ethisch gehaltvolle und politischwirksame Erinnerung, die auf Ägypten und dortige Verhältnissen des Unrechtsinmitten einer Hochkultur zurückverweist. <strong>Die</strong>se Erinnerungdurchzieht wie ein roter Faden die ganze Hebräische Bibel. Wirksamwurde diese Erinnerung, indem sie ein Ethos entfaltete, das die Lebensverhältnisseim Alten Israel gestaltete. <strong>Die</strong> Vergangenheit wird erinnert,um eine Rückkehr in ägyptische Verhältnisse abzuwehren und eine an<strong>der</strong>e,eine gute Zukunft zu gewinnen. Ethisch ist nicht die Frage vorrangigbedeutsam, was historisch tatsächlich gewesen ist. Das historischeArgument kann zwar dem ethischen ein zusätzliches Gewicht geben,doch es begründet noch keine Normativität.<strong>Die</strong> vorliegende Arbeit bezieht sich hauptsächlich auf die HebräischeBibel, berücksichtigt aber auch neutestamentliche Traditionen, soweitdiese ausdrücklich wirtschaftsethische Aspekte ansprechen. Zwei Gesichtspunkteseien an dieser Stelle vorab in aller Kürze genannt: DasNeue Testament gehört erstens in den Horizont <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und setzt sievoraus; es setzt sie nicht außer Kraft, son<strong>der</strong>n radikalisiert sie eher, alsdaß es sie relativiert. Zweitens hatte die <strong>Tora</strong> eine mehrhun<strong>der</strong>tjährigeZeit zur Traditionsbildung zur Verfügung, in <strong>der</strong> sie sich mit den sozioökonomischenVerhältnissen auseinan<strong>der</strong>setzen und eigene Rechtssystemezur Gestaltung gesellschaftlicher Verhältnisse entwickeln konnte,während das Neue Testament in nur wenigen Jahrzehnten entstand. Ausdiesen Gründen ist es angemessen, die ganze Bibel aus <strong>Tora</strong> und denneutestamentlichen Schriften zur Grundlage einer theologischen Wirtschaftsethikzu machen.Wenn nach <strong>der</strong> Relevanz biblischer Traditionen für gegenwärtigesWirtschaften gefragt wird, soll nicht unterstellt werden, daß die Bibel dieeinzige ethische Erkenntnisquelle für den Christen darstellt o<strong>der</strong> darstellenkann, auch wenn sie sehr wohl einen Vorrang vor an<strong>der</strong>en Erkenntnisquelleneinnimmt. Bruce C. Birch und Larry L. Rasmussen betonendeshalb in ihrem Buch über Bibel und Ethik im christlichen Leben alsAusgangspunkt ihrer Überlegungen, daß “christliche Ethik nicht gleichbedeutendmit biblischer Ethik” 7 sein könne. Theologisch reicht die Bibelkeineswegs aus, aber sie ist norm- und formgebend für die Ethik. Nebenbiblischen Gesichtspunkten sind auch die Beiträge <strong>der</strong>Christentumsgeschichte gerade angesichts <strong>der</strong> weithin zu beobachtendenTraditionsvergessenheit zur Herausbildung einer Sozialethik heran-7B.C. Birch u. L.L. Rasmussen, Bibel und Ethik im christlichen Leben, Gütersloh 1993, 15.20


Grundlegung einer lebensdienlichen Ökonomie 8 in den Mittelpunkt: Nichtdie möglichst effiziente Schaffung von Marktwerten soll “das entscheidendeMass <strong>der</strong> Wirtschaft” 9 sein, son<strong>der</strong>n vielmehr <strong>der</strong>enLebensdienlichkeit. Wie es dem Menschen und beson<strong>der</strong>s den armenAn<strong>der</strong>en in einem System ergeht, ist das zentrale sozialethische undtheologische Kriterium zur Beurteilung eines jeden Wirtschaftssystems.Indem eine theologische Wirtschaftsethik dieses Kriterium anlegt, präzisiertsie, was die Lebensdienlichkeit <strong>der</strong> Ökonomie bedeutet.Wer kann im Kontext <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland und an<strong>der</strong>er Industriegesellschaftenanalytisch und theologisch mit jener biblisch fundiertenOption für die Armen gemeint sein? Hat jede Gesellschaft zeitundkontextunabhängig ihre Armen? Wer ist ausgeschlossen? <strong>Die</strong> vorliegendeArbeit versucht darzulegen, daß die sozialethische und theologischeOption für die Armen auf eine Situation reagiert, die jener <strong>der</strong> abhängigenArbeit in kapitalistisch verfaßten Wirtschafts- und Gesellschaftssystemenwenigstens in ihren grundlegenden Aspekten entspricht.In <strong>der</strong> real existierenden Marktwirtschaft besteht ein Machtungleichgewichtzwischen Kapital und Arbeit. Der Faktor Arbeit befindetsich in einer Position <strong>der</strong> Unterlegenheit. <strong>Die</strong> vorliegende Arbeit knüpft andiesem Tatbestand an und fragt nach einer wertenden Analyse des Ungleichgewichtszwischen Kapital und Arbeit. Reagiert die biblische Optionfür die Armen auf ein vergleichbares Machtgefälle, wie es sich auch in<strong>der</strong> Unterlegenheit <strong>der</strong> Arbeit gegenüber dem Kapital zeigt? Bringen dieethische Option für die Armen und die Option für den Vorrang <strong>der</strong> Arbeitvor dem Kapital ein vergleichbares Anliegen zur Sprache?<strong>Die</strong> grundlegende Frage lautet: Bedarf eine theologische Wirtschaftsethiküberhaupt einer biblischen Fundierung? Eckart Müller sieht in seinerArbeit über Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaftdas unterscheidende Merkmal evangelischer Sozialethik “in eineminhaltlich bestimmten Grundverständnis von Welt und Mensch (...),wie es sich aus den Grundaussagen des christlichen Glaubens nach89Bern/Stuttgart/Wien, 2. durchges.Aufl. 1998.P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 204. Schlüsselbegriff <strong>der</strong> integrativen Wirtschaftsethik istdie Lebensdienlichkeit <strong>der</strong> Ökonomie. Peter Ulrich ist einer vernunfts- und diskursethischenBegründung von Wirtschaftsethik verpflichtet, während ich auf biblische Traditionen zurückgreife.<strong>Die</strong> Argumentationen gehen trotz des unterschiedlichen Begründungsansatzes passagenweiseparallel und überschneiden sich teilweise. Beide Ausarbeitungen erfolgten zeitlich parallelund in wechselseitiger Unkenntnis. <strong>Die</strong>se Nähe empfinde ich als Bestätigung meines wirtschaftsethischenAnsatzes. Für die <strong>Dr</strong>uckfassung <strong>der</strong> Habilitationsschrift habe ich die Ausführungenvon P. Ulrich berücksichtigt.22


evangelischem Verständnis ergibt.” 10 Wie wird das inhaltliche Grundverständnisbegründet? Eckart Müller verzichtet jedenfalls auf eine biblischbegründete Argumentation für das, was er das evangelische Grundverständnisvon Welt und Mensch nennt. Sein Ansatz kann geradezu alsBeleg für eine theologische Ethik gelten, die meint, ohne explizitenRückbezug auf Einsichten <strong>der</strong> exegetischen Wissenschaften zu einemsozial- o<strong>der</strong> wirtschaftsethischen Urteil kommen zu können. Mit zehn Optionenmarkiert er inhaltliche Voraussetzungen für eine sozialethischeund theologische Wirtschaftsethik. Doch keine dieser Optionen wird ausdrücklichbiblisch begründet. Müller verzichtet darauf, seine Optionentheologisch o<strong>der</strong> biblisch zu qualifizieren. Inhaltlich sprechen sie nichtmehr als das an, was in <strong>der</strong> gegenwärtigen wirtschaftsethischen Debattezur Diskussion ansteht und vernünftigerweise sowieso thematisiert werdensollte. Meine These ist, daß Müller sich die Chance nimmt, das Spezifikumeiner theologischen Wirtschaftsethik zur Sprache zu bringen, geradeweil er auf einen biblischen Rückbezug verzichtet. <strong>Die</strong>se theologischeWirtschaftsethik nennt keinen Gesichtspunkt, <strong>der</strong> nicht auch im rationalenDiskurs ohne das Attribut “theologisch” berücksichtigt würde. <strong>Die</strong>Optionen spiegeln also nur die allgemeine gegenwärtige Diskussionslage.Ganz an<strong>der</strong>s argumentiert <strong>der</strong> Ethiker Eilert Herms. 11 Er gehört zu denwenigen Ethikern, die darauf bestehen, daß eine Wirtschaftsethik erstdadurch zu einer theologischen Wirtschaftsethik werde, wenn sie auf diebiblische Tradition zurückgreife. Seine These lautet: Christliche Ethik seigenau daran zu erkennen, daß sie sich auf biblische Quellen beziehe. Ererwartet also von einer theologischen Wirtschaftsethik, daß sie spezifischeBegründungen einbringt, die nur biblische sein können. Bibel undchristliche Traditionen können dabei allerdings nicht autoritativ und deduktivvorgebracht werden, son<strong>der</strong>n können immer nur verbindlicheMaßstäbe o<strong>der</strong> verbindliche Begründungsinstanzen für ethische Vorzüglichkeitsurteileüber einzelne in konkreten Situationen wählbare Ziele undWege sein, die jeweils von den Entscheidungsträgern selbst gefundenwerden müssen. 12 <strong>Die</strong> Verantwortung des ethischen Subjekts kann sichalso nicht mit dem Rückbezug auf eine Autorität biblischer Kriterien be-10E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft. <strong>Die</strong> Konzeption <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft und die Möglichkeiten ihrer Rezeption durch eine evangelische Wirtschaftsethik,Neukirchen-Vluyn 1997, 201.11E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik. Das Problem ihrer bibeltheologischen Begründungund ihres spezifischen Beitrags zum wirtschaftsethischen Diskurs, in: Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gerechtigkeit,hg. von ESG und KDA, Vorlesungsreihe an <strong>der</strong> Universität Konstanz, Wintersemester 1990/91,Konstanz.o.J. (als Manuskript gedruckt) 81-109. Auch abgedruckt in: Baadtke, Günter u. Rauscher,Anton (Hg.), Wirtschaft und Ethik (Kirche heute, Bd. 5), Graz 1991, 31-69.12 E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 105.23


gnügen. Der Ansatz von Eilert Herms ist für den weiteren Gang <strong>der</strong> hiervorliegenden Untersuchung von systematischer Bedeutung. Jüngst hatTraugott Jähnichen eine theologische Wirtschaftsethik vorgelegt, die sichvornimmt, “jenseits prinzipieller Behauptung o<strong>der</strong> Abweisung <strong>der</strong> Geltungund Aktualität <strong>der</strong> alttestamentlichen Wirtschaftsgesetze” nach den biblischenGrundlagen einer ethischen Urteilsbildung in einer “offenen, heuristischenPerspektive” zu fragen. 13 Er weiß sich dabei den lutherischenEinwänden gegen eine autoritative Geltung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> verpflichtet. DasSchwergewicht seiner Argumentation liegt dabei in ethischen Traditionslinien<strong>der</strong> Christentumsgeschichte.Wolfhart Pannenberg registriert, daß die aus christlichen Wurzeln erwachsenenethischen Anschauungen nach Ablösung von ihren Wurzelnihre prägende Kraft verloren hätten. Deshalb bedürfe es heute für dieChristenheit dringend einer Erneuerung ihrer ethischen Urteilsbildungaus <strong>der</strong> Kraft des Glaubensbewußtseins. 14 <strong>Die</strong> Arbeit will einen Beitragdazu leisten, indem sie nach <strong>der</strong> normgebenden Kraft <strong>der</strong> biblischenEthos für wirtschaftsethische Problemstellungen fragt. Dabei braucht <strong>der</strong>Anspruch auf humane Allgemeingültigkeit keineswegs aufgegeben werden,auch wenn eine Allgemeinverbindlichkeit von Normen christlicherEthik wohl kaum erreicht werden kann. Diskursiv ist vielmehr mit an<strong>der</strong>enwirtschaftsethischen Entwürfen und Begründungen um die Plausibilitätdessen, was gelten soll, zu ringen. Das ethische Argument, das sich biblischenPerspektiven verdankt, muß darüber hinaus in einer Vermittlungmit den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften verantwortet werden. DerSozialethiker Arthur Rich hat auf diese Verschränkung des Ethischen mitdem Sachgemäßen hingewiesen und betont, “daß nicht wirklich menschengerechtsein könne, was nicht sachgemäß ist, und nicht wirklichsachgemäß, was dem Menschengerechten wi<strong>der</strong>streitet.” 15 <strong>Die</strong> bloß formalesozialethische For<strong>der</strong>ung nach einer menschengerechten Ordnung<strong>der</strong> Wirtschaft ist in ihrer Unbestimmtheit wohl allgemein zustimmungsfähig.Kontrovers jedoch wird es zugehen, wenn die formale Kategoriedes Menschengerechten material bestimmt wird. <strong>Die</strong> vorliegende Arbeitnimmt sich vor, einen Beitrag zur Bestimmung des materialen Gehaltesdes Menschengerechten für eine theologische Wirtschaftsethik zu leisten,indem sie auf biblische Traditionen zurückgreift und diese mit wirtschafts-und sozialwissenschaftlichen Einsichten verbindet. Meine zent-131415Jähnichen, T., Sozialer Protestantismus und mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftskultur. Sozialethische Studienzu grundlegenden anthropologischen und institutionellen Bedingungen ökonomischen Handelns,Münster 1998, 49.W. Pannenberg, Grundlagen <strong>der</strong> Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven, Göttingen,1996, 100.A. Rich, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Bd.1, Gütersloh 1984, 81.24


ale These lautet daher: <strong>Die</strong> Hebräische Bibel, die <strong>Tora</strong> o<strong>der</strong> allgemeiner:die Biblischen Schriften stehen für eine material bestimmte Traditionslinie,die konkretisieren kann, was die Wertkategorie “menschengerecht”bedeutet. Wie ein roter Faden durchzieht die Bibel eine normative Logik<strong>der</strong> Humanität, die in Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Ökonomie ihrer Zeitentstanden ist. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> enthält eine eindeutige Vorzugsregel: <strong>Die</strong> Logik<strong>der</strong> Humanität erhält einen unbedingten Vorrang gegenüber an<strong>der</strong>en Ansprüchen.<strong>Die</strong> ethischen Einsichten und normativen Wertüberzeugungen <strong>der</strong><strong>Tora</strong>tradition und das Sachgemäße <strong>der</strong> Ökonomie sollen kritisch so integriertwerden, daß das Sachgemäße dem ethischen Argument und dasethische Argument den Ansprüchen <strong>der</strong> Sache genügen kann. Zentralfür die wirtschaftsethischen Überlegungen ist die Frage nach dem, waseigentlich Wirtschaften ist. <strong>Die</strong> gängigen Definitionen verstehen Wirtschaftenals Umgang mit Knappheit. <strong>Die</strong> zur Verfügung stehenden Ressourcensollen so genutzt werden, daß ein Höchstmaß an Gütern und<strong>Die</strong>nstleistungen geschaffen werden kann. Aus dieser Definition ergebensich ökonomische Ziele und Verhaltensweisen mit wirtschaftsethischenImplikationen. <strong>Die</strong>ser geläufigen Definition von Wirtschaften soll eineVorstellung von Wirtschaften in den Abschnitten 4.2 sowie 9.5 gegenübergestelltwerden, die aus <strong>der</strong> ökumenischen Debatte stammt und biblischeAnhaltspunkte hat: Wirtschaften in diesem Sinn ist nicht ein Umgangmit Knappheiten, son<strong>der</strong>n mit Vertrauen auf die Fülle <strong>der</strong> SchöpfungGottes. Beiden Konzeptionen von Ökonomie liegen zwei unterschiedlichenormative Logiken zugrunde. Deshalb stellt die <strong>Tora</strong>-Ökonomie nicht eine bloß vor-mo<strong>der</strong>ne und insofern überholte Ökonomiedar. Sie verwirklicht vielmehr eine an<strong>der</strong>e, eine alternative Ökonomie, dieauch einer an<strong>der</strong>en normativen Logik folgt. Das Studiendokument desÖkumenischen Rates <strong>der</strong> Kirche Der christliche Glaube und die heutigeWeltwirtschaft (1992) trägt einen Titel, <strong>der</strong> diesen an<strong>der</strong>en ökonomischenWertbegriff zum Ausdruck bringt: Leben und volle Genüge für alle16 . Handlungsprinzip dieser Sicht von Wirtschaften ist dann nicht die Effizienz,son<strong>der</strong>n die Suffizienz, eben eine “Ökonomie des Genug” 17 . Kanneine Rückbesinnung auf die ökonomische Wertüberzeugung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> fürdie mo<strong>der</strong>ne globale Ökonomie eine Entwicklungsperspektive sein? Interessantwäre es, diesen ökonomischen Wertbegriff für eine evangelischeWirtschaftsethik durchzubuchstabieren, die das reformatorische Ver-16 ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft. Eine Studie des ÖRK “Leben und volle Genügefür alle”, in: epd-Dokumentation Nr. 40/1992.17 Eine Ökonomie des Genug als ein neues ökonomisches Paradigma ist entfaltet in: B.Goudzwaard u. B. de Lange, We<strong>der</strong> Armut noch Überfluß. Plädoyer für eine neue Ökonomie,München 1990. Weitere Ausführungen in Abschnitt 9.5.1.25


ständnis von Rechtfertigung für Fragen des Wirtschaftens auslegt. Zwischeneiner Ökonomie als Umgang mit Vertrauen auf die gute SchöpfungGottes und dem reformatorischen Verständnis des Glaubens alsVertrauen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Rechtfertigung, die um das unverdiente Geschenkdes Lebens und <strong>der</strong> Gnade weiß, ließen sich viele Bezüge herstellen.Der alleinigen Ausrichtung einer Ökonomie auf Machbarkeit, Produktionssteigerung,Wachstum, Leistung und Effizienz könnten Aspekte einerreformatorisch begründeten Grundhaltung gegenübergestellt werden, diedas Evangelisch-reformatorische einer theologischen Wirtschaftsethikakzentuieren könnte. <strong>Die</strong>se Aspekte werden im Abschnitte 9.5 kurz ausgeführt,müßten jedoch stärker systematisch ausgearbeitet werden. <strong>Die</strong>seAufgabe sei an dieser Stelle nur genannt. Sie systematisch zu bearbeiten,kann nicht Gegenstand <strong>der</strong> vorliegenden Ausführungen sein.<strong>Die</strong> vorliegende Arbeit geht in folgenden Schritten vor: Nachdem im 1.Abschnitt hermeneutische Vermittlungswege zwischen <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Bibelund gegenwärtigen Wirtschaftsfragen dargestellt worden sind, sollen im2. Abschnitt die verschiedenen ethischen Zugänge zu Wirtschaftsfragendiskutiert werden. Wie lassen sich Ethik und Ökonomie vermitteln? Im 3.Abschnitt sollen daraufhin die hermeneutischen und argumentativen Ansätzevon Clodovis Boff und Enrique Dussel aufgegriffen werden, die eineAnfrage von unten o<strong>der</strong> von außen an das Wirtschaftssystem sozialethischqualifizieren. Hier ist auch <strong>der</strong> Ort, die politische Ökonomie alseine ethisch gehaltvolle und politisch praktikable Alternative darzustellen.<strong>Die</strong>se Ansätze treffen sich im 3. Abschnitt mit <strong>der</strong> innerbiblischen dynamischenHermeneutik unter dem Gesichtspunkt einer Option für die Armen.<strong>Die</strong> Abschnitte 4, 5 und 6 befragen die <strong>Tora</strong>tradition nach den einzelnenElementen ihrer Wirtschaftsethik. Welche wirkungsgeschichtlichenFolgen hatte die <strong>Tora</strong>tradition? Wie beerben die Kirchen diese wirtschaftsethischrelevanten Traditionen in ihren Verlautbarungen und Erklärungen?Ökonomie und Ethik sind immer schon real vermittelt; siemüssen nicht erst im nachhinein vermittelt werden. Welche implizitenEthiken finden sich in den Wirtschaftskonzepten und Wirtschaftspolitiken?Welche sollten verstärkt, welche zurückgedrängt werden? Wiediese Vermittlung von Ethik und Ökonomie in <strong>der</strong> Theorie zweier alternativermarktwirtschaftlicher Konzepte erfolgt, soll im 8. Abschnitt dargestelltwerden. Am Beispiel <strong>der</strong> Begründungen des Wirtschaftsstils <strong>der</strong>Sozialen Marktwirtschaft wird herausgearbeitet, daß ausdrücklich eineethische, ja sogar explizit biblische Fundierung dieses Wirtschaftsstilsgesucht wurde. Das Gegenkonzept in Gestalt <strong>der</strong> neoliberalen Marktwirtschaftbedient sich ebenfalls in auffallen<strong>der</strong> Weise theologischer und religiöserBegriffe. Im 9. Abschnitt werden sechs wirtschaftsethische Impulsedargestellt, die wirtschaftsethische Einsichten <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>tradition mit26


gegenwärtigen Wirtschaftsfragen in Beziehung setzen und Umrisse einerlebensdienlichen Ökonomie beschreiben. Je<strong>der</strong> einzelne <strong>der</strong> wirtschaftsethischenImpulse hätte es verdient, zum Gegenstand einer Einzeluntersuchunggemacht zu werden, eine solche detaillierte Behandlung jedochkonnte nicht das Ziel <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit sein.27


ERSTER TEILZUM VERHÄLTNIS VON ETHIK UND ÖKONOMIE29


1. VOM GARSTIGEN GRABEN ZWISCHEN GALILÄAUND DEM GLOBALEN MARKT1.1 Wirtschaftsethik als KrisenindikatorGegenwärtiges Wirtschaften ist zum Problem geworden. “<strong>Die</strong> Utopie, von<strong>der</strong> die Industriegesellschaften seit zwei Jahrhun<strong>der</strong>ten zehrten, geht inStücke.” 18 Das schrieb André Gorz im Epochenjahr 1989. Aber sein Urteilbezieht sich nicht auf den Nie<strong>der</strong>gang des real existierenden Sozialismus.Gemeint war vielmehr von André Gorz jene dem Kapitalismuswie dem Sozialismus gleichermaßen zugrundeliegende Vorstellung <strong>der</strong>Arbeitsgesellschaft, in <strong>der</strong> alle auf <strong>der</strong> Basis von Erwerbsarbeit Anteil amWohlstand haben können. <strong>Die</strong>se Utopie <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne hat sich blamiert.<strong>Die</strong> zentralen Herausfor<strong>der</strong>ungen, denen sich die Menschheit zum Endedes 2. Jahrtausends gegenübergestellt sieht, resultieren zu einem nichtgeringen Teil aus menschlichem Handeln. Wenn national und weltweitweiter so gewirtschaftet wird wie bislang, steht ein ökologischer, aberauch ein sozialer Kollaps bevor. <strong>Die</strong> Schere zwischen Arm und Reichgeht innerhalb Deutschlands, zwischen Ost und West und erst recht zwischenNord und Süd rasant auseinan<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> ökonomische und sozialePolarisierung verläuft längst nicht mehr entlang <strong>der</strong> Grenzen zwischendem globalen Norden und dem globalen Süden, son<strong>der</strong>n quer durch dieGesellschaften im Norden und im Süden. Aus dem Traum <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nevon Fortschritt, Entwicklung und naturwissenschaftlicher Beherrschung<strong>der</strong> Welt wird ein Alptraum: <strong>Die</strong> Grundlagen <strong>der</strong> Existenz selber stehenauf dem Spiel. Der Soziologe Ulrich Beck charakterisiert die fortgeschritteneMo<strong>der</strong>ne als eine “Risikogesellschaft”, denn die gesellschaftlicheEntwicklung in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne geht “systematisch einher mit <strong>der</strong> gesellschaftlichenProduktion von Risiken.” 19 <strong>Die</strong> ärgste Not droht nun mitten18 A. Gorz, Kritik <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft, Berlin 1989, 23.19 U. Beck, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine an<strong>der</strong>e Mo<strong>der</strong>ne, Frankfurt 1986, 25.30


in einer Welt, die bis in die natürlichen Grundlagen hinein ein Werk vonMenschenhand ist.Angesichts des sozialen und ökologischen Desasters, in das die fortgeschritteneMo<strong>der</strong>ne geraten ist, verwun<strong>der</strong>t es nicht, daß die Fragenach <strong>der</strong> Ethik des Wirtschaftens gestellt wird. Otfried Höffe spricht von“Moral als einem Preis <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne” 20 . Doch diese allgemeine geistesundkulturgeschichtliche Signatur <strong>der</strong> Zeit allein drängt noch nicht zurSuche nach einer Ethik des Wirtschaftens. Es sind vielmehr auch die bisin die Alltagswelt hineinreichenden Krisenerfahrungen, die nach <strong>der</strong> Ethikdes Wirtschaftens fragen lassen. Das Unbehagen an einer Wirtschaftohne Moral und auch an einer Wirtschaftswissenschaft, die sich ethikundwertneutral glaubt, wächst. 21So steigt die Nachfrage nach Wirtschaftsethik. 22 Karl Homann deutetdas wachsende Interesse an Wirtschaftsethik im Lexikon <strong>der</strong> Wirtschaftsethikfolgen<strong>der</strong>maßen: “<strong>Die</strong> mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftsethik läßt sichals Reflex des wachsenden Verlangens verstehen, das wirtschaftlicheHandeln wie<strong>der</strong> stärker an moralischen Idealen wie Humanität, Solidaritätund Verantwortung zu orientieren.” 23 Ökonomisches Handeln hat sichdemnach zunehmend von humanen und sozialen Werten abgekoppelt.Das Anliegen von Wirtschaftsethik ist es deshalb, Ökonomie erneut ineinen engeren Zusammenhang mit Ethik zu bringen.In <strong>der</strong> Wirtschaftsethik überschneiden sich die sozialethische Dimension,die nach <strong>der</strong> strukturellen Ordnung fragt, und die individualethische,20O. Höffe, Moral als Preis <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt,Frankfurt 1993.21Nach einer Untersuchung <strong>der</strong> WirtschaftsWoche hatten im August 1994 noch 53% eine guteMeinung vom Wirtschaftssystem <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, Ende 1996 waren es geradenoch 40%. Spiegelbildlich stieg die Zahl <strong>der</strong>er, die keine gute Meinung vom System hatten, von23% auf 29%. <strong>Die</strong> WirtschaftsWoche spricht von einem “besorgniserregenden Ergebnis” ( WirtschaftsWocheNr.4 vom 16.1.1997, 25ff.). Vgl. die Ausführungen in: F. <strong>Segbers</strong>, RheinischerKapitalismus o<strong>der</strong> amerikanischer Kapitalismus? “... <strong>der</strong> regulativen Idee <strong>der</strong> Gerechtigkeit denAbschied geben.” in: M. Huhn u. W. Sohn u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. Beiträgezum Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Bochum 1997, 11-16.22 Vgl. u.a. F. Hengsbach, Interesse an Wirtschaftsethik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften1988, 127-150; <strong>der</strong>s., Wirtschaftsethik. Aufbruch - Konflikte - Perspektiven, Freiburg1991; A. Rich, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Bd.1, Gütersloh1984; <strong>der</strong>s., Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischerSicht, Bd. 2, Gütersloh 1991; Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspraxis, Göttingen1994; H. <strong>Die</strong>ffenbacher u. E. Müller, Wirtschaft und Ethik. Eine kommentierte Bibliographie(Texte und Materialien <strong>der</strong> FEST), Heidelberg Bd. 1, 1992; Bd. 2, 1994; K. Homann, F.Blome-<strong>Dr</strong>ees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen, 1992, vgl. den Literaturbericht:E. Stübinger, Wirtschaftsethik I., in: Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 148ff.; II. in:Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 226ff.;23K. Homann, Art. Wirtschaftsethik, in: Lexikon <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, hg. von G. En<strong>der</strong>le u.a.,Freiburg 1993, Sp. 1287.31


die nach <strong>der</strong> ethischen Verantwortung <strong>der</strong> Akteure fragt. SozialethischeGesichtspunkte rücken zwar in den Vor<strong>der</strong>grund, ohne jedoch individualethischezu verdrängen. Wirtschaftsethik reflektiert das Handeln <strong>der</strong> Akteureinnerhalb <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung und die Gestaltung <strong>der</strong> Wirtschaftsordnungdurch die Akteure. <strong>Die</strong> ethische Frage wird überall dortgestellt, wo sich das Handeln o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> Zustand von Institutionennicht mehr unbefragt von selber versteht, son<strong>der</strong>n nach seiner Legitimationbefragt wird.Wirtschaftsethik reflektiert das Aufeinan<strong>der</strong>treffen von strategischerRationalität <strong>der</strong> Ökonomie und ethischer Vernunft. Welche Rationalitätgibt in diesem Konflikt den Ausschlag? Können beide Rationalitäten zumZug kommen? Arthur Rich versteht die Wirtschaftsethik als eine Anwendungsozialethischer Fragestellungen, Gesichtspunkte und Prinzipien aufdie wirtschaftlichen Probleme. 24 Ohne Sachkenntnis jedoch verliere dieEthik jede Legitimität, zur Sache zu reden. Doch das Spezifikum <strong>der</strong>Wirtschaftsethik bestehe gerade darin, “bei aller Sachbezogenheit beharrlichund unerbittlich nach dem Menschengerechten im Sachgemäßenzu fragen” 25 . Das Sachgemäße darf nicht das leitende o<strong>der</strong> einzigePrinzip sein, son<strong>der</strong>n ist an das Menschengerechte zu binden. ArthurRich nennt die Wirtschaftsethik deswegen auch das ihrer Bedeutung undKomplexität nach “wohl wichtigste und auch schwierigste Teilgebiet <strong>der</strong>Sozialethik.” 26In den Wirtschaftswissenschaften und den Unternehmen selber wirddie Frage nach ethischer Orientierung gestellt. Mit dem Austreten <strong>der</strong>Ökonomie aus dem Gehäuse <strong>der</strong> Praktischen Philosophie und <strong>der</strong>Herausbildung als selbständiger Wissenschaft während des Übergangsvom 18. zum 19. Jahrhun<strong>der</strong>t wurde die sozialethische Frage nach demgerechten Wirtschaften ausgeklammert. Als autonome Wissenschaftglaubte die Ökonomie nur zu lange, daß Ethik nicht zum Thema <strong>der</strong>Ökonomie gehöre. Wirtschaften wurde allein auf seine Effizienzfunktionreduziert.<strong>Die</strong> Akteure <strong>der</strong> Wirtschaft selber befinden sich in einer Legitimationskrise.Sie erleben nicht selten leidvoll den Zwiespalt zwischen jenenNormen und Werten, die im familiären, privaten o<strong>der</strong> gesellschaftlichenBereich Geltung besitzen, und denen, die in Betrieb und Unternehmenfunktional sind und eingefor<strong>der</strong>t werden. 27 Von Wirtschaftsethik zu spre-24 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 67.25 Ebd. 73.26 Ebd. 67.27Vgl. P. Ulrich u. U. Thielmann, Wie denken Manager über Markt und Moral? In: J.Wieland,Wirtschaftsethik und Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft, Frankfurt 1993, 54-91; R.N. Bellah u. R. Madsenu.a., Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in <strong>der</strong> amerikanischen Ge-32


chen, hat zur Voraussetzung, daß es überhaupt einen verantwortbarenBereich wirtschaftlichen Handelns gibt, und geht von Wirtschaften als einemwertenden Entscheiden aus, das wie alles Urteilen nicht ohne Kriterienauskommt. Der Philosoph Otfried Höffe hat im Zusammenhang seinerkritischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> Theorie sittlicher Urteilsfindungvon Heinz Eduard Tödt 28 zu Recht erklärt: “Mit <strong>der</strong> Art <strong>der</strong> höchstenPrinzipien und Kriterien entscheidet es sich, ob es tatsächlich um sittlicheund nicht um wirtschaftliche, rechtliche o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Urteilsfindunggeht.” 29 Welche Prinzipien und Kriterien sind es aber, die eine wirtschaftlicheEntscheidung o<strong>der</strong> Urteilsfindung zu einer ethischen machen? Wielassen sich wirtschaftliche Probleme als ethische behandeln? Zusätzlichmuß eine theologische Ethik fragen: Welche ethischen Prinzipien, Kategorienund Kriterien machen eine ethische Urteilsfindung zu einer spezifischtheologischen?1.2 <strong>Die</strong> Bibel zu Rate ziehen?Das Menschengerechte an das wirtschaftlich Sachgemäße zu binden, istnach Arthur Rich das Spezifikum einer Wirtschaftsethik. 30 Das Menschengerechteist eine normative Kategorie, die zur Sprache bringen will,wie etwas sein o<strong>der</strong> sich verhalten müßte, damit es nicht nur sachgemäßund mithin praktikabel ist, son<strong>der</strong>n auch dem Menschen gerecht werdenkann. <strong>Die</strong> formale Wertkategorie menschengerecht reicht jedoch nichtaus. Sie ist mit einem materialen Gehalt zu bestimmen und zu konkretisieren.Welchen Beitrag kann <strong>der</strong> Rückgriff auf die biblische Tradition in<strong>der</strong> wirtschaftsethischen Reflexion für die Klärung dessen leisten, waseine menschen- und sachgerechte Ordnung <strong>der</strong> Wirtschaft genannt werdenkönnte? O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gefragt: Läßt sich aus dem Umgang <strong>der</strong> Bibelmit <strong>der</strong> Ökonomie ihrer Zeit etwas lernen für den Umgang mit wirtschaftlichenFragen des gegenwärtigen globalen Marktes? 31sellschaft, Köln 1987; F.X. Kaufmann u. W. Kerber u. P. Zulehner (Hg.), Ethos und Religionbei Führungskräften, München 1986.28 H. E. Tödt, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in: <strong>der</strong>s., Perspektiven theologischerEthik, München 1988, 21-48.29 O. Höffe, Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme <strong>der</strong> praktischen Philosophie, Frankfurt1979, 401.30 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 76-104.31 K. Füssel und ich haben einen Sammelband herausgegeben, <strong>der</strong> wirtschaftsethisch relevante biblischeTraditionen behandelt. K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des ErdkreisesGerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern, Salzburg 1995. In einemSchlußbeitrag habe ich versucht, Folgerungen aus den exegetischen Untersuchungen für einebiblisch grundgelegte Wirtschaftsethik zu formulieren. <strong>Die</strong> vorliegende Arbeit nimmt diesenAnsatz auf. F. <strong>Segbers</strong> “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” (Jes 26,9) Bibel -33


Auch wenn die Bibel nicht die einzige Erkenntnisquelle für den Christendarstellt, ist sie dennoch norm- und formgebend für die christlicheEthik. James M. Gustafson beschreibt den Ort des Schriftarguments in<strong>der</strong> theologischen Ethik: “<strong>Die</strong> Schrift allein ist nie endgültige Berufsinstanz<strong>der</strong> christlichen Ethik, (...) bietet jedoch die grundlegende Orientierungfür bestimmte Urteile.” 32 Wie kann sich <strong>der</strong> Prozeß zwischen Bindungan die Schrift und Reaktion auf neue Situationen vollziehen? <strong>Die</strong>biblischen Traditionen erzählen, daß die Humanität als Gottes Gebot undAngebot mit dem zusammenfällt, was sich ganz allgemein mit dem Begriffdes Menschlichen verbindet: Hungernde speisen, Dürstende laben,Fremde beherbergen (vgl. Mt 25). Arthur Rich zieht aus dieser Beobachtungdie Folgerung: “Und insofern, das heißt jetzt unter dem Aspekt <strong>der</strong>normativen Konkretisierung gesehen, gibt es keine spezifisch christliche,son<strong>der</strong>n nur eine menschliche Humanität.” 33Ja, lohnt es sich dann überhaupt, nach den Einsichten <strong>der</strong> Bibel fürden Umgang mit Ökonomie zu fragen, zumal das Evangelische Soziallexikondie lapidare Auskunft gibt: “Wesentliche Themen wie Wirtschaftund Kultur fehlen im NT ganz.” 34 Ob aber vielleicht die Hebräische Bibelfür eine wirtschaftsethische Urteilsbildung hilfreich sein könnte, fragt manbezeichnen<strong>der</strong>weise erst gar nicht.Bis auf wenige Ausnahmen ist die bibeltheologische Begründung <strong>der</strong>Wirtschaftsethik kein beson<strong>der</strong>s behandeltes Thema. Hingewiesen seiauf zwei Ansätze, die zu gegenteiligen Folgerungen gelangen: Nach EilertHerms ist ein positiver und unabdingbarer Begründungszusammenhangzwischen biblischer Tradition und theologischer Wirtschaftsethikgerade für eine theologische Wirtschaftsethik spezifisch undnotwendig. 35 André Habisch hingegen lehnt einen unmittelbaren Geltungsanspruchbiblischer Begründungen in seinem Beitrag ab, in dem erim Rahmen einer interdisziplinären Methodologie <strong>der</strong> Wirtschaftsethiknach dem Beitrag einer christlichen Sozialethik fragt, die sich biblischbegründet. “Wo etwa die Grundaxiome biblisch-christlicher Sozialtheorieals unmittelbarer Gestaltungsanspruch interpretiert und gegen bestimmtegesellschaftliche Entwicklungen in Stellung gebracht werden, da fällt min-Ökonomie -Ethik, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreis Gerechtigkeit.”287-330.32 J. Gustafson, Der Ort <strong>der</strong> Schrift in <strong>der</strong> christlichen Ethik. Eine methodologische Studie, in: H.G.Ulrich (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben,München 1990, 279.33 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1,127.34 G. Jeremias, Art. Bibel, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl. Stuttgart, 1981, Sp.178.35 E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 103.34


destens ein wichtiger Vermittlungsschritt aus.” 36 Können diese Vermittlungsschrittegeleistet werden o<strong>der</strong> stehen ihnen grundsätzliche Bedenkenentgegen?Der Weg <strong>der</strong> Vermittlung von <strong>der</strong> biblischen Tradition zur wirtschaftsethischenUrteilsfindung ist keineswegs eindeutig. Zur Diskussion stehtzunächst, ob überhaupt ein Rückbezug zur biblischen Tradition möglichund nötig sei. Hans G. Ulrich unterstreicht zwar die Bedeutung biblischerPerspektiven für die Identität christlicher Ethik. “Zur Praxis evangelischerEthik gehört paradigmatisch <strong>der</strong> Gebrauch <strong>der</strong> Schrift. Er ist für sie invielfältiger Weise prägend und leitet ihre Geschichte in <strong>der</strong> Weise, daßdie evangelische Ethik im Schriftgebrauch immer wie<strong>der</strong> die Freiheit ihresUrteils vollzieht, die ihr zukommt.” 37 Ein auch nur oberflächlicher Blickin die theologischen Wirtschaftsethiken belegt, daß dieser “paradigmatischeGebrauch <strong>der</strong> Schrift” tatsächlich kaum erfolgt. Biblisch begründeteArgumentationen o<strong>der</strong> Urteilsbildungen sind in den Wirtschaftsethikenselten, allenfalls begegnet man einem “Biblizismus höherer Ordnung” 38 ,wie Trutz Rendtorff anmerkt. Man wehre sich sogar - so Christofer Frey -“gegen eine prophetische und auch biblische Kurzschlüssigkeit in <strong>der</strong>Ethik.” 39 Falls biblische Bezüge herangezogen werden, ist die Schriftstellenauswahlhäufig genug tendenziös und allenfalls durch Stichworte geleitet.<strong>Die</strong> Bewertung <strong>der</strong> biblischen Texte sieht fast ausnahmslos vonsozialgeschichtlichen Zusammenhängen ab. Nicht selten werden zufälligesozial- und wirtschaftsethisch relevante Aussagen <strong>der</strong> biblischen Traditionzudem in einer exegetisch nicht zu verantwortenden Weise systematisiertund harmonisiert. <strong>Die</strong> theologischen Ethiker beziehen sich entgegeneiner oft gehegten Vermutung in ihren Begründungen gar nicht sohäufig auf die biblische Tradition. Zwischen dem normativen Anspruchauf Schriftgemäßheit und <strong>der</strong> faktischen Verfahrensweise in <strong>der</strong> theologischenEthik besteht eine Kluft.1.2.1 Das Autoritätsargument <strong>der</strong> Bibel36 A. Habisch, Christliche Wirtschaftsethik - eine Jeremiade <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne? Theologische Grundlegungund interdisziplinäre Methodologie, in: M. Heimbach-Stein, A. Lienkamp, J. Wiemeyer(Hg.), Brennpunkt Sozialethik. Theorien, Aufgaben, Methoden, Festschrift für <strong>Franz</strong> Furger,Freiburg 1995, 211.37 H.G. Ulrich, Zur Einführung: Theologische Verständigung über Ethik, in: <strong>der</strong>s. (Hg.), EvangelischeEthik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München 1990, 23.38 So T. Rendtorff, Historische Bibelwissenschaft und Theologie. Ihr Verhältnis im Zusammenhangdes neuzeitlichen Christentums, in: H.J. Birkner, D. Rößler (Hg.), Beiträge zur Theorie des neuzeitlichenChristentums, Berlin 1968, 85.39 Chr. Frey, Vernunftbegründung in <strong>der</strong> Ethik. Eine protestantische Sicht, in: Zeitschrift für evangelischeEthik 37 (1993) 22.35


<strong>Die</strong> Frage nach <strong>der</strong> Bedeutung biblischer Traditionen und biblischer Kategorienfür heutige Fragestellungen <strong>der</strong> Ökonomie hat entscheidend mitdem Problem <strong>der</strong> Übertragbarkeit zu tun. Biblische Texte entstammeneiner fremden Gesellschaft, Ökonomie und Kultur. Wie kann die Kluftzwischen <strong>der</strong> Gesellschaft des Alten Israels und <strong>der</strong> heutigen Gesellschaftüberbrückt werden? Zwei grundsätzlich verschiedene Positionenlassen sich unterscheiden. <strong>Die</strong> eine Position besteht in einem Biblizismus,<strong>der</strong> glaubt, daß die Bibel ohne weiteres einen verläßlichen Wegweiserbei Fragen <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung abgeben kann. In <strong>der</strong> OxfordErklärung - Christlicher Glaube und Wirtschaft (1990) heißt es: “Wir erklären,daß die Heilige Schrift, das Wort des lebendigen und wahren Gottes,unsere höchste Autorität in allen Fragen des Glaubens und Handelnsist. Deshalb wenden wir uns an sie als einen verläßlichen Wegweiserbei Fragen des wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lebens. AlsÖkonomen und Theologen wollen wir Theorie und Praxis dem Urteil <strong>der</strong>Heiligen Schrift unterwerfen.” 40In <strong>der</strong> Oxford-Erklärung stellen evangelikale Ökonomen und Theologenein “Ausmaß an Einigkeit in den komplexen Wirtschaftslagen unsererZeit, das durch unser gemeinsames Bekenntnis zum Glauben an unserenHerrn Jesus Christus ermöglicht wurde” 41 , fest. Zwischen Bibelund neuzeitlicher Ökonomie besteht nach ihrer Überzeugung kein Wi<strong>der</strong>spruch.Falls es zu Spannungen kommt, dann sei es richtig, sich an<strong>der</strong> Bibel zu orientieren. <strong>Die</strong> Bibel ist höchste Autorität und gilt deshalbauch als ein “verläßlicher Wegweiser”. Auf welche Fragestellungen undProbleme weist <strong>der</strong> “Wegweiser” hin, und welchen Beitrag zur Lösungdieser Herausfor<strong>der</strong>ungen gibt er? Der Verweis auf die Autorität <strong>der</strong> Bibelverdrängt das entscheidende hermeneutische Problem lediglich, löstdeshalb nicht die Frage nach <strong>der</strong> Relevanz. Das Autoritätsargument ersetztdas Sachargument.1.2.2 <strong>Die</strong> historische Distanz zur Bibel<strong>Die</strong> Aussagen zu Wirtschaft und Arbeitswelt seien antiquiert, lautet dieGegenposition. Enttäuscht mußte <strong>der</strong> sozial engagierte Theologe FriedrichNaumann nach einer Palästinareise resümieren: “Ich habe vor <strong>der</strong>Palästinareise das Neue Testament mit den Augen eines Deutschen fürDeutschland gelesen, es gehört aber nach Galiläa.” 42 “Wir wollten Jesus40 Oxford-Erklärung “Christlicher Glaube und Wirtschaft”, EMW - Information Nr. 88 vom August1990, 3. Im folgenden zitiert nach <strong>der</strong> Ausgabe: H. Sautter, M. Volf, Gerechtigkeit, Geist undSchöpfung. <strong>Die</strong> Oxford-Erklärung zu Fragen von Glaube und Wirtschaft, Wuppertal 1992, 8.41 Oxford-Erklärung “Christlicher Glaube und Wirtschaft”, Präambel, 7.42 F. Naumann. Brief über Religion, in: <strong>der</strong>s., Gesammelte Werke, Bd. 1, Köln 1964, 547.36


einfach als hohen und obersten Anwalt mo<strong>der</strong>ner Wirtschaftsbestrebungenverwenden. Jedesmal aber, wenn wir nur ernstlich versuchten, bestimmteFor<strong>der</strong>ungen aus dem Evangelium abzuleiten, versagte es. DasEvangelium war eben galiläisch.” 43 Ernst Troeltsch spricht von einer eherökonomischen Dürftigkeit des Evangeliums: “Das wirtschaftliche Lebenwird mit einfachster Kindlichkeit als eine Angelegenheit des Tages betrachtet,wo man Gott für den kommenden Tag sorgen lassen will.” 44Falk Wagner registriert ebenfalls eine tiefe Kluft zwischen <strong>der</strong> sozialenWelt <strong>der</strong> Bibel und <strong>der</strong> heutigen Gesellschaft. Es herrsche ein tiefer Abstand,den Theodor W. Adorno so beschrieben hat: “Der Begriff des täglichenBrotes, erzeugt aus <strong>der</strong> Erfahrung des Mangels in einem Zustandungewisser und unzureichen<strong>der</strong> materieller Produktion, läßt sich nichteinfach übertragen auf die Welt <strong>der</strong> Brotfabriken und <strong>der</strong> Überproduktion,in <strong>der</strong> die Hungersnöte Naturkatastrophen <strong>der</strong> Gesellschaft sind undeben keine <strong>der</strong> Natur.” 45 <strong>Die</strong> normative For<strong>der</strong>ung, eine Theologieschriftgemäß zu konzipieren, erweise sich deshalb als faktisch undurchführbar,weil entscheidende sozialethische Themen in den biblischenSchriften fehlten. Es bestehe also eine “Kluft zwischen <strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>tenNormativität des Schriftgebrauchs und ihrer faktischen Undurchführbarkeit”46 .<strong>Die</strong> neutestamentliche Ethik schließe bereits vom Ansatz her die hermeneutischeFrage nach <strong>der</strong> Übertragbarkeit biblischer Normen aus, so<strong>der</strong> Sozialethiker und Neutestamentler Hans-<strong>Die</strong>trich Wendland: Das Urchristentumhätte kein Interesse an gesellschaftlichen Gestaltungsfragengehabt, son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Naherwartung aus einer “eschatologischenEthik” 47 gelebt, welche Fragen über die politische und gesellschaftlicheGestaltung vernachlässigt habe. Der jüdische Autor J. Lewkowitz kanndeshalb gerade auf dem Hintergrund einer positiven Wertung von Arbeitund Wirtschaft im Judentum über das Christentum sagen: “Im Evangeliumherrscht die Erwartung des Weltuntergangs; damit ist alles Erwerbslebendes Menschen und jede berufliche Tätigkeit bedeutungslosgeworden.” 4843 Ebd. 608.44E. Troeltsch, <strong>Die</strong> Soziallehren <strong>der</strong> christlichen Kirchen und Gruppen (1912), Bd. 1, Tübingen1994, 46.45Th.W. Adorno, Vernunft und Offenbarung, in: <strong>der</strong>s., Stichworte. Kritische Modell 2, Frankfurt1969, 27f., zit. in: F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in:<strong>der</strong>s., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 79.46 F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, 79.47 H.-D. Wendland, Ethik des Neuen Testaments, NTD-Ergänzungsreihe 4, Göttingen 1970, 5.48 J. Lewkowitz, Arbeit, in: S. Bernfeld, <strong>Die</strong> Lehren des Judentums nach den Quellen, Berlin 1929,Bd.V, 177, zit. in: W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel. Eine Grundlegung evangelischerEthik, Stuttgart 1954, 12.37


Eine weitere Variante, die sich auf eine wenn auch an<strong>der</strong>e Art vonAntiquiertheit bezieht, ist mit <strong>der</strong> sozialethischen Argumentation <strong>der</strong> Eigengesetzlichkeit<strong>der</strong> Ökonomie angesprochen. Alfred de Quervin gehtvon dieser Eigengesetzlichkeit <strong>der</strong> Welt aus, wenn er “zwischen GottesGebot und dem Gesetz <strong>der</strong> Arbeit, dem Gesetz des wirtschaftlichen Lebens”49 unterscheidet. Darin komme eine <strong>Prof</strong>anisierung des Staates unddes gesellschaftlichen Lebens, aber auch ein Schutz vor <strong>der</strong> <strong>Prof</strong>anisierungdes Wortes Gottes zum Ausdruck. “So ist das profane, eigengesetzlicheDenken geboren aus <strong>der</strong> Furcht vor <strong>der</strong> <strong>Prof</strong>anisierung desgöttlichen Rufes, des Gebotes Gottes.” 50 Angesprochen ist das, was Alfredde Quervin “die Furcht vor <strong>der</strong> Theokratie” nennt. <strong>Die</strong> Befreiung desStaates, des gesellschaftlichen Lebens und auch <strong>der</strong> Ökonomie von <strong>der</strong>Dominanz göttlicher Gebote, o<strong>der</strong> konkret: die Ablösung <strong>der</strong> Ökonomievon <strong>der</strong> Ethik, ist geschichtlich gewiß als ein Fortschritt zu werten. Mit <strong>der</strong>Ablösung <strong>der</strong> Ökonomie aus ethischen Vorgaben kam es zu einer Ausdifferenzierunggesellschaftlicher Subsysteme und gleichzeitig auch zueiner wachsenden Bedeutung des Subsystems Wirtschaft. <strong>Die</strong>se Befreiung<strong>der</strong> Ökonomie führte zweifelsohne zu einem historisch einmaligenWachstum von Produktion und Reichtum, von technischem und wissenschaftlichemFortschritt. <strong>Die</strong> Kehrseite dieses Emanzipationsprozessesjedoch ist ebenfalls unübersehbar: Ökonomie meinte ethikfrei sein zukönnen. <strong>Die</strong> Folgen ethikfreien Wirtschaftens sind unübersehbar: <strong>Die</strong>seArt zu Wirtschaften gefährdet mittlerweile die natürlichen Lebensgrundlagenselbst. Deshalb ist die Ablösung <strong>der</strong> Ökonomie von <strong>der</strong> Ethik allenfallsnur ein relativer Fortschritt. Wie kann eine “Reethisierung <strong>der</strong> Ökonomie”51 aussehen, die nicht hinter den erreichten Stand <strong>der</strong> Autonomiezurückfällt? Welche Art von Autonomie aber muß revidiert werden? Wiekann eine Reethisierung <strong>der</strong> Ökonomie über den erreichten Stand <strong>der</strong>Autonomie so hinausführen, daß die positiven Effekte <strong>der</strong> Trennung vonEthik und Ökonomie nicht zurückgenommen, die negativen Effekte aberzurückgedrängt werden?<strong>Die</strong> bislang genannten Äußerungen kommen zu diesem Schluß: <strong>Die</strong>mo<strong>der</strong>ne Industriegesellschaft und die antike Gesellschaft des Alten Israelsind Kulturen und Gesellschaften, die so weit voneinan<strong>der</strong> getrenntsind, daß <strong>der</strong> “garstige Graben”, <strong>der</strong> Ökonomie und Gesellschaft des AltenIsrael von mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaften trennt, nicht übersprungenwerden kann. Aber nicht nur dieser Tatbestand des gesellschaftli-49A. de Quervin, Ruhe und Arbeit. Lohn und Eigentum. Ethik II, 3. Bd., Zollikon-Zürich 1956,148.50 Ebd. 148.51P. Ulrich, Transformation ökonomischer Vernunft. Fortschrittsperspektiven <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaft,3. Aufl. Bern - Stuttgart - Wien 1993, 343.38


chen und ökonomischen Abstandes, eben jene Antiquiertheit, sprichtnach <strong>der</strong> Meinung <strong>der</strong> genannten Autoren gegen einen Rückbezug aufbiblische Traditionen. Darüber hinaus sei zu fragen: Gibt es überhauptInhalte <strong>der</strong> biblischen Ethiktradition, die relevant sind für Fragestellungenund Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Gegenwart?1.2.3 Motivationskraft biblischer TraditionenEine Position wendet sich gegen einen inhaltlichen Rückbezug auf diebiblische Überlieferung überhaupt: Der Glaube motiviere zum Handeln,und materialethische Normen seien nicht deduktiv aus <strong>der</strong> biblischenÜberlieferung abzuleiten, son<strong>der</strong>n nur aus <strong>der</strong> Vernunft zu begründen. Inseinem Beitrag zu den Strukturen einer neutestamentlichen Ethik hatGeorg Strecker ausgeführt, daß eine materialethische Erwartung an dieBibel überhaupt nicht gestellt werden dürfe. Seine These lautet, daß die“Frage nach <strong>der</strong> „Christlichkeit‟, d.h. nach dem „proprium‟ <strong>der</strong> neutestamentlichenEthik nicht durch einen materialethischen Vergleich zu beantworten”52 sei. Spezifisch christlich sei nur die “christliche Motivation”,welche “die vergebende und befreiende Kraft von Kreuz und AuferstehungJesu Christi zugleich als Ermutigung zu neuem ethischen Tun” 53lebendig werden lasse. Martin Honecker unterstreicht ebenfalls, daß einProprium evangelischer Sozialethik “nicht in den Gehalten sozialen Handelnsund in gesellschaftlichen Entwürfen zu suchen ist.” 54 Er begründetdiese Auffassung mit einem Verweis auf Jesus, <strong>der</strong> “nicht eine Gesinnungerwecken wollte, son<strong>der</strong>n sein Tun und Handeln realisierte denSchalom” 55 . Proprium christlich-ethischen Verhaltens sei es deshalb,“den Schalom exemplarisch zu konkretisieren” 56 . “Das Proprium evangelischerSozialethik ist damit zurückgenommen in die Motivation - <strong>der</strong>Christ handelt aus Glaube, Liebe, Hoffnung.” 57 <strong>Die</strong> Sache <strong>der</strong> evangelischenSozialethik sieht Martin Honecker in <strong>der</strong> Aufgabe, “Anwalt desMenschen gegen gesellschaftliche Zwänge und gesellschaftliche Inhumanitätzu sein.” 58 Normen seien geschichtlich geworden und müßtenmit Hilfe allgemeinerer Normen geprüft werden. Christofer Frey teilt dieseArgumentation, wenn er sagt: “<strong>Die</strong> sog. biblische Begründung läßt sich52 G. Strecker, Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche75 (1978) 136.53 Ebd. 146.54 M. Honecker, Konzept einer sozialethischen Theorie, Tübingen 1971, 53.55 Ebd. 60.56 Ebd. 64.57 Ebd. 67.58 Ebd. 192.39


damit als biblisch-theologische Perspektivierung von Normensystemenerkennen.” 59 Bereits Martin Dibelius mußte angesichts <strong>der</strong> wirtschaftlichenNöte <strong>der</strong> Weltwirtschaftskrise in <strong>der</strong> Weimarer Republik einSchweigen <strong>der</strong> neutestamentlichen Schriften konzedieren: “Das Evangeliumist nicht soziale Botschaft, aber es wirkt als soziale For<strong>der</strong>ung.” 60 Einenzentralen Anspruch jedoch erhebe das Evangelium an die gesellschaftlichenOrdnungen, nämlich den, daß “Gerechtigkeit zu sein” 61 habe.Christofer Frey wendet sich ebenfalls dezidiert gegen eine biblischeBegründung protestantischer Ethik durch eine Deduktion materialer sittlicherNormen aus biblischen Aussagen. Martin Honecker for<strong>der</strong>t Vernunftals Sachkriterium und Maßstab christlichen Weltverhaltens ein. Der Verzichtauf biblische Überlieferungen o<strong>der</strong> Einsichten gilt nicht selten geradezuals Beweis aufgeklärter Vernunft. In neueren Veröffentlichungenbetrachtet Martin Honecker Vernunftargumente in <strong>der</strong> Ethik kritischer undbezieht biblische Perspektiven ein. 62 <strong>Die</strong>se Positionen gehen allesamt imKern davon aus, daß <strong>der</strong> Glaube wohl zum Handeln motiviere, aber dieVernunft diskutiere und entscheide, was zu tun sei. Arthur Rich hat daraufhingewiesen, daß auch ausgehandelte Normen letztlich rational nichtbegründbar seien, weil sie sich immer an letzten Glaubensüberzeugungenorientieren. Vernunft könne also keine Letztbegründung leisten. 631.2.4 Hebräische Bibel und christliche EthikGeorg Wünsch, <strong>der</strong> nach einer Relevanz <strong>der</strong> biblischen Tradition fürwirtschaftsethische Fragestellungen suchte, mußte in seiner 1927 veröffentlichtenEvangelischen Wirtschaftsethik eher ernüchtert das Fazit ziehen:“<strong>Die</strong> Quelle für eine direkte christliche Wirtschaftsethik fließt also imNT sehr spärlich. Von einer Problematik <strong>der</strong> Produktion o<strong>der</strong> Verteilunghören wir überhaupt nichts.” 64 Festzuhalten ist, daß das Urteil von GeorgWünsch sich ausschließlich auf die neutestamentlichen Schriften bezieht.<strong>Die</strong> Hebräische Bibel wurde von ihm zur theologischen Urteilsbildungnicht herangezogen.Der Alttestamentler Eckart Otto spricht zwar von einer “Wirtschaftsethikdes Alten Testaments” 65 . Doch er meint, daß es <strong>der</strong> zeitliche Ab-59 Chr. Frey, Vernunftbegründung in <strong>der</strong> Ethik, 29.60M. Dibelius, Das soziale Motiv im Neuen Testament, in: Kirche, Bekenntnis und Sozialethos.Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1934, 11.61 Ebd. 22.62 M. Honecker, Einführung in die theologische Ethik, Berlin 1990, bes. 357ff.63 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 170.64 G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, Tübingen 1927, 284.65 E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: Informationes Theologiae Europae. Internationalesökumenisches Jahrbuch für Theologie, Bd. 3, Frankfurt 1994, 279 - 289.40


stand nicht erlaube, eine Verbindung zwischen dem Umgang <strong>der</strong> Bibelmit ökonomischen Fragen ihrer Zeit und unseren heutigen Wirtschaftsfragenherzustellen. “<strong>Die</strong> historische Distanz verbietet eine normativeApplikation alttestamentlicher Handlungsanweisungen auf die heutigeGesellschaft.” 66 Trotz dieses Einwands weist Eckart Otto <strong>der</strong> Ethik desAlten Testamentes eine wichtige Funktion im gegenwärtigen universalenDiskurs um die heutige Lebensführung zu. “Dafür spricht, daß die Wurzeln<strong>der</strong> Rationalität mo<strong>der</strong>ner Gesellschaften in <strong>der</strong> rationalisierendenPragmatik des israelitischen Gottes- und Weltverständnisses zu suchensind.” 67 Max Weber hatte den ökonomischen Rationalismus als einKennzeichen des Okzidents und des Kapitalismus ausgemacht, <strong>der</strong> sichaus <strong>der</strong> Rationalisierung <strong>der</strong> jüdischen Religion speist. 68 Eckart Ottoschließt sich Max Weber an, wenn er die entscheidende ethische Fragedarin sieht, “wie die Rationalität des Marktes mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Gerechtigkeitzu vermitteln sei.” 69 Nicht unmittelbare Handlungsanweisungenkönne eine Ethik des Alten Testamentes also ergeben, wohlaber “die Perspektiven <strong>der</strong> kulturhistorischen Bedeutung des alttestamentlichenEthos als Wurzelgrund des Geistes <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne eröffnen.” 70Über den garstigen Graben zwischen <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Bauern, Fischer undLandarbeiter in Palästina, <strong>der</strong> antiken Agrarordnung mit ihren Sklavenund Sklavinnen, den Tagelöhnern und kleinen Handarbeitern, den Händlernund den Nutznießern <strong>der</strong> römischen Besatzung und <strong>der</strong> Welt desmo<strong>der</strong>nen, globalen industriegesellschaftlichen Kapitalismus sieht aberauch Eckart Otto keine gangbare Brücke.Welche Folgerungen lassen sich aus diesen Positionen ziehen? Eszeigt sich erstens eine allgemeine Ernüchterung im Umgang mit biblischenTraditionen in <strong>der</strong> Ethik. Daß diese Traditionen zu den Quellenethischen Urteilens gehören, wird zwar als Erwartung und Anspruch formuliert,doch zugleich wird mit Bedauern konstatiert, daß diese Quelleangesichts neuzeitlicher Fragestellungen - beson<strong>der</strong>s auch <strong>der</strong> Wirtschaftsethik- versiege o<strong>der</strong> allenfalls als Perspektive bei einer rationalenNormenbegründung möglich sei. Fatal wirkt sich dabei zweitens aus, daßvornehmlich prophetische Traditionen <strong>der</strong> Bibel nach ihrer Relevanz füreine theologische Ethik befragt werden. Sie gelten als utopisch, sehr direktund zeitgebunden. Das erschwert zusätzlich eine Übertragung aufan<strong>der</strong>e Verhältnisse. An<strong>der</strong>e biblische Traditionen wie die Gesetzestradi-66 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart/Berlin/Köln 1994, 11.67 Ebd. 11.68 Vgl. M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. 1, Tübingen 1922, 1 - 12, 42-62, 243ff.69 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 11.70 Ebd. 12.41


tion <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> mit ihren Weisungen zu Recht und Gerechtigkeit werdendagegen kaum befragt o<strong>der</strong> rezipiert. Doch gerade diese biblischen Traditionen<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> waren formuliert worden, um mit ihnen Staat und Ökonomiezu machen.In vier Grundmodellen läßt sich <strong>der</strong> Bezug <strong>der</strong> christlichen Ethik auf die<strong>Tora</strong> und die Hebräische Bibel vereinfachend darstellen: 71Das erste Modell ist das antithetische. Das Neue Testament steht ineinem Gegensatz zum Alten. <strong>Die</strong> Hebräische Bibel gilt lediglich als Vorläuferindes Evangeliums. Der Beitrag von André Habisch ChristlicheWirtschaftsethik - eine Jeremiade <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne? kann als ein symptomatischerAnsatz für dieses antithetische Grundmodell gelten. So macht ereinen fundamentalen Gegensatz aus: Mit <strong>der</strong> Hebräischen Bibel sei zwar“Staat zu machen”, mit <strong>der</strong> Bergpredigt jedoch nicht. Aber gerade weildie christliche Botschaft keine Sozialordnung und keinen normativen Gehaltdes alttestamentlichen Gesetzes kenne, eigne sie sich zu einer normativenOrientierung jeglicher Sozialordnung und erhalte gerade dadurcheine universale Geltung. <strong>Die</strong> Hebräische Bibel gilt als zeitgebunden,das Neue Testament dagegen als überzeitlich und deshalb gegenwartsrelevant.Wichtig erscheint ihm, daß “durch die Bewegung von <strong>der</strong>Thora zur Bergpredigt, durch die Transformation von „sozialordnungsfähiger‟in eschatologische Normativität eine entscheidende Differenz zwischenTheologie und Sozialordnung eingetragen wird.” 72 <strong>Die</strong>se Scheidungzwischen Altem und Neuem Testament, zwischen <strong>Tora</strong> und Bergpredigtformuliert einen Gegensatz, <strong>der</strong> theologiegeschichtlich zwar aufeine lange, jedoch längst überwunden geglaubte Tradition verweisenkann: <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> ist nur partikular, das Evangelium aber universal.Das zweite Grundmodell führt die Überbietungsargumentation des erstenModells weiter und versteht das Neue Testament als eine Erfüllungdes Alten. Im Neuen Testament komme das Alte erst zu seiner vollenKlarheit. Im Neuen Testament jedenfalls sei etwas qualitativ Neues gegenüberdem Alten zu erkennen. Eine sozialethische Argumentation, diesich auf dieses Grundmuster bezieht, bekommt folgerichtig nur die neutestamentlichenSchriften in den Blick, wenn nach dem Proprium christlicherEthik gefragt wird. Als typisch für diese Argumentation kann <strong>Die</strong>tzLange in seiner Ethik in evangelischer Perspektive 73 gelten. In JesusChristus sei Gott den Menschen in einer solchen Weise nahegekommen,daß <strong>der</strong> alttestamentliche Bundesgedanke aufgehoben sei. Mit diesemBundesgedanken sei die Zugehörigkeit zum erwählten Volk und auch die71 Vgl. K. Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagen sozialerVerantwortung im jüdisch-christlichen Gespräch, Heidelberg 1999, 41-66.72 A. Habisch, Christliche Wirtschaftsethik - eine Jeremiade <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne? 203.73 D. Lange, Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992.42


Befolgung ethischer und kultischer Gebote als Bedingung für die Teilhabean <strong>der</strong> Gottesherrschaft verbunden. Deshalb gelte: “<strong>Die</strong>se grundlegendeVerän<strong>der</strong>ung im Verständnis des Gottesverhältnisses läßt als unmittelbarenbiblischen Bezugspunkt einer christlichen Ethik nur das NeueTestament zu.” 74 Falk Wagner will die Spannung zwischen dem normativgefor<strong>der</strong>ten und dem faktisch praktizierten Schriftgebrauch durch eineTheorie des Christentums überbrücken. Gemeint ist darin eine deutlicheAbgrenzung von <strong>der</strong> Hebräischen Bibel für die Erfassung des spezifischChristlichen. Das Festhalten an <strong>der</strong> kanonischen Geltung des Alten Testamentssei deshalb “problematisch, weil auf diese Weise das spezifischNeue und Eigentümliche des christlichen Grundgedankens eher verstelltals erhellt wird.” 75 Vorausgesetzt ist eine deutliche Scheidung <strong>der</strong> beidenTestamente. <strong>Die</strong>se Ethikbegründung ist christozentrisch, löst allerdingsJesus von Nazareth aus seinem jüdischen Ursprung und blendet kategorischdas Ganze <strong>der</strong> Bibel aus.Das dritte Modell des Rückbezugs auf die Hebräische Bibel geht selektivmit <strong>der</strong> biblischen Tradition um. Das Neue Testament ist <strong>der</strong> Maßstabzur Beurteilung des Alten: Enthält die Hebräische Bibel Traditionen,die sich mit dem Neuen Testament gut verbinden lassen, dann wird dieTradition gern aufgenommen. Doch keineswegs kann die Tradition <strong>der</strong>Hebräischen Bibel eine Korrektur o<strong>der</strong> Ergänzung des Neuen Testamentssein. Jürgen Becker bestätigt in seinem Beitrag Das Problem <strong>der</strong>Schriftgemäßheit <strong>der</strong> Ethik im Handbuch <strong>der</strong> christlichen Ethik die Aneignungdes Alten Testamentes unter christlichem Vorverständnis: “<strong>Die</strong> Orientierungchristlicher Ethik am AT setzt also das Glaubensverständnisdes Christentum voraus.” 76 <strong>Die</strong> Hebräische Bibel enthält dann kaumTraditionen o<strong>der</strong> Einsichten, die aus sich heraus auch für ein christlichesethisches Urteil bedeutsam sein könnten.Das vierte Grundmodell des Rückbezugs auf die biblische Traditionrespektiert die Bedeutung des Referenzrahmens <strong>der</strong> ganzen Bibel mit ihrenbeiden Testamenten für das ethische Urteil und erfor<strong>der</strong>t hermeneutischeÜbersetzungen. <strong>Die</strong>se gesamtbiblische Orientierung enthält eineEntscheidung zugunsten <strong>der</strong> Sozialtraditionen, die <strong>der</strong> Hebräischen Bibeleigen sind. <strong>Die</strong>se Sozialtraditionen stehen hier nicht unter einem antithetischeno<strong>der</strong> auswählenden Vorzeichen durch die neutestamentlichenSchriften, son<strong>der</strong>n sie sind für sich auch für eine christliche sozialethischeUrteilsbildung relevant. <strong>Die</strong> Hebräische Bibel hält mit ihren Sozial-74 Ebd. 273f.75 F. Wagner, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, 86.76 J. Becker, Das Problem <strong>der</strong> Schriftgemäßheit <strong>der</strong> Ethik, in: A. Herz u. W. Korff u. T. Rendtorffu. H. Ringeling (Hg.), Handbuch <strong>der</strong> christlichen Ethik, Bd. 1, 2. Aufl. Freiburg, Basel, Wien1979, 243f.43


traditionen eine spezifischen Beitrag bereit, <strong>der</strong> um seiner selbst willensozialethisch bedeutsam ist und nicht erst durch neutestamentlicheSchriften begründet und legitimiert werden muß. <strong>Die</strong> gesamtbiblischeOrientierung erinnert die christliche Ethik an den Ursprung des Christentumsin Israel. Klaus Müller wendet sich ausdrücklich gegen einen enteignendenUmgang mit den Traditionen <strong>der</strong> Hebräischen Bibel, sind diesedoch dem Judentum zunächst eigen. “Den an<strong>der</strong>en, die an<strong>der</strong>e Traditionzu hören, ausreden zu lassen und in ihrem Selbstverständnis nichtals defizitär zu beschreiben, son<strong>der</strong>n anzuerkennen - das sind die Koordinateneiner neuen Weise christlichen Umgehens mit Israels <strong>Tora</strong>.” 77<strong>Die</strong>se gesamtbiblische Orientierung findet sich wenigstens in Ansätzen inneueren kirchlichen Äußerungen wie etwa <strong>der</strong> Denkschrift <strong>der</strong> EKD Gemeinwohlund Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortung fürdie Zukunft 78 und im Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen in DeutschlandFür eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit 79 . In <strong>der</strong> Denkschrift<strong>der</strong> EKD Gemeinwohl und Eigennutz heißt es: “<strong>Die</strong> Bibel ist (...) kein Rezeptbuch,aus dem unmittelbare Anweisungen für bestimmte Maßnahmenin Wirtschaft und Politik entnommen werden können” (Ziff. 106).Trotzdem gilt: “Einsichten und Überzeugungen, die sich in <strong>der</strong> Auslegung<strong>der</strong> Bibel gebildet haben, sollen in das Gespräch über Verantwortung in<strong>der</strong> Wirtschaft aufgenommen werden und Perspektiven für das gemeinsameLeben nach Gottes Willen öffnen” (Ziff. 105). <strong>Die</strong> Denkschrift <strong>der</strong>EKD will mit “biblische Motiven und Richtungsimpulsen” (Ziff. 103ff.) Ansätzezur Vermittlung zwischen <strong>der</strong> Bibel und heutigen Wirtschaftsfragenherstellen. Auch das Wirtschafts- und Sozialwort hat diese biblischtheologischeArgumentationslinie aufgenommen. Beide kirchlichen Äußerungenkönnen deshalb als Durchbruch angesehen werden. Sie betrachtendie alttestamentlichen Sozialtraditionen als integralen Bestandteil<strong>der</strong> einen Bibel aus den beiden Testamenten. Unten im Abschnitt 7.soll dieser Ansatz ausführlich dargestellt werden.<strong>Die</strong>ser hermeneutische Ansatz findet einen Rückhalt in <strong>der</strong> Argumentation,die <strong>der</strong> Ökonom Hans Christoph Binswanger vorgelegt hat. Erverweist auf eine Bedeutsamkeit antiker, auch biblischer Einsichten fürden Umgang mit heutigen ökonomischen Fragestellungen. Wie EckartOtto sieht er einen Zusammenhang zwischen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Marktwirtschaftund <strong>der</strong> Ökonomie <strong>der</strong> Antike. Doch während Eckart Otto wegen<strong>der</strong> zeitlichen Distanz keine Möglichkeit sieht, inhaltlich Bezüge für die77 K. Müller, Diakonie im Dialog mit dem Judentum, 77. - <strong>Die</strong>sen Anspruch hat K. Müller eingelöst,indem er den judaistischen Erklärungen <strong>der</strong> sozial relevanten Traditionsinhalte Vorrangeinräumt.78 Gütersloh 1991.79 Hannover, Bonn 1997.44


Ethik auszumachen, betont Hans Christoph Binswanger gerade dieChancen, die mit den antiken Wurzeln <strong>der</strong> gegenwärtigen Ökonomie gegebensind. “Wollen wir unsere heutige Wirtschaft besser verstehen,müssen wir daher zu ihren antiken Wurzeln und zu den äußerst prägnantenund scharfsinnigen Analysen und Vorschlägen <strong>der</strong> damaligen Zeit zurückgehen,um auch von dort Richtlinien für unser eigenes Handeln zugewinnen.” 80 “<strong>Die</strong> Bibel ist in ökonomischer Hinsicht mo<strong>der</strong>n, weil dieWirtschaft, die sie beschreibt, eine Marktwirtschaft ist bzw. sich immerstärker in marktwirtschaftlicher Richtung ausbildet. <strong>Die</strong> Grundlagen dieserMarktwirtschaft sind wie heute: das private Eigentum an den Produktionsmitteln,insbeson<strong>der</strong>e am Boden, und ein weiträumig zirkulierendesGeld, das Waren aus den verschiedensten Gebieten an zentrale Handelsplätzezusammenbringt und austauschbar macht, sowie die Kreditvergabegegen Zins (die allerdings gemäß <strong>der</strong> Bibel unter „Brü<strong>der</strong>n‟ d.h.unter Juden, aber auch nur unter ihnen, verboten war). (...) <strong>Die</strong> Mo<strong>der</strong>nität<strong>der</strong> biblischen Wirtschaft gewinnt zusätzlich an Relief, wenn wir ihr diegriechische, insbeson<strong>der</strong>e die athenische Wirtschaft an die Seite stellen.”81Bei aller Verschiedenartigkeit zwischen <strong>der</strong> Ökonomie <strong>der</strong> Antike und<strong>der</strong> des globalen Marktes liegen demnach bereits in <strong>der</strong> Antike wenigstensim Ansatz jene ökonomischen Marktmechanismen bereit, die auchgegenwärtiges Wirtschaften in seinen Grundvoraussetzungen prägen.Binswanger sieht darin den gemeinsamen Nenner <strong>der</strong> marktwirtschaftlichorganisierten Ökonomien seit ihren Anfängen in <strong>der</strong> Antike: “<strong>Die</strong> Grundstruktur<strong>der</strong> Wirtschaft ist aber seit <strong>der</strong> Antike die gleiche geblieben: Esist die erwerbswirtschaftlich geprägte Geld- und Marktwirtschaft, <strong>der</strong>enTriebfe<strong>der</strong> das Gewinnstreben ist.” 82 <strong>Die</strong> Rezeption biblischer Traditionverschafft nach Binswanger also einen Erkenntnisgewinn und vermittelt80 H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Antike. Zu den ökonomischen Lehren <strong>der</strong> griechischenPhilosphie, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des ErdkreisesGerechtigkeit.” 34. Binswanger stellt die ökonomischen Theorien von Aristoteles, Platon undXenophon vor.81Ebd. 23. Binswanger teilt offensichtlich die Meinung <strong>der</strong> sog. “Mo<strong>der</strong>nisten”, die mit M.I.Rostovtzeff u.a. davon ausgehen, daß die mo<strong>der</strong>ne Entwicklung des Kapitalismus sich von <strong>der</strong>römisch-antiken Welt nur quantitativ, nicht aber qualitativ unterscheide. Vgl. dazu weitere Ausführungenunten in Abschnitt: 4.2.82 Ebd. 34. Traugott Jähnichen lehnt es ab, wirtschaftshistorische Parallelen zwischen den Anfängen<strong>der</strong> Martkallokation in <strong>der</strong> antiken Wirtschaft und <strong>der</strong> gegenwärtigen Situation herzustellen,da die Agrarproduktion in <strong>der</strong> antiken Wirtschaft nur bedingt mit <strong>der</strong> kapitalistischen Marktwirtschaftvergleichbar sei. Ders., Sozialer Protestantismus und mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftskultur, 48.Binswanger jedoch hat einen an<strong>der</strong>en qualitativen Vergleichspunkt, <strong>der</strong> die Ökonomie <strong>der</strong> Antikemit jener <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne verbindet: <strong>Die</strong> Triebfe<strong>der</strong> des Gewinnstrebens, welche die Marktwirtschaftdynamisiert. Nähere Ausführungen dazu unten in den Abschnitten: 4.2.3; 8.2.1; 9.4.1;9.6.1.45


Ansatzpunkte für eine materialethische Orientierung an den Analysenund Vorschlägen aus <strong>der</strong> Zeit antiker Ökonomie. Der Umgang <strong>der</strong> Bibelmit <strong>der</strong> Marktökonomie ihrer Zeit könne für den heutigen Umgang mitÖkonomie bedeutsam sein.Bei Arye Ben-David findet sich ein ähnlicher Zugang zu Schriften ausantiker Zeit. Er sieht in <strong>der</strong> talmudischen Ökonomie eine Mo<strong>der</strong>nität, dieeine Beziehung mit mo<strong>der</strong>nen Wirtschaftsfragen durchaus erlaube, auchwenn dies nicht sein Forschungsinteresse als Historiker sei. In seinerTalmudischen Ökonomie, die sich auf einen Zeitraum vom 2. Jh. v. Chr.bis ins 4. Jh.n. Chr. bezieht, macht er einen Gegenwartsbezug aus, <strong>der</strong>sich aus nicht unähnlichen ökonomischen Strukturen ergebe: “Alle in <strong>der</strong>talmudischen Literatur erwähnten wirtschaftlichen Tatsachen, Vorgängeo<strong>der</strong> Folgerungen stehen niemals im Wi<strong>der</strong>spruch zu Grundregeln undGesetzen unserer mo<strong>der</strong>nen Volkswirtschaftslehre des 20. Jahrhun<strong>der</strong>ts,ja noch mehr, sie bestätigen das Wirken <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen volkswirtschaftlichenGesetze bereits in <strong>der</strong> Periode <strong>der</strong> Mischna und des Talmuds vorrund 1 500 bis 2 000 Jahren. (...) Es kann als feststehende Regel, aufgrund<strong>der</strong> hier vorgelegten Untersuchung die Behauptung aufgestelltwerden, daß im Munde <strong>der</strong> Gelehrten <strong>der</strong> Mischna und des Talmud geäußerte,volkswirtschaftliche Tatsachen o<strong>der</strong> Erscheinungen betreffendeÄußerungen, immer und wann auch immer und wo auch immer in <strong>der</strong>talmudischen Literatur überliefert, ausnahmslos mit den Erkenntnissenund Gesetzen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Volkswirtschaft übereinstimmen.” 83Arye Ben-David bezieht sich nicht explizit auf die biblische <strong>Tora</strong>-Tradition, wohl aber die Mischna- und Talmud-Tradition, die in <strong>der</strong> rabbinischenTheologie als mündliche <strong>Tora</strong> und Dynamisierung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gilt. 84Arye Ben-David legt Wert darauf zu betonen, daß die Ökonomie desTalmuds hinsichtlich Darstellung und Erkenntnis des Wirkens nationalökonomischerGesetze ausgesprochen fortschrittlich gewesen sei. Er willdie Ökonomie des Talmuds als eine Ökonomie legitimieren, die hinter<strong>der</strong> Ökonomie <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nicht zurückbleibe. Zur Untermauerung seinerPosition bezieht sich Arye Ben-David auf den berühmten ÖkonomenAdolf Damaschke (1865-1935), <strong>der</strong> in seiner Geschichte <strong>der</strong> National-83 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie. <strong>Die</strong> Wirtschaft des jüdischen Palästina zur Zeit <strong>der</strong> Mischnaund des Talmud, Bd. 1, Hildesheim, New York 1974, XIX.84 Über die Entstehungszeit des Talmud gibt es abweichende Angaben. Nach A. Ben-David entwickeltesich <strong>der</strong> Talmud als “mündliche <strong>Tora</strong>” aus ersten Anfängen in <strong>der</strong> Zeit von 175 v. bis225 n. Chr. (A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 11). Als talmudische Zeit im engeren Sinnversteht er die Jahre von 175 v. bis 135 n. Chr. Zum Abschluß kam <strong>der</strong> Talmud im Jahre 429 n.Chr. (ebd. 13). Das RGG sieht den Abschluß des Talmuds im 3./4. Jahrhun<strong>der</strong>t (für denpalästinenischen Talmud) und im 3.-6. Jahrhun<strong>der</strong>t (für den babylonischen Talmud). Der Talmudsetzt sich aus den älteren Teilen Mischna und Gemara zusammen (E.L. <strong>Die</strong>trich, Art. Talmud,RGG 3. Aufl. Bd. IV, Sp. 607-609).46


ökonomie die Gesetzbücher <strong>der</strong> Bibel die wichtigste und “bis zum heutigenTag” in ihrer Bedeutung nicht erschöpfte volkswirtschaftliche Lehredes Altertums nennt. 85 Otto Weinberger spricht noch ganz unter demEindruck des Nationalsozialismus eher apologetisch von <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> undnennt sie eine Wirtschaftsverfassung, “von <strong>der</strong> man mit Recht sagenkann, daß sie bereits alles das auf eine bewun<strong>der</strong>ungswürdige Weisevorweggenommen hat, was die mo<strong>der</strong>ne ethische Nationalökonomiemühsam und vielfach noch unklar zu erreichen strebte.” 86Mit den Ausführungen von Hans Christoph Binswanger, Arye Ben-David und Otto Weinberger liegen uns Positionen aus ökonomischer undwirtschaftshistorischer Sicht vor, die Möglichkeiten materialethischer Bezügesehen. <strong>Die</strong> antiken, biblischen und nachbiblischen Texte bieten geradezueine hermeneutische Chance, da die antike Ökonomie im Keimbereits das enthält, was sich in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Marktwirtschaft entfaltetdarbietet. Ob wirklich von einer Mo<strong>der</strong>nität <strong>der</strong> wirtschaftlichen Anschauungen<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und des Talmuds die Rede sein kann, soll im weiterenGang <strong>der</strong> Untersuchung dargestellt werden.Ulrich Duchrow hat schließlich ein Interesse an einer handlungsorientiertenHermeneutik. Er verweist er auf die bibelimmanente Hermeneutik,die immer durch Rückerinnerungen an frühere Geschichte versucht, gegenwärtigePraxis und Strukturen mit <strong>der</strong> Erinnerung an Befreiung undSolidarität in Einklang zu bringen. 87 Er rezipiert eine biblische Hermeneutik,die in <strong>der</strong> Option für die Armen ihren Ausgangspunkt findet. Aber erbeläßt es bei diesen methodischen Hinweisen und Schritten. Lei<strong>der</strong> gibter keine Transformationsregeln an, die verdeutlichen könnten, ob eineÜbertragung materialer Normen aus dem biblischen Ethos auf Fragengegenwärtigen Wirtschaftens möglich wäre. Ihm liegt mehr an einer Beurteilungdes ökonomischen Systems aus den ethischen Ressourcen <strong>der</strong>Bibel.Es gibt aber noch einen an<strong>der</strong>en “garstigen Graben”. Er besteht in einemAbstand zu Themen <strong>der</strong> ökonomischen und sozialen Verhältnisseselber. <strong>Die</strong>ser Abstand aber ist kein historischer und auch keiner <strong>der</strong> unterschiedlichenWirtschaftsordnungen. Es ist vielmehr ein Abstand, <strong>der</strong> ineiner Fremdheit besteht. <strong>Die</strong> biblischen Texten spiegeln eine Wirklich-85 A. Damaschke, Geschichte <strong>der</strong> Nationalökonomie, 8.Aufl. Jena, 1916, 6, zit. in: A. Ben-David,Talmudische Ökonomie, 1.86 O. Weinberger, <strong>Die</strong> Wirtschaftsphilosophie des Alten Testamentes, Wien 1948, 74.- Mit Verweisauf: G.Ruhland, System <strong>der</strong> politischen Ökonomie, Neudruck, 3. Aufl. Goslar, Bd. 1, 1941,229-230.87U. Duchrow, Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft. Biblische Erinnerung und politischeAnsätze zur Überwindung einer lebensbedohenden Ökonomie, Gütersloh, Mainz 1994,193.47


keit, die “die da unten” auch heute noch kennen, die jedoch nicht wenigenin Theologie und Kirche eher fremd ist.48


1.2.5 Kontext <strong>der</strong> Bibel und Kontext <strong>der</strong> Gegenwart<strong>Die</strong> Studie des ÖRK Christlicher Glaube und Weltwirtschaft 88 nimmt dieseshermeneutische Problem auf und verweist auf die beson<strong>der</strong>enChancen <strong>der</strong>er zum Verständnis <strong>der</strong> Bibel, die Wirtschaft von unten erleben.<strong>Die</strong>se Perspektive vermag eine Brücke über den garstigen Grabenzwischen Galiläa und <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zu schlagen. Dabei geht die Studiedes ÖRK davon aus, daß jedes Erkennen durch Erfahrungen bereitsvorgeprägt ist, und empfiehlt, den Standort einzunehmen “bei den bescheidenenFischern, Frauen, Armen und in unseren Tagen: Flüchtlingen,Alleinerziehenden ohne Unterstützung, Landarbeitern ohne Grundund Boden, Slumbewohnern und so vielen an<strong>der</strong>en.” 89 <strong>Die</strong>se Hermeneutikdes Perspektivenwechsels erlaubt es, die biblischen Texte selber ineinem Kontext zu lesen: <strong>Die</strong> Armen, Landarbeiter, Fischer von damalsund die Arbeitslosen, Arbeiter und Arbeiterinnen, die Verlierer <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nisierungund Globalisierung von heute sind <strong>der</strong> hermeneutischeSchlüssel. “Denn indem wir die Welt so erfahren, wie sie es tun, könnenwir lernen, welches die beherrschenden „Mächte dieses Zeitalters‟” 90sind. In diese Hermeneutik geht eine Sichtweise ein, die - nach einerFormulierung von Jorge Pixley - ein “erkenntnistheoretisches Privileg” 91<strong>der</strong> Armen und Unterdrückten aufnimmt. <strong>Die</strong>se hätten aufgrund von Lebensumständen,die mit denen in <strong>der</strong> Bibel geschil<strong>der</strong>ten durchaus vergleichbarseien, einen beson<strong>der</strong>en Zugang zur biblischen Überlieferung.<strong>Die</strong> sozio-ökonomische Realität selber bietet demzufolge also eine hermeneutischeHilfestellung.Interessant ist, daß die Kirchen in Deutschland mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckungdes biblischen Arguments für die Sozialethik jenen hermeneutischenAnsatz aufnehmen, den <strong>der</strong> ÖRK auch wahrnimmt. Das SozialundWirtschaftswort <strong>der</strong> Kirchen in Deutschland 92 wählt einen Zugang zurbiblischen Tradition, den ich eine “Hermeneutik des Zusammen-Lesens”nennen möchte: “Wenn die Christen das biblische Zeugnis mit den aktuellenHerausfor<strong>der</strong>ungen zusammenlesen, gewinnen sie nicht nur ethischeOrientierungen für das eigene Handeln; es ergeben sich vielmehrauch ethische Einsichten, die sich auf den institutionellen Rahmen <strong>der</strong>Gesellschaft beziehen. Dazu gehört vor allem <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Gerechtigkeit.”(Ziff. 108) Das biblische Zeugnis soll mit den gegenwärtigen Herausfor<strong>der</strong>ungenzusammengelesen werden. <strong>Die</strong>ser Ansatz kommt jenem88 ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft. Eine Studie des ÖRK “Leben und volle Genügefür alle”, in: epd-Dokumentation 40/1992.89 Ebd. 12.90 Ebd. 12.91 J. Pixley, Hosea. Ein Lesevorschlag aus Mittelamerika, in: Evangelische Theologie 51 (1991) 80.92 Nähere Ausführungen unter Abschnitt 7.2.49


nahe, den <strong>der</strong> brasilianische Befreiungstheologe Clodovis Boff entwickelthat. 93 Wenn die Kirchen in Deutschland diesen Ansatz aufnehmen, wollensie eine biblische Hermeneutik <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung auf europäischeVerhältnisse übertragen. Clodovis Boff nennt diese Hermeneutikeine “Korrespondenz <strong>der</strong> Relationen” 94 . Der Kontext <strong>der</strong>jenigen, die diebiblischen Texte hervorgebracht haben, wird in Beziehung zum gegenwärtigenKontext gestellt. <strong>Die</strong> Identität besteht dann nicht auf <strong>der</strong> Ebene<strong>der</strong> Botschaft als solcher, son<strong>der</strong>n auf <strong>der</strong> Ebene <strong>der</strong> Relationen zwischenKontext und Botschaft. Clodovis Boff wendet sich entschieden gegendie Anschauung, daß die Bibel etwas anbieten könne, das einfachnur zu kopieren sei: “Was sie uns anbieten kann, sind Orientierungen,Modelle, Typen, Richtlinien, Prinzipien, Eingebungen, kurz, Elemente, mit<strong>der</strong>en Hilfe wir uns selbst eine „hermeneutische Kompetenz‟ erwerbenkönnen, weil sie uns die Möglichkeit geben, für uns selbst „im GeistChristi‟ o<strong>der</strong> „im Einklang mit dem Hl. Geist‟ die neuen und unvorhergesehenenSituationen zu beurteilen, mit denen wir heute ständig konfrontiertwerden. <strong>Die</strong> christlichen Schriften geben uns kein etwas, son<strong>der</strong>nein wie: eine Art, einen Stil, einen Geist.” 95Das biblische Zeugnis und die gegenwärtigen Herausfor<strong>der</strong>ungen sindzwei “Texte”, die zusammengelesen werden sollen. Text <strong>der</strong> Bibel undKontext <strong>der</strong> Zeit legen sich wechselseitig aus und interpretieren sich gegenseitig.<strong>Die</strong> Texte <strong>der</strong> Bibel sind in dieser Lesart nicht nur für die Lebenspraxis<strong>der</strong> Glaubenden relvant; die Lebenspraxis selber ist auch fürdas deutende Verstehen jener Texte relevant. <strong>Die</strong>se Vorgehensweiseverdankt sich hermeneutischen Impulsen <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiungund wird mit dem spanischen Terminus “relectura” bezeichnet. HermeneutischerAusgangspunkt ist die Option für die Armen. Dabei wird eine93<strong>Die</strong> nichtveröffentlichten Vorarbeiten für das Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen inDeutschland verdeutlichen diese Hermeneutik des Zusammenlesens noch klarer. Im Entwurfvom 12. September 1995 heißt es: “Christen deuten die aktuellen gesellschaftlichen Herausfor<strong>der</strong>ungenim Licht <strong>der</strong> Bibel und lesen zugleich die überlieferten christlichen Texte im Lichteihrer aktuellen Erfahrungen. Dabei enthält die Bibel Erzählungen, Gleichnisse und Visionen sowieVorbildhandlungen und Maximen, die für die Wünsche, Bedürfnisse und Fähigkeiten <strong>der</strong>Mitmenschen sensibel machen, zur Gewohnheit gewordene Verhaltensweisen infragestellen unddie soziale Phantasie anregen” (Ziff. 56). <strong>Die</strong> drei biblischen Leitbil<strong>der</strong> “Einheit von Gottes- undNächstenliebe”, “Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten” und “Bewahrung <strong>der</strong>Schöpfung” werden in drei sozialethische Leitbegriffe zur Orientierung für die Gestaltung einerzukunftsfähigen Gesellschaft analog übersetzt und dadurch auch säkular kommunikabel. Korrespondierendzu den biblischen Leitbil<strong>der</strong>n lauten die ethischen Leitbegriffe “Gerechtigkeit”(Einheit von Gottes- und Nächstenliebe), “Solidarität” (Option für die Armen) und “Nachhaltigkeit”(Bewahrung <strong>der</strong> Schöpfung).94C. Boff, Theologie und Praxis. <strong>Die</strong> erkenntnistheoretischen Grundlagen <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung,München-Mainz 1983, 241ff.95 Ebd. 244.50


allzu kurzschlüssige Aufnahme biblischer Bezüge vermieden. Deswegenversteht C. Boff die Methode <strong>der</strong> “relectura” als einen Bezug auf die biblischenTexte, die “einer schöpferischen Erinnerung gleichkommen, undihre Lektüre muß eine produktive Lektüre sein.” 96 <strong>Die</strong> Beziehung Schrift -Politik ist nicht nur als ein “Anwendungsfall” zu verstehen, son<strong>der</strong>n alsein Modell “<strong>der</strong> lebendigen Erinnerung und <strong>der</strong> schöpferischen Treue” 97 .Nicht an<strong>der</strong>s macht Wolfgang Nethöfel in seiner Theologischen Hermeneutikein “Ineinan<strong>der</strong> von Bruch und Kontinuität (...) als Identitätsprinzip<strong>der</strong> Traditionen und <strong>der</strong> Traditionsbildung im Alten Testament” 98 aus.Traditionsbruch wird zu einem Traditionsprinzip. Dadurch kann in einemkreativen Prozeß im Kontext des Traditionsbruchs Neues entstehen.Clodovis Boff betont mit dieser Spannung von Erinnerung und schöpferischerTreue, daß beim Rückgriff auf die biblische Tradition die Bibel alsorientieren<strong>der</strong> Kontrollrahmen für die Ethik fungiert. Durch die Lektüredes Textes <strong>der</strong> Bibel und des “Textes” <strong>der</strong> Gegenwart entsteht in einemkreativen Prozeß etwas Neues. Anzumerken bleibt noch die Tatsache,daß sich Clodovis Boff in seiner Hermeneutik ausdrücklich nur auf neutestamentlicheSchriften bezieht. 99J. Severino Croatto hat in einer Studie die Hemeneutik <strong>der</strong> “relectura”ausführlich begründet. Ausgangspunkt ist eine Kritik <strong>der</strong> historischkritischenMethode. “Den objektiven, historischen Sinn des biblischenTextes zu fixieren, ist Illusion.” 100 <strong>Die</strong> Bedeutung biblischer Texte ist mitihrer Entstehung nicht ein für allemal festgelegt, son<strong>der</strong>n erschließt sichnur unter Berücksichtigung <strong>der</strong> jeweiligen gesellschaftlichen und geschichtlichenSituation neu. Ein ursprüngliches Ereignis weitet sich inseiner Bedeutung bei einem späteren Lesen aus. Croatto nennt deswegenauch jede Lektüre eine “Sinnerzeugung”, die “von einem Standorto<strong>der</strong> aus einem Kontext heraus” 101 stattfindet. Um einen biblischen Textzu verstehen, sei es nötig, die “semantischen Achsen” zu suchen. “In <strong>der</strong>Bibel wird das „Gedenken‟ an die Befreiung aus <strong>der</strong> ägyptischen Sklavereiin allen möglichen literarischen Gattungen und durch alle Epochenhindurch erhalten. Aber es ist niemals eine Wie<strong>der</strong>holung des ursprünglichenExodus, son<strong>der</strong>n eine Ausschöpfung seines „Sinnvorrats‟.” 102Croatto sieht in Begriffen wie “Gerechtigkeit”, “Befreiung” usw. semanti-96 Ebd. 248.97 Ebd. 353.98W. Nethöfel, Theologische Hermeneutik. Vom Mythos zu den Medien, Neukirchen - Vluyn1992, 92.99 C. Boff, Theologie und Praxis, 241. 353.100 J. S. Croatto, <strong>Die</strong> Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischen Hermeneutik,München 1989, 61.101 Ebd. 62.102 Ebd. 51.51


sche Achsen, die verschiedene begriffliche Inhalte im Gesamtzusammenhang<strong>der</strong> Erzählung ordnen. “Aus dem Abstand heraus muß unsererelecture erneut beim Zustand <strong>der</strong> Bibel als einer neuen Intratextualitätansetzen, damit wir ihre neuen semantischen Achsen wie<strong>der</strong>entdeckenund sie von unserem Lebenszusammenhang aus wie<strong>der</strong>lesen können.”103 <strong>Die</strong>se Methode <strong>der</strong> Hermeneutik ist nicht einfach eine “Aktualisierung”<strong>der</strong> Bibel. Sie macht ernst mit <strong>der</strong> Einsicht <strong>der</strong> historischkritischenMethode, daß <strong>der</strong> Text selber ein Produkt <strong>der</strong> Zeit und ihrerUmstände ist. Gleichzeitig dokumentiert <strong>der</strong> biblische Text, daß dieWahrnehmung Gottes sich in <strong>der</strong> Geschichte vollzieht. “<strong>Die</strong> Bibel selbstführt uns zur Lektüre Gottes in den Ereignissen <strong>der</strong> Welt, und sie lehrtuns, ihn gerade so zu erkennen, wie er sich jetzt manifestiert, und nichtals Wie<strong>der</strong>holung von Vergangenem.” 104 Um die Bibel verstehen zu können,muß man die großen Sinnachsen wahrnehmen. “Da die Wirklichkeit<strong>der</strong> Menschen stärker von Leiden, Unglück, Sünde und Unterdrückunggeprägt ist, ist es nicht schwer zu erkennen, daß die Armen und Unterdrücktendie besten Voraussetzungen haben, das Kerygma <strong>der</strong> Bibel zubegreifen; sie gehört ihnen, und sie betrifft sie. Sie gehört vor allem ihnen.(...) Zudem stehen die Bedürftigen <strong>der</strong> Erde in einemVerstehenshorizont, <strong>der</strong> ihnen das biblische Kerygma zuspricht, da dessenEntstehungshorizont ihnen entspricht.” 105 Jede Erfahrung mit Leidund Unterdrückung, Befreiung und Hoffnung wird gedeutet als eine fortgesetzteErfahrung <strong>der</strong> Menschen seit Ägypten und dem Exodus ausägyptischen Verhältnissen. Croatto kann deshalb sagen: “das, was wirklichdie relecture <strong>der</strong> Bibel hervorruft und ihr die Richtung gibt, sind diefortgesetzten Erfahrungen.” 106 <strong>Die</strong>se Erfahrungen <strong>der</strong> Unterdrückung,des Leidens, aber auch <strong>der</strong> Befreiung und <strong>der</strong> Gnade reichen von denZeiten <strong>der</strong> Bibel bis in die Gegenwart.Clodovis Boff und J.Severino Croatto vertreten eine Hermeneutik, diedeutlich Bezüge zwischen dem Text <strong>der</strong> biblischen Tradition und dem“Text” <strong>der</strong> gegenwärtigen Verhältnisse herstellen wollen. Beide haben einpraktisches Interesse. <strong>Die</strong> biblische Tradition soll zur Sprache gebrachtwerden, um eine Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> gegenwärtigen Verhältnisse zu bewirken.Clodovis Boff liegt an einem “hermeneutischen Geist” 107 , <strong>der</strong> Christenfür eine Praxis in den je neuen politischen Situationen zurüstet undzu einem Handeln befreit, das nicht verkürzt als mechanische Anwendung<strong>der</strong> Bibel auf gegenwärtige Verhältnisse verstanden werden darf.103 Ebd. 72.104 Ebd. 87.105 Ebd. 75f.106 Ebd. 77.107 C. Boff, Theologie und Praxis, 354.52


Ein solcher Umgang mit <strong>der</strong> eigenen Tradition ist auch <strong>der</strong> Bibel nichtfremd. In seiner Monographie <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> hat Frank Crüsemann darauf hingewiesen,daß auch die <strong>Tora</strong> eine innerbiblische Rezeption <strong>der</strong><strong>Tora</strong>tradition kennt, bei <strong>der</strong> es inhaltlich um Fortführung, Aktualisierung,Nivellierung, Ergänzung von Themen und Fragen geht. 108 Das, wasClodovis Boff mit <strong>der</strong> Spannung von <strong>der</strong> “lebendigen Erinnerung und <strong>der</strong>schöpferischen Treue” 109 bezeichnet, wi<strong>der</strong>spricht keineswegs jenem innerbiblischenhermeneutischen Prinzip im Rezeptionsprozeß <strong>der</strong> eigenenTradition, son<strong>der</strong>n entspricht ihm vielmehr. <strong>Die</strong>ser hermeneutische Ansatzsoll auch in <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit aufgenommen werden.<strong>Die</strong> Erinnerung an die aus frem<strong>der</strong> Zeit und Kultur überkommene biblischeÜberlieferung kann gerade durch ihre Spannung zwischen “bestürzen<strong>der</strong>Aktualität und historischer Abständigkeit” 110 die Definitionsgewaltgegenwärtiger Mehrheitskulturen über die gemeinsame Wahrnehmung<strong>der</strong> Wirklichkeit in Frage stellen. Erinnernd kann die aus einerfremden Welt und Kultur stammende biblische Tradition Fragestellungenentwickeln, die vor dem Horizont <strong>der</strong> Gegenwart sehr wohl fremd wirken.<strong>Die</strong>se Fremdheit jedoch kann eine Horizonterweiterung erwirken, dennsie kann Plausibilitäten des zeitgenössischen wirtschaftsethischen Diskursesdurchbrechen, indem sie Fragestellungen zur Sprache bringt, dieEinsichten, Kategorien und Weisheiten <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> bedenken. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>enthält ein jahrtausendealtes Wissen von Humanität und Gerechtigkeit,das seit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne <strong>der</strong> letzten beiden Jahrhun<strong>der</strong>te nicht einfach obsoletgeworden ist, son<strong>der</strong>n auch für unsere Zeit von bleiben<strong>der</strong> Bedeutungsein kann. <strong>Die</strong> Erinnerung an die biblische Tradition kann also in einerproduktiven Ungleichzeitigkeit ethische Probleme geradezu erst schaffen,wo an<strong>der</strong>e, die von dieser Tradition nicht beeinflußt sind, vielleichtgar kein Problem wahrnehmen. Der Rückgriff auf vorkapitalistischeWertüberzeugungen kann freilegen: An<strong>der</strong>es als Gegenwärtiges ist möglich.Ein Begründungskurzschluß läßt sich verhin<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> darin besteht,daß eben jene Normen, die in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Ökonomie gelten sollen,selber wie<strong>der</strong>um dem mo<strong>der</strong>nen Marktdenken entnommen sind. Gegendieses ökonomistische Zirkeldenken hatte schon Oswald von Nell-Breuning eingewendet, daß die “Maßstäbe, nach denen die Wirtschaftspolitiksich auszurichten hätte, nicht aus <strong>der</strong> Wirtschaft selbst gewonnenwerden können.” 111 Der Rückbezug auf vormo<strong>der</strong>ne o<strong>der</strong> vorkapitalistischeWertüberzeugungen kann einer lebensdienlichen Ordnung <strong>der</strong>108 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 421.109 C. Boff, Theologie und Praxis, 353.110 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 12.111O. von Nell-Breuning,, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, in: <strong>der</strong>s., Wirtschaft undGesellschaft heute, III. Zeitfragen 1955 - 1959, Freiburg 1960, 96.53


Ökonomie gerade dadurch zur Orientierung dienlich sein, insofern siesich an Werte bindet, die sie nicht aus sich selber konstituiert. <strong>Die</strong> Wertüberzeugungenentstammen einer jahrtausendealten biblischen Wertetradition.Peter Ulrich nennt die Lebensdienlichkeit das “entscheidendeMass <strong>der</strong> Wirtschaft” 112 . Das sozialethische Kriterium <strong>der</strong>Lebensdienlichkeit wird eine theologische Wirtschaftsethik präzisieren,wenn sie aus einer Option für die Armen fragt. Eine an biblischen Kategorienorientierte theologische Wirtschaftsethik verstehtLebensdienlichkeit nicht subjektlos. Sie verbindet dieses wirtschaftsethischeKriterium <strong>der</strong> Lebensdienlichkeit aus <strong>der</strong> biblisch begründeten Optionfür die Armen mit einer unbedingten Achtsamkeit auf die Zukurzgekommenen,die Machtlosen, die Verlierer und Opfer - jene also, die diebiblische Rede von den Armen meint. Gerade ihnen gegenüber muß sicherweisen, wie lebensdienlich ökonomische Prozesse sind. Eine theologischeWirtschaftsethik kann dadurch einen eigenständigen theologischenBeitrag in den wirtschaftsethischen Diskurs einbringen. <strong>Die</strong>ser Ansatzzeigt, daß ethisch weit Wichtigeres zur Debatte steht nur als die altbekannteFundamentalalternative Kapitalismus o<strong>der</strong> Sozialismus. Wirtschaftsethischgeht es um eine lebensdienliche Ökonomie, zu <strong>der</strong>en humaneGestalt biblische Traditionen und biblisch-ethische Überzeugungenmit ihren Vorstellungen und Bil<strong>der</strong>n vom guten und gerechten Leben Bedeutsamesbeizutragen haben. Allein dieser Maßstab <strong>der</strong>Lebensdienlichkeit, nicht aber eine abstrakte Debatte um Wirtschaftsmodelleist deshalb sozialethisch von Belang.<strong>Die</strong> Wie<strong>der</strong>entdeckung des biblischen ethischen Arguments ist Teil einerethischen Urteilsbildung, die verkürzt mit dem <strong>Dr</strong>eischritt “Sehen-Urteilen-Handeln” skizziert werden kann. Der erste Schritt besteht darin,die Wirklichkeit zur Geltung kommen zu lassen (= Sehen). Der zweiteSchritt des analytischen Urteilens will zum einen zu einer kritischen Erkenntnisund zum an<strong>der</strong>n zur Aufhellung <strong>der</strong> Situation im “Licht desEvangeliums” führen (= Urteilen). Beide Schritte sind auf einen dritten,<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> wichtigste ist, ausgerichtet: das Handeln. <strong>Die</strong> Lektüre <strong>der</strong>biblischen Tarditionen steht zwischen <strong>der</strong> erlebten Realität und einerPraxis, die auf Verän<strong>der</strong>ung dringt.Das methodische Grundmuster mit dem <strong>Dr</strong>ei-Schritt “Sehen-Urteilen-Handeln” entspricht in <strong>der</strong> formalen Abfolge durchaus <strong>der</strong> ethischenTheorie sittlicher Urteilsfindung, wie sie Heinz Eduard Tödt vorgelegthat. 113 Doch in einem entscheidenden Punkt weichen beide Konzeptionendeutlich voneinan<strong>der</strong> ab: Biblische Orientierungen, Kategorien112 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 204.113 H.E. Tödt, Sittliche Urteilsfindung, in: <strong>der</strong>s., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988,11-96.54


o<strong>der</strong> Einsichten spielen bei Heinz Eduard Tödt überhaupt keine Rolle.Sein ethisches Konzept besteht vielmehr in <strong>der</strong> kritischen Klärung undPrüfung <strong>der</strong> in die gesellschaftliche Wirklichkeit hineinverflochtenenNormen. “Wenn dieses die Aufgabe <strong>der</strong> Normenprüfung ist, so wird esoft nicht darum gehen, unter vorgegebenen Normen (in denen sich Erfahrungennie<strong>der</strong>schlagen) eine auszuwählen, son<strong>der</strong>n gegebenenfallsim Urteil eine neue zu gewinnen - so wie Luther einmal erklärt hat, Christenseien im Glauben ermächtigt, auch neue Dekaloge zu entwerfen, dieklarer seien als <strong>der</strong> des Mose (s. WA 39 I,47).” 114 Außer diesem einenund zudem auch noch eher indirekten und negativen Hinweis auf die Bedeutung<strong>der</strong> ethischen Traditionen <strong>der</strong> Bibel gibt es bei Heinz EduardTödt in seiner Theorie <strong>der</strong> ethischen Urteilsfindung keinen Rückbezugauf die Bibel o<strong>der</strong> ihre Tradition.Durch die ganze Geschichte hindurch zieht sich <strong>der</strong> universale Tatbestand,daß Menschen sich die Dinge und Güter des Lebens besorgenund beschaffen müssen. Das ließ sie zu allen Zeiten und unter den verschiedenstenUmständen fragen: Was sollen wir essen und trinken, wiesollen wir uns kleiden? Dazu gehört aber auch: Wie erarbeiten wir, waswir zum Leben brauchen? Wie verteilen wir die Güter? Der Nobelpreisträgerund Ökonom Paul A. Samuelson hat auf eine ökonomische Universaliehingewiesen, wenn er sagt, daß alle Gesellschaften es letztlichimmer mit drei ökonomischen Grundproblemen zu tun haben, die sich zuallen Zeiten unabhängig von unterschiedlichen Wirtschaftsordnungenstellen, jedoch unterschiedlich beantwortet werden:1. Was soll in welchen Mengen produziert werden? Das heißt, welche alternativenGüter und <strong>Die</strong>nste sollen in welchen Mengen hergestelltwerden? Nahrungsmittel o<strong>der</strong> Bekleidung? Viel Nahrungsmittel undwenig Bekleidung o<strong>der</strong> umgekehrt? Heute Butter und Brot o<strong>der</strong> heuteBrot und Erdbeerpflanzen und dafür im nächsten Jahr Brot und Marmelade?2. Wie sollen die Güter produziert werden? Das heißt, wer soll sie mitwelchen Produktionsfaktoren und mit welcher Technik produzieren?Wer jagt, wer fischt? Soll Elektrizität durch Dampf, Wasserkraft o<strong>der</strong>Atomenergie erzeugt werden? Wollen wir Einzelfertigung o<strong>der</strong> Massenfertigungan Fließbän<strong>der</strong>n? Wenn von allem etwas, wieviel dannvon jedem?3. Für wen sollen die Güter produziert werden? Das heißt, wer soll inden Genuß <strong>der</strong> bereitgestellten Güter und <strong>Die</strong>nstleistungen kommen?114 Ebd. 39.55


O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ausgedrückt: Wie soll das gesamte Sozialprodukt unterdie einzelnen Individuen und Familien verteilt werden? Wollen wir einigeReiche und viele Arme? O<strong>der</strong> bescheidenen Wohlstand für diemeisten? Sklaven und freie Bürger? Gleichberechtigung <strong>der</strong> Geschlechterund Rassen? Hohe Belohnung für Körperkraft o<strong>der</strong> Intelligenz?Sollen egoistische Streber alles bekommen? Sollen die Faulengut essen? 115<strong>Die</strong>se drei fundamentalen ökonomischen Fragen nach dem Was, Wieund Für-wen nimmt auch <strong>der</strong> Wirtschaftsethiker Peter Ulrich auf. WelcheWerte sollen für wen geschaffen werden? <strong>Die</strong>se ökonomische Frage hateine ethische Dimension. <strong>Die</strong> Effizienz <strong>der</strong> Wirtschaft wird in eine Beziehungzu den ethischen Aspekten des individuellen Sinns und <strong>der</strong> sozialenGerechtigkeit gesetzt. Während es bei <strong>der</strong> Frage nach dem Sinn desWirtschaftens um dessen Bedeutung für das gute Leben geht, spricht dieFrage nach <strong>der</strong> Legitimität die Bedeutung <strong>der</strong> Wirtschaft für das gerechteZusammenleben <strong>der</strong> Menschen an. <strong>Die</strong> Sinnfrage durchbricht dabei eineauf Nutzenmaximierung verkürzte Sicht des Wirtschaftens; die Fragenach dem gerechten Wirtschaften nimmt Rücksicht auf die Ansprüchean<strong>der</strong>er Menschen und fragt deshalb nach den Möglichkeiten für ein gutesLeben aller. “Ist unser Wirtschaften uns selbst zuträglich? Ist unserWirtschaften gegenüber allen vertretbar?” 116 Gefragt wird also: Wie wollenwir leben? Wie sollen wir zusammenleben?<strong>Die</strong> hier vorliegende Arbeit nimmt sich vor, folgende Fragen zu bearbeiten:Wie beantwortet die <strong>Tora</strong> diese ökonomischen Grundfragen nachdem Was, Wie und Für-wen? Welche Vorstellungen und Wertüberzeugungeneines guten Lebens und gerechten Zusammenlebens erinnertdie biblische Tradition? Und was könnte <strong>der</strong> Umgang <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> mit denWirtschaftsfragen ihrer Zeit für die Lösung gegenwärtiger Wirtschaftsproblemebedeuten? <strong>Die</strong>se Fragen aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> biblischenArbeiter, Bauern und Fischer und <strong>der</strong> heutigen Arbeiter und aller, die “unten”stehen, zu stellen, ist <strong>der</strong> hermeneutische Ausgangspunkt <strong>der</strong> vorliegendenArbeit. Im nächsten Abschnitt soll zunächst nach dem ethischenZugang zur Ökonomie, im darauf folgenden nach dem Zugang <strong>der</strong><strong>Tora</strong> zur Ökonomie gefragt werden. Durch diese beiden Schritte soll geklärtwerden, ob aus dem Umgang <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> mit den Wirtschaftsfragenihrer Zeit etwas für den Umgang mit den Wirtschaftsfragen am Ende des20. Jahrhun<strong>der</strong>ts zu lernen ist.115 P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, Köln 1981, 33f.116 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 205.56


2. ETHISCHE ZUGÄNGE ZUR WIRTSCHAFT2.1 Ethik des Marktes<strong>Die</strong> gängige Definition von Wirtschaften lautet: Wirtschaften bedeutet imKern, die Knappheit <strong>der</strong> Güter rational mit den menschlichen Bedürfnissenin Übereinstimmung zu bringen. 117 Wirtschaften hat es nachdieser Definition zentral mit Knappheit zu tun. “Könnten alle Bedürfnisseunterschiedslos erfüllt werden, so bestünde keine Notwendigkeit zumWirtschaften . (...) Damit aber tritt die von Ökonomen immer wie<strong>der</strong> gestellteFrage in den Vor<strong>der</strong>grund, wie bei gegebenen Wünschen <strong>der</strong> Individueno<strong>der</strong> Gruppen und bei vorhandenen begrenzten Gütervorrätenund Produktionsmitteln wie Arbeit, Boden, Naturschätzen, Gebäuden undMaschinen eine möglichst weitgehende, ja optimale Erfüllung dieserWünsche erreicht werden kann.” 118 In 1. Abschnitt habe ich bereits aufdie ökonomischen Grundfragen (was, wie, für wen?) hingewiesen, wiesie <strong>der</strong> Ökonom Paul A. Samuelson formuliert hat. Er geht davon aus,daß alle ökonomischen Prozesse letztlich immer mit drei Grundproblemenzu tun haben, die sich zu allen Zeiten und unabhängig von den unterschiedlichenWirtschaftsordnungen stellen, jedoch unterschiedlich beantwortetwerden: Wo immer Menschen zusammen leben und arbeiten,müssen diese drei Grundprobleme gelöst und organisiert werden, die in<strong>der</strong> ökonomischen Fachsprache als das Produktions-, das Allokationsunddas Distributionsproblem bezeichnet werden. 119Das Was, Wie und Für-Wen wäre kein Problem, wenn die Produktionsmittelund Ressourcen unbegrenzt vorhanden wären. Dann würdensich diese ethischen Fragen erst gar nicht stellen. Knappheit an Güternist deshalb das Hauptthema des Wirtschaftens. Aus dem Sachverhalt117 K. Häuser, Volkswirtschaftslehre, Frankfurt 1974, 34.118 P. Bernholz , F. Breyer, Grundlagen <strong>der</strong> politischen Ökonomie, Tübingen 1984, 11.119 P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, 33f.57


<strong>der</strong> Knappheit jedoch ergibt sich die Gerechtigkeitsfrage. An welchenMaßstäben orientiert sich die Beantwortung dieser scheinbar rein ökonomischenGrundfragen? <strong>Die</strong> Antwort auf diese Frage enthält allemalWerturteile, mögen diese reflexiv entfaltet o<strong>der</strong> auch nur implizit vorhandensein. Jede ökonomische Frage ist also zugleich auch eine ethische.Denn alle Ökonomien bringen in <strong>der</strong> je unterschiedlichen Beantwortung<strong>der</strong> ökonomischen Grundfragen auch spezifisch normative und ethischeOrientierungen zum Ausdruck, auch wenn sie diese nicht ausdrücklichthematisieren. <strong>Die</strong> ökonomischen Grundfragen haben deshalb zwei Dimensionen:Sie sind ökonomisch und ethisch zugleich. 120Wie beantwortet das Marktsystem die ökonomischen Grundfragen?Im Marktsystem werden nach Paul A. Samuelson die ökonomischenGrundfragen folgen<strong>der</strong>maßen beantwortet:1. Was zu produzieren ist, wird durch Stimmzettel <strong>der</strong> Verbraucherdeterminiert, wobei die Stimmzettel Geldscheine sind. ..2. Wie die Güter zu produzieren sind, wird durch die Konkurrenz <strong>der</strong>verschiedenen Produzenten entschieden. (...)3. Für wen die Güter produziert werden, bestimmen Angebot undNachfrage auf den Produktionsfaktormärkten. (...) 121Wie <strong>der</strong> Markt die Verteilungsfrage beantwortet, stellt Paul A. Samuelsonan einem Beispiel dar: “<strong>Die</strong> Güter bekommen die Leute, die die meistenDollarstimmen abgeben können. <strong>Die</strong> Katzen <strong>der</strong> Reichen bekommenmöglicherweise die Milch, die die Kin<strong>der</strong> <strong>der</strong> Armen dringend benötigen.Woher kommt das? Etwa daher, daß <strong>der</strong> Marktmechanismus schlechtfunktioniert? Unter ethischen Gesichtspunkten könnte man das sagen,aber nicht, wenn man die Qualität <strong>der</strong> Funktionsweise des Marktmechanismusan seiner eigentlichen Aufgabe mißt. Der Markt kann nur das,wozu er geeignet ist: er läßt die Güter in die Verfügung <strong>der</strong>jenigen gelangen,die das meiste dafür bezahlen können.” 122 <strong>Die</strong> Beantwortung <strong>der</strong>ökonomischen Grundfragen erfolgt also nicht über Bedürfnisse, son<strong>der</strong>nüber Wünsche, die mit Geld ausgestattet sind. Paul A. Samuelson räumtein, daß es sich bei diesem Modell um ein theoretisches Konstrukt handelt,das in <strong>der</strong> Wirklichkeit nicht funktioniere; doch selbst wenn es funktionierenwürde, wäre es nicht unbedingt als ideales System anzusehen.Zur Begründung führt er bezeichnen<strong>der</strong>weise nicht einen ökonomischen,son<strong>der</strong>n einen ethischen Aspekt an, wenn er fragt: Welche gesellschaftlichenFolgen aber hat die Beantwortung <strong>der</strong> Verteilung nach dem Markt-120 Vgl. A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 132 - 139.121P. A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, 65.122 Ebd. 68.58


modus, wenn “Katzen die Milch anstelle <strong>der</strong> Kin<strong>der</strong>” bekommen? Wasbedeutet das für entwickeltere Industriegesellschaften, was für ärmereGesellschaften? 123 Es zeigt sich also, daß das Marktparadigma die ökonomischenGrundfragen nach dem Was, Wie und Für-wen unter Vernachlässigungsozialer o<strong>der</strong> ökologischer Dimensionen ausschließlichmit “Geld” beantwortet.<strong>Die</strong>ser Sachverhalt <strong>der</strong> Marktökonomie produziert jenen Problemüberhang,<strong>der</strong> nach <strong>der</strong> Ethik dieser Wirtschaft fragen läßt. Dabei hatte sichdie Wirtschaft in einer Arbeitsteilung zwischen Ökonomie und Ethik eingerichtet,nachdem sie im 18. Jahrhun<strong>der</strong>t aus dem gemeinsamen Gehäuseausgewan<strong>der</strong>t war. Fortan galt wirtschaftliches Handeln als eigengesetzlichund wertfrei, allein einer Sachzwanglogik unterworfen. NachEthik zu fragen, erscheint im Rahmen einer solchen Arbeitsteilung belanglos,ja sachfremd. Für Ethik gibt es nach Max Weber in einem Marktsystemkeinen Platz. Er beschreibt den Markt als eine Institution, die jedemwertrationalen Verhalten gegenübersteht. “Arbeitsmarkt, Geldmarkt,Gütermarkt, „sachliche‟, we<strong>der</strong> ethische noch antiethische, son<strong>der</strong>n einfachanethische, ja je<strong>der</strong> Ethik gegenüber disparate Erwägungen bestimmendas Verhalten in den entscheidenden Punkten und schiebenzwischen die beteiligten Menschen unpersönliche Instanzen. <strong>Die</strong>se „herrenloseSklaverei‟, in welche <strong>der</strong> Kapitalismus den Arbeiter o<strong>der</strong> Pfandbriefschuldnerverstrickt, ist nur als Institution ethisch diskutabel.” 124 MaxWeber nennt den Kapitalismus hier eine “herrenlose Sklaverei”. Mit dieserBewertung des Kapitalismus gilt er als Gewährsmann einer ökonomischenTheorie, die sich nicht nur von jeglicher humanen Ethik abgekoppelthat. Von <strong>der</strong> Sache her habe Ökonomie nichts mit Ethik zu tun. Ethikund Ökonomie in einen Zusammenhang zu bringen, sei unsachgemäß,denn Ökonomie folge nicht ethischen Vorgaben und Orientierungen. Siehabe vielmehr ihre eigenen Rationalitäten. Ökonomie und Ethik ständendeshalb auch in einem unüberbrückbaren Gegensatz.<strong>Die</strong>se Trennung bei Weber beruht auf einer Unterscheidung zwischenSachurteilen und Werturteilen. <strong>Die</strong> empirischen Erfahrungswissenschaftenkönnen nur zweckrationale Urteile formulieren. Zu wertrationalen Urteilenhaben sie dagegen keinen Zugang. Es zeigt sich, daß Max Weberzwar diese Trennung zwischen Sachurteilen und Werturteilen in seinerWirtschaftssoziologie zur Geltung bringen will, sie aber nicht durchhaltenkann, da sich Sachurteile und Werturteile im Verlauf seiner Argumentati-123 Vgl. dazu A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 136-139.124 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1980, 709.59


on immer wie<strong>der</strong> durchdringen. 125 Er beschreibt den Markt zweckrationalund gelangt zu wertrationalen Urteilen: “Wo <strong>der</strong> Markt seiner Eigengesetzlichkeitüberlassen ist, kennt er nur das Ansehen <strong>der</strong> Sache, keinAnsehen <strong>der</strong> Person, keine Brü<strong>der</strong>lichkeitsethik, keine Pietätspflichten,keine <strong>der</strong> urwüchsigen, von den persönlichen Gemeinschaften getragenenmenschlichen Beziehungen mehr. (...) Der freie, d.h. <strong>der</strong> durch ethischeNormen nicht gebundene Markt mit seiner Ausnutzung <strong>der</strong> Interessenkonflikteund Monopollage und seinem Feilschen gilt je<strong>der</strong> Ethik alsunter Brü<strong>der</strong>n verworfen.” 126 Das Sachurteil über den Markt vermischtMax Weber mit einem Werturteil. Er verbleibt analytisch nicht bei einemSachurteil, wie er vorgibt, son<strong>der</strong>n beschreibt zugleich die am Marktherrschende Ethik, wenn er zu dem normativen Urteil kommt: Esherrscht am Markt eine Ethik, die “unter Brü<strong>der</strong>n verworfen” ist. DerMarkt mit seiner ihm eigenen normativen Ethik steht also in einer ausdrücklichenSpannung zur christlichen Ethik; er ist “je<strong>der</strong> Verbrü<strong>der</strong>ung in<strong>der</strong> Wurzel fremd.” 127 Weber will die formale Zweckrationalität des Marktesals eine formale Rationalität beschreiben, die je<strong>der</strong> ethischen Rationalitätentgegengesetzt ist. Doch dabei entgeht er nicht <strong>der</strong> Tatsache,daß eben dieser zweckrationale Markt eine implizite Ethik hat. Kuno Füsselzieht aus dieser Beobachtung die Folgerung: “Seine manichäischeTrennung von formaler und materialer Rationalität, Sachurteilen undWerturteilen wird unvereinbar mit den Ergebnissen seiner eigenen Analysedes Marktes.” 128 Auch die Sachlogik <strong>der</strong> Ökonomie ist ethischdurchdrungen. Weber spricht selber von einem “Inhalt <strong>der</strong> Marktethik” 129 .Zu fragen ist deshalb: Gelten dann nicht im Kapitalismus wenigstens jenenormativen Gehalte, die eben eine “Marktethik” ausmachen? Was istdamit gemeint? In seiner berühmten Abhandlung <strong>Die</strong> protestantischeEthik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus spricht Max Weber von einer“Ethik” des Kapitalismus, die er jedoch nur in einem eher uneigentlichenSinn als Ethik kennzeichnen will. Deshalb schreibt er, daß es sich beimMarkt und dem Kapitalismus um etwas an<strong>der</strong>es als nur um eine Verbrämungrein egozentrischer Maximen handele: “Son<strong>der</strong>n vor allem ist das„summum bonum‟ dieser „Ethik‟ (sic! F.S.): <strong>der</strong> Erwerb von Geld und immermehr Geld (...) so rein als Selbstzweck gedacht.” 130 Weber nennt125 Anregungen zu den folgenden Ausführungen verdanke ich dem Beitrag: K. Füssel, Perspektiveneiner theologischen Kapitalismuskritik, in: Orientierung 55 (1991), 169-176. <strong>Die</strong>ser Beitragliegt meiner Argumentation zugrunde.126 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 382f.127 Ebd. 383.128 K. Füssel, Perspektiven einer theologischen Kapitalismuskritik, 173.129 M. Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, 383.130M. Weber, <strong>Die</strong> protestantische Ethik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus, in: <strong>der</strong>s., GesammelteAufsätze zur Religionssoziologie, Bd.I., 2. Aufl. Tübingen 1922, 35.60


diese Lebenshaltung eine “eigentümliche „Ethik‟” und “ein Ethos, welchessich äußert.” Und er fügt hinzu: “ ... und in eben dieser Qualität interessiertes uns.” 131 Je mehr eine Wirtschaft ihren immanenten Eigengesetzlichkeitenfolge, desto unverträglicher würde sie mit “einer religiösen Brü<strong>der</strong>lichkeitsethik”132 . Der Kapitalismus enthält nach Weber eine Ethik.<strong>Die</strong>se Marktethik mit ihren Werten und Normen ist es also, die den Gegenpartzu einer Brü<strong>der</strong>lichkeitsethik ausmacht. <strong>Die</strong> formale Zweckrationalitätdes Marktes verdeckt ihre höchst „unbrü<strong>der</strong>liche‟ Ethik. Der Gegensatzbesteht nicht zwischen einer Sachlogik o<strong>der</strong> anethischen Rationalitätdes Marktes, <strong>der</strong> jede Ethik fremd ist, und einer ethisch gehaltvollenBrü<strong>der</strong>lichkeitsethik. Vielmehr hat die “Marktethik” genauso wie die“Brü<strong>der</strong>lichkeitsethik” ihre je spezifischen ethisch-normativen Gehalte.2.2 Ethik und Ökonomie: Zwei-Welten-KonzeptWie kommen Ethik und Ökonomie mit ihrem jeweiligen Zugang zur Wirklichkeitzu ihrem Recht? Wilhelm Röpke, einer jener Ökonomen, welchedie Konzeption <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft entwickelt haben, hat sichdeutlich gegen eine Arbeitsteilung o<strong>der</strong> Antinomie von Ökonomie undEthik ausgesprochen, wenn er sagt: “Nationalökonomisch dilettantischerMoralismus ist ebenso abschreckend wie moralisch abgestumpfter Ökonomismus.”133 Angesichts vermeintlich harter Fakten <strong>der</strong> Ökonomie wird<strong>der</strong> Ethik im Zusammenhang des Wirtschaftens nur zu gern das argumentativeRecht abgesprochen. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrichspricht deshalb von einem “Zwei-Welten-Modell von ökonomischer Rationalitätund außerökonomischer Moralität” 134 . <strong>Die</strong>ses “Zwei-Welten-Modell” ist in die Kritik geraten. Immer häufiger wird nach Ethik gefragt.Verbunden mit diesem Ethikdiskurs geht auch die Entdeckung und Thematisierungdes moralischen Handelns des Menschen einher, das für dieeigene Fachdisziplin und Wirklichkeitskonstruktion bislang als irrelevanterachtet wurde. <strong>Die</strong> neuere Diskussion über Wirtschaftsethik ist aus <strong>der</strong>Erfahrung heraus entstanden, daß ethische Orientierungen und Wertemit ökonomischen Erfor<strong>der</strong>nissen in Konflikt geraten. Handeln im ökonomischenFeld kollidiert nur zu oft mit moralischen Vorstellungen o<strong>der</strong>Idealen <strong>der</strong> wirtschaftlich tätigen Personen. Ethik und Ökonomie stellen131Ebd. 33.132 M. Weber, <strong>Die</strong> Wirtschaftsethik <strong>der</strong> Weltreligionen. Zwischenbetrachtung, in: <strong>der</strong>s., GesammelteAufsätze zur Religionssoziologie, Bd.I., 2. Aufl. Tübingen 1922, 544.133W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach-Zürich 1966, 161 (kursivim Original).134 P. Ulrich, Transformation <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft, 181.61


Anfor<strong>der</strong>ungen an menschliches Handeln, die jedoch nicht deckungsgleichsind. Wirtschaftsethik befaßt sich deshalb mit <strong>der</strong> Frage, wie Normenin <strong>der</strong> Ökonomie und im Handeln <strong>der</strong>er, die ökonomische Verantwortungwahrnehmen, zur Geltung gebracht werden kann. Wie läßt sichverantwortlich wirtschaften?Der Wirtschaftsethiker Karl Homann unterscheidet grundsätzlich viermögliche Varianten in <strong>der</strong> Verhältnisbestimmung von Ethik und Ökonomik:135135K. Homann, Ethik und Ökonomik, in: E.Kappler u. T. Scheytt, Unternehmensführung - Wirtschaftsethik- Gesellschaftliche Evolution. Annäherungen an eine verantwortungsbewußte Führungspraxis,Verlag Bertelsmann Stiftung, Gütersloh 1995, 179f.62


1. Ethik und Ökonomik stehen unverbunden nebeneinan<strong>der</strong>.Ethische Anfor<strong>der</strong>ungen in die Wirtschaft einzubringen, ist geradezuunsinnig. Bezugnehmend auf den Systemansatz von Niklas Luhmannversteht Karl Homann diesen Argumentationstypus als einen Ansatz,<strong>der</strong> das Problem <strong>der</strong> Wirtschaftsethik wegdefiniert. Er kritisiert, daßdiese Art <strong>der</strong> Verhältnisbestimmung die Gestaltungsabsicht von Sozialwissenschaftenpreisgibt.2. Hierarchiemodell I:<strong>Die</strong> Ethik dominiert die Ökonomik, normative For<strong>der</strong>ungen haben Vorfahrtvor ökonomischen Gesichtspunkten. Als Vertreter dieses Typusnennt Karl Homann u.a. christliche Theologien und die neuere FrankfurterSchule. Sein Urteil: “<strong>Die</strong>ses Paradigma befriedigt nicht, weil manaus <strong>der</strong> Ökonomik für die Ethik nichts lernen kann und weil die Ethikfür die Praxis abstrakt, unfruchtbar bleibt.” 1363. Hierarchiemodell II:<strong>Die</strong> Ökonomik dominiert die Ethik, saugt sie auf. Karl Homann distanziertsich von dieser Position: “Man kann in diesem Paradigma aus <strong>der</strong>Ethik für die Ökonomik nichts mehr lernen.” 1374. Ökonomik und Ethik durchdringen sich gegenseitig.Auch diese Konzeption lehnt Karl Homann ab, da sie “zu willkürlichenund eklektischen Mixturen <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ungen einlädt.” 138<strong>Die</strong>se verschiedenen Ansätze verbleiben allesamt in einem Dualismus,den <strong>der</strong> Wirtschaftsethiker Karl Homann vom Ansatz her vermeiden will.Er will deswegen eine Ethik entwerfen, die das ökonomische Eigeninteresseo<strong>der</strong> die ökonomische Rationalität in Marktwirtschaften ethisch sozuläßt, daß ein Dualismus aufgehoben ist. Das Grundproblem einer mo<strong>der</strong>nenWirtschaftsethik beschreibt er folgen<strong>der</strong>maßen: “Ein Unternehmen,das unter harten Wettbewerbsbedingungen aus moralischen Gründenkostenträchtige Vor- und Mehrleistungen erbringt, droht in Wettbewerbsnachteilzu geraten und langfristig vielleicht sogar aus dem Marktausscheiden zu müssen. Moral, die etwas kostet, ist im Wettbewerb unmöglichvon einzelnen Akteuren zu realisieren. <strong>Die</strong> Ausbeutbarkeit moralischenVerhaltens im Wettbewerb ist das Problem.” 139 Wie lassen sichdennoch ökonomische Rationalität und ethisches Handeln vermitteln?136 K. Homann, Ethik und Ökonomik,180.137 Ebd. 181.138 Ebd. 181.139 K. Homann, Individualisierung: Verfall <strong>der</strong> Moral? Zum ökonomischen Fundament aller Moral,in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zum Parlament B21/1997, 14.63


Wettbewerb und moralisches Verhalten scheinen unversöhnbar zusein, wenn wettbewerbliches Handeln ein Handeln belohnt, das grundlegendenmoralischen Vorstellungen nicht entspricht. Karl Homann suchtaus diesem Dilemma einen Ausweg, indem er in Anlehnung an AdamSmith eine Unterscheidung zwischen Spielregeln und Spielzügen vornimmt.<strong>Die</strong> politische und rechtliche Rahmenordnung gibt die Spielregelnvor, nach denen agiert wird. Innerhalb <strong>der</strong> vorgegebenen Spielregelnnehmen die wirtschaftlich Handelnden Spielzüge vor. Ort <strong>der</strong> Moral istnicht mehr das individuelle Handeln. Deshalb formuliert Karl Homann dieGrundthese seines Ansatzes für eine Überwindung des Dualismus vonEthik und Ökonomie: “Der systematische Ort <strong>der</strong> Moral in einer Marktwirtschaftist die Rahmenordnung.” 140 Moral und wirtschaftliche Effizienzsind jeweils auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt. “<strong>Die</strong> Effizienz inden Spielzügen, die Moral in <strong>der</strong> Spielregeln. (...) Unter diesen Bedingungen<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wirtschaft (...) ist die Moral nicht (mehr) in deneinzelnen Handlungen, also nicht in den Spielzügen zu finden. (...) Wennman moralische Werte geltend machen will, muß man folglich an denRahmenordnungen, also an <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung, ansetzen.” 141Karl Homann erachtet nur das als ethisch gerechtfertigt, was in <strong>der</strong>ökonomischen Axiomatik an Werten vorhanden ist. <strong>Die</strong>ses wirtschaftsethischeKonzept entsorgt das ethische Handeln als solches. Eine Differenzierungzwischen Spielregeln und Spielzügen übersieht, daß auf denbeiden Ebenen, <strong>der</strong> Spielregeln in <strong>der</strong> Rahmenordnung und <strong>der</strong> Spielzügeim Handeln, jeweils sehr wohl Ethik angesiedelt ist. Ordnungsethikund Handlungsethik sind nicht auf zwei Ebenen unverbunden und getrenntangesiedelt, son<strong>der</strong>n aufeinan<strong>der</strong> angewiesen. Sie müssen wohlunterschieden, dürfen jedoch nicht getrennt werden. Karl Homanns Thesevom systematischen Ort <strong>der</strong> Ethik in <strong>der</strong> Rahmenordnung läßt sich mitguten Gründen gänzlich umdrehen: Der systematische Ort <strong>der</strong> Moral liegtin den Handlungen <strong>der</strong> Menschen - auch in <strong>der</strong> Marktwirtschaft und auchbei <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Rahmenbedingungen. Der systematische Ort <strong>der</strong>Ethik wechselt tatsächlich ständig: Akteure handeln aus ethischen Motivenund gestalten die Rahmenordnung; die von ihnen gestaltete Rahmenordnungwird selber zu einem Ort <strong>der</strong> Ethik. <strong>Die</strong> Rahmenordnung jedochist nicht ein für allemal fertig, son<strong>der</strong>n wird in einem andauerndengeschichtlichen Prozeß gestaltet und verän<strong>der</strong>t. Wirtschaftlich verantwortlichesHandeln hat damit zu tun, daß die handelnden Personen sichselber als Teil eins Systems begreifen, in dem sie verantwortlich aktivsind. Der Manager einer Düngemittelfabrik ist für die Folgen seiner Ent-141140 K. Homann u. F. Blome-<strong>Dr</strong>ees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, Göttingen 1992, 35 (kursivim Original).Ebd. 35f.64


scheidungen verantwortlich wie <strong>der</strong> Betriebsrat o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Personalchef fürseine Entscheidungen. <strong>Die</strong>jenigen, die wirtschaftliche tätig sind und dieLebens- und Arbeitsverhältnisse gestalten, handeln ethisch.Zwischen Ethik und Recht zu unterscheiden, ist gerade ein Ergebnis<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne, das nicht rückgängig gemacht werden darf. Karl Homannselber erläutert seine Grundthese vom Ort <strong>der</strong> Ethik in den Ordnungenbezeichnen<strong>der</strong>weise genau dadurch, daß er zu den RahmenbedingungenElemente <strong>der</strong> Rechtsordnung aufzählt: “Verfassung, Gesetze, Wirtschaftsordnung,Wettbewerbsordnung, Steuergesetze, Justizapparat,(...):” 142 Daß diese Rahmenordnung jedoch Ergebnis des politischenHandelns aus ethischen Motiven ist, kommt bei Homann nicht in denBlick.Zwei Momente begründen nach Karl Homann die moralische Qualität<strong>der</strong> Marktwirtschaft. Zum einen belohne sie den, <strong>der</strong> das Wohl <strong>der</strong> Mitmenschenför<strong>der</strong>e; zum an<strong>der</strong>en baue das Wettbewerbsprinzip systematischMachtpositionen ab. 143 Es mache geradezu ein Merkmal <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>neaus, daß die moralische Qualität den Institutionen und eben nichtdem Verhalten des Individuums zukomme. “Damit erhält das Selbstinteresse- Moralisten reden von Egoismus - eine ökonomisch-funktionaleBegründung für die Ethik.” 144 Der Eigennutz kann dann zu einem respektablenmoralischen Verhalten avancieren.Von diesen Voraussetzungen aus kommt Karl Homann zu einem moralischenUrteil über die Vorzugswürdigkeit ökonomischer Systeme.Marktwirtschaft ist an sich moralisch qualifiziert und wird es nicht erstdurch eine an ethischen Zielvorgaben orientierte Gestaltung. “Wir verbietenuns den verbreiteten, theoretisch aber unhaltbaren Ausweg, die moralischeQualität <strong>der</strong> Marktwirtschaft in den sozialen Korrekturen und Abfe<strong>der</strong>ungendieser Marktwirtschaft zu sehen. Es geht uns um die moralischeQualität <strong>der</strong> Marktwirtschaft als solcher. .. <strong>Die</strong> moralische Vorzugswürdigkeit<strong>der</strong> Marktwirtschaft liegt darin, daß sie das beste bisher bekannteMittel zur Verwirklichung <strong>der</strong> Solidarität aller Menschen darstellt.”145 <strong>Die</strong>se Denkhaltung sucht Ethik dadurch in einen Zusammenhangmit wirtschaftlichen Prozessen zu bringen, daß Ethik dabei nichtgegen die Wirtschaft zur Geltung gebracht wird. “Moralische Intentionenkönnen nicht gegen die mo<strong>der</strong>ne Wirtschaft realisiert werden, son<strong>der</strong>nnur in ihr und durch sie.” 146 So läßt sich dann von einer “Moral <strong>der</strong> Märk-142 K. Homann, Individualisierung: Verfall <strong>der</strong> Moral? 14.143 K. Homann, F. Blome-<strong>Dr</strong>ees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 50144 K. Homann, Verfall <strong>der</strong> Moral? In: WirtschaftsWoche Nr. 38 vom 12.9.1996, 39.145 K. Homann, F. Blome-<strong>Dr</strong>ees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 49.146 K. Homann, Wirtschaftsethik. <strong>Die</strong> Funktion <strong>der</strong> Moral in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wirtschaft, in:J.Wieland (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft, Frankfurt 1993, 39.65


te” 147 sprechen. <strong>Die</strong> Marktwirtschaft selber - nicht einmal mit einem Adjektiv“sozial” versehen - ist ethisch. Ihre Ethik ist ihre Effizienz. Und deshalb:“Wohlstand ist Ermöglichung von Freiheit.” 148 <strong>Die</strong> ökonomische Rationalitätbegründet die Wert- und Normvorstellungen. Referenzrahmendieses Ansatzes ist eine Konzeption, die sich selber “ökonomischer Imperialismus”nennt. 149 <strong>Die</strong> entscheidende Schwäche <strong>der</strong> Konzeption vonKarl Homann liegt darin, daß er alle sozialen Beziehungen auf ökonomischrationales Handeln zurückführen will. <strong>Die</strong>se Konzeption aber verkenntdie tatsächlich vorhandenen solidarischen Strukturen in einer Gesellschaft,wenn sie meint, daß Gesellschaften allein durch die Nutzenmaximierung<strong>der</strong> je einzelnen ihren Zusammenhalt und die solidarischenBeziehungen sichern können.Karl Homann will Ethik dadurch mit <strong>der</strong> Ökonomik versöhnen, daßEthik ihren systematischen Ort allein in <strong>der</strong> Rahmenordnung erhält. In einersolchen Versöhnung von Ethik und Ökonomik kommt jedoch Ethikals eigener Zugang zur Wirklichkeit nicht selber zur Sprache. Ethik stehtnämlich für das Bemühen, gerade wegen aller systemlogischen Einschränkungenund fachlichen Ausdifferenzierungen dennoch zu einerfachübergreifenden Verständigung beizutragen und die verschiedenenZugangsweisen zur Wirklichkeit, die Ökonomik und Ethik kennzeichnen,miteinan<strong>der</strong> in Beziehung zu setzen. <strong>Die</strong>se Spannung löst Karl Homannauf, indem er den spezifischen Zugang zur Wirklichkeit, welcher <strong>der</strong>Ethik zu eigen ist, nicht zuläßt. <strong>Die</strong> Folge ist: <strong>Die</strong> Ökonomik kann danngerade nichts von <strong>der</strong> Ethik und umgekehrt auch die Ethik nichts von <strong>der</strong>Ökonomik lernen.Karl Homann blendet aus, daß Menschen moralisch handeln, wennsie wirtschaftlich tätig sind. Indem er dieses moralische Handeln aberausblendet, trägt er zu einer Erosion eben jener Moral bei, <strong>der</strong>en jedeMarktwirtschaft für ihr Funktionieren bedarf, denn wenn nur noch zweckrationalesVerhalten prämiert wird, gilt am Ende auch nur noch die“Marktethik” als einzige Ethik. <strong>Die</strong> Entsorgung <strong>der</strong> Ökonomie von Ethikbestätigt eine Ökonomie, in <strong>der</strong> das moralische Handeln des Menschenausgeschlossen ist. Eine solche Ökonomie-Ethik bringt wohl Ethik undÖkonomie zur Deckung, aber um den Preis, daß sie nicht mehr leistet,als daß sie ein bestehendes ökonomisches System auch noch mittels147 W. Weimer, Das Teilen und die Moral <strong>der</strong> Märkte. Wirtschaftsleitartikel, in: FAZ Nr. 299 vom24.12.1993, 9; so auch K. Homann, Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, in: J. Gründel(Hg.), Leben aus christlicher Verantwortung. Ein Grundkurs <strong>der</strong> Moral, Bd. 2, Düsseldorf1992, 70-116.148K. Homann, Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 98.149 G.S. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung des menschlichen Verhaltens, 2. Aufl. Tübingen1993.66


Ethik überhöht. Deshalb unterbleibt die interdisziplinäre Verständigung,die sie eigentlich wollte.Nach dem Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> sozialistischen Systemalternative kann sichdiese Denkhaltung zudem bestätigt fühlen. Nicht allein <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft wird nunmehr eine “moralische Qualität” bescheinigt; <strong>der</strong>so lange diskreditierte und verpönte Begriff Kapitalismus wird rehabilitiert.Rehabilitiert wird aber nicht allein <strong>der</strong> Begriff - auch die Sache selber,nämlich eine Marktwirtschaft, die sich aller Attribute entledigt hat. Sokann <strong>der</strong> Wirtschaftsethiker Peter Koslowski in <strong>der</strong> nach 1989 erfolgtenNeuauflage seines Buches zur Ethik des Kapitalismus sagen: “<strong>Die</strong> bisherals selbstverständlich vorausgesetzte pejorative Bedeutung des BegriffsKapitalismus gilt nicht mehr.” 150 Marktwirtschaft wird nicht nur als alternativlos,sie wird quasi als Ergebnis eines geschichtlichen Selektionsvorgangsangesehen und nunmehr als „naturgemäß‟ verteidigt. Sie brauchtdeshalb auch keine Ethik als Wertorientierung, die von außen und nichtaus <strong>der</strong> Ökonomie selber kommt. Eine Begründungsfigur stellt ganz offeneine Entsprechung zwischen <strong>der</strong> Qualität <strong>der</strong> Marktwirtschaft und einembiologischen Motiv her. 151 Das ökonomische Gewinnmotiv entsprechedem biologischen Selbsterhaltungstrieb. Deshalb könne sich diesesökonomische Gewinnmotiv als eine quasi naturgemäße Triebkraft <strong>der</strong>Ökonomie ausgeben. “Eine Unternehmer-Ethik, die den natürlichenSelbsterhaltungstrieb nicht bekämpft, ihn vielmehr umlenkt zum Nutzenund im <strong>Die</strong>nst des Ganzen, zur Steigerung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Wohlfahrt- eine solche Ethik verdient Respekt.” Eine Marktökonomie, die sichals naturgemäß begründet und gegen kritische Infragestellungen immunisiert,unterliegt einem fatalen naturalistischen Fehlschluß. Sie schließtvon geschichtlichen und gesellschaftlichen Entwicklungen auf einen evolutivenVorgang.2.3 Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen<strong>Die</strong> Ökonomie hatte sich lange in einer Arbeitsteilung eingerichtet: Ethikwurde nicht in einen Zusammenhang mit Ökonomie gebracht und umgekehrt.Ökonomie galt als ethikneutral und allein Sachgesetzen und ihrenZwängen unterworfen. Ein solches arbeitsteiliges Denken zwischenÖkonomie und Ethik ist unter <strong>Dr</strong>uck geraten. Sind es doch genau jenevon <strong>der</strong> Wirtschaft selbst hervorgerufenen Probleme, die diese ethischeUnbekümmertheit in Frage stellen. Während die Logik des Sachzwangswirtschaftlichen Handelns zwar ein getrenntes Nebeneinan<strong>der</strong> von Ethik150 P. Koslowski, Ethik des Kapitalismus, 4. Aufl. Tübingen 1991, 10.151 W. Weimar, Das Teilen und die Moral <strong>der</strong> Märkte.67


und Wirtschaft behauptet, faktisch jedoch die Ethik <strong>der</strong> Wirtschaft unterordnet,so bringt <strong>der</strong> Ansatz von Karl Homann wohl Ethik und Wirtschaftzur Deckung - doch um den Preis, daß Ethik in Ökonomie aufgeht. WelcherMaßstab gilt aber für moralisches und welcher für wirtschaftlichesHandeln? Auf diese Frage kennen beide Argumentationen keine Antwort.Sie verorten die Zugänge zu ethischen Fragen im Zusammenhang desWirtschaftens abstrakt und abseits konkreter gesellschaftlicher Strukturen,Prozesse und Auseinan<strong>der</strong>setzungen. Darin zeigt sich eine eigentümlicheArbeitsteilung zwischen denen, die theoretisch Ethik konstituierenund denen, die in <strong>der</strong> Praxis ökonomisch handeln. Ethische Normensind jedoch nicht im Elfenbeinturm zu Hause. Sie entstehen überall dort,wo um mehr Humanität, um mehr soziale und wirtschaftliche Gerechtigkeitgerungen wird.Friedhelm Hengsbach hat deshalb die Arbeitsteilung zwischen Ethikund Ökonomie, aber auch die zwischen Spielregeln und Spielzügen (KarlHomann) einer Kritik unterzogen. Seine Gegenthese lautet: Bezugspunkt<strong>der</strong> Wirtschaftsethik ist zwar die Rahmenordnung <strong>der</strong> Wirtschaft als Ort<strong>der</strong> Ethik, doch diese Rahmenordnung ist ihrerseits bereits institutionellgeronnenes Ergebnis ethisch bedeutsamer politischer Praxis. PolitischePraxis findet jedoch nicht nur außerhalb, son<strong>der</strong>n auch innerhalb diesesRahmens statt. Ort <strong>der</strong> Ethik in <strong>der</strong> Marktwirtschaft ist nicht allein dieRahmenordnung, son<strong>der</strong>n auch das Handeln innerhalb des Rahmens.Der Ort, an dem Ethik und Ökonomie bereits vermittelt sind, ist die politischeÖffentlichkeit, in <strong>der</strong> sich das politische und soziale Handeln vollzieht.Der Sozialethiker Friedhelm Hengsbach hat eine “Wirtschaftsethiksozialer Bewegungen” 152 vorgelegt, die Ökonomie und Ethik nicht abstraktvermittelt, son<strong>der</strong>n die Beiträge <strong>der</strong> politisch-öffentlichen Debatteüber die Rahmenordnung <strong>der</strong> Wirtschaft und die Praxis zur Verän<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Rahmenordnung aufnimmt, in <strong>der</strong> ethische und ökonomische Aussagenimmer schon miteinan<strong>der</strong> verbunden sind. Sein Ansatz einer “Wirtschaftsethiksozialer Bewegungen” ist nicht abseits gesellschaftlicherProzesse angesiedelt. Deshalb stellt <strong>der</strong> Sozialethiker FriedhelmHengsbach auch Wirtschaftsethik in einen Zusammenhang mit einerverän<strong>der</strong>nden Praxis. Er versteht Wirtschaftsethik als einen Reflexionsprozeß,bei dem das Kräftespiel <strong>der</strong> Interessengruppen im politischenEntscheidungsprozeß reflektiert und die fortwährende Reform des Wirt-152 F. Hengsbach, Interesse an Wirtschaftsethik, in: Jahrbuch für Christliche Sozialwissenschaften,Münster 29 (1988) 127-150; <strong>der</strong>s., Arbeitsethische Innovationen durch alte und neue sozialeBewegungen, in: B. Bievert, M. Held (Hg.), Ethische Grundlagen <strong>der</strong> ökonomischen Theorie.Eigentum, Verträge, Institutionen, Frankfurt 1989, 156-188; <strong>der</strong>s., Wirtschaftsethik, 66-80;<strong>der</strong>s., Art. Soziale Bewegungen, in: G. En<strong>der</strong>le u.a. (Hg.), Lexikon <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, Freiburg1993, Sp. 963-968.68


schaftssystems durch ethische Impulse, die von sozialen Bewegungenausgehen, kritisch und sympathisch begleitet wird. “Wirtschaftsethik istinnerer Bestandteil und Resultat gesellschaftlicher Entscheidungsprozesseund Konflikte, die ganz erheblich von sozialen Bewegungenreflektiert und getragen wurden.” 153<strong>Die</strong> von Friedhelm Hengsbach vorgelegte Vermittlung von Ökonomikund Ethik weigert sich, ökonomisches Handeln und ethisches Urteileno<strong>der</strong> Handeln gleichsam auf zwei verschiedene Welten zu verteilen.Ethik ist nicht allein angesiedelt in einem ethisch bedeutsamen Ordnungsrahmen,<strong>der</strong> wie<strong>der</strong>um selber alles ökonomische Handeln innerhalbdieses Ordnungsrahmens ethisch entlastet, wie es bei Karl Homannheißt. <strong>Die</strong> Orte und die Subjekte <strong>der</strong> Wirtschaftsethik rücken deswegenin das Zentrum. 154Friedhelm Hengsbach sieht in den sozialen Bewegungen Subjekte <strong>der</strong>Wirtschaftsethik. Der herkömmliche wirtschaftsethische Diskurs betrachtetdagegen vornehmlich Unternehmensleitungen, Manager und unternehmerischtätige Funktionsträger als wirtschaftsethisch relevante Subjekte,die kommunikative Prozesse o<strong>der</strong> Organisationsprozesse in Unternehmeninitiieren o<strong>der</strong> eine corporate identity des Unternehmens verstärken.Es waren auch Unternehmensleitungen, die vor zwei bis dreiJahrzehnten Ethik “entdeckten” und sich ethische Unternehmensrichtlinien(code of ethics o<strong>der</strong> code of conducts) gaben, in denen sie Werteformulierten, die für das Unternehmen Geltung gegenüber Kapitalgebern,Mitarbeitern, Kunden, allgemein gegenüber <strong>der</strong> Gesellschaft haben sollten.Betriebsräte, Vertrauensleute o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Organe <strong>der</strong> Betriebs- undUnternehmensverfassung dagegen sind bezeichnen<strong>der</strong>weise keine Subjektevon Wirtschaftsethik. 155<strong>Die</strong> “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” hat demgegenüber einenan<strong>der</strong>en sozialen Ort. Sie entsteht aus einer Betroffenheit über Ungerechtigkeiten,die als strukturell bedingt wahrgenommen werden. MöglicheHumanität wird vorenthalten, Lebenschancen werden ungleich verteilt.Gegen diese leidvollen Erfahrungen setzen sich Menschen zurWehr. Das Leiden an einer konkreten Lage bringt Leitbil<strong>der</strong> für eine an-153 F. Hengsbach, Wirtschaftsethik, 168, vgl. auch 66f.154So F. <strong>Segbers</strong>, <strong>Die</strong> Praxis <strong>der</strong> Gewerkschaftsbewegung reflektieren. Zu einer Wirtschaftsethikam Ort <strong>der</strong> Arbeit, in: kda. Kirchlicher <strong>Die</strong>nst in <strong>der</strong> Arbeitswelt. Zeitschrift für evangelischeArbeitnehmer, Bad Boll Nr. 1 / Februar 1990, 15f.155 Vgl. dazu exemplarisch: J. Wieland, <strong>Die</strong> Ethik <strong>der</strong> Wirtschaft als Problem lokaler und konstitutionellerGerechtigkeit, in: <strong>der</strong>s. (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft, Frankfurt1993, 7-31.; K.- W. Dahm, Management of Values. Ethikseminare für Führungskräfte, Teile I-III, Teile IV - V, in: Forum Wirtschaftsethik 1 (1993) 4-9; Forum 2 (1994) 3-11.; <strong>der</strong>s., UnternehmensbezogeneEthikvermittlung. Literaturbericht: Zur neueren Entwicklung <strong>der</strong> Wirtschaftsethik,in: Zeitschrift für evangelische Ethik 33 (1989) 121-147.69


<strong>der</strong>e Zukunft hervor. Gegen menschliche, soziale, ökonomische o<strong>der</strong>ökologische Defizite setzt man sich zur Wehr und versucht, Schritt fürSchritt, das Bild einer besseren Zukunft Wirklichkeit werden zu lassen.<strong>Die</strong>ses solidarische Handeln ist ethisch gehaltvoll und drängt politisch darauf,die als ungerecht erfahrenen Verhältnisse zu überwinden. Man gibtsich deshalb nicht zufrieden mit <strong>der</strong> Rede von einer ethischen Qualitäteiner marktwirtschaftlichen Ordnung, die dann doch wie<strong>der</strong> wertneutraleSteuerungsmittel zuläßt und das wirtschaftliche Geschehen nach ökonomischenRegeln ablaufen läßt. <strong>Die</strong> Wirtschaftsethik sozialer Bewegungenverteilt die prozeßethische Verantwortung für eine Humanisierungdes Kapitalismus auf zahlreiche kollektive Entscheidungsträger.We<strong>der</strong> Unternehmer noch Verbraucher noch Gewerkschaften sind in <strong>der</strong>Lage, die wirtschaftsethisch gebotenen Reformen jeweils allein durchzuführen.Erst die Kooperation, aber auch <strong>der</strong> Konflikt <strong>der</strong> verschiedenenwirtschaftsethisch relevanten Trägergruppen eröffnet die Chance, jeneReformen in Angriff zu nehmen, die für mehr Humanität und Gerechtigkeit<strong>der</strong> Marktwirtschaft vonnöten sind.Das Unbehagen nicht weniger Menschen an einer Wirtschaft ohneMoral drückt sich in den Leitlinien aus, die Wirtschaften und Moral wie<strong>der</strong>zusammenbringen wollen. Nicht einzelne, son<strong>der</strong>n ganze Gruppen,Schichten o<strong>der</strong> Personenkreise sind von dieser Situation betroffen. DerenUnbehagen bündelt sich in kollektiven Trägern. Beson<strong>der</strong>s sind diesdie sozialen Bewegungen, die auf soziale und ökologische Defizite undauch auf die Grenzen <strong>der</strong> Marktwirtschaft verweisen. <strong>Die</strong>se sozialen Bewegungensind von einem Ethos motiviert. Sie sind die verteilungskritischenAgenturen <strong>der</strong> Neuzeit, die in praktisch-politischen Auseinan<strong>der</strong>setzungenentscheidend dazu beigetragen haben, die jeweils herrschendensozialen Ungleichheiten abzubauen und mehr Gerechtigkeitschaffen. Geschichtlich ist auf den ethisch bedeutsamen und politischwirksamen Beitrag sozialer Bewegungen hinzuweisen, die den industriellenKapitalismus umgebogen haben. Sie haben diesem in einem langengeschichtlichen Prozeß, <strong>der</strong> noch immer andauert, Humanität und Gerechtigkeitabgerungen. <strong>Die</strong> Gewerkschafts- und Arbeiterbewegungkämpfte und kämpft um humane Arbeitsbedingungen wie Achtstundentag,Koalitionsrecht, Arbeitsschutz. In diesen Kämpfen zeigt sich eineEthik <strong>der</strong> sozialen Gerechtigkeit. Der Frauenbewegung geht es zentralum die Gleichberechtigung, sei es in <strong>der</strong> Gestalt <strong>der</strong> politischen Teilhabe,des Zugangs zu Erwerbsberufen o<strong>der</strong> des gleichen Lohnes für gleicheArbeit. Eine Ethik <strong>der</strong> Partizipation und <strong>der</strong> gleichen Würde aller Menschenunabhängig vom Geschlecht kommt darin zum Ausdruck. <strong>Die</strong>Friedensbewegung weigert sich, Rüstungsproduktion o<strong>der</strong> Waffenexportum ökonomischer Interessen willen in Kauf zu nehmen. Eine Ethik des70


Friedens zeigt sich hier. <strong>Die</strong> Suche nach einer Versöhnung von Ökonomieund Ökologie, für die die Umweltbewegung steht, achtet auf dieRechte <strong>der</strong> Schöpfung. Ihre Ethik ist eine Ethik <strong>der</strong> Schöpfung. Erstdurch diese Bewegungen kann Ethik politisch wirksam werden. Ethikkommt nicht von außen und entsteht auch nicht abseits sozialer o<strong>der</strong>ökologischer Defizite. Sie hat ihren Ursprung in eben diesen Schieflagen,und sie hat ihren Ort in den Bewegungen. Deshalb hat Ethik vor allem ihrenOrt bei denen, die “hungern und dürsten nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit” (Mt5,6).71


ZWEITER TEILWIRTSCHAFTSETHIK DER BIBEL:WIRTSCHAFTEN AUS DER LOGIK DER HUMANITÄT73


3. WIRTSCHAFTSETHIK AUS DER OPTIONFÜR DIE ARMEN3.1 Diskursethische Begründung von Wirtschaftsethik<strong>Dr</strong>ei unterschiedliche Diskurse sind im Verfahren <strong>der</strong> wirtschaftsethischenUrteilsbildung zu unterscheiden. Im Begründungsdiskurs werdendie spezifischen ethischen Orientierungen begründet. Im Anwendungsdiskurswerden die normativen Vorgaben mit an<strong>der</strong>en Logiken konfrontiert.Dabei ist die aus den christlichen Normen entwickelte Entscheidungslogikals eine unter an<strong>der</strong>en zu verstehen. Normenkollisionen undNormenkonflikte sind bei dieser Pluralität von Normen deshalb prinzipiellgegeben und auch als Teil einer demokratischen Kultur zu betrachten.Biblisch und sozialethisch begründete Normen und Werte können denspezifischen Beitrag theologischer Ethik im Diskurs in einer pluralistischenGesellschaft beschreiben. Im Anwendungsdiskurs werden die begründetenNormen kontextualisiert. In einem dritten Diskurs muß nach<strong>der</strong> Gültigkeit <strong>der</strong> Normen in konkreten Situationen gefragt werden. 156Der Begründungsdiskurs soll das Ethos, das sich in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> nie<strong>der</strong>geschlagenhat, darlegen, reflektieren und entfalten (Abschnitt. 3-6). DerAnwendungsdiskurs eruiert die in <strong>der</strong> Marktwirtschaft impliziten Normen(Abschnitt. 8), die nach ihrer Gültigkeit befragt werden (Abschnitt 9 und10).In seiner Wirtschaftsethik entfaltet Yorick Spiegel einen Ansatz ethischerUrteilsbildung, <strong>der</strong> theologische Traditionen, ethische Einsichtenund den spezifisch christlichen Beitrag berücksichtigen will. Weil es keineethische Tradition, aber auch keine allein aus <strong>der</strong> Vernunft heraus zu begründendeEthik mit einem Absolutheitsanspruch geben kann, muß jedeethische Urteilsbildung drei Kriterien erfüllen:156 Mit diesem Verfahren orientiere ich mich modifiziert an: J. Wieland, “Option für die Armen?”,Grenzübergänge <strong>der</strong> Sozialethik, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 62ff.74


- <strong>Die</strong> Aussagen einer Ethik müssen einsichtig sein;- eine Ethik muß dialogfähig mit an<strong>der</strong>en ethischen Ansätzen sein undauf diese an<strong>der</strong>en Ansätze eingehen;- eine Ethik muß in <strong>der</strong> Lage sein, Anfragen an<strong>der</strong>er Ansätze zu überprüfeno<strong>der</strong> aber zu integrieren. 157Kurz nach <strong>der</strong> Wende hat das Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundesin <strong>der</strong> DDR 1990 einen Weg ethischer Argumentation vorgeschlagen,<strong>der</strong> sowohl dem universalen Ansatz ethischer Argumentationgerecht werden als auch einen spezifisch christlichen Beitrag leisten will:“<strong>Die</strong> Auffassung christlicher Ethik kann sich nur als eine von mehrerenPerspektiven verstehen und wird den Dialog suchen, statt rigoristischeFor<strong>der</strong>ungen zu stellen. Der Dialog setzt Lernfähigkeit bei sich selber vorausund traut sie auch den an<strong>der</strong>en zu. Der Dialog sucht Verständigungüber gemeinsame Werte, Wege und Ziele. Er appelliert an Vernunft,welche nicht eine urgeschichtlich gegebene und bloß abrufbare Größedarstellt, son<strong>der</strong>n stets im Vernehmen des hier und heute Menschlichenund Sachlichen Gestalt gewinnt.” 158Christliche Ethik erhebt einen doppelten Anspruch: Zum einen ist sieeine Orientierung für Christen, zum an<strong>der</strong>en ein Beitrag in einem umfassen<strong>der</strong>enöffentlichen Diskurs. Christliche Ethik wird zunächst Christenbei ihrer theologisch-ethischen Handlungsorientierung unterstützen, ohneimmer zugleich schon an eine Kommunikabilität gegenüber Nichtchristenzu denken. Sie hat aber auch einen öffentlichen Anspruch, <strong>der</strong> siekommunikabel mit <strong>der</strong> Gesellschaft machen muß und davor bewahrt, nureine christliche Binnenmoral zu sein. Das Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong>Kirchen Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit (1997) ist einherausragendes Beispiel für einen solchen gesellschaftlichen Diskurs,<strong>der</strong> Gründe für Solidarität und Gerechtigkeit argumentativ einbringen undgesellschaftlich plausibel machen kann, aber auch eine ethische Orientierungfür Christen bieten will. Das theologische Argument beanspruchtdann keine Allgemeinverbindlichkeit, ist aber argumentativ so darzulegen,daß es <strong>der</strong> Verständigung in <strong>der</strong> Gesellschaft über das, was geltensoll, dienlich sein kann. Wie läßt sich ein moralisch begründeter und gesellschaftlichbedeutsamer Konsens herstellen, den gerade eine Gesellschaftbraucht, die im Zuge ihrer Pluralisierung Traditionen verloren hat,die von allen geteilt werden?<strong>Die</strong> formalistisch-prozedurale Rationalität argumentieren<strong>der</strong> Vernunft,wie sie sich im Konzept <strong>der</strong> Diskursethik begründet, gilt es für jene ethi-157 Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftsspraxis, 17f.158 Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes in <strong>der</strong> DDR. Verantwortlich wirtschaften. Studienzu Fragen christlicher Wirtschaftsethik, 1990 (Manuskript).75


schen Einsichten zu öffnen, die sich in biblischen Traditionen nie<strong>der</strong>geschlagenhaben. <strong>Die</strong>se Traditionen biblischen Argumentierens sind gesättigtmit <strong>der</strong> Erinnerung an den befreienden Gott. Biblisch-ethische Rationalitätund die Rationalität argumentieren<strong>der</strong> Vernunft brauchen in keinerWeise in einen Streit um den jeweiligen Anspruch auf Überlegenheiteinzutreten. In pluralistischen Gesellschaften können zwar religiös vermittelteethische Einsichten o<strong>der</strong> Geltungsansprüche nicht mehr mit allgemeinerZustimmung rechnen. Universale Verbindlichkeit wird ethischesArgumentieren, das sich biblisch fundiert, dennoch reklamierenkönnen, wenn es gelingt, bibeltheologisch begründete ethische Optionenauch durch rationale Argumente plausibel zu machen. DiskursethischesArgumentieren beschränkt sich auf ein Verfahren zur Findung allgemeinverbindlicherNormen und nimmt nicht das Gute, son<strong>der</strong>n nur das Gerechteals Verfahrensgerechtigkeit in den Blick. <strong>Die</strong> diskursethische Argumentationkann deshalb auch nicht die Beiträge biblischer Einsichten,die nicht in dieser formalistischen Weise um gehaltvolle Visionen des gutenLebens kreisen, abrufen. Deshalb fragt Jürgen Habermas auch, ob“denn von den religiösen Wahrheiten, nachdem die religiösen Weltbil<strong>der</strong>zerfallen sind, nicht mehr und nicht an<strong>der</strong>es als nur die profanen Grundsätzeeiner universalistischen Verantwortungsethik gerettet - und d.h.:mit guten Gründen, aus Einsicht, übernommen werden können:” 159Jürgen Habermas gesteht gerade in Rahmen seines diskursethischenAnsatzes einem biblisch-ethischen Argumentieren eine spezifische Rollezu. Biblisch begründetes ethisches Argumentieren wird nach Habermasauf die Kirche als “eine von mehreren Interpretationsgemeinschaften”verweisen und theologisch-sozialethisches Argumentieren so darlegenmüssen, daß “ihre Konzeptionen des Heils, ihre Visionen eines nichtverfehltenLebens” öffentlich zur Sprache gebracht werden und mit an<strong>der</strong>enEntwürfen “um die überzeugendste Interpretation von Gerechtigkeit,Solidarität und <strong>der</strong> Errettung aus Not und Erniedrigung” streiten. 160Christliche Ethik wird sich deshalb als eine unter mehreren Perspektivenverstehen und sich in einen Dialog einbringen müssen. Ein von religiösenTraditionen bestimmtes Reden kann “inspirierende, ja unaufgebbare semantischeGehalte mit sich führen, die sich <strong>der</strong> Ausdruckskraft einer philosophischenSprache (vorerst?) entziehen und <strong>der</strong> Übersetzung in begründeteDiskurse noch harren:” 161 Habermas bezieht diese Gehalte aufBegriffe wie Freiheit, Humanität, Gerechtigkeit o<strong>der</strong> Moralität, die wirnicht “ernstlich verstehen können, ohne uns die Substanz des heilsge-159 J. Habermas, <strong>Die</strong> neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften, Bd. V., 3. Aufl. Frankfurt1986, 52.160 J. Habermas, Israel und Athen, in: Orientierung 57 (1993) 243.161 J. Habermas, Nachmetaphysisches Denken, 2. Aufl. Frankfurt 1988, 60.76


schichtlichen Denkens jüdisch-christlicher Herkunft anzueignen:” 162 <strong>Die</strong>Erinnerung <strong>der</strong> Religion enthält ein Wissen über gelungenes und gerechtesLeben, das zu einer Praxis <strong>der</strong> Solidarität zu motivieren vermag. Bemerkenswertsind diese Argumentationen von Jürgen Habermas, weil erdie theologische Ethik daran erinnert, nicht in einem Diskurskonzept aufzugehen.Gerade für die “Rettung des Humanen” 163 hätten die Religionenein semantisches Potential. <strong>Die</strong> Diskursethik vermag zu erklären, warumes gut sei für eine Gesellschaft, sich an diese o<strong>der</strong> jene Regel zu halten.Aber warum sich jemand an diese Regel halten soll, das kann eine Diskursethiknicht begründen. Angesichts <strong>der</strong> Trennung von Gerechtem undGutem, die Jürgen Habermas ebenso wie den prinzipiellen Vorrang desprozedural Gerechten vor dem substantiell Guten beibehält, kommt demreligiösen Diskurs eine nicht zu unterschätzende Bedeutung für eine humaneund solidarische Gesellschaft zu. Diskursethik allein wird nämlichHumanität und Solidarität für das Zusammenleben in einer Gesellschaftnicht garantieren können.3.2 Der spezifische Beitrag bibeltheologischer Aspekteim wirtschaftsethischen DiskursIn <strong>der</strong> Diskursethik und <strong>der</strong> Ethik <strong>der</strong> Befreiung geht es mit den Fragen<strong>der</strong> Kontextualität o<strong>der</strong> Universalität <strong>der</strong> Vernunft immer auch um Begründungsfragenethischen Handelns. Der lateinamerikanische PhilosophEnrique Dussel hat einen Entwurf einer universalen Ethik vorgelegt,<strong>der</strong> einen interessanten und weiterführenden Beitrag zur Grundlegungeiner theologischen Sozial- und Wirtschaftsethik leisten kann. Auch wenndieser Ansatz sprachlich und begrifflich sehr deutlich vom politischen,ökonomischen und theologischen Kontext Lateinamerikas geprägt ist,kann er mit seinen theoretischen wie methodologischen Neuansätzendoch auch einen wichtigen Anstoß zu einer europäischen Ethikdiskussiongeben. 164 Er relativiert nämlich die Perspektiven des europäischen162 Ebd. 23.163 J. Habermas, Philosophisch-politische <strong>Prof</strong>ile, erw. Ausgabe Frankfurt 1987, 390.164 A. Lienkamp, <strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung des Denkens durch den Schrei <strong>der</strong> Armen. E. Dussels Entwurfeiner Ethik <strong>der</strong> Befreiung, in: F. Hengsbach u.a. (Hg.), Jenseits Katholischer Soziallehre.Neue Entwürfe christlicher Gesellschaftsethik, Düsseldorf 1993, 191-215; H. Schelkshorn,Diskursethik und lateinamerikanische Befreiungsethik. Zwei Varianten universalistischerEthik, in: W. Lesch, A. Bondolfi (Hg.), Theologische Ethik im Diskurs. Eine Einführung, Tübingen1995, 237-255; H. Schelkshorn, Ethik <strong>der</strong> Befreiung. Einführung in die Philosophie E.Dussels, Wien 1992; vgl. E. Dussel, Philosophie <strong>der</strong> Befreiung, Berlin 1989; <strong>der</strong>s., Ethik <strong>der</strong>Gemeinschaft, Düsseldorf 1989; <strong>der</strong>s., Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen“Vielheit” <strong>der</strong> Moralen legitimieren? In: Concilium 17 (1981) 807-813; <strong>der</strong>s., Theologie undWirtschaft. Das theologische Paradigma des kommunikativen Handelns und das Paradigma <strong>der</strong>Lebensgemeinschaft als Befreiungstheologie, in: R. Fornet-Betancourt, Verän<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Glaube77


Ethikdiskurses und vermag gerade dadurch den Blick für einen an<strong>der</strong>enBegriff von Universalität zu öffnen.Wie die Diskursethik will auch die lateinamerikanische Befreiungsethikeine Rekonstruktion und Begründung universalistischer Moral vorlegen.<strong>Die</strong>ses gemeinsame Anliegen macht ein Gespräch zwischen beidenEthiken reizvoll. <strong>Die</strong> gemeinsamen soziohistorischen Wurzeln bei<strong>der</strong>Ethikentwürfe liegen zudem in einer Zeit, die von einem moralischen Pathosgeprägt war, das im gegenwärtigen postmo<strong>der</strong>nen Klima zwarmerkwürdig deplaziert anmutet, jedoch geschichtlich keineswegs erledigtist. 165 In <strong>der</strong> Diskursethik und in <strong>der</strong> Ethik <strong>der</strong> Befreiung geht es bei denFragen <strong>der</strong> Kontextualität o<strong>der</strong> Universalität <strong>der</strong> Vernunft immer auch umBegründung und Praxis ethischen Handelns. <strong>Die</strong> Befreiungsethik formuliertkritische Einwände sowohl gegenüber <strong>der</strong> europäischen Diskursethikals auch gegenüber den nordamerikanischen Positionen des Kommunitarismus.166 Es kann hier nicht darum gehen, die Debatte und die in ihrentstandenen Positionen nachzuzeichnen. <strong>Die</strong> Kolloquien zwischen Vertretern<strong>der</strong> Diskursethik und <strong>der</strong> Befreiungsethik sind dokumentiert. 167 Indiesen Kolloquien ist überzeugend herausgearbeitet worden, daß es einebefreiungsethisch ergänzte Diskursethik bzw. eine diskursethisch korrigierteBefreiungsethik ohne Verän<strong>der</strong>ung ihrer jeweiligen Rationalitätsmodellenicht geben kann. Beide Ethiken haben einen verschiedenenAusgangspunkt. Der hermeneutische Ausgangspunkt <strong>der</strong> Befreiungsethikbei den Betroffenen, Beherrschten und Ausgeschlossenen liegtjenseits <strong>der</strong> Kommunikationsgemeinschaft, die ihrerseits Ausgangspunktdes Diskursethik ist. <strong>Die</strong> Befreiungsethik artikuliert einen spezifischenRationalitätstypus und dringt auf eine unabdingbare “Option für die Vernunft”und zwar auf eine Vernunft, zu <strong>der</strong> gerade die Diskursethik keinenZugang hat. 168Dussel will mit seiner Befreiungsethik zu einer biblisch inspirierten Begründungvon christlicher Gesellschaftsethik beitragen. Immer wie<strong>der</strong>greift er argumentativ auf biblische Traditionen zurück. <strong>Die</strong>ses Anliegenläßt nach den Möglichkeiten einer Rezeption des Ansatzes für die biblidieWirtschaft? Theologie und Ökonomie in Lateinamerika, Freiburg 1991, 39-57; <strong>der</strong>s., Ethik<strong>der</strong> Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug <strong>der</strong> “ursprünglichen ethischen Vernunft”, in:R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz o<strong>der</strong> Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischenDiskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994, 83-110.165 H. Schelkshorn, Diskursethik und lateinamerikanische Befreiungsethik, 237.166E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug <strong>der</strong> “ursprünglichen ethischenVernunft”, in: R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz o<strong>der</strong> Divergenz? 83.167R. Fornet-Betancourt (Hg.), Ethik <strong>der</strong> Befreiung, Aachen 1990; <strong>der</strong>s. (Hg.), Diskursethik o<strong>der</strong>Befreiungsethik? Aachen 1992; <strong>der</strong>s.(Hg.), <strong>Die</strong> Diskursethik und ihre lateinamerikanische Kritik,Aachen 1993; <strong>der</strong>s. (Hg,), Konvergenz o<strong>der</strong> Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischenDiskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994.168 R. Fornet-Betancourt (Hg,), Konvergenz o<strong>der</strong> Divergenz? Einführung, 10f.78


sche Begründung einer theologischen Wirtschaftsethik fragen: Läßt sichdieser Ethikentwurf auch für die Konzeption einer theologischen Wirtschaftsethikfruchtbar machen? Was bedeutet <strong>der</strong> universalistische Ansatz<strong>der</strong> Befreiungsethik für hermeneutische Fragen, die sich für denRückbezug auf biblische Schriften stellen, die aus einer an<strong>der</strong>en Zeit,Gesellschaft, Ökonomie und Kultur stammen?79


3.2.1 Hermeneutischer Ausgangspunkt: Der ArmeWährend die Diskursethik eine Universalität <strong>der</strong> Ethik in einem Apriori<strong>der</strong> Kommunikationsgemeinschaft zu begründen sucht, stellt EnriqueDussel dieses Apriori grundsätzlich in Frage. 169 Er geht davon aus, daßeine ideale Kommunikationsgemeinschaft eine Fiktion sei, da sie eine offeneGesellschaft unterstelle, zu <strong>der</strong> alle gleichen Zugang hätten. Dusselfragt nach <strong>der</strong> hermeneutischen Relevanz <strong>der</strong>er, die nicht Teilnehmerdieser diskursethisch unterstellten Kommunikationsgemeinschaft sind.Der “An<strong>der</strong>e”, <strong>der</strong> Beherrschte, <strong>der</strong> Ausgeschlossene wird deshalb beiEnrique Dussel zu einem hermeneutischen Ansatzpunkt. <strong>Die</strong>ser An<strong>der</strong>enimmt nicht an <strong>der</strong> Kommunikationsgemeinschaft teil und transzendiertsie deshalb auch. <strong>Die</strong>ser An<strong>der</strong>e ist <strong>der</strong> im System unbeachtete Arme. Injedem Gesellschaftssystem gibt es einen, <strong>der</strong> als ein An<strong>der</strong>er negiertwird. Enrique Dussel universalisiert den An<strong>der</strong>en zu einer “Alterität allermöglichen Systeme” 170 . Darin besteht auch <strong>der</strong> entscheidende kritischeEinwand gegenüber einer ontologischen Ethik: “In je<strong>der</strong> „Lebenswelt‟ gibtes notwendigerweise immer einen An<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> unterdrückt und negiertwird.” 171 <strong>Die</strong>ser An<strong>der</strong>e wird a priori negiert. Er offenbart nicht nur dieSchwäche einer als ideal unterstellten Kommunikationsgemeinschaft, an<strong>der</strong> er per definitionem nicht teilnimmt, er legt auch die Situationen undBedingungen offen, die ihn zum An<strong>der</strong>en machen und dazu führen, daßer ausgeschlossen ist. “Er ist <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> am Rande <strong>der</strong> Straße, außerhalbdes Systems, sein leidendes und deshalb herausfor<strong>der</strong>ndes Gesichtzeigt: „Ich habe Hunger! Ich habe ein Recht zu essen!‟” 172 Auf welchesRecht aber bezieht sich <strong>der</strong> Arme, daß er das Recht zu essen einfor<strong>der</strong>nkann? Wie läßt sich diese For<strong>der</strong>ung begründen?Der Arme bricht mit seiner For<strong>der</strong>ung in die reale Kommunikationsgemeinschaftein und sucht nicht einen Diskurs im Rahmen dieserKommunikationsgemeinschaft, son<strong>der</strong>n bezieht sein Recht aus etwas,das <strong>der</strong> Kommunikationsgemeinschaft vorausliegt. <strong>Die</strong> Existenz <strong>der</strong> Armenist das Urteil über den Zustand einer Gesellschaft, die Armut undArme hervorbringt. <strong>Die</strong> Armen stellen deshalb die Gerechtigkeitsfrage.“Der An<strong>der</strong>e, <strong>der</strong> Arme in seiner extremen Exteriorität dem System gegenüber,ruft nach Gerechtigkeit - d.h., er ruft nach einem außerhalb liegendenOrt.” 173 Eine universalistische Ethik, die in <strong>der</strong> Lage ist, eineKommunikations- und Lebensgemeinschaft zu konstruieren, die real und169 Vgl. dazu beispielsweise K.-O. Apel, Transformation <strong>der</strong> Philosophie. Apriori <strong>der</strong> Kommunikationsgemeinschaft,Frankfurt 1973.170 E. Dussel, Philosophie <strong>der</strong> Befreiung, 57.171 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Befreiung, 85.172 E. Dussel, Philosophie <strong>der</strong> Befreiung, 57.173 Ebd. 58.80


konkret erst allen Teilhabe verschaffen kann, entsteht durch eine Praxis<strong>der</strong> Gerechtigkeit und Solidarität.3.2.2 Der kategorische Imperativ: Das Recht <strong>der</strong> ArmenEnrique Dussel erweitert die diskursethische Kommunikationsgemeinschaft,indem er jene Stimme, “die von außerhalb her, von jenseits desHorizonts des Systems” 174 kommt, einbezieht: Das ist die Stimme desArmen, “<strong>der</strong> aufgrund seines absoluten und heiligen Rechtes als Personnach Gerechtigkeit schreit” 175 . Das Personenrecht eines jeden Menschenbegründet Gerechtigkeit für einen jeden Menschen. Der An<strong>der</strong>e,dem dieses Personenrecht auf Gerechtigkeit vorenthalten wird, wird sozu einem hermeneutischen Ort, von dem aus das Ganze interpretiertwerden kann. “Der gerechte Protest des An<strong>der</strong>en darf die moralischenPrinzipien des Systems in Frage stellen. Nur <strong>der</strong>, <strong>der</strong> ein ethisches Gewissenhat, kann diese Infragestellung vom Standpunkt eines absolutenKriteriums aus akzeptieren: <strong>der</strong> An<strong>der</strong>e als <strong>der</strong> An<strong>der</strong>e in Gerechtigkeit.”176 <strong>Die</strong>ser hermeneutische Ansatz ist “in Wirklichkeit die ursprünglich-fundamentaleethische Frage nach <strong>der</strong> dem An<strong>der</strong>en geschuldetenGerechtigkeit.” 177Wie aber läßt sich eine universale Ethik formulieren, die diesen Rufdes An<strong>der</strong>en nach Gerechtigkeit aufnimmt? Gibt es ein oberstes, absolutesethisches Prinzip, aus dem sich Kriterien und Normen für eine ethischePraxis ableiten lassen? “Welches ist das absolute Kriterium zur Begründungeiner für jede beliebige moralische Situation gültigen Ethik?” 178Um diese Fragen zu beantworten, führt Enrique Dussel eine Unterscheidungzwischen dem “Prinzip Babylon” und dem “Prinzip Jerusalem” ein.Der herrschenden Gesellschaftsmoral, dem “Prinzip Babylon”, in demRecht und Gerechtigkeit zu kurz kommen, steht eine Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft,das “Prinzip Jerusalem”, gegenüber. 179Mit dieser Unterscheidung zwischen einem “Prinzip Babylon” und einem“Prinzip Jerusalem” ist zugleich typologisch eine notwendige Differenzierungzwischen Moral und Ethik ausgedrückt, nach <strong>der</strong> die Ethik dieEbene <strong>der</strong> für jeden Menschen in je<strong>der</strong> geschichtlichen Situation gültigenpraktischen For<strong>der</strong>ungen bezeichnet, während die Moral auf die konkreteEbene in einem geschichtlichen Kontext beschränkt ist. Jedes geschicht-174 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 47.175 Ebd. 47.176 E. Dussel, Philosophie <strong>der</strong> Befreiung, 75.177 R. Fornet-Betancourt, Einleitung, in: E. Dussel, Philosophie <strong>der</strong> Befreiung, 7.178 E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen “Vielheit” <strong>der</strong> Moralen legitimieren?810. Als Beispiel einer Ethik <strong>der</strong> Lebensgemeinschaft nennt Enrique Dussel die Lebensgemeinschaftin Apg 2,42-46. So: E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 16-26.179 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 39f., 60f.81


liche, ökonomische und gesellschaftliche System betrachtet seine Praktikenallerdings selber immer als gut. Gibt es aber ein Kriterium, das dieseselbst zugesprochene “Gutheit” <strong>der</strong> Praktiken in einem bestehenden Gesellschafts-und Wirtschaftssystem von einem universal geltenden Maßstabaus kritisch beurteilen kann? Gibt es also ein absolutes Prinzip, welchesdas gesellschaftlich und geschichtlich Vorhandene relativierenkann?Enrique Dussel sieht dieses universale Prinzip, das überall, zu allenZeiten und allerorten Geltung hat, in <strong>der</strong> moralischen Substanz, die in <strong>der</strong>Würde des Menschen besteht, die jedoch überall dort verletzt wird, woMenschen Recht und Gerechtigkeit vorenthalten wird. <strong>Die</strong>se entwürdigendeSituation zu überwinden, ist <strong>der</strong> kategorische Imperativ, <strong>der</strong> universalgilt. <strong>Die</strong>ses Kriterium <strong>der</strong> praktischen Vernunft, das Enrique Dussel“das rationale kritische Kriterium schlechthin” 180 nennt, ist <strong>der</strong> kategorischeImperativ: “Befreie den Armen!” 181 o<strong>der</strong>: “Befreie die unwürdig behandeltePerson im unterdrückten An<strong>der</strong>en!” 182 Der kategorische Imperativrelativiert die geltende Moralität und fungiert wie eine regulative Idee,die jedes geschichtlich konkrete Gesellschafts- und Moralsystem einerkritischen Prüfung unterziehen kann. “Das absolute Prinzip ist die Achtung<strong>der</strong> Würde o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Heiligkeit <strong>der</strong> menschlichen Person, und zwarüberall und je<strong>der</strong>zeit.” 183 <strong>Die</strong>ser ethische Imperativ ist “transmoralisch,systemübergreifend” 184 . <strong>Die</strong> Universalität <strong>der</strong> Menschenwürde wird nichtdurch den normativen Horizont <strong>der</strong> diskursethisch unterstellten Kommunikationsgemeinschaftbegründet. Enrique Dussel lenkt vielmehr denBlick auf die Opfer, die es in jedem gesellschaftlichen und ökonomischenSystem gibt.3.2.3 Das absolute und das konkrete Kriterium <strong>der</strong> EthikDussel nimmt eine strikte Unterscheidung zwischen Moral und Ethik vor;Ethik wird als Gegenentwurf zur Moral definiert. Jedes gesellschaftlicheSystem hat seine Moral, welche die eigenen Verhältnisse für gut hält.Deshalb gibt es beispielsweise eine römische, ägyptische, babylonische,kapitalistische o<strong>der</strong> sozialistische Moral. Jedes Handeln, das in Überein-180 E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen “Vielheit” <strong>der</strong> Moralen legitimieren?811.181 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 64, 83; E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen“Vielheit” <strong>der</strong> Moralen legitimieren? 811.182E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug <strong>der</strong> “ursprünglichen ethischenVernunft”, 86.183 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 83.184 E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen “Vielheit” <strong>der</strong> Moralen legitimieren?811.82


stimmung mit dem geltenden System erfolgt, kann zwar als moralisch gutgelten, wird jedoch relativiert durch das Kriterium <strong>der</strong> universalen Ethik,wie es sich im kategorischen Imperativ ausdrückt. “Das Ethische übersteigtdas System, richtet sich nicht nach den Normen, die das geltendeSystem als gut ansieht. Das Ethische transzendiert so die Moral. (...) Esgibt jedoch nur eine Ethik, und die ist absolut: Sie gilt in je<strong>der</strong> Situationund für alle Zeiten.” 185 Es gibt ein biblisches Muster, das den Unterschiedzwischen Ethik und Moral zeigen kann. <strong>Die</strong> biblischen Propheten stelltendas herrschende Verständnis von dem in Frage, was in einer bestimmtenKonstellation <strong>der</strong> Gesellschaft als gut galt. Gesellschaftlich gesehen warendie Propheten <strong>der</strong> Bibel mit ihrer Kritik an den Verhältnissen “illegal”.Sie stellten in Frage, was die Herrschenden als “gut” und “moralisch” legitimiertansahen. 186 Worin <strong>der</strong> Unterschied zwischen Ethik und Moralbesteht, erläutert Enrique Dussel: “<strong>Die</strong> ethischen For<strong>der</strong>ungen sind moralischeGegen-For<strong>der</strong>ungen. Wenn die Moral besagt: “Respektiere denLehensherrn!”, dann gebietet die Ethik: “Respektiere den Leibeigenen!”187 Nicht die Moral <strong>der</strong> Gesellschaft, son<strong>der</strong>n die Ethik lasse nacheiner Gerechtigkeit für den Leibeigenen fragen. <strong>Die</strong>se Ethik <strong>der</strong> Befreiungverbindet Universalität und Parteilichkeit, indem sie material nach<strong>der</strong> Gerechtigkeit fragt.<strong>Die</strong>ser Ausgangspunkt qualifiziert nicht nur ethisch die biblisch gut begründeteOption für die Armen, son<strong>der</strong>n auch Perspektive, erkenntnisleitendesInteresse, Themenwahl und Problemstellung <strong>der</strong> ethisch zu behandelndenProbleme, in denen sich das ethische Grundprinzip trotz seinerAbsolutheit konkret und nicht nur abstrakt entfalten muß. “Das Prinzipist konkret und geschichtlich, deshalb heißt es, immer wie<strong>der</strong> diese„neuen‟ Armen hier und jetzt zu entdecken. Deswegen ist das Prinzip“Befreie den Armen!” ein absolutes (und keine relatives) Prinzip, aber einkonkretes (kein universales von einer Universalität, die in WirklichkeitPartikularität ist, welche sich Universalität anmaßt).” 188 Bei diesem Übergangvom Abstrakten zum Konkreten wird die bleibende Materialität desethischen Prinzips als Praxis solidarischer Gerechtigkeit entfaltet.Der kategorische Imperativ will die Achtung <strong>der</strong> Menschenwürde einesjeden und ist deshalb kontextuell-konkret und zugleich universalistisch.“Es ist reiner Zufall, ob jemand als Kind eines Millionärs in New Yorko<strong>der</strong> eines Bettlers in New Delhi zur Welt kommt. Aus theologischerSicht gibt es die For<strong>der</strong>ung, daß dieser historische „Anfangsunterschied‟später aufgehoben werden muß. Der Zufall rechtfertigt nicht, daß die Un-185 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 59.186 Ebd. 77-86.187 Ebd. 110.188 Ebd. 86f.83


schaft. 192 Der babylonische Kodex Hammurapi wendet sich an den unterdrücktenMenschen: “Damit <strong>der</strong> Starke den Schwachen nicht unterdrücke,um den Witwen und Waisen in Babylon Recht zu schaffen.” 193 DenHungrigen Brot zu geben, Wasser den Dürstenden, Klei<strong>der</strong> den Nacktenist ein fester Topos <strong>der</strong> Idealbiographien alt-ägyptischen Kultur. 194 Seitden frühesten Kulturen in <strong>der</strong> ägyptisch-mesopotamischen Welt gibt esalso eine Orientierung an dem, was Dussel den kategorischen Imperativ“Befreie den Armen!” nennt. <strong>Die</strong>se Kulturen und Religionen kannten bereitsaus diesem kategorischen Imperativ resultierende Prinzipien einerEthik, aus <strong>der</strong> die <strong>Tora</strong>, die Propheten Israels und mit ihnen auch Jesusvon Nazaret geschöpft haben und die auch heute noch gültig sind. 195Der abstrakte kategorische Imperativ will in <strong>der</strong> konkreten Person desArmen konkret werden, wie es ihn in allen Kulturen und Gesellschaftengab und gibt. “Je<strong>der</strong>mann weiß in je<strong>der</strong> konkreten Situation, wer arm undunterdrückt ist, wer weniger Möglichkeiten, Güter, Werte und Rechte besitzt.”196 Der kategorische Imperativ ist deswegen keineswegs abstrakto<strong>der</strong> konturlos; er hat einen “materialen Inhalt” 197 . E. Dussel erläutert amBeispiel des biblischen Erlaßjahres, worin <strong>der</strong> materiale Gehalt des kategorischenImperativs bestehen kann. “<strong>Die</strong> Armen werden niemals ganzaus deinem Land verschwinden. Darum mache ich dir zur Pflicht: Dusollst deinem notleidenden und armen Bru<strong>der</strong>, <strong>der</strong> in deinem Land lebt,deine Hand öffnen” (Dtn 15,11). Ethische Normen wie diese sind “absoluteethische For<strong>der</strong>ungen, die für alle Menschen und in allen relativen moralischenSystemen gültig sind ... <strong>Die</strong> moralischen For<strong>der</strong>ungen sind empirisch,geschichtlich, relativ und systembezogen, die ethischen Forde-192 So ließ <strong>der</strong> König von Lagash, Uruinimgina (2352-2343 v.Chr.), in seiner Gesetzesreform erklären:“Er befreite und erließ die Schulden für jene verschuldeten Familien (...), die als Schuldnerlebten. Er versprach Ningirsu feierlich, daß er den Waisen und die Witwen dem Unterdrückerniemals ausliefern würde.” F. Lara Peinado (Hg.), Los primeros códigos de la humanidad, Madrid1994, 24-25, zit. in: E. Dussel, Der Markt aus <strong>der</strong> ethischen Perspektive <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong>Befreiung, in: Concilium 33 (1997), 217.193 Zit. in: E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Befreiung, 86; vgl. auch E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testamentes,87. Ähnlich das ägyptische Totenbuch aus <strong>der</strong> Zeit vor bis zu 5000 Jahren mit seinenethisch-ökonomischen Kriterien: “Ich mache nicht elend. (...) Ich lege nichts auf die Waagschale(um sie aus dem Gleichgewicht zu bringen) und störe nicht das Gewicht <strong>der</strong> Waage. (...) Ichwehrte nicht das Wasser zu seiner Zeit. Ich dämmte es nicht ein bei seinem Strömen. (...) Ichraubte keine Nahrung, (...) ich (gab) Brot dem Hungrigen, (...) Wasser dem Dürstenden, Kleidungdem Nackten, eine Fähre dem, <strong>der</strong> keine hatte.” Das große ägyptische Totenbuch. Schriftendes österreichischen Kulturinstituts Kairo, Kairo 1969, Bd. I., Abschnitt 125, 32-36. zit. in:E. Dussel, Der Markt aus <strong>der</strong> ethischen Perspektive, 217.194 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 133f.195 E. Dussel, Der Markt aus <strong>der</strong> ethischen Perspektive, 217.196 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 85.197 E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen “Vielheit” <strong>der</strong> Moralen legitimieren?811.85


ungen dagegen transzendent, absolut und dennoch konkret (nicht universal).”198 Zwar läßt sich die inhaltlich-materiale Füllung dieses Imperativsnicht ein für allemal für alle Gesellschaften festschreiben. “In je<strong>der</strong>neuen Situation können sie einen neuen Inhalt bekommen.” 199 Doch vonentscheiden<strong>der</strong> Bedeutung ist, daß diese jeweils neuen Inhalte keineswegsgeschichtlich o<strong>der</strong> gesellschaftlich relativ o<strong>der</strong> beliebig sind, son<strong>der</strong>neinen materialen Inhalt haben.<strong>Die</strong> Formulierung des kategorischen Imperativs in den ethischen For<strong>der</strong>ungen<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> beispielsweise darf also nicht dogmatisiert werden,son<strong>der</strong>n muß für eine konkrete Kontextualisierung offen bleiben, wobeiihre Ethik als Regulativ für konkrete Inhalte zu verstehen ist. “Es handeltsich darum, dem Hungernden Essen, dem Nackten Kleidung, demFremden Wohnung zu geben. Es ist eine produktive (ein Produkt für denKonsum hergeben: Brot), eine praktische (im Hinblick auf den an<strong>der</strong>en),eine ökonomische For<strong>der</strong>ung (hinsichtlich <strong>der</strong> geschichtlichen Strukturen<strong>der</strong> Unterdrückungssysteme, denen eine Absage erteilt ist, und <strong>der</strong> utopischenStrukturen, die es aufzubauen gilt).” 200 Dussel versteht eine “gerechteWirtschaft als totale Summe <strong>der</strong> Artefakte, die durch die menschlicheArbeit produziert und nach dem Kriterium <strong>der</strong> Gleichheit unter demVolk verteilt werden” 201 . Inhaltlich-material besteht die Verschränkungvon Konkretem und Absolutem darin: “dem Hungernden und dem ArmenBrot geben, sich für die Schutzlosen und Witwen, die Einsamen undWaisen einzusetzen” 202 . <strong>Die</strong> eine Ethik ist sowohl universal wie konkret:“<strong>Die</strong>ser Arme ist an<strong>der</strong>s als je<strong>der</strong> an<strong>der</strong>e Arme (denn <strong>der</strong> Leibeigene istkein Lohnarbeiter).” 203 Auch wenn es heute keine Leibeigenen mehr gibt,so dennoch weiterhin Arme. <strong>Die</strong> Lage <strong>der</strong> Lohnarbeiter ist durch Abhängigkeitcharakterisiert. <strong>Die</strong>se abhängige Existenz aufzuheben, konkretisiertden kategorischen Imperativ. Dussel folgert aus dem kategorischenImperativ geschichtlich konkrete Normen. Aus dem gemeinschaftsethischenPrinzip <strong>der</strong> absoluten Achtung <strong>der</strong> Würde <strong>der</strong> menschlichen Person,dem Recht auf Leben folgt beispielsweise ein “Recht auf Arbeit” 204 .Denn erst durch dieses Recht auf Arbeit kann sich <strong>der</strong>jenige, <strong>der</strong> zumErhalt des Lebens auf Arbeit angewiesen ist, die zum Leben notwendigenGüter besorgen. <strong>Die</strong>se sind aber nicht nur materiell zu verstehen. Zuden unveräußerlichen Rechten gehören auch kulturelle Güter wie Bil-198 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 108.199 Ebd. 84.200 E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen “Vielheit” <strong>der</strong> Moralen legitimieren?811.201 E. Dussel, Philosophie <strong>der</strong> Befreiung, 120.202 Ebd. 120.203 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 113.204 Ebd. 83f.86


dung, Kunst, Demokratie. <strong>Die</strong> Erfor<strong>der</strong>nisse und konkreten Inhalte <strong>der</strong>Ethik sind nicht ein für allemal festzulegen, son<strong>der</strong>n müssen in konkretengeschichtlichen Kontexten neuen Inhalt bekommen.3.2.4 Der kategorische Imperativ wirtschaftsethisch übersetzt<strong>Die</strong>se Argumentation zeigt, daß zwar begrifflich die Philosophie <strong>der</strong> Befreiungkontextgebunden ist. Doch dies eröffnet umgekehrt die Chance,die Kontextgebundenheit <strong>der</strong> eigenen ethischen Kommunikation wahrzunehmen.205 <strong>Die</strong> geradezu idealisierende Rede von den Armen kann gewißnicht einfach übertragen werden, aber Enrique Dussel zeigt, daß seinemDenken eine Hermeneutik zugrunde liegt, welche die biblisch begründeteOption für die Armen als Ausgangspunkt hat. Konsequent willer diesen Blickwinkel einer Option für die Armen entfalten und für dieHermeneutik fruchtbar machen. Der Arme ist in <strong>der</strong> Hermeneutik Dusselseben nicht abstrakt, son<strong>der</strong>n in jedem System anzutreffen. Zu fragenist, wer unter den Bedingungen entwickelter Industrielän<strong>der</strong> jenekonkreten Armen sind, die Dussel als hermeneutischen Ausgangspunktversteht. Wer ist dieser An<strong>der</strong>e und Arme für den europäischen Kontext?Auch wenn die Kategorien von Unterdrücker/ Unterdrückter jedenfalls fürmitteleuropäische Verhältnisse nicht brauchbar sind, bleibt die Fragenach dem, <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> Kommunikationsgemeinschaft ausgeschlossenist, bestehen.In dieser Ausrichtung auf eine solidarische Praxis <strong>der</strong> Gerechtigkeit,die Ungerechtigkeit überwindet, ist <strong>der</strong> eigentlich inspirierende und provozierendeAnsatz <strong>der</strong> Befreiungsethik für eine Wirtschaftsethik im KontextEuropas zu sehen. Der Einspruch des An<strong>der</strong>en kann zur Sprachekommen im Einspruch zukünftiger Generationen gegen die ökologischeZerstörung ihrer Lebensgrundlagen, im Einspruch <strong>der</strong> Peripherie gegeneinen eurozentrisch dominierten Globalismus, <strong>der</strong> sich als Globalisierungausgibt, im Einspruch <strong>der</strong> von Arbeit Ausgeschlossenen gegen ökonomischeo<strong>der</strong> sozialstaatliche Mo<strong>der</strong>nisierungskonzepte.<strong>Die</strong>ser Ansatz einer universalistischen Gerechtigkeitsethik ist durch ihrenkontextuell-konkreten Gehalt für eine Wirtschaftsethik relevant, dieihrerseits in einem konkreten Kontext Gestaltungsräume eröffnen undeine ethisch verantwortete Praxis vor einem universalen Horizont verantwortenwill. <strong>Die</strong> Ethik <strong>der</strong> Befreiung geht von einem materialen Verständnisvon Gerechtigkeit aus, das sich von <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Ungerechtigkeither entwickelt und Parteilichkeit und Universalität dadurch205Vgl. dazu die Ausführungen bei: A. Lienkamp, <strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung des Denkens durch denSchrei <strong>der</strong> Armen, 210-212.87


miteinan<strong>der</strong> verbinden kann. Der biblisch begründete Ausgangspunkt in<strong>der</strong> Option für die Armen qualifiziert das Denken Enrique Dussels in beson<strong>der</strong>erWeise für die Suche nach einer biblisch fundierten Wirtschaftsethik.Der kategorische Imperativ “Befreie die Armen!” ist die Kehrseite<strong>der</strong> biblischen Option für die Armen und muß sich in jenen Themenstellungen,denen sich eine theologische Wirtschaftsethik widmet, konkretisieren.Der kategorische Imperativ klärt den Ort einer theologische Wirtschaftsethik.Eine theologische Wirtschaftsethik nimmt das wirtschaftlicheGeschehen aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong>er wahr, die “unten” stehen, dieLeidtragende o<strong>der</strong> Opfer ökonomischer Prozesse sind. Deren Lage effektivzu verbessern, konkretisiert den universal gültigen kategorischenImperativ. 206206Das Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen in Deutschland hat sich diesen hermeneutischenAusgangspunkt zu eigen gemacht, wenn es aus <strong>der</strong> Option für die Armen folgende Perspektiveentwickelt: “In <strong>der</strong> Perspektive einer christlichen Ethik muß darum alles Handeln und Entscheidenin Gesellschaft, Politik und Wirtschaft an <strong>der</strong> Frage gemessen werden, inwiefern esdie Armen betrifft, ihnen nützt und sie zu eigenverantwortlichem Handeln befähigt” (Ziff. 107).88


3.2.5 Orientierungspunkt: GerechtigkeitJohann Baptist Metz kritisiert eine “Halbierung des Geistes des Christentums”207 . Der Geist <strong>der</strong> hellenistischen Antike habe nur zu lange dasethische und theologische Argumentieren bestimmt: “Athen und Rom,nicht aber Jerusalem definierten die geistige Landschaft Europas.” 208 JohannBaptist Metz will deutlich machen, daß Israel theologiegeschichtlichzu einer überholten heilsgeschichtlichen Voraussetzung des Christentumsherabgedeutet wurde. Doch durch seine Separation von den jüdischenUrsprüngen habe das hellenistische Christentum auch die biblischeTradition als ein spezifisches Angebot an das Christentum verdrängt,das in einer Verpflichtung zur Gerechtigkeit besteht. Metz verstehtdas Christentum als eine Religion, die “aus ihrem biblischen Erbe(...) im Namen ihrer Sendung Freiheit und Gerechtigkeit für allesucht.” 209 Deshalb merkt er kritisch an, daß die Folge dieser “Halbierungdes Christentums” ein hellinisiertes Christentum sei, das in seiner Theologiegegenüber dem Verlangen nach universaler Gerechtigkeit unempfindlichgeworden ist. 210Habermas nennt die von Metz vorgenommene Zeichnung <strong>der</strong> philosophischenTraditionen Athens, die ja nicht in Platonismus aufgingen, “zuflächig”, da es vielmehr eine “Unterwan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> griechischen Metaphysikdurch Gedanken genuin jüdischer und christlicher Herkunft” gegebenhabe. 211 Daher müsse eine Gegenüberstellung “Athen” versus“Jerusalem” differenzierter gesehen werden. Auch die politische Ethik berufesich auf das biblische Erbe, das Gerechtigkeit und Freiheit für allesuche. Gleichwohl gäbe es eine Spannung zwischen dem Geiste Athensund dem Erbe Israels, die sich aber innerhalb <strong>der</strong> Philosophie nicht wenigerfolgenreich ausgewirkt habe als innerhalb <strong>der</strong> Theologie. Angesichtsdes rasanten Verlustes <strong>der</strong> Gerechtigkeitstraditionen in <strong>der</strong> politischenKultur <strong>der</strong> Gegenwart, <strong>der</strong> sich im Abbau des Sozialstaates und<strong>der</strong> Abkehr von <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft manifestiert, sollte <strong>der</strong> Streitnicht nur darum geführt werden, ob von “Jerusalem” o<strong>der</strong> von “Athen”aus die prägenden Impulse in die europäische Kultur eingegangen sind.Wichtiger ist, ob die Erinnerung an “Jerusalem” lebendig fortwirkt, Trägerfindet und eben zu einer Verlebendigung <strong>der</strong> Gerechtigkeitstraditionenmotivieren kann. <strong>Die</strong> Typisierungen dienen Johann Baptist Metz letztlich207 J. B. Metz, Athen versus Jerusalem. Was das Christentum dem europäischen Geist schuldig gebliebenist, in: Orientierung 60 (1996) 59.208 Ebd. 59.209 F.-X. Kaufmann, J.B.Metz, Zukunftfähigkeit. Suchbewegungen im Christentum, Freiburg-Basel-Wien, 1987, 118.210 J. B. Metz, Athen versus Jerusalem, 59.211 J. Habermas, Israel und Athen, 242.89


nur dazu, auf einen doppelten Verlust hinzuweisen: Das Christentum habesich von <strong>der</strong> mit dem Judentum zutiefst verbundenen Gerechtigkeitstraditionim Christentum getrennt, die Walter <strong>Die</strong>trich die Mitte des AltenTestaments nennt. 212Ethisches Handeln und Urteilen hat es nach Eilert Herms immer mit“Vorzüglichkeitskriterien” 213 zu tun. Unter den mit Ökonomie immer gegebenenKnappheitsbedingungen müssen Entscheidungen getroffenwerden, denn Knappheitsfragen sind immer Gerechtigkeitsfragen. WelcheVorzüglichkeitskriterien aber sollen gelten? Ethische Kriterien undNormen zu finden, gehört nach Arthur Rich “zur vornehmlichsten Aufgabeeiner christlichen Wirtschaftsethik.” 214 Wie aber konstituieren sich dieseKriterien und Normen? Welche Kriterien und Normen machen eineWirtschaftsethik zu einer spezifisch theologischen Wirtschaftsethik? EilertHerms betont, daß es dazu eines Rückgriffes auf die biblische Traditionbedürfe, denn erst dieser Rückbezug erreiche, “daß die theologischenBeiträge spezifisch sind.” 215 Er stellt drei Ansprüche an eine theologischeWirtschaftsethik. Sie hat zum einen zu verdeutlichen, daß “aus<strong>der</strong> christlichen Tradition und ihrem biblischen Zentrum nur gewisse Allgemeinkriterienfür die Vorzüglichkeit zu formulieren sind, die jedoch“letztlich immer inhaltlich bestimmte Vorzugskriterien” 216 sind. Der biblischenTradition sind also nicht lediglich nur formale Mechanismen dessozialen Ausgleichs zu entnehmen. Zweitens habe eine theologischeWirtschaftsethik immer mit <strong>der</strong> Anwendung <strong>der</strong> inhaltlich bestimmtenVorzugskriterien zu tun. <strong>Dr</strong>ittens könne eine theologische Wirtschaftsethikdrittens nicht durch einen Rekurs auf biblische Vorgaben die Verantwortungdes ethischen Subjekts dispensieren. “So verstanden fungierendie theologischen Beiträge zur Wirtschaftsethik als Einladung undErmutigung zur selbständigen Teilnahme am Prozeß <strong>der</strong> wirtschaftsethischenBegründung von Vorzüglichkeitsurteilen über Ziele undWege <strong>der</strong> wirtschaftlichen Interaktion heute auf dem Boden <strong>der</strong> christlichenÜberzeugung von Natur und Bestimmung des Daseins.” 217 <strong>Die</strong>seFor<strong>der</strong>ungen von Eilert Herms nach einer Begründung von christlicherWirtschaftsethik, die erst dann das Attribut “christlich” zu Recht tragenwürde, wenn ihre Beiträge auf das biblische Zeugnis zurückgriffen, sindjedoch für Wirtschaftsethik ein bislang unerfüllt gebliebenes Postulat.212 W. <strong>Die</strong>trich, Der roten Faden im Alten Testament, in: Evangelische Theologie 49 (1989) 236.213 E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 104.214 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1, 241.215 E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 103.216 Ebd. 106.217 Ebd. 105.90


Herms versteht die Bibel keineswegs als ein Autoritätsargument. Nichtautoritative Entscheidungen o<strong>der</strong> heilige Befehle begründen die ethischeAutorität, “son<strong>der</strong>n immer nur verbindliche Maßstäbe, verbindliche Begründungsinstanzenfür ethische Vorzüglichkeitsurteile, über einzelne inkonkreten Situationen wählbare Ziele und Wege, die jeweils von denEntscheidungsträgern selbst gefunden werden müssen.” 218 Eilert Hermsist zuzustimmen, daß nicht ethische Indikative und Imperative, die mitbiblischer Autorität ausgestattet werden, das ethische Urteil ersetzenkönnen o<strong>der</strong> dürfen. Er geht von einer “Orientierung anhand <strong>der</strong> christlichenMaßstäbe” 219 aus. Er räumt zwar ein, daß eine theologische Wirtschaftsethikaus <strong>der</strong> biblischen Tradition nur Allgemeinkriterien für dieVorzüglichkeit” formulieren könne, doch entscheidend sei, daß dieseletztlich immer inhaltlich bestimmt sein müssen. Solche inhaltlich bestimmtenÜberzeugungen aber würden immer von entscheidungsleitendenweltanschaulichen Grundsätzen o<strong>der</strong> Voraussetzungen geführt, dieallerdings letztlich nicht rational begründet werden könnten. 220 Mit dieserPosition wendet sich Eilert Herms zu Recht gegen zwei Prämissen <strong>der</strong>kommunikativen Rationalität <strong>der</strong> Diskursethik. Es gebe das Dogma, religiöseo<strong>der</strong> weltanschauliche Überzeugungen zur Begründung <strong>der</strong> Vorzüglichkeitvon Zielen und Wegen seien rein privat und aus <strong>der</strong> Begründungöffentlichen Handelns herauszuhalten. Ein an<strong>der</strong>es Dogma korrespondieremit dem ersten, nämlich daß das formale Kriterium <strong>der</strong> Befolgungeiner verallgemeinerbaren Regel hinreichend sei.Beide Dogmen stellt Eilert Herms in Frage und versteht ein ethischesArgumentieren, das sich nicht auf rationale Normbegründungen reduzierenläßt, als einen Beitrag zur Aufklärung über die heimlichen und ungenanntenDogmen, eben als eine Aufklärung <strong>der</strong> Aufklärung. Hermsspricht den biblischen Einzel-anweisungen jegliche Relevanz in <strong>der</strong> heutigenDiskussion ab, da sie eine völlig an<strong>der</strong>e Wirtschaftsform voraussetzen.Dennoch gibt es zwei Regeln, die sich auf alle möglichen wirtschaftlichenSituationen beziehen. Das formale Kriterium <strong>der</strong> Befolgung einerVerfahrensregel ist für eine theologische Ethik nicht ausreichend. Deshalbsucht auch E. Herms ein inhaltlich bestimmtes Vorzugskriterium,das <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>tradition gerecht wird, herauszuarbeiten, das in universalgelten Regeln zum Tragen kommen kann. <strong>Die</strong> beiden Regeln, in denendieses inhaltlich und material konkrete Vorzugskriterium sich ausdrückt,sind die Regel <strong>der</strong> Gerechtigkeit und die Regel <strong>der</strong> bewußten Relativierungdes Wirtschaftens auf die Bedingungen o<strong>der</strong> die Ziele <strong>der</strong> Gesamt-218 Ebd. 105.219 Ebd. 105.220 So auch A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 170.91


existenz. 221 Eilert Herms besteht auf inhaltlich und normativ zu begründendenVorzugsregeln, die theologische Ethik erst zu einer spezifischenEthik machen. Theologische Ethik wirke also nicht allein motivierend,son<strong>der</strong>n müsse einen materialen Gehalt haben. Theologische Ethik istnicht zu trennen von einer Vorstellung o<strong>der</strong> von Leitbil<strong>der</strong>n einer gerechtenGesellschaften und einer humanen Wirtschaft. <strong>Die</strong>se Leitbil<strong>der</strong> einesguten und gelingenden Lebens gehören zum Argumentationsstil einerchristlichen Ethik. Doch E. Herms umgeht die Frage nach dem hermeneutischenAusgangspunkt und die Frage, was die absolut geltendenRegeln auch konkret bedeuten könnten. Enrique Dussel ist dort konsequent,wo Eilert Herms die Argumentation abbricht. Enrique Dussel formuliertin seinem kategorischen Imperativ “Befreie den Armen!” eine absolutund universal geltende Norm, die zugleich abstrakt und konkret ist.Der Arme stellt jedes System in Frage und ist dennoch in allen Systemenkonkret. Theologische Ethik tritt als Anwältin speziell für die von den DiskursenAusgeschlossenen auf und wird die Interessen <strong>der</strong> Benachteiligtenartikulieren müssen. Dadurch löst christliche Ethik dasUniversalisierbarkeitsprinzip ein. <strong>Die</strong> abstrakte Argumentation von EilertHerms dagegen bekommt diesen Kern <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>tradition, <strong>der</strong> sich mitdem hermeneutischen Ausgangspunkt einer Option für die Armen beschreibenläßt, nicht in den Blick.Der von Enrique Dussel formulierte kategorische Imperativ “Befreieden Armen!” läßt sich aus dem Kontext des globalen Südens in den mitteleuropäischenKontext übersetzen und wirtschaftsethisch so auslegen:Sorge dafür, daß den ökonomisch, ökologisch, politisch und sozialSchwachen Gerechtigkeit wi<strong>der</strong>fährt und sie zu ihrem Recht kommen. 222Eine theologische Wirtschaftsethik, die diesem Anspruch des kategorischenImperativs auch inhaltlich gerecht wird, verdient das Attributtheologische Wirtschaftsethik. Mit dem inhaltlich qualifizierten Anspruch,<strong>der</strong> die Option für die Armen aufnimmt, werden aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong>Armen Themenstellung, Themenauswahl und Problemlösungen <strong>der</strong>Wirtschaftsethik eindeutig. Im Abschnitt 9 soll diese Perspektive in den“Wirtschaftsethischen Impulsen” auf ihre Folgen für verschiedene Themenfel<strong>der</strong><strong>der</strong> Wirtschaftsethik entfaltet werden. Deshalb gerät als erstesdie Arbeit des Menschen in den Blick. Der hermeneutische Ausgangspunktbei den Armen und bei den im System Benachteiligten läßt nach221 E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik. 96-98. Weitere Ausführungen unten unter Abschnitt6.2.222 Vgl. nähere Ausführungen zum kategorischen Imperativ <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> unten: Abschnitt 4 . An dieserStelle möchte ich auf meinen Sprachgebrauch hingewiesen, <strong>der</strong> sich durchgehend aus Gründensprachlicher und syntaktischer Kongruenz einer inklusiven Sprache bedient. Auf die Tatsache,daß gerade Frauen in beson<strong>der</strong>er Weise oft auch mehrfach politisch, sozial und ökonomischbenachteiligt sind, sei hier beson<strong>der</strong>s hingewiesen.92


dem gerechten Lohn und nicht nur ökonomisch nach dem gerechtenPreis fragen. Der wirtschaftsethische Impuls “Sorgsam haushalten” (Abschnitt9.5) versucht über die Ökonomie des einen Haushaltes <strong>der</strong>Schöpfung Fragen <strong>der</strong> ökologischen und sozialen Gerechtigkeit so zu integrieren,daß das Lebensrecht aller Bewohner des einen Haushaltes <strong>der</strong>Schöpfung garantiert ist. Eine biblisch begründete theologische Wirtschaftsethikwird dadurch erst zu einer spezifisch theologischen Ethik,wenn sie den Anspruch einzulösen vermag, von jener Mitte <strong>der</strong> biblischenBotschaft her eindeutig zu werden, die <strong>der</strong> Alttestamentler Walter<strong>Die</strong>trich mit dem Begriff und <strong>der</strong> Sache des biblischen Verständnissesvon Gerechtigkeit als einem gemeinschaftsgemäßen Verhalten bezeichnethat. 2233.3 Kritischer Maßstab und Impuls für Gerechtigkeit: Option für die Armen3.3.1 Gerechtigkeit - Herstellung und Wahrung lebensfreundlicher Verhältnissefür die Bedrängten“Was rechtens sei? - darum kommt man nicht herum.” So beginnt ErnstBloch seine Ausführungen über Naturrecht und menschliche Würde. 224Was Recht ist, soll <strong>der</strong> objektivierte Maßstab dessen sein, was als “Gerechtigkeit”gilt. <strong>Die</strong>ser Maßstab wird mit den Worten des römischenRechtsphilosophen Domitius Ulpian (ca. 170-228 n. Chr.) definiert als“constans et perpetua voluntas ius suum cuique tribuendi” 225 - zudeutsch: “Gerechtigkeit ist <strong>der</strong> beständige und andauernde Wille, jedemsein Recht zu gewähren.” Europäisches Rechts- und Gerechtigkeitsverständnisgeht auf Wurzeln im griechisch-römischen Denkenzurück. Gemeint ist also ein subjektives Recht, das den Anspruchdes einzelnen beschreibt. Gerechtigkeit wird in den älteren philosophischenund theologischen Lehrbüchern als ein grundlegen<strong>der</strong> Ordnungsbegriff<strong>der</strong> Gesellschaft entfaltet, <strong>der</strong> zum Ausdruck bringen will, daßdem einzelnen das Seine o<strong>der</strong> auch sein Recht zukommt, sein Leben ineigener Verantwortung zu gestalten. Wolfgang Huber wertet diese philosophischeund auch theologische Tradition als eine Tradition, die Gerechtigkeitund Ungerechtigkeit vorwiegend aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Täter betrachtet.226 <strong>Die</strong>se Tradition sah demnach Gerechtigkeit als diejenige Tugend,die jedem das Seine gewährte, und fand Ungerechtigkeit dort, wo223 W. <strong>Die</strong>trich, Der rote Faden im Alten Testament, 236. Weitere Ausführungen unten Abschnitt3.4.224 Frankfurt 1961, 11.225 Ulpian, Fragmente 10; vgl. dazu die Ausführungen bei: W. Härle, “Suum cuique”. Gerechtigkeitals sozialethischer und theologischer Grundbegriff, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 41(1997) 303-312.226 W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 184.93


es an dieser Tugend fehlte. Doch diese Perspektive verschiebe sichgrundlegend, wenn Gerechtigkeit und Ungerechtigkeit nicht aus <strong>der</strong> Perspektive<strong>der</strong> Täter, son<strong>der</strong>n aus <strong>der</strong>jenigen <strong>der</strong> Opfer betrachtet werde.Ungerechtigkeit erscheine dann nicht als Abwesenheit von Tugend, son<strong>der</strong>nals Verweigerung von Anerkennung.<strong>Die</strong>ser Perspektivenwechsel zeigt sich in <strong>der</strong> Vorstellung von Gerechtigkeitin <strong>der</strong> Hebräischen Bibel, die sich von diesem griechischrömischenGerechtigkeitsbegriff grundlegend unterscheidet. Was imDeutschen mit “Gerechtigkeit” gemeint ist, sei - so Gerhard von Rad -“nicht nur eine sehr unzulängliche, son<strong>der</strong>n oft eine geradezu irreführendeWie<strong>der</strong>gabe des Hebräischen sedaka.” 227 Sedaka benennt etwas dezidiertPositives und meint “einen gerechten, richtigen Zustand(saedaeq), ein rechtes, rechtschaffenes Handeln (sdq, sedaqah), einenrechtschaffenen, aufrechten Charakter (saddiq). Insgesamt geht es umausgeglichene, wohltuend geordnete, lebensfreundliche Verhältnisse: immenschlichen Zusammenleben wie in den Gottesbeziehungen.” 228 <strong>Die</strong>seBegriffsbeschreibung zeigt, daß die übliche Übersetzung von sedaka mit“Gerechtigkeit” eher die vom griechisch-römischen Denken geprägtenBegriffsinhalte assoziieren kann, während das hebräische Verständnisvon einer viel umfassen<strong>der</strong>en Vorstellungswelt ausgeht. Alles, was eineheile Existenz des Menschen ausmacht, umschließt <strong>der</strong> biblische Begriffvon Gerechtigkeit, <strong>der</strong> die “Herstellung und Wahrung lebensfreundlicherVerhältnisse für die in ihrer Existenz o<strong>der</strong> ihrem Wohl Bedrohten”229 meint. Im hebräischen Denken meint Gerechtigkeit ein “gemeinschaftsgemäßesVerhalten” 230 . Gerechtigkeit läßt sich “im gefor<strong>der</strong>tensozialen Verhalten des einzelnen gegenüber und innerhalb <strong>der</strong> Gemeinschaft”231 am deutlichsten erkennen. “Gerecht ist demnach <strong>der</strong>, <strong>der</strong> dieGemeinschaft bewahrt, ihren Erwartungen entspricht und die Gesamtheitmenschlicher Verpflichtungen erfüllt.” 232 Gerechtigkeit ist ein sozialer Relationsbegriff,<strong>der</strong> nach biblisch-hebräischem Verständnis mit Frieden,Befreiung, Erlösung, Heil, Gnade, Freiheit zusammenhängt. Was Solidaritätmeint, ist in mancherlei Hinsicht zur Wie<strong>der</strong>gabe dessen geeignet,was hebräisch mit sedaka gemeint ist.<strong>Die</strong> biblische Bundestheologie geht davon aus, daß alle Gerechtigkeitzwischen den Menschen von Anfang an im Zusammenhang des BundesGottes mit den Menschen steht. <strong>Die</strong>ser Bund ist Gottes Selbstverpflich-227 G. von Rad, Theologie des AT, 1. Band, 6. Aufl. München 1969, 386.228 W. <strong>Die</strong>trich, Der rote Faden im Alten Testament, 237.229 Ebd. 241.230 K. Koch, Art. sdq = gemeinschaftstreu/heilvoll sein, in: THAT, Bd.II., Sp. 515.231 H. Monz, Gerechtigkeit bei Karl Marx und in <strong>der</strong> Hebräischen Bibel. Übereinstimmung, Fortführungund zeitgenössische Identifikation, Baden - Baden 1995, 66.232 Ebd. 67.94


tung zur Gemeinschaftstreue mit den Menschen und allen seinen Geschöpfen.Gerechtigkeit Gottes meint deshalb ein Handeln Gottes anseinem Volk, das Recht und Gerechtigkeit schafft. Israel wird von <strong>der</strong>Knechtschaft in Ägypten gerettet, und Gott befreit aus Unterdrückung,indem er einen Anführer schickt (Ri 2,16-19; 3,10; 4,4; 16,31); Gott ist<strong>der</strong> rettende Trost für den Beter (vgl. Ps 71); <strong>der</strong> Unterdrückte erfährtGottes Gerechtigkeit - <strong>der</strong> Unterdrücker Gottes Strafgericht (vgl. Ps 9,6):“Du entreißt den Schwachen dem, <strong>der</strong> stärker ist, den Schwachen undArmen dem, <strong>der</strong> ihn ausraubt” (Ps. 35,10). Gott schafft Hoffnung in ausweglosenSituationen, indem er Heil in Aussicht stellt (Jes 46,10 ff.). Inhaltdes Bundes ist <strong>der</strong> Schalom. Gemeinschaftsbezogenes Verhalten istein Verhalten, das in allen privaten, sozialen, gesellschaftlichen und ökonomischenBereichen Schalom schafft.<strong>Die</strong>se Gerechtigkeit Gottes ist auch dort, wo sie sich auf die Beziehungenzwischen den Menschen bezieht, ein Sozialbegriff. <strong>Die</strong>ser GerechtigkeitGottes entsprechend sollen sich die Menschen (und alle Geschöpfe)verhalten. “Gott übt sie - und <strong>der</strong> Mensch hat sie auch zu üben.Sie ist <strong>der</strong> Maßstab, an dem sich das Verhältnis zwischen Mensch undGott und an dem sich die zwischenmenschlichen Verhältnisse messenlassen müssen.” 233 Terminologisch ist <strong>der</strong> Zusammenhang von Befreiung,Recht, Richten, Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Hebräischen Bibel auffallend. 234Der Schlüsselbegriff ist spht, ein hebräischer Begriff, <strong>der</strong> im Deutschenmeist mit “richten” übersetzt wird. 235 Das entsprechende Substantiv mspt(mispat) wird zwar zumeist mit “Gericht, Urteil” wie<strong>der</strong>gegeben, bedeutetjedoch ein “Handeln, durch das die gestörte Ordnung einer (Rechts-)Gemeinschaft wie<strong>der</strong>hergestellt wird” 236 , das den (zerbrochenen) Schalomwie<strong>der</strong>herstellt, o<strong>der</strong> auch ein Urteil, einen Rechtssatz und dannauch allgemein Gerechtigkeit, und wird deshalb oft in einer Doppelungmit dem hebräischen Wort für Gerechtigkeit (sedakah) verwendet. Gerechtigkeit(sedakah) und Richten (mispat) verbinden den GehorsamGott gegenüber mit <strong>der</strong> Achtung vor dem Mitmenschen und <strong>der</strong> Sorge fürihn. “Mispat ist demnach so etwas wie <strong>der</strong> auf Gemeinschaftstreue gegründeteund durch gemeinschaftsgemäßes Verhalten (sedaqa) täglichneu zu bewährende Bestand des Volkes, seine kultische, politische undwirtschaftliche Existenz schlechthin.” 237 “Richten” (mispat) bedeutet also233 W. <strong>Die</strong>trich, Der rote Faden im Alten Testament, 248.234 Vgl. dazu G. Liedke, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze, Neukirchen1971, 62ff.235<strong>Die</strong> abendländische Auslegungstradition versteht im Anschluß an die Septuaginta mispat als“Recht” und sedaqa als “Gerechtigkeit”. Vgl. K. Koch, <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> sozialen Kritik beiden <strong>Prof</strong>eten, 249.236G. Liedke, Art. spt = richten, in: THAT,Bd. II., Sp. 1001.237K. Koch, <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> sozialen Kritik bei den <strong>Prof</strong>eten, 254.95


ein Handeln, das den zerbrochenen Schalom einer Gemeinschaft wie<strong>der</strong>herstellt. 238<strong>Dr</strong>ei Aspekte können den biblisch-hebräischen Begriffsinhalt von Gerechtigkeit/sedakaverdeutlichen:3.3.1.1 Unausgewogene Gerechtigkeit: Option für die ArmenDer Exodus ist das biblische Grunddatum. An<strong>der</strong>s als die altorientalischenReligionen, die sich aus mythischer Urzeit herleiten, ist die JHWH-Religion geschichtlich in einem Befreiungsprozeß begründet, <strong>der</strong> auf Gerechtigkeitdrängt. Das gibt ihr von ihrem Ursprung her eine geschichtlicheAusrichtung und eine soziale Dimension, die für die ganze GeschichteIsraels kennzeichnend bleiben soll. Eine gemeinschaftsbezogeneGerechtigkeit knüpft an dieses Grunddatum an und begründet dieFor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Gemeinschaftstreue aller zueinan<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> in Ägypten erlitteneZwangsarbeit wi<strong>der</strong>spricht <strong>der</strong> göttlichen Ordnung. Armut und Ungerechtigkeitsind nicht schicksalhaft. Sie stehen den Absichten Gottes entgegen.Gott befreit sein Volk und gibt ihm nach <strong>der</strong> Befreiung aus <strong>der</strong>Sklavenhaltergesellschaft Ägyptens mispatim (Rechtssätze, vgl. Ex15,25) und später Richter, die dem Schwachen Recht schaffen (Ex 18).Aus <strong>der</strong> Erfahrung mit den ägyptischen Verhältnissen erwächst einEthos, das stereotyp in <strong>der</strong> Sorge um die Machtlosen, “die Armen, Witwenund Waisen” (Ex 22,21, Dtn 10,18; 24,17 u.ö.) zum Ausdruckkommt. Gemeinschaftsbezogene Gerechtigkeit soll sich so auswirken,daß die Armen und Schwachen zu ihrem Recht kommen. <strong>Die</strong> Ausgeschlossenenwerden zum Maßstab dafür, wie es um die Gerechtigkeitsteht. Armut und gesellschaftliche Asymmetrien werden als Wi<strong>der</strong>spruchgegen die gefor<strong>der</strong>te Gemeinschaft wahrgenommen. Erst wenn <strong>der</strong> Gegensatzzwischen Arm und Reich aufgehoben ist und es keine Armenmehr gibt, da Unterdrückung und Ungleichheit ein Ende gefunden haben,herrscht Gerechtigkeit. 239<strong>Die</strong> israelitische Gesellschaft verfügt zwar über den Maßstab “Gerechtigkeit”,aber sie wird ihm in <strong>der</strong> Realität nicht immer gerecht. ProphetischeKritik geißelt die Oberschicht, die sich an den Armen bereichert.Nur die Armen und Unterdrückten verdienen es, in den Augen <strong>der</strong> Propheten“Gerechte” genannt zu werden (Am 2,6; 5,12 u.ö.). <strong>Die</strong> herrschendenSchichten lassen es an “Recht und Gerechtigkeit” fehlen, deshalbweist die prophetische Kritik den Mächtigen und Reichen die Schuldan den desolaten sozialen Verhältnissen zu (Am 5,7; 6, 12; Mi 3,9; vgl.Jes 6,14). <strong>Die</strong> soziale Anklage <strong>der</strong> Propheten ist keineswegs eine objektiveGesellschaftsanalyse, son<strong>der</strong>n eine bewußt einseitige Parteinahme.238G. Liedke, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze, 74.239 Vgl. die Ausführungen bei: C. Boff u. J. Pixley, <strong>Die</strong> Option für die Armen, Düsseldorf 1987.96


<strong>Die</strong> wirtschaftlich Mächtigen profitieren von einer Entwicklung, die diewirtschaftlich Schwächeren zu Opfern macht. Auffallend bei den Prophetenist, daß nicht Einzeltaten o<strong>der</strong> Einzelpersonen angeprangert werden,son<strong>der</strong>n das gesamte “System”. In Erinnerung an “Recht und Gerechtigkeit”(Jes 5,7; Am 5,7.24; 6,12; Mi 3.1.8.9), die Grundwerte <strong>der</strong> vorstaatlichenisraelitischen Gesellschaft, kritisieren sie eine Wirtschafts- undRechtsordnung als Unrecht, die sich nicht mehr an diesen Grundwertenorientiert, so legal es auch zugehen mag. 240 <strong>Die</strong>se unhaltbaren Zuständedes Unrechts und <strong>der</strong> Ungerechtigkeit lassen deshalb auch keine Rückkehrzur Gerechtigkeit aus eigener Anstrengung erwarten. Gott wird Gerechtigkeiterrichten.“Dem Schwachen und Armen verhalf er zum Recht. Heißt das nicht,mich wirklich erkennen? - Spruch des Herrn” (Jer 22,16). Gerechtigkeitüben ist Erkenntnis Gottes. Gerechtigkeit für sozial und rechtlich Schwacheschaffen wird so mit <strong>der</strong> Verehrung von Israels Gott identifiziert, daßsie auch <strong>der</strong> “Kult” ist, den <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Bibel erwartet. Eine auf den Kultbeschränkte Verehrung Gottes lehnen die Propheten ab (Am 5,21-25;ähnlich Jes 1,11.13.15-17; Hos 6,6; Jer 7,1-10). Kultisches Handeln kannGerechtigkeit nicht ersetzen. Wenn Israel solidarisches Verhalten gegenüberNotleidenden praktizieren würde, statt religiöse Praktiken wiedas Fasten zu vollziehen, dann würde Gerechtigkeit Israel umgeben unddie ersehnte Nähe Gottes Realität werden (Jes 58,6-10).Israel hat seinen Gerechtigkeitsbegriff aus dem Alten Orient übernommen.Nicht erst die Bibel, son<strong>der</strong>n auch an<strong>der</strong>e kulturelle und religiöseTraditionen des Alten Orients kennen schon ein Sozialethos, in dessenZentrum eine Option für die Armen steht, wenn sie es den politischenFührungseliten und in beson<strong>der</strong>er Weise dem König zur Pflichtmachen, für die Armen einzutreten. Den altorientalischen Traditionen und<strong>der</strong> Hebräischen Bibel ist die Sorge um das Auseinan<strong>der</strong>brechen <strong>der</strong>Gesellschaft gemeinsam. <strong>Die</strong> Option für die Armen diente also <strong>der</strong> gesellschaftlichenIntegration und <strong>der</strong> Sicherung des Systems. <strong>Die</strong> Klassenstruktur<strong>der</strong> Gesellschaft sollte aber nach den babylonischen, mesopotamischeno<strong>der</strong> alt-ägyptischen Gesetzestexten trotz einer Option fürdie Armen nicht angetastet werden. <strong>Die</strong> biblische Option für die Armenverdankt sich dem Exodus aus den ägyptischen Verhältnissen und willaus dieser Erfahrung heraus eine an<strong>der</strong>e Ordnung, nämlich eine ökonomische,soziale und politische Ordnung <strong>der</strong> Freien und Gleichen erreichen.241 Ein Vergleich mit an<strong>der</strong>en Rechtsauffassungen <strong>der</strong> Antike zeigt,240 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 259f.241N. Lohfink, Gott auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Armen, in: <strong>der</strong>s., Das Jüdische im Christentum, Freiburg1987, 122-143; vgl. auch oben die Ausführungen zum Kodex Hammurapi und zum ägyptischenTotenbuch unter Abschnitt: 3.2.97


daß in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> jene Gesetze fehlen, die die Mächtigen und Starken inihrem Besitzstand sichern. Nicht abstrakte o<strong>der</strong> formale Gerechtigkeitsprinzipienbestimmen das Denken, die <strong>Tora</strong> steht vielmehr einseitig undbewußt auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Schwachen <strong>der</strong> Gesellschaft. Dahinter steht dieÜberzeugung, daß es gerade die Schwachen sind, die des Schutzes bedürfen.Der biblische Begriff <strong>der</strong> Gerechtigkeit fällt mit dem Recht <strong>der</strong>Schwachen und Bedürftigen zusammen. Walter <strong>Die</strong>trich wendet sich gegenalle Idealisierungen, hebt aber dennoch hervor, daß in Israel eineaus seiner spezifischen Religionsgeschichte heraus zu erklärende Fürsorgefür die Besitz- und Machtlosen entstanden ist. 2423.3.1.2 Gerechtigkeit als Rechtsanspruch <strong>der</strong> BenachteiligtenRecht ist die einzige Alternative zur Gewalt, um Konflikte und Interessengegensätzezu regeln. <strong>Die</strong>se Einsicht hat sich in biblischen Konzeptenstruktureller Gerechtigkeit nie<strong>der</strong>geschlagen (z.B. Sabbatgesetze, Sabbatjahr,Jobeljahr, Zinsverbot u.a.). Nicht nur die prophetische Tradition,auch die Gesetzestradition <strong>der</strong> Hebräischen Bibel nimmt in einer spezifischenWeise den Gerechtigkeitsbegriff auf. <strong>Die</strong> Gesetzestradition ist dadurchgekennzeichnet, daß sie drei Themen miteinan<strong>der</strong> verbindet. Sieenthält zum einen Regeln über den Kult als Ort <strong>der</strong> Verehrung des einenGottes. Zum an<strong>der</strong>en enthält sie Regeln <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Sie sollen einmenschliches Zusammenleben ermöglichen, in dem Menschen sich gegenseitigals gleich anerkennen. Und schließlich finden sich in denRechtskorpora gewisse Regeln, in denen sich ein Ethos <strong>der</strong> Barmherzigkeitnie<strong>der</strong>schlägt. Barmherzigkeit meint nicht eine gelegentliche Zuwendungzu dem in Not geratenen Nächsten. In einer sehr spezifischenWeise wollen die Gesetze Barmherzigkeit in einer erwarteten und verpflichtendenZuwendung Gestalt werden lassen, die sich in beson<strong>der</strong>erWeise den an den Rand Gedrängten zuwendet, um ihnen Recht und Gerechtigkeitzuzusichern.Der Schutz <strong>der</strong> Schwachen wird zu einem gemeinschaftsbezogenenRechtsanspruch. Gerade diejenigen, die von den Zuständen in <strong>der</strong> Gemeinschaftbenachteiligt sind, haben Anspruch auf ein beson<strong>der</strong>es Verhalten<strong>der</strong> Gemeinschaft und auf die Aufhebung dieser Zustände. <strong>Die</strong>Haltung des Erbarmens wird nicht als mildtätige Wohltat verstanden,“son<strong>der</strong>n als ein Akt <strong>der</strong> Aufrichtung von Gerechtigkeit” 243 . “Zur Alleinverehrunggehört damit ein bestimmtes Recht und eine ihm vorgeordneteGerechtigkeit.” 244 <strong>Die</strong> Unterprivilegierten werden durch den Rechtsan-242 W. <strong>Die</strong>trich, Der rote Faden im Alten Testament, 247.243 M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, 117.244 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 424.98


spruch zu Rechtsträgern und dadurch in die Gesellschaft integriert. Auchwenn das altorientalische Recht mit dem alttestamentlichen in enger Beziehungsteht, gibt es doch einen bedeutenden Unterschied: “das israelitischeGrunddatum von Recht als direkt göttlicher Setzung ist keine in<strong>der</strong> Antike übliche Vorstellung” 245 . <strong>Die</strong> Armen sind nicht Almosenempfänger,son<strong>der</strong>n Rechtsträger, die ihr Recht nicht durch hoheitliche Huldbekommen.<strong>Die</strong> prophetische Literatur ist von einem Ringen um Recht und Gerechtigkeitgeprägt. Ihre Kritik an den Zuständen <strong>der</strong> Gesellschaft schlägtsich in einem Gesetzeswerk nie<strong>der</strong>, das Institutionen <strong>der</strong> Gerechtigkeitenthält. Zu diesen gehören Einrichtungen wie die Armenversorgungdurch einen Zehnten, <strong>der</strong> Sabbat, das Sabbatjahr o<strong>der</strong> das Jobeljahr(Dtn 5,12ff.; 14,28f.; 26,12f.; Lev 25,1ff.). 246 Sie können als Institutionenverstanden werden, die verbindlich dafür sorgen, daß ein sozialer Ausgleich,die soziale Solidarität mit den Schwachen und das Teilen <strong>der</strong>Ressourcen nicht in das Belieben des einzelnen gestellt werden, son<strong>der</strong>nmit einer an Rechtskraft gebundenen Verläßlichkeit versehen sind. <strong>Die</strong>Intention zur Gerechtigkeit allein reicht nicht aus, deshalb muß das Ethosdurch Institutionen <strong>der</strong> Gerechtigkeit gestützt werden.3.3.1.3 Gerechtigkeit und MachtkritikProphetische Sozialkritik hat Eingang in das israelitische Recht gefunden.Mit Vehemenz attackieren die Propheten eine Oberschicht, die eineimmer größer werdende gesellschaftliche Schicht von Armen produziert.<strong>Die</strong> Kritik <strong>der</strong> Propheten ist nie gegen Reichtum o<strong>der</strong> Luxus an sich gerichtet,son<strong>der</strong>n gilt einem mit Unrecht, ungerechter Machtausübung o<strong>der</strong>Unterdrückung verbundenen Reichtum. In nahezu allen sozialkritischenAussagen ist es eben diese Herkunft <strong>der</strong> Reichtümer, an <strong>der</strong> sich die Kritikentzündet. 247 Was die Propheten anprangern, ist ein Reichtum durch“Gewalt und Unterdrückung” (Am 3,10). <strong>Die</strong> Reichen verursachen diegesellschaftlichen Mißstände und sind deshalb ihres unsolidarischenVerhaltens wegen verantwortlich für den Bruch von Gerechtigkeit imSinne von Gemeinschaftstreue. Gegen die Erfahrung gesellschaftlichenUnrechts dringen die Propheten darauf, daß alle ein Anrecht auf Gerechtigkeithaben. <strong>Die</strong> sich dieser Verwirklichung <strong>der</strong> Gerechtigkeit entgegenstellen,werden deshalb auch zur Verantwortung gezogen. Eine Wirtschafts-und Rechtsordnung, die sich nicht mehr an den Grundnormen245 Ebd. 24.246 Nähere Ausführungen dazu in Abschnitt 6.1.2.247 Vgl. auch zum folgenden F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.”37ff.99


von mispat und sedaqa orientiert und die Lebensrechte <strong>der</strong> gesellschaftlichenRandgruppen nicht schützt, ist Unrecht, so legal es auch darin zugehenmag. 248<strong>Die</strong> Bibel Jesu war die Hebräische Bibel, das Erste Testament, das er- wie die Urchristenheit - lebte, bekräftigte, auslegte und nicht als alt, nurvorläufig o<strong>der</strong> ergänzungsbedürftig ansah. Zu den Gerechtigkeitsvorstellungen<strong>der</strong> neutestamentlichen Tradition sei nur soviel festgehalten: Zwischenden Gerechtigkeitsvorstellungen <strong>der</strong> Hebräischen Bibel und denendes Neuen Testamentes gibt es Überschneidungen. Walter <strong>Die</strong>trich betontdie Nähe zwischen dem Gerechtigkeitsverständnis des Neuen Testamentsund dem <strong>der</strong> Hebräischen Bibel: “<strong>Die</strong> gesamte paulinischeRechtfertigungslehre ist im Alten Testament präludiert - wie sie ja Paulusauch aus ihm, nicht gegen das Judentum in toto, entwickelt hat. Gewiß,die Christusgestalt fehlt noch, aber auch sie ist präludiert: in Prophetenetwa, die sich bei Gott für die Ungerechten verwenden, o<strong>der</strong> in dem Gottesknecht,<strong>der</strong> durch sein Leiden „Vielen zur Gerechtigkeit hilft‟.” 249 <strong>Die</strong>For<strong>der</strong>ung nach dem Rechttun des Christen an seinem Nächsten undvor Gott ist nicht ohne die Gerechtigkeitsvorstellungen <strong>der</strong> HebräischenBibel zu verstehen (Mt 5,6.20; 25, 37.46). 250Der biblische Gerechtigkeitsbegriff ist dynamisch. Gerechtigkeit ist eineGesellschaft und Geschichte vorantreibende Kraft. <strong>Die</strong> von Gott gewollteOrdnung entsteht sowohl durch sein Wirken in <strong>der</strong> Geschichte alsauch durch entsprechendes Handeln des Menschen. Biblische Gerechtigkeitsprechen mit <strong>der</strong> Machtkritik immer auch eine Gegenwartskritik ineiner eschatologischen Dimension aus. Utopisches Denken gewinnt realeBezüge, die aus <strong>der</strong> Erfahrung gegenwärtiger Ungerechtigkeit gewonnenwerden. Eine Zukunft ohne Klassengegensätze und Spaltungen zwischenArm und Reich, oben und unten wird in Aussicht gestellt. <strong>Die</strong>eschatologische Zeit wird eine Zeit sein, in <strong>der</strong> die Bedürfnisse befriedigtsind und Ausbeutung und unterdrückende Gewalt ein Ende haben werden(vgl. Jes 65,21-22; 2,2-4; 11,6-8; Ps 37, 11; 72,2-3; 85,11-14 u.ö.).3.4 Gerechtigkeit und Option für die Armen als Problem gegenwärtigerökonomischer und sozialer VerhältnisseDer bedeutende katholische Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning registrierteine dreifache strukturelle Benachteiligung von Arbeitnehmern ineiner kapitalistischen Marktwirtschaft:248 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 260.249 W. <strong>Die</strong>trich, Der rote Faden im Alten Testament, 248.250 Vgl. dazu U. Luz, Das Evangelium nach Matthäus, Bd.I/1, Zürich, Neukirchen - Vluyn 1985,209-218; 240-250.100


Da Arbeitnehmer erstens außer ihrer Arbeit über keine Erwerbsquelleverfügen, sind sie gezwungen, “ein Lohnarbeitsverhältnis mit Subordination<strong>der</strong> Arbeit unter das Kapital” 251 einzugehen. <strong>Die</strong>jenigen, die Kapital inden Produktionsprozeß einbringen, bestimmen aber über Produktionsvolumenund Produktionsrichtung, also eben darüber, ob, wann, wo undwie Arbeitsplätze geschaffen werden, d. h. sie verteilen Lebenschancen.Aus dem Nichteigentum an Produktionsmitteln resultiert eine “Machtunterlegenheit”252 <strong>der</strong> Arbeit. Zweitens ist Arbeit im Produktionsprozeß instrumentalisiert.Der arbeitende Mensch ist “heute noch viel weiter gehendals sachlich geboten und darum unvermeidlich - auf die Objektrollebeschränkt” 253 . Arbeit ist “bloßes Betriebsmittel für diesen Prozeß, nichttragende Säule <strong>der</strong> ökonomischen Gebilde” 254 . Arbeit ist drittens rechtlich-strukturellausgegrenzt. Das zeigt sich darin, daß Arbeit in einenProduktionsprozeß einzubringen keinerlei Mitgliedschaft o<strong>der</strong> Mitgliedsrechteim Unternehmen begründet. Mit dem Unternehmen sind nur diejenigenrechtlich verbunden, die Kapital einsetzen. Oswald von Nell-Breuning besteht darauf, daß allein für die Min<strong>der</strong>heit <strong>der</strong>jenigen, dieüber die Produktionsmittel verfügen, “die volle Subjektstellung gewährleistet”255 sei. Dagegen sind die arbeitenden Menschen zwar Mitarbeiter,aber “im Rechtssinn Außenstehende” 256 eines Unternehmens. <strong>Die</strong>grundlegende Tatsache, die über die reale Lage <strong>der</strong> Arbeit entscheidet,resultiert somit aus <strong>der</strong> “Verfügung und Nichtverfügung über Produktionsmittel”257 . Aus einer Position <strong>der</strong> unbedingten Ausrichtung auf denMenschen und seiner personalen Würde formuliert Nell-Breuning folgen<strong>der</strong>maßen:“Der Realfaktor „Kapital‟ bestimmt, er ist Subjekt; über denpersonalen Faktor „Arbeit‟ wird bestimmt, er ist Objekt.” 258<strong>Die</strong> reale Arbeit, wie sie von <strong>der</strong> Mehrheit <strong>der</strong> Menschen erlebt wird, istabhängige Arbeit. <strong>Die</strong> fehlende Teilhabe an wirtschaftlichen Prozessen,das Objekt - sein, macht den Kern dieser realen Situation <strong>der</strong> Lohnabhängigenaus. Und genau darum geht es, wenn die Bibel von “Armut”spricht. Biblisch meint Armut nicht allein den materiellen Aspekt <strong>der</strong> Notlage.<strong>Die</strong> Armen sind in <strong>der</strong> Tat diejenigen, die unter <strong>der</strong> Last ihrer Exis-251 O. von Nell-Breuning, Eigentum und wirtschaftliche Demokratie. Schriftenreihe <strong>der</strong> IG MetallNr. 64, Frankfurt 1975, 14.252O. von Nell-Breuning, Soziale Sicherheit? Zu Grundfragen <strong>der</strong> Sozialordnung aus christlicherVerantwortung, Freiburg 1975, 170.253 O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung - wer mit wem? Freiburg 1969, 32.254 Ebd. 33.255 Ebd. 32.256 O. von Nell-Breuning, Soziale Sicherheit, 123.257O. von Nell-Breuning, Situation und soziokulturelle Umwelt <strong>der</strong> Arbeiterschaft, in: J. Wiener,H. Erharter (Hg.), Arbeiterpastoral in <strong>der</strong> Pfarre, Wien 1979, 11.258 O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung - wer mit wem? 33.101


tenz so nie<strong>der</strong>gedrückt sind (anaw), daß ihre Hauptaufgabe allein darinbesteht, ihr Leben und Überleben zu sichern. 259 <strong>Die</strong> biblische Traditionbenennt mit “Armut” eine Situation <strong>der</strong> Abhängigkeit. Für die Menschen<strong>der</strong> Bibel sind die Armen nicht so sehr mittellos, als vielmehr untergeordnet,min<strong>der</strong>wertig, klein und unterdrückt. “Im biblischen Sinn ist <strong>der</strong> „Arme‟<strong>der</strong> Beherrschte.” 260 Armut ist ein sozialer Begriff, nicht ein Zustand,in dem sich Menschen befinden. Biblisch beschreibt Armut eine Beziehung,in <strong>der</strong> sich Menschen als ausgeschlossen und in ihren Lebensmöglichkeitengemin<strong>der</strong>t erfahren. “Der Gegenbegriff zum Armen ist imAlten Testament <strong>der</strong> Gewalttäter, <strong>der</strong> den Armen unterdrückt und insElend stößt und sich auf seine Kosten bereichert.” 261 Arm ist man nichtan sich, son<strong>der</strong>n im Verhältnis zu Starken, die die Schwäche ausnutzenkönnen. <strong>Die</strong>se Objektrolle macht nach biblischem Verständnis Armutaus, materielle Notlage hingegen ist Folge und Auswirkung dieses ökonomischenund sozialen Abhängigkeitsverhältnisses. Der Bibel ist dasWissen um den Kreislauf von Armut und Abhängigkeit vertraut: “Der Reichehat die Armen in seiner Gewalt, <strong>der</strong> Schuldner ist seines GläubigersKnecht.” (Spr 22,7). Wenn die Bibel von Armut spricht, benennt sie dieseHerrschaftssituation, die am besten mit dem Begriff <strong>der</strong> fehlenden Teilhabeerfaßt werden kann. 262<strong>Die</strong> von Oswald von Nell-Breuning beschriebene Lage <strong>der</strong> abhängigenArbeit läßt sich mit jenem Defizit angemessen beschreiben, auf das auchdie theologische Rede einer Option für die Armen reagiert. <strong>Die</strong> Lage <strong>der</strong>Arbeit in <strong>der</strong> real existierenden Marktwirtschaft entspricht dem, was dieBibel mit dem hebräischen Begriff “Armut” zur Sprache bringen will, nämlicheine Abhängigkeit o<strong>der</strong> Objektrolle des Menschen. Geprägt habendie Formel <strong>der</strong> “Option für die Armen” zwar lateinamerikanische Theologien,doch steht sie in einer älteren Traditionslinie. So betont <strong>der</strong> SozialreformerFriedrich Naumann (1860-1919) bereits Ende des letzten Jahrhun<strong>der</strong>tsJesu Nähe zu den Armen, die es zur vordringlichen Aufgabemache, “die soziale Frage vom Standpunkt <strong>der</strong> Bedrängten, für die Bedrängtenund mit den Bedrängten”, eben “von unten her” 263 zu bearbeiten.Nicht an<strong>der</strong>s <strong>Die</strong>trich Bonhoeffer, <strong>der</strong> darauf hingewiesen hat, daßes <strong>der</strong> Weg Jesu selbst sei, <strong>der</strong> dazu anhalte, geschichtliche Ereignisse“von unten, aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Ausgeschalteten, Beargwöhnten,259<strong>Die</strong> hebräische Wortwurzel „nh /‟nw bedeutet “gebeugt, bedrückt” sein - R. Martin-Achard,Art.„nh=elend sein, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München ,Zürich 1984, Sp. 341.260E. Dussel, Vier Themen zu Theologie und Ökonomie, in: Th. Buhl u.a. (Hg.), Option für dieArmen und kirchliche Basisgemeinden in Lateinamerika, Leipzig 1990, 292.261 J. Moltmann, Kirche in <strong>der</strong> Kraft des Geistes, 97.262 H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 169f.; auch C. Boff u. J. Pixley, <strong>Die</strong> Option für dieArmen. Gotteserfahrung und Gerechtigkeit, Düsseldorf 1987, 34 - 123.263 F. Naumann, Gesammelte Werke, Bd. 1, 346; vgl. ähnliche Aussagen ebd. 354, 378ff.102


Schlechtbehandelten, Machtlosen, Unterdrückten und Verhöhnten, kurz<strong>der</strong> Leidenden” 264 wahrzunehmen. <strong>Die</strong>se Perspektive schärft den Blickfür das, was Gerechtigkeit aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Opfer bedeutet. Daß<strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> Bibel zu den Armen und Schwachen hält, zieht sich wie einroter Faden durch die ganze Bibel. <strong>Die</strong>se Option für die Armen läßt sichals ein Grundanliegen bezeichnen, das in <strong>der</strong> Hebräischen Bibel festverwurzelt ist und zu den prägenden Traditionen des Neuen Testamentsgehört. Und Jesus von Nazareth hat nach dem Zeugnis des Neuen Testamentsdiesen Blick von unten eingenommen.Mittlerweile ist die Option für die Armen zum Konsens <strong>der</strong> ökumenischenChristenheit geworden. 265 So sprach sich in <strong>Dr</strong>esden die ÖkumenischeVersammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung <strong>der</strong>Schöpfung 1988 für eine “Option für die Armen” (I., 29) aus. Ähnlich bekräftigtedie Ökumenische Weltversammlung von Seoul 1989, “daß Gottauf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Armen steht” (Grundüberzeugung II). Auch die ZweiteEuropäische Ökumenische Versammlung in Graz 1997 hat sich zu <strong>der</strong>“Option für die Armen” bekannt (Hintergrundmaterial Ziff. B 22). Erstmalshaben auch die Kirchen in Deutschland in ihrem Wirtschafts- und Sozialwortoffiziell sich diese Option zu eigen gemacht, wenn sie von einer“vorrangigen Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten”(Ziff. 3.3.2) sprechen.<strong>Die</strong> Stärke des Begriffs einer Option für die Armen liegt darin, daß ereinen Maßstab entwickelt, <strong>der</strong> nach den Opfern des Systems fragt. Deshalbist es auch nur konsequent, wenn die Theologie <strong>der</strong> Befreiung seiteinigen Jahren den ursprünglich soziologisch geprägten Begriff <strong>der</strong> Optionfür die Armen um die ökologische Dimension erweitert. Der brasilianischeBefreiungstheologe Leonardo Boff sagt: “Das am meisten bedrohteGeschöpf: <strong>der</strong> Arme.” 266 Der Ausgangspunkt, von dem aus die Theologie<strong>der</strong> Befreiung sich auf die ökologische Katastrophe einläßt, ist die sozialeKatastrophe, <strong>der</strong> die Armen ausgesetzt sind. “In diesem Kontextgesehen, sind die am meisten bedrohten Lebewesen nicht die Wale,son<strong>der</strong>n die Armen, die zu einem vorzeitigen Tod verurteilt sind.” 267 <strong>Die</strong>264D. Bonhoeffer, Nach zehn Jahren, in: <strong>der</strong>s., Wi<strong>der</strong>stand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungenaus <strong>der</strong> Haft, hg. von E. Bethge, 14. Aufl. München 1990, 26.265 Zur Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte <strong>der</strong> Option für die Armen: P. Rottlän<strong>der</strong>, Option fürdie Armen. Erneuerung <strong>der</strong> Weltkirche und Umbruch <strong>der</strong> Theologie, in: Mystik und Politik.Theologie im Ringen um Geschichte und Gesellschaft. Festschrift für J.B. Metz, Mainz 1988,72-88; H. Bedford-Strohm, Vorrang <strong>der</strong> Armen, 199 - 203; G. Collet, “Den Bedürftigen solidarischverpflichtet”, Implikationen einer authentischen Rede <strong>der</strong> Option für die Armen, in: Jahrbuchfür christliche Sozialwissenschaften, Bd. 33, Münster 1992, 67-84.266 L. Boff, Theologie <strong>der</strong> Befreiung und Ökologie: Alternativen, Gegensatz o<strong>der</strong> Ergänzung, in:Concilium 31 (1995) 423-430.428.267 L. Boff, Theologie <strong>der</strong> Befreiung und Ökologie, 429.103


Option für die Armen um ein Verständnis zu erweitern, das ökologischeBedrohungen einschließt, geht von <strong>der</strong> Analyse aus, daß es die gleicheLogik des Systems <strong>der</strong> Kapitalakkumulation und einer gesellschaftlichenOrganisation ist, die Menschen unterdrückt und die auch den Raubbauan <strong>der</strong> Natur betreibt. In einer weiteren Ergänzung versteht die Theologie<strong>der</strong> Befreiung den Armen immer auch als den An<strong>der</strong>en, <strong>der</strong> ausgeschlossenund nicht Teil des gesellschaftlichen Systems ist. <strong>Die</strong> Optionfür die Armen meint deshalb immer eine Option für den armen An<strong>der</strong>en.<strong>Die</strong>se Option bringt drei Aspekte zum Ausdruck: Erstens enthält sie einenethischen Maßstab, <strong>der</strong> alle - auch die wirtschaftlichen - Prozessedanach bewertet, was sie den Armen tun, was sie ihnen antun, was sieihnen ermöglichen zu tun. Sie will also eine angemessene Beteiligung alleram gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben ermöglichen. Zweitenserfüllt die Option für die Armen eine kritische Funktion. Sie ist kritischerMaßstab für eine theologische Ethik, an dem sich die Tauglichkeitwirtschaftlicher Strukturen und Ordnungskonzepte zeigt. <strong>Dr</strong>ittens will sieden Umgang mit den Armen zu ihrem Gunsten und gemeinsam mit ihnenverän<strong>der</strong>n. Aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Armen und Schwachen wird gesellschaftlicheo<strong>der</strong> wirtschaftliche Ungerechtigkeit wahrgenommen undversucht, im Interesse des Gesamtsystems zu beenden. Deshalb ist dieOption für die Armen nur scheinbar ein Einsatz für Teilinteressen. Siezielt auf eine gerechtere Gesellschaft und hat das allgemeine gesellschaftlicheInteresse im Blick.<strong>Die</strong> Frage nach <strong>der</strong> wirtschaftlichen und sozialen Gerechtigkeit aus<strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Armen zu stellen, ist ein Ansatz, den eine biblischbegründete christliche Wirtschaftsethik aufnehmen muß. Heinrich Bedford-Strohmhat dargelegt, daß <strong>der</strong> biblische Ansatz, Gerechtigkeit vonden Armen her zu erschließen, auch mit dem philosophischen Gerechtigkeitsverständnisvon John Rawls verknüpfbar und säkularkommunikabel ist. 268 Ein Gerechtigkeitsverständnis, das sich an einemam Vorrang für die Armen orientierten Gerechtigkeitsbegriff ausrichtet,steht im <strong>Die</strong>nst <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Gerechtigkeit für alle und obwohl zunächsteine partielle Solidarität, stellt sie ein Mittel zur universalen Solidaritätbereit. Rawls begründet sein Gerechtigkeitsverständnis mit dem Gedankenkonstrukt,sich in die Lage <strong>der</strong> am meisten Benachteiligten zuversetzen, um von dort her die Einsicht zu ermöglichen, daß es beimVorrang <strong>der</strong> Armen keineswegs um den Versuch geht, lediglich für einebestimmte Gruppe Gerechtigkeit in Geltung zu setzen. Wo Nachteile undVorteile <strong>der</strong> gesellschaftlichen Zusammenarbeit ungleich verteilt sind,dort vertritt die For<strong>der</strong>ung nach Gerechtigkeit die Interessen <strong>der</strong>er, denen268 H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 293 - 306.104


ihr Anteil an den Gütern und Chancen <strong>der</strong> Gesellschaft vorenthalten wird.Deshalb läßt sich die Schlußfolgerung ziehen: “Sowohl aus theologischerals auch aus philosophischer Sicht ist wichtiges Kennzeichen eines amVorrang für die Armen orientierten Gerechtigkeitsverständnisses seineInklusivität.” 269 Rawls‟ Gerechtigkeitsverständnis und die biblische Optionfür die Armen lassen sich also gut miteinan<strong>der</strong> verknüpfen.269 Ebd. 307.105


4. TORA ALS GRUNDLAGE THEOLOGISCHER ETHIK4.1.1 Biblisch fundierte Ethik4.1. Ethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> als GrundlageDer Alttestamentler Frank Crüsemann hat die For<strong>der</strong>ung aufgestellt,“daß unbeschadet des historischen Abstandes allein die <strong>Tora</strong> die Grundlageeiner biblisch orientierten Ethik sein kann.” 270 We<strong>der</strong> eine rationaleNormbegründung noch eine “angebliche Deduktion von Normen ausdem puren Evangelium” 271 könne eine theologische Ethik begründen. <strong>Die</strong><strong>Tora</strong> sei vielmehr Grundlage des Kanons und deshalb auch einer neutestamentlichenEthik. Er möchte für eine <strong>Tora</strong>-Rezeption “historischeGrundlagen” 272 bereitstellen. Mit diesem Ansatz verfolgt Frank Crüsemanndas Anliegen einer “Reintegration <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> in eine EvangelischeTheologie” 273 . Können die ethischen Orientierungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> aber überhauptfür den Christen maßgeblich sein?Christofer Frey hat sich kritisch mit Frank Crüsemanns For<strong>der</strong>ungauseinan<strong>der</strong>gesetzt. “Was ist zu diesem Versuch zu sagen,postulatorisch im Christentum eine Evidenzbasis zu schaffen, indem essich mit <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> <strong>der</strong>er, die häufig seine Opfer waren, identifiziert, also ineine spezielle Identitätsethik eintritt?” 274 Frey hält Crüsemann entgegen:Wenn <strong>der</strong> Exeget selbst sich mo<strong>der</strong>ner Kategorien historischer Forschungbediene, so seien dem Ethiker auch mo<strong>der</strong>ne ethische Kategoriengestattet. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> sei im Unterschied zu einer Folgenethik eineIdentitätsethik, die nicht aus abstrakten Prinzipien, son<strong>der</strong>n aus konkre-270F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 424f.; kritisch setzt sich mit diesem Ansatz auseinan<strong>der</strong>: Chr. Frey,<strong>Tora</strong> für Protestanten - o<strong>der</strong> über die sich rasch wechselnden Evidenzen in <strong>der</strong> protestantischenTheologie, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 38 (1994) 242-246.271 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 12.272 Ebd. 425.273 Ebd. 9. Mit dieser For<strong>der</strong>ung macht er sich eine Position von F.-W.Marquardt zu eigen.274 Chr. Frey, <strong>Tora</strong> für Protestanten, 246.106


ten Gemeinschaftsverhältnissen hervorwachse. Crüsemann for<strong>der</strong>e einesolche Identitätsethik. Doch wie könne sich die Christenheit unter die <strong>Tora</strong>stellen, die Gott allein Israel gegeben habe? Gegen eine Applikationvon <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> entnommener Normen erhebt Frey den Einspruch, “unmittelbareAktualität zu wittern bedeute, die Ethik auf einen unbestimmtenAppell schrumpfen zu lassen, statt kritische Reflexion gelebten o<strong>der</strong>neuen Ethos in Gang zu setzen.” 275 Den Rückbezug auf die <strong>Tora</strong> verstehtChristofer Frey gar als Ersetzung <strong>der</strong> Christologie. Sein Fazit: “Dem Protestantismusist deshalb zu wünschen, daß er davon abläßt, von Themazu Thema zu flattern - in <strong>der</strong> Hoffnung, daß das jeweils Gewählte seineGegenwartsbedeutung moralisch und apologetisch begründe.” 276Christofer Freys Kritik wirkt nicht überzeugend. Wenn er bezweifelt,daß die <strong>Tora</strong> als ein geschichtlich gewachsenes Ethos auch universaleGesichtspunkte hervorbringen könne, übersieht er den universalen Anspruch<strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, die sich nicht allein auf die Geschichte Israels, son<strong>der</strong>nauch auf die Geschichte <strong>der</strong> Menschheit bezieht. Israel lebt bereits nacheiner Weisung, die eines Tages auch an<strong>der</strong>e Völker befolgen sollen, besitztalso ein Wissen, das eines Tages auch von fremden Völkern beachtetwerden wird. Das meint jedenfalls Jesaja, wenn er Israel als “Licht fürdie Völker” bezeichnet (Jes 42,6). In diesem Bild kündigt sich sehr früheine Art von Universalismus an, die jeden Partikularismus einer Identitätsethikübersteigt. Ausdrücklich formuliert wurde dieser universalethischeAnsatz in den sog. noachidischen Geboten. Klaus Müller hat in seinerAbhandlung <strong>Tora</strong> für die Völker. <strong>Die</strong> noachidischen Gebote und Ansätzezu ihrer Rezeption im Christentum 277 die universalethische Debatteim Judentum im Abfassungszeitraum <strong>der</strong> neutestamentlichen Schriftennachgezeichnet. Dem Judentum und dem Christentum war in je eigenerAusprägung die Fragestellung nach <strong>der</strong> Geltung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> in dem Momentaufgegeben, als <strong>der</strong> palästinensisch-israelitische Kulturraum verlassenwurde. <strong>Die</strong> sog. sieben noachidischen Gebote hat die jüdischeTheologie ausdrücklich als ein universalethisches Angebot für die ganzeMenschheit in <strong>der</strong> Zeit nach <strong>der</strong> Zerstörung Jerusalems formuliert. <strong>Die</strong>sebestehen aus dem Verbot des Götzendienstes, <strong>der</strong> Gotteslästerung, desMordes, des sexuellen Vergehens, des Raubes und des Essens lebendigerTiere sowie dem Gebot, Gerichtshöfe einzurichten. <strong>Tora</strong> für die Völkerheißt nach dem Aposteldekret zunächst Freistellung <strong>der</strong> Völker von<strong>der</strong> dem Judentum zugehörigen Mosetora und die Verpflichtung <strong>der</strong> universalenMenschheit auf den <strong>Dr</strong>eierkatalog: Verbot des Götzendienstes,<strong>der</strong> Unzucht und des Blutvergießens (so in: Apg 15,19-2; vgl. Gal 5,19-275 Ebd. 245.276 Ebd. 246.277 Berlin 1994.107


21; 1 Kor 5,10f; 6,9f.; 1 Tim 1,9f; Apk 9,20f; 21,8). <strong>Die</strong> drei Hauptverboteentsprechen dabei faktisch einer Kurzform <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, wie ja auch das Liebesgeboto<strong>der</strong> die Goldene Regel (Lev 19,18 / Mk 12,31; Mt 7,12; Lk6,31) aus <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> Israels schöpfen. <strong>Die</strong> frühe neutestamentliche Ethikorientiert sich an dem klassischen jüdischen Konzept einer <strong>Tora</strong> für dieVölker. <strong>Die</strong> Kurzform <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ist ein Zugang zur ganzen Mosetora, dieals Weisung Gottes vom Sinai nach rabbinischer Auskunft für alle Erdenbewohneroffen steht. Rabbi Meir verweist auf Lev 18,5: Dort heißt esnicht, daß den Priestern o<strong>der</strong> Israeliten, son<strong>der</strong>n den Menschen die <strong>Tora</strong>gegeben sei: <strong>der</strong> Mensch, <strong>der</strong> sie - die Weisungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> - tut, werdeleben. 278 Klaus Müller stellt zwischen <strong>der</strong> universalethischen Absicht <strong>der</strong>jüdischen <strong>Tora</strong> und <strong>der</strong> neutestamentlichen Ethik einen Zusammenhangher: “Was jüdischerseits innerhalb des Abfassungszeitraums <strong>der</strong> neutestamentlichenSchriften an universalethischem Ansatz vorliegt, kommtmithin bei <strong>der</strong> Bemühung um <strong>Tora</strong> für die Völkerchristen voll zum Zugeund wird zum integralen Bestandteil christlicher Ethik. Das neutestamentlicheChristentum macht die Frühform <strong>der</strong> noachidischen <strong>Tora</strong> in Gestalt<strong>der</strong> Kardinalsündentrias zur verbindlichen Weisung.” 279 Das aber bedeutet:<strong>Die</strong> Ethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> steht keineswegs einem universalethischen Ansatzentgegen; <strong>der</strong> universalethische Ansatz <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gibt dem universalethischenAnsatz des neutestamentlichen Christentums vielmehr dieRichtung vor. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> als partikulare Identitätsethik ohne Universalitätsanspruchund die christliche Ethik demgegenüber als eine Ethik mit Universalanspruchzu verstehen, wird theologisch we<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> noch demJudentum noch dem neutestamentlichen Christentum gerecht.<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> ist das Medium, in dem Gott und die Lebensbereiche zusammengefaßtwerden. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> zu halten, ist nach biblischem Verständnisein Vollzug des Bundes mit Gott und Anweisung zu einem existentiellenund praktischen Gottesverhältnis. Gegen Vorbehalte einerchristlichen Rezeption <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ist darauf hinzuweisen, daß das NeueTestament selber in den Horizont <strong>der</strong> Frage nach <strong>der</strong> Geltung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>gehört und dadurch als Teil einer auf Sinai zurückreichenden Tradition zuverstehen ist. Leo Baeck stellte 1938 in seiner Schrift Das Evangeliumals Urkunde <strong>der</strong> jüdischen Glaubensgeschichte die neutestamentlicheÜberlieferungsgeschichte in die Sinaitradition. “In dieses eigentümlichejüdische geistige Leben und in die Art und Weise dieser jüdischen Traditiongehört die alte Evangeliumsüberlieferung hinein. Sie hat an all diesemCharakteristischen ihren vollen Anteil, sie ist nichts an<strong>der</strong>es als einStück davon.” 280 Das Neue Testament setzt also die <strong>Tora</strong> voraus; es278 Sanhedrin 59a, zit. nach: K. Müller, <strong>Tora</strong> für die Völker 13.279 Ebd. 195f.280 L. Baeck, Das Evangelium als Urkunde <strong>der</strong> jüdischen Glaubensgeschichte, Berlin 1938, 29.108


setzt sie nicht außer Kraft, son<strong>der</strong>n radikalisiert sie eher, als daß es sierelativiert. 281 Deshalb ist auch <strong>der</strong> Vorwurf von Christofer Frey, daß dieChiffre Moses bei Frank Crüsemann die Christologie ersetze, nach demexegetischen Befund nicht haltbar, wie im folgenden ausführlich dargestelltwerden soll. 282Das Verhältnis <strong>der</strong> neutestamentlichen Schriften zu denen <strong>der</strong> hebräischenBibel läßt sich exemplarisch am Sabbat darstellen. Gerhard Dautzenbergnennt in seinem Bericht über den Forschungsstand das VerhältnisJesu zur <strong>Tora</strong> eines <strong>der</strong> schwierigsten und umstrittensten Themenfel<strong>der</strong><strong>der</strong> neutestamentlichen Forschung. 283 In <strong>der</strong> kaum noch zu überschaubarenexegetischen Literatur lassen sich drei Grundmuster <strong>der</strong> Interpretationausmachen: 284- Jesus hat durch seine provozierende Sabbatverletzung den in seinerZeit verdunkelten, jedoch ursprünglichen und dem Willen Gottes entsprechendenSinn des Sabbat wie<strong>der</strong> ans Licht gebracht;- Jesus hat eine kritische Stellung dem Sabbat gegenüber eingenommen;- Jesus hat den Sabbat aufgehoben.In den neutestamentlichen Wissenschaften zeichnet sich ein Paradigmenwechselab. Von W. Bousset an herrschte ein Jesusbild, das voneinem Gegensatz zwischen Jesus und <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> bestimmt war: In souveränerFreiheit habe Jesus <strong>Tora</strong> und Kult außer Kraft gesetzt, den Sabbatprovokativ gebrochen und bewußt an <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, <strong>der</strong> Grundlage des jüdischenGemeinwesens, gerüttelt. Es mehren sich jedoch die Stimmen,welche diese torakritische Position Jesu bestreiten und - das ist entscheidend- sein Verhalten und seine Weisungen im Rahmen des frühjüdischen<strong>Tora</strong>verständnisses und eben nicht im Gegensatz zu diesem interpretieren.<strong>Die</strong>ses Frühjudentum muß sowohl vom biblischen wie auch281 So auch S. Schulz in seiner Neutestamentlichen Ethik, Zürich 1987. Dort heißt es: “Jesus stehtauf dem Boden <strong>der</strong> von ihm radikalisierten <strong>Tora</strong>, und seine gesamte Ethik beabsichtigt nur eines,den Willen Gottes uneingeschränkt und keineswegs nur formal zur Geltung zu bringen.”(83) Das “Gesetz vom Sinai” (34) sei in allen Auseinan<strong>der</strong>setzungen um die <strong>Tora</strong> immer dieGrundlage geblieben. Wi<strong>der</strong>spruch gegen Mose habe sich innerhalb <strong>der</strong> Gesetzestradition vollzogen.- Vgl. die Darstellung unten in den Abschnitten 6.1.2.2; 6.1.2.3; 9.6.2.1.282 Chr. Frey, <strong>Tora</strong> für Protestanten, 245 mit Bezug auf F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 112, 121.283G. Dautzenberg, Jesus und die <strong>Tora</strong> (I), in: Orientierung 55 (1991) 229-232; G. Dautzenberg,Jesus und die <strong>Tora</strong> (II), in: Orientierung 55 (1991) 243-246. Im Folgenden wird die Forschungssituationnach Dautzenberg referiert. - Zur Debatte vgl. auch: F. Avemarie u. H. Lichtenberger(Hg.), Bund und <strong>Tora</strong>. Zur theologischen Begriffsgeschichte in alttestamentlicher,frühjüdischer und urchristlicher Tradition, Tübingen 1996, B. Schaller, Jesus und <strong>der</strong> Sabbat,<strong>Franz</strong>-Delitzsch-Vorlesung 1992, Münster 1994.284 Spier, E, Der Sabbat, 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. Berlin 1992, 25.109


vom rabbinischen Judentum abgehoben werden. Gerhard Dautzenbergzieht aus <strong>der</strong> Debatte um das <strong>Tora</strong>verständnis Jesu die Folgerung, daßdieses Paradigma, das Jesu Verhalten zur <strong>Tora</strong> im Rahmen <strong>der</strong> frühjüdischen<strong>Tora</strong>interpretation versteht, die Entwicklung <strong>der</strong> Jesustradition in<strong>der</strong> Gesetzesfrage besser zu erklären vermag. Religionsgeschichtlichgehört das Urchristentum in seinen Anfängen zum Frühjudentum. <strong>Die</strong>sesFrühjudentum ist in seinem Gesetzesverständnis und seiner Gesetzespraxisvielfältiger als das rabbinische. Unbestritten war in allen Gruppierungen- also auch im Urchristentum - die anerkannte Autorität und Funktion<strong>der</strong> <strong>Tora</strong>. Weniger im Verständnis <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> als in <strong>der</strong> Gesetzespraxis,<strong>der</strong> Halacha, unterschieden sich die Gruppierungen des Frühjudentums.285 In ihrer Praxis vollzog sich immer schon eine kreative Selektionund Weiterbildung <strong>der</strong> schriftlichen Sinaitradition. Nach dem exegetischenBefund läßt sich jedoch feststellen, daß Jesus und die erstennachösterlichen Gemeinden nicht eine neue spezifische Ethik gegen die<strong>Tora</strong> o<strong>der</strong> gar in Abgrenzung zu ihr begründeten, son<strong>der</strong>n sich als Teildes jüdischen Volkes wußten und <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> verpflichtet waren. 286 Auchdas spannungsreiche paulinische Gesetzesverständnis orientierte sichebenfalls durchaus an <strong>der</strong> frühjüdischen Gesetzesauslegung. 287 Theologischist es deswegen nicht zu rechtfertigen, wenn <strong>Tora</strong> und HebräischeBibel in einen Gegensatz zu den neutestamentlichen Schriften gebrachtwerden. <strong>Die</strong> stereotype Formulierung “das Gesetz und die Propheten” inden neutestamentlichen Schriften belegt den Zusammenhang von HebräischerBibel und Evangelien (Mt 5,17.18; 17,12.23; 11,13; 22,40; Lk22,44; Joh 7,19 u.ö.). <strong>Die</strong> Bezeichnung “Erstes Testament” o<strong>der</strong> “HebräischeBibel” für das Alte Testament will dieser Sichtweise Rechnung tragen.Wenn sich so <strong>der</strong> gegenwärtige Forschungsstand beschreiben läßt,dann hat dies weitreichende Folgen für die Relevanz <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> für einespezifisch christliche theologische Wirtschaftsethik. <strong>Die</strong> neutestamentlichenSchriften gehören in den Zusammenhang <strong>der</strong> innerbiblischen Debatteum Geltung, Interpretation und Weiterführung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>. Das theo-285 So auch: E. W. Stegemann u. W. Ekkehard, Urchristliche Sozialgeschichte. <strong>Die</strong> Anfänge im Judentumund die Christusgemeinden in <strong>der</strong> mediterranen Welt, Stuttgart, Berlin, Köln 1995,185f.286Vgl. dazu u. a. R. Kessler, Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... solernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern-Salzburg1995, 92-94. Der Ansatz, die neutestamentlichen Diskussionen als Teil <strong>der</strong> innerjüdischenDebatte um die Geltung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zu verstehen, wird in weiteren Beiträgen desSammelbandes aufgegriffen: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des ErdkreisesGerechtigkeit.” Eine sehr deutliche Lesart aus Sicht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>: M. Vidal, Le Juif Jésus etle Shabbat. Une lecture de l‟Évangile à la lumière de la <strong>Tora</strong>h, Paris 1997.287 G. Dautzenberg, Jesus und die <strong>Tora</strong> (II), 244.110


logische Proprium christlicher Ethik definiert sich dann nicht aus einemGegenüber zur <strong>Tora</strong>, son<strong>der</strong>n als Entfaltung, Weiterführung, Selektionund kreative Aneignung <strong>der</strong> einen <strong>Tora</strong>. <strong>Die</strong> Sozialtraditionen <strong>der</strong> HebräischenBibel erhalten deshalb einen Eigenwert auch für eine christlicheEthik.Herkunft und Etymologie des hebräischen Wortes tora sind unsicher.288 Nach dem ursprünglichen Sinn bezeichnet <strong>Tora</strong> eine “Weisung”.Sie kann die göttliche Weisung (vgl. Ex 35,34; Dtn 33,10; Jes 2,3), eineWeisung von Vater und Mutter (Prov 1,8; 4,1f; 6,20), das Wort des Propheten(Jes 8,16; 30,9f; Jer 17,19ff.) o<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Weisheitsliteratur aucheine Belehrung (Spr 13,14) bedeuten. Das Hebräische verwendet für dasgöttliche Gesetz, die <strong>Tora</strong> im engeren Sinn, keinen einheitlichen Begriff,son<strong>der</strong>n gebraucht für die For<strong>der</strong>ungen Gottes mehrere Lexeme mit jeunterschiedlichen Bedeutungsnuancen. 289 In <strong>der</strong> Hebräischen Bibel begegnetman Weisungen, “Weisungen Gottes” (Jos 24,26), “Gesetzendes Herrn” (2 Kön 10,31) o<strong>der</strong> “Weisungen des Mose” (Jos 8,31). Siebezeichnen mehr als Gesetze im mo<strong>der</strong>nen Sinn. Gerhard von Rad verstehtunter “Gesetz/<strong>Tora</strong>” die gesamten Willensoffenbarungen Gottes. 290Gerade um den mit Gesetz konnotierten juridischen Aspekt nicht in denVor<strong>der</strong>grund zu rücken, hat Martin Buber in seiner Bibelverdeutschungvon “Weisung” gesprochen. <strong>Die</strong> Weisungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> regeln einen jedenAspekt des kultischen, privaten und gesellschaftlichen Lebens: Landwirtschaft,Handel, Wirtschaft, Kleidung o<strong>der</strong> Zubereitung <strong>der</strong> Nahrungsmittel.Michael Welker hat wichtige Einsichten vorgetragen, die deutlich machen,daß das biblische Gesetz keineswegs als “For<strong>der</strong>ung von Werken”zu verstehen sei. 291 Was das biblische Gesetz vielmehr zur Sprachebringen will, ist eine “lebensför<strong>der</strong>nde Erwartungshaltung” 292 . Welker willdamit zum Ausdruck bringen, daß das biblische Gesetz als Beitrag zurHerausbildung einer Erwartungskultur zu verstehen sei. <strong>Die</strong> jedoch seinicht beliebig, son<strong>der</strong>n durch das Gesetz werden drei zusammenhängendeund inhaltlich präzise Funktionsbereiche geför<strong>der</strong>t, nämlich Recht,Kult und Erbarmen. 293 <strong>Die</strong>se sollen eine Ordnung dessen konstituieren,was Gottes Wille ist. Mit <strong>der</strong> durch das Gesetz hervorgerufenen Erwartungskulturwird eine gegenseitige Verläßlichkeit über das, was geltensoll, hervorgerufen. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> ist deswegen nichts Geringeres als das288 So R. Rendtorff, Art. <strong>Tora</strong>, in: RGG 3. Aufl. Bd. 6, 950.289 K. Koch, Gesetz I. Altes Testament, TRE Bd. 13, 43.290 G. von Rad, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1, 203f.291 M. Welker, Erwartungssicherheit und Freiheit. Zur Neuformulierung <strong>der</strong> Lehre von Gesetz undEvangelium, in: Evangelische Kommentare 18 (1985), 680-683 (Teil 1); <strong>der</strong>s., Erbarmen undsoziale Identität, in. Evangelische Kommentare 19 (1986) 39-52 (Teil 2).292M. Welker, Erwartungssicherheit und Freiheit, 680.293 Das Wichtigste des Gesetzes nennt Mt 23,20: “Gerechtigkeit, Barmherzigkeit und Treue.”111


Projekt, alle Bereiche des Lebens und <strong>der</strong> menschlichen Erfahrung indas Licht Gottes zu stellen. <strong>Die</strong> gelebte <strong>Tora</strong> vollzieht die Gottesbeziehung.Sie ist das Medium, in dem die Vielfalt <strong>der</strong> Wirklichkeitsbereicheund Gott zusammengebracht werden.Der Gegensatz “Gesetz” und “Evangelium” hat lange eine theologischangemessene Sicht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> verstellt. Eine Kritik <strong>der</strong> theologischen Gesetzeskritikist überfällig, um ein Verständnis <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gewinnen zu können,das <strong>der</strong> biblischen Tradition entspricht und auch dem Judentum gerechtwird. “Wer die Gesetze hält, wird durch sie leben” (Lev 18,5). Dasbiblische Gesetz, die “Weisung”, ist selbst eine Art von Evangelium.Denn sie ist “heilig, gerecht und gut” (Röm 7,12). Als “Gesetz” steht sienicht in einem Gegensatz zum Evangelium. Auch vom Neuen Testamenther ist die Weisung <strong>der</strong> Hebräischen Bibel nicht als ethischer Indikativo<strong>der</strong> Imperativ zu verstehen, son<strong>der</strong>n als eine Weisung zum Leben. <strong>Die</strong>Einsicht <strong>der</strong> Alttestamentler, zwischen “Gesetz” und “Evangelium” nichteinen Gegensatz zu konstruieren, ist zwar in die protestantische systematischeTheologie theologisch aufgenommen worden, doch auf einemabstrakten Niveau, “das heißt ohne Bezug auf die realen Inhalte <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>”294 - so die Kritik des Alttestamentlers Frank Crüsemann. Was bedeutetdie theologisch systematische Aussage von <strong>der</strong> bleibenden Erwählungdes Volkes Israel für die christliche Ethik?Frank Crüsemann verweist auf die bereits 1940 von Martin Noth erhobeneFor<strong>der</strong>ung, die theologische Ethik müsse “die alt- und neutestamentlicheErscheinung des Gesetzes stets zur Grundlage ihrer Arbeitmachen.” 295 Doch diese Einsicht Noths hat bislang so gut wie keine Wirkungauf die theologische Ethik gehabt. <strong>Die</strong>ses Defizit ist um so bemerkenswerter,als es bei <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> um ethische Normen und Werte geht, diedas private, öffentliche und auch wirtschaftliche Leben regeln sollen. LuiseSchottroff nennt das biblische Wirtschaftsrecht “das Herz <strong>der</strong> gesamtenbiblischen Tradition.” 296 Das läßt fragen, warum die theologischeEthik bislang kaum die wirtschaftsethisch relevanten Einsichten <strong>der</strong> Exegeserezipiert hat.4.1.2 <strong>Tora</strong> als Weisung zur GerechtigkeitHistorisch ist das Recht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> nicht zu <strong>der</strong> Zeit entstanden, wo es jetztliterarisch angesiedelt ist. <strong>Die</strong> Propheten des 8./7.Jh. kennen noch kein294 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 9.295 M. Noth, <strong>Die</strong> Gesetze im Pentateuch, SKG.G 17,2, 1940 = <strong>der</strong>s., Gesammelte Studien zum AltenTestament, Göttingen, 2. Aufl. 1960, 10., zit nach: F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 9.296 L. Schottroff, Das Sabbatjahr und das Grundrecht auf Arbeit, in: dies., Suchet mich bei meinenKin<strong>der</strong>n. Bibelauslegung im Alltag einer bedrohten Welt, München 1986, 19f.112


schriftlich fixiertes Recht, dürften jedoch zur Entstehung des ältestenGesetzes, des sog. Bundesbuches, den Anstoß gegeben haben. In <strong>der</strong><strong>Tora</strong> findet sich ein Nebeneinan<strong>der</strong> ganz verschiedener Traditionen. Entstandenzu unterschiedlichen Zeiten, setzen sie verschiedene soziale,ökonomische und politische Bedingungen voraus und haben auch unterschiedlichetheologische Aussageabsichten. Eckart Otto verweist aufdiese Vielzahl von Ethiken im Alten Testament und kommt zu <strong>der</strong>Schlußfolgerung: “<strong>Die</strong> Einheit <strong>der</strong> Ethik des AT ist ihre Geschichte.” 297Während Eckart Otto also kein inhaltlich-materiales Identitätsmerkmal<strong>der</strong> Ethiken des Alten Testamentes kennt, hat Walter <strong>Die</strong>trich in einerüberzeugenden Argumentation dargelegt, daß Gerechtigkeit wie ein “roterFaden” die Schriften <strong>der</strong> Hebräischen Bibel durchziehe. Er kommt zudem Schluß: “<strong>Die</strong> Mitte des Alten Testaments läßt sich am besten mitdem Begriff und <strong>der</strong> Sache <strong>der</strong> „Gerechtigkeit‟ bezeichnen.” 298Israel war sich <strong>der</strong> inhaltlich bestimmten Beson<strong>der</strong>heit seines Rechts,das die Frage nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit ins Zentrum gerückt hatte, durchausbewußt. Leo Baeck schreibt über die <strong>Tora</strong>: “<strong>Die</strong> Gesetze in <strong>der</strong> Weltringsumher - in <strong>der</strong> orientalischen, in <strong>der</strong> griechischen, in <strong>der</strong> römischenWelt - waren geschrieben vom Standpunkte <strong>der</strong> Besitzenden aus . (...)Das alte biblische Gesetz, wie dann die Propheten es verkündeten, istvom Standpunkt des Kleinen, des Schwachen, des Bedürftigen aus geschrieben. (...) Ein ganz an<strong>der</strong>er Standpunkt ist eingenommen: VomStandpunkte des Schwachen, des Bedürftigen, des Kleinen aus werdendie Gesetze gegeben, werden sie immer neu verkündet und proklamiert.”299 Ähnlich charakterisiert Benno Jacob die <strong>Tora</strong>: “Das Sinaigesetzkennt unter Israeliten keine Rangklasse, aber seine Lieblinge sind dieWitwe und die Waise, <strong>der</strong> eigene Knecht, <strong>der</strong> Fremdling und <strong>der</strong> Arme,für den es allein drei Namen hat. Es ist gerecht, billig und human.” 300 Gerechtigkeitist nicht subjektlos, sie legt sich hier als eine Parteinahmeaus. <strong>Die</strong> freigekommenen und aus ägyptischen Verhältnissen befreitenSklaven schufen eine Sozial- und Wirtschaftsordnung, die einen Rückfallin ägyptische Verhältnisse mit erneuter Versklavung und Unterdrückungabwehren und die <strong>der</strong> Menschenwürde, insbeson<strong>der</strong>e auch <strong>der</strong> arbeitendenMenschen, rechtlich und ökonomisch Gestalt geben wollte. ErrungeneFreiheit galt es zu bewahren. Deshalb hielt Israel Erfahrungen<strong>der</strong> Unterdrückung in Erinnerung und begründete die sozialen Schutzbe-297 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 12.298 W. <strong>Die</strong>trich, Der rote Faden im Alten Testament, 236.299 Zitiert im Nachwort von B. Klappert: A.Friedlan<strong>der</strong>, Leo Baeck. Leben und Lehre (1973), München1990, 305.300 B. Jacob, Das Buch Exodus, hg. im Auftrag des Leo Baeck Instituts von Shlomo Mayer, Stuttgart1997, 1061. - Benno Jacob (1862-1945) stand in <strong>der</strong> Tradition des deutschen Reformjudentumsund mußte 1939 emigrieren. Der Exodus-Kommentarband wurde posthum ediert.113


stimmungen immer wie<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Formel: “Denk daran: als du Sklavewarst in Ägypten (...)” (Dtn 24,22; 15,15; Ex 22,20; 23,9; Lev 19,34.36u.ö.). Was aber bedeutet diese Formel angesichts sich verän<strong>der</strong>n<strong>der</strong> gesellschaftlicherVerhältnisse? Einseitig wird aus <strong>der</strong> Erinnerung herausPartei genommen für die Sklaven. Über die Sozialgesetzgebung desDeuteronomium sagt Frank Crüsemann deshalb mit vollem Recht: “Gegenwen diese Gesetze stehen ist ebenso klar wie für wen sie stehen.” 301In <strong>der</strong> Hebräischen Bibel zeigt sich ein Durchbruch in <strong>der</strong> altorientalischenRechtsgeschichte: <strong>Die</strong> Rechtssätze werden nicht durch die Königsmacht,son<strong>der</strong>n durch die göttliche Offenbarung begründet. Mit dieserRechtsbegründung unterscheidet sich Israel von den RechtsbegründungenMesopotamiens. Nicht <strong>der</strong> König, son<strong>der</strong>n JHWH ist dieQuelle des Rechts. <strong>Die</strong>se Rechtsbegründung führt zu einer immanentenHerrschaftskritik, denn auch <strong>der</strong> König untersteht dem Recht; gegen denKönig kann an das Recht JHWHs appelliert werden. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> entziehtsich so einer politischen Funktionalisierung, das Recht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> kann <strong>der</strong>staatlichen Macht gegenübertreten.4.1.3 Erinnerung an den Exodus und Gegenwartsweisung<strong>Die</strong> inneralttestamentliche Rezeptionsgeschichte ist ein kreativer, dynamisieren<strong>der</strong>Umgang <strong>der</strong> Bibel mit ihrer eigenen Tradition: WertentscheidendeNormen durchziehen die biblische Überlieferung. In jeweils neuensozialen und ökonomischen Situationen wird die eine Verpflichtung <strong>der</strong><strong>Tora</strong> mo<strong>der</strong>nisiert. “Das judäische sich zum Ethos entwickelnde Rechtfor<strong>der</strong>t die permanente Solidarität des wirtschaftlich Starken mit demSchwächeren.” 302 Frank Crüsemann spricht von einem “entscheidendenPrinzip <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>” 303 : Es bestehe darin, daß Prinzipien die ausformuliertenRegeln bestimmen. Es ist eine unbedingte und vorrangige Logik <strong>der</strong>Humanität, die Recht und Gerechtigkeit gegen an<strong>der</strong>e Rationalitätendurchsetzen will. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> wird in ihrem Kern von Grundprinzipien geleitet,die als “Meta-Norm und kritische Instanz” 304 o<strong>der</strong> Regulativ für alleDynamisierungen und kreativen Anpassungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> an verän<strong>der</strong>teVerhältnisse fungieren. Fortgeschrieben und aktualisiert wurde die <strong>Tora</strong>in <strong>der</strong> sog. “mündlichen <strong>Tora</strong>”, dem Talmud, <strong>der</strong> selbst einen quasikanonischenRang erhält und Offenbarungsqualität beansprucht. Damit301F. Crüsemann, “...damit er dich segne...” (Dtn 14.29). <strong>Die</strong> Produktionsverhältnisse <strong>der</strong> spätenKönigszeit, dargestellt am Ostrakon von Mesad Hashavjahu, und die Sozialgesetzgebung desDeuteronomium, in: L. Schottroff, W. Schottroff (Hg.), Mitarbeiter <strong>der</strong> Schöpfung. Bibel undArbeitswelt, München 1983, 95.302 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88.303 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 228.304 Ebd. 228.114


die Festschreibung des göttlichen Willens nicht in Erstarrung führt, bedarfes einer Ergänzung durch weitergehende innovative Gottesrede.“Der Kanon und die viva vox gehören zusammen.” 305 <strong>Die</strong> Konzeption einer“mündlichen <strong>Tora</strong>” geht von einem Prozeß <strong>der</strong> Fortführung und Aktualisierungaus, in dem Gott durch Mose zu allen Generationen immerwie<strong>der</strong> spricht und gehört wird. Eine talmudische Legende bringt diesesdynamische Prinzip <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gut zum Ausdruck: Mose kommt in dasLehrhaus des Rabbi Akiba, setzt sich in die achte Reihe und - verstehtnichts. 306Das Urdatum biblischen Bewußtsein ist die Erfahrung <strong>der</strong> Befreiungaus Knechtschaft. <strong>Die</strong>se Erfahrung wird in immer neuen Aktualisierungenerinnert. <strong>Die</strong> geschichtliche Erfahrung wird zu einem normativen Anspruch,<strong>der</strong> auch spätere Generationen einbezieht. Der Mahnung “Denkdaran, als du Sklave warst in Ägypten” (Dtn 24,22 u.ö.) entspricht dieBegründung “denn <strong>der</strong> Herr hat euch gesagt, ihr sollt auf diesem Wegnie wie<strong>der</strong> zurückkehren” (Dtn 17,16; 6,12; 8,14f. u.ö.). Israel und Ägyptensind zwar geographisch Nachbarlän<strong>der</strong>, zwischen denen zahlreichepolitische, ökonomische und ideologische Verbindungen bestehen. “Auf<strong>der</strong> Landkarte <strong>der</strong> Erinnerung jedoch erscheinen Israel und Ägypten alszwei entgegengesetzte Welten . (...) Israel ist die Negation Ägyptens, undÄgypten steht für alles, was Israel überwunden und hinter sich gelassenhat.” 307 <strong>Die</strong> Erinnerung an Ägypten ist ein Akt fortwähren<strong>der</strong> Distanzierung.An Ägypten zu erinnern bedeutet, zu wissen, was einmal war undnicht wie<strong>der</strong> eintreten darf. Nach dem Urteil <strong>der</strong> Bibel war Ägypten sehrwohl ein Land, “in dem Milch und Honig fließen” (Num 16,13). Ägyptenwird nicht angelastet, ein Land hoher Zivilisation, Kultur und des Wohlstandeszu sein. Ägypten ist eine Metapher, die aussagt, daß all dies aufKosten <strong>der</strong> Schwachen und Rechtlosen geschieht. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> enthält eineakkumulierte Erinnerung an diese unwürdigen Verhältnisse in Ägypten.Sie werden in einer produktiven Erinnerung wachgehalten, die Wi<strong>der</strong>standgegen solche Verhältnisse wie in Ägypten nähren und stützenkann. <strong>Die</strong> Erinnerung ist einerseits geschichtsbezogen, da sie sich aufein einmaliges geschichtliches Ereignis des Exodus bezieht; an<strong>der</strong>erseitsaber ist sie auch gegenwarts-kritisch, indem sie die Gegenwart an einemFreiheitsprojekt mißt und so mit ihren Plausibilitätsstrukturen durchbricht.Außerhalb dessen, was die Gegenwart bestimmt, nimmt die Erinnerung305 Ebd. 422.306 Mitgeteilt ohne Angaben ebd. 423.307 J. Assmann, Moses <strong>der</strong> Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München, Wien 1998, 24.Assmann wendet sich gegen die mosaische Unterscheidung Israel/Wahrheit und Ägypten/Unwahrheit.<strong>Die</strong>se Typologie habe Ägypten zu einem Land <strong>der</strong> Despotie, <strong>der</strong> Idolatrie und<strong>der</strong> Tierverehrung gemacht (J. Assmann, Moses <strong>der</strong> Ägypter, 29f.; 281f.).115


einen kritischen Standpunkt ein, <strong>der</strong> in jeweils verschiedenen Situationendas Interesse an Freiheit in <strong>der</strong> Gestalt von Recht realisieren will. Immerwie<strong>der</strong> wird an den Entstehungs- und Lernprozeß von Freiheit und Würdeerinnert, die aufs Spiel gesetzt würden, wenn sie dem Vergessen anheimfallenwürden. Ohne die Vergegenwärtigung durch die Erinnerungkann errungene Freiheit wie<strong>der</strong> verlorengehen. Das Exodusereigniszeigt, daß sich Freiheit und Gerechtigkeit keineswegs ausschließen. Aus<strong>der</strong> Erfahrung von Ungerechtigkeit wird ein Prozeß angestoßen, <strong>der</strong> errungeneFreiheit sichern will.4.1.4 Exodusdenken und ExoduspolitikDer Auszug <strong>der</strong> Hebräer aus dem “Haus <strong>der</strong> Knechtschaft” (Ex 13,3) istein Paradigma von bleiben<strong>der</strong> Bedeutung. “Du bist es, <strong>der</strong> aus Ägyptenausgezogen ist! Nicht nur unsere Vorfahren hat Er befreit, son<strong>der</strong>n auchuns zugleich mit ihnen hat Er befreit,” so heißt es in <strong>der</strong> jüdischenHaggada, <strong>der</strong> jüdischen Passahzeremonie bis zum heutigen Tag. JüdischeTheologie hat den Exodus nie als Ausgangspunkt nur <strong>der</strong> jüdischenHeilsgeschichte gewertet, son<strong>der</strong>n ihm eine universelle Bedeutung alsWendepunkt in <strong>der</strong> Weltgeschichte gegeben. “Nicht nur Israel zog ausÄgypten”, sagen die Rabbinen in <strong>der</strong> Auslegung von Ex 12,38, son<strong>der</strong>nmit ihnen zog die ganze Menschheit aus dem Haus <strong>der</strong> Knechtschaft. 308<strong>Die</strong> Erinnerung an den Exodus wurde zur Weisung für die Gestaltung<strong>der</strong> Gegenwart. <strong>Die</strong>se Weisung war nicht ein für allemal in ihrer Ausgestaltungin überzeitlichen Gesetzen o<strong>der</strong> Regulierungen verbindlich. Wasverbindlich war, war <strong>der</strong> Grundimpuls, die leitende Grundnorm: Freiheitfür die Sklaven <strong>der</strong> Arbeitswelt zu bewahren. Deshalb wurde auch durchdie Geschichte Israels dieses Grundanliegen immer wie<strong>der</strong> in neue Formengebracht. In allen Dynamisierungen blieb Israel diesem Grundimpulstreu. Das Neue Testament setzt die Hebräische Bibel voraus, findetin ihr seine Grundlage und ist beson<strong>der</strong>s dort, wo sozialethische Themenbehandelt werden, im Horizont einer dynamisierenden Auslegung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>zu lesen.Eine theologische Wirtschaftsethik findet deshalb nur in dieser “Einheitvon Geschichtserinnerung und Gegenwartsanweisung, von Geschichtsvergegenwärtigungund geschichtlicher Normenverankerung” 309 ihrenOrt, wenn sie eine biblisch grundgelegte Wirtschaftsethik sein will. “<strong>Die</strong>schöpferische und vielfältige Wie<strong>der</strong>holung des Exodusmotivs innerhalb<strong>der</strong> Bibel zeigt die Vorrangigkeit des Sinnes des Exodus gegenüber dem308 Zit. in P. Lapide, Exodus in <strong>der</strong> jüdischen Tradition, in: Concilium 23 (1987) 30.309 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 329.116


Exodusereignis selbst, eine Vorrangigkeit, die ihrerseits für uns zur Interpretationsnormwird.” 310 Aus <strong>der</strong> biblischen Erinnerung fragt deshalb einetheologische Ethik nach den Opfern und Verlierern <strong>der</strong> real existierendenGesellschaft. Wenn sie so argumentiert, nimmt sie das biblischeExodusmotiv auf, das auch die <strong>Tora</strong> begründet. Seit dem Exodusereignisentfaltet die biblische Tradition dieses Grundmotiv in unterschiedlicherGestalt, sein verpflichten<strong>der</strong> Kern aber bleibt: den sozial und ökonomischSchwachen Recht und Gerechtigkeit schaffen. Der biblische Glaube äußertsich als eine freiheits- und gerechtigkeitsstiftende Praxis.Der wirtschaftsethisch relevante Kern <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> läßt sich so beschreiben:“Gegen die wirtschaftlichen Zwänge eine neue Solidarität zu wecken,den Rechtsanspruch <strong>der</strong> sozial Schwachen zu schützen und damiteiner besseren Gerechtigkeit zum Siege zu verhelfen.” 311 Es kommt alsodarauf an, diese <strong>Tora</strong>-Grundlinie <strong>der</strong> Bibel für eine theologischwirtschaftsethischeReflexion aufzunehmen. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> hat selber den Ansprucherhoben, einen konstruktiven Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechtenOrdnung <strong>der</strong> Ökonomie zu leisten. In ihrer Zeit und fürihre Situation sprechen die biblischen Texte normative For<strong>der</strong>ungen aus,indem sie Gerechtigkeit for<strong>der</strong>nde Weisungen auch für Fragen <strong>der</strong> Ökonomieformulieren. Verbindlich können diese kontextuellen normativenFor<strong>der</strong>ungen nicht in ihrer konkreten Ausformung sein. Es kann nicht darumgehen, die Ausformulierung einer Ethik aus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne für eine Zeitverbindlich zu machen, die sich selber als Postmo<strong>der</strong>ne definiert. Verbindlichbleiben allerdings <strong>der</strong> sozialethische Kern und die Perspektiven,die in diesen normativen For<strong>der</strong>ungen enthalten sind, nicht aber die ausformuliertensozialen Normen selbst. Was macht <strong>der</strong>en Kern aus, <strong>der</strong>sozialethisch relevant ist? Eine unbedingte Logik <strong>der</strong> Humanität, o<strong>der</strong>an<strong>der</strong>s gesagt: die Ausrichtung auf den, <strong>der</strong> ökonomisch, sozial, rechtlicho<strong>der</strong> politisch an den Rand gedrängt wird, macht den bleibenden Kern<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> in allen Dynamisierungen im Laufe <strong>der</strong> Zeit aus. Frank Crüsemannsagt deshalb zu Recht über die Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>: “<strong>Die</strong>Gesetze Gottes durchbrechen die ökonomischen Gesetze da, wo sie zuAusbeutung und Abhängigkeit führen.” 312 <strong>Die</strong>s macht den bleibendenKern aus, verän<strong>der</strong>lich sind allerdings die zeitabhängigen ökonomischenProzesse, die zu Abhängigkeit führen. <strong>Die</strong> Dominanz des Ökonomischenwird zugunsten des Lebensrechts aller, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Armen, gebrochen.Nicht an<strong>der</strong>s Arthur Rich, <strong>der</strong> in seiner Wirtschaftsethik von dem310J. S. Croatto, <strong>Die</strong> soziohistorische und hermeneutische Bedeutung des Exodus, in: Conc 23(1987) 84.311 R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu Themen deskonziliaren Prozesses, Stuttgart 1990, 19.312 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 219.117


Ansatz ausgeht, daß Wirtschaftsethik bei aller Sachbezogenheit “beharrlichund unerbittlich nach dem Menschengerechten im Sachgemäßen zufragen” 313 habe. Über das, was das Menschengerechte sein könnte, existierenallerdings unterschiedliche Auffassungen. Im Streit <strong>der</strong> divergierendenAuffassungen über das Menschengerechte kann die <strong>Tora</strong> ihreSicht einbringen und definieren, was die Wertkategorie menschengerechtnach ihrem Verständnis ausmacht. <strong>Die</strong> Spezifität <strong>der</strong> theologischenWirtschaftsethik besteht also darin, das Menschengerechte zur Sprachezu bringen. Wirtschaftsethik wird nach Arthur Rich aber noch einen zweitenSchritt vornehmen müssen, nämlich “das Sachgemäße an das Menschengerechte”314 zu binden. Auch die <strong>Tora</strong> hatte die ökonomischen Gesetzeimmer von <strong>der</strong> Logik des Menschengerechten her betrachtet undreguliert.Michael Walzer hat auf den wirkungsgeschichtlichen Aspekt <strong>der</strong><strong>Tora</strong>tradition hingewiesen. Er versteht das biblische Exodusmotiv als eintreibendes Moment <strong>der</strong> europäischen Geschichte. Exodus meint mehrals die Wie<strong>der</strong>gabe eines historischen Ereignisses. Wenn es etwas gebe,was die europäische Geschichte kennzeichne, so sei es dieses: “DerExodus ist eine buchstäbliche Bewegung, ein Vorrücken durch Raumund Zeit, die ursprüngliche Form (o<strong>der</strong> Formel) <strong>der</strong> fortschrittlichenZeit.” 315 So läßt sich die Geschichte Europas auch lesen als eine Geschichtevon Männern und Frauen, die den biblischen Text in Zusammenschaumit ihren eigenen Erfahrungen gelesen haben. Das erste undexemplarische Befreiungsereignis, das den Gott <strong>der</strong> Bibel offenbart, isteine Befreiung aus unterdrückerischen ökonomischen und politischenVerhältnissen. Seitdem hebräische Sklaven aus ägyptischen Verhältnissenfreigekommen sind, durchzieht die jüdisch-christliche Geschichte eintreibendes Moment, das auch in säkularer Form weiterlebt. Der Exodushat eine bis in die Gegenwart hineinreichende Erinnerungsspur hinterlassen.Michael Walzer erkennt im christlich-jüdischen Umgang mit <strong>der</strong> Geschichteein “Exodus-Denken”. 316 Ägyptische Verhältnisse werden nichteinfach zurückgelassen. Sie werden abgelehnt und moralisch gerichtet.Da nicht Resignation, son<strong>der</strong>n Hoffnung auf Verän<strong>der</strong>ung aus <strong>der</strong> ethischenBewertung folgt, wird <strong>der</strong> Exodus zu einer nach vorn gerichtetenBewegung. “Er ist ein Marsch auf ein Ziel zu, ein moralischer Fortschritt,eine tiefgreifende Verwandlung.” 317 Es gibt einen besseren Ort, eine gerechtereGesellschaft; wo man lebt, hat man es mit Ägypten zu tun. <strong>Die</strong>-313 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 73.314 Ebd. 73.315 M. Walzer, Exodus und Revolution, Berlin 1988, 24f.316 Ebd. 142.317 Ebd. 21.118


ser Impuls setzt eine Vorwärtsbewegung in Gang. Der Impuls ist komparativisch;er drängt auf mehr Humanität, mehr Gerechtigkeit, größereFreiheitsrechte. Der jeweilige Kampf um mehr Humanität und Gerechtigkeitist nur die Variation; die ursprüngliche Version ist <strong>der</strong> Exodus ausÄgypten. <strong>Die</strong>se komparativische Ethik setzt Impulse <strong>der</strong> beharrlichen,kontinuierlichen Arbeit an <strong>der</strong> Verän<strong>der</strong>ung frei, eben eine “Exodus-Politik” 318 . Das Christentum versteht sich als Teil dieser Erinnerungsbewegung.Eine theologische Ethik, die biblisch fundiert ist, versucht Anschlußan den Anfangsimpuls <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zu finden. 319Ägypten ist eine Hochkultur. Doch die Bibel nimmt dieses Land mitseinen beachtlichen ökonomischen und kulturellen Leistungen, “wo Milchund Honig fließen” (Num 16,13), als eine Zivilisation wahr, die auf Unterdrückungund Zwangsarbeit basiert (vgl. Ex 1,14f.). <strong>Die</strong>se Deutungskategorieführt auf das Feld <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, denn sie achtet nicht nurabstrakt auf ökonomische Effizienz, son<strong>der</strong>n stellt die ethische Frage: Effizientfür wen und für wen nicht? Wer profitiert? Wer ist Verlierer? <strong>Die</strong>seGrundfragen verdanken sich <strong>der</strong> Erinnerung an den Exodus. Der biblischeExodus ist als eine Geschichte <strong>der</strong> Gegenwart zu lesen. Vom “Haus<strong>der</strong> Knechtschaft” (Ex 13,3) in ein Land zu entkommen, in dem die ehedemZukurzgekommenen menschenwürdig leben können, ist eine Bewegung,die sich in historischer Zeit abspielt und mit beharrlicher Arbeitzu tun hat. <strong>Die</strong>ser christlich-jüdische Impuls lebt auch in säkularer Formfort. Geschichtliche Träger dieses Impulses sind soziale Bewegungen.Eine theologische Wirtschaftsethik wird sich deshalb den argumentativenund methodischen Ansatz <strong>der</strong> von Friedhelm Hengsbach vorgelegten“Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” aus historischen, sozialethischenund theologischen Gründen zu eigen machen können. Sie entsprichtin ihrem sozialethischen Ansatz <strong>der</strong> gleichen Bewegung, die mitdem Exodus theologisch reflektiert wird. Geschichte wird als ein Prozeßverstanden, in dem Verantwortung wahrgenommen wird. <strong>Die</strong> Betroffenen318 Ebd. 141 - 157.319 Der israelische Staatspräsident Ezer Weizman hat aus <strong>der</strong> Geschichtserinnerung die Gegenwartgelesen und sich selber als Teil einer Geschichtstardition verstanden, als er in “Ich-Form” inseiner Rede vor dem Deutschen Bundestag sagte: “Ich war Sklave in Ägypten und empfing dieThora am Berge Sinai, mit Josua und Elijah überschritt ich den Jordan ... Ich habe gegen dieRömer gekämpft und bin aus Spanien vertrieben worden ... und ich habe im Warschauer Aufstandgekämpft. ... Und wie von uns verlangt wird, kraft <strong>der</strong> Erinnerung an jedem Tag und jedemEreignis unserer Vergangenheit teilzunehmen, so wird auch von uns verlangt, kraft <strong>der</strong>Hoffnung uns auf jeden einzelnen Tag unserer Zukunft vorzubereiten. ... Wir sind ein Volk <strong>der</strong>Erinnerung und des Gebets. Wir sind ein Volk <strong>der</strong> Worte und <strong>der</strong> Hoffnungen. Wir haben keineReiche geschaffen, keine Schlösser und Paläste gebaut. Nur Worte haben wir aneinan<strong>der</strong> gefügt.Wir haben Schichten von Ideen aufeinan<strong>der</strong>gelegt, Häuser <strong>der</strong> Erinnerung errichtet und Türme<strong>der</strong> Sehnsucht gebaut.” E. Weizman, Mit dem Rucksack <strong>der</strong> Erinnerungen und dem Stab meinerHoffnung, in: FR Nr. 14 vom 17.1.1996, 14.119


sind die Subjekte, die zu einem Handeln ermutigt werden, das zu mehrGerechtigkeit und Freiheit führt. Aus <strong>der</strong> Erfahrung von vorenthaltenerWürde und Gerechtigkeit entwickelt sich ein Handeln. Ethik reflektiertdieses Handeln und ist deshalb gegenüber <strong>der</strong> Praxis ein zweiter Akt.Warum hat die Ethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> die Gestalt des Rechts angenommen?“Exodus-Denken” wird durch Rechtspositionen und Rechtsansprücheerst zu einer “Exodus-Politik”. <strong>Die</strong> enge Verbindung von Recht und Ethosspiegelt die Erfahrung, daß Überzeugungen und ethische Positionen alleinden Armen und Bedrängten nicht den Schutz geben können, den siebrauchen. Was in <strong>der</strong> neuzeitlichen Mo<strong>der</strong>ne mit dem Begriff des Menschenrechtsartikuliert wird, ist <strong>der</strong> Sache nach gemeint. Hannah Arendthat das “Recht, ein Recht zu haben” 320 , ein primäres menschlichesGrundrecht genannt. <strong>Die</strong> Rechtsansprüche des Armen werden zu einemelementaren Recht, das <strong>der</strong> Arme nicht menschlicher Rechtssatzungverdankt. “<strong>Die</strong> rechtschaffende Treue JHWHs bildet die Grundlage fürdie rechtliche Ordnung des Zusammenlebens im Volk Israel.” 321 DerSchutz <strong>der</strong> Armen wird zu einem zentralen Element <strong>der</strong> biblischen Gesetze<strong>der</strong> <strong>Tora</strong>. “Indem das Erbarmen zum Inhalt des Gesetzes wird, solles dem beliebigen, dem nur zufälligen und neigungsgelenkten Verhalten<strong>der</strong> Individuen, <strong>der</strong> Stimmungs- und Situationsabhängigkeit entzogenwerden.” 322 Der Aufgabe des biblischen Gesetzes in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> entsprichtdie Option für die Armen. Auf diese achtet die <strong>Tora</strong> und ihnen will sie realeFreiheitsrechte einräumen. “Indem das Gesetz einen strengen Funktionszusammenhangvon Recht, Kult und Erbarmen betreffenden Bestimmungendarstellt, macht es deutlich, daß das Recht ohneroutinisierten Schutz <strong>der</strong> Schwächeren (...) den großen Namen „Gerechtigkeit‟nicht verdient.” 3234.2 <strong>Tora</strong>-ÖkonomieMethodisch wird eine theologische Wirtschaftsethik, die sich an den Einsichtenund Kategorien <strong>der</strong> Bibel orientiert, in zwei Schritten vorgehenmüssen. In einem ersten Schritt ist die Frage zu stellen: Wie beantwortetdie <strong>Tora</strong> die ökonomischen Grundfragen (was, wie, für wen)? In diesemund in Abschnitt 6 “Ansätze zu einer bibeltheologischen Begründung vonWirtschaftsethik” werden deshalb die Antworten <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> auf die ökonomischenGrundfragen erarbeitet. In einem zweiten Schritt wird eine biblischfundierte theologische Wirtschaftsethik, wenn sie einen konstrukti-320 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 3. Aufl. München 1993, 452.321 W. Huber, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik, Gütersloh 1996, 131.322 M. Welker, Gesetz und Geist, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 4, “Gesetz” als Thema BiblischerTheologie, Neukirchen-Vluyn 1989, 220.323 M. Welker, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992, 111.120


ven Beitrag zur Gestaltung einer menschengerechten und sachgemäßenOrdnung <strong>der</strong> Wirtschaft leisten will, die Beantwortung <strong>der</strong> ökonomischenGrundfragen durch die <strong>Tora</strong> kritisch mit den Wirtschaftsfragen <strong>der</strong> Gegenwartzu verbinden haben. <strong>Die</strong>s will ich in Abschnitt 9 “WirtschaftsethischeImpulse” entfalten.<strong>Die</strong> Frage, ob und wie sich Folgerungen aus dem Umgang <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>mit <strong>der</strong> Ökonomie ihrer Zeit für die Gegenwart gewinnen lassen, istnichts grundlegend Neues: Sie hat die Geschichte des Judentums bis indie neutestamentliche Zeit und darüber hinaus begleitet. Der vorgeschlageneWeg zur Begründung einer biblisch fundierten Wirtschaftsethikentspricht also im Grunde dem Weg <strong>der</strong> innerbiblischen Hermeneutik<strong>der</strong> kreativen, dynamischen Aneignung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, die sich immerschon in einer Selektion, Fortführung und Weiterbildung <strong>der</strong> schriftlichenSinaitradition vollzog. Clodovis Boff hat diese Hermeneutik als eine Dialektik<strong>der</strong> “lebendigen Erinnerung und <strong>der</strong> schöpferischen Treue” 324 gegenüberbiblischer Tradition und gegenwärtigen Herausfor<strong>der</strong>ungen bezeichnet.<strong>Die</strong>sem Argumentationsweg folgt auch die Studie des ÖkumenischenRates <strong>der</strong> Kirchen, wenn sie die Frage nach den ökonomischenGrundfragen so aufnimmt: “Wenn wir die „ökonomischen‟ Vorschriftendes Alten Bundes lesen, wird deutlich, daß diese heute nicht mehr wörtlichangewendet werden können. Aber man kann durchaus die Grundsätzebefolgen, die ihnen zugrunde liegen. Jedes ökonomische System,sei es alt o<strong>der</strong> neu, ist voll von Geboten und Verboten, sonst könnte esdie materiellen Bedürfnisse <strong>der</strong> Gesellschaft nicht befriedigen. <strong>Die</strong> Frageist, welche Grundsätze angewendet werden und wem gedient wird.” 325Mit <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ist jedes Wirtschaftssystem zu befragen: Welche Grundsätzegelten? Wem nützen sie, und wem schaden sie? <strong>Die</strong> Studie desÖRK formuliert als Richtlinie: “Jede wirtschaftspolitische Maßnahme undjedes Wirtschaftssystem muß daher unter dem Gesichtspunkt geprüftwerden, wie sie bzw. es auf die Situation <strong>der</strong> Armen sich auswirkt.” 326Das ist das wirtschaftsethische Kriterium, das den kategorischen Imperativ<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> aufnimmt, zugleich aber auch einem kreativen und dynamisierendenUmgang mit <strong>der</strong> biblischen Tradition verpflichtet ist.4.2.1 Unterscheidung <strong>der</strong> Ökonomien: Haushaltsökonomie o<strong>der</strong> Kapitalerwerbswesen324 C. Boff, Theologie und Praxis, 353.325 ÖRK, Erklärung zum Wirtschaftsleben, in: epd-Dokumentation Nr. 45/1991, 18.326 ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft, 20.121


<strong>Die</strong> Römer nannten das Mittelmeer mare nostrum, unser Meer. DasMeer verband die antiken Kulturen Griechenlands, Roms, Ägyptens unddes Nahen Osten. Vielfältige Beziehungen gab es zwischen den Kulturendieses Mittelmeergürtels. Gemeinsam hatten sie ziemlich einheitlicheklimatische Bedingungen mit Regen im Winter und langen Trockenperiodenim Sommer. <strong>Die</strong> Landwirtschaft beruhte nicht auf einem Bewässerungssystemwie im antiken Vor<strong>der</strong>asien. Nicht allein Ägypten und Mesopotamien,auch Griechenland gehört zum Umfeld Israels. Griechenlandund Palästina waren Agrargesellschaften. Ganz an<strong>der</strong>s als dieägyptischen und babylonischen Kulturen an den großen Strömen Nil, Tigrisund Euphrat hatten Palästina und Griechenland vergleichbare klimatische,geophysikalische und geographische Bedingungen für die Agrarproduktion.<strong>Die</strong> agrargesellschaftliche Basis Palästinas und Griechenlandsverdankt sich nämlich nicht <strong>der</strong> Lebensa<strong>der</strong> großer Flüsse. Kulturenund Gesellschaften, die von einem großen Strom abhängen, entwickelnentsprechende soziale und politische Strukturen, die das Bewässerungssystemorganisieren. Auch wenn es fruchtbare Landstriche in Griechenlandund Palästina gab, so mußten doch auch dem gebirgigen undsteinigen Land Agrarerzeugnisse abgerungen werden. Das Berglandmußte mühsam terrassiert werden.Das Haus bildete die ökonomische und soziale Grundeinheit. DasHaus, griechisch oikos/oikía, hebräisch bajit, bezeichnet nicht nur eineSozial- und Wirtschaftsform unter an<strong>der</strong>en, son<strong>der</strong>n die grundlegende,elementare Wirtschaftsform schlechthin nicht nur in <strong>der</strong> Antike und <strong>der</strong>Kultur des Mittelmeerraumes, son<strong>der</strong>n vermutlich aller vorindustriellenKulturen, die sich bis in unsere Zeit erhalten hat. 327 Aristoteles (384-322v.Chr.) hat in seiner Schrift Politik / Politika 328 eine umfassende ökonomischeTheorie des Hauses zu <strong>der</strong> Frage entwickelt, wie Produktion, Distributionund Konsum im Haus geregelt werden sollen. Aristoteles reflektiertalso die ökonomischen und sozialen Bedingungen einer Ökonomiedes Hauses. Seine Reflexionen gehören mithin systematisch in den Bereich<strong>der</strong> Ethik. Wie die Hauswirtschaft organisiert werden soll, ist eineFragestellung, die nicht allein Aristoteles behandelt, auch die <strong>Tora</strong> tutes. 329 Während allerdings die ökonomische Konzeption des Aristoteles327 D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, New Test. Stud. NTS 27(1981) 87. Ich danke D. Lührmann für den Hinweis, daß es nicht nur Bezüge zwischen demhebräischen bajit und <strong>der</strong> griechisch-hellenistischen oíkos-Ökonomie gibt, son<strong>der</strong>n auch zwischenneutestamentlichen Traditionen und <strong>der</strong> antiken Ökonomie..328 Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. von F.F. Schwarz, Stuttgart 1989.329Auch an<strong>der</strong>e antike Autoren haben sich mit <strong>der</strong> ökonomischen Theorie beschäftigt. D.Lührmann verweist auf Xenophon, PsAristoteles Oeconomica I sowie Philodemus von Gadara:D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 85f. Siehe auch: H.Chr.Binswanger, <strong>Die</strong> Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Antike, 23-35.122


über die Hauswirtschaft in einer theoretischen und ausgearbeiteten Abhandlungvorliegt, gibt es in den biblischen Schriften kaum systematischeo<strong>der</strong> theoretische Ausführungen, sehr wohl aber im Wirtschafts- und Sozialrecht<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> praktische Anweisungen zu gerechtem Wirtschaftenim Haus.Der Begriff Ökonomie ist griechischen Ursprungs und besteht aus denbeiden Begriffen oikos (die häusliche, gemeinschaftliche Produktionseinheit)und <strong>der</strong> Wurzel nem-/nómos (regeln, verwalten, organisieren/dasgerechte Gesetz). 330 Oíkos benennt also den Ort, an dem produziertwird; nómos gibt Auskunft darüber, wie produziert wird. Ökonomie(oíkonomía) hat also von <strong>der</strong> ursprünglichen Wortbedeutung her mit <strong>der</strong>Verteilung <strong>der</strong> produzierten Güter nach dem Maßstab <strong>der</strong> Gerechtigkeitzu tun. Ökonomie hat es also von seiner sprachlichen Ursprungsbedeutungher mit <strong>der</strong> Sorge um Produktion und Konsum in <strong>der</strong> ökonomischenund sozialen Grundeinheit “Haus” zu tun. 331Aristoteles hat in seiner Schrift Politik unterschiedliche ökonomischeOrdnungskonzeptionen analysiert. Er unterscheidet zwei Arten von Ökonomie:die Hausverwaltungskunde (oikonomiké) und das Kapitalerwerbswesen(chremastiké). 332 <strong>Die</strong> Erwerbskunst “im Einklang mit <strong>der</strong>Natur” 333 als Teil <strong>der</strong> Hausverwaltungskunst (oikonomiké) dient <strong>der</strong>Selbstversorgung und tauscht die Überschüsse aus; diese hat es in ersterLinie mit <strong>der</strong> Beschaffung <strong>der</strong>jenigen Güter zu tun, die zum Leben inHaus und Staat nützlich, notwendig und unverzichtbar sind. <strong>Die</strong> Kapitalerwerbskunst(chremastiké) hingegen, die nach Aristoteles “am meisten<strong>der</strong> Natur zuwi<strong>der</strong>läuft” 334 , ist jene Erwerbswirtschaft, die kommerziellenInteressen dient, auf Geld- und Handelsgewinn abzielt und das Zinswesenkennt. 335 Aristoteles unterscheidet beide Arten <strong>der</strong> Ökonomie so:“Doch gibt es noch eine weitere Art von Erwerbskunst, die man ganz beson<strong>der</strong>s,und das zu Recht, das Kapitalerwerb(s)wesen nennt, <strong>der</strong> zufolgees keine Grenze für Reichtum und Besitz zu geben scheint. Viele vertretendie Ansicht, dieses sei ein und dasselbe mit <strong>der</strong> vorhin genanntenKunst, und zwar wegen <strong>der</strong> Nachbarschaft zu ihr. <strong>Die</strong>s ist aber we<strong>der</strong> ein330 So M.I. Finley, <strong>Die</strong> antike Wirtschaft, 3. Aufl. Stuttgart 1993, 9; vgl. auch unten Abschnitt 9.5.331 K. Raiser entfaltet in seinem Buch Ökumene im Übergang einen Zusammenhang von Ökumeneund Ökonomie mit einem neuen Paradigma des Haushalts (K.Raiser, Ökumene im Übergang.Paradigmenwechsel in <strong>der</strong> ökumenischen Bewegung? München 1989, 125ff.).332 Aristoteles, Politik, A 8 p.1256 a 1.333 Aristoteles, Politik, A 8 p.1256 b 27.334 Aristoteles, Politik, A 10 p.1258 b 7.335Das Wi<strong>der</strong>natürliche dieser Ökonomie zeigt sich nach Aristoteles im Geldgewinngeschäft undim Zinswesen, wie schon das griechischen Wort für Zins (tókos) sprachlich ausdrückt: tókosmeint junges Kleinvieh. Das Geborene wird zum Gebärenden, wenn aus Geld neues Geld erzeugtwird. Aristoteles, Politik, A 10 p.1258 b 7.123


und dasselbe mit <strong>der</strong> eben angesprochennoch allzu weit von ihr fern. <strong>Die</strong>Erwerbskunst nämlich gibt es von Natur aus, das ist aber nicht beim Kapitalerwerb(s)wesen<strong>der</strong> Fall, dazu kommt es vielmehr kraft einer gewissenErfahrung und Fertigkeit.” 336In <strong>der</strong> Hausverwaltungswirtschaft dient <strong>der</strong> “naturgemäße” Gebrauch<strong>der</strong> Güter dem guten Leben und kennt ein Maß <strong>der</strong> Güter, während imKapitalerwerbswesen <strong>der</strong> “naturwidrige” Gebrauch und Besitz <strong>der</strong> Güterauf den Tausch zu Erwerb- und Gewinnzwecken zielt. Das Ziel <strong>der</strong>Hausverwaltungsökonomie ist die Befriedigung <strong>der</strong> natürlichen Bedürfnisse.An<strong>der</strong>s das Kapitalerwerbswesen / Chrematistik, für die “eskeine Grenze für Reichtum und Besitz zu geben scheint.” 337 Aristoteleskritisiert nicht den Gel<strong>der</strong>werb als solchen o<strong>der</strong> als Bestandteil <strong>der</strong> Haus-Ökonomie, son<strong>der</strong>n lehnt ihn nur als einen “naturwidrigen” Weg ab, alser zu einem Selbstzweck wird, auf den hin alles ausgerichtet sei. Ziel seihier die Vermehrung o<strong>der</strong> gar die Selbstvermehrung von Geld (durchZinsen). “Darum scheint das Kapitalerwerb(s)wesen sich zumeist auf dasGeld zu konzentrieren, und seine Aufgabe scheint darin zu liegen, beobachtenzu können, woher eine Menge Geldmittel zu beziehen sei; esscheint nämlich die Kunst zu sein, die Reichtum schaffe und somitGeld.” 338 Aus nützlichen und lebensnotwendigen Gütern in <strong>der</strong> Hausverwaltungswirtschaftwerden in <strong>der</strong> Kapitalerwerbswirtschaft Güter, die alleindem Zweck <strong>der</strong> Geldvermehrung dienen. <strong>Die</strong>ses Ziel treibt die Ökonomiezur Mehrproduktion an. Es entsteht eine völlig neue Art Ökonomie:die Kunst des Gel<strong>der</strong>werbs. Der Übergang von <strong>der</strong> Hausverwaltungsökonomiezur Bereicherungsökonomie (Kapitalerwerbswesen) ist dieUmwandlung von lebensdienlichen Gütern in Waren. 339In einer Formel lassen sich diese Prozesse <strong>der</strong> beiden Ökonomien sodarstellen:1. Hausverwaltungskunst im Einklang mit <strong>der</strong> Natur:336 Aristoteles, Politik, A 9 p.1256 a 40 - A 9 p. 1257 a 4.337 Aristoteles, Politik, A 9 p.1256 b 40.338 Aristoteles, Politik, A 9 p.1257 a 5-6. Hans Chr. Binswanger kommentiert diese Einsicht in ihrerBedeutung für ein Urteil über heutiges Wirtschaften: “Wer die Antriebskräfte <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nenWirtschaft - ihre „kapitalistische‟ Motivation - verstehen will, muß gemäß Aristoteles das Geldund das Geldstreben als richtungsweisende Größe einbeziehen.” H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong>Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Antike, 28. Bereits in ihren Ursprüngen ging es also, wie Aristotelesaufzeigt, um Alternativen zu einer reinen Marktwirtschaft.Vgl. auch U. Duchrow, Alternativenzur kapitalistischen Weltwirtschaft, 19-53.339G. Bien, <strong>Die</strong> aristotelische Ökonomik und die mo<strong>der</strong>ne Ökonomie, in: Moral als Kapital. Perspektivendes Dialogs zwischen Wirtschaft und Ethik, Kath. Akademie Stuttgart, Stuttgart1990, 226.124


Gebrauchsgut (1) - Gebrauchsgut (2) - Gebrauchsgut (3)Ziel ist die Erstellung von Gebrauchsgütern.Aus dem Gebrauchsgut (2) wird im Zuge <strong>der</strong> Ausweitung des HandelsGeld.2. Kapitalerwerbswesen gegen die Natur gerichtet:Gebrauchsgut (1) - Geld durch Handel mit Gebrauchsgütern (2) - Geld(3)Aus dem Gebrauchsgut, das zur Lebensführung nötig ist, wird Geld,das sich selbst zum Zweck werden kann, weil es aus <strong>der</strong> Beziehungzur Lebensführung herausgelöst werden kann. Ziel ist Erwerb vonGeld.Wirtschaftliches Handeln:Zweck/Ziel:Qualifizierung:Kriterium:<strong>Die</strong> aristotelische Unterscheidung zwischen einer “naturwidrigen” und“naturgemäßen” Erwerbswirtschaft läßt sich mit folgendem Schema verdeutlichen:Hausverwaltungskunst(oikonomiké)Verwendung von nützlichenund notwendigenGüternnaturgemäßer Erwerbvon GüternGebrauch <strong>der</strong> Güter fürein gutes LebenKapitalerwerbswesen(chremastiké)Erwerb und Vermehrungvon Gütern, Warenund Geldnaturwidriger Erwerbdurch Geld- und Handelsgewinnund ZinsenBesitz und Handel mitdem Ziel <strong>der</strong> Geldvermehrung4.2.2 <strong>Die</strong> Politische Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>: Das Haus IsraelWirtschaftliche Grundlage bildet die Landwirtschaft mit Ackerbau undViehzucht. Das Handwerk ist Teil <strong>der</strong> Hauswirtschaft (vgl. Gen 4,22). <strong>Die</strong>Ökonomie des Hauses (oikos/bajit) beruht auf dem Ideal einer möglichstgroßen Autarkie. Grundlage ist die gemeinsame Erwirtschaftung <strong>der</strong> Lebensgrundlagen.Handel und Tausch spielen eine nur geringen Rolle.125


Von dieser Grundlage her entwickelt sich <strong>der</strong> Ökonomiebegriff: Ökonomieist nicht die Lehre von <strong>der</strong> optimalen Gewinnerwirtschaftung, son<strong>der</strong>ndie Anleitung zur Führung eines Hauses als sozialer und wirtschaftlicherEinheit. Unter “Haus” wird also nicht nur das Gebäude verstanden,son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Personenverband aller im Hause lebenden Menschen, <strong>der</strong>patriarchalisch ausgerichtet und dominiert ist. Charakteristisch für denoikos ist, daß hier Produktion und Konsum noch eine Einheit bilden undnicht auf getrennte soziale Bereiche verteilt sind. Nach biblischer Vorstellungbestand dieFamilie aus dem Mann mit seinem Haus, <strong>der</strong> Hausfrau, den Kin<strong>der</strong>n, denSklaven o<strong>der</strong> Knechte. und den Fel<strong>der</strong>n (vgl. Mi 2,2). Das Sabbatgebotim Dekalog zählt die ganze Hausgemeinschaft auf und zeigt, daß dieseGemeinschaft auch eine Produktionsgemeinschaft ist: Sie umfaßt Hausherr,Sohn, Tochter, Sklave, Sklavin, Rind, Esel, die Fremden, das ganzeVieh (Dtn 5,14). An dieser Stelle wird die patriarchale Struktur des Hausesdeutlich: Wohl werden Tochter und Sklavin, nicht aber die Hausherrinerwähnt. <strong>Die</strong> Ökonomie des Hauses umfaßt drei grundlegende Beziehungen:Mann - Frau, Vater (Eltern) - Kin<strong>der</strong>, Herr - Abhängige. DasRecht des Hausvaters erstreckt sich auf alle Hausgenossen. 340 Kein Angehörigerdes Hausverbandes erwirbt etwas für sich, son<strong>der</strong>n immer fürdas Haus, genauer: für den Herrn des Hauses, <strong>der</strong> die Verteilung vornimmt.Der Herr des Hauses kontrolliert deshalb den Besitz des Hausesund übt über die abhängig Arbeitenden Herrschaft aus, ohne zwischenwirtschaftlichen, individuellen und sozialen Belangen zu unterscheiden.Adressaten <strong>der</strong> Weisungen in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> sind zunächst die erwachsenenMänner, die rechts- und kultfähig sind, über Land- und Viehbesitz verfügen,die Sklaven besitzen. Angesprochen sind also die Besitzenden,aber auch die Frauen, Sklaven und Sklavinnen, Tagelöhner u.a. (vgl.Neh 8,2f.), letztlich das Volk, Arme und Reiche, Bedrücker und Unterdrückte.3414.2.2.1 Ökonomische Grundeinheit: Das Haus340 An dieser Stelle muß auf den unterdrückerischen Charakter <strong>der</strong> oíkos-Ökonomie bei Aristotelesund in <strong>der</strong> griechisch-römischen antike hingewiesen werden. Der Freiheit und Verfügungsmachtdes Mannes, <strong>der</strong> Besitzer des Hauses, Ehemann und Vater war, entsprach die Unfreiheitund Abhängigfkeit aller an<strong>der</strong>en Mitglie<strong>der</strong> des Hauses. Der griechisch-römischen Konzeption<strong>der</strong> oíkos-Ökonomie ist Unterordnung und Beherrschung immanent. Wo die oíkos-Ökonomienach <strong>der</strong> griechisch-römischen Konzeption von jener <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> sich unterscheidet, wird im weitererenVerlauf ausgeführt.341 So F. Crüsemann, Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit, 28-35.126


Zwischen Griechenland und Palästina bestanden zahlreiche ökonomischeVerbindungen und gedankliche Einflüsse. Rainer Kessler verweistauf den biblischen Propheten Amos und den griechischen PhilosophenHesiod, bei denen “nicht nur im Inhalt ihrer Sozialkritik, son<strong>der</strong>n auch imKriterium, <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Recht und Gerechtigkeit, engste Übereinstimmungenbestehen.” 342 Auch in den ökonomischen Vorstellungen desAristoteles und <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> bestehen zahreiche Übereinstimmungen undBezüge. Aristoteles hatte auf dem Boden <strong>der</strong> antiken Polis eine Konzeptiondes Hauses als eine Wirtschafts- und Lebenseinheit entwickelt. M.Douglas Meeks zeigt in seinem Buch God the Economist 343 überzeugend,daß nicht nur Aristoteles von Ökonomie als Haushalt/oikonomiaspricht, son<strong>der</strong>n auch die Hebräischen Bibel. Bajit = Haus bezeichnetnicht nur das Hausgebäude, son<strong>der</strong>n immer eine strukturierte, organisierteGröße o<strong>der</strong> soziologische Einheit. <strong>Die</strong> Grundbedeutung bajit =Haus wird auf die im Hause lebende Gemeinschaft erweitert; ganzeVolksgemeinschaften wie “Haus Jakob” (Ex 19,3), Königsdynastien, wiezum Beispiel “Haus David” (Jes 7,2.13 u.ö.) o<strong>der</strong> ein politischer Herrschaftsbereichwie das “Haus <strong>der</strong> Knechtschaft” (Ex 13,3) werden alsbajit bezeichnet. “Haus” steht für Israel und seinen Lebensraum (Hos 8,1;9,8; Jer 12,7; Sach 9,8). Sogar die ganze Schöpfung wird “Haus” genannt(Ps 36,9). 344<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> hat den Begriff oikos aus ihrer Umwelt übernommen und dashebräische Wort bajit mit einer klaren theologischen Aussageabsicht gefüllt.345 <strong>Die</strong> biblische Ökonomie bezieht sich auf die soziale und ökonomischeGrundstruktur des Hauses, das Teil des größeren Hauses, <strong>der</strong>Schöpfung, ist. <strong>Die</strong> Hausgenossen haben den Boden zu bearbeiten, fürdie Viehhaltung und die Versorgung aller, die im Hausverband leben, zusorgen. Dabei geht die <strong>Tora</strong>-Ökonomie von dem Ansatz aus, daß dieseSchöpfung Gottes produktiv ist und <strong>der</strong> Mensch diese vorgegebene Produktivitätverwalten und organisieren muß. Deshalb hat <strong>der</strong> Mensch einentreuhän<strong>der</strong>ischen Auftrag: “Dem Herrn gehört die Erde und was sieerfüllt, <strong>der</strong> Erdkreis und seine Bewohner” (Ps 24,1). <strong>Die</strong> rabbinische Exegesehat an dieser Stelle das Wort oikonomos verwendet und erklärt:“Gott ist <strong>der</strong> Herr des Hauses, weil die ganze Erde sein Eigentum ist, und342 R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft,426. Zu den Verbindungen zwischen Griechenland und Palästina vgl. die Hinweise in: W.Nethöfel, Theologische Hermeneutik, 62, Anm. 3.343M.D. Meeks, God the economist. The doctrine of God and political economy, Minneapolis1993.344 E. Jenni, Art. bajit=Haus, in: THAT, Bd. I., 4. durchgeseh. Aufl. München , Zürich 1984, Sp.311f.345 M.D. Meeks, God the economist, 33. Anm. 12.127


Mose ist sein oikonomos.” 346 Mose ist <strong>der</strong> Ökonom und steht für die <strong>Tora</strong>,welche Weisungen für den rechten Umgang im Haushalt Gottes gebenwill. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> ist eine <strong>Hausordnung</strong> zum Schutz des Lebens imHaushalt Gottes. 347 “Der Haushalt steht im Zentrum <strong>der</strong> meisten israelitischenDefinitionen von Gemeinschaft. Oikos ist eine wesentliche Art undWeise, von Gottes Bundesverpflichtung gegenüber Israel zu sprechen(Ex 19,4-5). Gott hat Israel aus allen Stämmen zu einem Haushalt gemachtund wird daher als ein Begrün<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Leiter des Haushalts angesehen.Gottes Zorn läßt es mit treulosen „Haushalten‟ bergab gehen undbaut den treuen Haushalt auf (Jer 31,28; 33,7; Am 9,11).” 348Wenn vom Haus die Rede ist, dann werden zahlreiche Bezüge für einVerständnis von Ökonomie, in dem soziale, politische, ökologische, ökonomischeund auch theologische Aspekte miteinan<strong>der</strong> verknüpft sind, zurSprache gebracht. “Gott einen Ökonomen zu nennen bedeutet, daß <strong>der</strong>Gott Israels und <strong>der</strong> Gott Jesu grundsätzlich an dem zu erkennen ist,was Gott in bezug auf den Aufbau und die Führung eines Haushaltestut.” 349 Oikos ist <strong>der</strong> Ort, an dem Gott und Ökonomie in Beziehung zueinan<strong>der</strong>treten. <strong>Die</strong> Bibel kennt viele Bil<strong>der</strong>, in denen sie von Gott spricht:Fels, Hirte, König. Wenn die Bibel von einem Gott spricht, <strong>der</strong> Leben bewahrtund errettet, dann zeigen sich in diesem Bild Aspekte eines Verständnissesvon Gott als einem Ökonomen. <strong>Die</strong> biblischen Namen fürGott beschreiben narrativ die Beziehung Gottes zu den Menschen undseiner Schöpfung. Gott zeigt sich als ein Ökonom, <strong>der</strong> für den oikossorgt: Er hat die Schöpfung reichlich mit Gütern ausgestattet und gibt eine<strong>Hausordnung</strong> für den gerechten Umgang mit diesen Gütern. “Mittenim alles umfassenden Horizont <strong>der</strong> Schöpfung als eines Haushalts bestehtdie Ökonomie Gottes, kurz gesagt, in <strong>der</strong> Austeilung von GottesGerechtigkeit.” 350 <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> stellt das wirtschaftliche Handeln in einen Zusammenhangmit <strong>der</strong> Bundesverpflichtung gegenüber Gott und <strong>der</strong> Gemeinschaft.Sie ist die <strong>Hausordnung</strong> im Hause Israels, <strong>der</strong>en Ziel es ist,allen Hausbewohnern Leben zu ermöglichen. Aus dem SklavenhausÄgypten hat Gott sein Volk befreit (Ex 13,3; Dtn 5,6). “<strong>Die</strong> aus dem Tod<strong>der</strong> Sklaverei Befreiten sind aufgerufen, diesem befreienden Ökonomenentsprechend zu leben, <strong>der</strong> einen neuen Haushalt schaffen will, einenHaushalt des Friedens. Sie werden zu Ökonomen, die die „<strong>Tora</strong> hal-346Mitgeteilt ohne Beleg bei: J. Moltmann, Kirche in <strong>der</strong> Kraft des Geistes. Ein Beitrag zu einermessianischen Ekklesiologie, München 1975, 196.347 Vgl. die weiteren Ausführungen unten Abschnitt 9.5.1. K. Raiser hat die Metapher “Haus” aufgenommenund als Paradigma einer ökumenischen Sozialethik ausgeführt: K. Raiser, Ökumeneim Übergang, 134ff.348 Ebd. 33f, eigene Übersetzung.349 Ebd. 77, eigene Übersetzung.350 Ebd. 77, eigene Übersetzung - dt. Übersetzung im Erscheinen.128


ten‟.” 351 Gott vertraut dem Menschen die Verwaltung dessen an, was ihm- nämlich Gott - gehört. <strong>Die</strong> Berufung des Menschen zu einem Haushalterzeigt Vertrauen in den Menschen, den Gott zu seinem Haushaltermacht. Er ist bevollmächtigt, im Namen Gottes die Schöpfung zu verwalten.M.Douglas Meeks faßt die Rede von Gott dem Ökonomen so zusammen:“Gottes Geschichte mit <strong>der</strong> Schöpfung ist die göttliche Ökonomie.”352 Meeks deutet die ganze Heilsgeschichte als Kampf Gottes mitdem Tod: “<strong>Die</strong>ser Kampf läßt sich in den großen ökonomischen TatenGottes erkennen: im Exodus, in <strong>der</strong> Schöpfung, in <strong>der</strong> Auferstehung. Je<strong>der</strong>ökonomische Akt for<strong>der</strong>t entsprechende ökonomische Taten von seitendes Menschen, <strong>der</strong> Gottes eigener Ökonom ist.” 353Das Alte Israel war eine agrarische Gesellschaft. Man lebte vom Landund seinem Ertrag und war auf eine intakte Großfamilie angewiesen.Zum Haushalt im weiteren Sinn gehören alle, die den Erdkreis bewohnen:“Herr, du hilfst Menschen und Tieren. (...) <strong>Die</strong> Menschen laben sicham Reichtum deines Hauses” (Ps 36,7.9a). <strong>Die</strong>ser Haushalter-Gottmacht alle Menschen zu Hausgenossen. “Gott hat auf die unbegrenzteAusübung seines Rechts als Hausherr verzichtet; er hat einen Bund mitseinem Haus geschlossen und sich zur Fürsorge für alle im Haus verpflichtet.Der Bund wird konkret in <strong>der</strong> „<strong>Hausordnung</strong>‟ (Thora), die dasLebensrecht aller Hausgenossen schützen soll.” 354 <strong>Die</strong>se Regulierungenerstrecken sich nicht allein auf die sozialen Beziehungen, son<strong>der</strong>n werdenauch auf alle Beziehungen im “Hause Israel” ausgedehnt: Sozialeund ökologische Gerechtigkeit stehen dann nicht gegeneinan<strong>der</strong>; sie sindintegriert, denn das Lebensrecht aller Hausbewohner soll geschützt werden.Der Haushalter Mensch vertritt den Haushalter Gott, und seine Aufgabeist es, den Haushalt Gottes treuhän<strong>der</strong>isch in Fürsorge für das Leben<strong>der</strong> Bewohner des Haushaltes zu verwalten (oikonomia). Wenn esim Psalm heißt: “Ich bin nur Gast auf Erden. Verbirg mir nicht deine Gebote”(Ps 119,19), geht es um die Einsicht in das, was nach Gottes Willenrechte Lebensführung im Hause, dem oikos <strong>der</strong> Schöpfung ist.4.2.2.2 <strong>Hausordnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>351 Ebd. 83, eigene Übersetzung.352 Ebd. 75 - eigene Übersetzung. <strong>Die</strong>ser Ansatz wird auch in <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> UCC zu “ChristlicherGlaube. Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit” aufgenommen. Vgl. auch: M. Robra, ÖkumenischeSozialethik, 83ff., 172f. sowie F. <strong>Segbers</strong>, “... und alle aßen und wurden satt” (Mt 14,20). Meditation zu einer biblischen Ökonomie des Genug - o<strong>der</strong>: Teilen macht satt, in: K. Füsselu. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 97 - 105.353 Ebd. 77, eigene Übersetzung.354 K. Raiser, Ökumene im Übergang, 159.129


Wie kann das alltägliche Zusammenleben und Wirtschaften im dem kleinenWirtschaftsraum des Hauses und im umfassen<strong>der</strong>en, größerenHaus <strong>der</strong> ganzen Schöpfung geregelt werden? In <strong>der</strong> Klärung dieserFrage ist <strong>der</strong> Mensch nicht einfach Befehlsempfänger, son<strong>der</strong>n ein verantwortlichesSubjekt, das treuhän<strong>der</strong>isch Institutionen <strong>der</strong> Gerechtigkeitschaffen, halten und diese den verän<strong>der</strong>ten gesellschaftlichen und ökonomischenVerhältnissen anpassen muß. In Gottes Haushalt zu leben,bedeutet Gottes <strong>Hausordnung</strong> zu beachten. “<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> bekämpft die Disharmonie,die zwischen den Klassen herrscht und die durch die großeDiskrepanz in <strong>der</strong> Verteilung des Reichtums entsteht, mit Hilfe verschiedenerInstitutionen: Brachjahr, Sabbatjahr, Jobeljahr. In Gottes <strong>Tora</strong>-Haushalt kann die Anhäufung von Reichtum angesichts <strong>der</strong> Armen, dievon dem ausgeschlossen werden, was ihnen Leben und Zukunft gibt,nicht gerechtfertigt werden. Man darf an<strong>der</strong>en we<strong>der</strong> wegnehmen nochvorenthalten, was sie brauchen, um zum Leben von Gottes Ökonomie fürGottes Volk beizutragen.” 355 <strong>Die</strong> sozialen und ökonomischen Weisungenim Bundesbuch (Ex 20,22-23,33), im Deuteronomium (Dtn 12-26) und imHeiligkeitsgesetz (Lev 17-26) stellen die <strong>Hausordnung</strong> dar. <strong>Die</strong> einzelnenGesetze und Bestimmungen lassen sich in drei Kategorien aufteilen: 3561. Gesetze zur Vorbeugung gegen die Verelendung:Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20f.) Beschränkung <strong>der</strong>Pfandnahme (Ex 22,25f.; Dtn 24,12ff.).2. Gesetze zum Schutz <strong>der</strong> sozial Schwächeren:Sabbatgebot (Dtn 5,12ff.; Ex 23,12; 20,8ff.); sowie weitere Schutzgesetze:Schutz o<strong>der</strong> Einschränkung körperlicher Gewalt gegen Sklaven(Ex 21,20f.26f.); Schutz <strong>der</strong> geflohenen Sklaven (Dtn 23,16f); täglicheAusbezahlung des Lohnes an die Tagelöhner (Dtn 24,14f.); Unterdrückungsverbot,Recht auf humane Behandlung (Lev 25,43.46.53); Almosenwesen;Recht <strong>der</strong> Nachlese auf den Fel<strong>der</strong>n und Weinbergen(Lev 19,9f; 23,22; Dtn 24,19-22); Recht, bei <strong>der</strong> Brache des Sabbatjahresdie Fel<strong>der</strong> abzuernten (Ex 23,10f.; Lev 25,6f.); <strong>der</strong> Zehnte als Sozialsteuerfür die “Witwen und Waisen”, d.h. zugunsten <strong>der</strong>er, die überkeine eigenen Einkünfte verfügen (Dtn 14,22-29; 26,12f.).3. Gesetze zur Regulierung <strong>der</strong> WirtschaftSabbatjahr und Schuldenerlaß alle sieben Jahre (Dtn 15,1f.); zeitlicheBefristung <strong>der</strong> Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18); Jobeljahr(Lev 25,10ff.).355 Ebd. 88, eigene Übersetzung.356Einteilung nach: R. Kessler, Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 80-88; weitere Ausführungen unten inAbschnitt 6.1.1. Das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>.130


<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> will die Verhältnisse im Haus gestalten und formuliert deshalbHausregeln o<strong>der</strong> Anweisungen mit ausdrücklich “ethischen Ziele” 357 :Der Sabbat zum Schutz <strong>der</strong> abhängig Arbeitenden, Regulierungen wiedas Brachjahr zum Schutz <strong>der</strong> Ressourcen des Bodens (Ex 21,10), dasSabbatjahr zur Entschuldung (Dtn 15,1-11) und das Jobeljahr zur Korrektur<strong>der</strong> Akkumulation von Besitz und Vermögen (Lev 25,8-55), Begrenzungvon Kauf und Handel mit Eigentum an Grund und Boden nachMarktgesetzen (Lev 25,8-24), das Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38;Dtn 23,20f.) u.a. Ursprünglich allein sozialen Beziehungen geltende Regelungenwie werden ausgeweitet auf die ökologischen Beziehungen im“Hause Israel”. <strong>Die</strong> Metapher des Hauses formuliert nicht nur die Regelneines sorgsamen Umgangs im Hause, son<strong>der</strong>n beschreibt auch dieGrenzen und das Maß. Das ökologische Maß ist eine Beziehungsgröße,die sich auf das Zusammenleben aller im Haus <strong>der</strong> Schöpfung erstreckt.358<strong>Die</strong>ter Lührmann hat darauf hingewiesen, wie in den neutestamentlichenHaustafeln die oikonomía-Tradition übernommen wird, die durchdas hellenistische Judentum aus <strong>der</strong> Stoa vermittelt worden ist. 359 Währenddie <strong>Hausordnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> auf eine Agrargesellschaft bezogen sind,wollen die neutestamentlichen Haustafeln das Leben in einer städtischenSituation gestalten. <strong>Die</strong> Haustafeln enthalten ethische Anweisungen fürMänner und Frauen, Kin<strong>der</strong>, Sklaven und Herren (Kol 3, 18-4,1; Eph5,22-6,9; auch 1 Petr 2,13-3,7; 1 Tim 2,8-15; Tit 2,1-10). Wie in <strong>der</strong> HebräischenBibel wird auch hier von Gott in <strong>der</strong> Metapher eines Ökonomengesprochen, “<strong>der</strong> uns alles reichlich gibt, was wir brauchen” (1 Tim 6,17).Christen sollen miteinan<strong>der</strong> wie gute “Ökonomen” umgehen: “<strong>Die</strong>nt einan<strong>der</strong>als gute Verwalter (kaloi oikonomoi) <strong>der</strong> vielfältigen Gnade Gottes,je<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Gabe, die er empfangen hat” (1 Petr 4,10; vgl. 1 Kor3,16; Röm 8,9.11; Eph 2,19f.; Hebr. 3,1ff.). <strong>Die</strong> Gemeinde bekommt dieSorge für schwächere Mitglie<strong>der</strong> aufgetragen ( 1Tim 5,3ff.).Grundlage<strong>der</strong> Gemeinde ist ein eigenes soziales Gebilde eines christlichen oikos.<strong>Die</strong> Haustafeln formulieren Anweisungen für das Zusammenleben vonMann / Frau, Herr / Sklave, Eltern / Kin<strong>der</strong>, die von Anfang an unter denBedingungen <strong>der</strong> Stadtkultur nach <strong>der</strong> oikos-Struktur realisiert werden.Darin zeigt sich, daß das Christentum auch unter <strong>der</strong> Naherwartung dauerhaftesoziale Gebilde formen wollte und einen latenten politischen An-357 O. Weinberger, <strong>Die</strong> Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, 74.358 Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung. Eine sozialethische Orientierung, Göttingen1997, 239ff.359 D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 94- 97.131


spruch wahrnahm, also keineswegs nur individualethisch zu verstehensei.4.2.2.3 Ökonomie <strong>der</strong> FülleAristoteles kritisiert an <strong>der</strong> Kapitalerwerbsökonomie, daß Habgier undMaßlosigkeit mit ihr strukturell verbunden sind. “Bei <strong>der</strong> Kunst <strong>der</strong> Hausverwaltungaber, die ja kein Kapitalerwerbswesen darstellt, gibt es eineGrenze. Denn diese Geldbeschaffung ist nicht Aufgabe <strong>der</strong> Kunst <strong>der</strong>Hausverwaltung. Demnach scheint es insofern bei jedem Reichtum eineGrenze geben zu müssen; angesichts <strong>der</strong> Tatsachen sehen wir aber,daß das Gegenteil eintritt. Alle Geschäftemacher nämlich wollen ins Unbegrenztehinein ihr Geld vermehren.” 360 Aristoteles bezieht sich dabeiauf den Staatsmann Solon (ca. 640 - ca.560 v. Chr.): “Für den Reichtumliegt bei den Menschen keine sagbare Grenze vor.” 361 <strong>Die</strong> biblische Traditionkennt ebenfalls diese aristotelische Unterscheidung und lehnt jeneMaßlosigkeit ab, die Aristoteles ein “Begehren ins Grenzenlose” 362 nennt.“Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug” (Koh 5,9). <strong>Die</strong> Haltung<strong>der</strong> Habgier o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Maßlosigkeit wird mit theologischen Gründenabgelehnt. Gott hat wie ein guter Ökonom die Schöpfung mit Güternreich ausgestattet. Im Psalm 104 heißt es: “Du läßt Gras wachsen fürdas Vieh, auch Pflanzen für den Menschen, die er anbaut, damit er Brotgewinne von <strong>der</strong> Erde und Wein, <strong>der</strong> das Herz des Menschen erfreut,damit sein Gesicht von Öl erglänzt und Brot das Menschenherz stärkt”(Ps 104, 14f.; ähnlich auch Ps 34,11; 65,10ff.; 146,7; 147,14). <strong>Die</strong> Schöpfungist von Gott mit Gütern reich ausgestattet. Deshalb heißt es auch imPsalm: “<strong>Die</strong> Menschen bergen sich im Schatten deiner Flügel, sie labensich am Reichtum deines Hauses, du tränkst sie mit dem Strom deinesHauses” (Ps 36,8b.9).Weil Gott wie ein guter Ökonom für die reichliche Ausstattung <strong>der</strong> Erdemit Gütern gesorgt hat, geht wirtschaftliches Handeln nicht von einerKnappheit <strong>der</strong> Güter aus, son<strong>der</strong>n von einer bereits vorhandenen Fülle in<strong>der</strong> Schöpfung. <strong>Dr</strong>ei große Feste prägen das Erntejahr (Ex 23,14-17; 34,18-22ff; Dtn 16,16f.). <strong>Die</strong> Erstlingsgaben <strong>der</strong> Ernte sollen vor den Altargebracht werden. Dabei wird daran erinnert, daß die Fülle <strong>der</strong> Ernte wieauch das Land Gott zu verdanken sind (vgl. Dtn 26,2-5). Im Psalm 145,15f. heißt es: “Aller Augen warten auf dich, und du gibst ihnen Speise zurrechten Zeit. Du öffnest deine Hand und sättigst alles, was lebt nach dei-360 Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 30ff.361 Aristoteles, Politik, A 9 p 1256 b 33.362 Aristoteles, Politik, A 9 p 1258 a 1.132


nem Gefallen.” - “<strong>Die</strong> Menschen laben sich am Reichtum deines Hauses,du tränkst sie mit dem Strom deiner Wonnen” (Ps 36,9). Ausgangspunktist nicht Knappheit, son<strong>der</strong>n eine ausreichende Fülle. Für eineKnappheitsökonomie sind immer Fragen <strong>der</strong> Mehrproduktion zur Überwindungvon Knappheiten zentral, während eine Ökonomie, die von einervorhandenen Fülle <strong>der</strong> Güter ausgeht, sich in den sozialen und ökologischenKontext <strong>der</strong> Schöpfung einbindet und Fragen <strong>der</strong> gerechten Verteilungthematisiert. <strong>Die</strong> Knappheitsökonomie ist vom Ansatz her aufWachstum ausgerichtet, das strukturell keine Begrenzung kennt, währenddie Ökonomie <strong>der</strong> Fülle um ein Maß weiß.<strong>Die</strong> ökonomische Tugend in die Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ist eine Haltungdes Vertrauens auf die Güte des Schöpfers und die Fülle <strong>der</strong> Schöpfung;die ökonomische Tugend in <strong>der</strong> Kapitalerwerbsökonomie ist aufgrunddes Knappheitstheorems dagegen strukturell die Habgier, die von zahlreichenantiken Autoren wie auch in <strong>der</strong> Bibel als Untugend o<strong>der</strong> Lasterabgelehnt wird (Hab 2,6ff.; Spr 11,28; 13,11; 28, 25; Ps 119,36). 363 Da in<strong>der</strong> Ökonomie aus Vertrauen auf die Fülle <strong>der</strong> Schöpfung alle mit <strong>der</strong>Schöpfung, die ihnen anvertraut ist, haushälterisch umgehen, sind nichteigennützige Konkurrenzbeziehungen, son<strong>der</strong>n solidarische Beziehungen<strong>der</strong> Menschen untereinan<strong>der</strong> die Folge. In einer Ökonomie <strong>der</strong>Knappheit dagegen ist eine Haltung nötig und vernünftig, die Wachstumund Gewinne zur Beseitigung <strong>der</strong> Knappheiten erzielen will. Knappheitenwirken sich auf die zwischenmenschlichen Beziehungen aus: Menschenkonkurrieren um die knappen Güter miteinan<strong>der</strong>. Den beiden gegensätzlichenÖkonomien entsprechen also zwei gegensätzliche ökonomischeTugenden, die auch die Sozialbeziehungen <strong>der</strong> Menschen prägen: <strong>Die</strong>Ökonomie <strong>der</strong> Bereicherung mit <strong>der</strong> Tugend Habgier und zwischenmenschlichenKonkurrenzbeziehungen einerseits und die Ökonomie ausVertrauen mit solidarischen Beziehungen an<strong>der</strong>erseits. <strong>Die</strong> rabbinischeTheologie kritisiert nicht nur die Auffassung, Habgier sei eine ökonomischvernünftige Haltung, sie erweitert die Ablehnung <strong>der</strong> Habgier zusätzlichum einen religiösen Aspekt: Habgier macht Geld zu etwas Göttlichem.364 Zwischen Gott und Mammon besteht ein grundsätzlicher Gegensatz(Mt 6,24 par). Im neutestamentlichen Schrifttum wird vor <strong>der</strong>Habgier gewarnt (Lk 12,15; Mt 6,19f.). Im Einklang mit <strong>der</strong> rabbinischen363 <strong>Die</strong> US-amerikanische Ökonomin Sabine U. O‟Hara hat vor <strong>der</strong> Herbstsynode <strong>der</strong> evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (1995) in einem Referat “Wirtschaften ist mehr als Knappheit”zwei gegenteilige Begriffe von Wirtschaften entwickelt: Wirtschaften als Umgang mitKnappheiten o<strong>der</strong> Wirtschaften als Umgang mit Vertrauen. (Unveröffentlichtes Redemanuskript)364 Nähere Ausführungen dazu unter Abschnitt 9.5.2 und 9.6.1.133


Theologie seiner Zeit nennt Paulus Habgier Götzendienst (Eph 5,5; Kol3,5).Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich spricht von einer “sinngebendenIdee einer Ökonomie <strong>der</strong> Lebensfülle” 365 . Aus dem wirtschaftsethischenLeitbild des guten Lebens resultiere, daß jenseits des elementaren“Kampfs ums Dasein” nicht das Reich des Überflusses son<strong>der</strong>n das einessinnvollen und kulturellen Lebens herrsche. Das bedeutet: “<strong>Die</strong> Kategorie„genug‟ ist keine ökonomische, son<strong>der</strong>n eine kulturelle Kategorie.”366 Eine Ökonomie, die von dem Ansatz <strong>der</strong> Fülle ausgeht, ist von <strong>der</strong>Idee getragen, das menschliche Leben, seinen Sinn und die kulturelleDimension des Lebens in den Mittelpunkt zu rücken. Sie ist eine lebensdienlicheÖkonomie. Ökonomie wird von diesem Ansatz her zu einer gesellschaftlichenNebensache, die lediglich die Funktion hat, das Produktions-und Verteilungsproblem einer Gesellschaft zu lösen. <strong>Die</strong> kulturelleFrage nach dem Genug stellt sich allerdings nicht erst jenseits eines bestimmtenLebensstandards, wie Ulrich angesichts des Produktivitätsniveausmo<strong>der</strong>ner Ökonomien meint, son<strong>der</strong>n ist eine ökonomisch bedeutsameethische Grundhaltung auf allen ökonomischen Entwicklungsstufen.Ohne diese grundsätzliche Haltung gibt es keinen Maßstab undkeinen Begriff für ein Jenseits des Genug, denn die Frage stellt sich immer:Wann ist genug auch genug? Welche Kriterien o<strong>der</strong> Maßstäbe gibtes, die anzeigen, wann genug erreicht ist? 367 Subjektiv empfundeneKnappheit ist prinzipiell grenzenlos. Was “genug” sein kann, ist deswegenauch nicht ökonomisch, son<strong>der</strong>n kulturell und ethisch zu bestimmen.Der Sabbat ist Symbol für eine Ökonomie, welche die Kategorie desGenug kennt. Er durchbricht ein an Leistung und Erholung bestimmtesVerhältnis von Arbeit und Ruhe. Sabbat meint mehr als die Regeneration<strong>der</strong> Leistungskraft; er ist ein Ort, an dem ein Wohlstand gelebt wird, <strong>der</strong>sich gerade nicht materiell auslegt. Erich Fromm versteht den Sabbat in<strong>der</strong> rabbinischen Auslegungstradition als einen Tag, an dem <strong>der</strong> Menschlebt, “als hätte er nichts, als verfolgte er kein Ziel außer zu sein, d.h. seineessentiellen Kräfte auszuüben - beten, studieren, essen, trinken, singen,lieben.” 368 Der Sabbat ist <strong>der</strong> Tag, an dem das Sein gelebt wird, undein Tag, an dem die Tendenzen des Habens dispensiert werden. Am365 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 214.366 Ebd. 215.367 <strong>Die</strong> aktuelle Debatte um den arbeitsfreien Sonntag belegt dies: ökonomisch und an Wohlfahrtskategoriengemessen konnten sich weit ärmere Gesellschaften als die heutigen Industrielän<strong>der</strong>den arbeitsfreien Sabbat/Sonntag “leisten”, während reiche Industriegesellschaften mit ihrembislang menschheitsgeschichtlich nicht gekannten Produktions- und Wohlfahrtsniveau sich diesenRuhetag von <strong>der</strong> Arbeit nicht mehr leisten können.368 E. Fromm, Haben o<strong>der</strong> Sein. <strong>Die</strong> seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft, Stuttgart1976, 57.134


Sabbat soll <strong>der</strong> Knecht kein Knecht und <strong>der</strong> Herr kein Herr sein. Verbotenwird allerdings nicht Arbeit an sich, son<strong>der</strong>n zweckdienliche, lebensnotwendigeArbeit. Ein Lebensraum soll eröffnet werden, an dem an<strong>der</strong>eTätigkeiten des Menschen als nur die herstellenden, zweckdienlichen gelebtwerden können. Erlebt und praktiziert wird am Sabbat ein Wohlstand,<strong>der</strong> nicht auf die materielle Dimension reduziert ist, son<strong>der</strong>n humaneund immaterielle Dimensionen zuläßt. Der Sabbat ist das Symboleines solchen Zeitwohlstandes, <strong>der</strong> nicht abhängig von dem erreichtenStand einer Produktionshöhe o<strong>der</strong> eines materiellen Wohlstandsniveausist. 369Der Sabbat steht den sechs Werktagen gegenüber. Das verleiht ihmein paritätisches Gegengewicht: Er ist jener Ort, an dem eine Gegenkulturgelebt wird, die sich nicht über Leistung und Produktion definiert,son<strong>der</strong>n über immaterielle und kulturelle Werte. Abraham Heschel nenntihn deshalb einen Tag, “an dem <strong>der</strong> Umgang mit Geld als Entweihunggilt, an dem <strong>der</strong> Mensch seine Unabhängigkeit bestätigt von dem, was<strong>der</strong> oberste Götze <strong>der</strong> Welt ist. Der siebte Tag ist <strong>der</strong> Exodus aus <strong>der</strong>Spannung, die Befreiung des Menschen aus seiner eigenen Verwirrung,die Einsetzung des Menschen zum Herrscher in <strong>der</strong> Welt.” 370 Der Sabbat,<strong>der</strong> die Werktage regelmäßig unterbricht, ist ein Symbol für eineFreiheit, die darum weiß, daß Arbeit und Produktion an den sechs Werktagenin einer Schöpfung <strong>der</strong> Fülle ausreichen, und deshalb allen dieFreiheit zu einer Unterbrechung gibt: <strong>der</strong> siebente Tag ist frei für an<strong>der</strong>e,nämlich kulturelle o<strong>der</strong> kommunikative Tätigkeiten.4.2.3 <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>-Ökonomie: Eine ökonomische AlternativeFür den wirtschaftsethischen Zusammenhang <strong>der</strong> vorliegenden Arbeit istdie Frage zu stellen: Welche aktuelle Bedeutung kann <strong>der</strong> PolitischenÖkonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> o<strong>der</strong> des Aristoteles zukommen? 371 <strong>Die</strong>se Frage zu369 J. Rin<strong>der</strong>spacher, Warum nicht auch mal sonntags arbeiten? In: K.-W. Dahm, u.a. (Hg.), Sonntagsnie? <strong>Die</strong> Zukunft des Wochenendes, Frankfurt / New York 1989, 34.370 A. Heschel, Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen, Neukirchen - Vluyn1990, 25f. Jüdisch-rabbinischer Theologie war deshalb auch die Aussage immer schon geläufig,daß durch den Sabbat schon jetzt ein Siebtel des Lebens hier auf Erden als Paradies erlebtwird. Eine Auslegung von Rabbi Salomon von Karlin kann dies verdeutlichen: “Wenn mannicht lernt, den Sabbat zu schmecken, solange man in dieser Welt lebt, wenn man nicht lernt,die Ewigkeit in <strong>der</strong> zukünftigen Welt zu lieben, wird man den Geschmack <strong>der</strong> Ewigkeit in <strong>der</strong>zukünftigen Welt nicht genießen können. Traurig ist das Los dessen, <strong>der</strong> unerfahren dort ankommtund nicht die Fähigkeit besitzt, die Schönheit des Sabbat wahrzunehmen, wenn er zumHimmel geführt wird.” Zit. ebd. 59.371 <strong>Die</strong>se Fragestellung wird ausführlich aufgenommen in Abschnitt 9.4.1.135


eantworten, bedeutet auf zwei Dimensionen dieser Frage einzugehen:erstens geht es um ein wirtschaftshistorisches Urteil über den Entwicklungsstand<strong>der</strong> damaligen Ökonomie; zweitens um die theoretische Fragenach <strong>der</strong> Aufgabe <strong>der</strong> Ökonomie.Zum wirtschaftsethischen Urteil über den Entwicklungsstand <strong>der</strong> Ökonomie:Gab es in <strong>der</strong> antiken Ökonomie überhaupt Märkte? Strittig ist,wie die Rolle <strong>der</strong> Märkte in den antiken und altorientalischen Gesellschaftenund Ökonomien überhaupt zu bewerten ist. Karl Polanyi geht inseinem bekannten Buch The Great Transformation davon aus, daß dieEntwicklung <strong>der</strong> Wirtschaft zu einem ausgebildeten Marktsystem sicherst im Zusammenhang mit <strong>der</strong> industriellen Revolution im 18./19. Jahrhun<strong>der</strong>tvollzogen habe. Der Wirtschaftshistoriker Moses I. Finley betontdie Diskrepanz ebenfalls und verweist darauf, daß zentrale Begriffe <strong>der</strong>mo<strong>der</strong>nen Ökonomie wie Arbeit, Produktion, Kapital, <strong>Prof</strong>it/Gewinn, Investition,Güterkreislauf, Marktpreise, Angebot und Nachfrage etc. nichtin <strong>der</strong> lateinischen o<strong>der</strong> griechischen Sprache vorkommen. 372 Auch wenndie Begriffe fehlen, so gab es jedoch sehr wohl die mit diesen Begriffenbezeichnete Wirklichkeit. Gewinn wurden erwirtschaftet und man wußtevom Schwanken <strong>der</strong> Preise nach Angebot und Nachfrage. Und doch:Ökonomie sollte nicht das Ziel haben, einen möglichst hohen Gewinn zuerzielen, son<strong>der</strong>n zur Führung <strong>der</strong> Ökonomie des Hauses anleiten.Unter den Wirtschaftshistorikern besteht keine Einigkeit darüber, wie<strong>der</strong> Entwicklungsstand <strong>der</strong> antiken Wirtschaft seit Aristoteles und im AltenIsrael einzuschätzen ist. 373 <strong>Die</strong> sog. “Mo<strong>der</strong>nisten” (E. Meyer, M.Rostovtzeff, F.M. Heichelheim, A. Ben-David) gehen von einem hohenEntwicklungsstand <strong>der</strong> antiken Ökonomie aus, im Gegensatz zu den sog.“Primitivisten” (K. Polanyi, E. Bücher, M. Weber). 374 Wenn es darum372 M.I. Finley, <strong>Die</strong> antike Wirtschaft, 3. erw.Aufl. Stuttgart 1993, 13f..373 Wie sehr bereits in die Bezeichnung <strong>der</strong> antiken Wirtschafts- und Gesellschaftssysteme eigeneWertvorstellungen eingehen, hat Rainer Kessler in seinem Beitrag über Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus,Tributarismus und antike Klassengesellschaft diskutiert. R. Kessler, Frühkapitalismus,Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft. Theorien zur Gesellschaftdes alten Israel, in: Evangelische Theologie 54 (1994), 423f. Weitere Ausführungen, diesich speziell auf Israel beziehen, in: <strong>der</strong>s., Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda vom 8.Jahrhun<strong>der</strong>t bis zum Exil, Leiden u.a. 1992. Nach Max Weber ist die altisraelitische Gesellschaftvon einem Konflikt zwischen Stadt und Land gekennzeichnet: “<strong>Die</strong> antike Klassenschichtung:das stadtsässige Patriziat als Gläubiger, die Bauern draußen als Schuldner, bestandalso auch in den israelitischen Städten.” (M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie,Bd. III (1921) Tübingen, 7. Aufl. 1983, 26.)374 M. Rostovtzeff, Wirtschaft und Gesellschaft im römischen Kaiserreich, 2 Bde. Leipzig 1929; F.M. Heichelheim, Wirtschaftsgeschichte des Altertums, 2 Bde. Leyden 1939. Nachdruck 3 Bde.Leyden 1969; K. Polanyi, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt 1979; E. Meyer, <strong>Die</strong> wirtschaftlicheEntwicklung des Altertums, in: <strong>der</strong>s., Kleine Schriften I, 2. Aufl. Halle 1924, 79-168. E. Bücher <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> Volkswirtschaften, in: <strong>der</strong>s., <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> Volkswirtschaft.Vorträge und Versuche, 3. Aufl. Tübingen 1901, 101-174.136


geht, die antiken Wirtschaft zu charakterisieren, ist es sinnvoll, zunächstdie Debatte zwischen Bücher und Meyer nachzuzeichnen. Nach Bücherfehlte in <strong>der</strong> Hauswirtschaft als <strong>der</strong> zentralen Wirtschaftsform <strong>der</strong> Antikeeine marktorientierte Produktion. Zudem habe es weithin keinen Handelund keine Lohnarbeit gegeben. Gegen Bücher betonte Meyer, daß dieantike Ökonomie gerade durch marktorientierte Produktion, Handel undfreie Lohnarbeit zu charakterisieren sei. <strong>Die</strong> antike Wirtschaft habe einenmo<strong>der</strong>nen Charakter gehabt und deshalb seien enge Parallelen zwischenden antiken und mo<strong>der</strong>nen, neuzeitlichen Verhältnissen zu ziehen.Finley unterstützt die Grundthese von Bücher: die antike Wirtschaft seinicht marktwirtschaftlich organisiert. 375Nach Frank Crüsemann ist es durchaus unklar und strittig, ob es in<strong>der</strong> israelitischen Königszeit wirklich einen Markt gegeben hat, denn in<strong>der</strong> damaligen Gesellschaft habe man weitgehend für den Eigenbedarfproduziert. 376 Ekkehard W. und Wolfgang Stegemann gehen von einemerweiterten Begriff des Marktes aus. Sie verstehen den Markt nicht lediglichals einen Mechanismus, <strong>der</strong> Angebot und Nachfrage reguliert. Entscheidendsei die Frage, ob es Gewinnerwartungen gewesen sind, diedas ökonomische Verhalten stimulierten. Daraus folgern sie für die Zeitdes römischen Imperiums einschränkend: “In diesem Sinne gab es allerdingsin den antiken Gesellschaften des Mittelmeerraumes kaum Märkte.”377 Ein freies Spiel <strong>der</strong> Marktkräfte habe sich durch die staatlichen Interventionenzur Zeit des römischen Kaiserreiches nicht entwickeln können.Heinz Schrö<strong>der</strong> klassifiziert dagegen das ökonomische System zurZeit Jesu wie<strong>der</strong>um gar als “ein sozialmarktwirtschaftlich orientiertes,bäuerliches Wirtschaftssystem.” 378 Ben-David nennt es selber erstaunlich,in welchem Maße die Gelehrten von Talmud und Mischna bereits in<strong>der</strong> Darstellung und Erkenntnis nationalökonomischer Marktgesetze fortgeschrittengewesen seien. Zur Illustration dieser Aussage verweist er375 M.I. Finley, <strong>Die</strong> antike Wirtschaft.376 F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen” (Jes 2,7f). In: R. Jost u. R.Kessler u. Chr. Raisig (Hg.), Auf Israel hören. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung, Luzern1992, 31f.377E.W. Stegemann u. W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. <strong>Die</strong> Anfänge im Judentumund die Christusgemeinden in <strong>der</strong> mediterranen Welt, Stuttgart, Berlin, Köln 1995, 44.378 H. Schrö<strong>der</strong>, Jesus und das Geld, 269. Auf Grund <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>-Bestimmungen kommt er zu dieserEinschätzung. <strong>Die</strong>ses affirmative Urteil berücksichtigt jedoch die Folgen <strong>der</strong> römischen Besatzungnicht. Wie gegenläufig sozialhistorische Aussagen sind, kann beispielhaft an den beidenfolgenden Aussagen illustriert werden: Palästina sei im 1. Jh. keineswegs ausgeblutet, son<strong>der</strong>nwirtschaftlich reich mit pulsierendem Leben gewesen (J. Habbe, Palästina, 47); zu einem an<strong>der</strong>enUrteil kommen aufgrund sozialgeschichtlicher Untersuchungen: E.W. Stegemann u. W.Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte. Sie sprechen von Verschuldung und Enteignung<strong>der</strong> Kleinbauern als Kennzeichen <strong>der</strong> römischen Epoche (107).137


auf Rabbi Akiba (50/55 - 135 n. Chr.), von dem eine knappe Definitiondes Wirtschaftsgesetzes von Angebot und Nachfrage stammt: “<strong>Die</strong> Mengendes zum Markte gebrachten Getreides wurden größer und nahmenwie<strong>der</strong> ab, so (kehrte) <strong>der</strong> Markt (will sagen die Preise am Markt) wie<strong>der</strong>zu seinem alten Platze (Stand) zurück.” 379 <strong>Die</strong>ter Georgi kennzeichnetdie Ökonomie des Mittelmeerraumes im 1. Jahrtausend v.Chr. als eineÖkonomie, die durch Geld und Markt bestimmt war. Zur Zeit Jesu habeeine monetäre Ökonomie von weltweiten Proportionen mit einer gemeinsamenrömischen Währung existiert. <strong>Die</strong> städtische Gesellschaft sei voneiner universalen Marktstruktur bestimmt gewesen, Industrie, Handel,Arbeits- und Sklavenmarkt eingeschlossen. Ein expansives Netzwerkvon Märkten habe in <strong>der</strong> griechischen und römischen Welt floriert. 380<strong>Die</strong>ter Lührmann vertritt eine Position, die den Gegensatz zwischenden sog. Mo<strong>der</strong>nisten und Primitivsten überwinden soll. Er hat deshalbvorgeschlagen, jenseits <strong>der</strong> mit neuzeitlichen Wertvorstellungen verbundenenBegriffe “Sklavenhaltergesellschaft” o<strong>der</strong> “Klassengesellschaft”den Terminus “Haus” als Deutungskategorie für die antike soziale undwirtschaftliche Wirklichkeit zu verwenden. Der Begriff oikos-Gesellschafthabe den Vorteil, die sozio-ökonomische Struktur zu beschreiben und eineDeutungskategorie <strong>der</strong> damaligen Zeit zu sein. 381<strong>Die</strong> wissenschaftliche Diskussion über die antike Ökonomie verläuftkontrovers und hat bislang nicht zu einem einheitlichen Bezugsrahmengeführt. Es gibt vermittelnde Positionen: Günther Bien geht davon aus,daß es zwar eine Mischung von mo<strong>der</strong>nen und primitiven Elementen miteiner sehr intensiven Marktwirtschaft gegeben habe, diese aber nicht in<strong>der</strong> Lage gewesen sei, die Sozialstruktur und das Sozialdenken entscheidendzu verän<strong>der</strong>n. 382 Ähnlich resümiert Hans G. Kippenberg dieDiskussion: <strong>Die</strong> Debatte über die antike Ökonomie sei noch unabgeschlossenund lasse sich in einer doppelten Hypothese zusammenfassen:<strong>Die</strong> antike Ökonomie ist we<strong>der</strong> eine primitive, legt man die Kriterieneiner institutionalisierten Surplusproduktion zugrunde, noch eine mo<strong>der</strong>ne,legt man das Kriterium einer tauschwertorientierten Produktion zugrunde.383 Kuno Füssel präsentiert über diesen integrativen Ansatz hinauseine Erklärung, welche die in <strong>der</strong> Literatur häufig als divergierenddargestellten Ansätze von Karl Marx, Max Weber und Karl Polanyi zu379 Zit. in A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, XX.380 D. Georgi, Der Armen zu gedenken. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> Kollekte des Paulus, 2. erw. Aufl. Neukirchen- Vluyn, 1994, 123ff.381 D. Lührmann, Neutestamentliche Haustafeln und die antike Ökonomie, 89.382 G. Bien, <strong>Die</strong> aristotelische Ökonomik und die mo<strong>der</strong>ne Ökonomie, 227.383 H.G. Kippenberg, <strong>Die</strong> Typik antiker Entwicklung, in: <strong>der</strong>s. (Hg.), Seminar: <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong>antiken Klassengesellschaft, Frankfurt 1977,18, zit. in: K. Füssel, <strong>Die</strong> politische Ökonomie desrömischen Imperiums in <strong>der</strong> frühen Kaiserzeit, 38.138


übernehmen und zu integrieren erlaubt: “<strong>Die</strong> Wirtschaftsform - wie auchdie Erklärung ihrer Funktionsweise - bestimmt sich danach durch die Artund Weise ihrer Einbettung ins politische System.” 384 Deshalb wählt erals Erklärungsansatz die politische Ökonomie. <strong>Die</strong>ser Ansatz hat denVorteil, Arbeit nicht nur als eine Grundtatsache menschlicher Selbsterhaltungzu betrachten, son<strong>der</strong>n von Anfang an auch als ein soziales Verhältnis,eine Tätigkeit, in <strong>der</strong> Menschen arbeitsteilig produzieren. Hierkann eine Verbindung mit <strong>der</strong> sozio-ökonomischen Grundstruktur <strong>der</strong>oikos-Ökonomie hergestellt werden, welche die Beziehungen zwischendenen, die in <strong>der</strong> Hausgemeinschaft auch eine Wirtschaftsgemeinschaftbilden, ins Zentrum rückt. Fragen von Macht, Herrschaft und Verteilungdessen, was produziert wurde, stellen sich mit <strong>der</strong> Tatsache <strong>der</strong> Arbeitsteilung.Herrschaftsbestimmt ist die Verteilung des Arbeitsertrages immerdann, wenn an<strong>der</strong>e als die Produzierenden den Verteilungsmodus bestimmeno<strong>der</strong> die Nichtarbeitenden über das Arbeitsergebnis an<strong>der</strong>erverfügen. Im “Haus” bilden Produktion und Konsum eine Einheit. DasHaus (oikos/bajit) ist deshalb <strong>der</strong> Ort, wo die sozialen und ökonomischenAnsprüche und Interessen des Besitzenden und <strong>der</strong> abhängig Arbeitendenaufeinan<strong>der</strong>treffen. Wie werden die oben genannten ökonomischenGrundfragen beantwortet werden, wie sie Samuelson formuliert hat: Wieerfolgt die Verteilung? Wer bestimmt sie? Wer produziert für wen? Werprofitiert, wer trägt die Kosten? 385Binswanger verweist jenseits <strong>der</strong> Alternative zwischen Mo<strong>der</strong>nistenund Primitivisten auf einen zentralen wirtschaftshistorischen Aspekt, <strong>der</strong>es auch nach meiner Meinung erlaubt, zwischen <strong>der</strong> Marktökonomie <strong>der</strong>Mo<strong>der</strong>ne und <strong>der</strong> Ökonomie <strong>der</strong> Antike eine Gemeinsamkeit von zentralerBedeutung herzustellen: “Schon vor Aristoteles, Xenophon und Platonhaben sich aber auch die sieben Weisen des Altertums mit dem Wesen<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Marktwirtschaft befaßt.” 386 Binswanger richtet sein Interessenicht auf Fragen nach <strong>der</strong> Reichweite des Handels, <strong>der</strong> Existenzvon Lohnarbeitern o<strong>der</strong> ähnlichen ökonomischen Gesichtspunkten, son<strong>der</strong>nauf die wirtschaftshistorisch unbestrittene Tatsache, daß sich in <strong>der</strong>Antike mit dem Aufkommen <strong>der</strong> Geldwirtschaft ein durchgreifen<strong>der</strong>Transformationsprozeß vollzogen hat. “Weil aber damals die Marktwirtschaftnoch im status nascendi, im Anfangszustand war, konnten diespezifischen Eigenschaften dieses mo<strong>der</strong>nen Wirtschaftens - insbeson<strong>der</strong>edas erwerbswirtschaftliche Streben nach „immer mehr‟ im Sinne deswirtschaftlichen Wachstums - beson<strong>der</strong>s deutlich erkannt werden. Wol-384 K. Füssel, <strong>Die</strong> politische Ökonomie des römischen Imperiums in <strong>der</strong> frühen Kaiserzeit, 39.385 Wie nach welchen ethischen Gesichtspunkten diese ökonomischen Grundfragen beantwortetwerden, wird in Abschnitt 4.4.4 ausgeführt.386 H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Antike, 33.139


len wir unsere heutige Wirtschaft besser verstehen, müssen wir daher zuihren antiken Wurzeln und zu den äußerst prägnanten und scharfsinnigenAnalysen und Vorschlägen <strong>der</strong> damaligen Zeit zurückgehen, umauch von dort Richtlinien für unser eigenes Handeln zu gewinnen.” 387 <strong>Die</strong>antike und die mo<strong>der</strong>ne Marktwirtschaft haben ein gemeinsames Wesen,das in einer Gewinnorientierung, einer Suche nach “immer mehr” besteht.“Es ist die erwerbswirtschaftlich geprägte Geld- und Marktwirtschaft,<strong>der</strong>en Triebfe<strong>der</strong> das Gewinnstreben ist.” 388 Geld, das um seinerselbst willen begehrt wird, för<strong>der</strong>t ein Gewinnstreben, das demnach alsjenes Moment verstanden werden, das die heutige mit <strong>der</strong> antiken Ökonomiein <strong>der</strong> Grundmotivation gemeinsam hat. Binswanger nennt diesdas Wesen <strong>der</strong> Marktwirtschaft. 389 Auch wenn erst mit <strong>der</strong> industriellenRevolution im 18./19. Jahrhun<strong>der</strong>t sich ein vollausgebildetes Marktsystementwickelt hat, so sind doch die Mechanismen und Triebkräfte <strong>der</strong>Marktwirtschaft mit dem Motiv des Gewinnstrebens aus keimhaften Ursprüngenin <strong>der</strong> Antike inzwischen zu einem mächtigen Exemplar herangewachsen.In <strong>der</strong> Antike gab es eine Auseinan<strong>der</strong>setzung um die ökonomischenMechanismen <strong>der</strong> Marktwirtschaft, die sich in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungum ein ökonomisches Verhalten spiegelt, das in <strong>der</strong> Tradition als Untugendgalt, nunmehr aber ökonomisch geför<strong>der</strong>t wurde. <strong>Die</strong> Kehrseite desökonomischen Gewinnstreben ist eine Haltung <strong>der</strong> Habgier. 390 Für diegesamte antike Welt war die Habgier eine Untugend. <strong>Die</strong> ägyptischeWeisheit lehnte gleich den griechischen und lateinischen Philosophenund Dichtern wie Aristoteles, Plautus, Juvenalis, Lucanus, Cicero undPlutarch die Habgier, das “Mehr-Haben-Wollen”, als Untugend o<strong>der</strong> garals die seelische Krankheit <strong>der</strong> avaritia (Habgier) ab. 391 Aristoteles betrachtetHabsucht nicht bloß als eine individuelle Untugend, es ist dieKapitalerwerbsökonomie, die diese Untugend <strong>der</strong> Habsucht strukturellför<strong>der</strong>n.Auch die <strong>Tora</strong> reagierte auf diese neuen ökonomischen Bedingungenund entwickelte Instrumentarien, die das ökonomische Gewinnmotiv inSchranken halten sollten. Einige seien hier aufgezählt: Der Sabbat mitseiner Unterbrechung <strong>der</strong> Arbeitszeit, das Sabbatjahr mit seiner regel-387 H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Antike, 34.388 Ebd. 34.389 Ebd. 33.390 Nähere Ausführungen unten Abschnitt 9.5 sowie 9.6.391 Vgl. weitere Nachweise bei: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.” (Eph5,5) Kritik an <strong>der</strong> Habsucht als theologische Analyse, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... solernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern,Salzburg, 1995, 170ff. sowie für den ägyptischen Kulturbereich: E. Otto, TheologischeEthik des Alten Testaments, 122, 125, 130, 133f, 136f.140


mäßigen Ackerbrache o<strong>der</strong> die Jobeljahrformel, die statt eines Tauschpreisesfür Grund und Boden einen am Nutzen orientierten Kaufpreis bestimmte.392 Der Habgier als einem strukturbedingten Sachzwang wird mitdiesen Bestimmungen und Einrichtungen eine Grenze gesetzt. Habgiersoll sich nicht frei ausleben dürfen, ist das mit diesen Regelungen beabsichtigteAnliegen.Im alttestamentlichen Gedankengut werden Gewinn, Reichtum undBesitz als Ergebnis von Besitzstreben zwar nicht gänzlich verworfen,doch dieses Streben, nämlich die Habgier, hat fast durchgehend einennegativen Klang. 393 “Wer das Geld liebt, bekommt vom Geld nie genug”(Pred 5,9). Habgier ist die Kehrseite eine Ökonomie, die auf eine Spiralevon Gewinn und Mehr-Gewinn ausgerichtet ist. Das strukturell geför<strong>der</strong>teHandlungsmotiv, nach Gewinn zu streben, wird nicht belohnt, son<strong>der</strong>nUntugend genannt. Es bekommt dadurch eine innere Grenze. <strong>Die</strong> Institutionendes Sabbat, des Sabbat- und Jobeljahres setzen <strong>der</strong> ökonomischenVerführung zur Gewinnorientierung eine äußere Grenze: Arbeitwird unterbrochen, die Nutzung des Boden alle sieben Jahre ausgesetzt,Ansammlung von Reichtum wird wie<strong>der</strong> zurückgeführt. <strong>Die</strong> Einrichtungen<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> wollen es also nicht bei einer bloß tugendethischen Bewertung<strong>der</strong> Habgier belassen. Sie überführen die ethische Disqualifizierung <strong>der</strong>Habgier institutionen-ethisch in sozialrechtliche Bestimmungen. 394Im rabbinischen Denken wird die antike Kritik <strong>der</strong> Habsucht um einenreligiösen Aspekt erweitert: Habsucht ist Götzendienst o<strong>der</strong> verleitet zuGötzendienst, denn Geld tritt an die Stelle Gottes, wie die folgenden Zitatebelegen können: “In <strong>der</strong> Verführung durch das Geld nennt man dieGötter, die keine sind.” 395 “Habgier führt zu den Götzenbil<strong>der</strong>n” o<strong>der</strong>“Wenn jemand seine Augen von <strong>der</strong> (materiellen) Wohltätigkeit abwendet,so ist es ebenso, als würde er Götzen anbeten.” 396 Auch neutestamentlichwird Habgier negativ eingeschätzt (Mk 7,22; Lk 6,20 par.; Mt6,12-21par.; Mt 6,24 par.; Mt 8,18-21par.; Mt 19,16-23par.). Wenn Pau-392 Nähere Ausführungen unten Abschnitt 6.1.393Vgl. Ex 18,13-27; Jes 33,15; 56,9-12; 57,17, Jer 6,13; 8,10; 22,13-19; Ez 22,12f. 27; 33,31;Hab 2,9; Ps 119.36: Prov 1,19; 15,27; 28,16. Weitere Nachweise und Belege bei: R. Rieth,“Habsucht” bei Martin Luther. Ökonomisches und theologisches Denken, Tradition und sozialeWirklichkeit im Zeitalter <strong>der</strong> Reformation, Weimar 1996, 44f.394 Gegen T. Jähnichen, <strong>der</strong> in seiner biblisch begründeten theologischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mitdem ökonomischen Motiv des Selbstinteresses das biblische Gebot <strong>der</strong> Nächstenliebe als Begrenzungund relative Würdigung dieses Selbstinteresses wertet. <strong>Die</strong> biblische Tradition verfügtnicht nur über personalistische Begrenzungen durch das Gebot <strong>der</strong> Nächstenliebe, son<strong>der</strong>n überausdrückliche institutionelle Begrenzungen in Gestalt des Sabbat, des Sabbatjahres o<strong>der</strong> desJobeljahres. Vgl. T. Jähnichen, Sozialer Protestantismus und mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftskultur, 69ff.395XII Test. Juda 18.1 zit. nach: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.”171.396 Zit. in: K. Müller, <strong>Tora</strong> für die Völker, 179.141


lus Habgier als Götzendienst bezeichnet (Eph 5,5; Kol 3,5), dann bleibtsein Denken im Rahmen <strong>der</strong> jüdischen Diskussion. 397<strong>Die</strong> prophetische Kritik und die Regelungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> werden insbeson<strong>der</strong>eseit Ernst Troeltsch mit dem Vorwurf des unrealistischen Utopismusüberzogen. 398 Daß zentrale Bestimmungen des Wirtschaftsrechts<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zumindest seit <strong>der</strong> Zeit des Nehemia allgemein gelten, läßt sichhistorisch belegen. 399 Daß jedoch das Jobeljahr eine Idealkonstruktionwar, gilt als Beleg für wirtschaftlichen Utopismus <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> insgesamt. Allesnur Zufall o<strong>der</strong> drückt sich darin die Absicht aus, die tatsächliche Umsetzungdes Wirtschafts- und Sozialkonzepts <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> herunterspielenzu können?Der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Morris Silver hat in seinemBuch Prophets and Markets 400 den Vorwurf gegen die Prophetenerhoben, daß sie mit ihren wirtschaftspolitischen For<strong>der</strong>ungen mitten in<strong>der</strong> blühenden Wirtschaftsphase des 8. Jh.v.Chr. eben genau jene sozialeund politische Katastrophe herbeigeführt hätten, vor <strong>der</strong> sie gewarnthaben. <strong>Die</strong> For<strong>der</strong>ungen nach Gerechtigkeit seien nämlich nicht marktgerechtgewesen und hätten Produktion und Markt gestört. <strong>Die</strong> <strong>Hausordnung</strong><strong>der</strong> <strong>Tora</strong> sei also nicht nur für Fragestellungen neuzeitlicher Ökonomieirrelevant, son<strong>der</strong>n seien bereits im Alten Israel illusionär und ökonomischschädlich gewesen. Frank Crüsemann kritisiert zu Recht andieser Position, daß zum einen die mo<strong>der</strong>nen Gesetze des Marktes alsuniversal vorgestellt und zum an<strong>der</strong>en mo<strong>der</strong>ne Zustände auf antike Gesellschaftenzurückprojiziert würden.Zweitens zur Frage nach <strong>der</strong> Aufgabe von Ökonomie: Von <strong>der</strong> aristotelischenUnterscheidung <strong>der</strong> ökonomischen Grundsysteme zwischenHaushaltswirtschaft und Kapitalerwerbswesen her gesehen, fragt <strong>der</strong>Philosoph Günther Bien zugespitzt nach den meta-ökonomischenGrundentscheidungen: “Welche Art von Leben und Lebensform sollenwir wollen: einen bios politikos o<strong>der</strong> einen bios chrematistikos, ein Lebenin freier Selbstbestimmung mit dem Zweck einer Realisierung humanerGlücksbedingungen o<strong>der</strong> eine auf die Produktion und Vermehrung vonGütern allein um ihrer selbst willen abzielende Arbeitsexistenz?” 401 In denökonomischen Konzeptionen sind implizit immer Wertentscheidungen397 Martin Luther steht in dieser sozialphilosophischen und theologischen Traditionslinie, wenn erdie Habgier zu den “Haupt-Todsünden” zählt. WA 51, 422, 4; vgl. dazu: H. J. Prien, LuthersWirtschaftsethik, Göttingen 1992, 129-131; 220f.398 So mit Verweisen: F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.” 28ff.399 Ausführungen und Belege dazu unten Abschnitt 6.1.1 und 9.6.2.400M. Silver, Prophets and Markets. Political Economy of Ancient Israel, Boston, The Haguse,London 1983. Referiert nach: F. Crüsemann, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.”30f.401 G. Bien, <strong>Die</strong> aristotelische Ökonomik und die mo<strong>der</strong>ne Ökonomie, 229f.142


enthalten, die sozialethisch gehaltvolle Vorstellungen von gutem Lebenund gerechtem Zusammenleben wie<strong>der</strong>geben. <strong>Die</strong> aristotelische Theorie<strong>der</strong> Haushaltswirtschaft und die Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> stellen deshalb auchnicht primitive o<strong>der</strong> noch unausgebildete Ökonomietheorien dar, <strong>der</strong> gegenüberdie Marktökonomie <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne weiterentwickelt wäre und zudenen es kein Zurück mehr gäbe, vielmehr gehen in die Vorstellungeneiner Ökonomie des Haushalts an<strong>der</strong>e ökonomische Zielvorstellungenund an<strong>der</strong>e normative Vorstellungen von gutem Leben und gerechtemZusammenleben ein als in die einer mo<strong>der</strong>nen Ökonomie des Marktes.<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> schließt Marktelemente keineswegs grundsätzlich aus, son<strong>der</strong>nläßt sie dort zu, wo sie funktional und sozial erträglich sind; wo dieMarktgesetze ethischen Anfor<strong>der</strong>ungen allerdings nicht gerecht werden,dort wird <strong>der</strong> Markt begrenzt o<strong>der</strong> sogar außer Kraft gesetzt. <strong>Die</strong>s zeigt,daß nicht ein Gegensatz nur auf <strong>der</strong> Ebene Haushaltsökonomie o<strong>der</strong>Marktökonomie besteht. Nicht Vor-Mo<strong>der</strong>ne und Mo<strong>der</strong>nität stehen sichgegenüber, son<strong>der</strong>n zwei konkurrierende normative Konzeptionen vonÖkonomien. Welche Bedeutung haben diese an<strong>der</strong>en alternativen normativenVorstellungen von gutem Leben und gerechtem Zusammenleben?Auch wenn es nicht darum gehen kann, die Haus-Ökonomie als Vorlagefür gegenwärtige Wirtschaftsfragen zu benutzen, so kann dennochein Verständnis von Ökonomie als Haushalt einen kritischen Gegenpolzur herrschenden Vorstellung von Marktökonomie bilden. <strong>Die</strong>ses Ökonomieverständnisenthält alte Einsichten, die in <strong>der</strong> neuzeitlichen Ökonomiein Vergessenheit geraten sind. Ökonomie ist die Sorgfalt in <strong>der</strong> Verwaltungdes Haushaltes (oikos). 402 Wirtschaft war ursprünglich keineswegsMedium <strong>der</strong> unbegrenzten Steigerung des Wachstums, son<strong>der</strong>neine vernünftige Behebung des Mangels. <strong>Die</strong>se ökonomische Zweckbindungwill die <strong>Hausordnung</strong> <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> wie auch Aristoteles‟ Politika erreichen.Sie können deshalb als gesellschaftlich eingebettete und regulierteÖkonomien gelten. Eine so organisierte Ökonomie ist eingeordnet in dengrößeren Haushalt des Lebens. <strong>Die</strong>sem Haushalt des Lebens und demLeben <strong>der</strong> Bewohner in dem Haushalt hat Ökonomie zu dienen. <strong>Die</strong> Erfüllungdieser Aufgabe überläßt die <strong>Tora</strong> ebensowenig wie Aristotelesden Prozessen des Marktes. Sie for<strong>der</strong>n ein steuerndes und regulierendesEingreifen in die Marktprozesse, damit die Ökonomie den Bedürfnissendes Lebens im Haushalt gerecht wird. Das aber bedeutet, die Fragenach Sinn, Aufgabe und Ziel des Wirtschaftens wie<strong>der</strong> in die Ökonomiezu integrieren.402 G. Goudzwaard u. H. de Lange, We<strong>der</strong> Armut noch Überfluß, 52.143


In drei Aspekten berühren sich die ökonomischen Äußerungen überdie Haushaltsökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> mit jenen Äußerungen des Aristoteles:Erstens postulieren <strong>Tora</strong> und Aristoteles ein Maß dessen, was für denMenschen (und die Kreatur) gut ist. Was Aristoteles eine unnatürlicheErwerbs-Wirtschaftsweise o<strong>der</strong> Kapitalerwerbswesen (Chrematistik)nennt, ist eine Wirtschaft, die einem Wachstumszwang unterliegt. Auchdie biblische Ökonomie weist mit <strong>der</strong> Metapher “Haus” auf den begrenztenRaum <strong>der</strong> Schöpfung hin, in dem es kein unbegrenztes Wachstumgeben kann.Zweitens verstehen beide die Ökonomie als ein Mittel zu einemZweck, nämlich zur Versorgung <strong>der</strong> Menschen mit den Gütern des Lebens.<strong>Die</strong> Unterscheidung zwischen dem Prinzip des Verbrauchs (in <strong>der</strong>Haushaltsökonomie) und jenem des Gewinns (in <strong>der</strong> Kapitalerwerbsökonomie)ist <strong>der</strong> Schlüssel zu zwei verschiedenen Zivilisationen und ökonomischenKulturen.<strong>Dr</strong>ittens haben die Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und des Aristoteles gemeinsam,daß sie auf eine sozio-ökonomische Transformation mit verheerendensozialen Folgen reagieren. Aristoteles registrierte die sozialen Folgen desÜbergangs von einer Hausverwaltungsökonomie in eine Kapitalerwerbsökonomie.Nicht an<strong>der</strong>s die <strong>Tora</strong>. <strong>Die</strong> ökonomischen Transformationsprozesseund die offen auftretende Klassenspaltung im 8. Jahrhun<strong>der</strong>tim Alten Israel und ähnliche ökonomische Prozesse in Griechenland im4. Jahrhun<strong>der</strong>t gaben den Anstoß zur Entwicklung <strong>der</strong> ökonomischenVorstellungen in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und bei Aristoteles. Nicht theoretische Überlegungenstehen also am Anfang, son<strong>der</strong>n Erfahrungen mit einem tiefgreifendenUmbruch <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung seit dem 8. Jahrhun<strong>der</strong>t. 403 <strong>Die</strong>ökonomischen Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und des Aristoteles sind Antwortenauf sozio-ökonomische Umbrüche. Der brasilianische Exeget MiltonSchwantes verweist auf die Umorientierung <strong>der</strong> Ökonomie von einerlandwirtschaftlichen Produktionsweise auf Markt- und Handelsbeziehungenals Auslöser für die scharfe Kritik des Propheten Amos. 404 KönigJerobeam II. wollte sich aktiv am internationalen Handel beteiligen. Dochdie Tauschbedingungen von israelitischen Landprodukten gegen Eisenund Gold waren für Israel unvorteilhaft. Dadurch verarmten die Kleinbauernund wurden mehr und mehr von den städtischen Großgrundbesitzernin die Schuldsklaverei getrieben (Am 4,1-3; 7, 10-17; Mi 2,1-4; Jes 5,8-10). Rainer Kessler deutet ähnlich die von den Propheten kritisierte Ent-403 Dazu K. Koch, Art. Propheten / Prophetie II, in: TRE Bd. 27, 488. Zu den verschiedenen Erklärungsansätzen:R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft.404M. Schwantes, Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zu Amos, München1991, 22; vgl. auch R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 248f.144


wicklung als eine Folge <strong>der</strong> ökonomischen Transformation. 405 Das relativeinheitliche frühe Israel mit seinen solidarischen Gesellschaftsstrukturenzerbrach, ein Teil <strong>der</strong> Gesellschaft wurde reicher und mächtiger, währendein an<strong>der</strong>er bis in Sklaverei und Schuldknechtschaft hinein verarmte.Wirtschaftshistorisch gesehen löste die prophetische Kritik im 8. Jh.V. Chr. einen Prozeß aus, in dem jene Kräfte bestärkt wurden, die dengesellschaftlichen Transformationsprozeß rechtlich regulieren wollten.<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> entstand als Antwort auf die ökonomische, soziale und politischeKrise. Auch Aristoteles wollte mit seinen Äußerungen zur politischenÖkonomie eine Antwort auf die politische, ökonomische und sozialeKrise des 4. Jahrhun<strong>der</strong>ts v. Chr. geben. 406Historisch zeigt sich ein wirtschaftsethisch bedeutsamer Tatbestand:<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>-Ökonomie ist nicht theoretisch konzipiert worden, son<strong>der</strong>n eineAntwort auf konkrete sozioökonomische Verhältnisse. Angesichts dieserVerhältnisse hat sie Alternativen formuliert. <strong>Die</strong> Propheten lebten an <strong>der</strong>Wende eines ökonomischen Zeitalters. Klaus Koch fragt nach den Gründenfür die plötzlich im 8. Jahrhun<strong>der</strong>t auftretende Gesellschaftskritik undgelangt zu <strong>der</strong> Beurteilung: “Dergleichen hat es vor und neben denSchriftprofeten im gesamten Altertum nicht gegeben.” 407 Der prophetischenKritik kommt also das Verdienst zu, bereits zu einem sehr frühenZeitpunkt im großen Transformationsprozeß von <strong>der</strong> traditionellenStammesgesellschaft zur antiken Klassengesellschaft im Keim die Problemedes ausgewachsenen Exemplars einer freien Marktwirtschaft erahntzu haben. 408 Israel nimmt mit diesem Transformationsprozeß teil aneiner ökonomischen Umwälzung, die den gesamten Mittelmeerraum seitdem 8. Jahrhun<strong>der</strong>t v.Chr. erfaßte.Zusammenfassend läßt sich die Alternative <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>-Ökonomie in folgendenfünf Aspekten kennzeichnen:1. <strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> basiert auf einer Gottesvorstellung:Grundlage des ökonomischen Denkens und <strong>der</strong> sozialen Weisungen<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ist die Vorstellung von Gott als einem Ökonomen (Ps 65,10;405R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antike Klassengesellschaft,422f.406 G. Bien, <strong>Die</strong> aristotelische Ökonomik und die mo<strong>der</strong>ne Ökonomie, 228.407 K. Koch, <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> sozialen Kritik bei den <strong>Prof</strong>eten, in: H.W. Wolff (Hg.), Problemebiblischer Theologie. Gerhard von Rad zum 70. Geburtstag, München 1971, 238. O. Loretz kritisiertdiese Anschauung, die davon ausgeht, daß Prophetie innerhalb <strong>der</strong> Alten Welt etwas Singuläresgewesen sei; mitgeteilt mit Verweisen bei: R. Kessler, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus,Tributarismus, antike Klassengesellschaft, 416f. Dort wird auch die Debatte um die Benennungdes altorientalischen Wirtschafts- und Gesellschaftsystems nachgezeichnet.408So auch Karl Polanyi über Aristoteles, in: K. Polanyi, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt1979, 151; vgl. H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Marktwirtschaft <strong>der</strong> Antike, 23.145


104,10ff. u.o.). <strong>Die</strong> mit reichen Gütern ausgestattete Schöpfung istBeweis des ökonomischen Handelns Gottes. Nicht Knappheit <strong>der</strong> Güter,son<strong>der</strong>n Fülle ist die ökonomische Prämisse. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> enthält einWirtschaftsrecht, das den rechten Umgang mit und in <strong>der</strong> Schöpfungreguliert. Ökonomie wird also in einen Zusammenhang mit dem RechtGottes gesetzt. In diesem Punkt unterscheiden sich die <strong>Tora</strong> und dieÖkonomie-Konzeptionen des Aristoteles.2. <strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> orientiert sich an einer Ökonomie <strong>der</strong> Hausverwaltung:<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> enthält eine “<strong>Hausordnung</strong>”, die die Ökonomie des Hausesregulieren soll. “Haus” ist nicht nur das einzelene Gebäude, son<strong>der</strong>ndie strukturierte Einheit. Ganz Israel wird nach einem “Hausprinzip”organisiert. Das Haus als Ort von Produktion, Distribution und Konsumist eingebunden in den größeren Haushalt <strong>der</strong> Schöpfung. Was in <strong>der</strong>sozialen und ökonomischen Grundeinheit eines Hauses geschieht,findet sein Maß und seine Ordnung durch dieser Einbindung in dasgrößere Haus <strong>der</strong> Schöpfung. <strong>Die</strong> Politische Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gehtdavon aus, daß die Schöpfung alles hervorbringt, was zu einem gutenLeben im Haushalt <strong>der</strong> Schöpfung benötigt wird. Auf dieser Grundlagehat Ökonomie die Aufgabe, mit den vorhandenen Güter sorgsam umzugehenund sie für die Bedürfnisse <strong>der</strong> Gemeinschaft umzuwandeln.<strong>Die</strong> Hausverwaltungsökonomie ist ein Gegenbild zur Knappheitsökonomie,die Kapital- und Gütererwerb zum Ziel hat. Zweck undZiel <strong>der</strong> Hausverwaltungsökonomie ist die Befriedigung <strong>der</strong> natürlichen,nützlichen und täglichen Bedürfnisse. Kehrseite ist eine scharfeKritik <strong>der</strong> Geld- und Habgier. <strong>Die</strong> Hausverwaltungsökonomie enthältein inhaltliches Kriterium: das, was für alle Kreatur gut ist.3. <strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> bindet ökonomisches Handeln an ethischeZiele:<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> setzt ethische Maßstäbe und Ziele, die sich an einer Optionfür die Armen orientieren. Von diesem perspektivischen Standort auswerden Werte wie Würde des Menschen, Verantwortung für Gerechtigkeitund Frieden inhaltlich geprägt. Gerechtigkeit als gemeinschaftsfähigesVerhalten ist die wirtschaftsethische “Primärtugend”. Darausergibt sich eine eindeutige Vorzugsregel: Im Konfliktfall kommt <strong>der</strong> Logik<strong>der</strong> Humanität <strong>der</strong> Vorrang vor den Interessen des Ökonomischenzu. Nicht das Maximum einer größtmöglichen Güterproduktion, son<strong>der</strong>ndas Optimum dessen, was gut ist für das “Haus <strong>der</strong> Erde” unddie, die es bewohnen, ist <strong>der</strong> Maßstab. <strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> weißsich in den sozialen und ökologischen Kontext des Haushaltes <strong>der</strong>Schöpfung eingebunden. Der Haushalter-Gott hat die unerschöpfliche146


Fülle des Schöpfung geschaffen und den Menschen und mit ihm alleGeschöpfe zu Hausgenossen gemacht. <strong>Die</strong> ökologische und sozialeDimension gehören zusammen. Der Mensch ist Haushalter <strong>der</strong>Schöpfung. <strong>Die</strong>se treuhän<strong>der</strong>ische Funktion macht ihn nicht zumHerrn über die Schöpfung, son<strong>der</strong>n zum Herrn in <strong>der</strong> Schöpfung.4. <strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> will strukturelle Gewalt, die von <strong>der</strong> Ökonomieausgeht, minimieren:<strong>Die</strong> Weisungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> richten sich nicht nur an das Individuumsson<strong>der</strong>n sind Weisungen für ein Kollektiv o<strong>der</strong> für Institutionen. In <strong>der</strong><strong>Tora</strong> wird die Ordnung für ein sozial und ökologisch gerechtes Lebensichtbar, die mit <strong>der</strong> Schöpfung gegeben worden ist. Sabbat, Sabbatjahr,Jobeljahr sind Institutionen <strong>der</strong> Gerechtigkeit. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> durchbrichto<strong>der</strong> begrenzt die ökonomischen Gesetze des Marktes da, wosie zu Ausbeutung und Abhängigkeit führen. Der Sabbat steht für dieBegrenzung <strong>der</strong> wirtschaftlichen Verwertbarkeit (Ex 20,8ff.; Dtn5,12ff.). Der Umgang des Menschen mit <strong>der</strong> Schöpfung soll so gestaltetwerden, daß die Schöpfung ihren Reichtum und ihre Lebensfähigkeitnicht verliert (Sabbatjahr: Lev 15,2; Ex 23,10f.). Was Aristotelesdie strukturelle Maßlosigkeit <strong>der</strong> Kapitalerwerbswirtschaft nannte, wirdauch in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> angesprochen. Sabbat, Sabbatjahr und Jobeljahrsind Institutionen, die auf die Maßlosigkeit einer Kapitalerwerbswirtschaftreagieren: <strong>Die</strong>se Mechanismen unterbrechen ökonomischeProzesse, begrenzen sie und setzen ihnen ein Maß.5. <strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> hat die Gestalt des Rechts:<strong>Die</strong> prophetische Kritik wurde, historisch gesprochen, in Recht umgesetzt.<strong>Die</strong> ethischen Ziele <strong>der</strong> Menschenwürde, Verantwortung für Gerechtigkeitund Frieden bleiben nicht auf einer appellativen o<strong>der</strong> individuellenEbene; sie gewinnen in Rechtssatzungen eine klare Rechtsgestalt.<strong>Die</strong> zentrale Frage ist deshalb die nach den Folgen wirtschaftlichenHandelns für die Armen und Schwachen, “die Witwen und Waisen”(Dtn 10,18 u.ö.). In die Abläufe <strong>der</strong> Ökonomie wird eingegriffen,wenn die Gesetze des Marktes sich zu Lasten <strong>der</strong> Armen auswirken.<strong>Die</strong> Rechtsgestalt <strong>der</strong> Weisungen versetzte die Armen in die Positioneines Rechtsträgers, <strong>der</strong> einen einklagbaren Rechtsanspruch auf einegesicherte und ausreichende Lebensgrundlage hatte.<strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> will eine ökonomische Alternative zu einer Kapitalerwerbswirtschaftformulieren. Ihre Absichten lassen sich mit ihremGegenentwurf im nachstehenden Schema verdeutlichen:147


Voraussetzung:Ziel:Mittel:Haltung:Wirtschaften als Umgang mitVertrauen in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>- Haushalter-Gott als Schöpfer<strong>der</strong> Fülle und des Reichtums<strong>der</strong> Schöpfung- Schöpfung als Haushalt,- Mensch als treuhän<strong>der</strong>ischerHaushalter,- politische Ökonomie nachdem Vorbild einer Haushalter-Ökonomie (bajit=Haus),- Hausgemeinschaft als Produktionsgemeinschaft- gerechte Versorgung,- gutes Leben im Haushalt <strong>der</strong>Schöpfung zur Befriedigung<strong>der</strong> natürlichen und nützlichenBedürfnisse,- Gerechtigkeit als gemeinschaftsfähigesVerhalten,- optimaler, sorgsamer Umgangmit den Ressourcen,- nach Gottes Willen rechte Lebensführungim Hause <strong>der</strong>Schöpfung,- Lebensrecht aller Hausgenossen,Maß und Begrenzung,- <strong>Hausordnung</strong> (<strong>Tora</strong>) als Lebens-ordnungim Haushalt <strong>der</strong>Schöpfung,- Hausgenossenschaft,- Marktregulierungen mit demZiel <strong>der</strong> Schaffung und Sicherungvon Gerechtigkeit, AußerkraftsetzungmarktwirtschaftlicherPreisbestimmungdurch den Gebrauchswert(z.B. bei <strong>der</strong> Preisbestimmungvon Immobilien -Jobeljahrformel Lev 25,15f.)- Einbettung des wirtschaftlichenGeschehens in die Gesellschaft;- Selbstproduktivität <strong>der</strong> Schöpfung,- rechtliche Regulierungen zumSchutz <strong>der</strong> sozial und ökonomischSchwachen (Sabbat,Sabbatjahr-Brache etc.),- Zinsverbot- Vertrauen in die Fülle <strong>der</strong>Schöpfung- solidarische BeziehungenWirtschaften zur Erzielungvon Gewinn- Knappheit <strong>der</strong> Mittel und Ressourcen,- Versorgung mit Gütern,- Geldvermehrung,- Akkumulation,- maximale Güterversorgung,- Markt, Angebot und Nachfrage,- Konkurrenzbeziehungen- Preisbestimmung durch denTauschwert am Markt- Zins- und Geldwirtschaft- Erwerb, Produzieren, Herstellen- Konkurrenzbeziehung148


149


4.2.4 Leitlinien einer Haushaltsökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong><strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> setzt die Grundstruktur einer Haushaltsökonomie nicht einfachvoraus, son<strong>der</strong>n will diese nach ethischen Gesichtspunkten gestalten.Wie beantwortet die <strong>Tora</strong> in ihrem Umgang mit <strong>der</strong> Ökonomie die obengestellten universal geltenden ökonomischen Grundfragen (was, wie, fürwen)?1. Was soll in welchen Mengen produziert werden?<strong>Die</strong> Haushalts-Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> geht von <strong>der</strong> Voraussetzung aus,daß Gott die Erde mit Gütern, die für alle reichen, ausgestattet hat. “Dusorgst für das Land und tränkst es; du überschüttest es mit Reichtum”(Ps 65,10). Wirtschaften ist deshalb nicht ein Umgang mitKnappheiten, son<strong>der</strong>n ein Umgang mit Vertrauen auf den Reichtum,mit dem die Schöpfung überschüttet ist. Nicht das Knappheitstheorem,son<strong>der</strong>n die Fülle <strong>der</strong> Güter ist <strong>der</strong> ökonomische Ausgangspunkt.Ökonomisches Handeln basiert in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> auf einer Haltung des Vertrauens:Alles, was zum guten Leben benötigt wird, bringt die Schöpfunghervor, und die Menschen gebrauchen die Güter <strong>der</strong> Schöpfungfür ihre Bedürfnisse. Handlungsprinzip ist deshalb auch nicht die Effizienz,son<strong>der</strong>n die Suffizienz. Wirtschaften wird verstanden als verantwortungs-und vertrauensvoller Umgang mit den Gütern <strong>der</strong> reich ausgestattetenSchöpfung Gottes. Was produziert werden soll, ergibt sichnicht aus einem Knappheitstheorem und wird nicht <strong>der</strong> Steuerung desMarktes allein überlassen, son<strong>der</strong>n orientiert sich an einem sorgsamenHaushalten mitten in <strong>der</strong> Fülle <strong>der</strong> Schöpfung. Wirtschaften zielt deswegennicht darauf, immer mehr zu schaffen o<strong>der</strong> die Effizienz immerstärker erhöhen zu müssen. Das Gesetz <strong>der</strong> Knappheit geht von <strong>der</strong>Voraussetzung aus, daß die vorhandenen Güter <strong>der</strong> Schöpfung nichtausreichen. Deshalb beför<strong>der</strong>t das Knappheitstheorem ein prinzipiellunbegrenztes Wachstum und kennt kein Genug, während das Wirtschaftenaus Vertrauen auf die Güter <strong>der</strong> Schöpfung ein Maß kennt. 409<strong>Die</strong> Schöpfung ist das ökonomische Maß. Sie ist so produktiv undmit Fülle ausgestattet, daß ein gerechtes Wirtschaften ökonomischeKnappheitsprobleme lösen kann, wenn <strong>der</strong> Mensch die <strong>Hausordnung</strong>einhält und für Recht und Gerechtigkeit eintritt. <strong>Die</strong> Ethik des gutenLebens in <strong>der</strong> Schöpfung verbindet sich mit einer Ethik <strong>der</strong> Gerechtigkeitim Umgang mit den Gütern <strong>der</strong> Schöpfung. Gott hat seine Schöpfungso reich ausgestattet, daß das Verteilungsproblem nicht das ökonomischeGrundproblem darstellt. Verteilungsfragen sind prinzipielllösbar. Deshalb heißt es von Gott im Psalm: “Recht verschafft er den409 Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.5.2.150


Unterdrückten, und den Hungernden gibt er Brot” (Ps 146,7). DerÖkonom Gott will, daß Menschen nach seinem Vorbild in <strong>der</strong> Schöpfunghaushalten. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> konzentriert sich auf die Bedürfnisse undRechte <strong>der</strong>er, die am Rande <strong>der</strong> Gesellschaft stehen, die Armen (Ex23,6 u.ö.), die Fremden (Ex 23,9 u.ö.), die Witwen und Waisen (Dtn24,17-22 u.ö.). <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> ist die <strong>Hausordnung</strong>, die Leben schützen soll.Sie enthält Regelungen, die in Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem Marktentstanden sind und sich mit dem Marktgeschehen auseinan<strong>der</strong>setzen.Markantes Beispiel ist die bereits oben dargestellte Begrenzungvon Kauf und Handel mit Eigentum an Grund und Boden, die dasSubsistenzrecht garantieren kann (Lev 25,8-24). 410 AuchDeuterojesaja spricht in einer metaphorischen Sprache von demGrundrecht auf Existenz. “Auf ihr Durstigen, kommt alle zum Wasser!Auch wer kein Geld hat, soll kommen. Kauft Getreide und eßt, kommtund kauft ohne Geld, kauft Wein und Milch ohne Bezahlung” (Jes55,1; vgl. auch Vv 2-5). Deuterojesajas Formulierungen sind wi<strong>der</strong>sprüchlich,wenn er davon spricht, Getreide einerseits zu kaufen undes an<strong>der</strong>erseits auch ohne Geld und Bezahlung zu kaufen. <strong>Die</strong>se wi<strong>der</strong>sprüchlicheFormulierung verdeutlicht, daß das Recht auf Lebenund Existenz nicht ausschließlich an Geld und Kaufkraft im Rahmeneiner Marktökonomie gebunden werden darf. Schwächere Marktteilnehmersollen nicht von <strong>der</strong> Befriedigung ihrer Bedürfnisse ausgeschlossenwerden, wenn sie kein Geld haben. Das Recht auf Subsistenzdarf nicht an das “monetäre” Kaufen gebunden sein.Deuterojesaja formuliert kein Wirtschaftsprogramm. Doch er will in einemGegenbild zu gegenwärtigen Zwangsverhältnissen Vorstellungeneines befreiten Lebens darlegen. Wenn die Marktökonomie das Lebenall <strong>der</strong>er gefährdet, die keine mit Geld ausgestattete Nachfrage einbringenkönnen, dann hat das Lebens- und Existenzrecht Vorrang vor<strong>der</strong> Ökonomie des Marktes. Jesus reiht sich in diese Traditionslinie<strong>der</strong> Hebräischen Bibel ein, wenn er es eine falsche Sorge nennt, zufragen, was zu essen o<strong>der</strong> was zu trinken sei (Lk 12,22f). <strong>Die</strong>se Fragensind Indizien einer ökonomischen Grundhaltung, die von <strong>der</strong>Knappheit <strong>der</strong> Güter, und nicht von <strong>der</strong> Fülle <strong>der</strong> Schöpfung ausgeht.“<strong>Die</strong> Vögel des Himmels, die keinen Speicher haben” (Lk 12,24) und“die Lilien des Feld, die nicht arbeiten” (Lk 12,27) stehen für eine Ökonomiedes Vertrauens auf die ausreichenden Güter <strong>der</strong> SchöpfungGottes und sind nicht ein Beweis für ökonomische Naivität. 411 <strong>Die</strong>410 Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 5.1.2 und 9.3.2.411Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.4.1 ; vgl. dazu F. <strong>Segbers</strong>, “Ich will größereScheunen bauen.” (Lk 12,18) Genug durch Gerechtigkeit und die Sorge um Gerechtigkeit, in:K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 105-114;151


“Bildrede vom großen Weltgericht” verdeutlicht auf diesem Hintergrund,welche ökonomischen Kriterien gelten: Es sind die Grundbedürfnissewie Essen, Trinken, Wohnung, Asylschutz (Mt 25,31-46).Dem Grundsatz des Existenz- und Lebensrechtes wird vor den Gesetzen<strong>der</strong> Ökonomie des Marktes Vorrang eingeräumt. Durch diese Prioritätensetzungwird nicht die Ökonomie suspendiert, son<strong>der</strong>n vielmehrdas Leitbild einer lebensdienlichen Ökonomie entwickelt. 4122. Wie sollen die Güter produziert werden?<strong>Die</strong> Frage nach dem Wie <strong>der</strong> Güterproduktion thematisiert die Elementarfragenach dem Sinnzusammenhang und dem Eigenwert des Lebens.Wenn nach dem Sinn gefragt wird, kommt eine Perspektive <strong>der</strong>Humanität zur Sprache, die in <strong>der</strong> Lage ist, Ansprüche des ökonomischenSystems zu begrenzen. Aus <strong>der</strong> Perspektive einer Frage nachdem Sinn und dem guten Lebens wird <strong>der</strong> Ökonomie die Aufgabe zugeteilt,Mittel im <strong>Die</strong>nst höherer Lebensziele zu sein. Wie wollen wir lebenund arbeiten? Ist die Art und Weise, in <strong>der</strong> wir die Dinge des Lebensbesorgen und erstellen, den Ansprüchen an ein gutes und einesgerechtes Leben zuträglich? Das Arbeits- und Sozialrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>enthält Vorstellungen eines guten Lebens und gerechten Zusammenlebens.Um diese durchsetzen zu können, erinnert sie an das Negativbild<strong>der</strong> ägyptischen Verhältnisse. Sie will einen Rückfall in diese ägyptischenVerhältnisse <strong>der</strong> Sklavenarbeit verhin<strong>der</strong>n. Deshalb behält IsraelErfahrungen <strong>der</strong> Unterdrückung im Gedächtnis und begründet diesozialen Schutzbestimmungen mit <strong>der</strong> Formel: “Denk daran: als duSklave warst in Ägypten ...” (Dtn 24,28 u.ö.). Einseitig wird aus <strong>der</strong> Erinnerungan die ägyptischen Verhältnisse Partei genommen für dieSchwächeren und eine Rechtsordnung gesetzt, die die Armen undSchwachen schützt und <strong>der</strong> Ausbeutung <strong>der</strong> menschlichen ArbeitskraftGrenzen setzt. Arbeit und Humanität werden nicht auseinan<strong>der</strong>gerissen.413 Arbeit wird nicht abgewertet; sie ist keine von Göttern auf dieMenschen abgewälzte Tätigkeit. Der Mensch ist Ebenbild eines Gottes,<strong>der</strong> auch arbeitet. Arbeit dient nicht nur <strong>der</strong> Selbsterhaltung, son<strong>der</strong>nist immer auch ein soziales Verhältnis. <strong>Die</strong> politische Ökonomie<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> setzt diese Herrschaftsstruktur teilweise außer Kraft. <strong>Die</strong>Hausgenossen haben keinen an<strong>der</strong>en Herrn als den Hausvater, denÖkonomen Gott. Der Sabbat unterbricht für Herrn, Knecht und Viehund auch den Fremden die Arbeit. <strong>Die</strong> hierarchische Ordnung <strong>der</strong> Arauch:F. <strong>Segbers</strong>, “... und alle aßen und wurden satt” (Mt 14,20). Meditation zu einer biblischenÖkonomie des Genug - o<strong>der</strong> : Teilen macht satt, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong>, “ ... so lernen dieVölker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 97 - 105.412 Weitere Ausführungen unten in Abschnitt 9.4.1.413 Weitere Ausführungen oben Abschnitt 5.1.2 und 5.1.2.152


eit ist am Sabbat real und periodisch erfahrbar aufgehoben (Dtn 5,6;Ex 20,10). <strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> fällt eine klare Wertentscheidung:<strong>Die</strong> humanen Ansprüche auf ein gutes Leben haben Vorrang gegenüberden Ansprüchen des ökonomischen Systems, wie es in dem Bild<strong>der</strong> ägyptischen Verhältnisse zur Sprache kommt.<strong>Die</strong> Metapher des Haushalts versteht alle Geschöpfe als Bewohner<strong>der</strong> Schöpfung Gottes. <strong>Die</strong> sozialen Schutzordnungen <strong>der</strong> <strong>Hausordnung</strong>wollen die Lebensmöglichkeiten für alle schützen. Wirtschaftenist Teil eines sorgsamen Umgangs mit den Gütern, die Gott den Hausbewohnernanvertraut hat. So hat <strong>der</strong> Sabbat eine soziale Dimension,wenn er Arbeit unterbricht, und eine ökologische, wenn durch dieseUnterbrechung <strong>der</strong> Arbeit die Schöpfung ihre Regenerationsfähigkeitwie<strong>der</strong>gewinnen kann (Ackerbrache im Sabbatjahr: Ex 23,10ff.; Lev25,1ff). 414 Ökonomie und Ökologie sind zwei Aspekte desselben Auftrages,verantwortliche Haushalter im Haushalt Gottes zu sein.3. Für wen soll produziert werden?Leitlinie <strong>der</strong> politischen Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ist jener Maßstab für eingerechtes Zusammenleben, wie er in <strong>der</strong> Mahnung zum Ausdruckkommt: “Doch eigentlich sollte es bei dir gar keine Armen geben” (Dtn15,4). <strong>Die</strong> Armen sollen deshalb zu ihrem Recht kommen. Das Herzbiblischer Ethik ist die Option für die Armen, die sich gegen den Ausschlußvon Menschen aus <strong>der</strong> Gesellschaft wendet und für eine gesamtgesellschaftlicheIntegration auspricht. Im Haushalt soll die ökonomischeLogik des Teilens und <strong>der</strong> Solidarität gelten. Ökonomie nachden Vorstellungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> muß sich gegenüber den Armen rechtfertigen.Legitimiert ist diese Ökonomie erst dadurch, daß die Armen zu ihremRecht kommen. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> enthält deshalb Institutionen <strong>der</strong> Gerechtigkeit,die periodisch zu einem Ausgleich zwischen Arm undReich beitragen wollen: Brachjahr (Ex 23,10ff.; Lev 25,1ff.), Sabbatjahrzum Schuldenerlaß (Dtn 15,1-11), Zinsverbot (Ex 22,24; Dtn 23,20f.;Lev 25,35ff.), Jobeljahr (Lev 25,8-55). 415 In Gottes <strong>Tora</strong>-Haushalt kanndie Akkumulation von Reichtum angesichts <strong>der</strong> Armen nicht gerechtfertigtwerden, die von dem ausgeschlossen werden, was ihnen Lebenund Zukunft gibt. Man darf an<strong>der</strong>en nicht vorenthalten, was sie brauchen.Ökonomie verstanden als “Haushalten” ist dann eine Fürsorgefür Leben und Wohlergehen aller Mitbewohner des Haushaltes, diebeson<strong>der</strong>s auf die Armen achtet. <strong>Die</strong>se Aufgabe führt <strong>der</strong> Menschtreuhän<strong>der</strong>isch aus; er vertritt dabei den Hausherrn, nämlich Gott. Im414 Weitere Ausführungen unten Abschnitt 6.1.2.2.1.415 Weitere Ausführungen unten Abschnitt 6.1.1: Sabbat: Abschnitt 6.1.2.1; Sabbatjahr als Brachjahr:Abschnitt 6.1.2.2.1; Sabbatjahr als Erlaßjahr: Abschnitt 6.1.2.2.2, Jobeljahr: Abschnitt6.1.2.3 und 8.6.2.153


Haus soll Gerechtigkeit herrschen, das heißt ein “gemeinschaftsgemäßesVerhalten” 416 aller Hausbewohner. Wirtschaftsethisch dringt die<strong>Tora</strong> auf einen Vorrang <strong>der</strong> humanen Ansprüche an ein gerechtes Zusammenlebengegenüber den Ansprüchen und Zwängen <strong>der</strong> Ökonomie.Zusammenfassend läßt sich also sagen: Das Wirtschafts-, SozialundArbeitsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> läßt sich als eine ethisch gehaltvolle Antwortauf einen ökonomischen Transformationsprozeß verstehen, <strong>der</strong> diezentralen ethischen Grundlagen des Zusammenlebens in Frage stellte.<strong>Die</strong> Propheten begründen eine Kultur des Erinnerns, die die altenWerte <strong>der</strong> Solidarität und Gerechtigkeit auch unter neuen gesellschaftlichenund ökonomischen Verhältnissen lebendig hält und sich in denWeisungen und Haushaltsordnungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> nie<strong>der</strong>schlägt. In <strong>der</strong><strong>Tora</strong> selber zeichnet sich ein kontinuierlicher innerbiblischer Rezeptionsvorgangab, <strong>der</strong> das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>jeweils neuen Verhältnissen anpaßt und sich dabei angesichts <strong>der</strong>Bedrohungen <strong>der</strong> Gegenwart an die Vergangenheit erinnert. GesellschaftlicheFehlentwicklungen werden durch Erinnerung an älteresWissen erkannt und korrigiert. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> ist in kritischer Auseinan<strong>der</strong>setzungmit marktwirtschaftlichen Prozessen entstanden und will zerstörerischenökonomischen Tendenzen Wi<strong>der</strong>stand entgegensetzen,indem sie sich an <strong>der</strong> Solidarität <strong>der</strong> alten Gesellschaft orientiert. <strong>Die</strong><strong>Tora</strong> entwickelt eine sozial und ökologisch durchdachte Alternative zujener Ökonomie, die Aristoteles als Kapitalerwerbsökonomie charakterisiert.416K. Koch, Art. sdq = gemeinschaftstreu/heilvoll sein, in: THAT, Bd.II., 3. durchgeseh. Aufl.München , Zürich 1984, Sp.515; vgl. auch <strong>der</strong>s., Wesen und Ursprung <strong>der</strong> “Gemeinschaftstreue”im Israel <strong>der</strong> Königszeit, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 6 (1961) Heft 2, 72-90;vgl. auch unten Abschnitt 3.3.1.154


5. OPTION FÜR DIE ARMEN:BEZUGSPUNKT EINER BIBLISCH BEGRÜNDETENWIRTSCHAFTSETHIK5.1 Arbeiten - biblische Einsichten“Wie <strong>der</strong> Stand <strong>der</strong> Forschung erweist, bereitet die Erfassung des alttestamentlichenMaterials zum Thema Arbeit nur geringe Schwierigkeiten .(...) „Arbeit‟ ist innerhalb des AT kein beson<strong>der</strong>s wichtiges Thema.” 417<strong>Die</strong>se Aussage über “Arbeit” in <strong>der</strong> Theologischen Realenzyklopädiezeigt, wie wenig theologisch und sozialethisch registriert wird, daß dieArbeit und das Leiden an unmenschlichen Arbeitsverhältnissen zu einemGrunddatum <strong>der</strong> menschlichen Existenz gehören. Was biblisch über Arbeitgesagt wird, nimmt seinen Ausgang im Exodus, dem “Herzstück <strong>der</strong>hebräischen Bibel” 418 . Der Exodus muß als Befreiung aus dem Haus <strong>der</strong>Knechtschaft, dem Arbeitshaus gelesen werden (so wörtlich Ex 20,2).<strong>Die</strong> Kritik an unwürdigen Arbeitsverhältnissen gibt den Anstoß zum Exodus.Zwischen Arbeit, Exodus und Befreiung aus unwürdiger Arbeit bestehtein enger Zusammenhang, <strong>der</strong> theologisch bedeutsam ist. So läßtsich mit guten Gründen sagen, daß in <strong>der</strong> biblischen Tradition Arbeit einezentrale theologische Stelle einnimmt. Mit diesem Grunddatum biblischerTheologie wird Entscheidendes über Arbeit gesagt: Das Exodusereignisrückt Arbeit theologisch in den Mittelpunkt und begründet eine Würdetradition<strong>der</strong> menschlichen Arbeit. Auf diese Tradition hat Israel sich immerdurch die wechselvolle Geschichte hindurch gegen die real erfahreneWürdelosigkeit berufen können. Der Exodus wurde zu einer Quelle <strong>der</strong>ethischen Inspiration <strong>der</strong> Arbeitswelt.417 H.D. Preuß, Art. Arbeit, I., in: TRE 1978, Bd. 3, 613.418 So D. Tracy, Der Exodus. Eine theologische Überlegung, in: Concilium 23 (1987) 77.155


Das biblische Arbeitsverständnis läßt sich von dieser Grundvoraussetzungher in drei Aspekten darstellen: 4195.1.1 Arbeit und Zwangsarbeit - eine notwendige DifferenzierungDer sich im Exodusgeschehen offenbarende Gott ist <strong>der</strong> Gott <strong>der</strong> “Hebräer”(Ex 3,18; 5,3; 7,16; 9, 1.13; 10,3). Solange die Israeliten in Ägyptensind, werden sie auffällig häufig als “Hebräer” bezeichnet (Ex 1,15f.19;2,6f.11.13).Viel spricht dafür, daß sich <strong>der</strong> Name “Hebräer” von demWort habiru ableitet, das auch in ägyptischen, akkadischen, sumerischenund ugaritischen Texten vorkommt. 420 Mit “Hebräer” werden aber mitwenigen Ausnahmen we<strong>der</strong> ein Volk noch eine Gruppe von Völkern,son<strong>der</strong>n werden Menschen unterschiedlicher Herkunft bezeichnet, dieaußerhalb <strong>der</strong> Gesellschaftsordnung stehen: “unstete Elemente min<strong>der</strong>enRechts und oft geringen wirtschaftlichen Vermögens, Outlaws <strong>der</strong>bronzezeitlichen Städte, die sich zu ihrem Schutz und zur Sicherheit ihresLebens in Abhängigkeitsverhältnisse begeben mußten (Arbeiter, Söldner)o<strong>der</strong> ein freies Leben als Räuber und Wegelagerer führten.” 421 <strong>Die</strong>habiru - Leute sind eine Außenseitergruppe am Rande <strong>der</strong> Gesellschaft.Sie haben ihre frühere soziale Stellung nicht zuletzt durch wirtschaftlicheEinflüsse verloren. 422 Rainer Albertz sieht in den habiru-Leuten “einewirtschaftlich angepaßte, aber sozial deklassierte und durch staatlicheMaßnahmen entsolidarisierte Großgruppe fremdländischer Fronarbeiter<strong>der</strong> ramesidischen ägyptischen Gesellschaft, auf die die Jahwereligionbei ihrer Entstehung bezogen ist.” 423Der Exodus spricht von <strong>der</strong> hohen technischen und kulturellen ZivilisationÄgyptens ausschließlich in ihren negativen Aspekten. <strong>Die</strong> ägyptischeZivilisation und Ökonomie basierte nach biblischem Bild auf Sklaven- undFronarbeit. 424 Israel geriet in diese Sklaven- und Fronarbeitsverhältnissein Ägypten (Ex 1,13b.14). Wichtig ist, eine Unterscheidung herauszuarbeiten,die die biblischen Texte durchzieht. Klar betont werden dieunterschiedlichen Bedingungen von Arbeit: Es gibt eine Tradition, die von419 W. Bienerts Ansatz, “<strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel” systematisch darzustellen, wird demgeschichtlichen Charakter wohl kaum gerecht. Damit schließe ich mich den Vorbehalten vonH.D. Preuß (Art. Arbeit, 613) an.420J. Thiel, <strong>Die</strong> soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, 2. durchgesehene und ergänzteAufl. Neukirchen-Vlyun 1985, 76.421H. Donner, Geschichte des Volkes Israel und seiner Nachbarn. Grundzüge (ATD Erg.-Reihe4/1) Göttingen 1984, 71.422 J. Thiel, <strong>Die</strong> soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, 76.423 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 76.424 N. Lohfink, “Macht euch die Erde untertan”? In: Orientierung 38 (1974) 140.156


<strong>der</strong> Mühsal <strong>der</strong> Arbeit (Gen 3,17f; Ex 1,14; 2,23-25; 3,7f; 5,1ff; 6,6f.), undeine an<strong>der</strong>e, die von <strong>der</strong> Würde <strong>der</strong> Arbeit spricht (z.B. Mi 4,4; Jes 5,1ff,Ps 127,2 ). In <strong>der</strong> Priesterschrift im Pentateuch werden zwei Arbeitserfahrungengegenübergestellt: Unwürdige Arbeitsverhältnisse und die bedrückendeLage <strong>der</strong> Zwangsarbeit im Sklavenhaus Ägypten werden geschil<strong>der</strong>t(Ex 1,7-14; 2,23-25; 6,2-9), während <strong>der</strong> Bau des Heiligtums(Ex 35,4-10.20-29; 36,2-6; 39,32.43) mit entgegengesetzten Begriffenerzählt wird. Norbert Lohfink sieht in <strong>der</strong> Gegenüberstellung <strong>der</strong> beidenArbeitsverhältnisse eine bewußte Komposition. 425 <strong>Die</strong> differenzierten Anweisungenzum Bau des Heiligtums zeigen ein an<strong>der</strong>es Verhältnis zurArbeit, die sich in Gottes Werk einfügt. Im Detail wird hingewiesen aufdas, was zu tun ist (Ex 25-31). Der Bau des Heiligtums wird als eineFortsetzung des ersten Schöpfungswerks <strong>der</strong> sechs Tage durch denMenschen verstanden. <strong>Die</strong> Herrlichkeit Gottes bedeckte sechs Tage langden Berg, bevor dann am siebenten Tag die Anweisung zur Arbeit gegebenwird (Ex 24,16). Das Land, in dem Milch und Honig fließen, stelltden Gegensatz zu ägyptischen Arbeitsverhältnissen dar. Arbeit in Freiheitund Würde beim Bau des Heiligtums bildet die Gegenerfahrung zur Arbeitswelt<strong>der</strong> ägyptischen Sklaven. “Im Gegensatz zur Weltumgestaltungin Ägypten, die auf dem Prinzip des Sklaventums basierte, herrscht in Israeldas Prinzip <strong>der</strong> Freiwilligkeit.” 426 In den Texten, die vom Bau desHeiligtums erzählen, häufen sich Wörter, die von Freiwilligkeit und <strong>der</strong>Bereitschaft zur Arbeit sprechen. Fähigkeiten werden gezeigt und sindnötig, die bei <strong>der</strong> Sklavenarbeit im Arbeitssystem Ägyptens nicht gefragtwaren. Begabungen und Kreativität kommen zum Zug (Ex35,5.21.25.26.29). <strong>Die</strong>se Gegenüberstellung zeigt, daß Arbeit nicht mitFron- o<strong>der</strong> Sklavenarbeit und Mühe gleichgesetzt werden darf. Sie kannauch eine Tätigkeit sein, in <strong>der</strong> <strong>der</strong> Mensch sich als schöpferisches Wesenerfährt. <strong>Die</strong> “Sinaiperikope zeigt, daß <strong>der</strong> Mensch zwar diese Weltverwandeln soll, aber in ein Abbild eines himmlischen, mit dem Werk <strong>der</strong>ersten sechs Tage in Harmonie stehenden Modells. Durch diese Verwandlungsoll es möglich werden, daß Gott unter den Menschenwohnt.” 427 Soweit Technik und Arbeit diesen humanen und auch ökologischenBedingungen genügen, setzten sie das Schöpfungswerk fort. 428Mit dem Exodus-Motiv geraten Arbeitsverhältnisse und Ökonomie indas Zentrum des biblischen Gottesverständnisses. In Form eines “geschichtlichenCredos” hat sich Israel an die Befreiung aus <strong>der</strong> bedrückendenZwangsarbeit in Ägypten erinnert (Dtn 26,5-8):425 Ebd. 141.426 Ebd. 140.427 Ebd. 141.428 N. Lohfink, <strong>Die</strong> Priesterschrift und die Grenzen des Wachstums, in: StZ Heft7/1974, 436.157


Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. (...)<strong>Die</strong> Ägypter behandelten uns schlecht, machten uns rechtlos und legtenuns harte Fronarbeit auf. (...)Der Herr führte uns mit starker Hand. (...)Er brachte uns an diese Stätte und gab uns dieses Land, in dem Milch undHonig fließen.Und siehe, nun bringe ich hier die ersten Erträge von den Früchten desLandes, das du mir gegeben hast, Herr (Dtn 26,5b.6.8.9.10a).Das Credo schil<strong>der</strong>t, daß Gott das Schreien des Volkes in harterFronarbeit hörte und es in ein Land führte, in dem Milch und Honig fließen.429 Deshalb soll Israel auch zukünftig keinen Frondienst leisten(1Kön 4, 6; 5,27; 9, 15-19; 11,26-28; 12,4ff; vgl. Prov 12,24 - nur positivGen 49,14f.). 430 <strong>Die</strong> Exodustradition wird im heilsgeschichtlichen Credomit <strong>der</strong> Vätertradition verbunden. Beide Traditionen sind aber unmittelbarin die Arbeitsverhältnisse des Alten Israels eingebettet und aus ihnenentwickelt worden. <strong>Die</strong> “Produktionsweise” <strong>der</strong> Nomaden ist mit demVerweis auf den “heimatlosen Aramäer” (Dtn 26,5), einen Nomaden, angesprochen.Der Bezug auf Ägypten thematisiert die Sklavenarbeit (Dtn26,6). Gott hat Israel aus diesen Arbeits- und Produktionsverhältnissenherausgeführt und in menschenwürdigere Arbeitsverhältnisse in einLand, “in dem Milch und Honig fließen” (Dtn 26,9), hineingeführt. Humanitätin <strong>der</strong> Arbeit bildet hier die Folie <strong>der</strong> biblischen Rede von Gott.Der Dekalog begründet die Gebote mit dem Verweis auf “Gott, denHerrn, <strong>der</strong> dich aus Ägypten herausgeführt hat” (Dtn 5,6). Das Sabbatgebotbildet die Mitte des Dekalogs. Im Sabbatgebot wird die Erinnerungan die versklavende Arbeit zu einem Ruhegebot, das alle umfaßt: “Anihm darfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn, deine Tochter, dein Sklaveund deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und <strong>der</strong>Fremde, <strong>der</strong> in deinem Stadtbereich Wohnrecht hat. Dein Sklave und429 Der Biologe A. Hüttermann verweist auf einen Aspekt, <strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Rede von “Milch” und “Honig”kaum assoziiert wird. Gemeint ist nicht ein paradiesischer Zustand o<strong>der</strong> ein üppiges Kulturland,son<strong>der</strong>n ein verstepptes, aber als landwirtschaftliche Fläche nutzbares und wie<strong>der</strong>herstellbaresGebiet, das pflanzensoziologisch etwa <strong>der</strong> Macchie entspricht. <strong>Die</strong> “Milch” ist einProdukt <strong>der</strong> nomadischen Kleinviehhaltung, die ausschließlich auf unbebautem Land erfolgt.“Honig” wurde von Wildbienen gewonnen, die dort hauptsächlich in <strong>der</strong> Macchie vorkommen.Vgl. A. Hüttermann, <strong>Die</strong> ökologische Botschaft <strong>der</strong> Thora. <strong>Die</strong> mosaischen Gesetze aus <strong>der</strong>Sicht eines Biologen, in: Naturwissenschaften 80 (1993) 152. Nach Max Weber war Palästinafür Hirten ein eher unsicheres Land. Nur in guten Jahren war es ein Land, in dem Milch undHonig fließen, gemeint sei offenbar <strong>der</strong> Dattelhonig, vielleicht auch Feigenhonig, so M. Weber,Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd. III, 13.430 H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616.158


deine Sklavin sollen ausruhen wie du. Denk daran, daß du in ÄgyptenSklave warst” (Dtn 5,14.15a).Zweck des Sabbat ist das Ruhen <strong>der</strong> Arbeit aller. Der Sabbat ist ein Tag,an dem nicht gearbeitet wird. <strong>Die</strong>ser Grundzug wird in <strong>der</strong> Anwendungdes Sabbatgebotes auf geän<strong>der</strong>te gesellschaftliche und ökonomischeVerhältnisse und auf Einzelfälle durchgehalten. 431 <strong>Die</strong>se Ruhe hat eineklare soziale Schutzfunktion zugunsten <strong>der</strong> Sklaven und sogar <strong>der</strong> Arbeitstiere.Sie sollen zu ihrem Recht auf Ruhe kommen und vor grenzenloserAusnutzung o<strong>der</strong> Ausbeutung <strong>der</strong> Arbeitskraft geschützt werden.Das Arbeitsverbot bezieht sich nicht auf alle Arbeiten und Tätigkeiten,son<strong>der</strong>n gerade auf zweckdienliche und für die Sicherung <strong>der</strong> materiellenExistenz notwendige Arbeit.Arbeit ist nicht nur eine Grundtatsache menschlicher Selbsterhaltung,son<strong>der</strong>n immer auch ein soziales Verhältnis von zusammenwirkendenMenschen. <strong>Die</strong> horizontale Differenzierung von Arbeit im Rahmen <strong>der</strong>Arbeitsteilung wird durch eine vertikale Differenzierung ergänzt. <strong>Die</strong> Gesellschaftinsgesamt wird dadurch herrschaftlich zwischen Arbeitendenund Nichtarbeitenden strukturiert. 432 In <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> lassen sich Absichtenerkennen, die den Prozeß <strong>der</strong> herrschaftlichen Teilung <strong>der</strong> Gesellschaftunterbrechen wollen. Der Sabbat kann als ein wirksames, weil praktiziertesSymbol dieser permanenten Infragestellung <strong>der</strong> Herrschaft <strong>der</strong> Herrenüber die Knechte gesehen werden. Eingeführt wird <strong>der</strong> Dekalog mitdem Hinweis auf JHWH, <strong>der</strong> Israel aus <strong>der</strong> Knechtschaft befreit hat.Exodus und Sabbat stehen also in einer direkten Beziehung und sindSymbole <strong>der</strong> Freiheit. So schreibt Benno Jacob in seinem Genesis-Kommentar: “Der Sabbat ist ein Symbol <strong>der</strong> Freiheit, welche sich nochmehr als im Arbeiten und Schaffen in <strong>der</strong> souveränen, sich selbst Haltgebietenden Ruhe bekundet. <strong>Die</strong>se Freiheit hat außer Gott nur <strong>der</strong>Mensch, <strong>der</strong> nicht Sklave eines an<strong>der</strong>n ist. Darum wird <strong>der</strong> Sabbat erstdem aus ägyptischer Sklaverei befreiten Israel als ein von <strong>der</strong> Schöpfungher bereitliegendes Geschenk (Ex 16,29) verliehen.” 433 Der Leitgedankedes Sabbat ist das befreite Leben ohne Fremdbestimmung. In <strong>der</strong> Ruhedes Sabbattages wird das Gegenstück zur Sklavenarbeit gelebt. HansWalter Wolff nennt wegen dieses Bezugs auf die Arbeitsverhältnisse denSabbat sogar einen “regelmäßigen Streik” 434 . Der Sabbat gehört in dieDialektik von Herr und Knecht. Aus <strong>der</strong> in Erinnerung gehaltenen Sklavereiin Ägypten wird <strong>der</strong> Sabbat zu einem Tag, an dem die Herrschaftsverhältnissezwischen Herr und Knecht ausgesetzt und aufgehoben werden.“Da führt ihm (dem Herrn. F.S.) <strong>der</strong> Sabbat vor Augen, daß er auch431 R. Kessler, Das Sabbatgebot, 99.432 W. Hofmann, Grundelemente <strong>der</strong> Wirtschaftsgesellschaft, Reinbek 1969, 28.433 B. Jacob, Das erste Buch <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, Berlin 1934, 67.434 H.W. Wolff, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973, 201.159


nur Mensch ist wie <strong>der</strong> Knecht und <strong>der</strong> Knecht von Gottes Gnadengleichfalls ein geborener Freiherr.” 435 Im Sabbat scheint deshalb eine Alternativezur realen Arbeitserfahrung auf. <strong>Die</strong> herrschaftlich strukturiertenArbeitsverhältnisse werden in Frage gestellt. Im Konflikt zwischen demInteressen des Herrn an einer möglichst langen Nutzung <strong>der</strong> Arbeitskraftund dem Interesse des Knechtes auf humane Arbeit wird eine Entscheidungzugunsten des Knechtes gefällt. <strong>Die</strong> Erfahrung von Abhängigkeitam Werktag wird aufgehoben durch die Erfahrung von Gleichheit undGleichberechtigung am Sabbattag. Zugleich aber eröffnet <strong>der</strong> Sabbat einenalternativen Erfahrungsraum: Arbeit soll nicht unter ägyptischen Verhältnissengetan werden, sie soll also von Unterdrückung und Abhängigkeitfrei sein. Von “ägyptischen Verhältnissen” befreit zu arbeiten, ist eineArbeit unter Gleichen und Freien. Ansprechpartner des Dekalogs ist <strong>der</strong>frei wirtschaftende israelitische Bauer (Dtn 5,12.15). Der mit “Du” Angeredetewird in seiner Verantwortung angesprochen, dafür Sorge zu tragen,daß ägyptische Verhältnisse nicht einreißen und Verhältnisse freierArbeit von Gleichen sich durchsetzen.<strong>Die</strong> Bibel spricht we<strong>der</strong> abstrakt von <strong>der</strong> Arbeit des Menschen, nochsucht sie eine Wesensbestimmung o<strong>der</strong> eine Lehre <strong>der</strong> Arbeit zu formulieren.Man arbeitet vom Morgen bis zum Abend, heißt es nüchtern. “Nungeht <strong>der</strong> Mensch hinaus an sein Tagwerk, an seine Arbeit bis zumAbend” (Ps 104,23; auch Ps 128,2; Prov 31,10ff. u.ö.). Arbeit ist dasganz normale Los eines Menschen und nicht nur das des Sklaven. 436 EineAbwertung körperlicher Arbeit gegenüber geistiger ist dem Alten Testamentim Unterschied zur griechischen Antike fremd. We<strong>der</strong> im Griechischennoch im Lateinischen gab es ein Wort, mit dem man die allgemeineBedeutung von Arbeit als einer anerkannten sozialen Funktion ausdrückenkonnte. 437<strong>Die</strong> biblische Perspektive hat nicht die Entbindung vom Zwang <strong>der</strong> Arbeitim Blick, son<strong>der</strong>n die Entbindung <strong>der</strong> Arbeit vom Zwang. Humanitätin <strong>der</strong> Arbeit und nicht eine Humanität ohne Arbeit steht vor Augen. IdealesMenschsein ist nicht ein Leben ohne Arbeit. Auch im Paradies wurdegearbeitet. Es gibt deshalb eine biblische Perspektive für Befreiung undHumanität in <strong>der</strong> Arbeit. <strong>Die</strong> Bibel kennt Bil<strong>der</strong> des guten Lebens in <strong>der</strong>Arbeit und nicht bloß jenseits <strong>der</strong> Arbeit. <strong>Die</strong>se Bil<strong>der</strong> sprechen von einerUtopie attraktiver, nicht entfremdeter Arbeit. “Was deine Hände erwarben,kannst du genießen, wohl dir, es wird dir gut ergehn” (Ps 128,2).Je<strong>der</strong>mann möge in Frieden unter seinem Weinstock leben, war eineUtopie, die vor Augen stand. “An jenem Tag - Spruch des Herrn <strong>der</strong> Hee-435 B. Jacob, Das Buch Exodus, 575.436 H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616.437 So M.I. Finley, 91.160


e - werdet ihr einan<strong>der</strong> einladen unter Weinstock und Feigenbaum”(Sach 3,10; auch 1Kön 5,5). “Und es wird ein je<strong>der</strong> unter seinem Weinstockund unter seinem Feigenbaum sitzen, ohne daß mehr einer denan<strong>der</strong>en schreckt” (Mi 4,4). Daß die Arbeitenden über die Produkte ihrerArbeit selber verfügen können, ist eine biblische Vision. “Sie bauen nicht,damit ein an<strong>der</strong>er in ihrem Haus wohnt, und sie pflanzen nicht, damit einan<strong>der</strong>er die Früchte genießt (...), sie arbeiten nicht mehr vergebens” (Jes65,22.23). Auch wenn dieses Ideal nicht immer Wirklichkeit war, so entwickeltendiese Bil<strong>der</strong> doch eine utopische Kraft, die verhin<strong>der</strong>te, daßdas vor Augen stehende Ideal in sein Gegenteil verkehrt wurde.Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die Bibel nicht abstrakt über Arbeitspricht. Es gibt kreative, bereichernde Arbeit, und eine Arbeit, diemenschenunwürdig ist, weil sie den Arbeitenden ausbeutet und zur Plackereiwird. Mit dieser Arbeit gibt sich die biblische Überlieferung nichtzufrieden. Sie setzt gegen diese Arbeitsrealität visionäre Akzente, dieGerechtigkeit, Gleichheit und Gleichwertigkeit für alle artikulieren.5.1.2 Gottes Arbeit und des Menschen ArbeitFür eine an realen Arbeitsverhältnissen interessierte Wirtschaftsethik istes erhellend, das biblische Reden von Arbeit auf dem Hintergrund <strong>der</strong>realen Arbeit unter den Verhältnissen des Alten Israel zu lesen. Verglichenmit den Nachbarregionen in Mesopotamien o<strong>der</strong> am Nil ist das AlteIsrael ein eher armes Land gewesen. Mühselig mußte Ackerboden durchTerrassierungen geschaffen werden. Israel war arm an Bodenschätzen.Das Land galt für den Handel eher als ein Durchgangsland. Das Alte Israelwar eine Agrargesellschaft. <strong>Die</strong> Landwirtschaft im Rahmen einerMischökonomie von Ackerbau und Kleinviehzucht bot die Lebensgrundlage.<strong>Die</strong> vielen Textstellen, die von <strong>der</strong> Gefahr <strong>der</strong> Versteppungdes Landes sprechen, zeigen an, wie gefährdet diese Lebensgrundlagewar (Ijob 30,3; 38, 26; Jes 13,9; 33, 9; Jer 2,15, Ez 6,14 u.ö.). Immerwie<strong>der</strong> verweist die Bibel auf die Tatsache, daß kultiviertes Land durchkriegerische Verwüstungen, aber auch durch unsachgemäße Bewirtschaftungwie<strong>der</strong> zur Steppe und Wüste werden konnte. Der altisraelitischeBauer bearbeitete den Boden durchaus in dem Bewußtsein, daß<strong>der</strong> Natur die eigene Lebensgrundlage durch harte Arbeit abgerungenwerden mußte. Im Kampf gegen die Natur, gegen Versteppung und Gefahrendurch wilde Tiere, wie Bären und Löwen, war <strong>der</strong> Mensch nichtnotwendig <strong>der</strong> Stärkere (1 Sam 17,36; Spr 17,12; Am 5,19 u.ö.). In denbeiden Erzählungen über die Erschaffung <strong>der</strong> Erde wird <strong>der</strong> Mensch inseinem Verhältnis zur Arbeit gesehen (Gen 1,1-4a; Gen 2,4bff.). JürgenEbach hat deshalb recht, wenn er sagt: “Der Mensch tritt im Alten Tes-161


tament von Anfang an als arbeiten<strong>der</strong> bzw. zur Arbeit bestimmterMensch auf.” 438Im Bericht des Jahwisten heißt es von <strong>der</strong> Arbeit des Menschen: “UndGott (...) setzte ihn in den Garten Eden, daß er ihn bebaue und bewahre”(Gen 2,15). Der Jahwistische Schöpfungsbericht unterscheidet sich vompriesterschrift-lichen durch ein an<strong>der</strong>es Verständnis von Arbeit. DerMensch wird in den reichen Gottesgarten, den Garten Eden, gesetzt,damit er dort die als Ideal vorschwebende Arbeit eines Gärtners an wasserreichemOrt versieht. Es ist ein Kulturland, das <strong>der</strong> Bebauung undBewahrung bedarf, aber auch dem Können und <strong>der</strong> Arbeit des Menschenanvertraut ist. Das Paradies wird nicht als Schlaraffenland o<strong>der</strong> als Ort<strong>der</strong> Untätigkeit gemalt. Mit den beiden Verben “bebauen und bewahren”steht dem Erzähler die Arbeit des palästinensischen Bauern vor Augen.<strong>Die</strong> Arbeit gehört zum Menschsein, weil <strong>der</strong> zugewiesene Lebensraumdiese Arbeit erfor<strong>der</strong>t. 439 Von Arbeit spricht <strong>der</strong> Erzähler im Blick auf dennoch nicht geschaffenen Menschen (Gen 2,5), auf den Menschen imGarten Eden (Gen 2, 15) und im Blick auf den aus dem Garten vertriebenenMenschen (Gen 3,23, dazu 4,2.12). <strong>Die</strong> Beson<strong>der</strong>heit dieses Arbeitensbesteht in <strong>der</strong> Komplementarität von Bebauen und Bewahren, in<strong>der</strong> “Hege” und “Pflege”. Arbeit wird nicht schlechthin zur Strafe, son<strong>der</strong>nnur ihre Mühsal ist eine Folge <strong>der</strong> Sünde. 440 Nach <strong>der</strong> Vertreibung ausdem Paradies wird diese Komplementarität von Bebauen und Bewahrenauseinan<strong>der</strong>gerissen. Arbeit außerhalb des Gottesgartens wird unterMühe und Schweiß zu geschehen haben und dann auch noch Dornenund Disteln hervorbringen. Aus dem ausgewogenen Verhältnis im GartenEden wurde das bloße Arbeiten in Mühe (Gen 4,2.12.17ff.;3,23). Nach<strong>der</strong> Vertreibung aus dem Paradies ist dieses Reden über Arbeit “eineutopische Erinnerung” 441 , die als Kritik <strong>der</strong> jeweils erfahrenen Arbeitswirklichkeitpraktisch werden will.An<strong>der</strong>s als in sumerischen o<strong>der</strong> babylonischen Mythen von <strong>der</strong> Welterschaffungstellen die biblischen Erzähler in <strong>der</strong> Priesterschrift die Erschaffung<strong>der</strong> Welt nicht als Ergebnis eines Götterkampfes dar, son<strong>der</strong>nals das Werk des Schöpfergottes, <strong>der</strong> als einer geschil<strong>der</strong>t wird, <strong>der</strong> arbeitet.442 Während in sumerisch-babylonischen Schöpfungserzählungen<strong>der</strong> Mensch erschaffen ist, um das Joch <strong>der</strong> Götter zu tragen, zielt diebiblische Schil<strong>der</strong>ung nicht auf ein Göttergeschehen, son<strong>der</strong>n auf den438 J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, in: <strong>der</strong>s., Ursprung und Ziel. ErinnerteZukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen - Reflexionen - Geschichten, Neukirchen- Vluyn 1986, 91.439 C. Westermann, Genesis, Kap. 1-11, BK, Bd.1/1, 3. Aufl. Neukirchen-Vluyn 1983, 299-302.440 H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615.441 J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 93 - 98.442 C. Westermann, Genesis, 50ff.162


Umgang mit <strong>der</strong> Erde. <strong>Die</strong> altorientalischen Mythen erzählen von Göttern,die den Menschen schufen: Anstatt <strong>der</strong> Götter sollten diese Menschenarbeiten. In sumerisch-akkadischen Mythen wie auch im Epos Enumaeliswerden die Menschen überhaupt bloß zu dem Zweck geschaffen, dieArbeit zu tun, die den Göttern anfangs auferlegt war. <strong>Die</strong> niedrigen Götterstreiken gegen die Arbeitslast. Der Ausweg ist die Erschaffung <strong>der</strong> Menschen.<strong>Die</strong> Göttin Mami kündigt nach <strong>der</strong> Erschaffung <strong>der</strong> Menschen dennie<strong>der</strong>en Göttern an:Eure schwere Zwangsarbeit schaffte ich ab,euren Tragkorb lud ich den Menschen auf;ihr habt das Geschrei auf die Menschheit abgeschüttelt;ich löste die Zwangsarbeit, erwirkte die Lastenbefreiung. 443Hier werden Menschsein und Arbeit ineins gesetzt. Wenn Menschenarbeiten, dann dienen sie den Göttern, indem sie jene Arbeit tun, die eigentlichdie Götter tun sollten. Gegen diese Mythen erzählt die Bibel voneinem Gott, <strong>der</strong> selber arbeitet und den Kosmos schafft. Gott arbeitet,und <strong>der</strong> Mensch ist sein Ebenbild (Gen 1,1- 2,4a). Der Mensch arbeitetnach dem Schöpfungsbericht <strong>der</strong> Bibel nicht für JHWH o<strong>der</strong> an StelleJHWHs, son<strong>der</strong>n für sich selbst. 444 <strong>Die</strong> sumerischen und babylonischenErzählungen über die Menschenerschaffung zeigen eine konstitutiveVerbindung zwischen Arbeit und Menschsein. Nach den alttestamentlichenTexten arbeitet nicht <strong>der</strong> Mensch für die Götter, son<strong>der</strong>n Gottselber arbeitet und erschafft eine Welt für die Menschen. In dieser für ihnerschaffenen Welt soll <strong>der</strong> Mensch arbeiten. Arbeit ist we<strong>der</strong> Fluch nochSelbstzweck; sie steht vielmehr unter Gottes Segen (Gen 1,28, auch Gen8,22), <strong>der</strong> eine Voraussetzung allen positiven Arbeitsresultates ist (Lev25,20f; Dtn 15,10; 16,15; 28,1-8; 30,9; Ps 65,10ff; 127,1f; Hi 1,10; Prov10,22; 14,23; Koh 3,13, Ps 90,17). Arbeit wird dennoch nüchtern alsnotwendig für den Erwerb des Lebensunterhaltes (Gen 1, 29; 2,15; Ps128, 2; Prov 14, 23; 16, 26) und als <strong>Die</strong>nst am an<strong>der</strong>en Menschen angesehen,da sie <strong>der</strong> Bedarfsdeckung <strong>der</strong> Gemeinschaft wie auch des Einzelnendient. Arbeit steht in einem Zusammenhang von Ertrag, Solidaritätund Segen (vgl. dazu Dtn 14,29). 445Nach <strong>der</strong> Veröffentlichung <strong>der</strong> Studie Grenzen des Wachstums durchden Club of Rome fand in <strong>der</strong> Exegese eine breite Debatte darüber statt,wie die Beauftragung zur Herrschaft nach Gen 1,26-30 zu verstehen sei.443 WeitereTextbelege aus den altorientalischen Mythologien ebd. 301f.444 H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615.445 J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 98f.; auch H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616;das genaue Verhältnis von Gesetzesbefolgung und göttlichem Segen ist exegetisch nicht ausreichendgeklärt, so K. Koch, Art. Gesetz I., 47.163


Auch wenn <strong>der</strong> bisweilen eher verteidigende Argumentationsstil nichtübersehen werden soll, führte die Debatte doch zu einer neuen Lesart<strong>der</strong> Schöpfungsgeschichte. <strong>Die</strong> Interpretation von Gen 1, 26ff. wurdedeutlich im Rahmen des literarischen Kontextes gelesen: <strong>Die</strong> Schöpfungsgeschichtemit dem Auftrag an den Menschen zu herrschen wurdemit ihrem Zielpunkt <strong>der</strong> Heiligung des siebten Tages und <strong>der</strong> Ruhe Gottesgelesen (Gen 1,26; 2,2f.). Relativiert wurde dieser Auftrag zum Herrschenaber auch noch durch zwei weitere Bezüge: Gen 1,26ff wurde inRelation zum jahwistischen Schöpfungsbericht gesetzt (Gen 2,15); Gen1,26ff ist nur ein Schöpfungsbericht neben an<strong>der</strong>en biblischen Aussagenüber die Stellung des Menschen in <strong>der</strong> Schöpfung (vgl. Ps 104; Ijob 38).Zum an<strong>der</strong>en steht Gen 1,26ff. nicht nur in einem Gegensatz zu an<strong>der</strong>enaltorientalischen Schöpfungserzählungen, son<strong>der</strong>n ist selber auch einaltorientalischer Text. <strong>Die</strong> Bil<strong>der</strong> entstammen dem Kontext des Alten Orients.<strong>Die</strong> priesterschriftliche Schöpfungserzählung geht mit dem Auftragdes Menschen zur Arbeit über die jahwistische hinaus, insofern sie diesesherrschaftliche Tun des Menschen im Hebräischen mit den Schlüsselverbenkbs und rdh bezeichnen, was soviel heißt wie “Herrschen, Unterjochen,Nie<strong>der</strong>treten” (Gen 1, 26.28; vgl. Sir 17,1ff sowie Gen 9, 1-3). 446 Was wollen kbs in Gen 1,28 und rdh in Gen 1, 26.28 besagen? <strong>Die</strong>Begriffe bezeichnen einen Vorgang, <strong>der</strong> mit Unterwerfen zu tun hat: Keltertreten (Joel 4,13), Völker unterwerfen (Jes 14,6), die Herrschaft desnach Gottes Abbild geschaffenen Menschen in <strong>der</strong> Schöpfung (Ps 8,7).Beide Verben lassen erkennen, daß <strong>der</strong> Mensch als Herrscher eingesetztist. 447 Wie Gott bei <strong>der</strong> Schöpfung Ordnung in das Chaos brachte,soll auch Gottes Ebenbild handeln. <strong>Die</strong>se ordnende Aufgabe wird im Bild<strong>der</strong> altorientalischen Königsvorstellungen beschrieben. <strong>Die</strong> herrschaftlicheund Ordnung erzwingende Verfügungsgewalt, die mit <strong>der</strong> Königsvorstellungverbunden ist, hat immer mit Macht und Herrschaft zu tun. DenHerrscherrechten entsprechen aber auch Herrscherpflichten. <strong>Die</strong> Vorstellungvon “despotischem” Herrschen wird erst von unserer Gegenwartserfahrungher in die Diskussion hineingetragen. <strong>Die</strong> Annahme einerherrschaftlichen Machtausübung des Menschen gegenüber <strong>der</strong> Natur istabsurd angesichts <strong>der</strong> damaligen Situation <strong>der</strong> Gefährdung des Menschendurch eine Natur, die sehr wohl bedrohlich für den Menschen sein446 Norbert Lohfink versteht das hebr. kbs als einen Ausdruck, <strong>der</strong> meint: “die Hand auf etwas legen”.Mit Verweisen ausgeführt bei: N. Lohfink, “Macht euch die Erde untertan”? 138f. GegenC. Westermann versteht Wildberger kbs als eine Beauftragung des Menschen, als König überdie Schöpfung zu herrschen. <strong>Die</strong> Beauftragung des Menschen zur Herrschaft über die übrigeSchöpfung steht in einem ursprünglichen Zusammenhang mit <strong>der</strong> Erschaffung des Menschen.Vgl. H. Wildberger, Art. säläm = Abbild, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München ,Zürich 1984, Sp. 560.447 H. Wildberger, Art. säläm = Abbild, in: THAT, Bd. II., Sp. 560.164


konnte. Von daher kann <strong>der</strong> Menschen des Alten Orients seinen Lebenskampfnicht mit harmlosen, sanften Vokabeln beschreiben. <strong>Die</strong>Herrschaftsideologie darf deshalb nicht allein zu negativen Assoziationenverleiten. Herrscherrechte sind mit Herrscherpflichten untrennbar verbunden.<strong>Die</strong> Herrschaftsausübung <strong>der</strong> Natur gegenüber kann nicht darinbestehen, den Lebensraum zu zerstören. Claus Westermann verstehtden Auftrag eher undramatisch. Man könne jede Art von despotischerAusbeutung ausschließen. “Der Mensch würde seine „königliche‟ Stellungim Bereich des Lebendigen gerade verlieren, wären ihm die Tierenur noch Gegenstand <strong>der</strong> Nutzung o<strong>der</strong> gar <strong>der</strong> Ausbeutung.” 448 <strong>Die</strong>seInterpretation nimmt die wirkliche Situation des Bauern und Viehzüchtersnicht genügend in den Blick. “Sich untertan machen” meint nicht “nie<strong>der</strong>treten”im Sinne von Zerstörung, son<strong>der</strong>n beschreibt die Arbeit des Bauern,<strong>der</strong> “die Erde für Viehzucht und Siedlung nützen” 449 will. Bearbeitungdes Bodens und seine Nutzung für den Ackerbau ist also gemeint. Angesichts<strong>der</strong> Gefährdungen, in denen <strong>der</strong> altisraelitische Mensch sich realbefand, übte <strong>der</strong> Bauer und Viehzüchter immer eine Herrschaftsfunktionaus; eine Herrschaft allerdings, die <strong>der</strong> Sicherung des Lebensraumesund <strong>der</strong> eigenen Subsistenz diente.Gen 1,26ff. enthält ein herrschaftskritisches Potential und ist darin einutopischer Text. <strong>Die</strong> in <strong>der</strong> Schöpfung angelegte Idealordnung wi<strong>der</strong>spricht<strong>der</strong> real erlebten Wirklichkeit. Arbeit, die ausbeutet, steht im Wi<strong>der</strong>spruchzur Würde des Menschen. 450 Dem Menschen wird eine königlicheStellung und Würde zugesprochen: <strong>Die</strong>se Aussage enthält erstenseinen kritischen Maßstab gegenüber einer Arbeit, die unwürdig ist.Unwürdige Arbeit gerät in einen Wi<strong>der</strong>spruch zu Königswürde des Menschen.Nicht als Arbeitssklave, son<strong>der</strong>n als Mitarbeiter Gottes ist <strong>der</strong>Mensch geschaffen. 451 Zweitens spricht die Rede von <strong>der</strong> Königswürdedes Menschen die Verantwortung für solche Verhältnisse an, die <strong>der</strong>Würde des Menschen entsprechen.<strong>Die</strong> Herrschaft des Menschen bei <strong>der</strong> Bearbeitung des Bodens und bei<strong>der</strong> Viehzucht ist auf das Subsistenzrecht bezogen, aber kein Freibriefzur Ausplün<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Natur o<strong>der</strong> zur Herrschaft über an<strong>der</strong>e Men-448 C. Westermann, Genesis, 219f.449 K. Koch, Gestaltet die Erde, doch hegt das Leben! Einige Klarstellungen zum dominium terraein Gen 1, in: Wenn nicht jetzt, wann dann? Aufsätze für H.-J. Kraus zum 65. Geburtstag (hg.von H.-G. Geier u.a.) Neukirchen - Vluyn 1983, 28. N. Lohfink verweist darauf, daß Gen 1,28keineswegs einen vortechnischen Erfahrungshorizont hatte. <strong>Die</strong> Priesterschrift ist zu verstehenauf dem Hintergrund <strong>der</strong> Kenntnis <strong>der</strong> hochorganisierten Stadt- und Bewässerungskultur Babyloniensmit ihrer Zivilisations- und Kunsttradition. Vgl. dazu N. Lohfink, “Macht euch die Erdeuntertan”? 139f.450 C. Westermann, Genesis, 218ff.451 H.D. Preuß, Art. Arbeit, 615.165


schen. Mit dem <strong>der</strong> altorientalischen Königsvorstellung entnommenenBild ist ein Verantwortungsbegriff verbunden. Der Mensch wird auf seineVerantwortung angesprochen, die jedoch nicht subjektlos verstandenwerden darf. Es macht einen Unterschied, wer auf seine Verantwortunghin angesprochen wird: <strong>der</strong> israelitische Bauer, <strong>der</strong> den Boden bestellt,o<strong>der</strong> <strong>der</strong> König, <strong>der</strong> das Land durch Krieg verwüstet (Jes 16,8). Für einheutiges ökologisches Ethos problematisch ist <strong>der</strong> Anthropozentrismus,<strong>der</strong> die Mitgeschöpflichkeit aus den Augen verloren hat und die nichtmenschlicheNatur als Objekt menschlicher Herrschaft betrachtet.5.1.3 Arbeit und Ruhe - ein ganzheitliches VerständnisArbeit und Ruhe bezeichnen in <strong>der</strong> griechisch-römischen Antike Klassengegensätze.Volles Menschsein hat bereits <strong>der</strong> Handwerker nicht,und <strong>der</strong> Sklave gilt als Sache. Ruhe statt “Arbeit” ist das griechischrömischeIdeal. <strong>Die</strong> körperliche Arbeit, aber auch Handel und Geschäftetreibenwerden neg-otium, genannt, während die Muße o<strong>der</strong> Ruhe =otium als Urzustand o<strong>der</strong> Ausgangspunkt angesehen wird: Arbeit ist dieNegation <strong>der</strong> Muße. Für die Arbeit waren Sklaven o<strong>der</strong> Handwerker zuständig,die gering geschätzt o<strong>der</strong> denen sogar das volle Menschseinabgesprochen wurde. Aristoteles bezieht sich auf ein Sprichwort: “KeineMuße gibt es für Sklaven.” 452 Sie sind für das Herstellen <strong>der</strong> lebensnötigenDinge da. Nach Aristoteles macht die Muße (scholía) den Angelpunktaus. Deshalb kommt es darauf an, “nicht bloß in richtiger Weiseeiner Beschäftigung nachzugehen, son<strong>der</strong>n auch in <strong>der</strong> Lage zu sein,sittlich richtig die Muße zu pflegen. Denn dies ist das Prinzip von allem.”453 <strong>Die</strong> Geschäftigkeit des Werktags ist nicht das Zentrum. <strong>Die</strong> Mußeist gegenüber <strong>der</strong> Arbeit höher einzuschätzen, wie Aristoteles formuliert:“Wir sind unmüßig, um Muße zu haben.” 454 Um diese Maxime lebenzu können, konnte Muße gesellschaftlich nicht verallgemeinert werden.Arbeit war in <strong>der</strong> griechischen Antike kein gesellschaftlicher Integrations-,son<strong>der</strong>n ein Ausschlußfaktor. Ganz an<strong>der</strong>s im Alten Israel: Dort bildenArbeit und Ruhe keine Merkmale, nach denen sich Klassen differenzieren.Arbeit verbindet nach alttestamentlicher Auffassung alle Menschen.Nicht zu arbeiten, wird we<strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Paradiesesvorstellung verbunden,noch wird von einer guten Zukunft erwartet, daß sie Arbeit erübrigt.452 Aristoteles, Politik, 7, 1334 b 18.453 Aristoteles, Politik, 7, 1337 b 31.454 Aristoteles, Nikomachische Ethik 10, 7 (1177 b).166


Dem biblischen Arbeitsbegriff ist jener Gegensatz von Arbeit und Ruhefremd, <strong>der</strong> die europäische Kultur prägt. <strong>Die</strong> Ruhe beendet nach biblischemVerständnis nicht die Arbeit, ist auch kein Gegensatz zur Arbeit,son<strong>der</strong>n vollendet sie. <strong>Die</strong> Ruhe des Sabbat ist im hebräischen Denkennicht eine Alternative zur Arbeit, son<strong>der</strong>n Korrektiv und Ergänzung zurArbeit. 455 Der siebente Tag und die sechs Tage stehen paritätisch gegenüber.“Sie sind die beiden Seiten <strong>der</strong>selben Sache, ergänzen einan<strong>der</strong>und haben dieselbe Wurzel. (...) Ebensogut wie die Ruhe am siebentenTage folgt die Arbeit an den sechs Tagen dem göttlichen Vorbilde,wenn sie mal‟achah, sinnvolle, zweckmäßige, lebensför<strong>der</strong>nde Arbeit istund mit <strong>der</strong> Ruhe des Sabbat abgeschlossen werden soll. <strong>Die</strong> irdischeund weltliche Arbeit an den sechs Tagen wird dadurch nicht min<strong>der</strong> zurPflicht wie die Ruhe am siebenten und erhält gleichfalls eine Art religiöserWürde und Verdienstlichkeit. Sie ist eine Vorhalle zum Heiligtum.” 456 Je<strong>der</strong>Tag hat seine eigene Berechtigung, Bestimmung und Würde. Dadurchergänzen und korrigieren sie sich gegenseitig. Vom Sabbat herwerden die Tage zwischen den Sabbaten betrachtet und einer kritischenBewertung unterzogen. Arbeit und Ruhe werden nicht voneinan<strong>der</strong> getrennterfahren, son<strong>der</strong>n zusammen als mandatum Gottes aufgefaßt. <strong>Die</strong>Vollendung <strong>der</strong> Weltschöpfung geschieht durch die Ruhe des siebentenTages. “Am siebten Tag vollendete Gott das Werk, das er geschaffenhatte, und er ruhte am siebten Tag, nachdem er sein ganzes Werk vollbrachthatte”(Gen 2,2). Arbeit ohne Ruhe bleibt unvollständig. Erst dieRuhe des Sabbattages schließt die Schöpfung ab. Nicht <strong>der</strong> Mensch,son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Ruhetag ist die Krone <strong>der</strong> Schöpfung. Darin drückt sich einganzheitliches Verständnis von Leben und Arbeiten aus, das spätestensseit <strong>der</strong> Industrialisierung und <strong>der</strong> damit verbundenen Ökonomisierung<strong>der</strong> Arbeit verlorengegangen ist.Das Sieben-Tage-Schema des priesterschriftlichen Schöpfungsberichtesläßt mit <strong>der</strong> Sabbatterminologie auch den Sabbatgedanken anklingenund begründet umgekehrt den Sabbat im Dekalog mit <strong>der</strong> Einsetzungbei <strong>der</strong> Schöpfung. “Denn in sechs Tagen hat <strong>der</strong> Herr Himmel, Erde undMeer gemacht und alles, was dazu gehört; am siebten Tag ruhte er. Darumhat <strong>der</strong> Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt” (Ex20,11). 457 “<strong>Die</strong> von Arbeit und Wirken angefüllten Tage allein sind nichtdie Zeit, die Gott geschaffen hat; die von Gott geschaffene Zeit ist geglie<strong>der</strong>teZeit; die Werktage haben ihr Ziel in einem Ruhetag.” 458 Gesegnetwird <strong>der</strong> siebente Tag <strong>der</strong> Schöpfung. Segen bedeutet Fruchtbarkeit.455 H.D. Preuß, Art. Arbeit, 616.456 B. Jacob, Das Buch Exodus, 574.457 J. Ebach, Arbeit und Ruhe, 101; vgl. C. Westermann, Genesis, 234 - 238.458 C. Westermann, Genesis, 236.167


“Der heilige, abgeson<strong>der</strong>te Tag, <strong>der</strong> ein Tag <strong>der</strong> Ruhe ist, erhält im Segendie för<strong>der</strong>nde, belebende, das Dasein bereichernde und erfüllendeKraft. Das heißt, gesegnet wird nicht eigentlich <strong>der</strong> siebte Tag als Größefür sich, gesegnet wird vielmehr <strong>der</strong> Tag in seiner Bedeutung für dieGemeinschaft bzw. hier im Zusammenhang <strong>der</strong> Schöpfung: <strong>der</strong> Tag inseiner Bedeutung für die Gemeinschaft und die Menschheit.” 459Das Arbeitsethos hat in <strong>der</strong> biblischen Tradition einen so zentralenStellenwert, daß Walther Bienert in seiner Monographie über <strong>Die</strong> Arbeitnach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel zu dem Schluß kommt, daß “allein die biblischeArbeitslehre ein sicheres Fundament für eine christliche Arbeits- und Sozialethikabgeben kann.” 460 Arbeiten kann nach biblischem Verständnisals eine gemeinschaftsstiftende, schöpferische, bewahrende, gestaltendeTätigkeit verstanden werden. Sie ist Mühsal, aber auch <strong>Die</strong>nst an <strong>der</strong>Gottheit o<strong>der</strong> am König, Priesterdienst und Feldarbeit und kann von Gottwie vom Sklaven ausgesagt werden. 461 Da es in <strong>der</strong> biblischer Perspektivenicht um eine Befreiung von <strong>der</strong> Arbeit, son<strong>der</strong>n um eine dem Menschengemäße Arbeit geht, die als Teil erfüllten Lebens anzusehen ist,lautet <strong>der</strong> Gegensatz nicht wie in <strong>der</strong> Antike Arbeit o<strong>der</strong> Befreiung von<strong>der</strong> Arbeit. Dort sind otium (Muße) positiv und neg-otium (Arbeit) negativdefiniert. Das ganzheitliche Arbeitsverständnis <strong>der</strong> Bibel, das sogar nochRuhe umgreift, entfaltet einen Arbeitsbegriff, <strong>der</strong> nicht im Gegensatz zurMuße steht. Menschenwürdige Arbeit versteht die Bibel als eine gute Arbeit,die Teil erfüllten Lebens ist; ein erfülltes, menschenwürdiges Lebenin <strong>der</strong> Arbeit o<strong>der</strong> menschenunwürdiges Leben in <strong>der</strong> Arbeit lautet die Alternativenach biblischem Verständnis. 4625.2 Menschenrecht auf ArbeitVon einem “Ende <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft” wird gegenwärtig angesichts<strong>der</strong> verfestigten Massenarbeitslosigkeit gesprochen. <strong>Die</strong> Arbeitslosenforschungmit den empirisch belegten Ergebnisse zeigt:- Arbeitslosigkeit steigert das Grundgefühl, das <strong>der</strong> abhängig Beschäftigtezeit seines Lebens gehabt hat, nämlich das Grundgefühl existentiellerAbhängigkeit beim Verkauf seiner Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt;459 Ebd. 237.460 W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel. Eine Grundlegung evangelischer Sozialethik,Stuttgart 1954, XII.461 H.D. Preuß, Art. Arbeit, 613.462 T. Meireis, “Arbeit macht das Leben süß...”. Das „Recht auf Arbeit‟ - eine reformatorische Herausfor<strong>der</strong>ung?In: J. Becker (Hg.), Ethik in <strong>der</strong> Wirtschaft, Stuttgart, Berlin 1996, 170.168


- Arbeitslosigkeit hat trotz <strong>der</strong> sozialstaatlichen Sicherungen nichts vonihrer menschlichen, sozialen und gesellschaftlichen <strong>Dr</strong>amatik verloren;- Entlassen zu werden, wird so empfunden, als werde man nicht mehrgebraucht;- Das traditionelle Bewußtsein davon, durch seine Arbeit in <strong>der</strong> Produktiono<strong>der</strong> in <strong>der</strong> <strong>Die</strong>nstleistung einen Beitrag zur Gesellschaft geleistet zuhaben, löst sich zugunsten eines resignativen Selbstverständnisses auf;- <strong>Die</strong> Arbeitssituation war immer auch ein Ort des tagtäglichen sozialenKontaktes. Arbeitslosigkeit führt zur Isolation. 463In <strong>der</strong> Negativerfahrung von Arbeitslosigkeit zeigt sich, welche hoheanthropologische, soziale und gesellschaftliche Bedeutung Arbeit als Erwerbsarbeithat. Günter Brakelmann nennt zu Recht Erwerbsarbeit “dasSinnzentrum, von dem das ganze Leben seinen Inhalt und seine Strukturbekommt.” 464 <strong>Die</strong> gesellschaftliche Zentrierung um die Erwerbsarbeitwird im Zuge <strong>der</strong> ökonomischen Krise noch einmal verschärft. Sichereund ausreichend bezahlte Arbeitsplätze werden zu einem knappen unddeshalb wertvollen und umkämpften Gut. Erwerbsarbeit ist nach wie vor<strong>der</strong> Modus, <strong>der</strong> individuelle Identität und gesellschaftliche Anerkennungbildet. Erwerbsarbeit ist ein Ort gesellschaftlicher Betätigung. Arbeitslosigkeitstellt hingegen die immer noch wesentlich durch Arbeit vermittelteWürde <strong>der</strong> Person in Frage. 465Wie fragwürdig die Hypothese vom Ende <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft ist,zeigen folgende Aspekte: Erwerbsarbeit hat nach wie vor im Bewußtsein<strong>der</strong> abhängig Beschäftigten einen hohen Stellenwert. Viel mehr Menschenals je zuvor sind an <strong>der</strong> Aufnahme einer Erwerbsarbeit interessiert.Insbeson<strong>der</strong>e die Erwerbsarbeitsneigung bei den Frauen hat in den letztenJahrzehnten rapide zugenommen. Es schwindet zwar <strong>der</strong> traditionelleCharakter von Erwerbsarbeit, die durch den Berufscharakter geprägtwar, doch neue Arbeitsbil<strong>der</strong> sind statt dessen entstanden. Es zeigt sichbei alledem überdeutlich, daß diejenigen, die arbeitslos geworden sind,463G. Brakelmann, Sinn <strong>der</strong> Arbeit - Sinn des Lebens, in: <strong>der</strong>s., Zur Arbeit geboren? Beiträge zueiner christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988, 197-199.464 Ebd. 199. Nicht an<strong>der</strong>s O. Negt: “Welche Berechtigung es auch haben mag, ... das endgültigeEnde <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft zu verkünden: <strong>Die</strong> wirklichen Lebensverhältnisse <strong>der</strong> Menschen,ihre Hoffnungen und Ängste sprechen eine ganz an<strong>der</strong>e Sprache. Es lassen sich kaum Hinweisedarauf finden, daß Erwerbsarbeit, also jene vorherrschende Form bezahlter Arbeitsleistung,über <strong>der</strong>en gesellschaftliche Anerkennung individuelle Identität und Selbstwertgefühl sich bilden,im vergangenen Jahrzehnt entscheidende Abwertung erfahren hat.” (O. Negt, <strong>Die</strong> Krise <strong>der</strong>Arbeitsgesellschaft: Machtpolitischer Kampfplatz zweier “Ökonomien”, in: Aus Politik undZeitgeschichte, B 15/1995, 7.)465Chr. Gremmels u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Arbeitslosigkeit. Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kirchen, Mainz -München 1979.169


nicht mit Transfereinkommen, Lohnersatzleistungen o<strong>der</strong> Arbeitslosengeldausgesteuert werden wollen. Sie wollen ein Einkommen erhalten,das durch eigene Arbeit erworben worden ist.<strong>Die</strong> Kirchen wenden sich in ihrem Wort Für eine Zukunft in Solidaritätund Gerechtigkeit dagegen, angesichts <strong>der</strong> langanhaltenden Arbeitslosigkeitvon einer “Illusion Vollbeschäftigung” 466 zu sprechen: “Solangedie Erwerbsarbeit die existentielle Grundlage für die Sicherung des Lebensunterhalts,die soziale Integration und persönliche Entfaltung deseinzelnen ist, ist es die Aufgabe einer sozial verpflichteten und gerechtenWirtschaftsordnung, allen Frauen und Männern, die dies brauchen undwünschen, den Zugang und die Beteiligung an <strong>der</strong> Erwerbsarbeit zu eröffnen.”(Ziff. 168) Eine Erwerbsarbeit, die den Zugang zur eigenen Lebensvorsorgeund zur Teilhabe am gesellschaftlichen Leben verschafft,begründet ein “Menschenrecht auf Arbeit” (Ziff. 151), das die Kirchenvorrangig als ein Menschenrecht auf Erwerbsarbeit auslegen, auch wennsie für ein neues Arbeitsverständnis offen sind, das über ein marktzentrierteshinausreicht. Arbeit ist allerdings mehr als die am Markt getauschteArbeit und umfaßt an<strong>der</strong>e Tätigkeiten des Menschen. “Auschristlicher Sicht ist das Menschenrecht auf Arbeit unmittelbarer Ausdruck<strong>der</strong> Menschenwürde. Der Mensch ist für ein tätiges Leben geschaffenund erfährt dessen Sinnhaftigkeit im Austausch mit seinen Mitmenschen.”(Ziff. 152) Das Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen stelltdas Recht auf (Erwerbs-) Arbeit in den Zusammenhang <strong>der</strong> Menschenrechte.Das Recht auf Erwerbsarbeit ist zwar nicht einklagbar, wird aberzur Maßgabe und Verpflichtung <strong>der</strong> Politik. 4675.3 Wirtschaftsethische Übertragung: Priorität <strong>der</strong> ArbeitUnter <strong>der</strong> Bedingung kapitalistischer arbeitsteiliger Produktionsverhältnissesind Kapital und Arbeit getrennt. Sachlich notwendig jedoch ist fürdie Produktion ein Miteinan<strong>der</strong> von Kapital als den Sachmitteln und vonArbeit als Verrichtung an diesen Sachmitteln. Der trennende Dualismusbezieht sich also nicht auf Kapital und Arbeit an sich, also nicht auf denProduktionsprozeß, son<strong>der</strong>n auf die gesellschaftlichen Trägerschichten,die hinter Kapital und Arbeit stehen.Arbeit ist unmittelbar mit <strong>der</strong> Person verbunden, was vom Kapital nichtgesagt werden kann. Im Verhältnis zum Kapital hat die menschliche Ar-466 So W. Dettling, Illusion Vollbeschäftigung, in: <strong>Die</strong> Zeit vom 14.1.1994.467 H. Ruh, Recht auf Arbeit, in: F. von Auer u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland.Kirchen und Gewerkschaften gemeinsam für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität,Bochum 1998, 99-104.170


eit deshalb eine unvergleichlich höhere anthropologische und sozialeBedeutung. Anthropologisch steht Arbeit, nicht aber Kapital mit <strong>der</strong> Würdedes Menschen in einem Zusammenhang. Da das Kapital nur instrumentellenCharakter besitzt, Arbeit aber einen personalen, können Arbeitund Kapital nicht gleichwertig sein. Eine Gleichwertigkeit von Kapital undArbeit zu postulieren, hieße den personalen Charakter des Menschen aufeine Stufe mit dem instrumentellen des Kapitals zu stellen. Aus dieseranthropologischen Überlegung heraus hat die katholische Soziallehre einenVorrang <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital formuliert. In <strong>der</strong> EnzyklikaLaborem exercens (1981) hat sie dabei jene anthropologisch-personalbegründeten Argumentationslinien, die immer schon die Son<strong>der</strong>stellung<strong>der</strong> Arbeit betonten, konsequent weiterentwickelt und sozialethisch dasPrinzip eines Vorrangs <strong>der</strong> Arbeit formuliert. 468 Laborem exercens begründetden Vorrang <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital mit naturrechtlichen Kategorien.Gibt es an<strong>der</strong>e Zugänge, den Primat <strong>der</strong> Arbeit zu begründen?Nur einzelne evangelische Sozialethiker haben sich diese in <strong>der</strong> katholischenEthik ursprünglich beheimatete sozialethische Leitformel zu eigengemacht. Zu ihnen gehört Arthur Rich, <strong>der</strong> es eine unbestreitbare Tatsachenennt, “daß die Arbeit dem Kapital vorangeht.” 469 Rich macht sichhier offensichtlich die auf Aristoteles zurückgehende Anschauung <strong>der</strong> alleinigenFruchtbarkeit <strong>der</strong> Arbeit zu eigen. 470 Deshalb begründet er diePriorität <strong>der</strong> Arbeit mit dem Sachverhalt, daß das Kapital primär produ-468O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien1980, 213. Zur Tradition <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach einem Primat <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital: F. <strong>Segbers</strong>,Streik und Aussperrung sind nicht gleichzusetzen. Eine sozialethische Bewertung, Köln1986, 293-298-302; <strong>der</strong>s., <strong>Die</strong> Arbeitl hat Vorrang vor dem Kapital. <strong>Die</strong> Enzyklika “Über diemenschliche Arbeit” von Johannes Paul II., in: Neue Stimme 1/ 1982, 12-15; <strong>der</strong>s., Wende, diewir meinen. Der Vorrang <strong>der</strong> Arbeit in <strong>der</strong> Sozialenzyklika Laborem exercens, in: Neue Stimme4/1984, 14-16.469 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 85.470 “Der Zins jedoch vermehrt dieses (das Geld, F.S.) selbst. Ähnlich ist nämlich das Geborene selberdem Gebärenden, und so bedeutet <strong>der</strong> Zins Geld vom Geld. Demnach ist diese Art des Kapitalerwerbsdie, die am meisten <strong>der</strong> Natur zuwi<strong>der</strong>läuft” (Aristoteles, Politik A 10 p1258 b 5ff.). <strong>Die</strong> Wi<strong>der</strong>natürlichkeit des reinen Geldgeschäftes zeigt bereits die Bezeichnung: das griechischeWort für Zins (tókos) leitet sich ab von dem Wort tokein = gebären: Geld gebiert alsoGeld. <strong>Die</strong>se Anschauung diente in <strong>der</strong> Scholastik und <strong>der</strong> Neuzeit <strong>der</strong> römisch-katholischenSozialethik als Begründung für das Zinsverbot. Da allein Arbeit fruchtbringend sei, könne Geldnicht Zins “abwerfen”. Auch G. Wünsch weist in seiner “Evangelischen Wirtschaftsethik” aufdiese Traditionslinie hin: “Kapital wie Grund und Boden sind an sich nichts, sie werden erstetwas durch die Arbeit” (Evangelische Wirtschaftsethik, 687). <strong>Die</strong> erste römische SozialenzyklikaRerum novarum (1891) nimmt diese Tradition <strong>der</strong> Fruchtbarkeit <strong>der</strong> Arbeit auf, wenn siesagt, daß “es eine unumstößliche Wahrheit ist, nicht an<strong>der</strong>swoher als aus <strong>der</strong> Arbeit <strong>der</strong> Werktätigenentstehe Wohlhabenheit im Staat” (RN 27, präzisiert in: Quadragesimo anno 53). Vgl.die Ausführungen dazu von: O. von Nell-Breuning, <strong>Die</strong> Arbeitswertlehre in <strong>der</strong> scholastischenTheologie, in <strong>der</strong> katholischen Soziallehre und nach Karl Marx, in: Th. Strohm (Hg.), ChristlicheWirtschaftsethik vor neuen Aufgaben. Festgabe für Arthur Rich, Zürich 1980, 57-74.171


ziertes Produktionsmittel ist: “Allein, dieser empirisch belegte Sachverhaltän<strong>der</strong>t nichts daran, daß <strong>der</strong> Faktor Arbeit unter dem anthropologischpersonalenAspekt gesehen gegenüber dem Faktor Kapital im Vorrangsteht.” Daraus folgert Arthur Rich: “Darum ist und bleibt die Arbeit alspersonal-gesellschaftliche Leistung <strong>der</strong> eigentliche Produktionsfaktor in<strong>der</strong> Wirtschaft. Jede Art von Vorrangstellung des Kapitals vor <strong>der</strong> Arbeitentbehrt <strong>der</strong> Begründung und steht sowohl zum Menschengerechten alsauch zum Sachgemäßen im Gegensatz: zum Menschengerechten, weil<strong>der</strong> Vorrang des Kapitals die Subsumierung <strong>der</strong> Arbeit unter eine Sacheund damit die Preisgabe des Menschen als Subjekt, als Grund undZweck <strong>der</strong> Wirtschaft bedeuten würde; und zum Sachgemäßen, weil sichökonomisch mehr als Gleichrangigkeit des Kapitals mit <strong>der</strong> Arbeit alsProduktionsmittel, als knappes Gut, nicht begründen läßt.” 471 Für WolfgangHuber besteht auf <strong>der</strong> Basis des christlichen Menschenbildes undseiner positiven Wertung <strong>der</strong> Arbeit ein “unaufgebbarer Vorrang <strong>der</strong> Arbeitvor dem Kapital” 472 . Und Günter Brakelmann unterstreicht die Bedeutungdes Vorrangs <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital aus sozialethischerSicht: “Priorität <strong>der</strong> Arbeit, Priorität für die Arbeit dürfte als sozialethischeLeitformel eine sachgerechte christliche Aufgabe sein.” 473 Der faktischeVorrang des Kapitals vor <strong>der</strong> Arbeit, wie er in einer kapitalistischenMarktwirtschaft besteht, “entspricht aber nicht dem Wesen <strong>der</strong> Sacheund muß” - so Brakelmann - “entsprechend korrigiert werden” 474 . Auchdie Ökumene hat sich die Formel des Vorrangs des Menschen vor denInteressen <strong>der</strong> Ökonomie als einen zentralen Begriff christlicher Orientierungzu eigen gemacht. So hat die Botschaft <strong>der</strong> Zweiten EuropäischenÖkumenischen Versammlung 1997 in Graz dazu aufgerufen, “den Vorrang<strong>der</strong> menschlichen Person gegenüber wirtschaftlichen Interessenwie<strong>der</strong> herzustellen o<strong>der</strong> aufrechtzuerhalten.” 475 Lei<strong>der</strong> ist das Wirtschafts-und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen in Deutschland Für eine Zukunft inSolidarität und Gerechtigkeit hinter diesen ökumenischen Konsens zu-471 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 86.472 W. Huber, <strong>Die</strong> Krone <strong>der</strong> Schöpfung ist nicht <strong>der</strong> Mensch, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Ruhetag. Festvortrag zurVerleihung des Hans - Böckler - Preises an den KDA, in: kda Nr. 1/1996, 29; auch: W. Huber,Zukunftsfähigkeit - Zehn Thesen zur Wirtschaftsethik, in: W. Huhn u. F. <strong>Segbers</strong> u. W. Sohn(Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar, 123-128.473 G. Brakelmann, <strong>Die</strong> Zukunft <strong>der</strong> Arbeit, in: <strong>der</strong>s., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichenArbeitsethik, Bochum 1988, 112; auch G. Brakelmann, Priorität <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital.Nachwort zu “Laborem exercens”, in: <strong>der</strong>s., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichenArbeitsethik, Bochum 1988, 39-42.474 G. Brakelmann, Priorität <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital, 41.475 Botschaft, Herausfor<strong>der</strong>ungen III, zit. nach: epd-Dokumentation 35/1997, 3.172


ückgefallen und hat sich diese sozialethische Leitformel des Vorrangs<strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital nicht zu eigen gemacht. 476Vorrang <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital bedeutet nach Oswald von Nell-Breuning, daß dem Kapital nicht das Recht zukomme, “sich als den einzigeno<strong>der</strong> auch nur als den führenden Ordnungsfaktor <strong>der</strong> Wirtschaftaufzuwerfen und die Arbeit bestenfalls als zweitrangig und folgerichtiguntergeordneten Faktor gelten zu lassen.” 477 Denn die Verfügung überEigentum dürfe nicht Herrschaft über Sachen und zugleich Herrschaftüber Menschen legitimieren. Mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach einem Vorrang <strong>der</strong>Arbeit vor dem Kapital soll deshalb “die im Kapitalbesitz begründeteMachtüberlegenheit beseitigt, ausgeräumt o<strong>der</strong> irgendwie unschädlichgemacht werden.” 478 <strong>Die</strong> sozialethische For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> Priorität <strong>der</strong>Arbeit will eine Antwort auf die Frage nach <strong>der</strong> Legitimation von Machtund Herrschaft im Unternehmen geben. Nell-Breuning hat aus dieser sozialethischenWertung <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital zwei Folgerungen gezogen:<strong>der</strong> ökonomische Erfolg darf sich erstens nicht zum Selbstzweckverselbständigen, son<strong>der</strong>n muß dem persönlichen Wohl <strong>der</strong> im Einzelunternehmeno<strong>der</strong> in <strong>der</strong> Gesamtwirtschaft tätigen Menschen dienen unddarum im Fall einer Ziel- o<strong>der</strong> Interessenkollision zurücktreten und sich476 W. Krämer, Dortmund, verdanke ich den Hinweis, daß alle Vorentwürfe <strong>der</strong> Diskussionsgrundlagefür ein Wort <strong>der</strong> Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland an <strong>der</strong> sozialethischenPosition eines Vorrangs <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital ausdrücklich festgehalten hatten:Textstufe vom 8.4.1994, Ziff. 82: “<strong>Die</strong> Wirtschaft ist für den Menschen da. Es ist <strong>der</strong>Mensch, <strong>der</strong> in ihrem Mittelpunkt steht. Sie muß aus diesem Grunde menschengemäß geordnetsein. Es muß deutlich sein, daß <strong>der</strong> Mensch und seine Arbeit mehr ist als das Kapital.” Textstufevom 28.7.1994, Ziff. 117 und Textstufe vom 25.8.1994 lauten identisch: “Es muß deutlichsein, daß <strong>der</strong> Mensch und seine Arbeit mehr sind als das Kapital. Ein Ungleichgewicht zwischenSozialsystem und Wirtschaftssystem gefährdet grundsätzlich beide Teile.” <strong>Die</strong> Endredakteurehaben zwar die Aussage von einem “Ungleichgewicht zwischen Sozialsystem und Wirtschaftssystem”in die Endfassung <strong>der</strong> Diskussionsgrundlage übernommen. <strong>Die</strong> prinzipienethischeKonkretion, “daß <strong>der</strong> Mensch und seine Arbeit mehr sind als das Kapital”, haben sie gestrichen(Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeß über ein gemeinsames Wort <strong>der</strong>Kirchen, Gemeinsame Texte 3; hg. Kirchenamt <strong>der</strong> EKD,Hannover u. Sekretariat <strong>der</strong> DBK,Bonn (Bonn, o.J.-1994). <strong>Die</strong> Kirchen wollten sich offensichtlich in <strong>der</strong> Endredaktion jene Position<strong>der</strong> lehramtlichen Aussagen in römischen Enzykliken nicht zu eigen machen. <strong>Die</strong> Streichungmuß jedoch keineswegs auf Bedenken des evangelischen Partners zurückgehen. <strong>Die</strong> römisch-katholischeKirche in Deutschland hatte sich immer schon schwer getan, die lehramtlicheAussage eines Vorrangs <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital für die Verhältnisse in Deutschland zurezipieren. Wie in dieser ökumenischen Diskussionsgrundlage auch auf weitere sozialethischeEinsichten mit Hinweis auf den ökumenischen Partner verzichtet wird, habe ich ausgeführt in:F. <strong>Segbers</strong>, Ökumene auf <strong>der</strong> Bremsspur? Zum Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, in: epd-DokumentationNr. 16 vom 10.4.1995, 31-36.477O. von Nell-Breuning, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischer Soziallehre, Wien1980, 213.478 O. von Nell-Breuning, Arbeit vor Kapital. Kommentar zur Enzyklika Laborem exercens von JohannesPaul II., Wien, 1983, 93.173


unterordnen; zweitens muß die Willensbildung in Unternehmen wie Gesamtwirtschaftso institutionalisiert sein, daß <strong>der</strong> Faktor Arbeit stark genugist, in <strong>der</strong> konkreten Politik des Unternehmens o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Wirtschaftspolitikdie Zielrichtung durchzusetzen. 479 <strong>Die</strong> sozialethische For<strong>der</strong>ungnach einem Vorrang <strong>der</strong> Arbeit will gegenüber <strong>der</strong> Logik des Kapitals fürdie Arbeit eine ökonomisch, sozial und rechtlich führende Rolle garantieren.Erst dadurch kommt eine sachgemäße Partnerschaft zwischenArbeit und Kapital zustande, denn zwischen dem personalen Beitrag desMenschen im Produktionsprozeß und dem Faktor Kapital kann es ausanthropologischen Gründen nicht zu einer Gleichstellung kommen. Arbeitdes Menschen besitzt einen Wert, <strong>der</strong> nicht in einem Tauschverhältniszum Kapital aufgehen kann. Gleiches kann vom Kapital nicht gesagtwerden, denn Kapital besitzt keine Würde, die mit <strong>der</strong> anthropologischenWürde vergleichbar wäre. <strong>Die</strong> Formel vom Vorrang <strong>der</strong> Arbeit vor demKapital wird in <strong>der</strong> normativen Konkurrenz zwischen <strong>der</strong> ökonomischenLogik und den Ansprüchen des Menschen eine wertende Entscheidungtreffen.Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß sich die Ethiker bei <strong>der</strong> Begründungeines Vorrangs <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital auf sozialphilosophischeo<strong>der</strong> anthropologische, nicht jedoch auf biblische Gesichtspunkte beziehen.Im folgenden möchte ich aufzeigen, wie sozialethische Wertungen,die von einem Vorrang <strong>der</strong> Arbeit einerseits und einer Option für die Armenan<strong>der</strong>erseits sprechen, biblischen Aspekten zugänglich sind, dennsie enthalten folgende Strukturaffinitäten:Erstens <strong>der</strong> Subjektcharakter: Der Vorrang <strong>der</strong> Arbeit geht von einerSicht des Menschen aus, die diesem aufgrund seiner Arbeit das Rechtzuerkennt, ein mitwirkendes und mitbestimmendes Subjekt zu sein. Wiedie Option für die Armen geht auch die For<strong>der</strong>ung nach einem Primat <strong>der</strong>Arbeit von <strong>der</strong> Tatsache aus, daß gleichberechtigte Teilhabe o<strong>der</strong> Partizipationvorenthalten wird. Oswald von Nell-Breuning erkennt einer Wirtschaftdas Attribut “sozial befriedigend” erst dann zu, “wenn sie so geordnetist, daß je<strong>der</strong> Mensch Subjekt des Sozialprozesses ist und keinerbloßes Objekt.” 480 Ausgangspunkt sowohl <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach dem Primat<strong>der</strong> Arbeit als auch <strong>der</strong> biblischen Option für die Armen ist die Tatsachefehlen<strong>der</strong> Teilhabe. Biblisch bezeichnet “arm” eine Beziehung, durchdie Starke den Schwachen gegenüber sich mächtig und überlegen zeigen.Beide Positionen verbindet die moralische Substanz einer Achtung<strong>der</strong> gleichrangigen subjekthaften Würde aller Menschen. <strong>Die</strong> biblischeOption für die Armen hat ein Interesse an Partizipation. “Dabei werden479 Ebd. 101.480 O. von Nell-Breuning, <strong>Die</strong> soziale Marktwirtschaft im Urteil <strong>der</strong> katholischen Soziallehre, in:<strong>der</strong>s., Wirtschaft und Gesellschaft heute, Zeitfragen Bd. 3, Freiburg 1960, 101.174


die Armen und Schwachen nicht als passive o<strong>der</strong> gar unmündige HilfeundAlmosenempfänger angesehen. Ihre aktive Teilnahme an sozialen,ökonomischen und rechtlichen Lebensverhältnissen wird vielmehr vorausgesetzt,unterstellt. Sie wird aber als gefährdet und des beson<strong>der</strong>enSchutzes bedürftig angesehen.” 481 Deshalb stehen beide Optionen füreine gemeinsame Zielrichtung, nämlich vorenthaltene Gleichberechtigungeinzulösen. <strong>Die</strong> Option für die Armen wie die For<strong>der</strong>ung nach Priorität<strong>der</strong> Arbeit wären mißverstanden, wenn man sie als eine schichteno<strong>der</strong>gar klassenspezifische For<strong>der</strong>ung ansehen würde. Nur scheinbarsind sie partikularistisch, tatsächlich sind sie universalistisch, denn siewollen eine vorenthaltene Gleichberechtigung für alle einlösen. Auchwenn sie parteilich sind, sind sie doch dem Ganzen verpflichtet.Zweitens haben die For<strong>der</strong>ung nach einem Primat <strong>der</strong> Arbeit und dieOption für die Armen gemein, daß beide für eine “sozialethische Eindeutigkeitin <strong>der</strong> argumentativen Parteinahme” 482 stehen. Sie nehmen dieSichtweise <strong>der</strong> Schwächeren wahr. Enrique Dussel hat überzeugenddargelegt, daß “<strong>der</strong> An<strong>der</strong>e, <strong>der</strong> Arme in seiner extremen Exteriorität”,<strong>der</strong> “dem System gegenübersteht” 483 , ein privilegierter Ort ist, die Defizitedes Systems wahrzunehmen. <strong>Die</strong> Option für den armen An<strong>der</strong>en durchbrichtebenso wie die For<strong>der</strong>ung nach einem Primat <strong>der</strong> Arbeit die Logikdes ökonomischen Systems. <strong>Die</strong>ses wird von außerhalb und von denenbefragt, welche die Systemrationalität einer Kapitallogik ausgeschlossenhat.<strong>Dr</strong>ittens geht es in beiden Positionen nicht allein um Einstellungen undHaltungen; sie wollen ein Recht formulieren, das politische, rechtlicheund soziale Geltung bekommen soll. Nicht allein die ökonomische Systemlogiksoll gelten; diese soll vielmehr durch die Logik des ausgeschlossenen,armen An<strong>der</strong>en und durch die lebensweltliche Logik <strong>der</strong>Arbeit ergänzt werden. Mit dieser For<strong>der</strong>ung werden jedoch zugleich jeneMechanismen in Frage gestellt, die strukturell zur Ungleichheit führen.<strong>Die</strong> Logik des Marktes - gleichwohl nur ein Teil - gibt sich für das Ganze.Jene wirtschaftsethische und wirtschaftspolitische Denkweise, die nur dieLogik und Rationalität <strong>der</strong> ökonomischen Logik gelten läßt o<strong>der</strong> diese alsdie einzig zulässige betrachtet, halbiert die ökonomische und lebensweltlicheRationalität. <strong>Die</strong> ökonomische Rationalität trennt die an<strong>der</strong>en, humanenund sozialen Gesichtspunkte ab. <strong>Die</strong> Option für die Armen unddie An<strong>der</strong>en überwindet diese Halbierung. Gegenüber <strong>der</strong> Logik desHumanum müssen alle an<strong>der</strong>en Logiken zurücktreten.481 M. Welker, Geist und Gesetz, 220.482 G. Brakelmann, Priorität <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital, 42.483 E. Dussel, Philosophie <strong>der</strong> Befreiung, 58.175


Viertens stehen hinter beiden Einsichten soziale Bewegungen. <strong>Die</strong> Optionfür die Armen und die For<strong>der</strong>ung nach <strong>der</strong> Priorität <strong>der</strong> Arbeit sindnicht subjektlos. Der soziale Ort <strong>der</strong> Option für die Armen waren in ihremursprünglichen Verständnis die sozialen Bewegungen in den Län<strong>der</strong>ndes Südens. <strong>Die</strong> For<strong>der</strong>ung nach einem Vorrang <strong>der</strong> Arbeit hat - wennauch nicht in dieser Terminologie, wohl aber in dem sachlichen Anliegen- in den sogenannten alten sozialen Bewegungen <strong>der</strong> Industrielän<strong>der</strong>,den Gewerkschaften, ihren sozialen Ort.Fünftens verstehen beide Optionen Gerechtigkeit als Beteiligungsgerechtigkeit.Wolfgang Huber begründet dieses Verständnis von Gerechtigkeit:“In <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Gesellschaft ist Gerechtigkeit vor allem an<strong>der</strong>enBeteiligungsgerechtigkeit: die faire Chance, das Seine einzubringen.” 484Den Armen und den abhängig Beschäftigten, <strong>der</strong> Arbeit, wird eben dieseGerechtigkeit als Beteiligung vorenthalten. <strong>Die</strong> Option für die Armendringt wie die For<strong>der</strong>ung nach einem Vorrang <strong>der</strong> Arbeit zumindest aufeine Gleichberechtigung <strong>der</strong> Beteiligten.<strong>Die</strong>se Gesichtspunkte zeigen, daß Begründungen eines Vorrangs <strong>der</strong>Arbeit vor dem Kapital nicht allein auf naturrechtliche o<strong>der</strong> sozialphilosophischeAspekte zurückzugreifen brauchen. Auch die biblische Orientierung<strong>der</strong> Option für die Armen und den An<strong>der</strong>en kann den Vorrang <strong>der</strong>Arbeit argumentativ begründen und plausibel machen. ÖkonomischeProzesse vom arbeitenden Menschen, o<strong>der</strong> allgemeiner: von <strong>der</strong> Arbeither zu erschließen, ist ein Ansatz, <strong>der</strong> die biblisch grundgelegte Optionfür die Armen wirtschaftsethisch auslegen kann. <strong>Die</strong>sen ethischen Ausgangspunkthat auch Günter Brakelmann eingenommen, wenn er in seinerkritischen Analyse des Mitbestimmungsurteils zu dem Schlußkommt: “<strong>Die</strong> Sorge gilt dem konkreten Menschen und nicht einem Ordnungsentwurf.”485 Durch diesen Ansatz wird ein System, das gesellschaftlicheBenachteiligungen produziert, aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong>Schwächeren wahrgenommen. Ähnlich ist auch <strong>der</strong> ethische Ansatz einesVorrangs <strong>der</strong> Arbeit zu qualifizieren: Er nimmt wahr, daß die Arbeitdem Kapital nachgeordnet ist und dringt darauf, daß die Arbeit des Menschenden Orientierungspunkt einnimmt. Wie es dem Menschen und beson<strong>der</strong>sden Armen in einem System ergeht, ist das zentrale sozialethischeKriterium zur Beurteilung eines jeden Systems. <strong>Die</strong>ses sozialethischeKriterium heißt in seiner wirtschaftsethischen Übertragung: <strong>Die</strong> abhängigeArbeit und ihre reale Lage ist aus <strong>der</strong> Perspektive <strong>der</strong> Option für484 W. Huber, <strong>Die</strong> Krone <strong>der</strong> Schöpfung ist nicht <strong>der</strong> Mensch, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Ruhetag, 29; auch: W.Huber, Zukunftsfähigkeit - Zehn Thesen zur Wirtschaftsethik, 124.485G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? Kritische Anmerkungen nach dem Mitbestimmungsurteildes Bundesverfassungsgerichts, in: Th. Strohm (Hg.), Christliche Wirtschaftsethikvor neuen Aufgaben, 313.176


die Armen <strong>der</strong> kritische und ethische Maßstab zur normativen Beurteilungökonomischer Systeme.177


6. ANSÄTZE ZU EINER BIBELTHEOLOGISCHENBEGRÜNDUNG VON WIRTSCHAFTSETHIK6.1 Wirtschaftsethik in <strong>der</strong> BibelEs gibt in <strong>der</strong> exegetischen Wissenschaft ein neuerwachtes Interesse an<strong>der</strong> Erforschung <strong>der</strong> biblischen Gesetzestradition. Frank Crüsemann hatin seiner Monographie <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> den sozialgeschichtlichen Zusammenhangherausgearbeitet. Eckart Otto zeichnet in seiner Theologische Ethikdes Alten Testaments, nicht allein die Entwicklung des Rechts im AltenTestament nach. Darüber hinaus will er Bezüge dieses alttestamentlichenRechts zu einer “theologischen Legitimation von Recht und Ethos in<strong>der</strong> wertpluralen Industriegesellschaft” 486 herausarbeiten. In seinem BeitragWirtschaftsethik im Alten Testament bearbeitet E. Otto diesen Aspektausführlich. 487 Zu erwähnen sind aber auch einige ältere Untersuchungen,die sich mit dem Wirtschafts- und Sozialrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> auseinan<strong>der</strong>setzen.488 Hingewiesen werden soll auf zwei kleinere Schriften,die im Kontext <strong>der</strong> Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus verfaßtwurden. Otto Weinberger hat vor 1948 eine Wirtschaftsphilosophie desAlten Testaments vorgelegt, die “den dogmatisch-philosophischen Gehalt<strong>der</strong> alttestamentlichen Wirtschaftsethik” 489 herausarbeiten will. Nochganz unter dem Eindruck <strong>der</strong> Folgen nationalsozialistischer Ideologie betonter die bleibende Bedeutung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>-Tradition für die Gegenwart,die für “die Wissenschaft von <strong>der</strong> Wirtschaft fruchtbringende Lehren undAnregungen aus diesem altehrwürdigen Buche auch heute noch” 490 zu486 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 111 - 116.487 E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: Informationes Theologiae Europae. Internationalesökumenisches Jahrbuch für Theologie, Bd. 3, Frankfurt 1994, 279 - 289.488 Vgl. dazu die Literatur, die A. Ben-David in seiner Talmudischen Ökonomie verwendet hat.489 O.Weinberger, <strong>Die</strong> Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, Vorwort.490 Ebd. 135.178


geben vermag. Auch die Schrift von Theodor Schwegler aus dem Jahr1934/35 über Familie, Gesellschaft und Wirtschaft nach dem mosaischenGesetz 491 steht im Kontext <strong>der</strong> kritischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit demNationalsozialismus.6.1.1 Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>Im 8. Jahrhun<strong>der</strong>t vollzieht sich in <strong>der</strong> altisraelitischen Gesellschaft eintiefgreifen<strong>der</strong> Transformationsprozeß, <strong>der</strong> sich als Übergang von eineregalitären Stammesgesellschaft zu einer Gesellschaft beschreiben läßt,die in Klassen gespalten ist. <strong>Die</strong>se Entwicklung spitzte sich krisenhaft zu.Eine prosperierende Schicht von Großgrundbesitzern, Kaufleuten undMilitärs hatte sich über die traditionelle Schicht <strong>der</strong> Kleinbauern geschoben,<strong>der</strong>en Produktionsweise auf Selbstversorgung ausgerichtet war (Mi3,1.9; Jes 1,23; 3,12.14). Weite Teile <strong>der</strong> kleinbäuerlichen Bevölkerunggerieten unter direkten <strong>Dr</strong>uck <strong>der</strong> Oberschicht. 492 <strong>Die</strong>se Entwicklung geißeltendie Propheten mit scharfen Worten. Sie kritisierten dabei nicht dasungerechte Verhalten einzelner, son<strong>der</strong>n unterzogen die wirtschaftlichenund sozialen Verhältnisse einer strukturellen Kritik. Das System selbstwurde angeprangert. 493Hauptursache <strong>der</strong> von den Propheten mit scharfen Worten angeklagtenMißstände ist das die Wirtschaft aller antiken Gesellschaften beherrschendeSchuldenwesen. Es sah nicht nur den Zugriff des Kreditgebersauf den gesamten Besitz des säumigen Schuldner vor, son<strong>der</strong>n auch aufdie Familie und seine Person. Dadurch gerieten die Schuldner in die völligeVerfügungsgewalt des Schuldherrn. Das Schuldenwesen trieb dieKleinbauern in einen teuflischen Kreislauf: Um überleben zu können,mußten sie sich Getreide o<strong>der</strong> Geld leihen. Auf das Darlehen waren hoheZinsen zu zahlen und zur Sicherheit ein Pfand zu geben. Wenn dasDarlehen nicht zurückgezahlt werden kann, trat die Person- und Sachhaftungein: Eine arbeitsfähige Person des verschuldeten Haushaltesmußte in Schuldsklaverei gegeben werden, o<strong>der</strong> ein Stück Land fiel anden Gläubiger. Es entstand eine Situation, in <strong>der</strong> das eintrat, was die491 Th. Schwegler, Familie, Gesellschaft und Wirtschaft nach dem mosaischen Gesetz und den Propheten,Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht <strong>der</strong> Stiftsschule Einsiedeln 1934/35. -Schwegler wendet sich zudem gegen “liberale Strömungen im Protestantismus”, die dafür sorgen,daß “auch in <strong>der</strong> Schweiz die feindliche Stimmung gegen das AT Anklang findet” (Vorwort- S. 3).492 Vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 248f.493K. Koch, <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> sozialen Kritik bei den <strong>Prof</strong>eten, 238: So greift auch Amos nieEinzelpersonen an - mit Ausnahme von Amazja (<strong>der</strong>s., <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> sozialen Kritik beiden <strong>Prof</strong>eten, 242).179


Propheten immer kritisiert hatten: Besitz konzentrierte sich in immer wenigerHänden (Jes 5,8), die Masse <strong>der</strong> Bevölkerung wurde von ihremGrund und Boden verdrängt (Am 8,4; Mi 2,9f.); durch Überschuldungverelendet, verloren die Kleinbauern vollends ihre Existenzgrundlage undgerieten in Schuldknechtschaft (Am 8,6; 2,6).<strong>Die</strong> reiche Oberschicht trat als Kreditgeber auf. Sie nutzte die Notlage<strong>der</strong> kleinbäuerlichen Betriebe aus, um ihre eigene landwirtschaftlicheProduktion zu erhöhen, den Grundbesitz auszuweiten und ihren Wohlstandzu erhöhen. <strong>Die</strong> Folge war, daß die gesamtgesellschaftliche Solidaritätauseinan<strong>der</strong>brach. <strong>Die</strong> wirtschaftlich Starken profitierten von <strong>der</strong>Entwicklung, während die Kleinbauern die Opfer, die eigentlich Unschuldigenwaren (Am 2,6; 5,12). <strong>Die</strong> prosperierende Oberschicht bedientesich dabei legaler Mittel zur Durchsetzung ihrer Interessen. 494 <strong>Die</strong> Verschärfung<strong>der</strong> sozialen Lage kann deswegen auch nicht allein auf individuelleRechtsbrüche zurückgeführt werden. Es handelte sich vielmehrum Auswirkungen struktureller Gewalt, die ihren Grund in wirtschaftlichenund gesellschaftlichen Entwicklungen <strong>der</strong> Königszeit hatte. 495Ausgangspunkt <strong>der</strong> Sozialkritik <strong>der</strong> Propheten des 8. Jahrhun<strong>der</strong>ts wareine soziale Krise mitten in einer Zeit wirtschaftlicher Prosperität, die einkatastrophales Zusammenbrechen <strong>der</strong> Gesellschaft befürchten ließ. 496<strong>Die</strong>se Situation rief Gegenkräfte auf den Plan, die den Versuch unternahmen,das bisherige Gewohnheitsrecht schriftlich zu fixieren, um soden gesellschaftlichen Transformationsprozeß regulieren und gestaltenzu können. 497 Prophetische Kritik an ungerechten wirtschaftlichen Prozessenschlägt sich in einem Recht nie<strong>der</strong>, das gesellschaftliche Mißständeeindämmen und reduzieren o<strong>der</strong> gar vom Ansatz her verhin<strong>der</strong>nwill. Es entsteht ein Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht, das RainerKessler zu Recht eine Antwort auf gesellschaftliche Spaltungstendenzenund Krisen nennt. 498Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ist nicht in einemZug entstanden, son<strong>der</strong>n Ergebnis eines jahrhun<strong>der</strong>telangen Prozesses,<strong>der</strong> in wenigen Strichen in seinen wichtigsten Etappen dargestellt werdensoll. Am Ende des 8. Jahrhun<strong>der</strong>ts entsteht das Bundesbuch (Ex 20,22-23,3), das wahrscheinlich auf eine ältere Sammlung von Rechtssätzenzurückgreifen kann, die überwiegend sozial- und wirtschaftsrechtliche494 Ebd. 248.495 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 252.496 Ebd. 248 spricht von sozialer Krise und gleichzeitigem wirtschaftlichen Aufschwung.497 R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 79; vgl. R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd.1, 139ff.498R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 79. R. Albertz nennt es “immer wahrscheinlicher”,daß die Sozialgesetzgebung des Bundesbuches wie auch die sozialen Sprüche (Prov 1,31f.;19,17; 22,22; 29,14) eher Folge als Voraussetzung <strong>der</strong> Prophetie des 8. Jh. gewesen sind (R.Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 259, Anm. 55).180


Fragen regelt. 499 In <strong>der</strong> Endzeit <strong>der</strong> Königszeit wurde die gesetzgeberischeArbeit des Bundesbuches fortgeführt und im deuteronomischenGesetz deutliche Reformakzente gesetzt (ca. 7. Jahrhun<strong>der</strong>t). 500 EineEntwicklung setzt ein, die für die weitere Sozial- und ReligionsgeschichteIsraels von großer Bedeutung sein wird: die Sorge um einen gesellschaftlichenAusgleich. 501 Während <strong>der</strong> exilischen und frühen nachexilischenZeit entstehen im 6. und 5. Jahrhun<strong>der</strong>t die sogenannten priesterschriftlichenGesetze, die sich in den Büchern Exodus bis Numeri, vornehmlichjedoch im Buch Levitikus als sogenanntes Heiligkeitsgesetz(Lev 17-26) finden. 502 Zusammengefaßt werden diese Schriften schließlichim 5. Jahrhun<strong>der</strong>t im Pentateuch und galten durch persische Reichsautorisationals verbindliche Richtschnur für das nachexilische Judentum.503Prophetie und ein die Armen schützendes Recht berühren sich. Deutlichwird dies beim Propheten Ezechiel.Ist jemand gerecht, so handelt er nach Recht und Gerechtigkeit. (...) Er unterdrücktniemand. Er gibt dem Schuldner das Pfand zurück. Er begehtkeinen Raub. Dem Hungrigen gibt er von seinem Brot, den Nackten bekleideter. Er leiht nicht gegen Zins und treibt keinen Wucher. Er hält seineHand vom Unrecht fern. Zwischen Streitenden fällt er ein gerechtes Urteil.Er lebt nach meinen Gesetzen, er achtet auf meine Rechtsvorschriften undbefolgt sie treu. Er ist gerecht, und deshalb wird er am Leben bleiben -Spruch des Herrn (Ez 18,5.7-9).Ezechiel zählt auf, was gerechtes Verhalten konkret heißt. Der Prophetstellt positive Normen zur Orientierung des soziales Handelns auf.Recht und Gerechtigkeit sollen in den gesellschaftlichen Bereichen vonKult und Ökonomie zur Geltung kommen. Der Prophet formuliert Solidaritätmit den Armen, den Hungrigen, den Nackten und den Verschuldetenals gesellschaftliches und auch individuelles Ziel.499 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 133ff.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, Göttingen 1992,283ff.; R.Kessler, Das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 79; zum Forschungs- und Diskussionstandvgl. : G. Wanke, Art. Bundesbuch, TRE Bd. 7, 412-415.500 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 247; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 310ff.; R.Kessler,Das Wirtschaftrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 79f.; zum Forschungs- und Diskussionsstand vgl. : S. DeanMcBride, Art. Deuteronomium, TRE, Bd. 8, 536-543.501 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 290.502 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 323ff.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd.1, 438ff.; R.Kessler,Das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 90; zum Forschungs- und Diskussionstand vgl. : H.D. Preuß,Art. Heiligkeitsgesetz, TRE 14, 713-718; E. Zenger, Priesterschrift, TRE, Bd. 27, 435-446; K.Koch, Gesetz I. Altes Testament, TRE Bd. 13, 47f.503 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>,381ff.; R.Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 495ff.; H. Seebaß,Pentateuch, TRE Bd. 26, 185-209.181


<strong>Die</strong> Maxime “Unter euch soll es keine Armen geben” (Dtn 15,4) kennzeichnetdas ethische <strong>Prof</strong>il des Deuteronomium. <strong>Die</strong> Sozialethik desDeuteronomium will gesellschaftliche Spaltungen überwinden. JHWH ist<strong>der</strong> Gott des ganzen Volkes. Aus dieser theologischen Begründung heraussoll die Oberschicht zur Solidarität mit den sozial und wirtschaftlichSchwachen motiviert werden. Das biblische Ethos nimmt seinen Ausgangspunktin <strong>der</strong> Erfahrung gesellschaftlicher Spaltungen. “<strong>Die</strong> Sozialgesetzgebung<strong>der</strong> dtn. Reformbewegung trägt somit ausgesprochen humaneZüge.” 504 Von <strong>der</strong> gesellschaftlichen Tatsache <strong>der</strong> Spaltung zwischenArm und Reich als Folge ökonomischer und sozialer Verhältnissegehen die Konzeptionen im Bundesbuch, im Heiligkeitsgesetz und imDeuteronomium jeweils aus, doch entwickeln sie ein unterschiedlichessozialethisches <strong>Prof</strong>il im Umgang mit gesellschaftlichen Verhältnissen.Wie das deuteronomische Gesetz das Bundesbuch weiterführen, korrigieren,ergänzen und ersetzen will, so will es das Heiligkeitsgesetz in Lev17-26 mit dem Deuteronomium tun. 505 Verschiedene Rechtsfassungenbleiben nebeneinan<strong>der</strong> stehen. Frank Crüsemann begründet die Divergenzen<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> mit dem persischen königlichen Recht, einem additivenRecht, das keine Aufhebung alter Edikte zuließ, son<strong>der</strong>n das neue Rechtauch im Wi<strong>der</strong>spruch zum alten setzte. 506Im Gegensatz zum Reformwerk des Bundesbuches wertet Eckart Ottodas Deuteronomium als ein “utopisches Programm des Neuen Israelsnach dem Exil” 507 . Er geht davon aus, daß die wirtschaftlichen Paränesendes Deuteronomium nicht als Gesetzestexte, son<strong>der</strong>n als gelehrteProgrammtexte priesterlicher Kreise entstanden und in Umlauf gekommenseien, die sich, wie Jer 34,8ff. mit <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Sklavenbefreiungzeige, nicht hätten durchsetzen können. Das Deuteronomiumspiegele also nicht das gültige Wirtschaftsrecht und das faktische Wirtschaftsverhalten<strong>der</strong> Zeit wi<strong>der</strong>. Otto versteht sie als eine Stimme imkontroversen Diskurs <strong>der</strong> damaligen Gesellschaft. <strong>Die</strong>se skeptische Haltunggibt keineswegs einen Konsens wie<strong>der</strong>. Frank Crüsemann verstehtdas dtn. Gesetz als eine Maßnahme, die ergriffen wurde, als dasjudäische Volk mit den grundbesitzenden Bauern, dem „am ha‟ares, dieMacht ergriffen hatte. Ort des deuteronomischen Reformgesetzes ist die504 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 347.505 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 323.506 Ebd. 404ff.507 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 193. Mit Verweisen bei: <strong>der</strong>s., Wirtschaftsethikim Alten Testament, 284f. - Gegen R. Albertz, Religionsgeschichte, Bd. 1, 310ff., <strong>der</strong> diejosianische Reform als breite nationale, soziale und religiöse Erneuerungsbewegung versteht,die mit z.T. massiven Eingriffen in die Rechte <strong>der</strong> Besitzenden vorging, um den Verarmungsprozeßin <strong>der</strong> Gesellschaft zu stoppen (<strong>der</strong>s., Religionsgeschichte, Bd. 1, 337).182


deuteronomische Bewegung <strong>der</strong> Volkssouveränität. 508 Frank Crüsemannverweist zur Begründung auf Dtn 26,16-19 und 2 Kön 22ff., die ausführen,daß aus dem deuteronomischen Gesetz eine Dauerregelung werdensollte. 509 Dtn 26,17ff. ist die Inkraftsetzung einer umfassenden Verfassungfür Volk und König. Crüsemann datiert das deuteronomische Gesetzin seinen wesentlichen Teilen in jene Zeit, in <strong>der</strong> das judäischeLandvolk die Macht ergriffen hat, also vor Beginn <strong>der</strong> Exilszeit. 510 Er siehtdeshalb im Deuteronomium einen “Verfassungsentwurf für Israel”, <strong>der</strong>nicht nur gefor<strong>der</strong>t, son<strong>der</strong>n von <strong>der</strong> freien Bauernbevölkerung Judas realerkämpft wurde. 511 Rainer Albertz sieht zwischen dem utopischenCharakter und einem tatsächlichen Reformprojekt <strong>der</strong> Sozialgesetzgebungdes Deuteronomium keinen grundsätzlichen Wi<strong>der</strong>spruch. Indiesem Reformprojekt sei vielmehr jener Befreiungsimpuls politisch wirksamgeworden, <strong>der</strong> <strong>der</strong> JHWH-Religion in ihren Anfängen innewohnt,und habe eine solche gesellschaftliche Kraft entwickelt wie nirgendwannsonst in <strong>der</strong> israelitischen Geschichte. Gerade für die Reformen sei deshalbein utopischer Impuls unverzichtbar. “Ohne Utopie ist keine Reformbewegung,noch dazu keine so stark motivierte wie die dtn., denkbar.”512 Nach Rainer Albertz sei die soziale Seite des dtn. Programm zudemwegen des Wi<strong>der</strong>standes <strong>der</strong> Oberschicht, nicht aber aus Gründenmangeln<strong>der</strong> Praktikabilität nicht durchgesetzt worden. 513 Für ein sozialethischesUrteil ist die historische Faktizität nicht von ausschlaggeben<strong>der</strong>Bedeutung. Auch wenn die deuteronomischen Reformgesetze nicht allein die Praxis umgesetzt wurden, so ist sozialethisch bedeutsam, daß Israelsich diese Norm gegeben hat und diese im Verlauf <strong>der</strong> Geschichtedurch die Erinnerung lebendig hielt. Sozial- und wirtschaftsethisch ist allerdingsnicht nur die formale Erinnerungstradition von Bedeutung. <strong>Die</strong>exakte Beantwortung <strong>der</strong> historischen Frage, ob es sich bei dem Reformprogrammlediglich um eine Ideal-Norm handelte, ist sozialethischnicht entscheidend. Sozialethisch zu berücksichtigen ist die Einsicht, daßdie aufgeführten Institutionen wirtschaftlicher Gerechtigkeit auch praktikabelsind, wie die “Jobel-Jahrformel” zeigt. 514Ein historisch-kritischer Umgang mit <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>-Tradition wird zunächstregistrieren müssen, daß die <strong>Tora</strong> aus einer Folge von Rechtsbüchernzusammengesetzt ist, die einan<strong>der</strong> teilweise sachlich wi<strong>der</strong>sprechen undin zeitlicher Abfolge entstanden sind. Frank Crüsemann resümiert: “Wie-508 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 273ff.509 Ebd. 316f.510 Ebd. 242-251.511 F. Crüsemann, “... damit er dich segne...”,103.512 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 348.513 Ebd. 337.514 Vgl. oben die näheren Ausführungen in Abschnitt 4.2.2.183


so und warum und durch welche Kräfte aus dem Nacheinan<strong>der</strong> verschiedenerRechtsbücher die eine <strong>Tora</strong>, <strong>der</strong> eine Pentateuch, <strong>der</strong> eineKanon wurde, ist bisher kaum mit ausreichenden Mitteln angegangenworden.” 515Für unseren Zusammenhang ist das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> von Bedeutung, das im Bundesbuch (Ex 20,22-23,33), imDeuteronomium (Dtn 12-26) und im Heiligkeitsgesetz (Lev 17-26) formuliertworden ist. Rainer Kessler hat das betreffende Rechtskorpus <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>in drei Bereiche eingeteilt: in solche, die <strong>der</strong> Vorbeugung gegen Verelendungdienen; solche, die die sozial Schwächeren schützen sollen,und solche, die regulierend in das soziale und ökonomische System eingreifen.5161. Gesetze zur Vorbeugung gegen die Verelendung1. Zinsverbot (Ex 22,24; Lev 25,35-38; Dtn 23,20f.)Das antike Schuldenwesen war ein Mechanismus, <strong>der</strong> regelmäßigdurch Verschuldung zu Ausbeutung und Abhängigkeit führte. DerZweck des Zinsverbots bestand darin, die aus Verschuldung undKreditnahme entstehende Abhängigkeit zu minimieren.2. Beschränkung <strong>der</strong> Pfandnahme (Ex 22,25f.; Dtn 24,12ff.)Der Gläubiger mußte zur Sicherheit für sein Darlehen ein Pfand hinterlegen.<strong>Die</strong> Beschränkung <strong>der</strong> Pfandnahme sollte den Teufelskreisvon immer wie<strong>der</strong> neuen Darlehen durchbrechen.3. Korrekte Maße und Gewichte (Dtn 25,13-15)Ein beliebtes Mittel war es, im wahrsten Sinn des Wortes “mit zweierleiMaß zu messen”: Bei <strong>der</strong> Abmessung des Saatgutes wurde einkleineres Maßgefäß verwendet, o<strong>der</strong> Geld als Tauscheinheit wurdemit zweierlei Gewichtsteinen abgewogen.2. Gesetze zum Schutz <strong>der</strong> sozial Schwächeren1. Sabbatgebot (Dtn 5,12ff.; Ex 23,12; 20,8ff.)Das Sabbatgebot <strong>der</strong> regelmäßigen Arbeitsruhe ist eine bedeutsamesoziale Errungenschaft, die dem Knecht, <strong>der</strong> Magd, dem Herrn unddem Arbeitstier zugute kommt.2. Weitere Schutzgesetze:515 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 15.516 R. Kessler, Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 80-88; eine an<strong>der</strong>s klassifizierte Übersicht über das Wirtschaftsrecht<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> von F. <strong>Segbers</strong> in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völkerdes Erdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 340-345.184


- Schutz vor sexueller Ausbeutung <strong>der</strong> Sklavinnen (Ex 21,8);- Schutz o<strong>der</strong> Einschränkung körperlicher Gewalt gegen Sklaven (Ex21,20f.26f.);- Schutz <strong>der</strong> geflohenen Sklaven (Dtn 23,16f);- Bestimmungen über die Versklavung von Mitglie<strong>der</strong>n des VolkesIsrael (Lev 25,39f.);- Tägliche Ausbezahlung des Lohnes an die Tagelöhner (Dtn24,14f.);- Unterdrückungsverbot, Recht auf humane Behandlung (Lev25,43.46.53);185


3. AlmosenwesenDas Almosenwesen soll die schützen, die gänzlich aus dem Systemherausgefallen sind. Almosengeben bedeutet, “Gerechtigkeit tun”,und meint deshalb mehr als karitative Barmherzigkeit. Es erfüllt einesozialintegrative Funktion. Das Grundrecht auf Leben soll materiellgesichert werden. Mehrere rechtliche Bestimmungen dienen diesemAnliegen:- Recht <strong>der</strong> Nachlese auf den Fel<strong>der</strong>n und Weinbergen (Lev 19,9f;23,22; Dtn 24,19-22)- Recht, bei <strong>der</strong> Brache des Sabbatjahres die Fel<strong>der</strong> abzuernten (Ex23,10f.; Lev 25,6f.)- Der Zehnte als Sozialsteuer für die “Witwen und Waisen”, d.h. zugunsten<strong>der</strong>er, die über keine eigenen Einkünfte verfügen (Dtn14,22-29; 26,12f.)3. Gesetze zur Regulierung <strong>der</strong> Wirtschaft1. Schuldenerlaß alle sieben Jahre (Dtn 15,1f.)Wie in <strong>der</strong> Antike an<strong>der</strong>wärts auch üblich, gibt es regelmäßigeSchuldenerlasse, um Verarmung durch Verschuldung aufzuheben.Für das Alte Israel ist <strong>der</strong> Schuldenerlaß in einem zeitlichen Zyklusverbindlich und deshalb absehbar.2. Zeitliche Befristung <strong>der</strong> Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn 15,12-18)Schuldsklaverei ist zeitlich befristet. Nach Dtn 15,13f muß den freizulassendenSklaven und Sklavinnen ein kostenloses Startkapitalaus dem Vieh- und Erntebestand des bisherigen Herrn mitgegebenwerden.3. Jobeljahr (Lev 25,10ff.)Das Jobeljahr enthält eine Jobeljahr-Formel zu einer nicht marktförmigenWertbestimmung von Immobilien. Alle sieben mal sieben Jahresollen die Anhäufung von Bodenbesitz rückgängig gemacht unddie Schuldknechtschaft beendet werden. Sinn <strong>der</strong> Einrichtung ist es,den Grundbesitz und die Angehörigen <strong>der</strong> Großfamilie zusammenzuhalten.Akkumulationsprozesse werden zyklisch unterbrochen undrückgängig gemacht. <strong>Die</strong> Rückführung zu früheren gerechten Zuständenverschafft den Betroffenen eine Chance des Neuanfangsund einen Ausweg aus Verschuldung und Verarmung.<strong>Die</strong>se Auflistung zeigt, daß es sich nicht allein um ein Wirtschaftsrechthandelt, son<strong>der</strong>n vielmehr um ein durchdachtes und systematischesWirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht vor. <strong>Die</strong>se Übersicht wirft natürlichdie Frage auf, inwieweit dieses Recht mit <strong>der</strong> tatsächlichen sozialen Rea-186


lität übereinstimmte. Wurde es realisiert? Welche Rechtsvorschriftenwurden nicht realisiert? Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß positivesRecht nie die tatsächlichen Verhältnisse einer Gesellschaft spiegelt,denn Recht hat die Aufgabe, die normativen Leitbil<strong>der</strong> einer Gesellschaftzu formulieren. 517 Von den Rechtsnormen läßt sich deshalb nie direkt aufdie soziale Wirklichkeit zurückschließen. Dennoch waren die gesetzgeberischenReformvorhaben hervorragend geeignet, zur Identitätsbildungund <strong>Prof</strong>ilierung des Volkes Israels beizutragen und dadurch die eigeneÜberlebensfähigkeit in einer an<strong>der</strong>s geprägten Umgebung zu sichern. 518In <strong>der</strong> Antike hatte Recht einen an<strong>der</strong>en Charakter als in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. In<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird nach einem Rechtssatz geurteilt. In <strong>der</strong> Antike jedochhaben die Rechtssammlungen lediglich rechtsgelehrten Charakter. Siefungieren wie ein Muster, nach dem im Einzelfall zu entscheiden ist. <strong>Die</strong>sozialen Verhältnisse, wie sie in <strong>der</strong> biblischen Tradition geschil<strong>der</strong>t werden,zeigen, daß es zwischen dem Anspruch <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und <strong>der</strong> sozialenWirklichkeit eine tiefe Kluft gab. Das Wirtschafts-, Arbeits- und Sozialrecht<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> dokumentiert die normative Orientierung. Unrecht, Ungerechtigkeit,Rechtlosigkeit, Ausbeutung <strong>der</strong> Schwachen, Verarmung undVerelendung sollen nicht sein. Deshalb läßt sich die Formulierung in Dtn15,4 “Unter euch soll es keine Armen geben” auch als programmatischeVerpflichtung lesen. Welche Wege werden vorgeschlagen, dieseKluft zu überwinden? Der eine Lösungsversuch besteht in <strong>der</strong> Entscheidungdes einzelnen für das Recht. <strong>Die</strong> Ijobdichtung zeigt das Ringen umden rechten Weg, wenn Ijob als ein Gerechter dargestellt wird: “Ich erretteteden Elenden, <strong>der</strong> um Hilfe schrie, die Waise, die sonst keinen Helferhatte” (Ijob 29,12ff.). Neben dem Weg <strong>der</strong> persönlichen Entscheidunggibt es auch eine Verbindlichkeit <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> durch eine kollektive Verpflichtung.Markantes Beispiel ist die feierliche Selbstverpflichtung bei Neh 10.Dort wird geschil<strong>der</strong>t, wie eine Selbstverpflichtung gemeinschaftlich zustandekommt, durch die Handelsgeschäfte am Sabbat unterbundenwerden; auf den Fel<strong>der</strong>trag am siebten Tag will man verzichten und gelobtdie Einhaltung des siebenjährigen Schuldenerlasses.<strong>Die</strong> zentralen Bestimmungen des Wirtschaftsrechts <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> wurdenzumindest seit <strong>der</strong> Zeit des Nehemia, also in <strong>der</strong> Mitte des 5. Jh., allgemeinverbindlich und so gesellschaftliche Wirklichkeit, wie etliche Zeugnissebelegen. 519 Unbestritten ist, daß zentrale wirtschaftsethische Be-517 R. Kessler, Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 89ff. Im folgenden wird die Argumentation von R. Kesslerwie<strong>der</strong>gegeben.518 So H. Seebaß, Art. Pentateuch, 205.519Einige historische Belege sind aufgeführt bei: R. Kessler, Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 91f. Ichverweise in meinen Ausführungen in Abschnitt 6.1.2 zu Sabbat, Sabbatjahr und Jobeljahr jeweilsauf historische Realisierungen. Welche wirkungsgeschichtlichen Folgen die schriftliche187


stimmungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> praktiziert wurden; historisches Faktum ist aberauch, daß Israel sich immer wie<strong>der</strong> bei <strong>der</strong> Gestaltung des gesellschaftlichenLebens auch dann auf die <strong>Tora</strong> berufen hat, wenn die Realität hinterdem Anspruch zurückgeblieben ist.Israel war über lange Phasen seiner Geschichte politisch und ökonomischvon Großmächten abhängig. Steuern, Tribut und verschiedeneAbgabeformen bedrückten das Land. 520 Auch im Lande selber wurdenverschiedene Steuern und Abgaben erhoben, die zusätzlich die Lage erschwerten(Tempelsteuer, Erstlingsabgaben auf Getreide, Früchte,Wein, Vieh: Ex 30,11ff; Num 18,13; Dtn 26,1ff; Neh 10,36). <strong>Die</strong>se zahlreichenAbgabe- und Steuerverpflichtungen führten zu Verarmung undVerelendung. Zu diesem katastrophalen Elend im Lande hätte es nichtzu kommen brauchen, denn Israel hatte mit <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ein Gesetzes- undRegelwerk, das eindeutige Bestimmungen enthielt, wie soziales Ungerechtigkeitzu vermeiden war. <strong>Die</strong> Brü<strong>der</strong> Ekkehard W. und WolfgangStegemann konzedieren in ihrer Urchristlichen Sozialgeschichte zwar,daß die <strong>Tora</strong> in <strong>der</strong> römischen Epoche als verbindlich vorgegeben gewesensei und zu einem gewissen sozialen Ausgleich auch tatsächlich beigetragenhabe. Doch an<strong>der</strong>e theologische Traditionen wie die apokalyptischero<strong>der</strong> weisheitlich-skeptischer Art hätten ebenfalls ihren Einflußausgeübt und den <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> relativiert. Wie auch immer <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong>verschiedenen geistigen Strömungen einzuschätzen ist, es läßt sichdoch sagen, daß die <strong>Tora</strong> und die sie ergänzenden Prophetenschriftenidentitäts- und richtungsbildend gewirkt haben. 521 Israel verstand sich alseine Rezeptionsgemeinschaft, die sich immer wie<strong>der</strong> auf die schriftlichfestgelegten Normen bezog und diese geschichtlich verän<strong>der</strong>ten Verhältnissenanpaßte. <strong>Die</strong> schriftliche Sinaitradition wurde im Talmud fortgeschrieben,<strong>der</strong> wie die Mischna als “mündliche <strong>Tora</strong>” gilt. <strong>Die</strong>ser Rezeptionsprozeßdauert über die neutestamentliche Zeit bis in die Gegenwartdes Judentums hinein fort. Wenn Theologie und Kirche die <strong>Tora</strong> alsGrundlage verstehen, erhalten sie Anteil an <strong>der</strong> Traditions- und Rezeptionsgemeinschaft<strong>der</strong> <strong>Tora</strong>. Aus jüdischer Sicht konnte <strong>der</strong> RabbinerBenno Jacob über die bis in die Gegenwart reichende Rezeptionsgeschichte<strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, die in <strong>der</strong> jüdischen Religion als einer Erinnerungsgemeinschaftwurzelt, sagen: “<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> brauchte nicht ausgegra-Sinaitradition hatte, soll auch mit knappen Ausführungen in Abschnitt 9 an Beispielen aus <strong>der</strong>talmudischen Zeit und Ökonomie skizziert werden.520 K. Füssel, <strong>Dr</strong>ei Tage mit Jesus im Tempel. Einführung in die materialistische Lektüre <strong>der</strong> Bibel,Münster 1986, 30-36, vgl. auch: E.W. Stegemann, W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte,bes. 97ff.; M. Ernst, “... er war <strong>der</strong> oberste Zollpächter und war sehr reich.” (Lk 19,2)Das Zollwesen, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern-Salzburg 1995, 160-168.521 E.W. Stegemann u. W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 98.188


en zu werden (wie an<strong>der</strong>e altorientalische Gesetzestexte, F.S.), dennsie ist nie verschüttet gewesen, und ein unsterbliches Volk hat sie wieseinen Augapfel gehütet und von Geschlecht zu Geschlecht bis auf denheutigen Tag vererbt.” 522<strong>Die</strong> vorstehende Auflistung darf nicht übersehen lassen, daß das Wirtschafts-,Sozial- und Arbeitsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> teilweise wi<strong>der</strong>sprüchlich istund kein einheitliches Rechtskorpus darstellt. <strong>Die</strong> divergierenden Rechtsregelungensind Teil einer Anpassung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> an jeweils neue soziale,gesellschaftliche und ökonomische Situationen. “Es geht (...) um die Frage,wie unter verän<strong>der</strong>ten Umständen und in ganz neuen GenerationenGottes neue Weisung zu hören sein wird. (...) Inhaltlich geht es um Fortführung,Aktualisierung, Nivellierung, Ergänzung von Themen und Fragen.”523 <strong>Die</strong> jeweilige Aktualisierung ist deshalb als eine <strong>der</strong> biblischenTradition selber inhärente kreative Hermeneutik zu verstehen, die einenfundamentalistischen Umgang mit <strong>der</strong> biblischen Tradition unmöglichmacht.Trotz aller Anpassungen und geschichtlichen Verän<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong>rechtlichen Bestimmungen und Regulierungen gibt es eine Konstante.Nach Frank Crüsemann besteht sie in <strong>der</strong> Verbindung von zwei unterschiedlichenTraditionssträngen, die Wesen und Kern <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ausmachen.Der eine besteht aus <strong>der</strong> strikten Alleinverehrung des einen Gottes(Ex 34,11ff.), <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e aus einer Rechtssammlung in altorientalischerTradition, in <strong>der</strong> schwerwiegende gesellschaftliche Konflikte einer rechtlichen,d.h. auf Ausgleich zielenden Regelung zugeführt werden. “Als dieeigentliche Geburtsstunde <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>struktur kann das Zusammentretendieser beiden Texte mit Grundsätzen zum Schutze <strong>der</strong> ökonomisch wierechtlich schwächsten Gruppen <strong>der</strong> Gesellschaft im Bundesbuch bezeichnetwerden. Zur Alleinverehrung gehört damit ein bestimmtes Rechtund eine ihm vorgeordnete Gerechtigkeit.” 524 Von diesem Kern aus bildetsich ein Ethos, das sich in Bestimmungen, Regeln und Weisungen imWirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> normativ entfaltet.Das Bundesbuch entwickelt angesichts sich verschärfen<strong>der</strong> gesellschaftlicherGegensätze zwischen Arm und Reich “ein Ethos, das auf die522 B. Jacob, Das Buch Exodus, 1066. Im Manuskript findet sich <strong>der</strong> später gestrichene Zusatz “...was auch <strong>der</strong> nichtjüdische Leser und Forscher dankend anerkennen soll” (zit. im Vorwort <strong>der</strong>Herausgeber, in: <strong>der</strong>s., Das Buch Exodus, XVII.). Für eine Rezeption <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>tradition durchchristliche Ethik und Theologie wäre ein Gespräch mit dem zeitgenössischen Judentum interessant.Klaus Müller hat mit seiner Arbeit Diakonie im Dialog mit dem Judentum erstmals dasGespräch mit <strong>der</strong> nachbiblischen jüdischen Überlieferung über Sozialtraditionen <strong>der</strong> HebräischenBibel und <strong>der</strong> rabbinischen Überlieferung aufgenommen.523 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 421.524 Ebd. 424.189


Überwindung dieser Spaltung <strong>der</strong> Gesellschaft zielt” 525 . Bereits in diesemältesten Rechtsbuch des Pentateuch wird die Alleinverehrung Gottes“mit einem auf Gerechtigkeit für sozial und rechtlich Schwache zielendenVerhalten” 526 identifiziert. Frank Crüsemann charakterisiert deshalb dasEthos des Bundesbuches als ein Ethos, das “durch Rechte von Fremden,Armen und an<strong>der</strong>en Ausgebeuteten” 527 geprägt ist. Ein Ethos <strong>der</strong>Solidarität wird gegen eine ökonomische Logik zur Geltung gebracht, diestrukturell gesellschaftliche Asymmetrien hervorbringt. 528 Soziale Schutzbestimmungengelten als “Meta-Norm und kritische Instanz” und werdendadurch “zum entscheidenden Prinzip <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>” 529 .6.1.2 Sabbatordnung als Zentrum <strong>der</strong> Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>Eckart Otto nennt die Sabbatordnung des Heiligkeitsgesetzes ein ausdrücklichesProgramm <strong>der</strong> Sozialethik. 530 Sie will einen Ausgleich zwischenArm und Reich herbeiführen, geht aber davon aus, daß mit bleibendenUnterschieden zwischen Arm und Reich zu rechnen ist und siehtsich deshalb konsequent dem Ziel verpflichtet, Einrichtungen zu schaffen,die dem sozialen und gesellschaftlichen Ausgleich dienen und dadurchgesellschaftliche Asymmetrien ausgleichen und gesellschaftlicheSpannungen mil<strong>der</strong>n können. Der jüdische Exeget Benno Jacob kritisiertdie evangelische Freiheit, mit <strong>der</strong> man sich seit <strong>der</strong> Reformation den Dekalogzurechtgelegt habe. “Im ersten Worte hat Luther nicht nur denNachsatz „<strong>der</strong> dich aus dem Lande Ägypten, aus dem Hause <strong>der</strong>Knechtschaft geführt habe‟, son<strong>der</strong>n das ganze Bil<strong>der</strong>verbot weggelassen,im „dritten‟ aus dem Sabbat den „Feiertag‟gemacht.” Jacob betont,“daß <strong>der</strong> erste Ausspruch als das Fundament für sich steht.” 531 Der Hinweisauf die Befreiung prägt das Ganze des Dekalogs. Auch wenn sichParallelen in vergleichbaren ethischen Geboten in <strong>der</strong> Umwelt Israels525 E. Otto,Theologische Ethik des Alten Testaments, 103.526 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 199f.527 Ebd. 224, auch 132f.528 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88.529 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 228.530 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 249. Das sozialethische Programm des sozialenAusgleichs (Lev 25) stellt E. Otto dem individualethischen eines Ethos <strong>der</strong> Nächstenliebe(Lev 19,1.4-37) gegenüber (E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 243-248). DaßNächstenliebe aber auch den sozialen Randgruppen gilt, zeigt <strong>der</strong> Kontext (V 17f.). Was E. Ottodas individualethische Programm nennt, enthält in seiner Vielfalt die ganze Breite, die dasWesen <strong>der</strong> atl. Rechtsbücher ausmacht und schließt außer dem Verhältnis zu den Mitmenschenauch das zu Land, Pflanzen und Tieren ein. Nur von einem individualethischen Programm <strong>der</strong>Nächstenliebe zu sprechen, greift deshalb zu kurz. So auch: F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 378ff.531 B. Jacob, Das Buch Exodus, 607.190


finden, so macht <strong>der</strong> Hinweis auf die ägyptischen Verhältnisse die Unterscheidungaus. <strong>Die</strong> Sabbatordnung will eine <strong>Hausordnung</strong> sein, die anÄgypten erinnert, um einen Rückfall in solche Verhältnisse zu verhin<strong>der</strong>n.6.1.2.1 Der Sabbat<strong>Die</strong> Tradition <strong>der</strong> regelmäßigen Unterbrechung <strong>der</strong> Arbeit kann auf einelange Entwicklung zurückschauen, in <strong>der</strong> “die wesentlichen Elementedieses Gedankens schon früh angelegt sind und sich als Konstantendurchhalten” 532 . <strong>Dr</strong>ei Elemente kennzeichnen den bleibenden Inhalt desSabbatgedankens: erstens die ausschließlich negative Füllung durch dasNicht-Arbeiten; zweitens die Aussparung des Tages als eines Tages fürden Herrn in einer solchen Weise, daß <strong>der</strong> Sabbat <strong>der</strong> Verfügungsgewaltdes Menschen enthoben ist und deshalb auch nicht um eines wirtschaftlichenVorteils willen zur Disposition steht; schließlich drittens die Vorstellung,daß Israel durch das Halten dieses Sabbattages seine Identität ineiner an<strong>der</strong>sartigen Umwelt sichert. 533Herkunft und Geschichte des Sabbat sind nicht voll aufgeklärt. DasWort “Sabbat” benennt das, was gemeint ist: das Ruhen o<strong>der</strong> Aufhören(hebr. sbt). 534 Das Beson<strong>der</strong>e liegt darin, daß <strong>der</strong> Sabbat unabhängigvon Naturphänomenen, etwa dem Mondzyklus, verläuft. In vorexilischenTexten werden “Sabbat” und “Neumond” jedoch häufig parallel genannt.Als Sabbat wurde wohl auch ein Mondtag bezeichnet, <strong>der</strong> als kultischwichtiger Tag angesehen wurde (Am 8,5; Hos 2,13; Jes 1,13; 2 Kön4,23). Nachexilisch ist es wohl zu einer Synthese des vorexilischenNeumondfestes “Sabbat” mit einer ebenfalls vorexilischen wöchentlichenUnterbrechung <strong>der</strong> ackerbäuerlichen Arbeit in einem Sieben-Tage-Rhythmus gekommen, <strong>der</strong> jedoch noch nicht Sabbat genannt wurde (Ex23,12; 34,21). Aus <strong>der</strong> Erfahrung in <strong>der</strong> Exilszeit sind beide Einrichtungenverschmolzen: Das Sabbatfest wurde zum Sabbattag und dadurch ausdem Mondzyklus herausgelöst. 535 Max Weber versteht den Sabbat alsRegulativ innerhalb einer sich entwickelnden Marktwirtschaft. Bauern und532 R. Kessler, Das Sabbatgebot. Historische Entwicklung, kanonische Bedeutung und aktuelle Aspekte,in: D. Georgi u.a.(Hg.), Religion und Gestaltung <strong>der</strong> Zeit, Kampen 1994,100.533 Ebd. 100.534Vgl. F. Stolz, Art. sbt=aufhören, ruhen, THAT, Bd.II, 3. durchgeseh. Aufl. München-Zürich1984, Sp.863-869. <strong>Die</strong> Bezeichnung “Sabbat” stehe wohl eher mit <strong>der</strong> akkadischen Bezeichnungsapattu zusammen, so: C. Körting u. H. Speckermann, Sabbat, I. Altes Testament, in:TRE Bd. 24, 518.535 Vgl. dazu R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 2, 424f.; F. Crüsemann, Bewahrung <strong>der</strong>Freiheit, 55; R. Kessler, Das Sabbatgebot, 93f.; C. Körting, u. H. Speckermann, Sabbat, I. AltesTestament, 519.191


Kleinstädter hätten ein Interesse an regelmäßigen Markttagen gehabt.“Endgültig hat sich das Durchlaufen des Sabbat wohl mit dem Erstarken<strong>der</strong> Marktwirtschaft durchgesetzt: das spezifische Stadtstaatengesetz,das Deuteronomium, erwähnt die alten Mondfeste nicht mehr.” 536<strong>Die</strong> Traditionen aus bäuerlicher vorexilischer Zeit kannten noch keinenRuhetag, <strong>der</strong> als Sabbat bezeichnet wurde, son<strong>der</strong>n lediglich das Ruhen<strong>der</strong> Arbeit am siebenten Tag. Älteste Belegstelle für die Arbeitsruhe amsiebten Tag ist Ex 34,21, während Ex 23,12 wohl eine etwas jüngereFassung ist.Sechs Tage sollst du arbeiten, am siebten Tag sollst du ruhen; selbst zurZeit des Pflügens und des Erntens sollst du ruhen (Ex 34,21).Jeglicher kultische Aspekt fehlt in Ex 34,21. Lediglich von einem Aufhören<strong>der</strong> Arbeit ist die Rede. Das Gebot richtet sich an den frei wirtschaftendenisraelitischen Bauern. Gerade in Zeiten intensiver landwirtschaftlicherArbeit - beim Pflügen und Ernten - wird ausdrücklich auf dieEinhaltung des Sabbat verwiesen. Rein ökonomisch gesehen, ist dieFor<strong>der</strong>ung kontraproduktiv.<strong>Die</strong> gegenüber Ex 34,21 vermutlich etwas jüngere Fassung in Ex23,12 spricht nicht mehr nur den freiwirtschaftenden Bauern an. Arbeitstiereund Arbeitskräfte kommen zusätzlich in den Blick.Sechs Tage kannst du deine Arbeit verrichten, am siebten Tag aber sollstdu ruhen, damit dein Rind und dein Esel ausruhen und <strong>der</strong> Sohn deinerSklavin und <strong>der</strong> Fremde zu Atem kommen (Ex 23,12).Eine deutlich soziale Absicht tritt zutage. Der Tag <strong>der</strong> Ruhe ist ein Tagdes Aufatmens für die, die hart und zugleich auch unter frem<strong>der</strong> Anweisungarbeiten müssen. Ernst Jenni betont, daß die Ruhe von Haustierenund Sklaven als einziger Zweck des Sabbat genannt wird und sieht indieser Formulierung einen Hinweis auf eine Verlagerung des Gewichts<strong>der</strong> Bedeutung des Sabbat auf die soziale und humanitäre Seite. 537Der Dekalog kann als Zusammenfassung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und das Sabbatgebotwie<strong>der</strong>um als Zentrum des Dekalogs gelten. Entstanden ist <strong>der</strong>Dekalog nach Eckart Otto in <strong>der</strong> Exilszeit. 538 Frank Crüsemann ordnetdie Grundauffassung des Dekalogs hingegen <strong>der</strong> Josia-Reform zu und536M. Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1921), Bd. III.,7. Aufl. Tübingen1983, 161.537E. Jenni, <strong>Die</strong> theologische Bedeutung des Sabbatgebotes im Alten Testament. TheologischeStudien, Schriftenreihe Heft 46, Zollikon - Zürich 1956, 16.538 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 212ff. Gegen F. Crüsemann, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong>jüdischen Exegese gegen die Son<strong>der</strong>rolle des Dekalogs im Rahmen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ausspricht, vgl.: F.Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 408f.192


wendet sich deshalb gegen eine Spätdatierung in exilisch-nachexilischerZeit. 539 Ist das Sabbatgebot in exilischer Zeit aus einer Kombination vonNeumondfest und Arbeitsruhegebot formuliert worden, dann ist es Teildes Programms des Deuteronomium und des deuteronomistischen Geschichtswerks.<strong>Die</strong> Folge dieses zeitlichen Ansatzes ist: Das Sabbatgebotund mit ihm <strong>der</strong> Dekalog sind ein Versuch, aus <strong>der</strong> Vergangenheit zulernen: <strong>Die</strong> prophetische Kritik wird unter dem Eindruck <strong>der</strong> geschichtlichenKatastrophe gehört, erinnert und weitertradiert. Prophetische Kritik,die sich noch nicht auf den Dekalog bezog, und ihre Vorstellungen vonGerechtigkeit kommen zum Tragen. 540 Fehlentwicklungen werden durchErinnerung an älteres Wissen erkannt und korrigiert; in einer verän<strong>der</strong>tenSituation kommt es zu einer kreativen Neuinterpretation.Der Dekalog wird in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zweimal überliefert, wobei die Textfassungennicht übereinstimmen. Beson<strong>der</strong>s beim Sabbatgebot sind die Unterschiedebeträchtlich (Ex 20,8-11 und Dtn 5,12-15). <strong>Die</strong> Fassung Dtn5,12ff. ist wohl älter und die Exodusfassung jünger. 541 Beide Textformulierungenstimmen in <strong>der</strong> Heilighaltung des Sabbat überein, die in einerArbeitsruhe nach sechs Tagen Arbeit besteht. Beide Gebote sind gleichstrukturiert: Zunächst wird das Gebot formuliert (Ex 20,8; Dtn 5,12); esfolgen zweitens die Bestimmungen <strong>der</strong> Arbeitsruhe (Ex 20,9-10; Dtn5,13-14); dann wird drittens die gebotene Arbeitsruhe begründet (Ex20,11; Dtn 5,15). Während es bei den vorangehenden Geboten des Dekalogsum die Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit geht, geht es beim Sabbatgebotum die Praktizierung <strong>der</strong> Freiheit selber.Achte auf den Sabbat: halte ihn heilig, wie es dir <strong>der</strong> Herr, dein Gott, zurPflicht gemacht hat. Sechs Tage sollst du schaffen und jede Arbeit tun.Der siebte Tag ist ein Ruhetag, dem Herrn, deinem Gott, geweiht. An ihmdarfst du keine Arbeit tun: du, dein Sohn und deine Tochter, dein Sklaveund deine Sklavin, dein Rind, dein Esel und dein ganzes Vieh und <strong>der</strong>Fremde, <strong>der</strong> in deinen Stadtbereichen Wohnrecht hat. Dein Sklave unddeine Sklavin sollen sich ausruhen wie du. Denk daran: Als du in ÄgyptenSklave warst, hat dich <strong>der</strong> Herr, dein Gott, mit starker Hand und hocherhobem Arm dort herausgeführt. Darum hat dir <strong>der</strong> Herr, dein Gott, zurPflicht gemacht, den Sabbat zu halten (Dtn 5,12-15).Anlaß zur Feier des Sabbat ist die Befreiung <strong>der</strong> Sklaven aus <strong>der</strong>ägyptischen Sklaverei. Dtn 5 begründet ausdrücklich den Sabbat und539 F. Crüsemann, Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit, 25f.; F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 407ff.540 So M.Robra, Ökumenische Sozialethik, Gütersloh 1994, 185f.541 R. Kessler, Das Sabbatgebot, 94; J.Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” (Lk 6,9) Das Ringenum den Sabbat in den biblischen Schriften, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen dieVölker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 247. So auch: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels,Bd. 1, 334f.; Bd. 2, 424-427.193


seine Arbeitsruhe für Tiere, Sklaven und Sklavinnen mit <strong>der</strong> Erfahrung<strong>der</strong> Fronarbeit und Unterdrückung in Ägypten. <strong>Die</strong> gefor<strong>der</strong>te Arbeitsruhewird erstmals als Sabbat bezeichnet. Der Tag <strong>der</strong> Arbeitsruhe erhält einenNamen. <strong>Die</strong> Begründung hat eine eindeutige soziale Ausrichtung.Für alle soll das Ruhen von <strong>der</strong> Arbeit gelten. Der Sabbat steht im Gegensatzzur Fronarbeiterexistenz und erinnert kollektiv an diese Erfahrungin Ägypten. <strong>Die</strong>se kollektive Erinnerung begründet eine gesamtgesellschaftlicheSolidarität. Der Tag, an dem Sklave und Sklavin zur Ruhekommen sollen, wird zum regelmäßig wie<strong>der</strong>kehrenden Symbol <strong>der</strong> Befreiungaus ägyptischer Unterdrückung. <strong>Die</strong> tatsächliche Ungleichheitzwischen oben und unten wird an diesem Sabbattag aufgehoben. Wasist mit den Frauen <strong>der</strong> hier angesprochenen Männer, die eigentümlicherweisein <strong>der</strong> Reihe fehlen, die Sohn und Tochter, Sklave und Sklavin auflistet?542 Sabbat heißt nicht nur negativ: Ruhen <strong>der</strong> Arbeit. Mit <strong>der</strong> Auffor<strong>der</strong>ung,den Tag zu heiligen, wird die Einhaltung des Sabbat positiv alsHeiligung gefor<strong>der</strong>t. <strong>Die</strong>se Heiligung des Sabbat hat keinen kultischenGehalt, son<strong>der</strong>n das Aufhören mit <strong>der</strong> Arbeit selbst ist die Heiligung desSabbat. Den Sabbattag zu beachten bedeutet, nicht zu arbeiten und <strong>der</strong>Unterbrechung <strong>der</strong> Unterdrückung zu gedenken (Dtn 5,12). Einhaltenund Bedenken des Sabbat ist in einem doppelten Sinn Protest gegenGewalt: nämlich gegen die Gewalt gegenüber <strong>der</strong> Schöpfung und gegenüberdem Menschen. 543 Wird in Dtn 5 das Sabbatgebot in einenbefreiungstheologischen Zusammenhang gestellt, so wird es in Ex 20schöpfungstheologisch begründet:Gedenke des Sabbat: Halte ihn heilig! Sechs Tage darfst du schaffen undjede Arbeit tun . (...) Denn in sechs Tagen hat <strong>der</strong> Herr Himmel, Erde undMeer gemacht und alles, was dazu gehört; am siebten Tag ruhte er. Darumhat <strong>der</strong> Herr den Sabbattag gesegnet und ihn für heilig erklärt (Ex20,8.9.11).Neben dem Thema Befreiung wird ein weiteres wichtiges Thema angesprochen:die Schöpfung. <strong>Die</strong> soziale und ökologische Dimension ge-542 B. Jacob sieht darin keine Geringschätzung <strong>der</strong> Frau, son<strong>der</strong>n allein einen Ausdruck <strong>der</strong> Tatsache,daß die Frau des Mannes “mit ihm identisch und mit dem „du‟ gleichfalls angeredet” ist.(B. Jacob, Das Buch Exodus, 576) Nach rabbinisch-feministischer Exegese jedoch zeigt sichhier “die tiefe Ungerechtigkeit <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> selbst”( J. Plaskow, Und wie<strong>der</strong> stehen wir am Sinai.Eine jüdisch-feministische Theologie, Luzern 1992, 51). Beim Bundesschluß werden nur dieMänner angesprochen (vgl. Ex 19,15ff.). Frauen sind abwesend. “<strong>Die</strong> Unsichtbarkeit <strong>der</strong> Frauenim Augenblick des Eintretens in den Bund wi<strong>der</strong>spiegelt sich im Inhalt des Bundes, <strong>der</strong> sowohlin <strong>der</strong> Grammatik als auch in <strong>der</strong> Substanz die Gemeinschaft männlicher Haushaltsvorsteheranspricht. <strong>Die</strong>s wird in <strong>der</strong> späteren Tradition verewigt, die in ihren Kommentaren undKodifizierungen Frauen als Objekt des Interessen o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gesetzgebung nimmt, sie aber seltenals Gestalterinnen <strong>der</strong> Tradition und als Handelnde in ihrem eigenen Leben sieht.” (Ebd. 51f.)543 J. Ebach, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, 101.194


hören zusammen. Der Sabbat gründet in Gottes Schöpfungsruhe. Sievollendet die Schöpfung. Ex 20 legt den Schwerpunkt auf die Segnungund Heiligung des Sabbat und son<strong>der</strong>t ihn dadurch von den an<strong>der</strong>en Tagenaus. Gesegnet wird <strong>der</strong> Tag, wie sonst nur Geschöpfe gesegnetwerden.Der Sabbattag erinnert an Gottes Schöpfung und hält sie in Erinnerung.<strong>Die</strong> Fassung des Sabbatgebotes in Ex 20 ist stärker kultisch ausgerichtet,denn an diesem Tag finden Gottesdienste und Sabbatopferstatt. <strong>Die</strong> Einhaltung des Sabbat wird zu einer kultischen Pflicht. 544 Dassoziale Moment des Sabbatgebotes, das für Herrn, Knecht und Magd einegleichmachende Ruhe begründet, tritt eher zurück. Präsent ist die sozialeZweckbestimmung in den mit “Du/Dein” angeredeten Arbeitskräften.545 Der Herr trägt Verantwortung für die Einhaltung des Gebotes imLebens- und Wirtschaftsbereich <strong>der</strong> Hausgemeinschaft.<strong>Die</strong> biblische Tradition belegt, daß die Arbeitsruhe am Sabbat nie unumstrittenwar und immer wie<strong>der</strong> neu erkämpft werden mußte. Schondie vorexilische Prophetie des 8. Jahrhun<strong>der</strong>ts kämpfte für die Einhaltungdes Ruhetages. Am 8,4-6 verweist auf eine Mißachtung des Ruhetagesaus ökonomischen Gründen. “Und wann ist <strong>der</strong> Sabbat vorbei? Wir wollenden Kornspeicher öffnen (...)” (Am 8,5b). Das Neumondfest und <strong>der</strong>Sabbat stören die Zeit für Handel und Geschäfte (Hos 2,13).<strong>Die</strong> Sabbatgebote gehen nicht von einem unwirklichen Ideal aus. <strong>Die</strong>seGebote bieten vielmehr mit ihrem Menschenbild eine Antwort aufmenschenunwürdige Verhältnisse. <strong>Die</strong> sozio-ökonomischen Verhältnisseim Alten Israel waren so, daß <strong>der</strong> Ertrag aus dem Landbesitz eher geringwar. Deshalb mußte ein Familienverband seinen Lebensbedarf von demkargen Ertrag des Landes decken. Das Sabbatgebot läßt sich als eineethisch inspirierte sozialrechtliche Regulierung <strong>der</strong> Arbeitsverhältnisseverstehen: Es begrenzt die Arbeit für Herrn und Knecht; es verpflichtetden Herrn zu sozialrechtlichen Auflagen und verschafft dem KnechtRechte gegenüber seinem Herrn; es bezieht die landlosen Fremden indie Versorgung ein. <strong>Die</strong> Sabbatidee wird immer wie<strong>der</strong> den sich wandelndensozio-ökonomischen Verhältnissen angepaßt; die verschiedenenFormulierungen des Sabbatgebotes spiegeln deshalb die sozioökonomischenVerhältnisse. Aus <strong>der</strong> ursprünglich auf die Agrargesellschaft bezogenenArbeitsruhe (Ex 34,12. 21; 20,8-11; Dtn 5,14) wird ein Ruhetag,<strong>der</strong> die kommerziellen Verhältnisse <strong>der</strong> Stadt berücksichtigt. Den Sabbatzu heiligen bedeutet nun, keinen Handel zu treiben, keine Geschäfte zumachen, keine Verkaufsverhandlungen zu führen (Jes 58,13f. Auch Hos2,13; Am 8,4ff.). Jer 17,19ff. interpretiert die Arbeitsruhe auf die städti-544 J. Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 249.545 R. Kessler, Das Sabbatgebot, 96.195


schen Verhältnisse hin und verbietet das Lastentragen. <strong>Die</strong>ses Verbotwird zur praktischen Politik, wenn die sog. Denkschrift des Nehemia zuSabbatbeginn die Tore Jerusalems schließen läßt (Neh 13,19). 546Nehemia kämpft politisch um die Einhaltung des Sabbatgebots. DasSabbatgebot wird erstmals zu einem Gesetz und nicht mehr nur religiösbegründet. Als Statthalter <strong>der</strong> persischen Oberhoheit erläßt er das Sabbatgebotals staatliches Gesetz. In Neh 10,32.34 werden die jüdischenBewohner Jerusalems auf eine Sabbatordnung verpflichtet, die den Kaufvon Waren, Getreide und Grundnahrungsmitteln von Nichtjuden amSabbat verbietet. 547 Doch die Durchsetzung <strong>der</strong> Sabbatobservanz stößtauf Wi<strong>der</strong>stand bei <strong>der</strong> judäischen Bevölkerung. Weiterhin tritt man dieKelter, handelt mit Getreide und transportiert die Güter nach Jerusalem(Neh 13,15-22).<strong>Die</strong> ursprüngliche Sabbatidee des Ruhens von <strong>der</strong> Arbeit unter bäuerlichenVerhältnissen wird mo<strong>der</strong>nisiert: Aus dem Nichtarbeiten <strong>der</strong> ältestenSabbatformulierungen wird eine Heiligung des Sabbat, die darin besteht,keine Geschäfte zu treiben, keine geschäftlichen Verkaufsverhandlungenzu führen, keine Gütern zu transportieren (vgl. dazuJes 58,13f.). Der Sabbat hatte immer schon seinen Preis und war, anKriterien ökonomischer Vernunft gemessen, immer kontraproduktiv. ZurZeit <strong>der</strong> Ernte und des Pflügens nicht zu arbeiten und Kommerz, Handelund Distribution zyklisch zu unterbrechen, führt allemal zu wirtschaftlichenEinbußen. Wenn nicht gearbeitet und kein Handel getrieben wird,wird ein möglicher Gewinn und Nutzen nicht realisiert. Dennoch - o<strong>der</strong>gerade deswegen - wird <strong>der</strong> Sabbat als “Lust” bezeichnet (Jes 58,13). ImHebräischen wird ein Wort verwendet, das in an<strong>der</strong>en Zusammenhängenfür lustvolle Labung an fettem Essen (Jes 55,2), das Sich-Laben desSäuglings an <strong>der</strong> Mutterbrust (Jes 66,11), für die königlichen Lustschlösser(Jes 13,22) o<strong>der</strong> auch für erotische Lust an den Reizen des geliebtenMädchens steht (Hld 7,7). So also soll <strong>der</strong> Sabbat sein: lebenspendendwie die Mutterbrust, labend wie ein gutes Essen, luxuriös wie ein Lustschloßund schön wie eine geliebte Frau. 548Daß <strong>der</strong> wöchentliche Sabbat seit Nehemia das gesellschaftliche LebenIsraels bestimmte, steht außer Zweifel. Zahlreiche Quellen bestätigendie Praxis. Auch die Diskussionen um die Geltung des Sabbat in denneutestamentlichen Schriften belegen die Sabbatpraxis zur Zeit <strong>der</strong> römischenBesatzung Palästinas.546 Ebd. 98.547 J.Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 252f.548 So R. Kessler, Das Sabbatgebot, 100.196


Zusammengefaßt lassen sich die Absichten des Sabbat folgen<strong>der</strong>maßenbeschreiben:- Der Sabbat begrenzt die Arbeit:Der Sabbat strukturiert Leben und Arbeiten in <strong>der</strong> sozialen und ökonomischenGrundeinheit des Hauses. Arbeit hat ein Maß und eine Ordnung:sechs Tage Arbeit und ein Tag Ruhe. So wie JHWH nach Abschluß<strong>der</strong> Schöpfung ruhte, so soll auch <strong>der</strong> Mensch mit seiner Arbeitzur Ruhe kommen. Begrenzt wird nicht allein die Arbeitszeit, auch dasWeisungsrecht des Herrn und <strong>der</strong> Frau des Hauses über die abhängigBeschäftigten hat eine Grenze: Am Sabbat ist Arbeit unter frem<strong>der</strong> Anweisungausgesetzt.- Der Sabbat verpflichtet den Herrn und gibt den im Haus ArbeitendenRechte:Der Sabbat ist eine soziale Errungenschaft, die den Schwächerenschützt und diesen Schutz rechtlich absichert. <strong>Die</strong> soziale Absicht dieserrechtlichen Bestimmung ist deutlich. <strong>Die</strong> ganze Haus- und Wirtschaftsgemeinschaftsamt den Tieren beendet am Sabbat ihre Arbeit.Der mit “Du” (Ex 20,8) angesprochene freie Bauer trägt mit seiner FrauVerantwortung für die Einhaltung <strong>der</strong> Arbeitsruhe im Lebens- und Wirtschaftsraumdes Hauses. <strong>Die</strong> Arbeit in <strong>der</strong> noch nicht getrennten Wirtschafts-und Lebenseinheit des Hauses wird für den Herrn und die abhängigArbeitenden kollektiv unterbrochen, damit alle in den Genußfreier Zeit kommen. Für den Sklaven und die Sklavin ist <strong>der</strong> Ruhetagein Anspruch und ein Lohn für die unter frem<strong>der</strong> Anweisung verrichteteArbeit. Der Sabbat ist ein Tag <strong>der</strong> erfahrenen Freiheit.- <strong>Die</strong> Ruhe am Sabbat ist nicht zweckgerichtet:Geheiligt wird <strong>der</strong> Tag nicht durch Kultus, son<strong>der</strong>n dadurch, daß denabhängig arbeitenden Sklaven und den Sklavinnen Freiheit von <strong>der</strong> Arbeit,ein Ruhetag, gegeben wird. Seine theologische Würdigung erhält<strong>der</strong> Sabbat nicht durch einen Kultus; die Ruhe selber ist theologischbegründet. Das Ruhen <strong>der</strong> Arbeit ist die Heiligung des Sabbat. <strong>Die</strong> Arbeitsruheist nicht eine Arbeitspause; sie erfüllt nicht einen Zweck, siesteht für sich selber. Das Arbeitsverbot und Ruhegebot erstreckt sichauf zweckdienliche und für das Leben notwendige Arbeiten, damit an<strong>der</strong>esoziale, schöpferische und kommunikative Tätigkeiten ermöglichtwerden. <strong>Die</strong>se Bestimmung hat eine klare soziale Schutzfunktion. Sieschützt den, <strong>der</strong> die zweckdienliche Arbeit zu tun hat. Auch <strong>der</strong> abhängigArbeitende soll nicht auf zweckdienliche Arbeit reduziert werden.- <strong>Die</strong> Ruhe für alle ist egalitär:<strong>Die</strong> Einbindung des Sklaven in den Sabbat begrenzt die Herrschaft desMenschen über Menschen zumindest an diesem Tag und läßt die ur-197


sprüngliche Gleichwertigkeit <strong>der</strong> Menschen vor Gott aufbrechen. Arbeitund Ruhe wird nicht nach <strong>der</strong> Klassenlage zwischen oben und untenaufgeteilt. Nicht alle müssen immer arbeiten, son<strong>der</strong>n alle arbeiten undruhen; leben und arbeiten in einem gemeinsamen Rhythmus von Arbeitund Ruhe. Da alle durch ihre Arbeit zur wirtschaftlichen Existenz beitragen,haben alle ein Recht auf Arbeit und Ruhe. Auffallend ist, daß nebendem Sklaven auch die Sklavin, neben dem Sohn auch die Tochtergenannt werden. <strong>Die</strong> weiblichen Mitglie<strong>der</strong> des Hauses werden eigensaufgezählt, denn sie bedürfen aufgrund ihrer schwachen Stellung undUnterordnung in einer patriarchalischen Gesellschaft eines beson<strong>der</strong>enSchutzes.- Der Sabbat regelt die Umverteilung von Arbeit:<strong>Die</strong> soziale und ökonomische Grundeinheit, die Hausgemeinschaft,muß sich vom dem Ertrag des kargen Bodens ernähren. In die Versorgungwerden die landlosen Fremden einbezogen. <strong>Die</strong> anfallende Arbeitund die Ruhe werden auf alle in <strong>der</strong> Wirtschafts- und Lebenseinheit desHauses aufgeteilt. Für alle - einschließlich <strong>der</strong> landlosen Fremden - gilt<strong>der</strong> soziale Schutz durch das Arbeitsverbot am Sabbat.<strong>Die</strong>se in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Hebräischen Bibel verankerte Sicht desSabbat ist nur zu lange durch eine neutestamentliche Exegese verstelltworden, die das Ringen um den Sabbat in den Evangelien als eineInfragestellung des Sabbat wertete. <strong>Die</strong>ses Ringen um den Sabbat gehörtin den Horizont des Ringens um die Geltung des Sabbat, <strong>der</strong> dieGeschichte <strong>der</strong> rabbinischen Theologie und das Frühjudentum begleitet.Deshalb gilt, daß Jesus zwar die Sabbatpraxis seiner Zeit in Frage gestellthat, nicht aber den Sabbat als Institution. <strong>Die</strong>sen hat er hoch geschätzt.549 Jesus hat das “Sabbatgebot nicht „aufgehoben‟, so daß Menschenvor die Alternative gestellt werden: Jesus o<strong>der</strong> das Judentum.” 550Vielmehr hat er die in Ex 20 und Dtn 5 ausgeführte Dimension <strong>der</strong> Befreiung,die ursprünglich mit dem Sabbat intendiert war, betont. 551549 J. Kegler, “Was ist am Sabbat erlaubt?” 240 - 245; vgl. auch T.Veerkamp, “Der Sabbat ist fürden Menschen da ...” (Mk 2,27) In: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker desErdkreises Gerechtigkeit.” 226-239; R. Kessler, Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 92-94.; M. Vidal, LeJuif Jésus et le Shabbat.550 J. Moltmann, Gott in <strong>der</strong> Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, München 1985, 294.551Welche Bedeutung das Sabbatgebot für die frühchristlichen Gemeinden hatte, kann exemplarischam Markusevangelium verdeutlicht werden. Gerhard Dautzenberg nennt das MarkusevangeliumDokument eines Heidenchristentums, “welches ähnlich wie die vor- und außerpaulinischenGemeinden und auch die paulinischen Gemeinden die sittlichen Gebote <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, repräsentiertdurch das Gebot <strong>der</strong> Nächstenliebe o<strong>der</strong> durch die Gebote des Dekalogs, zu haltenbemüht ist. Es ist ein Christentum, das sich seiner Nähe zum Judentum bewußt ist und diesesjüdische Erbe nicht aufgeben will.” G. Dautzenberg, Jesus und die <strong>Tora</strong> (II.), 245.198


6.1.2.2 Sabbatjahr und SchuldenerlaßDas Phänomen <strong>der</strong> Verschuldung spielte in <strong>der</strong> Antike für die wirtschaftlicheund soziale Entwicklung eine entscheidende Rolle. Deshalb kanntedie Antike auch Entschuldungen, die anläßlich von Inthronisationen o<strong>der</strong>an<strong>der</strong>en verfügten Anlässen vollzogen wurden. Ab dem 8. Jahrhun<strong>der</strong>tgewinnt die Verschuldungs- o<strong>der</strong> Überschuldungsproblematik eine solchegesellschaftliche Tragweite, daß die vorexilischen Propheten darindie Ankündigung schwerster Katastrophen für die Gesellschaft erblicken.Verschuldung führt zu Schuldknechtschaft (Am 2,6-8; 8,4-6; Jes 10,1f.)o<strong>der</strong> zum Verlust von Grund, Boden und Haus (Jes 5,8-10; Mi 2,1f.). 552Der Einschnitt des Exils in Babylon bringt keine grundlegende Än<strong>der</strong>ung,wie die nachexilische Prophetie zeigt. Auch sie hat sich wie<strong>der</strong> mit Überschuldungsvorgängenauseinan<strong>der</strong>zusetzen. Als Nehemia die Stadt Jerusalemaufbauen will, bekommt er es sogleich wie<strong>der</strong> mit Verschuldungzu tun, die sich so verheerend auswirkt, daß er nur mit einem sofortigenSchuldenerlaß einem Volksaufstand zuvor kommen und eine Entlastungherbeiführen will jedoch nur vorübergehend wirkte (Neh 5,1-13).In drei Stufen läßt sich eine Rechtsentwicklung aufzeigen, mit <strong>der</strong> versuchtwird, den Problemen <strong>der</strong> Verschuldung und <strong>der</strong> Akkumulation vonReichtum, Grund und Boden zu begegnen: Brachjahr, Schuldenerlaßund Zinsverbot. 5536.1.2.2.1 Sabbatjahr (Ex 23,10ff): BrachjahrDas Bundesbuch erweitert den Gedanken des wöchentlichen Sabbat aufein Sabbatjahr in jedem siebten Jahr. 554Sechs Jahre kannst du in deinem Land säen und die Ernte einbringen; imsiebten Jahr sollst du es brach liegen lassen und nicht bestellen. <strong>Die</strong> Armenin deinem Volk sollen davon essen (Ex 23,10f.).Beim Ruhenlassen des Bodens im Sabbatjahr liegt eine dem wöchentlichenSabbat “vergleichbare Kombination von religiösen, ökonomischen552 R. Kessler, Zur israelitischen Löserinstitution, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.), Schuldund Schulden. Biblische Tradition in gegenwärtigen Konflikten, München 1992, 40f.553R. Albertz, Der Kampf gegen die Schuldenkrise - das Jobeljahr Leviticus 25, in: <strong>der</strong>s., DerMensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu den Themen des konziliarenProzesses, Stuttgart 1990, 40-61.554 Ebd. 42f.199


und ökologischen Motiven vor.” 555 Interessant ist, daß das erwirtschafteteSurplus o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Überschuß nicht als Abgabe an die Staatsmacht abgeführtwerden sollte, aber auch nicht in Reichtum umgesetzt wurde. DerÜberschuß wird genutzt als Sabbat- und Brachjahr für den Boden. Wenn<strong>der</strong> Boden bei <strong>der</strong> Brache ruht, dann hat das auch eine soziale Dimensionfür diejenigen, die den Boden bewirtschaften. Ausdrücklich heißt es,daß die Armen des Volkes abernten dürfen (Ex 23,11). Der Überschußlandwirtschaftlicher Produktion soll nach diesem Gesetz nicht abgeführtwerden o<strong>der</strong> zur Anhäufung von Reichtum dienen. Das Surplus wird nichtvon einer Oberschicht angeeignet, son<strong>der</strong>n gesellschaftlich umverteiltzugunsten <strong>der</strong> Armen und dient dem Nichtstun im siebten Jahr. <strong>Die</strong>seBestimmung zeigt, daß nach biblischem Verständnis Eigentum sozialgebundenist. <strong>Die</strong> Armen bekommen einen Rechtsanspruch auf einen Anteil<strong>der</strong> wildgewachsenen Erträge.Neben dem sozialen ist <strong>der</strong> ökologische Zweck dieser Bestimmung füreine Brache eindeutig. <strong>Die</strong> Brache garantiert, daß <strong>der</strong> Boden vor Übernutzunggeschützt wird. Zwischen den Freiheitsrechten <strong>der</strong> Arbeitendenund den Freiheitsrechten des Bodens besteht ein Zusammenhang: “DerSinn dieses Brachjahres ist klar: Ist das Land auch dein, so bist du dochnicht <strong>der</strong> unbedingte Eigentümer, und es hat gleichfalls ein Recht aufFreiheit. Zum Zeichen dessen wird es im siebenten Jahr herrenlos. Wastrotzdem wächst, ist Nutznießung dessen, <strong>der</strong> sonst kein Eigentum hat,des Bedürftigen, dem als Volksgenossen das Land gleichfalls gehört. Sodanndes Tieres, das Gott ebenfalls geschaffen hat und speist.” 556 DemBoden Freiheitsrechte zu gewähren, ist ökologisch sinnvoll, denn esschützt die Ertragskraft des Bodens. Der Biologe Aloys Hüttermann hatmit Forschungsergebnissen israelischer Forscher begründet, wie dieseagrarökonomische Einrichtung <strong>der</strong> Brache dazu geführt hat, daß sich dieisraelitische Landwirtschaft zu <strong>der</strong> wahrscheinlich fortgeschrittensten <strong>der</strong>antiken Welt entwickelte, während die römisch-hellenistische Landwirtschaftstagnierte. 557Außerbiblische Quellen belegen, daß das Sabbatjahr zwischen dem 2.vorchristlichen und dem 2. nachchristlichem Jahrhun<strong>der</strong>t praktiziert wurde.Neu verpflichtend wurden Sabbat und das Sabbatjahr nach dem Exilin <strong>der</strong> Zeit des Nehemia und Esra (Neh 10,32). Alexan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Große hatanläßlich des Sabbatjahres den Juden einen Steuererlaß gewährt; ausden Kriegen Israels unter den Makkabäern (1 Makk 6, 49-54), aus <strong>der</strong>Zeit unter Herodes dem Großen und den Römern wird überliefert, wiesehr die Einhaltung des Sabbatjahres die Verteidigung <strong>der</strong> belagerten555 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 267.556 B. Jacob, Das Buch Exodus, 724.557 A. Hüttermann, <strong>Die</strong> ökologische Botschaft <strong>der</strong> Thora, 253.200


Städte schwächte, da es nicht genügend Vorräte gab. Nach Josephusgewährten Alexan<strong>der</strong> <strong>der</strong> Große und Cäsar den Juden für das SabbatjahrSteuerfreiheit, die dann nach dem Bar-Kochba-Aufstand von denRömern zurückgenommen wurde. 558 Tacitus kommentiert das Sabbatjahrsüffisant: “Da das Nichtstun (den Juden) Freude macht, wird auchjedes siebte Jahr dem Müßiggang geweiht.” 559 Ein archäologischer Papyrusfundbestätigt die Durchführung eines Sabbatjahres im zweiten Jahr<strong>der</strong> Regierungszeit Neros. 5606.1.2.2.2 Sabbatjahr (Dtn 15,1-11): SchuldenerlaßDer ökonomische Grundwi<strong>der</strong>spruch in <strong>der</strong> antiken Gesellschaft ist <strong>der</strong>zwischen Gläubiger und Schuldner. Moses I. Finley sagt deshalb überdas Schuldrecht: “Wenn man die Grundeinstellung zu den Armen begreifenwill, muß man nicht die gelegentlichen Menschenfreundlichkeiten betrachten,son<strong>der</strong>n das Schuldrecht (...). <strong>Die</strong>ses Recht war einheitlich hartund gnadenlos.” 561 Am Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldnerzeigt sich das gesellschaftliche Verhältnis zwischen Arm und Reich. “DerReiche hat die Armen in seiner Gewalt, <strong>der</strong> Schuldner ist seines GläubigersKnecht” (Spr 22,7). Der Parallelismus zwischen Arm und Reich sowieSchuldner und Gläubiger ist nur aussagekräftig, wenn er einenGrundwi<strong>der</strong>spruch thematisiert. 562 Hauptursache des Verelendungsprozesseswar das harte antike Kreditrecht. Es ermöglichte den Zugriff desKreditgebers auf den gesamten Besitz des Schuldners, einschließlichseiner Familie und seiner eigenen Person (2 Kön 4,1; Neh 5,1-4). Pfandund Zinsen waren verhältnismäßig hoch. Ein kleinbäuerlicher Betrieb, <strong>der</strong>nur über wenig Reserven verfügte, konnte dadurch schon bei kleinenwirtschaftlichen Schwierigkeiten in einen Teufelskreis geraten: Wenn dieZinsen infolge von Mißernten, Steuer- o<strong>der</strong> Fronbelastungen nicht zurückgezahltwerden konnten, mußte man zuerst die Äcker verpfänden.558 Verweise und Belege bei: H.G. Kippenberg u. G.A. Wewers, Textbuch zur neutestamentlichenZeitgeschichte, Göttingen 1979, 75ff.559Tacitus, Historiae V,4 , zit. nach: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.) “... so lernen die Völker desErdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 345.560<strong>Die</strong> Hinweise in: F. Crüsemann, Der größere Sabbat o<strong>der</strong> die Weisung, sich nicht zu Tode zuarbeiten. Bibelarbeit über 3 Mose 25,1-13, in: <strong>der</strong>s., Wie Gott die Welt regiert. Bibelauslegungen,München 1986, 49. Vgl. nähere Ausführungen über eine Kombination von Brache undSchuldenerlaß in <strong>der</strong> Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und dem 2. nachchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>tunten Abschnitt: 6.1.2.3.561 M.I. Finley, <strong>Die</strong> antike Wirtschaft, 38. - Lei<strong>der</strong> berücksichtigt Finley nicht die Ökonomie des altenIsraels.562So: R. Kessler, Das hebräische Schuldenwesen. Terminologie und Metaphorik, WuD NF 20(1989) 181.201


Dadurch war bereits ein Teil <strong>der</strong> Ernte des nächsten Jahres verpfändet.Kam <strong>der</strong> Schuldner nicht aus den Schwierigkeiten heraus, wurden Familienangehörigeund schließlich er selbst verkauft, d.h. er mußte unterVerlust seiner Freiheitsrechte seine Schulden für den Kreditgeber abarbeiten(vgl. 2 Kön 4,7; Neh 5,6-10; Jes 5,8). Neh 5 zeigt deutlich die Verelendungsprozesse:<strong>Die</strong> Hungersnot zwingt, Getreide zu kaufen. Äcker,Weinberge, Häuser, schließlich Frauen und Kin<strong>der</strong> müssen verpfändetwerden. Verschuldung wird zu einem Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnengibt; die Verarmung wächst mit <strong>der</strong> Verschuldung. Durch dasgnadenlose Kreditrecht geraten die Schuldner in totale Abhängigkeit vonden reichen Kreditgebern. 563 Dem <strong>Dr</strong>uck <strong>der</strong> Verarmung durch Verschuldungversuchte mancher durch Flucht und Bandenbildung zu entgehen(vgl. dazu 1 Sam 22,1-2). Schuldenerlaß ist deshalb als eine Reaktionzu verstehen, die jene durch diesen Prozeß hervorgerufene Verarmungunterbrechen will.Frank Crüsemann nennt den regelmäßigen Schuldenerlaß im Sabbatjahr“das neben dem Zinsverbot wichtigste Wirtschaftsgesetz” 564 . Aus <strong>der</strong>ökologisch motivierten Ackerbrache des Sabbatjahres (Ex 23,10f) wirdein sozial orientierter Schuldenerlaß (Dtn 15,1ff.). <strong>Die</strong> Bestimmungen inDtn 15 lassen sich deshalb auch als eine Auslegung und Ergänzung <strong>der</strong>Erlaßjahrbestimmungen in Ex 23,10f. verstehen. 565 Verwendet wird fürden Verzicht auf den Ertrag des Ackers im siebten Jahr das hebräischeWort, mit dem auch <strong>der</strong> Schuldenerlaß bezeichnet wird (schemitta). DerWortlaut in Dtn 15,1ff. belegt eindeutig, daß es um Streichung vonSchulden geht. In jedem siebten Jahr sollen alle Außenstände erlassenwerden.In jedem siebten Jahr sollst du die Ackerbrache einhalten. Und so lauteteine Bestimmung für die Brache: Je<strong>der</strong> Gläubiger soll den Teil seinesVermögens, den er einem an<strong>der</strong>n unter Personalhaftung als Darlehen gegebenhat, brachliegen lassen (Dtn 15,1-2a).<strong>Die</strong> Institution des Schuldenerlasses stellt einen weitgehenden Eingriffin das Kreditwesen dar. Der Versuch wird gemacht, jene ökonomischenund gesellschaftlichen Mechanismen außer Kraft zu setzen, die in <strong>der</strong>Antike regelmäßig zur Überschuldung führen. <strong>Die</strong> Staaten des Zweistromlandeskannten ebenso wie die griechische Antike und ÄgyptenSchuldenerlasse, die jedoch in zeitlich unregelmäßigen Abständen er-563Schuldscheine belegen horrend hohe Jahreszinsen, so etwa auf Elephantine in <strong>der</strong> Höhe vonmindestens 60%. Nachweise in: R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 250, Anm. 18.564F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 264.; R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 92-94. R. Albertz,Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 339ff.565 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 184.202


folgten. 566 Deren Ziel war es wie im Alten Israel, die Armen zu schützenund Gerechtigkeit zu bewahren. <strong>Die</strong>se Schuldenerlasse dienten in Israelwie in <strong>der</strong> Antike überhaupt dem Ziel, wirtschaftliche Produktivität wieauch die gesellschaftliche Ordnung insgesamt zu sichern. Proklamiertwurde <strong>der</strong> Schuldenerlaß in Mesopotamien durch den König bei <strong>der</strong> Inthronisationund immer dann, wenn es nötig schien. In mancher Hinsichtkönnen diese Erlasse mit den biblischen Sieben-Jahres-Einrichtungenzur Freilassung <strong>der</strong> Sklaven und zum Schuldenerlaß verglichen werden.567 Israel steht deshalb in seinem Versuch nicht allein, Institutionen<strong>der</strong> Entschuldung zu schaffen.Das Gesetz über einen allgemeinen Schuldenerlaß in einem berechenbarenZyklus war sicher wirkungsvoll, wenn es denn befolgt wurde.Seine Grenze besteht dort, wo die ökonomisch Mächtigeren als Darlehensgeberein Darlehen zum Überleben des in Not Geratenen verweigern,weil ein regelmäßiger Schuldenerlaß ansteht. Der dtn. Gesetzgeberweiß um diese Schwäche und versucht durch einen Appell an die Solidaritätdes Darlehensgebers das Problem zu lösen: Segen liegt auf demTun (Dtn 15,7-11). Sanktionen kennen die Bestimmungen nicht. Sie argumentierenlediglich mit <strong>der</strong> Zusage des Segens Gottes.Wie es alle sieben Jahre einen allgemeinen Schuldenerlaß gibt, soauch eine auf sieben Jahre befristete Schuldsklaverei (Ex 21,2-6; Dtn15,12-18). Nach Dtn 15,13f steht den freizulassenden Sklaven und Sklavinnenein kostenloses Startkapital aus dem Vieh- und Erntebestand ihresbisherigen Herrn zu, das ihnen nach ihrer Entlassung zu übergebenist.Und wenn du ihn als freien Mann entläßt, sollst du ihn nicht mit leerenHänden entlassen. Du sollst ihm von deinen Schafen und Ziegen, von deinerTenne und von deiner Kelter soviel mitgeben, wie er tragen kann. Wie<strong>der</strong> Herr, dein Gott, dich gesegnet hat, so sollst du ihn bedenken (Dtn15,13f.).Freiheit wird nicht abstrakt gewährt, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> Freilassung wird zugleicheine ökonomische Basis für die Freiheit sichergestellt. Unter denBedingungen des Alten Israels bedeutete dies, daß ökonomische Voraussetzungenfür die Führung eines eigenen Hauses (oìkos) gegebenwurden.Ein beson<strong>der</strong>es Wort für Sklave gibt es im Hebräischen überhauptnicht. „Ebed ist ein Arbeiter, Knecht, Untergebener, aber <strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong>566 G. Robinson, Das Jobel-Jahr. <strong>Die</strong> Lösung einer sozial-ökonomischen Krise des Volkes Gottes,in: D.R. Daniels u.a. (Hg.), Ernten, was man sät, FS K. Koch, Neunkirchen 1991, 489 f.567 Ebd. 490.203


Dauer und Leibeigenschaft liegt nicht in dem Wort. 568 Sklavenarbeit wirdin Israel an<strong>der</strong>s als in <strong>der</strong> Antike nie eine ökonomisch wichtige Größe.Hebräische Sklaven von Geburt an gibt es in Israel nicht. Nur auf zweiWeisen kann ein Israelit zum Sklaven werden: Er verkauft sich selbst,weil er in Not geraten ist (Lev 25,35ff.), o<strong>der</strong> er wird verkauft, weil er etwasgestohlen hat (Ex 22,2). Erst in <strong>der</strong> Königszeit gewinnt die Sklavereian Umfang und Bedeutung. 569 Ex 21,2 bestimmt, daß hebräische Sklavennur sechs Jahre Arbeit tun dürfen und im siebenten Jahr freigelassenwerden müssen. Benno Jacob versteht Ex 21,2 als Beleg dafür, daßes hebräische Sklaven nicht geben darf, denn ein Sklave auf Zeit sei einjuristischer Wi<strong>der</strong>sinn. “Das oberste Grundrecht des aus dem SklavenhausÄgypten geführten Israeliten, sein mispat, ist die persönliche Freiheit.”570 Welche zentrale Bedeutung diese Regelung für die Identität desAlten Israel hat, zeigt die Deutung <strong>der</strong> politischen Krise durch den ProphetenJeremia. Jeremia leitet den Sturz Judas, <strong>der</strong> zum Exil in Babylonführte, aus <strong>der</strong> Weigerung <strong>der</strong> herrschenden Kräfte ab, die Sklaven nachsechs Jahren in die Freiheit zu entlassen (Jer 34,14-18). Während dasbabylonische Recht eine Fangprämie für entlaufene Sklaven kennt, befiehltdie <strong>Tora</strong>, den Sklaven nicht auszuliefern, son<strong>der</strong>n ihm Schutz zugewähren (Dtn 23,16ff.). 571JHWH hatte Israel aus diesem Sklavenhaus Ägypten befreit und sichdadurch zum Eigentümer aller israelitischen Sklaven erklärt (Lev25,38.42.55). <strong>Die</strong> Sklaven im eigentlichen Sinn wurden nicht aus <strong>der</strong> Gesellschaftausgeschlossen, son<strong>der</strong>n hatten eine endgültige Integration indie Gesellschaft und ein Ende von Schuldknechtschaft vor Augen. Sklavenmußten nach sieben Jahren in die Freiheit entlassen werden (Ex21,2-6; Dtn 15,12-18). Dtn 15,12ff. modifiziert die Bestimmungen von Ex21,2ff., um eine faktische Dauersklaverei zu unterbinden, indem Dtn 15bestimmte, die freigelassenen Sklaven mit Vieh und Saatgut auszustatten.Dadurch wurde ein “Startkapital” mitgegeben, das einer erneutenVerschuldung entgegenwirken sollte. Der Kreislauf Verschuldung -Schuldknechtschaft wurde dadurch unterbrochen. Ex 21,2ff. hatte sich in<strong>der</strong> Realität wohl nicht als Schutzbestimmung ausgewirkt, son<strong>der</strong>n anscheinendin <strong>der</strong> Mehrzahl <strong>der</strong> Fälle zu einer erneuten Dauersklavereigeführt. 572 Das Jobeljahrgesetz erweiterte die Schuldknechtschaft zeitlichauf maximal 49 Jahre (Lev 25, 39-43). <strong>Die</strong>se Modifizierung ist zwiespäl-568 B. Jacob, Das Buch Exodus, 625.569 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 180.570 B. Jacob, Das Buch Exodus, 624.571 Vgl. dazu die aufgeführten Rechtsbestimmungen aus dem Codex Esnunna in: E. Otto, TheologischeEthik des Alten Testaments, 187f.572 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 179-188.204


tig: zum einen stellt die Verlängerung <strong>der</strong> Schuldsklaverei von sechs Jahren(Ex 21,2ff; Dtn 15,12ff.) auf 49 Jahre eine “massive Verschlechterung”573 dar, an<strong>der</strong>erseits jedoch ist sie rechtsgeschichtlich ein erster bedeuten<strong>der</strong>Schritt zur Aufhebung von Sklaverei überhaupt, da Schuldsklavereifaktisch in Lohnarbeit umgewandelt wird. Der Schuldsklave sollwie ein Lohnarbeiter und “nicht mit Gewalt und Härte” (V 43) behandeltwerden. Er erhält seine persönliche Freiheit und steht in einem Arbeitsverhältnis.<strong>Die</strong>se Umwandlung <strong>der</strong> Schuldsklaverei zu abhängiger Lohnarbeitbedeutet die Garantie, ein geregeltes o<strong>der</strong> sicheres Auskommenzu finden. Rechtlich und sozial ist <strong>der</strong> so Verdingte jedenfalls in einerbesseren Position als <strong>der</strong> Tagelöhner, <strong>der</strong> nur nach anfallendem Bedarfgebraucht wird. 574 <strong>Die</strong>se Umwandlung von Schuldknechtschaft in eineabhängige Lohnarbeitersituation lebt aus dem Impuls <strong>der</strong> Befreiungdurch JHWH im Exodus und will zwischen dem “theologischen Bekenntnisund <strong>der</strong> sozialethischen For<strong>der</strong>ung” 575 einen unmittelbaren Zusammenhangherstellen.Lev 25,43 verbietet, die Verschuldeten, die in Schuldknechtschaft geratensind, mit Härte zu behandeln. “Denn sie sind meine Knechte; ichhabe sie aus Ägypten herausgeführt, sie sollen nicht verkauft werden,wie ein Sklave verkauft wird. Du sollst nicht mit Gewalt über ihn herrschen”(Lev 25,42f.). <strong>Die</strong> Hebräer wurden in Ägypten zu harter Arbeit“ohne Erbarmen” gezwungen (Ex 1,13.14). Das hebräische Wort bepäräk= ohne Erbarmen kommt sonst nur dort in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> vor, wo angeordnetwird, die Schuldsklaven nicht “mit Härte/ohne Erbarmen” (Lev25,43.46.53, sowie Ez 34,4) zu behandeln und ist zu einem Terminusdes Gesetzes geworden. Gefor<strong>der</strong>t ist eine brü<strong>der</strong>liche Gesinnung undhumane Behandlung des Abhängigen. Das Gegenteil davon ist inhuman,barbarisch, unmenschlich. 576 <strong>Die</strong> Sozialgesetzgebung des Deuteronomiumist ein Gesetzessystem und Reformwerk, das mit seinen arbeitsundsozialrechtlichen Absichten zentral auf die Wirklichkeit bäuerlicherArbeit zielt: <strong>Die</strong> Fehlentwicklung <strong>der</strong> Fronarbeit wird korrigiert und die Institution<strong>der</strong> Fron abgeschafft, die als eine für Ägypten typische Einrichtungangesehen wird (Dtn 6,12; 8,14) 577 ; Lohnzahlungsmodalitäten werdengeregelt (Dtn 15,18); für die, die nicht am Produktionsprozeß teilhaben,wird eine Sozialsteuer zur Unterstützung erhoben (Dtn 14,22-29);die Entschuldung verschuldeter Bauern wird regelmäßig durchgeführt573 Ebd. 353.574 So R. Albertz, Der Kampf gegen die Schuldenkrise - das Jobeljahr Levitikus 25, 57.575 Ebd. 25, 60.576 B. Jacob, Das Buch Exodus, 13.577So F. Crüsemann, “...damit er dich segne...”, 91f. Über Fronarbeit im Alten Israel: J. Kegler,Arbeitsorganisation und Arbeitskampfformen im Alten Testament, in: L. Schottroff u. W.Schottroff (Hg.), Mitarbeiter <strong>der</strong> Schöpfung. Bibel und Arbeitswelt, München 1983, 51-71.205


(Dtn 15,1-11). Im Dtn werden Lohnarbeiter erstmals als eigene sozialeGruppe genannt (Dtn 15,18,; 24,14f.). Grund ist wohl, daß durch die fortschreitendeKrise immer mehr Bauern ihr Land verloren und in abhängigerArbeit ihren Lebensunterhalt verdienen mußten. 578 <strong>Die</strong> sozialgeschichtlichneue Form abhängiger Lohnarbeit wurde von <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> arbeitsrechtlichreguliert. Der Lohnarbeiter gehörte zu den Armen (Dtn24,14). Er war zwar frei, doch auf Beschäftigung angewiesen. Wie engund sozial ungesichert dennoch die Lebenslage war, zeigt sich daran,daß <strong>der</strong> Lohnarbeiter als jemand beschrieben wird, <strong>der</strong> sein ganzes Lebenauf die Lohnauszahlung ausgerichtet hat. Um seine Existenzgrundlageabzusichern, wird bestimmt, den Lohn noch am Abend desArbeitstages auszuzahlen (Dtn 24,15). <strong>Die</strong> Radikalität dieses Ethos wirdauf dem Hintergrund des altorientalischen und griechisch-römischenRechts deutlich. Sklaverei zeitlich zu begrenzen o<strong>der</strong> durch ihre Umwandlungin Lohnarbeit faktisch abzuschaffen, wie es die <strong>Tora</strong> tut, ist fürdie griechisch-römische Antike, die Sklaven nach dem Sachenrecht behandelte,ebenso beispiellos wie für den babylonischen und ägyptischenKontext.Das Erlaßjahr war keine reine Utopie. Indirekt belegt die Ausnahmeregelungdes Prosbol des Hillel die Praxis des Sabbatjahres. 579 Da nach<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> im siebten Jahr alle ausstehenden Schulden erlassen werden,war es gegen Ende <strong>der</strong> Frist für Arme schwer, ein Darlehen zu erhalten(Dtn 15,1ff). Als Rabbi Hillel (1. Jh. n. Chr.) erkannte, daß die soziale Intentionin <strong>der</strong> Praxis zu unsozialen Ergebnissen führte, ordnete er denProsbol an, durch den <strong>der</strong> Gläubiger seine For<strong>der</strong>ungen vor Beginn desSabbatjahres in einer Urkunde bei Gericht geltend machte, so daß er sieauch später noch einziehen konnte. Das Gericht, nicht aber <strong>der</strong> Gläubiger,drängte den Schuldner. Hillel hatte die halachische Möglichkeit geschaffen,eine Schuld über das Erlaßjahr hinaus aufrechtzuerhalten, indemdie Schuldscheine einem Gerichtshof übergeben und dadurch entpersönlichtwurden. Das Sabbatjahr mit seiner Erlaßfunktion war durchdiese Regelung faktisch abgeschafft. <strong>Die</strong>se Reform des Rabbi Hillel hobzwar ein biblisches Gebot auf, war aber eine wichtige und mutige Tat zur578 So R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 342.579 Vgl. zum Prosbol: H.G. Kippenberg u. G.A. Wewers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte,75ff.; vgl. auch den Vertrag eines “Prosbol” in: H.G. Kippenberg u. G.A.Wewers,Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 76; vgl. auch: J. Klausner, Jesus von Nazareth.Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre, Berlin 1930, 247.Verweise auf die Praxis desSabbatjahrs bei: R. Albertz, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge, in: ÖkumenischeRundschau 44 (1995 ) 307, Anm. 16; vgl. K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.) “... so lernendie Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Anhang, 345; vgl. nähere Ausführungen über eineKombination von Brache und Schuldenerlaß in Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und 2.nachchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>t unten Abschnitt: 6.1.2.3.206


Erhaltung <strong>der</strong> sozialen Ordnung. 580 Mit einem juristischen Kniff wurde dieDarlehensverpflichtung abgeschafft und ein am griechischen Recht orientiertesEigentumsverständnis eingeführt. Hillels Än<strong>der</strong>ung geschahdurchaus im Interesse <strong>der</strong> bedrängten Armen, und nicht etwa im Interesse<strong>der</strong> reichen Darlehensgeber, denn er suchte nach einem Weg, ArmenZugang zu einem Darlehen zu verschaffen. 5816.1.2.2.3 Zinsverbot als Strategie gegen Verarmung und VerelendungIn seinem Kommentar <strong>Die</strong> Bibel - eine Deutung sagt Leonhard Ragazzum biblischen Zinsverbot: Es sei “nicht bloß eine einzelne wirtschaftlichsozialeMaßregel, son<strong>der</strong>n ein gewaltiges Prinzip: die Verhin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong>Geldwirtschaft.” 582 Frank Crüsemann nennt Zinsverbot und Schuldenerlaß“Kernstücke biblischen Wirtschaftsrechts” 583 : Sie sind Teil einer Gegenstrategiegegen Verarmung und Verelendung. Das Zinsverbot versteht<strong>der</strong> Prophet Ezechiel in Ez 18,8ff. als eine Frage <strong>der</strong> Gerechtigkeitgegenüber den schwachen Mitmenschen und auch gegenüber Gott. “Derhohe Stellenwert, den für Ezechiel das Zins- und Aufschlagsverbot einnimmt,zeigt, daß er es nicht nur unter dem sozialpolitischen Aspekt <strong>der</strong>Minimierung von Verelendung, son<strong>der</strong>n als theologisch zentrales Element<strong>der</strong> Verwirklichung von Gerechtigkeit sieht. In ihm realisiert sich dieFor<strong>der</strong>ung Gottes nach Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Welt.” 584Rainer Kessler hat in seiner Analyse <strong>der</strong> Begriffe deutlich herausgearbeitet,daß die hebräische Sprache eine Unterscheidung kennt, die imDeutschen sprachlich kaum nachvollzogen werden kann. Im Hebräischenwird unterschieden, ob <strong>der</strong> Zinsnehmer o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Zinsverleiher imBlick ist: ausleihen aus <strong>der</strong> Sicht des Ausleihenden (Dtn 28,12; Jes 24,2;Ps 37,21 u.ö.), verleihen aus <strong>der</strong> Sicht des Verleihenden (Ex 22,24; Jes24,2; Ps 37,26;1 Sam 22,2 u.ö.), Zinszahlen (Hab 2,7), Zins for<strong>der</strong>n (Am2,8). <strong>Die</strong>se doppelte Terminologie spiegelt einen Wi<strong>der</strong>spruch einerWirtschaftsweise wie<strong>der</strong>. Einerseits ist es notwendig, dem in Not geratenenMitglied <strong>der</strong> Gesellschaft zu leihen, damit es weiterwirtschaftenkann; an<strong>der</strong>erseits aber begründet das Leihen Abhängigkeit. Schuldenkönnen zu Sklaverei führen: “Nun kommt <strong>der</strong> Gläubiger, um sich meine580 Der Babylonische Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von R. Meyer, 7. Aufl. München1963, 317f. Anm. 390.581 So E.W. Stegemann, W. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 108.582 L. Ragaz, <strong>Die</strong> Bibel - eine Deutung. <strong>Die</strong> Urgeschichte / Moses (1947), Neuauflage in vier Bänden,Bd. 1 Fribourg / Brig 1990, 389.583 F. Crüsemann, Der größere Sabbat, 55.584 J .Kegler, Das Zinsverbot in <strong>der</strong> hebräischen Bibel, in: M. Crüsemann u. W. Schottroff (Hg.),Schuld und Schulden, 37.207


Sicherheit verwertet. 588 Benno Jacob deutet das Verhalten des Gläubigersganz schlicht: “Es (das Darlehen, F.S.) ist kein Almosen, und dasGeliehene soll zurückgegeben werden. Der Darleiher soll nichts verlieren,aber auch nichts gewinnen.” 589 Kreditinteressenten waren wohl verarmteBauern, die nicht zuletzt Geld zum Erwerb von Saatgut benötigten.Da die landwirtschaftlichen Erträge nicht voraussehbar sind, sind, mitdenen das geliehene Geld erstattet werden kann, besteht für den Darlehensgeberein hohes Risiko. <strong>Die</strong>ses Risiko wälzt <strong>der</strong> Darlehensgeber aufden Schuldner ab, wenn er Zinsen erhebt. Sozialökonomischer Hintergrundist eine Agrarökonomie, in <strong>der</strong> die kleinbäuerliche Existenz durchZinsnahme bedroht ist.Der Mahnung, sich nicht wie ein “Wucherer” zu verhalten, folgen zweiAusführungen: das Verbot <strong>der</strong> Zinsnahme (Ex 22,24b) und das Verbot<strong>der</strong> Pfandnahme (Ex 22,24-26). Zins wie Pfandnahme werden parallelgestellt, denn sie machen sozial und ökonomisch abhängig. Das biblischeWirtschaftsrecht will diese in Abhängigkeit führenden ökonomischenMechanismen durchbrechen. Begründet wird dieser Eingriff inökonomische Mechanismen theologisch: “Weil Gott gnädig ist, weil er dieSchreie <strong>der</strong> Armen hört, deshalb ist das Recht <strong>der</strong> Armen auf Leihen ohnePfand- und Zinsnahme essentieller Bestandteil <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>.” 590(2) Zinsverbot (Dtn 23, 20f.)Das Deuteronomium kennt ebenfalls ein Zinsverbot, allerdings präzisiertgegenüber dem Bundesbuch.Du darfst von deinem Bru<strong>der</strong> keine Zinsen nehmen: we<strong>der</strong> Zinsen für Geldnoch Zinsen für Getreide noch Zinsen für sonst etwas, wofür man Zinsennehmen kann. Von einem Auslän<strong>der</strong> darfst du Zinsen nehmen (Dtn 23,20.21a).Einschränkend wird jetzt nicht nur das Zinsnehmen für Gelddarlehenverboten (wie in Ex 22,24), son<strong>der</strong>n auch für alle an<strong>der</strong>en Darlehensarten,mit denen man Zinsen erzielen kann (Dtn 23,20). An<strong>der</strong>s als in Ex22,24 wird die Bedürftigkeit des armen Darlehensempfängers nicht er-588 E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 27f. Er versteht die Formulierung deshalb auchpädagogisch-paränetisch: Juristisch sei die Bestimmung in Ex 22,24 keine Norm, aus <strong>der</strong>Pflichten und Rechte folgen, son<strong>der</strong>n eine Ermahnung, sich nicht wie ein noseh zu verhalten.Erst durch eine Spezialnorm werde <strong>der</strong> Grundsatz als Rechtsprinzip anwendbar. - <strong>Die</strong> Einheitsübersetzungverwendet das Wort “Wucherer/Wucherzins”. <strong>Die</strong>se Übersetzung gibt denSachverhalt nicht wie<strong>der</strong>, denn vorausgesetzt ist ein Maßstab, <strong>der</strong> diese Wucherzinsen von - erlaubten- niedrigeren Zinsen abhebt. Crüsemann spricht zutreffen<strong>der</strong> von “Pfandleiher”(F. Crüsemann,<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 217).589 B. Jacob, Das Buch Exodus, 714.590 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 219.209


wähnt. Das Verbot des Leihens, das in Ex 22,24 auf die Armen beschränktwar, wird auf alle Israeliten ausgeweitet; zugelassen wird dieseForm des Darlehensgeschäftes nur noch gegenüber Auslän<strong>der</strong>n. Fremdenkonnte die <strong>Tora</strong> das Zinsnehmen nicht verbieten. Wenn fremde DarlehensgeberZinsen eintreiben konnten, hätten zinslose Darlehen entsprechend<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zu einer einseitigen Benachteiligung und Ausbeutunggeführt, denn <strong>der</strong> fremde Darlehensgeber hätte bei den IsraelitenZinsen eintreiben können, ihm gegenüber jedoch hätte man auf einenZinsgewinn verzichten müssen. Das Zinsverbot gilt deswegen nur fürVolksangehörige und ist für Nichtjuden aufgehoben. 591 Eine aus demverwandtschaftlichen Bereich stammende Norm wird auf die Wirtschaftsbeziehungmit Auslän<strong>der</strong>n übertragen. Dadurch soll keine Zweiklassenethiketabliert werden, vielmehr trägt die Bestimmung <strong>der</strong> Differenzvon Innen- und Außenwirtschaft Rechnung. 592 Das Verbot <strong>der</strong>Zinsnahme im Unterschied zur Praxis <strong>der</strong> Nachbarvölker begründetEberhard Klingenberg mit <strong>der</strong> sozio-ökonomischen Son<strong>der</strong>stellung Israels,aber auch mit <strong>der</strong> Tatsache, daß Israel politisch und ökonomisch gegenüberden unmittelbar angrenzenden Phöniziern, Kanaanäern und Philisternweniger entwickelt war. So hätten Darlehenszinsen in <strong>der</strong> vor- undfrühstaatlichen Zeit Israels keine ökonomische Bedeutung gehabt. 593Erstmals wird in Dtn 23,20f. <strong>der</strong> Fachbegriff nesek verwendet. Er leitetsich von <strong>der</strong> Wurzel nasak = beißen, verletzen, schaden ab. 594591 Der in Dtn 23,21 gemeinte Fremde (hebr. = nokri) ist <strong>der</strong>, <strong>der</strong> nicht dauerhaft im Lande lebt undsich beispielsweise zum Zwecke von Handelsgeschäften im Lande aufhält, während <strong>der</strong> mitdem hebräischen Wort ger bezeichnete Fremde einen freien jüdischen o<strong>der</strong> nichtjüdischen Landesbewohnerohne Bürgerrecht meint. Vgl. dazu: E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot,36.592 So F. Crüsemann, Das Alte Testament als Grundlage <strong>der</strong> Diakonie, in: G. K. Schäfer, Th.Strohm, Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen. Ein Arbeitsbuch, 2. Aufl. Heidelberg1994, 83f. Gegen M. Weber, <strong>der</strong> auf eine Logik dieser Ausnahmeregelung in Dtn23,20f. hinweist: “<strong>Die</strong> Scheidung von ökonomischer Binnen- und Außenethik ist für die religiöseWertung <strong>der</strong> Wirtschaftsgebarung dauernd bedeutsam geblieben.”(M. Weber, Ges. Aufsätzezur Religionssoziologie (1921), Bd. III.,7. Aufl. Tübingen 1983,357f) M. Weber bestreitet dieUniversalität <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>-Ethik. Der Dualismus <strong>der</strong> Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> konnte bestimmte,dem Glaubensbru<strong>der</strong> gegenüber verpönte Arten des Verhaltens dem Nichtbru<strong>der</strong> gegenüber zuAdiaphora stempeln (M. Weber, Ges. Aufsätze , Bd. III., 358).593 E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 24f.594 Neben nesek verwendet die <strong>Tora</strong> tarbit (so in Lev 25,36f.; Ez 18,8.13.17, 22,12) als weitere Bezeichnungfür Zinsen. Vgl. die Ausführungen und Diskussion: Ebd. 43ff. tarbit ist nur beiNaturalabgaben denkbar, während nesek einen Vorwegabzug bezeichnet o<strong>der</strong> einen Betragmeint, <strong>der</strong> mit <strong>der</strong> Darlehenssumme akkumuliert geleistet werden kann (Ebd. 51). Klingenbergverweist auf eine erklärende Deutung bei Maimonides: “Warum heißt es nesek? Weil <strong>der</strong>, <strong>der</strong>Zins nimmt, seinen Nächsten beißt, ihm Schmerzen zufügt und sein Fleisch ißt.” (43, Anm.185)210


(3) Zinsverbot (Lev 25,35f.)Das Zinsverbot im Heiligkeitsgesetz weist eine ähnliche Struktur auf wieim Bundesbuch und im Deuteronomium.Wenn dein Bru<strong>der</strong> verarmt, (...). Nimm von ihm kein Zins und Wucher!Fürchte deinen Gott, und dein Bru<strong>der</strong> soll neben dir leben können. Dusollst ihm we<strong>der</strong> dein Geld noch deine Nahrung gegen Zins und Wuchergeben (Lev 25,35a.36.37).<strong>Dr</strong>ei Textstufen in Lev 25,35-38 lassen sich herausarbeiten: V 37: einalter, poetisch geformter Rechtsspruch; Vv 35.36: Einführung, die dasZinsverbot begründet; V 38: Verweis auf Exodus und Landnahme: “Umeuer Gott zu sein” (Lev 25,38). <strong>Die</strong>se Begründung des Zinsverbotes zeigtdie Ausson<strong>der</strong>ung und Heiligung Israels durch Gott, <strong>der</strong> das Volk in seinemVerhalten entsprechen soll. 595Das biblische Zinsverbot ist eine Gegenstrategie gegen VerarmungsundVerelendungsprozesse in <strong>der</strong> Gesellschaft. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> ist das einzigeantike Gesetz, das ein ausdrückliches Verbot von Zinsen enthält. Zwarmißbilligen Aristoteles und Platon das Zinsnehmen, doch ein positivesVerbot des Zinses ist nicht überliefert. Dagegen kennen die altorientalischenGesetzestexte wie <strong>der</strong> Kodex Hammurapi ausführliche Bestimmungenüber Zinsen. 596 <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> verbietet dagegen kategorisch und ohneAusnahme jede Form des Zinses für alle Arten von Darlehen innerhalbdes Volkes Israel. Zinsnehmen und Wucher erscheinen von Anfangan als Parallelbegriffe (Ex 22,24). 597 <strong>Die</strong> Praxis <strong>der</strong> Zinsnahme ist urkundlichbelegt. Sie scheint dennoch wohl eher uneinheitlich gewesen zusein. Vor allem unter den ökonomischen Bedingungen <strong>der</strong> jüdischen Diasporawurde zunehmend das Zinsverbot übertreten. Auffallend ist, daßAmos bei aller Sozialkritik kein Wort über Zinsdarlehen verliert, so daßdavon ausgegangen werden kann, daß es zu seiner Zeit nicht üblich war,Zinsen zu nehmen. 598Das frühe Christentum hat sich die alte For<strong>der</strong>ung nach einem generellenVerbot des Zinsnehmens aus dem Bundesbuch (Ex 22,24) zu eigengemacht und sie verschärft: <strong>Die</strong> Solidarität gilt nicht mehr nur demArmen, son<strong>der</strong>n allen Nächsten schlechthin. <strong>Die</strong> Einschränkung desZinsverbots bei Nichtjuden ist aufgehoben, die ursprünglich intendierteSolidarität des Zinsverbots wird universalisiert (Lk 6,34ff; Mt 5,42; Lk 6,30595 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 352. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 237f.596 E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 14.597 <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> macht keinen Unterschied zwischen einem erlaubten mäßigen Zins und einem verbotenenüberhöhten Wucherzins. Eine Differenzierung dessen, was im Deutschen mit Zins undWucher ausgedrückt wird, kennt die <strong>Tora</strong> nicht. <strong>Die</strong> Einheitsübersetzung ist deswegen auch irreführend,wenn sie von Wucher und Wucherzins spricht (Ex 22,24).598 Vgl. E. Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot, 54-56.211


auch Lk 19,23). <strong>Die</strong> Einschränkung, Zinsnahme bei Nichtjuden zu erlauben(Dtn 23,20f.), ist wie<strong>der</strong> aufgehoben. <strong>Die</strong> Solidarität gilt nunmehr universalgegenüber einem jedem, nicht nur gegenüber dem Bedürftigen. 5996.1.2.3 Jobeljahr (Lev 25,8-55): Schuldenerlaß und UmverteilungSeinen Namen hat das Jobeljahr von einem “Jobel” genannten Wid<strong>der</strong>horn,das aus seinem Anlaß geblasen wurde. Jobel, wohl über das akkadischejabilu = Hammel ins Hebräische gelangt, bedeutet dort Wid<strong>der</strong>(Jos 6, ; Ex 19,13; vgl. Jos 6). 600 Erwähnt wird es als Jobeljahr (senathajjobel) in Lev 25; 27,16-25. Jedes siebente Sabbatjahr ist ein Brachjahr(Lev 25,1-8.1), das JHWH gehört (V 4) und allen Bewohnern des LandesBefreiung bringt. Je<strong>der</strong> hat das Recht, alle 49 Jahre an seinen angestammtenBesitz und zu seiner Großfamilie zurückzukehren. Erwähntwird das Jobeljahr nur im Pentateuch. Das priesterliche Gesetz enthältzwei Teile: das Sabbatjahrgesetz (V 2-7.20-22) sowie dasJobeljahrgesetz (V 8-55). Es führt die Bestimmungen des Bundesbuchesüber die Ackerbrache in Ex 23,10f. und <strong>der</strong> Sklavenbefreiung in Dtn15,12-18 weiter. Im sieben mal siebten Jahr, also im fünfzigsten Jahr,soll es eine allgemeine Wie<strong>der</strong>herstellung früherer Zustände geben, einerestitutio ad integrum.Erklärt dieses fünfzigste Jahr für heilig, und ruft Freiheit für alle Bewohnerdes Landes aus! Es gelte euch als Jubeljahr. Je<strong>der</strong> von euch soll zu seinemGrundbesitz zurückkehren, je<strong>der</strong> zu seiner Sippe heimkehren. <strong>Die</strong>sesfünfzigste Jahr gelte euch als Jubeljahr. Ihr sollt nicht säen, den Nachwuchsnicht abernten, die unbeschnittenen Weinstöcke nicht lesen. Dennes ist ein Jubeljahr, es soll euch als heilig gelten. Vom Feld weg sollt ihrden Ertrag essen. In diesem Jubeljahr soll je<strong>der</strong> von euch zu seinem Besitzzurückkehren (Lev 25,10-13).Das Erlaßjahr stellt eine zweifache Strategie gegen Verarmung dar:Nach fünfzig Jahren werden erstens die alten Besitzverhältnisse wie<strong>der</strong>hergestellt, indem eine Rückübertragung von Besitzrechten an Land erfolgt;zweitens wird die Schuldsklaverei beendet. Alle bis zu diesem Zeitpunkterfolgte Akkumulation von Grund und Boden wird rückgängig ge-599 W. Bindemann, “... Gutes tun und leihen ...”(Lk 6,35). Feindesliebe im Wirtschaftsleben, in: K.Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 259-265.600 A. Meinhold, Jubeljahr, I. Altes Testament, TRE Bd. 16, 280 (Lit.!); G. Robinson, Das Jobel-Jahr.; E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 249- 2256; R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht<strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 86f.; F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 330-332; R. Kessler, Zur israelitischenLöserinstitution, 40-53; R. Albertz, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge,295 - 310.212


macht. Über das Bundesbuch und Deuteronomium hinaus hat dasHeiligkeitsgesetz eine Neuerung eingeführt: Der Erwerb von Grund undBoden ist zeitlich befristet. “Das Land darf nicht endgültig verkauft werden;denn das Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und Halbbürgerbei mir” (Lev 25,23). Der eigentliche und ausschließliche Besitzer desLandes ist Gott (Lev 25,23). Boden ist prinzipiell unveräußerlich. Nur dieErnte darf veräußert werden (Lev 25,16-19). Verpfändungen des Ackerssind nicht ausgeschlossen, auch nicht <strong>der</strong> Handel mit den Ernteerträgen.<strong>Die</strong> Regelung will den Handel mit Grund und Boden grundsätzlich ermöglichen,formuliert aber dort eine Grenze, wo die wirtschaftliche Existenz<strong>der</strong> Familien gefährdet werden kann.Im Jobeljahr werden die in Knechtschaft lebenden Menschen befreitund ihre alten Besitzrechte wie<strong>der</strong>hergestellt. Martin Buber betont dieseVerbindung von Eigentumsverständnis und sozialer Gerechtigkeit: “In <strong>der</strong>Befreiung des Bodens von <strong>der</strong> Verfügungsgewalt <strong>der</strong> Besitzer, in <strong>der</strong>Hergabe seiner Früchte an alle tritt <strong>der</strong> Boden immer neu in die göttlicheWeihe ein. In den im gleichen Abschnitt enthaltenen Vorschriften für dasJobeljahr wird das Verbot, Land „auf Abschluß‟, für immer, zu verkaufen,und das Gebot, für ein verkauftes Land Auslösung zu gewähren, mit demGottespruch begründet (V.23): „Denn mein ist das Erdland, denn Gästeund Beisassen seid ihr bei mir‟. Das Land ist nicht Einzelner, es ist aller,es ist des Volkes, denn es ist Gottes. Alle Besitzverschiebungen, alleaufgekommene Latifundienwirtschaft wird im „Heimholer‟-Jahr (denn dasscheint jobel zu bedeuten) ausgeglichen, alles wird in das Lehen Gottesan das Volk „heimgeholt‟. Aber dieselbe Begründung darf auch für dasSabbatjahr gelten: dadurch, daß immer wie<strong>der</strong> <strong>der</strong> Ertrag des Bodens allerwird, wird immer neu bekundet, daß das Land Gottes ist.” 601Das Jobeljahr ist nicht nur eine soziale Institution, es enthält auch einpraktikables Instrumentarium, das soziale Ungleichheiten verhin<strong>der</strong>n undeinen regelmäßigen Lastenausgleich durchführen kann (Lev 25,15f.). Esdient dem Schutz <strong>der</strong> Schwachen, <strong>der</strong> Schuldner (bzw. Verkäufer) gegenüberdem Gläubiger, setzt also Situationen voraus, in denen jemandverkaufen o<strong>der</strong> sich verschulden muß. Das Jobeljahr enthält eine handhabbareRegel eines arithmetischen Maßstabes zur Bestimmung desWertes von Immobilien: Der Kaufpreis des Bodens (Äcker, Weinbergeu.ä.) wird durch die Anzahl <strong>der</strong> Ernteerträge bestimmt und richtet sichdeshalb nach dem Gebrauchswert und nicht dem marktwirtschaftlichenTauschwert. 602 In <strong>der</strong> wissenschaftlichen Forschung ist umstritten, ob es601 M. Buber, Israel und Palästina, 1950, 31, zit. nach: A. de Quervin, Ruhe und Arbeit. Lohn undEigentum, 121.602K. Füssel u. M. Ramminger, Armut und Reichtum - Biblische Erinnerung an einen Wi<strong>der</strong>spruch,in: Demokratiefähigkeit. Jahrbuch Politische Theologie, hg. von Jürgen Manemann,Bd. 1, Münster 1995, 196ff. Dort auch die folgenden Ausführungen.213


sich nur um eine ideale Konstruktion handelt, mit <strong>der</strong>en Hilfe Unrechtsverhältnisseals torawidrig bewertet werden. <strong>Die</strong> historische Tatsachenfrageentwertet jedoch nicht die Bedeutung dieser Einrichtung, denn siedrückt zum einen eine Wertentscheidung zugunsten des ökonomischSchwachen aus und enthält zum an<strong>der</strong>en eine handhabbare Regel zurBestimmung des Wertes von Immobilien.<strong>Die</strong> Jobeljahr-Formel lautet:C (50) = 50 N = 50 CaD.h. <strong>der</strong> Kapitalwert eines Grundstücks (C) bezogen auf 50 Jahre entspricht50 Jahresnettoerträgen (N), welche gleich 50 Abschreibungsraten(Ca) sind.<strong>Die</strong> Regel zur Bestimmung des Wertes einer Immobilie ist rechnerischdurchführbar und praktikabel. Daraus ergeben sich wichtige ökonomischeKonsequenzen:- <strong>Die</strong> jährlichen Nettoerträge bestimmen den Bodenwert, d.h. <strong>der</strong> Wertdes Kapitals sinkt von Jahr zu Jahr bis auf Null im fünfzigsten Jahr. Lediglich<strong>der</strong> Boden bleibt dem Besitzer erhalten;- Kapital kann prinzipiell nicht verzinst o<strong>der</strong> vermehrt werden, son<strong>der</strong>nnur (gesehen als Guthaben) erhalten o<strong>der</strong> (gesehen als Schuld) getilgtwerden;- es besteht kein Anreiz zur Akkumulation von Grund und Boden, da imJobeljahr je<strong>der</strong> seinen ursprünglichen Besitz zurückerhält;- Spekulationen sind ausgeschlossen, da <strong>der</strong> Bodenpreis sich nicht nachdem Gesetz von Angebot und Nachfrage bildet, son<strong>der</strong>n nach dem Ertragswert;- die oberste Grenze für den Bodenpreis ist die Summe, die sich aus <strong>der</strong>Anzahl <strong>der</strong> Ernteerträge ergibt;- eingerahmt werden die Bestimmungen über die Anwendung <strong>der</strong> Verkaufsregelmit <strong>der</strong> Mahnung, einan<strong>der</strong> nicht zu übervorteilen (Lev25,14.17);- Grund und Boden können nicht endgültig verkauft werden, denn “Gottgehört das Land” (Lev 25,23). <strong>Die</strong> Menschen sind Nutznießer undTreuhän<strong>der</strong> des Bodens.<strong>Die</strong> Wertbestimmungsregel des Jobeljahres zielt auf jene Verfahrensfragenbeim Handel und bei <strong>der</strong> Preisbildung, die in einer Marktwirtschafteine dominierende Rolle spielen. “Es handelt sich nicht um einemarkt(gesetz)liche Lösung, son<strong>der</strong>n um eine Lösung, durch die die Posi-214


tion <strong>der</strong> sozial und ökonomisch Schwächeren geschützt werden soll:Ausbeutung soll ausgeschlossen werden.” 603 Daß es sich dabei um einewirtschaftspraktische und nicht religiös-ideologische Maßnahme handelt,zeigt die Bestimmung, Häuserimmobilien in <strong>der</strong> Stadt, die nicht als Produktionsmitteldienten, frei konvertierbar zu lassen (Lev 25,29-31). 604<strong>Die</strong>se Regulierung zeigt, daß die Mechanismen, die Verarmungsprozessein Gang setzten, bekannt waren und dort ausgeschaltet werden sollten,wo sie sozial schädlich waren. <strong>Die</strong> Neutralisierung <strong>der</strong> sozial destruktivenMarktkräfte geschah dadurch, daß mittels <strong>der</strong> Wertbestimmungsregeldes Jobeljahres allein <strong>der</strong> Gebrauchswert, nicht aber <strong>der</strong>Tauschwert den Preis o<strong>der</strong> Wert des Bodens o<strong>der</strong> einer Immobilie festsetzenkonnte. Keineswegs jedoch sollte die Ökonomie auf eine reineSubsistenzwirtschaft zurückgedrückt o<strong>der</strong> <strong>der</strong> Handel mit Ernteerträgenausgeschlossen werden. Lediglich die sozialen und ökologischen Schädenaus einer freien Verfügung über Grund und Boden sollten zurückgedrängtwerden.Eine an<strong>der</strong>e, über Ex 23 und Dtn 15 hinausgehende Regelung imHeiligkeitsgesetz sieht die Einführung von Löserinstitutionen vor. WieGrund und Boden nicht konvertibel sind, so auch nicht <strong>der</strong> Mensch. <strong>Die</strong>Verwandten werden in Pflicht genommen, mit einer Löserregelung beiSach- und Personalhaftung einzustehen. Lev 25 stellt eine Liste auf, inwelcher Reihenfolge ein Löser dafür einstehen muß, daß das verkaufteGrundstück eines Familienangehörigen o<strong>der</strong> auch eines in Schuldknechtschaftgeratenen Verwandten ausgelöst werden muß (Lev25,48f.). Lev 25 schafft zwar durch die Löserinstitution die Schuldknechtschaftpraktisch ab. Beliehen werden kann nur noch eine zeitlich begrenzteArbeit. Der Preis für die Aufhebung <strong>der</strong> Schuldknechtschaft ist allerdings,daß die Verpfändung <strong>der</strong> Arbeitskraft, die ursprünglich auf siebenJahre begrenzt war (Ex 21,2; Dtn 15,12), nun auf 49 Jahre erhöhtwird und wie eine abhängige Lohnarbeiterverpflichtung betrachtet wird.Lev 25 zählt verschiedene Grade von Verarmung auf: Notverkauf vonGrund und Boden (V 25a); Überschuldung (V 35-38); Selbstverkauf in dieSchuldknechtschaft (V 39-46); Verkauf in die Schuldknechtschaft an einenNichtisraeliten (V 47-55). Jedes dieser vier Gesetze, die verschiedeneFormen von Verarmung behandeln, werden mit <strong>der</strong> gleichen Formeleingeleitet: “Wenn dein Bru<strong>der</strong> verarmt (...)”(V 25.35.39.47). Immer,wenn diese Notfälle eintreten, soll sich <strong>der</strong> Clan o<strong>der</strong> die Großfamilie solidarischverhalten und einlösen, was <strong>der</strong> Bru<strong>der</strong> verkaufen mußte. 605603 T. Veerkamp, Autonomie und Egalität. Ökonomie, Politik und Ideologie in <strong>der</strong> Schrift, Berlin,1992, 96.604 E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 286.605 J. Kegler, Das Zinsverbot in <strong>der</strong> Bibel, 29; R. Kessler, Zur israelitischen Löserinstitution, 43ff.215


In <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gibt es drei Institutionen, die in einem Siebenjahreszyklusgreifen: Ackerbrache, Befreiung <strong>der</strong> Sklaven und Sklavinnen, Schuldenerlaß.Gnana Robinson versteht das Jobeljahr als Integration dieser dreisozio-ökonomischen Maßnahmen. 606 <strong>Die</strong>se Integration bedeutet aberzugleich, daß die Einrichtung des Jobeljahres nicht nötig gewesen wäre,wenn Ackerbrache und Befreiung aus <strong>der</strong> Schuldknechtschaft sowieSchuldenerlaß treu und regelmäßig praktiziert worden wären. GnanaRobinson geht deshalb von <strong>der</strong> These aus, daß das Jobeljahr neu erfundenwerden mußte, weil eine sozio-ökonomische Krise eine “radikaleRestitutio ad integrum, die Befreiung <strong>der</strong> Sklaven, die Erlassung <strong>der</strong>Schulden und die Wie<strong>der</strong>verteilung des Landes verlangt” 607 hatte. Dabeiwerden nach Jürgen Ebach “die alten For<strong>der</strong>ungen in einer neuen Situation<strong>der</strong> Geschichte Israels neu befragt, neu durchdacht und neu aufPraxis hin formuliert” 608 . Dadurch, daß “die alten Vorlagen aus dem Bundesbuchund aus dem Deuteronomium (...) aufgenommen sind”, läßtsich Lev 25 als eine Form “innerbiblischer Schriftauslegung” 609 lesen.Das wirtschaftsethische Ziel, das jeweils erreicht werden soll, ist dasgleiche: Akkumulationsprozesse sollen unterbrochen und Reichtum zurückerstattetwerden.Der Ursprung dieser Regelung des Jobeljahres ist ungewiß, zudemfehlen alle Belege dafür, daß es in Israel überhaupt praktiziert wurde. 610Praktiziert wurde jedoch das siebenjährige Erlaßjahr des Deuteronomium.Es gibt in Alt-Babylonien Freilassungsakte, doch diese wurdenwe<strong>der</strong> in einem regelmäßigen Zyklus erlassen, noch gab es einenRechtsanspruch. Sie belegen allenfalls, daß die Könige mit diesen Erlassendie schlimmsten Folgen wirtschaftlicher Fehlentwicklungen abwehrenwollten. Das biblische Jobeljahrgesetz soll demgegenüber Zukunft ineiner verläßlichen Weise gestaltbar machen. Arndt Meinhold schließtsich Karl Elliger an, <strong>der</strong> davon ausgeht, daß mit Lev 25 an einer älterenRegelung <strong>der</strong> Befreiung verschuldeter Menschen mit Rückkehr zum angestammtenBesitz auch für die nachexilische, privatwirtschaftliche Zeitfestgehalten werden sollte, und deshalb auch das Zugeständnis einerZeitspanne von 49 Jahren gemacht wurde. 611 Das Jobeljahrprogrammhat sich aus Dtn 15 und Ex 23,10ff. unter Aufnahme einer vorexilischen606 So die These von G. Robinson, Das Jobel-Jahr.607 Ebd. 476.608 J. Ebach, Über die Wie<strong>der</strong>herstellung gerechter Verhältnisse, in: <strong>der</strong>s., Theologische Reden, mitdenen man keinen Staat machen kann, Bochum 1986, 113.609 Ebd. 120.610Erwähnung findet das Jobeljahr lediglich bei Josephus Ant. III 280ff. - so nach G. Robinson,Das Jobel-Jahr, 474. E. Otto geht davon aus, daß das Jobeljahrprogramm nicht praktiziert wurde(E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 288.).611 A. Meinhold, Jubeljahr I., 280f.216


Praxis entwickelt, die Verwandten ein Vorkaufsrecht für Grundstücke gewährte(Jer 32,6-15; Rut 4). 612 Jes 61,1 und Ez 40,40-48 lassen daraufschließen, daß das Jobeljahr Hoffnung für die Zeit des Neubeginns nach<strong>der</strong> Exilzeit geben will (Jer 32,6-15; Rut 4). 613Schon bei seiner Erfindung sollte - so Gnana Robinson - das Jobeljahr“die Israeliten religiös und moralisch herausfor<strong>der</strong>n” 614 . Offenbar jedochhatte die Einhaltung <strong>der</strong> Sabbatruhe dem Land große Probleme bereitet,denn Lev 26,35.43 versteht das Exil als die Zeit, in <strong>der</strong> Gott dem Landdie von den Menschen vorenthaltene Sabbatruhe gewährte. Rainer Albertzfolgert aus den Ausnahmeregelungen (Lev 25,29-34) und den Zugeständnissen(Versklavung von Auslän<strong>der</strong>n bleibt erlaubt, Lev 25,44-46), daß das Gesetz für den Vollzug und nicht als utopischer Entwurf gedachtwar. 615 Dennoch ist in <strong>der</strong> nachexilischen Zeit nicht das Jobeljahr,wohl aber das Sabbatjahr praktiziert worden. Rainer Albertz vermutet,daß die aus <strong>der</strong> Sabbatidee stammende Vorstellung einer Befreiung <strong>der</strong>Gesellschaft durch eine regelmäßige Wie<strong>der</strong>herstellung ursprünglicherVerhältnisse nur durchführbar gewesen wäre, wenn es zuvor eine gerechteVerteilung von Grund und Boden gegeben hätte. Sonst hätte eineRückkehr aus Schuldknechtschaft immer nur die gleichen ungerechtenAusgangsbedingungen wie<strong>der</strong>hergestellt. Neh 5, 1-13 geht von dem Erlaßjahr-Gesetzdes Dtn aus, nicht aber vom Jobeljahrgesetz.Das Jobeljahr ist wohl nur Programm geblieben, sein programmatischesEthos war jedoch bis in die neutestamentliche Zeit hinein bedeutsam.616 In Juda setzte sich mit <strong>der</strong> Kanonisierung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> eine Lösungdurch, die eher schärfer als die Jobeljahrgesetzgebung war: Eine Kombination<strong>der</strong> allgemeinen Brachregelung des Sabbatjahres (Lev 25,1-7) mitdem Schuldenerlaß (Dtn 15,1-2). Rainer Albertz verweist auf mehrerepositive Belege für die Einhaltung dieser Kombination von Brache undSchuldenerlaß in <strong>der</strong> Zeit zwischen dem 2. vorchristlichen und dem 2.nachchristlichen Jahrhun<strong>der</strong>t. 617 Mehrere Anhaltspunkte verweisen aufeine Rezeption des programmatischen Ethos von Lev 25 in den Schriftendes Neuen Testaments. <strong>Die</strong> programmatische Antrittspredigt Jesu (Lk612 E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testamentes, 288.613 A. Meinhold, Jubeljahr I., 281.614 G. Robinson, Das Jobel-Jahr, 478.615 R. Albertz, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 307.616 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 255.617 R. Albertz, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 307. Genannt seien: für die Jahre164/3 v. Chr.: 1 Makk 6,48.53; Josephus, Ant. XII, 378; Josephus, Bell. I, 46; für die Jahre136/5 v. Chr.: 1 Makk 16,14; Josephus, Ant. XIII, 234.; Josephus, Bell. I, 60; für die Jahre 38/7v. Chr.: Josephus, Ant. XIV, 475; XV, 7; für die Jahre 54/55 n. Chr.: Muraba‟at 18,7; für dieJahre 68/8 n. Chr.: rabbinische Quellen; 131/2 Murabaat 24; vgl. H.G. Kippenberg u. G.A.Wevers, Textbuch zur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 75ff.217


4,18f.) läßt die Erinnerung an die Verheißung von Jes 61,1ff. anklingen.Das Bild von <strong>der</strong> “Freilassung” und <strong>der</strong> “Ausrufung des Gnadenjahresdes Herrn” (Lk 4,18.19) bekommt im Kontext <strong>der</strong> jesuanischen Rede eineeindeutige soziale Ausrich-tung im Sinne des alttestamentlichen Sabbat-und Jobeljahres. 618 <strong>Die</strong> Vater-unser-Bitte um Schuldentilgung unddie radikale Besitzaufgabe in <strong>der</strong> Jesusnachfolge enthalten einen Hinweisauf jene Institutionalisierung des Teilens und des Umverteilens, diemit dem Sabbat-/Jobeljahr gemeint war. 619<strong>Die</strong> urchristliche Gütergemeinschaft (Apg 4) kann als Praxis <strong>der</strong> Visionvon Lev 25 verstanden werden. Private Eigentumsverhältnisse werdenzurückgeführt. Besitz an Grund und Boden, <strong>der</strong> im Laufe <strong>der</strong> Jahre akkumuliertwurde, wird rückgängig gemacht, wie die Erzählung überHananias und Saphira berichtet (Apg. 4,34ff.; 5,1-11). <strong>Die</strong> Folge: “Es gabauch keinen unter ihnen, <strong>der</strong> Not litt”(Apg. 4,34). <strong>Die</strong> urchristliche Gemeindevollzog die Maxime <strong>der</strong> Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>: “Doch eigentlichsollte es bei euch keine Armen geben”(Dtn 15,4). 620 Aus <strong>der</strong> Tatsache,daß Grundfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> in <strong>der</strong> neutestamentlichen Traditionnicht genannt werden, darf nicht gefolgert werden, daß sie keine Geltunggehabt hätten. <strong>Die</strong> Geltung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> stand nicht zur Disposition, gerungenwurde um die Gesetzespraxis. Rainer Kessler ist zuzustimmen,wenn er sagt, daß die <strong>Tora</strong>for<strong>der</strong>ungen ganz selbstverständlich geltenund deswegen nicht wie<strong>der</strong>holt werden müssen, denn “nicht ein einzigesJota” (Mt 5,18) vom Gesetz solle verän<strong>der</strong>t werden. 6216.2 <strong>Die</strong> Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und ihre WirkungsgeschichteIn sozialstaatlich geprägten Ökonomien mit ihren Mechanismen des sozialenAusgleichs zeigt sich nach Eckart Otto wirkungsgeschichtlich ein Impuls<strong>der</strong> bib-lischen Tradition. “Wenden wir uns <strong>der</strong> Wirtschaftsethik imantiken Israel zu, so zeigt sich, daß wir es bei diesem Ausgleich nicht nurmit einer mo<strong>der</strong>nen Herausfor<strong>der</strong>ung zu tun haben, son<strong>der</strong>n mit einer618So R. Albertz, <strong>Die</strong> “Antrittsrede” Jesu im Lukasevangelium auf ihrem alttestamentlichen Hintergrund,in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 74 (1983) 198.619 W. Bindemann, “Wir haben alles aufgegeben.” (Mk 10,29) Christusnachfolge zwischen Besitzverzichtund Hoffnung auf soziale Reintegration, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “ ... so lernen dieVölker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 266 - 274, hier: 269f.; so auch F. Crüsemann “... wie wirvergeben unseren Schuldigern.” Schulden und Schuld in <strong>der</strong> biblischen Tradition, in: M. Crüsemannu. W. Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden, 90 - 103.620 G. Jankowski, “... und hatten alles gemeinsam.” (Apg 4,32) Ökonomische Fragen in <strong>der</strong> Apostelgeschichte,in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”139 - 148. So auch R. Albertz, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 308.621 R. Kessler, Das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, 93.218


wirtschaftspolitischen Universalie aller Ökonomien, die im Horizont <strong>der</strong>jüdisch-christlichen Tradition stehen.” 622 Sie bestehe in einem Ausgleichzwischen Eigennutz und Gemeinwohl. In <strong>der</strong> Ackerbrache (Ex 23,11), in<strong>der</strong> Schuldenbefreiung (Dtn 15,1-11) o<strong>der</strong> im Jobeljahr (Lev 15) zeigesich, daß die Wirtschaftsethik des Alten Testamentes von <strong>der</strong> durchgängigenLinie geprägt ist, Eigennutz dadurch zu begrenzen, daß dasWohl des An<strong>der</strong>en und <strong>der</strong> Zusammenhalt <strong>der</strong> Gesellschaft mitbedachtwerden. 623Wichtig ist, daß <strong>der</strong> soziale Ausgleich im Deuteronomium doppelt begründetwird: zum einen theologisch durch die Erinnerung an Ägypten,zum an<strong>der</strong>en ökonomisch durch die Vernunft. So wird beim Zinsverbot,dem Jobeljahr, <strong>der</strong> Beschränkung <strong>der</strong> Sachhaftung und den an<strong>der</strong>enRegulierungen des Wirtschaftssystems in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> nicht allein moralischargumentiert, son<strong>der</strong>n es werden wirtschaftspraktische Überlegungeneinbezogen: “<strong>Die</strong> Grenzen <strong>der</strong> Realisierung des Eigeninteresses werdenso gezogen, daß eine komplexe Ökonomie einschließlich des Handelnsmit Grund und Boden möglich ist, sofern dadurch nicht die wirtschaftlicheExistenz <strong>der</strong> Familien als Basiseinheiten des Wirtschaftsprozesses gefährdetund die Ärmsten schutzlos <strong>der</strong> Personhaftung ausgeliefertsind.” 624 Darin zeigt sich eine Ethik, die das Leben schützen will und dieauch ökonomisch sinnvoll ist.In <strong>der</strong> Vielzahl von Ethiken innerhalb <strong>der</strong> Hebräischen Bibel zeigt sichein konsistentes Normensystem, das trotz aller Divergenzen in den Traditionengleichwohl eine Einheit erkennen läßt, die sich in <strong>der</strong> Verschränkungvon Ethos und Recht in Fragen <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung als ethischeSubstanz <strong>der</strong> biblischen Überlieferung ausformuliert. “Recht undEthos bleiben, <strong>der</strong> Ausdifferenzierung des Ethos aus dem Recht zumTrotz, stets miteinan<strong>der</strong> verbunden.” 625 Das Ethos entfaltet sich als einEthos <strong>der</strong> Gerechtigkeit, das Eigeninteresse und Gemeinwohl ausbalancierenwill.Eckart Otto nennt den sozialen Ausgleich durch eine Verschränkungvon Eigennutz und Gemeinwohl eine Universalie aller Ökonomien, die ineinem wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang mit <strong>der</strong> christlichjüdischenTradition stehen. <strong>Die</strong> Frage jedoch lautet: Ist diese Verschränkungvon Eigennutz und Gemeinwohl bereits ein Motiv <strong>der</strong> Wirtschaftsethik<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gewesen? Was meint die Spannung von Eigennutzund Gemeinwohl? Adam Smith (1723-1790) hat als einer <strong>der</strong> erstenÖkonomen den Eigennutz zwar ethisch legitimiert, jedoch die Legitimati-622 E. Otto, Wirtschaftsethik im Alten Testament, 281f.623 Ebd. 289.624 Ebd. 288.625 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 265.219


on an Bedingungen gebunden. <strong>Die</strong>se ethische Legitimation konnte ererst durch eine Argumentation erreichen, nach welcher <strong>der</strong> Eigennutz <strong>der</strong>Vielen sich zur Summe des Gemeinwohls aller addiere. Smith argumentiertegleichsam auf zwei Ebenen, hielt jedoch am gesellschaftlichen Zieldes Gemeinwohls fest. Erst dadurch konnte eine Wertung des Eigennutzesals Untugend aufgehoben werden. Zum Klassiker wurde seinStandardwerk Reichtum <strong>der</strong> Nationen (1776), nicht aber seine siebzehnJahre zuvor veröffentlichte moraltheologische Abhandlung Theorie <strong>der</strong>ethischen Gefühle (1759) 626 . <strong>Die</strong> integrative Konzeption von Ethik undÖkonomie bei Adam Smith wurde in <strong>der</strong> ökonomischen Theoriebildungnicht rezipiert. Vielmehr wurde er entgegen den Anschauungen in seinerAbhandlung Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle zum Gewährsmann einesökonomischen Handelns, in dem <strong>der</strong> Eigennutz sich als kategorischerImperativ einer auf Konkurrenz basierenden Markwirtschaft aufspielenkonnte. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> will Motivation und Ziele zusammenhalten, indem siedurch ein Ethos <strong>der</strong> Brü<strong>der</strong>lichkeit zur Solidarität motivieren will. WirtschaftlichesHandeln besteht nach Adam Smith darin, “lediglich nach eigenemGewinn” 627 zu streben. Wenn Eckart Otto den Ausgleich von Eigennutzund Gemeinwohl als wirtschaftshistorische Universalie ausmacht,projiziert er die ethische Voraussetzung <strong>der</strong> liberalen Marktökonomie<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne in die Zeiten des Alten Israel zurück. Eine Kategorie“Eigennutz”, die sich zu einem Gemeinwohl aller summiere, ist <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>fremd. Was Eckart Otto eine Universalie <strong>der</strong> Ökonomien nennt, ist lediglichein tragendes Motiv <strong>der</strong> liberalen Marktwirtschaft. Das liberale Verständnisvon Markt und Ökonomie wird gleichsam verewigt, wenn es alsökonomische Universalie verstanden und zur Grundlage bereits <strong>der</strong>Ökonomie des Alten Israel erklärt wird.<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> ist in ihrer Wirtschaftsethik sehr konkret, wenn es darumgeht, Gerechtigkeit aufzurichten. Das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> kennt Institutionenund Maßnahmen, die regulierend in ökonomische Abläufeeingreifen. Deshalb ist Rainer Albertz zuzustimmen, <strong>der</strong> den wirtschaftsethischenGehalt <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> in <strong>der</strong> Unterbrechung wirtschaftlicherSachzwänge ausmacht und die Regulierungen <strong>der</strong> Wirtschaft in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>als Institutionen <strong>der</strong> Gerechtigkeit “gegen die unterdrückenden Zwängewirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit” 628 versteht. Zu diesen Regulierungen<strong>der</strong> Wirtschaft gehören u.a. folgende Institutionen: das Zinsverbot (Ex22,24; Dtn 23,20ff.; Lev 25,35ff.), <strong>der</strong> Schuldenerlaß (Dtn. 15,1f), das Jo-626 Frankfurt 1949.627A. Smith, Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seine Ursachen.Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassenden Würdigung herausgegeben vonHorst Claus Recktenwald, 6. Aufl. München 1978, 371.628 R. Albertz, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 309.220


eljahr (Lev 25,10ff). Der Sabbat unterbricht die Zeit und begrenzt denZugriff <strong>der</strong> Ökonomie auf die Zeit. Nicht lediglich Ausgleichsmechanismenzwischen Eigennutz und Gemeinwohl, son<strong>der</strong>n eine Regulierungdes Marktes will die Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> erreichen, indem sie in dieMechanismen des Marktes eingreift und die Marktgesetze selber reguliert.Nicht allein die Tatsache, daß es soziale Ausgleichsmechanismengibt, son<strong>der</strong>n wie sie wirken, mit welchen Regeln, vor allem aber zu wessenNutzen und Interesse, ist von Bedeutung. Auf diese Aspekte jedochgeht E. Otto nicht ein.Während Eckart Otto <strong>der</strong> bis in die Mo<strong>der</strong>ne reichenden Wirkungsgeschichtealttestamentlicher Motivik nachgeht, fragt Eilert Herms in seinemBeitrag zur bibeltheologischen Begründung theologischer Wirtschaftsethiknach einer gegenwartsbezogenen Relevanz biblischer Sozialtradition,die nicht in <strong>der</strong> Applikation <strong>der</strong> Wirtschaftsregeln <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> bestehenkann. Welche Begründungen kann die biblische Überlieferung fürökonomisches Handeln bieten? Wie Eckart Otto fragt auch Eilert Herms,ob den biblischen Regeln wirtschaftlicher Interaktion eine universale Regelzugrunde liege, die über den Zeitkontext <strong>der</strong> Bibel hinausreiche. EilertHerms eruiert zwei solcher universal gültigen Grundregeln in <strong>der</strong> Bibel,die allen möglichen wirtschaftlichen Tätigkeiten zugrunde liegen und zugleichauch inhaltlich bestimmte Vorzugskriterien zur Geltung bringen.1. Regel: <strong>Die</strong> Regel <strong>der</strong> Gerechtigkeit“<strong>Die</strong>se Grundregel des gerechten Wirtschaftens zielt nicht auf Gleichheitdes Besitzes, son<strong>der</strong>n auf etwas an<strong>der</strong>es: nämlich die Regeltreue in <strong>der</strong>Interaktion, den Verzicht auf Übervorteilung und die Wahrung einergleichberechtigten Reziprozität aller Beteiligten.” 629 Eilert Herms will dieGerechtigkeitsregel verstanden wissen als eine Regel, die nicht nur fürwirtschaftliche, son<strong>der</strong>n für jede Art von Interaktion gilt. WirtschaftlicheGerechtigkeit ist deshalb gesellschaftlich eingebettet und Moment einergesamtgesellschaftlichen Ordnung, die insgesamt <strong>der</strong> Regel <strong>der</strong> Gerechtigkeitfolgt.2. Regel: <strong>Die</strong> Regel <strong>der</strong> bewußten Relativierung des Wirtschaftens aufdie Bedingungen und Ziele <strong>der</strong> Gesamtexistenz hinDer Gottesbezug relativiert die Ansprüche <strong>der</strong> Ökonomie genauso wie allean<strong>der</strong>en Loyalitäten und Verpflichtungen des Menschen. 630<strong>Die</strong> beiden zunächst abstrakt anmutenden Grundregeln sind von praktischerBedeutung. Sie beziehen sich zwar nicht direkt auf wirtschaftlichesHandeln, sorgen aber dafür, daß wirtschaftliches Handeln in gesell-629 E. Herms, Theologische Wirtschaftsethik, 97.630 Ebd. 98f.221


schaftlichen Zielen eingebettet bleibt. Von dieser Grundlage her wirkensie auf die Ordnungsgestalt <strong>der</strong> Wirtschaft und können diese letztlichdurch Recht gestalten. Interessant an <strong>der</strong> Argumentation von EilertHerms ist, daß er das Spezifikum christlicher Wirtschaftsethik in universalgültigen und materialen ethischen Gehalten ausmacht. Das aber bedeutet,daß zwischen biblischer Ethik und Fragestellungen <strong>der</strong> Wirtschaftsethikmaterialethische Verbindungen hergestellt werden können.In <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gibt es einen konstitutiven Zusammenhang zwischen“Ethos und Recht” 631 . Erst diese Verschränkung sichert, daß das Ethosnicht in die Beliebigkeit des einzelnen o<strong>der</strong> eines individuellen Bewußtseinsgestellt bleibt, son<strong>der</strong>n zu einem Rechtsanspruch gerade auch <strong>der</strong>sozial und ökonomisch Schwachen wird. Der Arme ist ein Rechtsträger,<strong>der</strong> ein Recht darauf hat, daß ihm Barmherzigkeit eben in <strong>der</strong> Gestalt vonRechtsansprüchen zuteil wird. Er ist Subjekt und nicht bloßes Objekt <strong>der</strong>Barmherzigkeit <strong>der</strong> Starken. Darin entfaltet sich <strong>der</strong> spezifische Inhaltdes biblischen Gerechtigkeitsbegriffs, <strong>der</strong> Gerechtigkeit aus <strong>der</strong> Perspektivedes Armen wahrnimmt. Auch wenn Eilert Herms materialethisch theologischeEthik qualifizieren will, so ist dennoch kritisch anzumerken, daßer den Rechtsaspekt biblischer Ethik übergeht. Letztlich lassen sich dannwirtschaftsethische Positionen legitimieren, die mit neoliberalen For<strong>der</strong>ungnach Deregulierung, Flexibilisierung und Privatisierung kompatibelsind: Der Neoliberalismus hat zwar ein Interesse an Ethik; er braucht sieauch, denn er will den rechtlichen Rahmen des Wirtschaftens reduzieren.Rechtliche Regulierungen werden als Beschränkung <strong>der</strong> Freiheit desMarktes wahrgenommen. <strong>Die</strong>se Absicht gerät jedoch in ein Dilemma,denn <strong>der</strong> Markt braucht trotz aller Ablösung von rechtlichen BeschränkungenSicherheiten für seine Funktionsfähigkeit. Eine Ethik, die nicht inRechtsansprüche überführt wird, erscheint daher als Ausweg aus diesemDilemma. Ethische Orientierungen dienen dann als Ersatz für die fehlen<strong>der</strong>echtliche Regulierung.631 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 265.222


7. BIBEL IN DER WIRTSCHAFTSETHIK:ZUR REZEPTION BIBLISCHER TRADITIONEN INKIRCHLICHEN ERKLÄRUNGENImmer mehr Kirchen sehen sich auch in den Industriegesellschaften mitsozialen und ökonomischen Problemen konfrontiert, die längst überwundenschienen. Auf diese sozialen Verwerfungen und ökonomischen Krisenhaben die Kirchen in den letzten Jahren mit zahlreichen Erklärungen,Hirtenbriefen o<strong>der</strong> Sozialworten reagiert. 632 Welche Rolle nehmen in diesenÄußerungen biblische Bezüge ein? Wie nehmen die Kirchen in ihrenwirtschaftsethischen und sozialethischen Verlautbarungen die biblischeTradition auf?Aufsehen erregte 1985 <strong>der</strong> Hirtenbrief <strong>der</strong> US-Bischöfe mit dem TitelWirtschaftliche Gerechtigkeit für alle 633 , <strong>der</strong> wie die wirtschaftsethischeErklärung <strong>der</strong> protestantischen Church of Christ aus dem Jahre 1989Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit 634 und die 1985veröffentlichte Studie <strong>der</strong> anglikanischen Kirche unter dem Titel Faith in632 Vgl. die Übersicht in: F. <strong>Segbers</strong>, Soziale Marktwirtschaft - Lösung o<strong>der</strong> Teil <strong>der</strong> Krise? In: <strong>Die</strong>Kehrseite <strong>der</strong> Medaille. Ein Glaubensbrief über die Wirtschaft von christlichen Gruppen undOrganisationen aus den Nie<strong>der</strong>landen, Nachwort zur deutschen Ausgabe, Texte und Materialien<strong>der</strong> Forschungsstätte <strong>der</strong> Evangelischen Studiengemeinschaft, Reihe B Nr. 23, Heidelberg1995, 68ff. sowie den Überblick über kirchliche Äußerungen in: M. Huhn u. F. <strong>Segbers</strong> u. W.Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. - Anhang, 165-169.633 Gegen Unmenschlichkeit in <strong>der</strong> Wirtschaft. Der Hirtenbrief <strong>der</strong> katholischen Bischöfe <strong>der</strong> USA“Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle”. Aus deutscher Sicht kommentiert von F. Hengsbach,Freiburg 1987. Ausführliche Analyse bei: H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen. Aufdem Weg zu einer theologischen Theorie <strong>der</strong> Gerechtigkeit, Gütersloh 1993.634Eine 1. Fassung veröffentlicht in: epd-Dokumentation Nr. 13 / 1989; Schlußfassung in einerDokumentation <strong>der</strong> Ev. Akademie Iserlohn (1989).223


the City 635 im Kontext <strong>der</strong> neoliberalen Wirtschaftspolitik von RonaldReagan und Margaret Thatcher zu lesen ist. 1987 begann <strong>der</strong> ÖkumenischeRat <strong>der</strong> Kirchen mit einem Studienprogramm, das 1992 in eine Erklärungzur Ökonomie unter dem Titel Leben und volle Genüge für alle.Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft 636 mündete. <strong>Die</strong> österreichischenBischöfe veröffentlichten 1990 einen Sozialhirtenbrief,dem ein fast zweijähriger Konsultationsprozeß vorausgegangen war. 637Nur wenige Jahre nach <strong>der</strong> Wende suchte die Evangelische Kirche inDeutschland 1991 mit <strong>der</strong> Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz. WirtschaftlichesHandeln in Verantwortung für die Zukunft 638 einen Beitragzur Debatte um die Fragen <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung zu leisten. ChristlicheGruppen und Organisationen aus den Nie<strong>der</strong>landen haben 1992 einenGlaubensbrief über die Wirtschaft unter dem Titel <strong>Die</strong> Kehrseite <strong>der</strong> Medaille639 geschrieben. <strong>Die</strong> Sozialkommission <strong>der</strong> <strong>Franz</strong>ösischen Bischofskonferenzlegte 1993 eine Erklärung mit dem Titel Face au chomage -changer le travail(dt.“Angesichts <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit - Arbeit än<strong>der</strong>n”) 640vor und lud die gesellschaftlichen Kräfte zu einer Debatte über die Zukunft<strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft ein. Im Herbst 1994 gaben die Deutsche Bischofskonferenzund <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland(EKD) eine Diskussionsgrundlage für einen Konsultationsprozeß zur wirtschaftlichenund sozialen Lage in die gesellschaftliche Öffentlichkeit undreihten sich mit diesem Text in die lange Reihe ähnlicher Projekte an<strong>der</strong>ereuropäischer Kirchen ein. Das Neue sind nicht die eingebrachtenVorschläge, son<strong>der</strong>n das Verfahren. <strong>Die</strong> Kirchen treten nämlich nicht miteinem fertigen Text einer Denkschrift o<strong>der</strong> eines Hirtenwortes an die Öffentlichkeit,son<strong>der</strong>n laden zu einem Konsultationsprozeß ein, <strong>der</strong> einendgültiges Wort <strong>der</strong> Kirchen in Deutschland vorbereiten soll. 641 Vorbild635 Faith in the City. A call for action by Church and Nation. The Report of the Archbishop of Canterbury´sCommission on Urban Priority Areas, London, published by the General Synod of theChurch of England, 1985.636 Veröffentlicht in: epd-Dokumentation Nr. 40/1992.637 Hrsg. vom Sekretariat <strong>der</strong> Österreichischen Bischofskonferenz, Wien 1990.638 Gütersloh 1991.639 Veröffentlicht mit einem Nachwort von <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>, FEST, Heidelberg 1995.640Commission sociale de l´épiscopat, Face au chomage - changer le travail. Déclaration de laCommission sociale, Paris 1993.641 Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlage über ein gemeinsamesWort <strong>der</strong> Kirchen, hg. vom Kirchenamt <strong>der</strong> Ev. Kirche in Deutschland und dem Sekretariat<strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz. Vgl. dazu den Kommentarband: F. von Auer u. F. <strong>Segbers</strong>(Hg.), Markt und Menschlichkeit. Kirchliche und gewerkschaftliche Beiträge zur Erneuerung<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft. Mit dem gemeinsamen Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Reinbek1995; vgl. auch die Dokumentation <strong>der</strong> Stellungnahmen zum Konsultationsprozeß in: epd-Dokumentation Nr. 15/1995 (Presseübersicht) sowie epd-Dokumentation Nr. 16/1995 (Tagungin <strong>der</strong> Sozialakademie Friedewald und Stellungnahme des DGB-Bundesvorstandes) sowie dieDokumentationen, die vom Rat <strong>der</strong> EKD und <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam224


für das konsultative Verfahren waren die Konsultationsprojekte <strong>der</strong> ÖsterreichischenBischofskonferenz für das Sozialwort und <strong>der</strong> Wirtschaftshirtenbrief<strong>der</strong> US-amerikanischen Bischöfe, <strong>der</strong> nach drei Diskussionsentwürfenveröffentlicht wurde. Auch <strong>der</strong> Erklärung des ÖRK Leben undvolle Genüge für alle. Der christliche Glaube und die heutige Weltwirtschaft(1992) ging ein mehrjähriger Konsultationsprozeß voraus. Wiewenig er jedoch in Deutschland wahrgenommen wurde, zeigt sich daran,daß er nicht einmal als Vorbild für den Konsultationsprozeß in Deutschlan<strong>der</strong>wähnt wurde. 1997 wurde als Ergebnis des Konsultationsprozessesdas Gemeinsame Wort <strong>der</strong> Kirchen in Deutschland unter dem TitelFür eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit veröffentlicht. 642 1998haben auch die Schweizer Bischofskonferenz und <strong>der</strong> SchweizerischeEvangelische Kirchenbund ein vergleichbares Konsultationsverfahren zursozialen und wirtschaftlichen Zukunft <strong>der</strong> Schweiz eröffnet. 643Interessant ist, daß die Kirchen in fast all diesen Erklärungen nicht alleinsozialethisch argumentieren o<strong>der</strong> biblische Bezüge lediglich zur Illustration<strong>der</strong> Argumentation herstellen. Es zeichnet sich eine Wende in<strong>der</strong> Begründung des sozialethischen Argumentierens ab: Es gibt einenAufbruch zu einer neuen Aufmerksamkeit für das biblische Argument bei<strong>der</strong> christlichen Urteilsbildung in wirtschafts- und sozialethischen Fragen.Wie aber nehmen diese Verlautbarungen <strong>der</strong> Kirchen Einsichten und Kategorien<strong>der</strong> biblischen Tradition auf? Anhand von drei Veröffentlichungensoll exemplarisch gezeigt werden, wie die Kirchen das biblische Argumentzur wirtschaftsethischen Urteilsbildung nutzen.herausgegeben wurden: Wissenschaftliches Forum zum Konsultationsprozeß (GemeinsameTexte Nr. 7, Bonn, Hannover - 1996); Aufbruch in einer solidarische und gerechte Zukunft(Gemeinsame Texte Nr. 8, Bonn, Hannover - 1997).642 Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche inDeutschland und <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage inDeutschland, hg. vom Kirchenamt <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland und vom Sekretariat<strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz, Bonn, Hannover 1997. Erste Kommentare: Für eine Zukunftin Solidarität und Gerechtigkeit, eingeleitet und kommentiert von M. Heimbach-Stein u.A. Lienkamp, München 1997; F. von Auer u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland.Das Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen und das DGB-Grundsatzprogramm im Vergleich; F.Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring - Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel. Waskommt nach dem Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen? Freiburg 1997; K. Gabriel u. W. Kremer (Hg.), Kirchenim gesellschaftlichen Konflikt. Der Konsultationsprozeß und das Sozialwort “Für eineZukunft in Solidarität und Gerechtigkeit”, Münster 1997; M. Huhn u. F. <strong>Segbers</strong> u. W. Sohn(Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar; die Zeitschrift für evangelische Ethik 41 (1997) Heft 4 widmeteein ganzes Themenheft dem Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen.643 Schweizer Bischofskonferenz u. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Welche Zukunftwollen wir? Diskussionsgrundlage für eine ökumenische Konsultation zur sozialen und wirtschaftlichenZukunft <strong>der</strong> Schweiz, Bern, Freiburg 1998.225


7.1 Studie <strong>der</strong> United Church of Christ:“Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit”<strong>Die</strong>se Erklärungen <strong>der</strong> Kirchen lassen sich nach einem analytischen,normativen o<strong>der</strong> perspektivischen Umgang mit biblischen Motiven undTraditionen differenzieren. Der US-Hirtenbrief Wirtschaftliche Gerechtigkeitfür alle und die Erklärung <strong>der</strong> US-amerikanischen protestantischenUnited Church of Christ (UCC) Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben undGerechtigkeit 644 können als Beispiele für eine sehr ausdrückliche analytischeund perspektivische Orientierung an <strong>der</strong> biblischen Tradition gelten.<strong>Die</strong> UCC stellt das biblische Bild von Gott als einem Ökonomen, einem“Haushalter”, in den Mittelpunkt. Gott ist wie ein Ökonom, <strong>der</strong> für das Lebensorgt. Sehr elementare wirtschaftsrelevante Aussagen, die sich ausdrücklichauf die <strong>Tora</strong> als <strong>Hausordnung</strong> des Haushaltes Gottes beziehen,schließen sich dem biblischen Bild von Gott als einem Ökonomen an.“Wie<strong>der</strong>holt betont <strong>der</strong> Bund des Alten Testaments die Bedürfnisse undRechte <strong>der</strong>er, die oft aus <strong>der</strong> Gemeinschaft ausgeschlossen werden. <strong>Die</strong>Regeln des göttlichen Haushaltes for<strong>der</strong>n, daß den Armen (2 Mos 23,6; 5Mos 15,7-11), den Fremden (2 Mos 22,21-24), den Gästen (5 Mos10,19) und den Witwen und Waisen (2 Mos 22,22) beson<strong>der</strong>er Schutzgewährt wird und Zugang zum Lebensraum des Haushaltes um <strong>der</strong>Gnade Gottes willen, die Israel gewährt wurde (“denn ihr wart Fremde imLande Ägypten”, 2 Mos 22,20).” 645<strong>Die</strong> UCC steht in einer ganz ausdrücklichen Tradition <strong>der</strong> Bundestheologiereformatorisch-reformierter Prägung und geht von einer verpflichtendenOrdnung des Bundes Gottes aus. Aus diesem biblischen Impulsheraus versucht die Erklärung, Grundregeln für wirtschaftliche Gerechtigkeitzu formulieren. “In <strong>der</strong> Ausübung von Gerechtigkeit im Rahmendes öffentlichen Wirtschaftssystems wird <strong>der</strong> Bund des menschlichenHaushalts mit Gott erfüllt und Gott wird verehrt.” 646 Ein biblisch begründeterBegriff von gerechter Wirtschaft wird so aus dem biblischen Kontextin den Kontext einer neoliberalen Wirtschaftspolitik, wie sie in den USApraktiziert wird, übersetzt. Das biblische Bild einer Ökonomie als Haushaltkann dadurch zu einem kritischen Gegenbild einer Ökonomie werden,die dem Markt unbedingten Vorrang vor <strong>der</strong> Politik einräumt. “Verglichenmit <strong>der</strong> Vision des göttlichen Haushaltes zeigt das Leiden innerhalbunseres eigenen Haushaltes, daß wir schwerwiegenden wirtschaftlichenProblemen gegenüberstehen, die die Märkte nicht vermin<strong>der</strong>t ha-644United Church of Christ (UCC), Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit (Erklärung),Hrsg. von <strong>der</strong> Ev. Akademie Iserlohn 1989.645 Ebd. 4.646 Ebd. 21.226


en.” 647 <strong>Die</strong> Erklärung <strong>der</strong> UCC stellt einen Versuch dar, die wirtschaftsethischeRelevanz <strong>der</strong> biblischen Tradition so auszulegen, daß aus dembiblischen Gerechtigkeitsbegriff Kriterien für wirtschaftliche Gerechtigkeitentwickelt werden, die einen Maßstab setzen, “an dem man gegenwärtigeWirtschaftssysteme messen kann, und geben eine Vision davon, wiegrößere wirtschaftliche Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Welt von heute zu schaffenist.” 648Der US-Hirtenbrief Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle macht ebensowie die Erklärung <strong>der</strong> UCC Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und GerechtigkeitGerechtigkeit zum Hauptkriterium <strong>der</strong> Beurteilung gesellschaftlicherVerhältnisse. Im US-amerikanischen Kontext neoliberalerWirtschaftspolitik, die jegliche Orientierung an Gerechtigkeitskriterienverdrängt, erkennen die Kirchen ihrerseits neu, daß die biblische Gerechtigkeiteinen Schlüsselbegriff christlicher Orientierung darstellt.7.2. Denkschrift <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland:“Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handelnin Verantwortung für die Zukunft”Ganz an<strong>der</strong>s die Denkschrift <strong>der</strong> EKD Gemeinwohl und Eigennutz. WirtschaftlichesHandeln in Verantwortung für die Zukunft (1991). Sie fragtzwar auch nach biblischen Motiven und Richtungsimpulsen für das, wasGottes Wille auch für den Bereich <strong>der</strong> Ökonomie ist (Ziff. 103-107).Haushalterschaft im Lebensraum <strong>der</strong> Erde, Feiertag und Arbeit, Armutund Reichtum, Eigentum, Nächstenliebe, Gerechtigkeit und Gemeinwohlsollen die biblischen Richtungsimpulse für die ethische Verantwortungauslegen. Doch die biblischen Bezüge bleiben eher beliebig. Unklar ist,welche biblische Tradition aus welchen Gründen beerbt wird. So bleibtauch <strong>der</strong> Ertrag <strong>der</strong> biblischen Richtungsimpulse und Motive eher blaßund unbestimmt. Der Zugang zu biblischen Motiven ist normativ. <strong>Die</strong>analytische o<strong>der</strong> perspektivische Dimension biblischer Tradition wirdkaum genutzt. Hier rächt es sich, daß die Denkschrift verschiedene biblischeImpulse unvermittelt nebeneinan<strong>der</strong>stellt, ohne diese als Entfaltungeines Grundmotivs o<strong>der</strong> gemeinsamen Ethos zu verstehen. <strong>Die</strong> UCC hatihr wirtschaftsethisches Urteil an den biblischen Zentralbegriff <strong>der</strong> Gerechtigkeitgebunden und diesen Gerechtigkeitsbegriff auf dem Hintergrundneoliberaler Politik entfaltet, die sich von einer Orientierung an Gerechtigkeitals Maßstab ethischen Handelns verabschiedet hat.647 Ebd. 16.648 Ebd. 21.227


Biblisch gut begründet, werden die Armen und Schwachen als Maßstabfür die Korrektur und Weiterentwicklung <strong>der</strong> Marktwirtschaft bezeichnet(Ziff. 171). Doch wenn es darum geht, Perspektiven und Folgerungenaus den biblischen und ethischen Urteilen zu entwickeln, dannbleibt das biblische Urteil kaum mehr identifizierbar. Da ist zwar von <strong>der</strong>“Übermacht des Ökonomischen” (Ziff. 159 ff) die Rede. <strong>Die</strong> “Vergötzung<strong>der</strong> Wirtschaft” (Ziff. 162) trete überall und immer dort auf, wo von <strong>der</strong>Wirtschaft mehr verlangt werde, als sie geben könne. <strong>Die</strong> Bibel jedochmeint mit “Vergötzung” nicht ein Problem des Zuviel. Es geht um die AlternativeGott o<strong>der</strong> Mammon (Lk 17,10; Mt 6,24). <strong>Die</strong> Ökumene hat gelernt,die Verantwortung für die Wirtschaft zum Thema nicht allein <strong>der</strong>Ethik zu machen, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Theologie, <strong>der</strong> Rede also von Gotto<strong>der</strong> den Götzen. Auf diese ökumenischen Einsichten läßt sich dieDenkschrift <strong>der</strong> EKD erst gar nicht ein und bezieht dezidiert eine Gegenposition.“Fragen <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung sollen damit nicht in den Rangvon Bekenntnissen gestellt werden”(Ziff. 97).<strong>Die</strong> Denkschrift stellt ihren Teil III unter die Überschrift “Biblische Motiveund Richtungsimpulse” und betont grundsätzlich: “<strong>Die</strong> Bibel ist jedochkein Rezeptbuch, aus dem unmittelbar Anweisungen für bestimmteMaßnahmen in Wirtschaft und Politik entnommen werden können. In <strong>der</strong>Auslegung <strong>der</strong> Bibel geht es um die „Erneuerung unseres Sinnes‟, undum die Verän<strong>der</strong>ung unserer Wahrnehmung dessen, was wir tun sollen”(Ziff.106). <strong>Die</strong> Denkschrift deutet die biblischen Motive und Richtungsimpulseverhaltens- und individualethisch. Haltungen sollen verän<strong>der</strong>twerden. Auch wenn die Notwendigkeit einer Verhaltensän<strong>der</strong>ungnicht in Abrede gestellt werden soll, so ist es dennoch eine Verkürzung<strong>der</strong> biblischen Tradition, wenn sie nur als Appell zur “Erneuerung unseresSinnes” ausgelegt wird. <strong>Die</strong> Bibel beläßt es nicht allein bei einer individualethischenVerän<strong>der</strong>ung, deshalb hat die <strong>Tora</strong> Institutionen <strong>der</strong> Gerechtigkeit(Sabbat, Sabbatjahr, Jobeljahr u.a.) geschaffen. Von dieserEinsicht her hätte die Denkschrift den institutionellen Rahmen als ethischeGestaltungsaufgabe ansprechen können.Faktisch jedoch verzichtet die Denkschrift auf eine Konkretion <strong>der</strong> biblischenRichtungsimpulse. Zur Thematik “Gerechtigkeit und Gemeinwohl”(Ziff. 151 - 164) formuliert die Denkschrift beispielsweise zunächst dieGrundthese (Ziff. 151), nach <strong>der</strong> Gerechtigkeit dann herrsche, “wenn dieöffentlichen Angelegenheiten des gemeinsamen Lebens so bestellt sind,daß alle ihnen zustimmen können” (Ziff. 151). In <strong>der</strong> folgenden Ziff. 152werden nach <strong>der</strong> dicta - probantia - Methode drei Bibelverse aufgezählt,die jedoch lediglich durch das gemeinsame Stichwort “Gerechtigkeit”miteinan<strong>der</strong> verbunden sind (Spr 14,34; Am 5,24; Mt 5,45). Im erläuterndenText heißt es dann: “Der Einsatzpunkt <strong>der</strong> Suche nach Gerechtigkeit228


ist nicht das Anprangern von Ungerechtigkeit, son<strong>der</strong>n - in <strong>der</strong> Orientierungam Wohl <strong>der</strong> Armen - die Bereitschaft, denen gerecht zu werden,die <strong>der</strong> Hilfe und <strong>der</strong> Unterstützung bedürfen” (Ziff. 155). Der von <strong>der</strong>Denkschrift als Beleg genannte Prophet Amos ist jedoch geradezu Repräsentanteiner Prophetie, die Ungerechtigkeiten in <strong>der</strong> Gesellschaftanprangert und soziale Kritik übt. H.W. Wolff charakterisiert den ProphetenAmos deshalb auch als einen Mann, <strong>der</strong> “Protest gegen das gesellschaftlicheLeben seiner Zeit” 649 ausspricht, die Recht und Gerechtigkeitmit Füßen tritt (vgl. Am 2,6ff.; 3,16; 5,11; 6,11). <strong>Die</strong> Denkschrift stellt alsonur einen äußerlichen und zudem sinnentstellenden Zusammenhangzwischen dem Grundthema “Gerechtigkeit” und den Bibelzitaten her. <strong>Die</strong>biblischen Bezugstexte sind allenfalls als Motto zu lesen, finden aber argumentativkeine Aufnahme. Dadurch nimmt sich die Denkschrift selberdie Möglichkeit, biblische Impulse wirklich zu rezipieren.7.3 Wort des Rates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland und <strong>der</strong>Deutschen Bischofskonferenz zur wirtschaftlichen und sozialen Lage inDeutschland:“Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit”<strong>Die</strong> Kirchen haben für ihre ökumenische Erklärung zur wirtschaftlichenund sozialen Lage in Deutschland eine gemeinsame Basis in <strong>der</strong> Bibelgefunden. Sie äußern sich nicht bloß wirtschafts- und sozialpolitisch,son<strong>der</strong>n kommen aufgrund <strong>der</strong> gemeinsamen biblischen Basis für dasethische Urteil zu gesellschaftspolitisch bedeutsamen Aussagen. Wie niezuvor haben sich die Kirchen in ihrem gemeinsamen Wirtschafts- undSozialwort Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit ausdrücklich<strong>der</strong> biblischen Grundlagen vergewissert (Ziff. 91 - 125). Darin zeigt sich,daß es trotz weiterhin bestehen<strong>der</strong> dogmatischer Differenzen in sozialethischerHinsicht eine gesellschaftspolitisch relevante Ökumene gibt.Der bibeltheologische Teil III. (Ziff. 91 - 125) ist eine kurzgefaßte ökumenischeWirtschafts- und Sozialethik. Das Wort <strong>der</strong> Kirchen kann als Beispielfür ein kontextuelles theologisches und sozialethisches Reden fürDeutschland gelten. Es zeigt deutliche Einflüsse <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung,die in <strong>der</strong> Vergangenheit nur zu oft auf kirchlichen Wi<strong>der</strong>standgestoßen ist. Der Impuls <strong>der</strong> lateinamerikanischen Theologie prägt also649H.W. Wolff, <strong>Die</strong> Stunde des Amos, Prophetie und Protest, München 1969, 54; H.W. Wolff.Dodekapropheton 2 Joel und Amos, Biblischer Kommentar Altes Testament. Bd 14/2, Neukirchen1969; W. Rudoph, Joel - Amos - Obadja - Jona. Kommentar zum Alten Testament, Bd.13/2 Gütersloh 1971; K. Koch, <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> sozialen Kritik bei den <strong>Prof</strong>eten, in: H.W.Wolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS G. von Rad, München 1971, 242-257; M.Schwantes, Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zu Amos, München 1991.229


auch europäische Theologie. Nur angemerkt werden soll, daß es reizvollwäre, genau zu untersuchen, wo die amtskirchliche Rezeption <strong>der</strong> Theologie<strong>der</strong> Befreiung diese korrigiert und angepaßt hat. <strong>Die</strong>se Einflüsseaus <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung zeigen sich beson<strong>der</strong>s in folgenden dreiAspekten: Zunächst im methodischen <strong>Dr</strong>eischritt “Sehen-Urteilen-Handeln” zur sozialethischen Urteilsbildung, bei dem das Kirchenwort diebefreiungstheologische Hermeneutik beerbt (vgl. Ziff 107). Zweitens verdanktdas Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung den hermeneutischenAusgangspunkt in einer Option für die Armen (vgl. Ziff.105ff.). <strong>Dr</strong>ittens wählt das Wort <strong>der</strong> Kirchen wie die Theologie <strong>der</strong> Befreiungdas Exodusgeschehen als zentrale Orientierung sozialethischen undtheologischen Denkens (vgl. 97).<strong>Die</strong> Kirchen regen an, das biblische Zeugnis mit den aktuellen Herausfor<strong>der</strong>ungenzusammenzulesen: <strong>Die</strong>se Vorgehensweise erlaubt erstens,“ethische Orientierungen für das eigene Handeln” (Ziff. 108) zu gewinnenund kann zweitens ethische Einsichten formulieren, “die sich auf den institutionellenRahmen <strong>der</strong> Gesellschaft beziehen” (Ziff. 108). Bibellektüresoll also für das Individuum handlungsmotivierend sein und einen kritischenMaßstab zur Beurteilung gesellschaftlicher Institutionen abgeben.Zwar sprechen die Kirchen in Deutschland erstmals in einem kirchenamtlichenText von <strong>der</strong> Option für die Armen. Doch was das Wort <strong>der</strong>Kirchen die Option <strong>der</strong> Armen, Schwachen und Benachteiligten nennt,ist um die eigentliche Sinnspitze gebracht, wie sie in <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong>Befreiung entwickelt wurde. Fast durchgängig wird die Option für die Armenzu einer Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten erweitert.<strong>Die</strong> in Theologie und Sozialethik mit guten biblischen Gründeneingeführte Formulierung “Option für die Armen” soll durch die Zufügungweitere Attribute wohl bewußt entschärft werden. 650<strong>Die</strong> Option für die Armen wie sie Theologie und Sozialethik <strong>der</strong> Theologie<strong>der</strong> Befreiung verstehen, hat immer die Ermächtigung o<strong>der</strong> dasSubjektwerden <strong>der</strong> Armen gewollt. <strong>Die</strong> Option für die Armen versteht sichals eine partizipative Option, bei <strong>der</strong> die Armen Subjekt sind und für dieEinlösung ihrer Projekte selber einstehen können. 651 <strong>Die</strong>se Sinnspitze istpolitisch und gesellschaftlich relevant, denn erst dadurch wird die Optionfür die Armen einer patriarchalen Fürsorge enthoben. <strong>Die</strong>ses Verständ-650651Vgl. meine Kritik an <strong>der</strong>selben Tendenz, die sich bereits in <strong>der</strong> Diskussionsgrundlage abgezeichnethat: F. <strong>Segbers</strong>, Eine Welt. <strong>Hausordnung</strong> für den globalen Markt, in: F. von Auer u. F.<strong>Segbers</strong> (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 289 - 292.; <strong>der</strong>s., Ökumene auf <strong>der</strong> Bremsspur? ZumSozialwort <strong>der</strong> Kirchen, in: epd-Dokumentation Nr. 16 vom 10.4.1995, 31-36.vgl. G. Collet, “Den Bedürftigen solidarisch verpflichtet”. Implikationen einer authentischenRede von <strong>der</strong> Option für die Armen, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften Bd. 33,Münster 1992, 67-84.; P. Rottlän<strong>der</strong>, Option für die Armen; C. Boff u. J. Pixley, <strong>Die</strong> Option fürdie Armen, 235-240, 244-251; H. Bedford-Strohm, Vorrang für die Armen, 151-166.230


nis <strong>der</strong> Option für die Armen wird im Wort <strong>der</strong> Kirchen nicht rezipiert.<strong>Die</strong>ses Defizit hat zur Folge, daß auch die Akteure und Träger kaum genanntwerden. Das Wort <strong>der</strong> Kirchen ist deswegen in einem eigentümlichenSinne subjektlos. <strong>Die</strong> Option “hält an, die Perspektive <strong>der</strong> Menscheneinzunehmen, die im Schatten des Wohlstandes leben. (...) Sieverpflichtet die Wohlhabenden zum Teilen und zu wirkungsvollen Allianzen<strong>der</strong> Solidarität” (Ziff. 107). Friedhelm Hengsbach und Mitautoren kritisieren,daß das, was die Kirchen “Option für die Armen” nennen, einethischer Appell an die Reichen, Starken und gesellschaftlich Integriertensei 652 . Das Wort <strong>der</strong> Kirchen bleibt hinter den biblischen Einsichten zurBegründung einer Option für die Armen zurück. Es hat den Anschein,daß nunmehr, da <strong>der</strong> Einfluß <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung zurückgegangenist, kirchenoffiziell zentrale theologische Begriffe <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong>Befreiung zwar aufgenommen werden, jedoch um den Preis <strong>der</strong> Abschwächung.In einem zweiten leitmotivischen Argumentationsstrang neben dem einerOption für die Armen bezieht sich das Kirchenwort auf ein Ethos <strong>der</strong>Barmherzigkeit (Ziff. 13, 96, 97, 103, 248, 249). 653 In ihrem Kommentarnennen Friedhelm Hengsbach und Mitautoren die “Ethik des Erbarmens”eine theologische Meta-Ethik. 654 Gottes Erbarmen drängt die Menschendazu, selbst barmherzig zu sein. Sein Erbarmen hat Gott in <strong>der</strong> Befreiungaus Ägypten gezeigt. <strong>Die</strong> Exoduserfahrung wird zur grundlegenden Erfahrungdes Gottesvolkes, das sich eine Lebensordnung gegeben hat,welche die im Exodus geschenkte Freiheit bewahren will (Ziff. 97). <strong>Die</strong>sebiblische Linie reicht bis zu Jesus und seiner Einladung “zu einem Leben,das ganz auf Gott und seine Gerechtigkeit und Barmherzigkeit setzt undsie im mitmenschlichen Leben bewährt” (Ziff. 99). Aus <strong>der</strong> Meta-Ethikdes Erbarmens werden zwei Handlungsorientierungen abgeleitet: <strong>Die</strong>“Option für die Armen, Schwachen und Benachteiligten” (Pkt. 3.3.2, Ziff.105 - 107) und die Gerechtigkeit als “Ordnungsprinzip <strong>der</strong> Gesellschaft”(Ziff. 109).<strong>Die</strong> Kirchen verweisen auf eine biblische und christliche Tradition, die“eine Kultur des Erbarmens” (Ziff. 13) entwickeln kann. “Den Blick für dasfremde Leid zu bewahren ist Bedingung aller Kultur. Erbarmen im Sinne<strong>der</strong> Bibel stellt dabei kein zufälliges, flüchtig-befristetes Gefühl dar. <strong>Die</strong>Armen sollen mit Verläßlichkeit Erbarmen erfahren. <strong>Die</strong>ses Erbarmen652 F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 83.653F. <strong>Segbers</strong>, “... im Gottesdienst hat nicht nur <strong>der</strong> Choral, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong> Schrei <strong>der</strong> Armenseinen Platz.” Zu einer Spiritualität <strong>der</strong> Gerechtigkeit von Mystik und Politik, in: M. Huhn u.W. Sohn u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar, 43-48.654 F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 81.231


drängt auf Gerechtigkeit”(Ziff. 13). 655 Friedhelm Hengsbach und Mitautorennennen das Leitmotiv des Erbarmens einen Fehlgriff, denn das Leitmotiv<strong>der</strong> Barmherzigkeit habe den Nachteil, daß es “für eine Bewertungvon Institutionen, Strukturen und Verän<strong>der</strong>ungsprozessen nicht taugt unddazu verleitet, die christliche Ethik auf eine Individualethik zu verkürzen”656 . <strong>Die</strong>se Befürchtungen teile ich nicht. Der biblische Befund gibtnämlich keinen Anhalt für solche Einwände. Ein Ethos <strong>der</strong> Barmherzigkeitist Grundlage und Ausgangspunkt biblischer Ethik. 657 In <strong>der</strong> prophetischenTradition, in <strong>der</strong> Gesetzesliteratur und auch in den Psalmen zeigtsich, daß <strong>der</strong> Gott des Erbarmens sich in <strong>der</strong> Bibel als Beschützer <strong>der</strong>Schwachen und Hilflosen erweist. 658 “Gott als <strong>der</strong> Barmherzige begründetein Ethos <strong>der</strong> Solidarität und <strong>der</strong> Barmherzigkeit mit den Schwachenin <strong>der</strong> Gesellschaft.” 659 <strong>Die</strong>ses Ethos <strong>der</strong> Barmherzigkeit entfaltet sich inden Schutzbestimmungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>. Wie Gott das Recht <strong>der</strong> Schwachenschützt, so soll auch <strong>der</strong> Mensch das Recht des Schwachen schützen.Das sich zum Ethos entwickelnde Recht for<strong>der</strong>t die permanente Solidaritätdes wirtschaftlich Stärkeren mit dem Schwächeren. Das Ethos desErbarmens steht deshalb auch biblisch nicht in einem Gegensatz zustrukturellen Aspekten <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Das Erbarmen wird in <strong>der</strong> Bi-655 In den Vorentwürfen und Vorarbeiten fehlt <strong>der</strong> Rekurs auf das Ethos des Erbarmens. Erst in <strong>der</strong>Schlußredaktion, die von <strong>der</strong> Katholischen Bischofskonferenz und dem Rat <strong>der</strong> EKD verantwortetwurde, wurde dieser Bezug auf die Kultur und das Ethos des Erbarmens eingefügt. <strong>Die</strong>seErgänzung trägt wohl die Handschrift des damaligen Ratsvorsitzenden <strong>der</strong> EKD, LandesbischofK. Engelhardt. Auf <strong>der</strong> EKD-Synode 1996 hatte er in seinem Rechenschaftsbericht ausführlichBezug genommen auf diese Ethik des Erbarmens als eines christlichen Propriums. Vgl.Bericht des Rates an die Synode <strong>der</strong> Ev. Kirche in Deutschland (Ratsbericht 1996), Borkum,3.11.1996, Landesbischof Klaus Engelhardt, “Für eine Kultur des Erbarmens”, in: epd-Dokumentation Nr. 49/1996, 1-7. “Erbarmen” wird auch in <strong>der</strong> ökumenischen Sozialethik unterdem Einfluß orthodoxer Theologie zunehmend zu einem sozialethischen Zentralbegriff, <strong>der</strong>nicht in einem Gegensatz zur strukturellen Gerechtigkeit steht. <strong>Die</strong> Zweite Europäische ÖkumenischeVersammlung in Graz 1997 hat im “Basistext” dem Kapitel zur Wirtschaftsethik dasMotto vorangestellt: “Schutz <strong>der</strong> Schwachen - Wirtschaft im Zeichen von Barmherzigkeit” (A27). “Im Spiegel <strong>der</strong> Barmherzigkeit Gottes erscheint unsere von engen Geldinteressen und forcierter<strong>Prof</strong>itgier geprägte Wettbewerbsgesellschaft als zutiefst rücksichtslos und unbarmherzig.Wir treten in den Kirchen für die Entwicklung ökonomischer Systeme ein, die auf den Schutz<strong>der</strong> Schwachen in allen Teilen <strong>der</strong> Welt abzielen und auf die inhärenten Werte aller Menschengerichtet sind.” (A 28). Abgedruckt in: epd-Dokumentation Nr.35/1997, 10. “Erbarmen/Barmherzigkeit”kann als ein Paradigma ökumenischer Sozialethik verstanden werden.<strong>Die</strong> Zweite Europäische Ökumenische Versammlung 1997 in Graz nahm die Metapher einer“Schule des Erbarmens” auf. “Barmherzigkeit” wurde als Zentralbegriff für eine Wirtschaftsethikentfaltet, die Wi<strong>der</strong>stand gegen die Spaltung zwischen Gewinnern und Verlierern leistenwill (vgl. Basistext A 27f., A 32 in: epd-Dokumentation Nr. 35/1997).656 F. Hengsbach u. B. Emunds u. M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 88.657 Vgl. E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 84-86, 88f.; 156f.658 Vgl. C. Boff u. J. Pixley, Option für die Armen, 62.659 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 85.232


el “nicht als irgendeine mildtätige Wohltat gegenüber den Schwachenangesehen, son<strong>der</strong>n als ein Akt <strong>der</strong> Aufrichtung von Gerechtigkeit.” 660<strong>Die</strong> Kirchen stellen ganz in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Befreiungstheologie dieExodustradition an den Anfang ihrer sozialethischen Überlegungen. “DasVolk Gottes lebt aus <strong>der</strong> Erinnerung an die Geschichte des ErbarmensGottes” (Ziff. 96). <strong>Die</strong>se Erinnerung wird eine Motivation “zur barmherzigenund solidarischen Zuwendung zu den Armen, Schwachen und Benachteiligten”(Ziff. 96). <strong>Die</strong> Exoduserfahrung nennen die Kirchen eine“grundlegende geschichtliche Erfahrung” (Ziff. 97). <strong>Die</strong> Zehn Gebotewerden als Lebensordnung verstanden, die Weisungen zu einem Lebenin Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit und Wahrheit darstellen. “Alssolche sind sie kein biblisches Son<strong>der</strong>ethos; sie nehmen vielmehr allgemeinmenschlicheEinsichten auf, bestätigen und bekräftigen sie aufgrund<strong>der</strong> Erfahrungen in <strong>der</strong> Geschichte Gottes mit seinem Volk” (Ziff. 97).<strong>Die</strong> einzelnen Elemente <strong>der</strong> Ethik <strong>der</strong> Hebräischen Bibel unterscheidensich nicht substantiell von Ethiken ihrer altorientalischen Umwelt. InÄgypten und in Mesopotamien gibt es wie in Israel auch ein Ethos <strong>der</strong>Hilfe für den Schwächeren. 661 Es gibt zwar zahlreiche Parallelen, aber einUnterschied fällt auf: <strong>Die</strong> biblische Ethik ist an<strong>der</strong>s begründet. <strong>Die</strong> Elemente<strong>der</strong> biblischen Ethik sind an<strong>der</strong>s zusammengesetzt und miteinan<strong>der</strong>verbunden. 662 Recht und Gerechtigkeit werden im altorientalischenRecht nur dadurch vermittelt, daß Recht zeitweise außer Kraft gesetztwird. In Juda jedoch werden Recht und Gerechtigkeit durch das barmherzigeHandeln Gottes garantiert, zusammengehalten und begründet.“Damit war das Recht in Juda davor geschützt, in <strong>der</strong> staatlichen Organisationaufzugehen und ihr dienstbar zu werden.” 663 Soziale und gesellschaftlicheReformen, aber auch Kritik <strong>der</strong> bestehenden Verhältnissekonnten so zu einem permanenten und konsistenten Bestandteil israelitischenRechts werden. Solidarität <strong>der</strong> Starken mit den Schwachen fanddarin eine viel wirksamere Rechtsbegründung. “<strong>Die</strong> judäische Idee einesEthos <strong>der</strong> Gerechtigkeit führt über die Aporie <strong>der</strong> altbabylonischenAußerkraftsetzung von Recht zugunsten <strong>der</strong> Gerechtigkeit hinaus.” 664Nicht <strong>der</strong> König, Gott selber ist in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> Quelle des Rechts. Das Ethos<strong>der</strong> Bibel ist immer staats- und gesellschaftskritisch. “Nicht die Einordnungin einen von König und Staat gesetzten Ordnungsentwurf läßt das660 M. Welker, Gottes Geist, 117.661J. Assmann, Ma‟ at. Gerechtigkeit und Unterdrückung im Alten Ägypten, München 1990; E.Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 86f.;143 - 152; 220-224.662 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 88.663 Ebd. 89.664 Ebd. 89.233


Ethos zu sich selbst kommen, son<strong>der</strong>n die im Anruf Gottes des Barmherzigenangesprochene Einsicht des je einzelnen Menschen.” 665Neben dieser Differenz des biblischen zum altorientalischen und ägyptischenEthos zeigt sich im Begriff <strong>der</strong> Heiligkeit des Volkes Israel dasBemühen, ein unterscheidendes Ethos zu entwickeln. Israel ist durch denExodus geheiligt und ausgeson<strong>der</strong>t worden (Lev 22,33). “<strong>Die</strong> Grundlageaber, die das Gesellschaftsmodell erst funktionieren läßt, ist die innereHaltung <strong>der</strong> Nächstenliebe (Lev 19), die auf den vor<strong>der</strong>gründigen wirtschaftlichenVorteil (Lev 25) verzichtet. Eine solche Haltung gewinnt <strong>der</strong>Mensch nicht aus eigenem, ihm von Natur gegebenen Vermögen, son<strong>der</strong>nsie wird ihm erst durch Gott ermöglicht. Der heilige Gott heiligt seinVolk, damit es sich in seinem Ethos heiligt. (...) Israel soll sich im Halten<strong>der</strong> Gebote Gottes heiligen.” 666 Lei<strong>der</strong> hat das Wirtschafts- und Sozialwortdiese exegetisch unbestrittene Einsicht nicht rezipiert. Es hat sichdadurch selber um einen spezifischen Beitrag im wirtschaftsethischenDiskurs gebracht. Mit dem Verweis darauf, daß es kein biblisches Son<strong>der</strong>ethosgebe, verpaßt das Wort <strong>der</strong> Kirchen die Chance, die materialethischenElemente des biblischen Ethos aufzunehmen und sie nach ihrerTragweite für ökonomische und soziale Themenstellungen in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nezu befragen.Das Wort <strong>der</strong> Kirchen bezieht sich auf die prophetischen Traditionenund auf die Gesetzestradition (Ziff. 98). Es fällt auf, daß das Kirchenwortlediglich auf Bibelverse verweist, nicht jedoch deutlich macht, welche Inhalteangesprochen werden. Auf folgende Bibelverse wird verwiesen:- Ex 22,20-26: Ausbeutungsverbot <strong>der</strong> Fremden, Witwen undWaisen (V 20-22)Zins- und Pfandverbot (V 24-26);- Ex 23,6-9: Verbot <strong>der</strong> Rechtsbeugung (V 6-8),Rechtsschutz für den Armen (V 9);- Lev 19,11-18.33f.: Ethos <strong>der</strong> Individualethik in <strong>der</strong> Nächstenliebe(V 11-18), 667Verhalten gegenüber Fremden (V33f.);- Dtn 15,7-11: Kredithilfe an verarmte Israeliten, Leihen gegen665 Ebd. 90.666 Ebd. 257.667So ebd. 243f.; lei<strong>der</strong> verweist das Wort <strong>der</strong> Kirchen in seiner Begründung des Doppelgebotes<strong>der</strong> Gottes- und Nächstenliebe (Ziff. 103) nicht auf die <strong>Tora</strong>, son<strong>der</strong>n lediglich auf die ntl. Bezugsstellebei Mk 12, 28-31 und verdrängt dadurch, daß atl. und ntl. Ethik verbunden sind,auch wenn in Ziff. 99 davon die Rede ist, daß Jesu Botschaft und Auftreten auf <strong>der</strong> Linie <strong>der</strong>Gottes- und Geschichtserfahrung seines Volkes liegt.234


Pfand, Zuwendung zum verarmten Nächsten alsPflicht (V 7-11);- Dtn 24,17f.: Recht <strong>der</strong> Armen.Wie beerben die Kirchen die wirtschaftsethische Tradition <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>?Wichtige Elemente <strong>der</strong> biblischen Tradition, die sozial- und wirtschaftsethischrelevant sind, werden ausgespart. Das israelitische Eigentumsrechtmit seinen Eingriffen in sozio-ökonomische Prozesse durch dasSabbat- und Jobeljahr fehlt. Das Wort <strong>der</strong> Kirchen erwähnt mit gutemGrund die Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Art. 14 Abs. 2 GG in Ziff.143) und for<strong>der</strong>t auch eine “gerechtere Vermögensverteilung” (Ziff.215ff.). Ein Verweis auf eigene biblische Traditionen für diesen sozialausgleichendenUmgang mit Eigentum hätte die Argumentation stützenkönnen. <strong>Die</strong> Sabbattradition wird ebenfalls nicht erwähnt, auch nicht indem Absatz, <strong>der</strong> sich mit <strong>der</strong> Sicherung des Sonntags beschäftigt (Ziff.223). Insofern das Wort <strong>der</strong> Kirchen in seiner Begründung für die ethischenPerspektiven “das biblische Ethos als Gemeinschaftsethos” (Ziff.103) versteht, nimmt es den biblischen Begriff von Gerechtigkeit sachgemäßauf und nennt ihn einen “Schlüsselbegriff <strong>der</strong> biblischen Überlieferung”(Ziff. 108). Auffallend jedoch ist, daß jene biblischen Traditionen,die Instrumentarien des sozialen Ausgleichs kennen, ebensowenig rezipiertwerden wie jene biblischen Traditionen, die eher utopischen Charakterssind.Der biblisch und theologisch so gehaltvolle Begriff <strong>der</strong> Haushalterschaftklingt lei<strong>der</strong> nur an. Kern <strong>der</strong> “verantwortlichen Haushalterschaft”668 ist, daß <strong>der</strong> Mensch das, was er mit <strong>der</strong> Schöpfung macht, wieein Hausverwalter verantworten muß. Daß er die Pflicht habe, als SachwalterGottes “haushälterisch und bewahrend” (Ziff. 123) mit <strong>der</strong> Schöpfungumzugehen, wird nur erwähnt. Insgesamt gerät <strong>der</strong> ökologische Aspektzu kurz. Das Wort <strong>der</strong> Kirchen meint eingestehen zu müssen, daßdie “biblischen Aussagen kein ökologisches Ethos im mo<strong>der</strong>nen Sinn”(Ziff. 124) enthalten. Allerdings entfaltet das Kirchenwort nicht, was untereinem “ökologischen Ethos im mo<strong>der</strong>nen Sinn” zu verstehen sei. An dieserStelle fällt das Wort <strong>der</strong> Kirchen weit hinter die ökumenische sozialethischeDiskussion zurück, die gerade durch die Lektüre <strong>der</strong> biblischenTradition in älterem in <strong>der</strong> Bibel tradierten Wissen eine Aktualität erkennt,668 <strong>Die</strong> “verantwortliche Haushalterschaft” wurde noch in <strong>der</strong> Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeßüber ein gemeinsames Wort <strong>der</strong> Kirchen zur wirtschaftlichen und sozialen Lagein Deutschland erwähnt (Ziff. 15). Vgl.: R. Kessler, Keine Freiheit ohne materielle Grundlage,in: F.von Auer u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 107f.235


die Perspektiven zu einer Versöhnung zwischen Ökonomie und Ökologie(Sabbattradition, Brachjahr, Jobeljahr u.a.) eröffnen können. 6697.4 ZusammenfassungEs lassen sich insgesamt drei unterschiedliche Grundmuster biblischerArgumentation in den dargestellten wirtschaftsethischen Erklärungen <strong>der</strong>Kirchen ausmachen. <strong>Die</strong> UCC (wie <strong>der</strong> US-Hirtenbrief WirtschaftlicheGerechtigkeit für alle) nimmt die biblische Argumentation in einer Weiseauf, die eher analytisch und perspektivisch denn normativ zu nennen ist.Auf <strong>der</strong> Folie <strong>der</strong> in <strong>der</strong> biblischen Tradition überlieferten Orientierungenwerden die gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnisse kritischwahrgenommen und als Herausfor<strong>der</strong>ungen für Christen und Kirchen interpretiert,sich politisch zu engagieren. <strong>Die</strong> Realität des Neoliberalismusführt zu einer Neuentdeckung von Gerechtigkeit als einer zentralen Orientierungchristlicher und biblischer Ethik. Durch eine biblische Perspektiveauf die Wirtschaft wird die ökonomische Realität selber zu einem Anliegendes Glaubens. <strong>Die</strong>se Erklärungen dokumentieren einen kirchlichenAufbruch, <strong>der</strong> Gerechtigkeit als Schlüsselbegriff christlicher Orientierungin wirtschaftsethischen Fragen zu begreifen gelernt hat. Der biblischeGerechtigkeitsbegriff mit seinen deutlichen Konturen schärft umgekehrtauch die Wahrnehmung ökonomischer Ungerechtigkeit und sozialerUngleichheit in <strong>der</strong> Gegenwart.<strong>Die</strong> römischen Enzykliken geben eher das Gegenbild ab. Zwar kenntLaborem exercens einen ausdrücklichen biblischen Bezug, jedoch nur imAnhang. Spätere lehramtliche Verlautbarungen nutzen biblische Aussagenweiterhin eher wie einen Steinbruch für die eigene Argumentation.<strong>Die</strong> biblische Tradition wird dabei nicht als eine eigenständige Erkenntnisquellefür wirtschaftsethisches Urteilen wahrgenommen. CentesimusAnnus (1991) verzichtet ganz auf einen biblischen Bezug. <strong>Die</strong> römischkatholischeKirche hat in <strong>der</strong> Enzyklika Laborem exercens (1981) erstmalseine ausdrücklich bibeltheologische Fundierung als Basis ihresethischen Urteilens gewählt. 670 Laborem erxercens nennt es eine Grund-669 Vgl. dazu M. Robra, Ökumenische Sozialethik, bes. 180ff.670Vgl. dazu J. Ebach, “damit er ihn bebaue und bewahre”. <strong>Die</strong> Aufnahme biblischer Texte zurArbeit in Laborem exercens, in: W. Klein u. W. Krämer (Hg.), Sinn und Zukunft <strong>der</strong> Arbeit,Mainz, 1982, 48-59. Das Schwergewicht <strong>der</strong> biblischen Begründung liegt hier in <strong>der</strong> Rede vomMenschen als dem Bild Gottes (Gen 1,26 f), im Herrschaftsauftrag an den Menschen (Gen1,28), aber auch in den Fluchsprüchen über die aus dem Gottesgarten vertriebenen Menschen.Laborem exercens wurde bei Erscheinen als eine Enzyklika gewertet, in <strong>der</strong> die Abkehr von naturrechtlicherArgumentation und die Hinwendung zu biblischen Quellen für die sozialethischeUrteilsbildung deutlich wurden.236


linie <strong>der</strong> Soziallehre, daß die “menschliche Arbeit <strong>der</strong> entscheidende<strong>Dr</strong>eh- und Angelpunkt <strong>der</strong> gesamten sozialen Frage” (3, 2) ist. Daß ArbeitBezugspunkt für die kritische Analyse ökonomischer Prozesse undInstitutionen ist, wird biblisch-normativ begründet. Centesimus annus(1991) - erschienen zum 100. Jahrestag <strong>der</strong> ersten Sozialenzyklika - rezipiertnur noch die eigene Lehrtradition und weiß sich angesichts <strong>der</strong>Ereignisse von 1989 in ihrer doppelten Frontstellung gegen Sozialismusund Liberalismus bestätigt. Lei<strong>der</strong> jedoch wird diese Linie von Laboremexercens in späteren lehramtlichen Texten nicht mehr weiter verfolgt.Auch im Text, mit dem die römisch-katholische Kirche in Deutschland1993/94 zunächst noch ohne Beteiligung <strong>der</strong> evangelischen Kirchen einenKonsultationsprozeß zur wirtschaftlichen und sozialen Lage eröffnete,sucht man nach einer biblischen Vergewisserung o<strong>der</strong> Argumentationvergebens. 671 <strong>Die</strong> römisch-katholische Kirche meint wohl, ein wirtschaftsethischesUrteil wie<strong>der</strong> eher naturrechtlich und ohne biblischeGrundlagen gewinnen zu können.<strong>Die</strong> Denkschrift <strong>der</strong> EKD Gemeinwohl und Eigennutz nimmt eine mittlerePosition ein. Sie knüpft zwar an biblische Traditionen an, beerbt siejedoch nur insoweit, wie sie dem Projekt einer Fortentwicklung <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft eine zusätzliche Begründung zu geben vermögen. IhrUmgang mit biblischen Traditionen ist normativ zu nennen; ausdrücklichheißt es, daß die Denkschrift eine Brücke schlagen wolle “zu <strong>der</strong> Bedeutungvon Motiven und Orientierungen <strong>der</strong> christlichen Tradition für dieSoziale Marktwirtschaft” (Ziff. 100).Das Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen in Deutschland befragtdie bib-lische Tradition ebenfalls hauptsächlich normativ. <strong>Die</strong> kritischeperspektivische und die analytische Aussagekraft <strong>der</strong> biblischen Traditionbleibt dagegen auch hier deutlich ausgespart und ungenutzt. Normativsoll die Konzeption einer Ökologisch-Sozialen Marktwirtschaft begründetwerden. Ergänzt wird die biblische Argumentation im Wirtschafts- undSozialwort <strong>der</strong> Kirchen durch Denkfiguren wie jene <strong>der</strong> Subsidiarität, die<strong>der</strong> naturrechtlichen Lehrtradition <strong>der</strong> römisch-katholischen Kirche entstammen(Ziff. 3.3.3 zu Solidarität und Subsidiarität). <strong>Die</strong> Bibel wird alseine ethische Ressource gelesen; die ethische Urteilsbildung wird durchsozialethische Leitlinien ergänzt, die säkular vermittelbar und kompatibelsind. Perspektiven für die gesellschaftliche Entwicklung sollen nicht alleinethisch postuliert werden, son<strong>der</strong>n “als Ausdruck einer langfristig denkendenVernunft” (Ziff. 126) ausgewiesen werden. Indem die Kirchen inDeutschland biblische Begriffe in auch säkular vermittelbare sozialethi-671 Unsere Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft 1993, Arbeitshilfe Nr. 116, hg. vom Sekretariat<strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz, Bonn 1994.237


sche Leitlinien übersetzen, vermeiden sie eine nur innerkirchlich verstehbareArgumentation.<strong>Die</strong> Marktwirtschaften sind in die Krise gekommen. Deshalb habendieKirchen nicht ein Konsultationsverfahren eröffnet, das zur Veröffentlichungeines gemeinsamen Wortes zur wirtschaftlichen und sozialen Lagein Deutschland führte. <strong>Die</strong> Kirchen in Deutschland verstehen die SozialeMarktwirtschaft als eine Wirtschaftsordnung, <strong>der</strong> sie sich aus historischenund auch ethischen Gründen verpflichtet fühlen. 672 Im WirtschaftsundSozialwort sprechen sich die Kirchen für die Konzeption einer SozialenMarktwirtschaft aus und “sehen im Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft(...) den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähige WirtschaftsundSozialpolitik” (Ziff. 9). Für <strong>der</strong>en “strukturelle und moralische Erneuerung”und “ihre Weiterentwicklung zu einer sozial, ökologisch und globalverpflichteten Marktwirtschaft” (Ziff. 11) beziehen sie sich auf biblischeund theologisch-sozialethische Traditionen, um das Konzept <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft normativ zu begründen. Während das Wirtschafts- undSozialwort auf die real existierende Marktwirtschaft verän<strong>der</strong>nd einwirkenund sie zu einer ökologischen und global verpflichteten Marktwirtschafterweitern will, identifiziert die Denkschrift <strong>der</strong> EKD die real existierendeMarktwirtschaft mit <strong>der</strong> Konzeption <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft. Kirchenim Kontext neoliberaler Marktwirtschaften lesen die biblische Traditionan<strong>der</strong>s als jene Kirchen, die es mit dem sog. Rheinischen Kapitalismuso<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaften zu tun haben. <strong>Die</strong> Erklärung <strong>der</strong> UCCwie auch <strong>der</strong> US-Hirtenbrief lesen die biblische Tradition eher analytischund können so aus <strong>der</strong> biblischen Tradition auch Perspektiven entwickeln,die zu einer Suche nach ökonomischen Alternativen inspirieren.Dadurch gewinnen sie einen kritischen Abstand zur vorgegebenen Wirtschaftspolitik.Zwischen dem Umgang mit <strong>der</strong> Bibel und <strong>der</strong> Wahrnehmung <strong>der</strong> sozialenund ökonomischen Wirklichkeit gibt es einen dialektischen Zusammenhang.Abhängig vom jeweiligen Zugang zur Wirklichkeit, von <strong>der</strong> eigenengesellschaftlichen Erfahrung und ihrer Verarbeitung, aber auchvon den mit dem Erkennen verbundenen Interessen vollzieht sich ein jeunterschiedlicher Umgang mit <strong>der</strong> biblischen Tradition o<strong>der</strong> mit dem biblischenArgument, <strong>der</strong> als analytisch, normativ o<strong>der</strong> perspektivisch charakterisiertwerden kann. Der gesellschaftliche Kontext bedingt das Lesendes biblischen Textes. Aber umgekehrt gilt auch: Das Lesen des biblischenTextes führt dazu, den gesellschaftlichen und ökonomischenKontext kritisch zu lesen.672 Vgl. die kritische Würdigung bei: E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft,269-276.238


239


DRITTER TEILÖKONOMIEN IM WIDERSTREIT240


8. MARKTWIRTSCHAFT IM PLURALUndifferenziert von <strong>der</strong> Marktwirtschaft zu sprechen verkürzt die Realität.Marktwirtschaft gibt es in Theorie und Praxis immer im Plural. ArthurRich unterscheidet deshalb zu Recht in seiner zweibändigen Wirtschaftsethiksechs verschiedene Ordnungstypen <strong>der</strong> Marktwirtschaft, in denen<strong>der</strong> Markt die konstitutive Grundlage für ein wettbewerbliches Koordinationssystemdarstellt. 673 Nicht alle marktwirtschaftlichen Konzeptionen sindrealpolitisch von Bedeutung. Da die real existierenden Marktwirtschaftenfaktisch in zwei grundlegend verschiedenen Ordnungsgestalten auftreten,empfiehlt es sich, den Vorschlag des französischen Ökonomen MichelAlbert 674 in seinem Buch Kapitalismus contra Kapitalismus aufzugreifenund zwei Wirtschaftsstile innerhalb <strong>der</strong> Marktwirtschaft zu unterscheiden,hinter denen jeweils auch zwei sehr verschiedene MenschenundGesellschaftsbil<strong>der</strong>, aber auch implizite Ethiken stehen:Auf <strong>der</strong> einen Seite ist die “bewußt sozial gesteuerte Soziale Marktwirtschaft”(Müller-Armack) 675 o<strong>der</strong> auch <strong>der</strong> “Rheinische Kapitalismus”673 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. II, 259- 344. A. Rich unterscheidet zwischen “Wirtschaftssystem”und “Wirtschaftsordnungen”. Wirtschaftssystem bezeichnet das Grundsystem, die prinzipielleGrundlage einer Wirtschaftsordnung, und Wirtschaftsordnung die jeweils konkretwirklicheund konkret-mögliche Ausprägung eines bestimmten Wirtschaftssystems (A. Rich,Wirtschaftsethik, Bd. 2, 176f.).674 M. Albert, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt 1992.675 Üblich geworden ist es, die von A. Müller-Armack konzipierte Form <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftmit einem kleinen „s‟ zu schreiben, wohl um das „sozial‟ als Adjektiv zu verstehen. Müller-Armackhat jedoch bereits in seiner ersten Schrift, in <strong>der</strong> er “Umrisse einer Sozialen Marktwirtschaft”skizzierte, von einer “Sozialen Marktwirtschaft” gesprochen (mit großem „S‟), wohlum zu verdeutlichen, daß das Soziale kein Anhängsel o<strong>der</strong> Attribut, son<strong>der</strong>n ein integraler Bestandteil<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft ist: A. Müller-Armack,<strong>Die</strong> Wirtschaftssordnungen, sozialgesehen, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1, o.O.1948, 150-154.241


zu nennen. Charakteristikum dieser Wirtschaftsordnung ist ihre Einbettungin die Gesellschaft. 676 Staat und Verbände greifen in den Markt ein,um unsoziale Entwicklungen im vorhinein zu verhin<strong>der</strong>n, o<strong>der</strong> aber, umsie im nachhinein abzufe<strong>der</strong>n. <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft als ein Wirtschaftsstilim Rahmen des Rheinischen Kapitalismus geht von <strong>der</strong>Grundentscheidung aus, daß <strong>der</strong> Markt von sich aus kein Gemeinwohlhervorbringen kann. Erst eine politische Rahmenordnung, die dem Marktvorgegeben ist, kann das Entstehen von Gemeinwohl in einer Wirtschaftsordnunggarantieren, <strong>der</strong>en treibendes Motiv <strong>der</strong> individuelle Eigennutzist. Der Eigennutz, <strong>der</strong> durch den Markt beför<strong>der</strong>t wird, kann erstdurch spezifische Rahmenbedingungen zum Gemeinwohl werden. <strong>Die</strong>ökonomische und soziale Effizienz des Marktes ist nicht Resultat desMarktes, son<strong>der</strong>n einer politischen Rahmenordnung.Das Gegenbild zum Rheinischen Kapitalismus und zur SozialenMarktwirtschaft bildet <strong>der</strong> “neo-amerikanische Kapitalismus” des neoliberalenMarktes, <strong>der</strong> insbeson<strong>der</strong>e in den anglo-amerikanischen Län<strong>der</strong>neine geistig-moralische Wende bewirkt hat, die ihrerseits mit zu einemUmbruch <strong>der</strong> Sozialtraditionen und eines sozial orientierten Interventionismusbeigetragen hat. Das ökonomische System des Marktes wird alsein sich selbst regulierendes System betrachtet. <strong>Die</strong> Aufgabe des Staatesbesteht einzig darin, die Funktionsmechanismen des Marktes ungehin<strong>der</strong>tzu ermöglichen.<strong>Die</strong> Bezeichnung neoliberal ist sehr diffus und unscharf. Gemeinsamist in den verschiedenen Begriffen das Anliegen: eine Revision des Liberalismusaufgrund <strong>der</strong> Erfahrung des Scheiterns freier Märkte in <strong>der</strong>Weltwirtschaftskrise. Alle Denkrichtungen, die aus dieser Erfahrung herausnach einer neuen Begründung <strong>der</strong> Funktionsfähigkeit einer Marktökonomiegefragt haben, nannten sich seit den dreißiger Jahren neoliberal.Gesucht wurde nach einer neuen Basis für eine Marktökonomie,nachdem <strong>der</strong> Laisser-faire-Kapitalismus gescheitert war. Der Neoliberalismusist ein revisionistischer Liberalismus, <strong>der</strong> das Scheitern des Liberalismusreflektierte, nach seiner Neubegründung suchte und eine Alternativezum Laissez-faire-Kapitalismus und zum Totalitarismus entwickelnwollte. Er umfaßt eine recht unterschiedlich zusammengesetzte Gruppierung,zu <strong>der</strong> anfangs u.a. Friedrich August Hayek, Karl Popper, Alexan<strong>der</strong>Rüstow, Walter Eucken gehörten. Der Name Neoliberalismus tauchtezum ersten Mal 1938 in Paris bei einer Zusammenkunft von Ökonomenverschiedener liberaler Richtungen auf, die sich beson<strong>der</strong>s durchden erstrebten Freiheitsgrad und in <strong>der</strong> Frage nach Intensität, nach Qua-676Eine detaillierte Auseinan<strong>der</strong>setzung mit den Konzeptionsentwürfen <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftbeson<strong>der</strong>s unter sozialethischen Aspekten bei: E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethikund Soziale Marktwirtschaft.242


lität und Quantität <strong>der</strong> staatlichen Interventionen unterschieden, und umfaßtefolgende drei Richtungen: 6771. US-amerikanische o<strong>der</strong> Chicagoer Richtung:die Neoklassiker um Ludwig von Mises und Friedrich August vonHayek, die sich gegen jegliche Intervention des Staates aussprechen;2. englische Richtung:die Keynes- und Oxford-Liberalen, die konjunkturpolitische Maßnahmenzur Vollbeschäftigung for<strong>der</strong>n;3. kontinentale Richtung:die Ordoliberalen, die marktkonforme Interventionen befürworten undsich von den beiden an<strong>der</strong>en Gruppen dadurch unterscheiden, daß siemit dem Wettbewerb sozial- und gesellschaftspolitische For<strong>der</strong>ungendurchsetzen wol-len. <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft wurde bis in diesechziger Jahre als eine Richtung innerhalb des (neoliberalen)Ordoliberalismus verstanden. 678 Der Vortrag von Alexan<strong>der</strong> Rüstow1932 auf <strong>der</strong> Tagung des “Vereins für Socialpolitik” mit dem Thema“<strong>Die</strong> staatspolitischen Voraussetzungen des wirtschaftlichen Liberalismus”gilt als ein Grün<strong>der</strong>dokument <strong>der</strong> Konzeption <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft. 679677 So Ph. Her<strong>der</strong>-Dorneich, Der Markt und seine Alternativen in <strong>der</strong> freien Gesellschaft, Freiburg -Hannvover 1968, 123, Anm. 90. Her<strong>der</strong>-Dorneich gibt auch das folgende Schema einer Einteilung<strong>der</strong> neoliberalen Richtungen wie<strong>der</strong>. Er nennt jedoch keinen Hinweis, wann und durchwen <strong>der</strong> Begriff “Neoliberalismus” aufgebracht wurde. E.E. Nawroth betrachtet die “MontPélérin Society” als Zentrum <strong>der</strong> neoliberalen Bewegung, gibt jedoch keine Jahreszahl an, diein Verbindung mit dem Entstehen des Neoliberalismus gebracht werden könnte: E.E. Nawroth,<strong>Die</strong> Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 2. Aufl. Heidelberg 1962, 5.678Zu den Vertretern dieser Richtung gehören u.a. Walter Eucken, <strong>Franz</strong> Böhm, Alexan<strong>der</strong>Rüstow, Constantin von <strong>Die</strong>tze, Wilhelm Röpke, Alfred Müller-Armack. Vgl. dazu: E.E.Nawroth, <strong>Die</strong> Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 6-12. Neben Walter Eucken,<strong>Franz</strong> Böhm, Constantin von <strong>Die</strong>tze, Wilhelm Röpke, Alexan<strong>der</strong> Rüstow gehörte auchFriedrich August Hayek anfangs zu den Mitherausgebern des Jahrbuchs ORDO. <strong>Die</strong>s zeigt diekonzeptionelle Nähe und belegt, daß diese neoliberalen Konzeptionen eine Antwort auf dieWeltwirtschaftskrise geben wollten.679Abgedruckt in: A. Rüstow, Rede und Antwort, Luwigsburg, 1963, 249-258. Darin for<strong>der</strong>tRüstow 1932 ein Bekenntnis zu einem “starken Staat im Interesse liberaler Wirtschaftspolitik”und zu “liberaler Wirtschaftspolitik im Interesse eines starken Staates” (S. 258). Von “Neoliberalismus”ist an dieser Stelle noch nicht die Rede, wohl aber von einem Interventionismus nichtgegen, son<strong>der</strong>n in Richtung <strong>der</strong> Marktgesetze. - Rüstow bezeichnet diese Rede als Gründungsdokumentund “Programm dieser theoretisch fundierten Sozialen Marktwirtschaft”, so in: A.Rüstow, Wirtschaftspolitik und Moral, in: <strong>der</strong>s., Rede und Antwort, 20. Rüstow spricht davon,daß er und Walter Eucken zeitgleich und unabhängig voneinan<strong>der</strong> 1932 aus <strong>der</strong> Krise des Liberalismus,die durch marktwidrige Interventionen gegen Ende <strong>der</strong> Weimarer Republik verschärftwurde, die Grundidee eines dritten Weges in Gestalt des Neoliberalismus entwickelt hätten, diein marktkonformer Intervention des Staates bestehe. Mitgeteilt in: A. Rüstow, Paläoliberalis-243


Daß zunächst alle wirtschaftstheoretischen Antworten auf die Weltwirtschaftskriseals Neoliberalismus bezeichnet wurden, trägt zur begrifflichenVerwirrung bei. <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft ist in <strong>der</strong> frühen wirtschaftstheoretischenDebatte von <strong>der</strong> Genese her also keineswegs alsein Gegenkonzept zum Neoliberalismus, son<strong>der</strong>n als Teil des Gesamtanliegenseines Neoliberalismus verstanden worden. 680 Alexan<strong>der</strong> Rüstowbekräftigt die Nähe von Sozialer Marktwirtschaft zum Neoliberalismus:“Unser Neoliberalismus unterscheidet sich vom Paläoliberalismus geradedadurch, daß er nicht wie <strong>der</strong> Paläoliberalismus alles nur auf wirtschaftlicheGrößen bezieht. Wir sind vielmehr <strong>der</strong> Meinung, daß die wirtschaftlichenDinge überwirtschaftlichen Gesichtspunkten untergeordnet werdenmüssen. <strong>Die</strong>ser Meinung sind wir nicht erst seit heute, son<strong>der</strong>n dieseMeinung herrschte schon seit den Anfängen des Neoliberalismus.” 681Und Alfred Müller-Armack wehrte sich Mitte <strong>der</strong> sechziger Jahre offensichtlichim Gegensatz zu seiner früheren Auffassung dagegen, die SozialeMarktwirtschaft “als bloße Abart des Neoliberalismus” einstufen zulassen: “Man braucht die Nähe zum Neoliberalismus keineswegs zuleugnen, wir verdanken ihm zahlreiche entscheidende Anregungen, abergegenüber einem den Wettbewerbsmechanismus als ausschließlichesGestaltungsprinzip betrachtenden Neoliberalismus ist <strong>der</strong> Gedanke <strong>der</strong>Sozialen Marktwirtschaft aus an<strong>der</strong>en Wurzeln entstanden. Sie liegen in<strong>der</strong> dynamischen Theorie und <strong>der</strong> philosophischen Anthropologie, diebeide in den zwanziger Jahren entwickelt wurden, mithin in einer an<strong>der</strong>enAuffassung von Staat und in einer Weiterführung des vom Neoliberalismusmeist abgelehnten Stilgedankens. <strong>Die</strong> koordinierenden Funktionen680681mus, Kollektivismus und Neoliberalismus, 166.- Bereits 1933 mußte Rüstow wegen seiner demokratischenund liberalen Überzeugung aus Deutschland in die Schweiz und dann nach Istanbulemigrieren.Vgl. den Beitrag von O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, 81-98, sowie E.E. Nawroth, <strong>der</strong> sich in seiner Monographie zum Neoliberalismus aus Gründen begrifflicherStringenz ausschließlich mit dem Ordoliberalismus und <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftauseinan<strong>der</strong>setzt: E.E.Nawroth, <strong>Die</strong> Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus,12.A. Rüstow, <strong>Die</strong> staatspolitische Krise unserer Gesellschaft, in: <strong>der</strong>s., Rede und Antwort, 73.Rüstow eröffnete die Arbeitstagung <strong>der</strong> Aktionsgemeinschaft Soziale Marktwirtschaft 1961 miteiner Klarstellung: “Da nun lei<strong>der</strong> heutige Vertreter jenes Paläoliberalismus sich neoliberalnennen, obwohl unser Neoliberalismus ja gerade im Gegensatz und in Abgrenzung gegen jenenAltliberalismus, gegen jenen Paläoliberalismus entstanden ist, trägt das natürlich sehr dazu bei,eine Verwechslung zu begünstigen.” A. Rüstow, Wirtschaft als <strong>Die</strong>nerin <strong>der</strong> Menschlichkeit,in: <strong>der</strong>s., Rede und Antwort, 76. - O. von Nell-Breuning merkte bereits 1951 an: “Allerdingswird die Flagge des Neo-Liberalismus und Sozial-Liberalismus auch in erschreckenden Ausmaßenmißbraucht, um brutalen manchesterlichen Liberalismus damit zu bemänteln.” In: O.von Nell-Breuning, Art. Liberalismus, in: Wörterbuch <strong>der</strong> Politik, hg. von H. Sacher, O. vonNell-Breuning, Heft V. - Gesellschaftliche Ordnungssysteme, Freiburg 1951, Sp. 220.244


<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft entsprechen nicht ausschließlich den mechanischenRegeln des Wettbewerbs. <strong>Die</strong> Gestaltungsprinzipien beziehensich auf Staat und Gesellschaft, die beide ihre Wertvorstellungenund Verantwortungen im Gesamtsystem <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftausprägen.” 682Wann und wo <strong>der</strong> Begriff “Neoliberalismus” zuerst entstanden undverwendet wurde, ist nicht genau auszumachen. In den wirtschaftstheoretischenund wirtschaftspolitischen Debatten nach 1945 jedenfalls wirdhäufig in <strong>der</strong> politischen Auseinan<strong>der</strong>setzung um sozialistische und antisozialistischeBestrebungen ein “Neoliberalismus” als dritter Weg zwischenKapitalismus und Sozialismus und synonym für jene ökonomischenNeuordnungsvorstellungen des Liberalismus formuliert, die ausden Erfahrungen mit <strong>der</strong> Wirtschaftskrise Ende <strong>der</strong> zwanziger Jahre unddem Hitler-Faschismus ihre Folgerungen ziehen wollten. Erst Mitte <strong>der</strong>sechziger Jahre kam es zu einer deutlichen begrifflichen Scheidung <strong>der</strong>revisionistischen liberalen Positionen innerhalb des Neoliberalismus, indemzwischen <strong>der</strong> Richtung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft / RheinischerKapitalismus auf <strong>der</strong> einen Seite und dem Neoliberalismus USamerikanischerPrägung auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite unterschieden wurde: <strong>Die</strong>Bezeichnung Neoliberalismus wurde nunmehr ausschließlich auf dieChicagoer Richtung eines radikal marktorientierten Kapitalismus angewendet.683 F.A. Hayek und M. Friedman begründeten eine wirtschaftspolitischeund wirtschaftstheoretische Richtung des Neoliberalismus, dieden Wettbewerb und das Marktsystem als ein sich selbst regulierendesSystem betrachtete und deshalb von einer strikten Trennung von Ökonomieund Staat ausging. <strong>Die</strong>ser Neoliberalismus war jahrzehntelangeher bedeutungslos und fristete eine Nischenexistenz. Erst mit Beginn<strong>der</strong> siebziger Jahre wurde er von interessierter Seite bewußt geför<strong>der</strong>tund erlangte zunehmend Bedeutung, so daß er schließlich in den ökonomischenWissenschaften hegemonial werden konnte. Aus einer ökonomischenAußenseitermeinung war in <strong>der</strong> ökonomischen Theoriebildungein ökonomischer Mainstream und in den Reaganomics und imThatcherismus eine herrschende Wirtschaftspolitik geworden.682 A. Müller - Armack, Wirtschaftspolitische Chronik, Heft 3, Köln 1962, 10 zit. in: E. Nawroth,Zur Sinnerfüllung <strong>der</strong> Marktwirtschaft, Köln 1965, 31f.683 <strong>Die</strong>se begriffliche Trennung zwischen einem Marktradikalismus und einem Neoliberalismus mitseinen verschiedenen Ausprägungen macht Otto Schlecht zur Rehabilitation des ursprünglichenBegriffs von Neoliberalismus wie<strong>der</strong> rückgängig, wenn er es als falsch bezeichnet, “Neoliberalismusals Synonym für Marktradikalismus o<strong>der</strong> ungezügelten Kapitalismus zu benutzen. (...)Soziale Marktwirtschaft fußt auf neoliberalen Vorstellungen, die ihrerseits auf den klassischenLiberalismus zurückgehen.” (Otto Schlecht, Begriffsverfälschung. Der Neoliberalismus ist besserals sein Ruf, in: Evangelische Kommentare 10/1998, 596f.)245


Der Neoliberalismus steht in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Ökonomen Ludwig vonMises und Friedrich August von Hayek. Er ist keine marginale Wirtschaftstheorie,son<strong>der</strong>n wurde gezielt geför<strong>der</strong>t und unterstützt. Seit Mitte<strong>der</strong> 70er Jahre erhielten vornehmlich Vertreter dieser wirtschaftstheoretischenRichtung die Nobelpreise für Ökonomie, so Friedrich Augustvon Hayek (1976), Milton Friedman (1976), George J. Stigler (1982),James M. Buchanan (1986), Garry S. Becker (1992). Im Zentrum desneoliberalen Konzeptes steht die Annahme, daß <strong>der</strong> Markt als Institutionund <strong>der</strong> Wettbewerb als Organisations- und Entwicklungsmethode <strong>der</strong>Politik einer bewußten Kooperation von wirtschaftlich handelnden Personen,die sich an normativen Zielen orientieren, überlegen sei. Damit <strong>der</strong>Markt diese Ziele erreichen könne, müsse er befreit werden. Flexibilisierung,Deregulierung und Privatisierung sind deshalb auch die zentralenAnliegen. <strong>Die</strong> freie, neoliberale Marktwirtschaft anglo-amerikanischenTyps geht von einer anthropologischen Grundlage aus, die Eigennutz alsAusdruck <strong>der</strong> Natürlichkeit des Menschen versteht. Das Gemeinwohlwird deshalb gleichsam automatisch als Summe des individuellen Eigennutzeserwartet. Das Gemeinwohl resultiere aus <strong>der</strong> konsequenten undwe<strong>der</strong> durch Politik noch Ethik beschränkten Verfolgung des Eigeninteresses.Das mechanistische Bild <strong>der</strong> Wirtschaftsabläufe, das sich aus<strong>der</strong> strikten Befolgung <strong>der</strong> Marktmechanismen ergibt, erübrigt wirtschaftsethischeOrientierungen und kennt a priori auch nicht die Fragenach dem, was gerecht genannt werden könne. <strong>Die</strong>sen Wirtschaftsstilnennen die Kirchen in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort “Marktwirtschaftpur” (Ziff. 146). Trotz einer gemeinsamen Ursprungssituation muß <strong>der</strong>Neoliberalismus in seiner aktuellen Bedeutung gegenüber <strong>der</strong> Konzeptioneiner Sozialen Marktwirtschaft deutlich abgegrenzt werden.Der Grundkonzeption einer Sozialen Marktwirtschaft attestiert TrutzRendtorff eine ethische Qualität: “<strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft enthält (...)zureichende, wenn auch meist implizite ethisch beachtliche Strukturenund Kriterien, (...) auf die sie auch von <strong>der</strong> Ethik direkt angesprochenwerden kann.” 684 Auch eine Marktwirtschaft ohne jegliches Adjektiv besitztnach dem Urteil des Wirtschaftsethikers Karl Homann bereits eine684T. Rendtorff, <strong>Die</strong> soziale Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Perspektive theologischer Ethik, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hg.), <strong>Die</strong> Ethik <strong>der</strong> sozialen Markwirtschaft. Thesen und Anfragen, Stuttgart1988, 57f. Polemisch nennen A. Gutowski und R. Merklein es eine “orakelnde Verheißung”,daß die Väter <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft dieser Konzeption “eine beson<strong>der</strong>e, jenseits <strong>der</strong>sonst praktizierten kapitalistischen Wirtschaftsmethode angesiedelte moralische Qualität” zumessenwollten. A. Gutowski u. R. Merklein, Arbeit und Soziales im Rahmen einer marktwirtschaftlichenOrdnung, Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik 30 (1985)50, zit. nach: S. Katterle, <strong>Die</strong> neoliberale Wende zum totalen Markt aus <strong>der</strong> Sicht des Nordens,in: W. Jacob u. J. Moneta u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), <strong>Die</strong> Religion des Kapitalismus. <strong>Die</strong> gesellschaftlichenAuswirkungen des totalen Marktes, Luzern, 1996, 52.246


moralische Qualität, denn belohnt werde in <strong>der</strong> Marktwirtschaft, wer dasWohl seiner Mitmenschen för<strong>der</strong>e. “<strong>Die</strong> moralische Vorzugswürdigkeit<strong>der</strong> Marktwirtschaft liegt darin, daß sie das beste bisher bekannte Mittelzur Verwirklichung <strong>der</strong> Solidarität aller Menschen darstellt.” 685 Der normativeGehalt des Marktes liege in nichts an<strong>der</strong>em als in <strong>der</strong> güterschaffendenEffizienz von Wettbewerb und Markt. Der Präsident des Bundesverbandes<strong>der</strong> Deutschen Industrie, Hans Olaf Henke, geht ebenfalls davonaus, “daß die Marktwirtschaft an sich moralisch ist und daß sie es nichtdadurch wird, daß man sozialpolitische Argumente hereinbringt.” 686 BeideWirtschaftssysteme - die Soziale Marktwirtschaft ebenso wie <strong>der</strong> Neoliberalismus- sind also eine bereits ethisch geprägte Realität. Das zeigt,daß Ökonomie und Ethik nicht im Vakuum abstrakt vermittelt werden,son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> existierenden Wirklichkeit immer schon real vermittelt vorhandensind. <strong>Die</strong> Realität muß nicht nachträglich mit ethischen Gehalteno<strong>der</strong> Normen versehen werden. Sie ist immer schon ethisch gehaltvoll.Auch <strong>der</strong> Markt folgt einer normativen Logik und wird nicht erst dadurchethisch gehaltvoll, wenn er explizit in einen Zusammenhang mit Ethik gebrachtwird. Es wird deshalb darauf ankommen, nach <strong>der</strong> tatsächlichenEthik <strong>der</strong> Ökonomien zu fragen und sich darüber Rechenschaft abzulegen,welche ethischen Gehalte verstärkt o<strong>der</strong> gegebenenfalls korrigiertwerden müssen. Nur so kann Wirtschaftsethik <strong>der</strong> voluntaristisch-appellativenAttitüde entgehen, die sich immer schon außerhalb <strong>der</strong> realenAuseinan<strong>der</strong>setzungen und <strong>der</strong> mit Macht verbundenen Interessenglaubte. Eine an <strong>der</strong> Realität interessierte Wirtschaftsethik wird daher dieSoziale Marktwirtschaft und ihr Gegenbild, den Neoliberalismus, als Referenzrahmenaufnehmen müssen. Dabei soll keineswegs die SozialeMarktwirtschaft als die Inkarnation einer menschengerechten und lebensdienlichenÖkonomie ausgemacht werden, während ihr Gegenbildals unethisch demaskiert wird. <strong>Die</strong> Gegenüberstellung bei<strong>der</strong> Ökonomienund ihres jeweiligen Wirtschaftsstils soll lediglich als Folie für den Ansatzdienen, nach dem Ertrag eines wirtschaftsethischen Impulses zu fragen,<strong>der</strong> sich biblischen Inspirationen verdankt und keineswegs mit einer historischvorfindlichen Wirtschaftsordnung identifiziert werden soll. Jenseitsdes Streits um Kapitalismus und Sozialismus, jenseits des Streits umWirtschaftsordnungen geht es wirtschaftsethisch allein um den Streit umeine Ökonomie, die dem Leben dient.8.1 Soziale Marktwirtschaft685K. Homann, F. Blome-<strong>Dr</strong>ees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 49 (im Original in kursiv);vgl. auch K. Homann, Wirtschaft - Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 98f.686 Zit. in: FAZ vom 13.1.1995.247


8 .1.1 Protestantische Wurzeln <strong>der</strong> Sozialen MarktwirtschaftViel zu wenig ist bekannt, daß <strong>der</strong> Soziale Protestantismus entscheidenddie Traditionen <strong>der</strong> sozialen Reform und institutionellen Transformationdes Kapitalismus inspiriert hat. 687 Günter Brakelmann und Traugott Jähnichenhaben die ins 19. Jh. zurückreichenden protestantischen Wurzelneiner sozial verpflichteten Marktwirtschaft herausgearbeitet und belegt. 688An Aufbau und Ausbau des Sozialstaates hatten die christlichen Konfessionenund beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Protestantismus einen bedeutenden und nurzu oft übersehenen Anteil. Auf protestantischer Seite entsprach dem politischeBündnis von Thron und Altar ein ordnungs- und staatspolitischesDenken beson<strong>der</strong>s im Luthertum, das den Staat nicht nur politisch, son<strong>der</strong>nauch sozial in Pflicht nehmen wollte. Nicht allein nationaler Machtstaat,auch Kultur- und Sozialstaat sollte <strong>der</strong> Staat sein. Beamte <strong>der</strong>preußischen Ministerialbürokratie erarbeiteten die gesetzlichen Grundlagenfür den Aufbau des Sozialstaates. 689 Ökonomen und Theologen kamenauf dem Evangelisch-sozialen Kongreß zusammen, <strong>der</strong> 1891 gegründetwurde. 690 Er hatte sich in seiner Satzung das Ziel gesetzt: “diesozialen Zustände unseres Volkes vorurteilslos zu untersuchen, sie andem Maßstab <strong>der</strong> sittlichen und religiösen For<strong>der</strong>ungen des Evangeliumszu messen und diese selbst für das heutige Wirtschaftsleben fruchtbarerund wirksamer zu machen als bisher.” 691<strong>Die</strong>se Aufgabenbeschreibung versucht ausdrücklich, zwischen Ökonomieund biblischer Tradition eine Verbindung herzustellen. <strong>Die</strong> biblischeTradition bildet die ethische Grundlage. Dem Evangelium wird einedoppelte Rolle zugedacht: Es ist Norm und kritische Instanz. Dabei sollen687Vgl. u.a. : F. von Auer u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung;K. Heienbrok u. H. Przybylski u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Protestantische Wirtschaftsethik undReform des Kapitalismus. 100 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß; Bochum 1991.688G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), <strong>Die</strong> protestantischen Wurzeln <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft.Ein Quellenband, Gütersloh 1994, bes. die Einleitung: S. 13 - 37.689U.a. haben Theodor Lohmann (1831-1905), H. von Berlepsch (1843-1926) und GrafPosadowsky (1845-1932) ihr sozialpolitisches Engagement immer als Konkretisierung christlicherNächstenliebe o<strong>der</strong> praktisches Christentum verstanden. Vgl. dazu: G. Brakelmann, TheodorLohmann - ein protestantischer Sozialpolitiker aus <strong>der</strong> Inneren Mission, in: <strong>der</strong>s., ZwischenWi<strong>der</strong>stand und Mitverantwortung. Vier Studien zum Protestantismus in sozialen Konflikten,Bochum 1994, 85 - 131; G. Brakelmann, Evangelische Sozialtheoretiker vor dem Problem <strong>der</strong>Gewerkschaften, in: F. von Auer u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung,17-38; vgl. J.- Chr. Kaiser u. W.Loth (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich.Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart-Berlin-Köln 1997.690K. Heienbrok u. H. Pryzbylski u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Protestantische Wirtschaftsethik und Reformdes Kapitalismus. 100 Jahre Evangelisch-sozialer Kongreß; G. Kretschmar, Der Evangelisch-sozialeKongreß. Der Protestantismus und die soziale Frage, Stuttgart, 1972.691 Abgedruckt in: G. Kretschmar, Der Evangelisch - soziale Kongreß, 21.248


das Evangelium o<strong>der</strong> allgemein die biblischen Kategorien einen kritischenMaßstab abgeben und zugleich beitragen, das “Wirtschaftsleben”gerechter zu gestalten. Der Komparativ, “die sittlichen und religiösenFor<strong>der</strong>ungen des Evangeliums (...) fruchtbarer und wirksamer zu machenals bisher”, verweist jedoch auf ein offensichtliches Manko in Theologieund Kirche, das behoben werden soll. Zwischen biblischen Orientierungenund gesellschaftlicher Gestaltung eine positive Beziehung herzustellen,wird zum zentralen Anliegen des Evangelisch-sozialen Kongresses.In <strong>der</strong> Satzung deutet sich bereits eine Methode sozialethischer Urteilsbildungan, die später kurzgefaßt als die Schritte “Sehen-Urteilen-Handeln” bezeichnet werden. Wenn gesagt wird, daß es darauf ankomme,die sozialen Zustände “vorurteilslos zu untersuchen” (= Sehen), “amEvangelium zu messen” (= Urteilen) und das Evangelium “fruchtbarerund wirksamer zu machen” (= Handeln), dann wird das Verhältnis vonbiblisch-begründeter Sozialethik und politischer Gestaltung nicht alsnormativ-deduktiv, son<strong>der</strong>n empirisch-induktiv beschrieben. Vorausgesetztist, daß die biblische Tradition ökonomisch und gesellschaftlich relevantist und auf diese Bedeutung hin auch ausgelegt werden soll.8.1.2 Denkschrift:“Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zur Selbstbesinnungdes christlichen Gewissens in den politischen Nöten unsererZeit” (1943)<strong>Die</strong> sozialprotestantischen Traditionen stehen für den Versuch, ökonomischeRationalität und Effektivität auf <strong>der</strong> einen Seite und Gerechtigkeitund Achtung <strong>der</strong> personalen Würde auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite gemeinwohlorientiertzu kombinieren. In <strong>der</strong> Zeit des Nationalsozialismus waren esgerade evangelische Christen, die diese sozialprotestantischen Traditionenaufgenommen und “das Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft programmatischund interdisziplinär formuliert” 692 haben. Es gibt eine direkteVerbindungslinie zwischen dem sozial engagierten Protestantismus undökonomischen und politischen Neuordnungsvorstellungen, wie sie imWi<strong>der</strong>stand in <strong>der</strong> NS-Zeit entwickelt wurden. Hingewiesen sei beson<strong>der</strong>sauf die Beiträge zweier Arbeitskreise, des “Kreisauer-Kreises” umHelmuth Graf von Moltke und des “Freiburger Kreises” 693 um die ÖkonomenWilhelm Eucken, Adolf Lampe, Constantin von <strong>Die</strong>tze und Ge-692693G. Brakelmann, Das Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutiven Ordnung, in:<strong>der</strong>s., Für eine menschliche Gesellschaft. Reden und Gegenreden, Bochum, 1996, 194.K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, Tübingen 1996, 98 - 110; G. Brakelmann u. T. Jähnichen(Hg.), <strong>Die</strong> protestantischen Wurzeln <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, 309.249


hard Ritter, den Juristen Erik Wolf, <strong>Franz</strong> Böhm u.a. Vertreter des FreiburgerKreises traten an Bischof Theophil Wurm mit <strong>der</strong> Bitte heran, einentheologischen Mitarbeiter zu benennen. Auf Vermittlung von BischofWurm stieß <strong>der</strong> Theologe Helmut Thielicke zu dem Kreis. 694Mit dem Rückgriff auf die zentralen Motive <strong>der</strong> protestantischen Traditionsuchte <strong>der</strong> Freiburger Kreis evangelischer Christen im Wi<strong>der</strong>standnach einem Grundkonzept einer freiheitlichen und sozialen WirtschaftsundSozialordnung. 695 Angeregt wurde die Ausarbeitung einer Wirtschaftskonzeptionim Anhang zu einer Denkschrift durch einen Vortragüber Nationalökonomie und Theologie, den Constantin von <strong>Die</strong>tze im Juni1941 in Alpirsbach vor <strong>der</strong> “Gesellschaft für evangelische Theologie”gehalten hatte. 696 Constantin von <strong>Die</strong>tze übernahm auch die Fe<strong>der</strong>führungfür die Ausarbeitung <strong>der</strong> Anlage 4 “Wirtschafts- und Sozialordnung”<strong>der</strong> Denkschrift mit dem Titel Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuchzur Selbstbesinnung des christlichen Gewissens in den politischenNöten unserer Zeit (1943) 697 .<strong>Die</strong> Denkschrift for<strong>der</strong>t eine sozial abgesicherte und vom Staat in ihremBestand geschützte Wettbewerbsordnung. Freiheit und soziale Gerechtigkeitsollen harmonisch miteinan<strong>der</strong> verbunden sein. In protestantischerTradition steht die starke Betonung eines handlungsfähigen undhandlungswilligen Staates, <strong>der</strong> die Rahmenordnung für die Wirtschaft zusetzen hat und Zielkonflikte auflösen soll. Von einer solcher Wirtschaftsverfassungerwartet man, daß die Würde des Individuums und das Wohl<strong>der</strong> Gemeinschaft am besten geschützt werde. Ordnungspolitisch suchtman einen dritten Weg zwischen Wirtschaftsliberalismus und Planwirtschaft.8.1.3 Biblische Fundierung <strong>der</strong> Denkschrift694 H. Thielicke, Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen, Hamburg 1984, 189ff. <strong>Die</strong> Leitung<strong>der</strong> Bekennenden Kirche hatte über Bonhoeffer 1942 C. von <strong>Die</strong>tze gebeten, auf <strong>der</strong> Basisseines Vortrags den “Anhang Wirtschafts- und Sozialordnung” zu erarbeiten.695 So K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 106; F. <strong>Segbers</strong>, Rheinischer Kapitalismus o<strong>der</strong> Neoliberalismus?“... <strong>der</strong> regulativen Idee <strong>der</strong> Gerechtigkeit Abschied geben.”696C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie. Mit Anhang: Grundsätze einer WirtschaftsundSozialordnung in evangelischer Sicht, Tübingen-Stuttgart 1947, 7. Während des Kriegeskonnte dieses Referat nicht veröffentlicht werden. Ausführlich wird die Vorgeschichte <strong>der</strong>Denkschrift dargestellt in: Ph. von Bismarck, Soziale Marktwirtschaft. Das Geschenk <strong>der</strong> StundeNull, Freiburg1992, 21-31. Nach dem mißglückten Attentat am 20. Juli 1944 gelangte dieGestapo in den Besitz von Teilen einer Denkschrift des Freiburger Kreises und konnte die Verbindungdes Freiburger und Kreisauer Kreises zum Wi<strong>der</strong>stand aufdecken.697Veröffentlicht unter dem Titel “In <strong>der</strong> Stunde Null”, mit einem Vorwort von H.Thielicke undeinem Nachwort von Philipp von Bismarck, Tübingen 1979.250


Constantin von <strong>Die</strong>tze verwies in seinem Vortrag 1941 vor <strong>der</strong> Gesellschaftfür Evangelische Theologie in Alpirsbach 698 auf Werner Sombart,<strong>der</strong> 1934 in seinem Buch Deutscher Sozialismus den Kapitalismus eine“Wirtschaftsordnung des Teufels” 699 genannt hatte. Auch wenn sichConstantin von <strong>Die</strong>tze begrifflich distanziert, so teilt er doch das AnliegenSombarts, eine Alternative zu einer freien Marktwirtschaft zu entwickeln,die in Theorie und Praxis gescheitert war.Constantin von <strong>Die</strong>tze entwickelte seine ökonomischen Neuordnungsvorstellungenfür die Denkschrift anhand von Thesen, die 1937 in Berlin-Dahlem zum Thema “Kirche und Wirtschaftsordnung” formuliert wurden.700 An dieser “Ökumenischen Arbeitstagung <strong>der</strong> Bekennenden Kirche”zur Vorbereitung auf die Oxfor<strong>der</strong> Weltkirchenkonferenz nahmenneben Bonhoeffer die Wirtschaftswissenschaftler von <strong>Die</strong>tze, Karrenbergund Eucken teil. <strong>Die</strong> dort verabschiedeten Thesen übertragen auf denBereich <strong>der</strong> Wirtschaft, was die Barmer Theologische Erklärung über denStaat formuliert hat. Wie die Barmer Theologische Erklärung gegenüberdem Staat, so betonen auch die Dahlemer Thesen, daß die Kirche sich<strong>der</strong> Wirtschaftsordnung gegenüber nicht neutral verhalten könne. <strong>Die</strong>sbedeutet zugleich: <strong>Die</strong> Wirtschaft läuft nicht nach wertfreien und ethikneutralenGesetzmäßigkeiten ab, son<strong>der</strong>n nach ethischen Kriterien. “<strong>Die</strong>Kirche kann keine Wirtschaftsordnung als heilbringend verherrlichen,aber auch keiner eine Unabhängigkeit von den Geboten des alleinigenHerren zugestehen. Keine menschliche Wirtschaftsordnung kann dieMacht <strong>der</strong> Sünde überwinden, jede muß eine Bekämpfung dieser Machterstreben.” 701 Abgelehnt wird die Auffassung <strong>der</strong> Eigengesetzlichkeit <strong>der</strong>Ökonomie, nach welcher Wirtschaft sich zur religiösen Ethik neutral verhalte.<strong>Die</strong> Dahlemer Thesen betonen, daß “<strong>der</strong> Anspruch des Herrn sichnicht nur an den einzelnen Menschen richte, son<strong>der</strong>n auch für den Inhalt<strong>der</strong> Wirtschaftsordnung gelte.” 702 <strong>Die</strong>se Aussage richtet sich vor allemgegen die Lehre von <strong>der</strong> ökonomischen Eigengesetzlichkeit, die nicht nur698 Alpirsbach war <strong>der</strong> Tagungsort <strong>der</strong> Theologen, die sich <strong>der</strong> Bekennenden Kirche zuzählten.699 Zit. in: C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 22. - Ohne Zitationsangaben. Constantinvon <strong>Die</strong>tze kommentierte Sombart: “<strong>Die</strong> Menschen unserer Zeit haben dann, wie Sombartsagt, den Herrn <strong>der</strong> Unterwelt angebetet. (...) Sombart gelangt damit zu einer eigenen Theologie.Er sieht eine bestimmte Wirtschaftsordnung als Teufelswerk an und meint, man könne undmüsse durch eine neue Wirtschaftsordnung, durch stationäre Wirtschaft und deutschen Sozialismus,dem Teufel sein Werk zurückschicken. (...) Das innere Anliegen Sombarts wird uns alleergreifen. Es wird sicherlich nicht herabgesetzt, wenn wir feststellen: Sombarts Auffassungvom Teufel und seinen Wirkungsmöglichkeiten und die Theologie, auf welcher er diese Gedankenaufbaut, entsprechen nicht in allen Stücken dem, was wir als evangelische Christen zu sagenhaben.” Ebd. 22.700 <strong>Die</strong> Arbeitsgruppe 3 “Kirche und Wirtschaft” leitete <strong>der</strong> Velberter Unternehmer Friedrich Karrenberg.Mitgeteilt von H. Prolingheuer mit Schreiben vom 27.9.1997.701 Zit. ohne Quellenangaben bei: C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 22f.702 Ebd. 23.251


von ökonomischer, son<strong>der</strong>n auch von theologischer Seite als eine sachgemäßeScheidung <strong>der</strong> Bereiche und Zuständigkeiten formuliert wordenwar. In <strong>der</strong> Formulierung klingt jene Zweite These <strong>der</strong> Barmer TheologischenErklärung von “Gottes kräftigem Anspruch auf unser ganzes Leben”an. <strong>Die</strong>se Aussage wendet sich gegen die von Bonhoeffer in seinerEthik später charakterisierte Absicht, “die Sache Christi zu einer partiellen,providentiellen Angelegenheit innerhalb des Wirklichkeitsganzen” 703zu machen. Auf die Frage, wie die Einheit dieses Anspruchs zu begründensei, sagt Bonhoeffer: “Hier muß die Bibel selbst um Rat gefragt werden.”704 Wenn <strong>der</strong> biblischen Botschaft also ein Anspruch auf das ganzeLeben zukommt, dann sind von <strong>der</strong> biblischen Ethik auch inhaltlicheAussagen zur Wirtschaftsordnung zu erwarten. Aus biblischen Normensollen nach <strong>Die</strong>tze Leitlinien für die Wirtschaftsordnung entwickelt werden:“<strong>Die</strong> Kirche müsse von je<strong>der</strong> Wirtschaftsordnung verlangen, daß siedem göttlichen Gebote, also namentlich dem Dekalog zu entsprechensuche.” 705 Gegen Leitlinien, die sich aus <strong>der</strong> Eigendynamik und Eigenlogik<strong>der</strong> Ökonomie ergeben, wird eine normative Basis für eine Wirtschaftsordnunggesucht. Hier deutet sich bereits eine wirtschaftsethischeBegründung an, die später in <strong>der</strong> Denkschrift 1943 ausführlicher zurSprache kommt. Alfred Müller-Armack wird 1948 in einem Artikel, <strong>der</strong>wohl erstmals den Begriff “Soziale Marktwirtschaft” verwendet, von einerdoppelten Zielsetzung sprechen: von <strong>der</strong> “Aufgabe sozialer Gerechtigkeitund einer Versittlichung des Wirtschaftlichen” 706 . Constantin von <strong>Die</strong>tzeselber nannte die Dahlemer Thesen von 1937 einen “ernste(n) Versuch(...), aus einer sauberen evangelischen Theologie die Stellungnahme zurWirtschaftsordnung abzuleiten, also nicht aus noch so verständlichen,auch achtungswerten Einschätzungen des irdischen Geschehens eineeigene Theologie zu entwickeln” 707 .<strong>Die</strong> Autoren <strong>der</strong> wirtschafts- und sozialpolitischen Anlage 4 zur Denkschriftüber die Politische Gemeinschaftsordnung. Ein Versuch zurSelbstbestimmung des christlichen Gewissens in den politischen Nötenunserer Zeit bedauern, daß insbeson<strong>der</strong>e die evangelische Ethik sichbislang kaum Fragen <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung zugewandt, und das, wasexistiere, keine allgemeine Zustimmung gefunden habe. Bis in die Mittedes 19. Jahrhun<strong>der</strong>ts reicht zwar eine sozialprotestantische Tradition.1927 war die erste Evangelische Wirtschaftsethik von Georg Wünsch erschienen.Es hat in <strong>der</strong> Weimarer Zeit im Umfeld des religiösen Sozialismuseine intensive Auseinan<strong>der</strong>setzung um den liberalen Kapitalismus703 D. Bonhoeffer, Ethik, 12. Aufl. München 1988, 209.704 Ebd. 220.705 C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 23.706 A. Müller-Armack, <strong>Die</strong> Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 151.707 C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 23. Dem Sinn enstprechend muß es wohl heißen:“einen ersten (nicht: ernsten) Versuch...”252


gegeben. Doch diese sozialprotestantischen Traditionen scheinen denAutoren entwe<strong>der</strong> nicht bekannt gewesen zu sein, o<strong>der</strong> sie wollten bewußtan diese nicht anschließen. 1937 hatte in Oxford eine wichtigeökumenische Konferenz zu Fragen <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung stattgefunden,an <strong>der</strong> jedoch lei<strong>der</strong> kein Vertreter <strong>der</strong> Bekennenden Kirche teilnehmenkonnte. 708 Von den dort gewonnenen Einsichten <strong>der</strong> ökumenischenChristenheit war deshalb die Bekennende Kirche abgeschnitten. 709<strong>Die</strong> Autoren <strong>der</strong> Freiburger Denkschrift fingen trotz schwacher, wenngleichvorhandener sozialprotestantischer Traditionen wirtschafts- undsozialethisch in einer “Stunde Null” an. Ausgangspunkt waren jene wirtschaftsethischenÜberlegungen, die im Anschluß an Barmen 1937 imRahmen einer Konferenz <strong>der</strong> Bekennenden Kirche in Dahlem formuliertwurden.Im Vorwort <strong>der</strong> Anlage 4 zur Wirtschafts- und Sozialordnung <strong>der</strong> FreiburgerDenkschrift wird programmatisch die Aufgabe beschrieben: “UnsereArbeit gilt in erster Linie <strong>der</strong> Gesamtordnung des Wirtschaftslebens,weniger den Pflichten und Geboten, die nach christlicher Lehre für dasVerhalten des einzelnen im Wirtschaftsleben gelten.” 710 <strong>Die</strong> Denkschriftwill also ordnungspolitisch und sozialethisch, nicht individualethisch argumentieren.Der Freiburger Kreis hat sich in seiner Denkschrift dabeivon drei Leitlinien leiten lassen:708 Bedauert wird, daß keine Vertreter <strong>der</strong> evangelischen Kirche in Deutschland teilnehmen konnte (Kircheund Welt in ökumenischer Sicht. Bericht <strong>der</strong> Weltkonferenz von Oxford über Kirche, Volk und Staat,hg. von <strong>der</strong> Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für Praktisches Christentum, Genf 1938,12); beschlossen wurde, eine Abordnung <strong>der</strong> Konferenz nach Deutschland zu entsenden (ebd. 268). C.von <strong>Die</strong>tze bedauert, daß er an <strong>der</strong> ökumenischen Tagung in Oxford nicht teilnehmen konnte (Hinweisin: C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 22). H. ten Doornkaat nennt die RengsdorferKonferenz zur Vorbereitung auf die Oxfor<strong>der</strong> Konferenz einen “ersten Versuch, die Probleme (<strong>der</strong>Ökonomie, F.S.) grundsätzlicher zu erfassen” (H. ten Doornkaat, <strong>Die</strong> Oekumenischen Arbeiten zur sozialenFrage, Frankfurt 1954, 176). Sie sei “<strong>der</strong> definitive Uebergang von <strong>der</strong> nur-pragmatischen Fragestellungzur grundsätzlichen Besinnung” (ebd. 177f.).709 Unter dem Titel Kirche, Volk und Staat in ihrer Beziehung zur Wirtschaftsordnung wurde auf<strong>der</strong> Konferenz in Oxford 1937 ein Konferenzbericht gebilligt, <strong>der</strong> den Kirchen zu “ernster undwohlwollen<strong>der</strong> Erwägung” anempfohlen wurde. <strong>Die</strong> Konferenz nennt den “Grundsatz <strong>der</strong> Gerechtigkeit”jenes “Richtmaß für alle sozialen Regelungen und Einrichtungen, alle wirtschaftlicheGestaltung und alle politischen Systeme, die dem Leben des Menschen eine Ordnung geben”( Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht <strong>der</strong> Weltkonferenz von Oxford überKirche, Volk und Staat, hg. von Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für PraktischesChristentum, Genf 1938, Bericht <strong>der</strong> II.Sektion, 159f.). <strong>Die</strong> Konferenz wertet die Entstehungdes Sozialismus und des Kommunismus als Folge des Kapitalismus. Der Sektionsbericht betonteigens, daß in den verschiedenen Län<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Kapitalismus nicht nur unterschiedlich ausgeprägtsei, son<strong>der</strong>n daß “das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische ItalienWirtschaftssysteme entwickelt (hätten), die in wichtigen Punkten von denen an<strong>der</strong>er kapitalistischerLän<strong>der</strong> abweichen” (ebd. 164 ). - Nichts jedoch deutet darauf hin, daß <strong>der</strong> FreiburgerKreis die Ergebnisse <strong>der</strong> Konferenz von Oxford rezipieren konnte.710 In <strong>der</strong> Stunde Null, Vorwort, 128.253


I. Richtschnuren und Verbote, die sich nach unseremGlauben aus Gottes Gebot für die Wirtschaft ergeben, die alsodie Kirche vertreten kann und muß;II.Grundsätze, die sich aus Sachnotwendigkeiten des Wirtschaftensergeben und die für seine Ordnung dauernde Geltungbesitzen;III.eine sachliche Würdigung <strong>der</strong> gegenwärtigen und <strong>der</strong>nach menschlicher Voraussicht bevorstehenden wirtschaftlichenLage. 711Gesucht wird nach einer ethischen Grundlage für die Neukonzeption<strong>der</strong> Wirtschaft. <strong>Die</strong> Gebote Gottes werden als eine solche Grundlage bezeichnet.Bezeichnend jedoch ist, daß <strong>der</strong> inhaltlich-materiale Aspekt <strong>der</strong>biblischen Tradition fehlt. An<strong>der</strong>erseits wird differenziert zwischen ethischerGrundlage und vernunftgemäßer Ausgestaltung <strong>der</strong> Ökonomie.<strong>Die</strong>se Unterscheidung zwischen <strong>der</strong> Zuständigkeit von Ethik und Ökonomieist wichtig. <strong>Die</strong> Scheidung will nicht die Zuständigkeiten so aufteilen,daß einerseits in <strong>der</strong> Wirtschaft die ökonomische Eigenlogik geltensoll und ethische Normen in diesem Bereich sachfremd sind, an<strong>der</strong>erseitsEthik allenfalls im Bereich personaler Beziehungen Geltungen besitzt.<strong>Die</strong> Differenzierung geht vielmehr von <strong>der</strong> Einsicht in die Einheit desethischen Anspruchs auf alle Lebensbereiche aus. Das aber bedeutet,daß die Ökonomie auf die Ethik angewiesen ist. Der Mitverfasser <strong>der</strong>Freiburger Denkschrift, Constantin von <strong>Die</strong>tze, hatte sich bereits im Vorwort<strong>der</strong> Veröffentlichung seines Referates Nationalökonomie und Theologiefür eine Konzeption ausgesprochen, die “eine auf christlichemGlauben gegründete, mit <strong>der</strong> Vernunft entwickelte Ausrichtung <strong>der</strong> Wirtschafts- und Sozialpolitik” 712 ermöglicht. <strong>Die</strong> Ausgestaltung <strong>der</strong> Wirtschaftsordnungist also eine Sache <strong>der</strong> Vernunft, ihre Grundlagen jedocheine <strong>der</strong> Ethik. Constantin von <strong>Die</strong>tze stellt angesichts des Scheiternsdes freien Marktes fest: “<strong>Die</strong> sittlichen Grundlagen <strong>der</strong> Wirtschaftsordnunghatten - namentlich zwischen den Volkswirtschaften, aber auch imInnern - sich nicht als stark genug erwiesen.” 713 <strong>Die</strong> Denkschrift unterstreicht,daß nicht eine “beson<strong>der</strong>s evangelische o<strong>der</strong> auch nur allgemein-christlicheWirtschaftsordnung” 714 entworfen werden soll. “Denn wirkönnen nicht aus den Grundlagen unseres Glaubens für die Wirtschaftsordnunggenaue Regelungen mit dem Anspruch auf unverbrüchlicheGültigkeit ableiten.” 715 Deutlich trennt die Denkschrift zwischen einer711 Ebd. 128.712 C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 7.713 Ebd. 21.714 In <strong>der</strong> Stunde Null,Vorwort, 128.715 Ebd. 128.254


normativen Grundlegung und den “Sachnotwendigkeiten des Wirtschaftens”.<strong>Die</strong> normative Kompetenz kommt <strong>der</strong> Kirche zu, die sachliche denFachleuten, die jedoch ihrerseits unter dem Anspruch <strong>der</strong> Ethik stehen.“Was die Kirche nicht selbst zur Wirtschaftsordnung zu sagen berufenist, hat sie den christlichen Laien zu überlassen.” 716 <strong>Die</strong>se Unterscheidungkann sich auf <strong>Die</strong>trich Bonhoeffer beziehen, <strong>der</strong> sich in seiner Ethikgegen das Denken in zwei Räumen wendet, denn “es gibt nicht zweiWirklichkeiten, son<strong>der</strong>n nur eine Wirklichkeit.” 717<strong>Die</strong> Denkschrift des Freiburger Kreises will sich ausdrücklich ihrerethischen Grundlagen vergewissern und for<strong>der</strong>t, “die Grundlagen <strong>der</strong>Sozial-Wirtschaftsethik christlich zu begründen, gerade nach evangelischemVerständnis” 718 . Eine allgemein christliche Begründung reicht ihnennicht aus. Was aber kann es bedeuten, eine Ökonomie “geradenach evangelischem Verständnis” zu konzipieren?Erstens wird von <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung gefor<strong>der</strong>t, daß es den Akteurenin <strong>der</strong> Wirtschaft “nicht unmöglich gemacht o<strong>der</strong> systematisch erschwertwird, ein Leben evangelischer Christen zu führen” 719 . <strong>Die</strong> Denkschriftwendet sich gegen einen Dualismus, <strong>der</strong> Ethik im Bereich des individuellenVerhaltens ansiedelt und wirtschaftliches Handeln ethikfreiversteht. <strong>Die</strong> Denkschrift steht in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Zweiten These <strong>der</strong>Barmer Theologischen Erklärung und <strong>der</strong> Thesen <strong>der</strong> “ÖkumenischenArbeitstagung <strong>der</strong> Bekennenden Kirche” von 1937 in Berlin-Dahlem zumThema “Kirche und Wirtschaftsordnung”, wenn sie sagt: “<strong>Die</strong> Gebote desHerrn richten sich nicht nur an die einzelnen Menschen. (...) Sie geltenauch für die Gemeinschaften des Lebens und Schaffens, für den Inhalt<strong>der</strong> sie bestimmenden Ordnungen.” 720 Gesucht wird nach einer ethischbegründeten Wirtschaftsordnung. Ethik hat ihren Ort nicht allein in <strong>der</strong>Rahmenordnung. <strong>Die</strong>se muß vielmehr auch so beschaffen sein, daß siemoralisches Handeln <strong>der</strong> Akteure ermöglicht. <strong>Die</strong> Wirtschaftsordnungentscheidet also darüber, ob ein individualethisches Verhalten überhauptmöglich ist. Ein Ökonomieverständnis, nach dem Ethik allein in <strong>der</strong>Rahmenordnung ihren systematischen Ort hat, kann sich nicht auf dieInspiratoren <strong>der</strong> später Soziale Marktwirtschaft genannten Wirtschaftskonzeptionbeziehen. 721 Gesucht wird nach einer Gesamtordnung desWirtschaftslebens, die den “ewigen Grundfor<strong>der</strong>ungen christlich begrün-716 Ebd. 130.717 D. Bonhoeffer, Ethik, 210.718 In <strong>der</strong> Stunde Null,Vorwort, 128.719 Ebd. 128.720 Ebd. 129.721 Gegen K. Homann, <strong>der</strong> den systematischen Ort <strong>der</strong> Moral in <strong>der</strong> Rahmenordnung ansiedelt. Soin: K. Homann, F. Blome-<strong>Dr</strong>ees, Wirtschafts- und Unternehmensethik, 20-53; <strong>der</strong>s., Wirtschaft- Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, 97ff.255


deter Individual-Wirtschaftsethik” 722 Rechnung trägt. Gefor<strong>der</strong>t wird deshalbeine sozialethisch begründete Ordnungspolitik, die nicht in einemGegensatz zu einer Individualethik steht, son<strong>der</strong>n beides ermöglicht:ethisches Verhalten des wirtschaftlich Handelnden und eine ethischgrundgelegte Wirtschaftsordnung.Zweitens müsse <strong>der</strong> Wirtschaftsordnung eine Anthropologie zugrundeliegen. “Der Mensch kann an seiner sittlichen Person und an seiner SeeleSchaden leiden, wenn er sich in freiem Wettbewerb hemmungslosdem Ringen um irdischen Besitz ergibt, nicht min<strong>der</strong> jedoch auch, wenner im <strong>Die</strong>nst eines vergötzten Kollektivs ausgebeutet wird o<strong>der</strong> gar an<strong>der</strong>eausbeutet. Immer wird die Gesinnung entscheidend sein, welche dieDurchführung einer Wirtschaftsordnung beherrscht.” 723 Eine Wirtschaftsordnungmüsse sachlichen Zweckmäßigkeiten entsprechen und “dendenkbar stärksten Wi<strong>der</strong>stand gegen die Macht <strong>der</strong> Sünde ermöglichen”724 . In dem zwangs- und kommandowirtschaftlichen System desNationalsozialismus hat die Denkschrift eine “Macht <strong>der</strong> Sünde” erblickt.<strong>Dr</strong>ittens müsse eine ethisch verantwortbare Wirtschaftsordnung biblischfundiert sein. Von den Geboten des Dekalogs aus werden “Anfor<strong>der</strong>ungenan die Wirtschaftsordnung” 725 formuliert. <strong>Die</strong> Denkschrift suchteine Wirtschaftsordnung in <strong>der</strong> Perspektive des Dekalogs zu konzipieren:“Der Dekalog ist keine Zusammenstellung von Gesetzesparagraphen,die juristisch zu interpretieren wären. Er ist für uns auch nur im Zusammenhangmit <strong>der</strong> ganzen Heiligen Schrift verbindlich.” 726 An an<strong>der</strong>erStelle hatte Constantin von <strong>Die</strong>tze einen Hinweis gegeben, <strong>der</strong> den Bezugauf die Bibel noch genauer erklärt. Während katholische Christensich auf das Naturrecht beziehen könnten, sei dem evangelischen Christen“die Heilige Schrift die einzige Offenbarung, und aus ihr kann man einvollständiges, für alle Zeiten gültiges Weltbild nicht unmittelbar ableiten,noch weniger eine Wirtschaftspolitik” 727 . Wie sehr die Wirtschaftskonzeptiondes Freiburger Kreises einer biblisch begründeten Ethik verpflichtetist, betont Constantin von <strong>Die</strong>tze ausdrücklich: “<strong>Die</strong> eigentliche Aufgabe<strong>der</strong> Theologie besteht dabei in <strong>der</strong> Feststellung <strong>der</strong> unabän<strong>der</strong>lichen, ausGottes Geboten zu entnehmenden Grundsätze für die wirtschaftliche undsoziale Ordnung; dagegen wird ihr nicht zugemutet, die konkreten wirtschaftlichenund sozialen Fragen zu meistern.” 728 Gleichsam als Ersatz722 In <strong>der</strong> Stunde Null, Vorwort, 128.723 Ebd. Teil I. 5, 130.724 Ebd. 129.725 Ebd. Teil I. 3, 129.726 Ebd. Teil I. 3, 129.727 C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 31.728 Ebd. 41.256


für ein fehlendes Naturrecht wurde von <strong>der</strong> biblischen Tradition eine unmittelbareethische Maximenkompetenz erwartet.Gegen die Versuchung zur “Vergötzung irdischer Güter und Mächte”verweist die Denkschrift auf die ersten drei Gebote des Dekalogs. Das 5.Gebot des Dekalogs wird ausgedeutet als Schutz des Menschen vorAusbeutung. “Aus dem 7., 9. und 10. Gebot folgt, daß eine Ordnung bestehenmuß, in welcher ein Wirtschaften<strong>der</strong> <strong>der</strong> Nächste des an<strong>der</strong>n seinkann, also echte Gemeinschaft möglich ist.” 729 Ausgehend von den Gebotendes Dekalogs muß die Kirche:a) Grenzen abstecken, also Verbote verkündigen, welche von <strong>der</strong>Wirtschaftsordnung nicht überschritten werden dürfen;b) einige feste Richtschnuren für den Inhalt <strong>der</strong> Wirtschaftsordnunggeben. Dabei muß sie aller Welt Verantwortung für die wirtschaftlichenNöte <strong>der</strong> Mitmenschen zum Bewußtsein bringen. 730In seiner Schrift Aussagen evangelischer Christen in Deutschland zurWirtschafts- und Sozialordnung (1946) erläutert Constantin von <strong>Die</strong>tzeGrundlagen für die Konzipierung <strong>der</strong> ökonomischen Neuordnung. “AlsGrundlegung für unsere Stellungnahme zur Wirtschafts- und Sozialordnunggibt uns die Heilige Schrift Richtschnuren und Verbote (Ziff. 4). (...)Da wir keine zwingenden Gesetze des Wirtschaftslebens anerkennen,haben wir in je<strong>der</strong> Lage die rechte Ordnung zu suchen. Dabei müssenwir den göttlichen Geboten entsprechen, aber auch die jeweilige Lageund sachnotwendige Grundgesetze des Wirtschaftslebens beachten(Ziff.5)”. 731 Hier klingt an, was Arthur Rich später in seiner Wirtschaftsethikdie Verschränkung von Sachgemäßem <strong>der</strong> Ökonomie und Menschengemäßem<strong>der</strong> Ethik bezeichnen wird. 732Was es bedeutet, Grundlagen einer Wirtschaftsordnung nach evangelischemVerständnis zu formulieren, hat Adolf Lampe, Mitglied des FreiburgerKreises, nach dem Krieg in einem Vortrag 1948 vor <strong>der</strong> EvangelischenAkademie Echzell ausgeführt. 733 Im Unterschied zur evangelischenEthik argumentiere die Katholische Soziallehre naturrechtlich.Evangelische Theologie jedoch sei an das biblische Schriftprinzip gebun-729 In <strong>der</strong> Stunde Null, Teil I. 3, 129.730 Ebd. Teil I. 5, 130.731Zit. nach G. Brakelmann u. T. Jähnichen (Hg.), <strong>Die</strong> protestantischen Wurzeln <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft, 366. <strong>Die</strong> Schrift Aussagen evangelischer Christen in Deutschland zur Wirtschafts-und Sozialordnung (1946) ist das deutsche Vorbereitungspapier zur Frage <strong>der</strong> Wirtschaftsordnungfür die Weltkirchenkonferenz 1948 in Amsterdam und nimmt ausdrücklich dieErgebnisse <strong>der</strong> Weltkirchenkonferenz von Oxford 1937 auf.732 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd.1, 73.733 A. Lampe, Gefallene Wirtschaft, (Kirche und Welt. Schriftenreihe <strong>der</strong> Evangelischen Akademiein Hessen und Nassau) Heft 2, Frankfurt 1949.257


den: “Entgegen <strong>der</strong> im Säkularisierungsprozeß (Smith, Mises) verblüffendschnell in Vergessenheit geratenen metaphysischen Bindung, istchristliche Weltanschauung nur von <strong>der</strong> Schrift her möglich. Wie ist aberbiblische Wirtschaftssicht möglich, wenn das Wort Wirtschaft in <strong>der</strong> Bibelgar nicht vorkommt? (...) Aber die Bibel gibt doch völlig eindeutige Weisungenfür das irdische Leben <strong>der</strong> Menschen. (...) Deshalb muß nachden ganz grundlegenden Entscheidungen <strong>der</strong> Bibel über das Verhältniszwischen Gott und den Menschen Ausschau gehalten werden in <strong>der</strong> Zuversicht,daß dann von dort her zwingende Anweisungen auch für diekonkrete Gestaltung des Wirtschaftslebens abzuleiten sein müssen.” 734Adolf Lampe hat in seinem Vortrag mit dem Thema Gefallene Wirtschaftdarauf hingewiesen: “Statt Machtausgleich zur Sicherung <strong>der</strong>menschlichen Freiheit kam es zur Machtübersteigerung und damit zurVerleugnung <strong>der</strong> Schöpfungsordnung.” 735 Der wirtschaftliche Entmachtungsprozeßdurch Wettbewerb wird hier als eine schöpfungsgemäßeOrdnung verstanden. Adolf Lampe verwendet dabei Argumentationsfiguren,die eine deutliche Nähe zum neoliberalen Denken eines FriedrichAugust Hayek zeigen, wenn er sagt: “<strong>Die</strong> Schöpfungsordnung <strong>der</strong> Preisbildungist eine Tatsache und muß mit Ehrfurcht behandelt werden.” 736 Erbegreift die “Wirtschaftsordnung als Schöpfungsordnung” 737 , die ordnungspolitischdurch Planwirtschaft und Gewerkschaften mißachtet werde,und begründet die Mechanismen einer Marktökonomie dort schöpfungstheologisch,wo Hayek auf den sich selbstregulierenden Markt verweist,den er evolutiv und damit naturgemäß versteht. <strong>Die</strong>ser Markt for<strong>der</strong>enach Hayek eine Haltung <strong>der</strong> “Demut vor den unpersönlichen undanonymen sozialen Prozessen” 738 . Adolf Lampe formuliert diesen Gedankentheologisch: “Wir müssen <strong>der</strong> Vergötzung <strong>der</strong> Wirtschaft und <strong>der</strong>734 Ebd. 14f.735 Ebd. 22f.736 Ebd. 23.737 Ebd. 23.738F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus , in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnungvon Wirtschaft und Gesellschaft, o.O. Bd. 1, 1948, 25. Hier zeigt sich die Nähe <strong>der</strong> FreiburgerOrdoliberalen zum Gesamtanliegen einer neoliberalen Erneuerung <strong>der</strong> Wirtschaft, aber auch dieursprüngliche Nähe <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft zu neo- und ordoliberalen Vorstellungen.Hayek, Röpke, Eucken u. a. waren sich in <strong>der</strong> Ablehnung <strong>der</strong> kriegswirtschaftlichen Lenkung<strong>der</strong> Produktion einig. Der Staat solle sich aus <strong>der</strong> Wirtschaft zurückziehen. A. Müller-Armackschließt sich den Erkenntnissen von Eucken, Hayek, von Mises und Röpke ausdrücklich an,daß Wirtschaftslenkung wohlstandshemmend sei (A. Müller-Armack, <strong>Die</strong> Wirtschaftsordnungen,sozial gesehen, 131ff.). Urbild <strong>der</strong> Wirtschaftslenkung sei die Kriegswirtschaft (Ebd.,141). Müller-Armack erwartet sich mehr soziale Gerechtigkeit nicht durch den “utopischen Ansatz”(Ebd. 141) direkter Verfolgung ergebnisorientierter ethischer Ziele. Sie ergeben sich indirekt,wenn <strong>der</strong> Staat sich auf “Maßnahmen zur Schaffung und Sicherung <strong>der</strong> Wettbewerbswirtschaft”beschränkt (Ebd. 152).258


Wirtschaftsmacht absagen und nach einer schöpfungsgemäßen WirtschaftAusschau halten.” 739 Adolf Lampe spricht von einer “schöpfungsgemäßenWirtschaft”, in <strong>der</strong> sich eine “Unterordnung <strong>der</strong> eigengesetzlichenWirtschaft unter die Gebote Gottes” 740 vollziehe, wo Hayek von“Demut vor ... sozialen Prozessen” spricht. “Von dorther strahlt ein eigenesLicht auf den Gedankengang auch des Wirtschaftstheoretikers, <strong>der</strong>nüchtern und unbefangen Wirklichkeit zu analysieren versucht.” 741 <strong>Die</strong>Folgerungen des Denkens bei Lampe und Hayek sind beide Male gleich:wie gegenüber <strong>der</strong> Schöpfungsordnung so muß <strong>der</strong> Mensch sich auchgegenüber den Marktprozessen unterordnen.Wenn man also fragt, auf welche theologischen Traditionen sich dieprotestantischen Väter des Konzeptes <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft bezogenhaben, und was mit dem Anliegen gemeint war, “die Grundlagen<strong>der</strong> Sozial-Wirtschaftsethik christlich zu begründen, gerade nach evangelischemVerständnis” 742 , so fällt auf, daß sie nicht bloß von einerchristentumsgeschichtlichen Motivation geleitet waren, wie vielfach angenommenwird, son<strong>der</strong>n auf einer ausdrücklichen biblischen Begründungbestanden. Sie standen dabei vor dem Dilemma, eine ethisch fundierteWirtschaftsordnung konzipieren zu wollen und erfahren zu müssen,von <strong>der</strong> Theologie keine Zuarbeit erwarten zu können. Es läßt sichals Ergebnis festhalten, daß in <strong>der</strong> Denkschrift des Freiburger Kreiseswie auch in den Beiträgen von den Mitverfassern <strong>der</strong> Denkschrift Constantinvon <strong>Die</strong>tze und Adolf Lampe die biblisch-ethische Begründung alsdas kennzeichnende protestantische Prinzip schlechthin verstanden wird.Günter Brakelmann hat Recht, wenn er bei den Begrün<strong>der</strong>n <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft Wurzeln in philosophischen, theologischen und ethischkulturellenTraditionen, die sich <strong>der</strong> Reformation verdanken, ausmacht.743 Doch dieser theologische Ansatz läßt sich genauer fassen: DerFreiburger Kreis hat nicht bloß aus einem unbestimmten Erbe <strong>der</strong> Reformationgeschöpft, son<strong>der</strong>n vielmehr die Wirtschaftsordnung ausdrücklichmit solchen ethischen Begründungen ausstatten wollen, diesich an <strong>der</strong> biblischen Tradition und insbeson<strong>der</strong>e am Dekalog orientierten.Das nannten sie eine Begründung <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, “geradenach evangelischem Verständnis.” 744<strong>Die</strong> Verfasser <strong>der</strong> Denkschrift haben <strong>der</strong> Theologie und Sozialethik einfundamentales Versagen in politischen und wirtschaftsethischen Fragen739 A. Lampe, Gefallene Wirtschaft, 24.740 Ebd. 25, Anm. 1. <strong>Die</strong>se Aussage fiel in <strong>der</strong> Diskussion im Anschluß an ein Referat.741 Ebd. 24.742 In <strong>der</strong> Stunde Null,Vorwort, 128.743 G. Brakelmann, Das Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutiven Ordnung, 202.744 In <strong>der</strong> Stunde Null,Vorwort, 128.259


vorgeworfen. Constantin von <strong>Die</strong>tze hat die Dialektische Theologie kritisiert,die meinte, “die Welt sei im Grunde ver<strong>der</strong>bt und verloren; sie zuordnen, sei entwe<strong>der</strong> ganz unmöglich o<strong>der</strong> doch eine Angelegenheit, dieden Christen, vollends den Theologen nichts angehe.” 745 Auch AlfredMüller-Armack schließt sich dieser Kritik in seinem Aufsatz Soziale Irenik746 an und plädiert für eine friedvolle Zusammenarbeit <strong>der</strong> verschiedenenweltanschaulich geprägten Sozialbewegungen. Selbst evangelischerChrist, bemängelt er die damals vorherrschende Dialektische Theologie,die mit ihrem Ideal einer entmachteten Kirche eine Einstellung habe entstehenlassen, “die es als solche ablehnt, zur Frage <strong>der</strong> konkreten Weltgestaltungirgendeine bestimmte Position zu beziehen.” 747 Den Verfassern<strong>der</strong> Denkschrift fehlten sachkompetente theologische Gesprächspartner.Constantin von <strong>Die</strong>tze hat keinen Zweifel daran gelassen, daß<strong>der</strong> Nationalökonom die Theologie braucht. “Es ist ein Hilferuf aus innererBedrängnis,” 748 klagt er beinahe verbittert den wirtschaftsethischenBeitrag <strong>der</strong> Theologie ein. <strong>Die</strong> Erfahrung mit dem Versagen von Theorieund Praxis des freien Marktes, aber auch die Katastrophe, in dieDeutschland sich durch den Nationalsozialismus manövriert hatte, ließenConstantin von <strong>Die</strong>tze nach <strong>der</strong> gesellschaftlichen Verantwortung <strong>der</strong>Theologie fragen. Christentum und Theologie schuldeten <strong>der</strong> Gesellschaft“moralische Grundlagen und Ziele des öffentlichen Lebens.” 749 Inseinen Augen ist “für einen dauernd gültigen Gehalt <strong>der</strong> Gerechtigkeitdas Christentum die einzige Quelle.” 750 Der Rückgriff auf biblische Normenspricht dem Begriff <strong>der</strong> Eigengesetzlichkeit die theologische undethische Legitimität ab und stellt zugleich eine Theologie infrage, die sichgetrennt und abseits von Ökonomie eingerichtet hatte. <strong>Die</strong> Autoren habendirekt auf die Bibel und den Dekalog zurückgegriffen. <strong>Die</strong>ser unmittelbarerfolgte Rückgriff mag theologisch bedenklich sein. Doch dieserVorwurf fällt auf eine Theologie und Sozialethik zurück, die das Gesprächmit <strong>der</strong> Ökonomie nicht nur nicht gesucht, son<strong>der</strong>n aus ihrem theologischenSelbstverständnis heraus erst gar nicht für nötig erachtet hatte.745C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 31. Emil Brunner nennt es unverständlich,daß Wirtschaftsprobleme von <strong>der</strong> Ethik nicht beachtet werden, zumal diese in <strong>der</strong> Bibel Altenund Neuen Testaments im Mittelpunkt des Blickfeldes stünden. “Eine Ethik, die sich <strong>der</strong> wirtschaftlichenProblematik entzieht, hat jedenfalls auf den Namen einer christlichen o<strong>der</strong> biblischenkeinen Anspruch.” So E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, Nachdruck o.O., o.J.,380.746Münster 1949, als Manuskript gedruckt; später veröffentlicht in: A. Müller-Armack, SozialeIrenik, in: <strong>der</strong>s., Religion und Wirtschaft. Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischenLebensform, Stuttgart 1959, 559-578.747 Ebd. 569.748 C. von <strong>Die</strong>tze, Nationalökonomie und Theologie, 40.749 Ebd. 40.750 Ebd. 40.260


Resümierend läßt sich sagen: <strong>Die</strong> Denkschrift <strong>der</strong> EKD Gemeinwohlund Eigennutz verweist zur ethischen Begründung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftauf die kulturell “bestimmende Weltsicht” (Ziff. 99) und auf jenerationale Lebensführung, die ihre “Wurzeln im Christentum” (Ziff. 99) haben.Traugott Jähnichen spricht von einer “Affinität des christlichen Ethoszu diesem wirtschaftspolitischen Ordnungsmodell” 751 , das Alfred Müller-Armack später als Soziale Marktwirtschaft bezeichnen wird. Eckart Ottostellt eine Verbindung zwischen biblischen Motiven und den Ursprüngendes westlichen Wirtschaftsmodells her: “<strong>Die</strong>se ethischen Grundorientierungenspeisen sich aus den Wurzeln ihres religiösen Ursprungs.” 752 In<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft zeigen sich nach Otto eine “biblische Motivik”753 o<strong>der</strong> nach Rendtorff “Gemeinwohltraditionen des Christentums” 754 .<strong>Die</strong>se Aussagen weisen auf einen wirkungsgeschichtlichen Zusammenhangzwischen christlicher Ethik und Sozialer Marktwirtschafthin. Eckart Müller differenziert die Aussage von Günter Brakelmann undTraugott Jähnichen, die in den Konzeptionsentwürfen <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft explizite sozialprotestantische Traditionslinien ausmachen.“Der christliche Glaube und die protestantische Tradition standenvielmehr oftmals unausgesprochen im Hintergrund und wirkten vondort.” 755 Ob diese Einschätzung Müllers auf die zutrifft, die nach 1945 dieSoziale Marktwirtschaft entwickelt haben, steht hier nicht zur Debatte;doch diese Einschätzung trifft keineswegs auf die Verfasser des wirtschafts-und sozialpolitischen Anhangs zur Freiburger Denkschrift zu, dieganz wesentlich die Konzeptionsentwicklung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftinspiriert und geprägt haben. Christlicher Glaube und protestantischeTraditionen standen dort keineswegs bloß unausgesprochen imHintergrund, son<strong>der</strong>n bildeten zusammen mit einer ausdrücklichen biblischenBezugnahme die ethische Grundlage für eine Wirtschaftskonzeption,die die Theoriebildung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft ganz wesentlichbeeinflussen sollte.8.1.4 <strong>Die</strong> konzeptionelle Entfaltung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft751T. Jähnichen, Protestantische Impulse für das Konzept “Soziale Marktwirtschaft”, in: G.Brakelmann, T. Jähnichen (Hg.), <strong>Die</strong> protestantischen Wurzeln <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft,312.752 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 115.753 Ebd. 115.754 T. Rendtorff, <strong>Die</strong> Kirchen und die soziale Marktwirtschaft, in: F. von Auer u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.),Gerechtigkeitsfähiges Deutschland, 31-38.755 E. Müller, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft, 10, vgl. auch 23f.261


<strong>Die</strong> Wirtschaftskonzeption, die nach 1945 zur Sozialen Marktwirtschaftführen sollte, ist nicht theoretisch konzipiert worden. “Ihre ethischen Fundamenteund konkreten Strukturen wurden von christlich geprägten Wissenschaftlernin den Jahren 1938 - 43 im Wi<strong>der</strong>stand gegen den Nationalsozialismusoffengelegt.” 756 Sie formulierten auf diesem Hintergrundein ordnungspolitisches Wirtschafts- und Gesellschaftssystem, das sozialethischinspiriert war. <strong>Die</strong> Denkschrift des Freiburger Kreises hat Philippvon Bismarck “Fundament und Maßstab <strong>der</strong> unter dem Namen SozialeMarktwirtschaft zusammengefaßten Gesamtkonzeption” 757 genannt.Deren ethische Fundamente und die ordnungspolitischen Prinzipienprägten die Soziale Marktwirtschaft nachhaltig. “<strong>Die</strong> auf ihnen basierenden,zahlreichen, die verschiedenen wirtschafts- und sozialpolitischenBereiche betreffenden Anregungen (...) haben sowohl die rechtliche Absicherung<strong>der</strong> Wirkungsbedingungen als auch die politische Einführung<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft in den Jahren von 1948 bis 1960 wesentlichmit beeinflußt.” 758 <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft kann deshalb durchaus alseine sozialethisch inspirierte Antwort auf das Scheitern von Theorie undPraxis einer freien Marktwirtschaft angesehen werden.Ein zweimaliges katastrophales Versagen des kapitalistischen Wirtschaftssystemsin Theorie und Praxis wurde 1945 offenkundig. <strong>Die</strong> Wirtschaftspolitikdes schwachen Staates <strong>der</strong> Weimarer Zeit mit ihrer Inflationund Massenarbeitslosigkeit hatte den Kapitalismus diskreditiert. Auchdie staatlich gelenkte Zwangswirtschaft während <strong>der</strong> NS-Diktatur war untragbar.<strong>Die</strong> Väter <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft zogen aus den bitterenErfahrungen mit dem Scheitern des schwachen Staates in <strong>der</strong> WeimarerRepublik und dem Scheitern autoritärer Konzepte in <strong>der</strong> NS-Zeit die Lehreund formulierten einen dritten Weg zur Bändigung <strong>der</strong> Marktkräfte. Siehatten einerseits in <strong>der</strong> Weimarer Republik die Erfahrung gemacht, daßdie Marktökonomie so mächtig ist, daß nur ein handlungsfähiger undhandlungswilliger Staat ihr Grenzen setzen kann. Angesichts <strong>der</strong> Erfahrungenmit <strong>der</strong> NS-Diktatur an<strong>der</strong>erseits sollte Freiheit gegen autoritäreund totalitäre Lösungen gesichert bleiben. Das Konzept <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft ist deshalb auch eine “konsequente wirtschaftspolitischeund sozialphilosophische Lehre aus den Erfahrungen <strong>der</strong> Weimarer Republikund des <strong>Dr</strong>itten Reiches” 759 . <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft wurde vonMännern konzipiert, die vom Nationalsozialismus in die äußere Emigrati-756 Ph. von Bismarck, Soziale Marktwirtschaft. Das Geschenk <strong>der</strong> Stunde Null, Freiburg 1992, 7.757 Ebd. 31.758 Ebd. 31.759 K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 98.- Erst später im Zuge des kalten Krieges wurde er als ein<strong>Dr</strong>itter Weg zwischen totalitärem Staatssozialismus und Liberalismus bezeichnet.262


on gezwungen wurden, so u.a. Wilhelm Röpke und Alexan<strong>der</strong> Rüstow,und von Wissenschaftlern wie Wilhelm Eucken und Alfred Müller-Armack, die in <strong>der</strong> inneren Emigration die NS-Zeit zu überleben suchten.Nie wie<strong>der</strong> autoritärer Faschismus und nie wie<strong>der</strong> ungebändigter Kapitalismusist <strong>der</strong> Grundkonsens nach dem Zweiten Weltkrieg. Alexan<strong>der</strong>von Rüstow will mit dem Projekt einer Revision des Liberalismus einendritten Weg zwischen dem zusammengebrochenen historischen Liberalismusund dem drohenden Kollektivismus finden, in dem “Gerechtigkeitund Freiheit einerseits und höchste wirtschaftliche Ergiebigkeit an<strong>der</strong>seits”760 vereinigt sind. <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft ist also das weitreichendeReformprojekt einer Revision des Liberalismus, das sich miteinem dreifachen Anti gegen Theorie und Praxis eines freien Marktesabgrenzt: antikapitalistisch, antifaschistisch, antisozialistisch. 761Protestantische Laien haben in einer bestimmten historischen Konstellationunter Rückgriff auf zentrale Motive protestantischer und biblischerTradition das Ordnungsmodell <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft entwickelt.Daß die Soziale Marktwirtschaft zur Traditionslinie des sozial engagiertenProtestantismus gehört, ist weithin unbekannt. <strong>Die</strong> katholische Sozialethikhatte an <strong>der</strong> Konzipierung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft nur geringerenAnteil. 762 Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil fand die Konzeption<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft auch keineswegs ungeteilte Zustimmunginnerhalb <strong>der</strong> katholischen Sozialethik. <strong>Die</strong> Skala reichte nachJosef Stegmann von einem “vorsichtigen „Ja, aber‟ bis zu einem „beinaheNein‟” 763 . Im Umfeld <strong>der</strong> evangelischen Ethik und Theologie hat es allerdingskeine vergleichbar kontroverse Auseinan<strong>der</strong>setzung um die Konzeptioneiner Sozialen Marktwirtschaft gegeben, wie sie im Katholizismusgeführt wurde. <strong>Die</strong> Debatte im Protestantismus begnügte sich mit einerpauschalen Befürwortung o<strong>der</strong> Ablehnung des Konzeptes des Sozialen760 A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 100.761F. <strong>Segbers</strong>, Rheinischer Kapitalismus o<strong>der</strong> Neoliberalismus? “... <strong>der</strong> regulativen Idee <strong>der</strong> GerechtigkeitAbschied geben.” 13.762 So auch K. I. Horn, Moral und Wirtschaft, 106.763 J. Stegmann, Neoliberalismus - Soziale Marktwirtschaft, in: <strong>der</strong>s., <strong>Die</strong> Katholische Kirche in <strong>der</strong>Sozialgeschichte. <strong>Die</strong> Gegenwart, München - Wien, 1983, 2. <strong>Die</strong> kontroverse innerkatholischeDiskussion um die Soziale Marktwirtschaft, die als Spielart des Neoliberalismus verstandenwird, ist nachgezeichnet in: J. Stegmann, Neoliberalismus - Soziale Marktwirtschaft, in: <strong>der</strong>s.,<strong>Die</strong> Katholische Kirche in <strong>der</strong> Sozialgeschichte; E. E. Nawroth, <strong>Die</strong> Sozial- und Wirtschaftsphilosophiedes Neoliberalismus. Nawroth kommt zu dem Resümee, daß, entgegen einem Diktumvon Müller-Armack, das neoliberale System (i.e. die Soziale Marktwirtschaft) keineswegseine “neue dritte Form” sei, son<strong>der</strong>n wie Röpke zu Recht sage, eine “ungestüme Renaissance”altliberalen Gedankenguts (so die Einschätzung und Bewertung von E. E. Nawroth, <strong>Die</strong> SozialundWirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 242f.). - Im Umfeld evangelischer Ethik wurdeund wird nicht vergleichbar um das Ökonomiekonzept einer Sozialen Marktwirtschaft, son<strong>der</strong>neher um die Fundamentalalternative Marktwirtschaft versus Sozialismus gerungen.263


Markwirtschaft. Erst im Gemeinsamen Wort <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenzund des Rates <strong>der</strong> EKD Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeithaben sich die beiden Kirchen einmütig zur Unterstützung <strong>der</strong>Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft zusammengefunden und dieserWirtschaftsweise eine beson<strong>der</strong>e Nähe zur christlichen Sozialethikzuerkannt.<strong>Die</strong> Ordnungsidee <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft stellt Alfred Müller-Armack in einen Zusammenhang von Anthropologie und Gerechtigkeit,wenn er sie eine “zwischen Individualismus und Kollektivismus hindurchgehendeWirtschaftspolitik” 764 nennt. “Einzig die christliche Haltung istgeeignet, die Zerrissenheit in die Formen individualistischer und kollektivistischerHaltungen aus <strong>der</strong> Tiefe ihres überlegenen, beide Antagonismenumschließenden Personalismus zu überwinden und schon aus ihrerDistanz zur Welt <strong>der</strong> gefährlichen Verstrickung in jene formalenGrundsätze zu steuern.” 765 <strong>Die</strong> Konzeption <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftbettet die Ökonomie in eine soziale, ökonomische und politische Rahmenordnungein. Ökonomie wird zu einem kulturellen Projekt. Unstrittigwar den Vätern <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, daß an die Wirtschaftspolitikmoralische For<strong>der</strong>ungen zu stellen sind. Alexan<strong>der</strong> Rüstow streichtdeutlich die ethische Bindung <strong>der</strong> Ökonomie heraus: “<strong>Die</strong> Wirtschaftspolitikuntersteht <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Moral, und alle wirtschaftspolitischenFehler, die gemacht werden, und lei<strong>der</strong> in großem Maße gemacht werden,lassen sich gleichzeitig als Verstöße gegen die Moral auffassen.” 766Nicht an<strong>der</strong>s Müller-Armack, <strong>der</strong> das Anliegen so beschreibt: “Aufgabesozialer Gerechtigkeit und einer Versittlichung des Wirtschaftlichen”. 767<strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft versteht sich deshalb auch als eine Ökonomie,die ihr Selbstverständnis nicht gegen o<strong>der</strong> ohne Ethik, son<strong>der</strong>n nurmit ihr definiert. In ihr schlägt sich eine bewußte und nicht nur impliziteVermittlung von Ethik und Ökonomie nie<strong>der</strong>.764A. Müller-Armack, Das Jahrhun<strong>der</strong>t ohne Gott, in: <strong>der</strong>s., Religion und Wirtschaft, Stuttgart1959, 508.765 Ebd. 507.766 A. Rüstow, Rede und Antwort, 13f.767 A. Müller-Armack, <strong>Die</strong> Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 151. Das Wirtschafts- und Sozialwort<strong>der</strong> Kirchen sieht die Soziale Marktwirtschaft als Teil einer Gesellschaft, <strong>der</strong>en Grundkonsensdurch Menschenrechte und freiheitlich-soziale Demokratie geprägt ist (vgl. Kap. 4,bes. Ziff. 129). Strukturen und Rahmenbedingungen reichen allerdings nicht aus. Deshalb heißtes im Kirchenwort: “Eine sozial, ökologisch und global verpflichtete Marktwirtschaft ist moralischviel anspruchsvoller, als im allgemeinen bewußt ist. <strong>Die</strong> Strukturen müssen, um dauerhaftenBestand zu haben, eingebettet sein in eine sie tragende und stützende Kultur” (Ziff. 12). Indeutlicher Abgrenzung von neoliberalen Ökonomie-Konzeptionen bekräftigen die Kirchen, daßnicht <strong>der</strong> Markt allein schon durch einen funktionierenden Wettbewerb sozial erträglich werde.“Es ist eine kulturelle Aufgabe, dem Eigennutz eine gemeinwohlverträgliche Gestalt zu geben”(Ziff. 12).264


Ungeachtet zahlreicher Unklarheiten und auch Wi<strong>der</strong>sprüche in <strong>der</strong>Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft nennt Alfred Müller-Armackals Voraussetzungen für das Funktionieren einer Marktwirtschaft u.a. folgendesoziale Interventionen o<strong>der</strong> Lenkungsmaßnahmen in den Markt:- die konjunkturpolitische Stabilisierung des Arbeitsmarktes; 768- die Korrektur <strong>der</strong> durch den Markt herbeigeführten Einkommensverteilung;769- die Schaffung eines sozialen Rechts. 770Alfred Müller-Armack will also die sozialen Rechte, den Arbeitsmarktund die Einkommensverteilung nicht dem Markt überlassen. In einer Metaphernennt er den Markt einen “Halbautomaten, <strong>der</strong> seiner vollen Bedienungbedarf.” 771 Für die Konzeption <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft istein programmatischer Interventionismus zentral, <strong>der</strong> Marktversagenüberwinden und gesellschaftspolitische soziale Ziele erreichen will. We<strong>der</strong><strong>der</strong> neoklassisch theoretisch begründete Wettbewerbsmarkt noch einStaat, <strong>der</strong> jenseits gesellschaftlicher Interessenkonflikte steht, könnendas Gemeinwohl begründen. Deshalb kann auch <strong>der</strong> Wettbewerb nichtein normatives Ordnungsprinzip <strong>der</strong> Wirtschaft sein. Alfred Müller-Armack hat die negativen Effekte des wettbewerblichen Marktsystemssehr wohl erkannt: “<strong>Die</strong> Wettbewerbsordnung (...) vermag nicht, die Gesellschaftals Ganzes zu integrieren, gemeinsame Haltungen und Gesinnungen(...) zu setzen, ohne die eine Gesellschaft nicht zu existierenvermag. Sie zehrt an <strong>der</strong> Substanz geschichtlicher Bindungskräfte.” 772Was unter Sozialer Marktwirtschaft zu verstehen ist, ist keineswegseindeutig. Selbst bei Alfred Müller-Armack finden sich sehr verschiedeneKonzeptionen und Vorstellungen einer Sozialen Marktwirtschaft. Er verstehtdie Soziale Marktwirtschaft bereits in <strong>der</strong> frühesten Darstellung als“Synthese <strong>der</strong> marktwirtschaftlichen Kräfte und einer sozialen Ordnung”773 . <strong>Die</strong> Ordoliberalen <strong>der</strong> Freiburger Schule wissen um die Defizite<strong>der</strong> Marktwirtschaft und erwarten deshalb von einem starken Staat, daßer Wettbewerb und Geldwert sichert. <strong>Die</strong> Funktionsfähigkeit des Marktesjedoch soll allemal gesichert werden und darf durch die vom Staat erwar-768 Ebd. 153; auch in: <strong>der</strong>s., Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft, in: <strong>der</strong>s., Wirtschaftsordnungund Wirtschaftspolitik. 2. erw. Aufl. Bern - Stuttgart 1976,107; <strong>der</strong>s., Das Jahrhun<strong>der</strong>tohne Gott, 507.769 A. Müller-Armack, <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft und ihre Wi<strong>der</strong>sacher, in: <strong>der</strong>s., Genealogie <strong>der</strong>Sozialen Marktwirtschaft, 2. erw. Aufl. Bern 1981, 150.770 A. Müller-Armack, <strong>Die</strong> Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 152.771A. Müller-Armack, Stil und Ordnung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, in: <strong>der</strong>s., Wirtschaftsordnungund Wirtschaftspolitik, 2. Aufl. Bern-Stuttgart 1976, 234f.772 Ebd. 235.773 A. Müller-Armack, <strong>Die</strong> Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 153.265


tete Funktion des sozialen Ausgleichs nicht beeinträchtigt werden. Fürdie extremen Neoliberalen ist eine Marktwirtschaft dagegen schon dannsozial, wenn ein funktionsfähiger Wettbewerb existiert und eine Anbietermachtbricht. Der Wettbewerb bringt aus sich heraus das Soziale hervor.Deshalb sind lenkende Interventionen durch die Politik nicht nurüberflüssig, son<strong>der</strong>n auch schädlich. Der Staatsvertrag über die Schaffungeiner Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion zwischen <strong>der</strong> BundesrepublikDeutschland und <strong>der</strong> DDR definiert die Soziale Marktwirtschaft“durch Privateigentum, Leistungswettbewerb, freie Preisbildungund grundsätzlich volle Freizügigkeit von Arbeit, Kapital, Gütern und<strong>Die</strong>nstleistungen” (Art. 1, Abs. 3). Der Vertrag benennt die “Prinzipien <strong>der</strong>Sozialen Marktwirtschaft mit <strong>der</strong> freien Entscheidung <strong>der</strong> Unternehmerüber Produkte, Mengen, Produktionsverfahren, Investitionen, Arbeitsverhältnisse,Preise und Gewinnverwendung” (Art. 11 Abs. 2). Worin das“Soziale” <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft bestehen könnte, erklärt diese Definitionvon Sozialer Marktwirtschaft nicht. Für den Osten Deutschlandswurde die Soziale Marktwirtschaft von vornherein im Sinne <strong>der</strong> extremenNeoliberalen definiert. Mit diesem Selbstverständnis ist sie auch dort angekommen.Der Ökonom Siegfried Katterle bemängelt denn auch, daß“Wirtschaftspolitiker wesentliche Traditionen <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftaufgegeben und sich im Vollzug ihrer neoklassisch-angebotspolitischenOrientierung dem Typ einer „freien‟ Marktwirtschaft angenähert” 774 haben.Konstitutiv für das von den Kirchen im Wirtschafts- und Sozialwort verteidigteVerständnis von Sozialer Marktwirtschaft ist ein Sozialstaat, <strong>der</strong>“nicht als ein nachgeordnetes und je nach Zweckmäßigkeit beliebig zu„verschlankendes‟ Anhängsel <strong>der</strong> Marktwirtschaft” zu verstehen ist, son<strong>der</strong>neinen “eigenständigen moralischen Wert” (Ziff. 133) darstellt. <strong>Die</strong>Soziale Marktwirtschaft ist nicht bloß eine effiziente Wirtschaftsform. Siegründet vielmehr “auf Voraussetzungen, welche sie selbst nicht herstellenund auch nicht garantieren kann” (Ziff. 91), nämlich in ethischen undanthropologischen Vorentscheidungen. In Abwandlung einer Begründungvon Demokratie durch Ernst-Wolfgang Böckenförde, nach <strong>der</strong> “<strong>der</strong> freiheitliche,säkularisierte Staat (...) von Voraussetzungen (lebt), die erselbst nicht garantieren kann” 775 , verweist das Wort <strong>der</strong> Kirchen darauf,daß <strong>der</strong> freiheitliche Rechtsstaat wie die Soziale Marktwirtschaft sich sel-774 S. Katterle, <strong>Die</strong> neoliberale Wende zum totalen Markt aus <strong>der</strong> Sicht des Nordens, 63.775 E.W. Böckenförde, <strong>Die</strong> Entstehung des Staates als Vorgang <strong>der</strong> Säkularisation, in: <strong>der</strong>s., Staat,Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht. Frankfurt 1976, 60.W. Röpke hat ebenfalls auf die ethischen Voraussetzungen <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft hingewiesen:“Markt, Wettbewerb und das Spiel von Angebot und Nachfrage erzeugen jene sittlichenReserven nicht. Sie setzen sie voraus und verbrauchen sie.” (W. Röpke, Jenseits von Angebotund Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach - Zürich, 1966, 186.)266


er we<strong>der</strong> begründen noch hervorbringen o<strong>der</strong> in ihrem Bestand garantierenkönnen. <strong>Die</strong> Marktwirtschaft kann ihre eigenen Bestandsvoraussetzungennicht sichern. <strong>Die</strong> Ökonomie zehrt demnach von einer normativenSubstanz, die sie nicht aus sich selbst produzieren kann. “<strong>Die</strong> Rollevon handlungsleitenden Prinzipien, von normativ geprägten Selbstverständnissendes mo<strong>der</strong>nen Sozialstaates werden leicht unterschätzt,doch lassen sich Verteilungskonflikte und sozialpolitische Auseinan<strong>der</strong>setzungen,aber auch freiwilliges Engagement nur dann erfolgreich politisierenund kollektivieren, wenn sie kulturell eingebunden sind, also mitnormativer Bedeutung versehen sind.” 776<strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft wird als Teil eines Ensembles von Wertenaus Menschenrechten, freiheitlich-sozialer Demokratie und einer Sozialkulturverstanden. Der Markt trägt seine Rechtfertigung nicht in sich. Erstdieses Wechselspiel von materieller Sicherheit, politischen und sozialenRechten legitimiert eine Marktökonomie westlichen Zuschnitts. <strong>Die</strong> Kirchenwarnen davor, nur auf den Markt setzen zu wollen, weil dadurchauch die Funktionsvoraussetzungen <strong>der</strong> Marktwirtschaft selber zerstörtwerden. “Mit <strong>der</strong> Herauslösung <strong>der</strong> Marktwirtschaft aus ihrer gesellschaftlichenEinbettung würden die demokratische Entwicklung, die sozialeStabilität, <strong>der</strong> innere Friede und das im Grundgesetz verankerte Ziel<strong>der</strong> sozialen Gerechtigkeit gefährdet” (Ziff. 146). <strong>Die</strong> ökonomische Effizienz<strong>der</strong> Marktökonomie führen die Kirchen nicht auf den Markt allein zurück,son<strong>der</strong>n binden die Effizienz <strong>der</strong> Marktwirtschaft an “wirtschaftlichenErfolg und sozialen Ausgleich als gleichrangige Ziele”, wobei “jeweils<strong>der</strong> eine Aspekt als Voraussetzung für die Verwirklichung des an<strong>der</strong>enbegriffen” (Ziff. 143) wird.<strong>Die</strong> Kirchen haben sich mit diesem Verständnis von Sozialer Marktwirtschaftin den Definitionsstreit um die Soziale Marktwirtschaft eingeschaltet.Ausdrücklich machen sie sich das Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftzu eigen. “<strong>Die</strong> Kirchen sehen im Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftweiterhin (...) den geeigneten Rahmen für eine zukunftsfähigeWirtschafts- und Sozialpolitik” (Ziff. 9). <strong>Die</strong> Kirchen beziehen sich einmalauf eine Soziale Marktwirtschaft als einer “bewußt sozial gesteuertenMarktwirtschaft” (Müller-Armack, zit. in: Ziff. 143) und zum an<strong>der</strong>en aufein Verständnis von Sozialer Marktwirtschaft, das durch Freiheit desMarktes und einen sozialen Ausgleich als den beiden Säulen sich kennzeichnenläßt (Ziff.9). “Das Leistungsvermögen <strong>der</strong> Volkswirtschaft unddie Qualität <strong>der</strong> sozialen Sicherung sind wie zwei Pfeiler einer Brücke”(Ziff. 9, auch 142, 143, 145, 156). “Das Leitbild <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftstellt einen produktiven Kompromiß zwischen wirtschaftlicher776 J. Schmid, Wohlfahrtstaaten im Vergleich. Soziale Sicherungssysteme in Europa. Organisation,Finanzierung, Leistungen und Probleme, Opladen 1996, 292.267


Freiheit und sozialem Ausgleich dar” (Ziff. 143, auch Ziff. 9). Zwischenbeiden Definitionen jedoch besteht ein deutlicher Wi<strong>der</strong>spruch. Das Bildfür die Soziale Marktwirtschaft mit ihren beiden Pfeilern macht nicht mehrdeutlich, daß das Soziale integrativer Bestandteil des Konzeptes <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft ist. In dieser letzten Definition bekommt die “wirtschaftlicheFreiheit” daher eine eigenständige Bedeutung. Der Marktapparatsoll nicht beeinträchtigt werden. Nur im nachhinein soll es nunmehrbei den Ergebnissen des Marktes zu einem “sozialen Ausgleich” kommen.Der Marktprozeß jedoch soll sich selber überlassen bleiben. <strong>Die</strong>an<strong>der</strong>e Definition, die von einer “bewußt sozial gesteuerten Marktwirtschaft”ausgeht, betrachtet den Marktprozeß nicht als selbsttätiges System,son<strong>der</strong>n erwartet von einer Steuerung des Marktprozesses die gewünschtensozialen Wirkungen. Zwischen beiden Definitionen von SozialerMarktwirtschaft besteht eine Spannung. 777Über ein bloß ordoliberales Konzept von Sozialer Marktwirtschaft gehtdas Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen aber hinaus, wenn es jenefünf Komponenten erläutert, mit denen sich die Marktwirtschaft inDeutschland das Adjektiv “sozial” verdient:- eine gerechte Verteilung und Beteiligung <strong>der</strong> Menschen am gesellschaftlichenund wirtschaftlichen Leben;- Verantwortung von Arbeitgeber und Gewerkschaften für dieAushandlung fairer und gerechter Arbeitsbedingungen;- marktwirtschaftliche Effizienz und <strong>der</strong> soziale Ausgleich durchden Sozialstaat als sich wechselseitig bedingende Momente;- gerechte Verteilungsprozesse;- ein Wirtschaftsbürgerrecht, das die Objektstellung <strong>der</strong> Arbeitnehmerüberwindet und sie zu Subjekten des Sozialprozesses <strong>der</strong>Güterherstellung macht (Ziff. 143, auch Ziff. 172). 778<strong>Die</strong>se Klarheit in <strong>der</strong> Begriffsbestimmung ist zu begrüßen, denn nur zuviele sprechen von Sozialer Marktwirtschaft, ohne zu klären, was sie mitdem Begriff bezeichnen. <strong>Die</strong> verschiedenen Inhalte, die mit dem Begriff“Soziale Marktwirtschaft” in Verbindung gebracht werden, zeigen, daß dieSoziale Marktwirtschaft ein offenes System ist, das immer wie<strong>der</strong> eine“strukturelle und moralische Erneuerung” (Ziff. 9) braucht.Oswald von Nell-Breuning urteilt über das Verständnis von SozialerMarktwirtschaft des späteren Müller-Armack: “Sein sozialer Gehalt hat777 Vgl. F. <strong>Segbers</strong>, Rheinischer Kapitalismus o<strong>der</strong> Neoliberalismus? “... <strong>der</strong> regulativen Idee <strong>der</strong>Gerechtigkeit Abschied geben.”, in: Martin Huhn u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> u. Walter Sohn (Hg.), Gerechtigkeitist unteilbar. Beiträge zum Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Bochum 1997,11-16.778 So F. Hengsbach, B. Emunds, M. Möhring-Hesse, Reformen fallen nicht vom Himmel, 216f.268


sich als reichlich mager herausgestellt.” 779 An <strong>der</strong> Wirtschafts- und Sozialpolitik<strong>der</strong> frühen Bundesrepublik kritisiert Oswald von Nell-Breuning,daß tatsächlich noch keine Ausrichtung auf eine bewußte soziale Gestaltung<strong>der</strong> Wirtschaft erfolgt sei. Deshalb führe die Soziale Marktwirtschaft“den Beinamen „sozial‟ vorerst noch auf Kredit.” 780 Wann aber verdientdie Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft das Attribut “sozial” zuRecht? Oswald von Nell-Breuning nennt folgendes zentrale Kriterium:“Als „sozial befriedigend‟ können wir eine Wirtschaft erst anerkennen,wenn sie so geordnet ist, daß je<strong>der</strong> Mensch Subjekt des Sozialprozesses<strong>der</strong> Wirtschaft ist und keiner bloßes Objekt.” 781 Sozial befriedigend seieine Wirtschaft darüber hinaus nur, wenn sie jedem Arbeitswilligen undArbeitsfähigen Arbeit und Verdienst verschaffe, humane Arbeitsbedingungenexistieren, die Wirtschaftspolitik die Wirtschaft bewußt lenke und<strong>der</strong> Ertrag <strong>der</strong> Wirtschaft sozial gerecht verteilt werde. Er bedauert späterzurückblickend, daß die scharfen Konturen <strong>der</strong> ursprünglichen Konzeptioneiner sozial befriedigenden Marktökonomie in <strong>der</strong> weiteren Entwicklung<strong>der</strong> Bundesrepublik dann gänzlich zerflossen seien. Übriggebliebensei nun nicht mehr als ein “sozial temperierter Kapitalismus” 782 . Nell-Breuning hat zum großen Verdruß von Müller-Armack die praktizierteSoziale Marktwirtschaft eine “theoretische Begleitmusik” 783 <strong>der</strong> Wirtschaftspolitikgenannt. Nicht grundsätzlich an<strong>der</strong>s urteilt <strong>der</strong> katholischeSozialethiker <strong>Franz</strong> Klüber, wenn er sagt, daß die Soziale Marktwirtschaftihren Namen nur verdiene, wenn sie sich als Antwort auf die soziale Frageverstehe. “<strong>Die</strong>se umschließt in ihrem Kern auch heute noch trotz aller„Temperierung‟ des Kapitalismus das gleiche Problem wie im Hochkapitalismus:Konzentration des Produktionsvermögens in den Händen weniger,Ausschluß <strong>der</strong> Lohnarbeiterschaft vom Kapitaleigentum und ihreDegradierung zum Objekt des Produktionsprozesses.” 784Nicht nur diese Skepsis <strong>der</strong> Ethiker ist nunmehr dahin, auch die Kriterienfür das Soziale einer Sozialen Marktwirtschaft werden nicht mehrformuliert. Früher als die katholische hatte die evangelische Kirche sichdie Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft bereits in <strong>der</strong> DenkschriftGemeinwohl und Eigennutz (1991) offiziell zu eigen gemacht. Im Wirtschafts-und Sozialwort haben sich die Kirchen positiv zur Programmatik779 O. von Nell-Breuning, Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche, Wirtschaft und Gesellschaft,Düsseldorf 1990, 233.780O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und Katholische Soziallehre, in: <strong>der</strong>s., Wirtschaft undGesellschaft. Zeitfragen Bd. III 1955-1959, Freiburg 1960, 88.781O. von Nell-Breuning, <strong>Die</strong> soziale Marktwirtschaft im Urteil <strong>der</strong> katholischen Soziallehre, in:<strong>der</strong>s., Wirtschaft und Gesellschaft. Zeitfragen Bd. III 1955-1959, Freiburg 1960, 101.782 So Götz Briefs, zit. ohne Angaben bei: O. von Nell-Breuning, Den Kapitalismus umbiegen, 237.783 Ebd. 236.784 F. Klüber, Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus, Bonn 1976, 57.269


einer Sozialen Marktwirtschaft ausgesprochen. Kirchen hätten zu einem“zustimmend-konstruktiven Verhältnis” 785 zum Ordnungsrahmen undHandlungskonzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft gefunden, urteilt TrutzRendtorff. In einem umgangssprachlichen Sinn könne man durchaus voneinem Bekenntnis <strong>der</strong> Kirche zur Sozialen Marktwirtschaft in <strong>der</strong> DenkschriftGemeinwohl und Eigennutz sprechen, resümiert TrutzRendtorff. 786 Arthur Rich hingegen ist vorsichtiger, wenn er sagt: “Trotzdemweist die praktizierte Soziale Marktwirtschaft (...) strukturelle Defiziteauf, so daß man nicht schlechthin bei ihr stehen bleiben kann.” 787 Worinbestehen diese strukturellen Defizite? Eine maßvolle ökonomische Makroplanungsei umstritten, marktmachtverhin<strong>der</strong>nde Vorkehrungen würdenkaum greifen und die ökologischen Folgen des Wirtschaftswachstumsseien nicht zu rechtfertigen. <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft müsse deshalbweiterentwickelt werden, denn sie “deckt sich zwar nicht einfach mit denAnsprüchen, die sich aus den Kriterien <strong>der</strong> Humanität an Glauben, Hoffnung,Liebe ergeben, doch gibt es eine Konvergenz zu ihnen. (...) Darumist sie für uns grundsätzlich rezipierbar. Das gilt freilich nicht ohne Vorbehalt. (...) Sie ist zumindest in <strong>der</strong> real existierenden Form kein ordnungspolitischesOptimum.” 788 Arthur Rich kritisiert die Wirtschaftspraxis, dienur mit Abstrichen dem originalen Konzept entspreche. Rich und vonNell-Breuning geben sich mit jenem Verständnis von Sozialer Marktwirtschaftbeson<strong>der</strong>s des späteren Müller-Armack nicht zufrieden. Nell-Breuning meldet sozialethische Bedenken an und sucht deshalb nachWegen, “einen Schritt über das, was wir heute sozial temperierten Kapitalismusnennen, hinaus zu tun.” 789 Auch Siegfried Katterle plädiert füreine Position “jenseits <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft.” 790 Skeptisch istebenfalls <strong>der</strong> Wirtschaftsethiker Peter Ulrich. Der Sozialen MarktwirtschaftMüller-Armacks wirft er vor, “in entscheidenden Punkten ver-785 T. Rendtorff, <strong>Die</strong> Kirchen und die soziale Marktwirtschaft, 33.786So T. Rendtorff, Gemeinwohl und Eigennutz - Perspektiven für den Dialog zwischen Kircheund Wirtschaft, in: P. Bocklet u. G. Fels u. H. Löwe (Hg.), Der Gesellschaft verpflichtet. Kircheund Wirtschaft im Dialog, Köln 1994, 164. Günter Brakelmann hält es dagegen für unangemessen,sich zur Sozialen Marktwirtschaft bekennen zu können. Jede pseudoreligiöse Sprache seihier fehl am Platz. G. Brakelmann, Das Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutivenOrdnung, 201.787 A. Rich, Wirtschaftsethik , Bd. 2, 343. Zur kritischen Auseinan<strong>der</strong>setzung mit A. Richs Rezeption<strong>der</strong> Sozialen Marktiwrtschaft vgl. : E. Müller, Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft,263f.788 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 329.789 O. von Nell-Breuning, Mitbestimmung. Wer mit Wem? Freiburg 1969, 50 (mit Bezug auf dasAhlener Programm <strong>der</strong> CDU), 65.790 S. Katterle, Jenseits <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft. Zurück in die Vergangenheit o<strong>der</strong> ordnungspolitischeInnovation? In: <strong>der</strong>s., Alternativen zur neoliberalen Wende. Wirtschaftspolitik in <strong>der</strong>sozialstaatlichen Demokratie, Bochum 1989, 32-42.270


schwommen und ambivalent bis wi<strong>der</strong>sprüchlich” 791 zu sein. Auch dieKirchen sprechen im Wirtschafts- und Sozialwort davon, daß die SozialeMarktwirtschaft eine strukturelle und moralische Erneuerung brauche(Ziff 9-13; 142-150). Letztlich - so Ulrich - unterscheide Müller-ArmacksKonzeption einer Sozialen Marktwirtschaft von einer neoliberalen Positionweniger eine dogmatische denn eine pragmatische Grundhaltung. <strong>Die</strong>seNähe zum Neoliberalismus zeige sich an einem ökonomistischen Legitimationszirkel,wenn Müller-Armack behaupte, “dass wirtschaftspolitischeEntscheidungen ... in erster Linie Fragen wirtschaftlicher Vernunftsind.” 792 Daß die Zweckdienlichkeit <strong>der</strong> Marktwirtschaft sich an außerökonomischen,ethischen Kriterien zu legitimieren hat, sieht Müller-Armack zumindest hier nicht, denn er argumentiert ökonomistisch, wenner davon ausgeht, daß wirtschaftliche Entscheidungen in erster Liniewirtschaftlicher Natur seien. Darin zeigt sich, daß Müller-Armacks Theorienicht eindeutig ist und auch vor einem Rückfall in neoliberale Positionenkeineswegs völlig gefeit ist.8. 2 “Marktwirtschaft pur”: Vom Mythos, daß <strong>der</strong> Markt sich selber regeltEin Alternativkonzept zu einer Sozialen Marktwirtschaft, die kulturell undgesellschaftlich eingebettet ist, bildet das neoliberale Konzept des freienMarktes, das vom Vertrauen eines sich selbst regelnden Marktes getragenwird, <strong>der</strong> für Effizienz sorgt. Ein von Eingriffen befreiter Markt sorgevon sich aus für ein Gleichgewicht. Probleme des Arbeitsmarktes und<strong>der</strong> Ökologie regulierten sich aus dem freien Spiel <strong>der</strong> Kräfte selbsttätig.Erst ein freier Markt könne jene Wohlstandsgewinne erzielen, die ökonomischmöglich seien. Politisch motivierte Eingriffe in den Markt, diesoziale o<strong>der</strong> ökologische Korrekturen erzielen wollten, seien ökonomischkontraproduktiv. Zentrale Instrumente, die eine Dynamisierung des freienMarktes för<strong>der</strong>n, sind daher in <strong>der</strong> neoliberalen Theorie Flexibilisierung,Deregulierung und Privatisierung. Der Wettbewerb beför<strong>der</strong>e die Effizienz,denn im Wettbewerb setzten sich die effektiver wirtschaftenden Anbieterdurch. Ein wesentlicher Teil <strong>der</strong> freigesetzten Konkurrenz drückeauf die Kosten. Niedrigere Kosten bei Arbeitsentgelt, Umweltschutz o<strong>der</strong>Infrastruktur setzten sich durch. Der Wettbewerb belohne niedrige Preiseund bestrafe die, die im Wettbewerb nicht mithalten könnten. Kostenvorteileund eine daraus resultierende Wettbewerbsstärke seien ein strategischerVorteil.791 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 356.792 A. Müller-Armack, Genealogie <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft. Frühschriften und weiterführendeKonzepte, Bern / Stuttgart 1974, 204, zit. nach P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 357.271


8.2.1 Der Markt als Garant des GemeinwohlsIn <strong>der</strong> Konzeption <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft kommt dem Staat einezentrale Rolle als Ordnungsinstanz zu. <strong>Die</strong>se Ordnungsfunktion desStaates wird in <strong>der</strong> neoliberalen Wirtschaftskonzeption modifiziert. Er istnicht mehr die Ordnungsinstanz, die die Rahmenordnung erstellt und denMarkt reguliert. <strong>Die</strong> Konzeption <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft rechnet mitMarktversagen und will deswegen in den Marktprozeß eingreifen. Dochin <strong>der</strong> neoliberalen Doktrin gibt es kein Marktversagen, son<strong>der</strong>n umgekehrtnur ein Staats- o<strong>der</strong> Politikversagen. Ökonomische, soziale o<strong>der</strong>ökologische Krisen werden systematisch dem Staat zugerechnet, <strong>der</strong>freie Markt dagegen ist in <strong>der</strong> Lage, eine Ordnungsfunktion zu erfüllen.<strong>Die</strong> Zuordnung <strong>der</strong> Ordnungsfunktion an das System Markt stellt dieFrage nach dem ethisch verantwortlichen Handlungssubjekt. Kann manin einem Regelsystem überhaupt von <strong>der</strong> Kategorie Verantwortung sprechen?Wo <strong>der</strong> Markt und seine Prozesse selber als Garanten des Gemeinwohlsgelten, gibt es keine ethischen Gestaltungsräume, denn ökonomischrichtiges Handeln folgt zwingend den Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> Märkteund reagiert auf Wettbewerb und Konkurrenz. Sachzwänge bestimmendas ökonomische Handeln. 793 Sachzwänge gibt es nur dort, wo Naturgesetzeherrschen, die zwischen Ursachen und Wirkungen unumstößlicheund immer geltende Beziehungen herstellen. Ein <strong>der</strong>artiges Verständnisvon Ökonomie ist naturalistisch, funktional deterministisch undkennt nicht nur keine ethisch relevanten Gestaltungsmöglichkeiten; esgeht vielmehr sogar davon aus, daß je<strong>der</strong> - auch <strong>der</strong> ethisch motivierte -Eingriff in die Marktprozesse ökonomisch schädlich sei.Das System ersetzt das handelnde Subjekt. Deutlich wird dies in einerzugespitzten Aussage Milton Friedmans, eines <strong>der</strong> einflußreichstenSchüler Hayeks: “<strong>Die</strong> wirtschaftenden Personen sind letztlich nichts an<strong>der</strong>esals Marionetten <strong>der</strong> Gesetze des Marktes.” 794 Der Markt wird vonNaturgesetzen bestimmt, nicht vom Menschen als einem handelndenSubjekt. Milton Friedman überträgt die Verantwortung des wirtschaftlichtätigen Menschen auf den Markt. Der Markt hat die Stelle des handelndenMenschen als Verantwortungssubjekt übernommen. <strong>Die</strong> wirtschaftlichHandelnden sind somit ethisch entlastet als “Marionetten <strong>der</strong>793 Vgl. dazu: F. <strong>Segbers</strong>, “... eine gewissermaßen adjektivlose Marktwirtschaft ist ein Irrglaube.”Das Evangelium des Neoliberalismus, in: M. Huhn u. W. Sohn u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeitist unteilbar, 21-31.794 Zit. bei: F. Blohm, Unterm Strich nicht genug. <strong>Die</strong> Gesetze des Marktes verlieren als ökonomischeLeitidee an Faszination, in: <strong>Die</strong> Zeit Nr. 15 vom 7. April 1989.272


Gesetze des Marktes”. Man handelt nicht eigenständig, son<strong>der</strong>n vollziehtdie Gesetze des Marktes. Der Markt ist im Gegenzug zu einem agierendenSubjekt avanciert. Für wirtschaftliche Nöte o<strong>der</strong> soziale Ungerechtigkeitengibt es von diesem ökonomischen Denkansatz her keine Verursacher.Das handelnde Subjekt wird zum bloßen Vollstrecker dessen,was sich ohnehin vollzieht. Ökonomische Entscheidungen werden zuSachzwängen stilisiert, die keiner ethischen o<strong>der</strong> politischen Legitimationbedürfen. Das Wort von den “Marionetten” o<strong>der</strong> den Sachzwängenentmoralisiert und entläßt aus <strong>der</strong> Verantwortung. Es gibt keine Täter, je<strong>der</strong>ist nur willenloser Exekutor o<strong>der</strong> Rädchen in einem großen Getriebe,in dem alle Opfer bringen müssen. Alle müssen mitmachen, da es keineAlternativen gibt. Emil Brunner nennt eine solche Ordnung <strong>der</strong> Wirtschaft“System gewordene Verantwortungslosigkeit.” 795 Peter Ulrich bestätigtdiese Diagnose, die aus <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> dreißiger Jahre stammt, auchfür das Denken des Neoliberalismus: “In <strong>der</strong> idealen Marktgesellschaft istdaher die Moralität <strong>der</strong> Personen nicht mehr erfor<strong>der</strong>lich; es reicht hin,wenn sie ihre ökonomische Rationalität in Form des strikt erfolgsorientierten,eigennutzmaximierenden Handelns voll zur Geltung bringen. Das“Marktprinzip” selbst ist die Gewährsinstanz für das ethisch-normativrichtige Handeln!” 796 Sich dem Gang einer gleichsam biologischevolutivenund ökonomischen Auslese anzuvertrauen, allein darin bestehtfür die Neoliberalen wirtschaftlich verantwortliches Handeln. Störtman die natürliche Ordnung nicht durch Eingriffe, sind Freiheit undWohlstandsgewinn Lohn für die Unterwerfung unter die Regeln vonMarkt und Wettbewerb.Friedrich August von Hayek illustriert die ethische Entsorgung desökonomischen Subjekts mit einer Verantwortung für den Ausbruch einesVulkans. So wenig man einen Vulkan für seine Zerstörung verantwortlichmachen könne, so auch nicht den Markt. Ob Arbeitslosigkeit, Hunger,Obdachlosigkeit o<strong>der</strong> ein Vulkanausbruch - es existiert “kein Subjekt, vondem eine solche Ungerechtigkeit begangen werden kann” 797 . Für vonHayek ist es folgerichtig auch ein Kategoriefehler, vom Markt die Erfüllungmoralischer For<strong>der</strong>ungen zu erwarten, weil die Marktwirtschaft einautonomes, sich selbst steuerndes System darstellt. Markt und Wettbewerbdienen dabei ausschließlich <strong>der</strong> Lenkung <strong>der</strong> Wirtschaft, nicht aber<strong>der</strong> Erfüllung von Gerechtigkeitsnormen. Gerechtigkeit wird als eineLeerformel verstanden, die verzichtbar ist. Deshalb sagt von Hayek lapidar:“Der Ausdruck „soziale Gerechtigkeit‟ gehört nicht in die Kategoriedes Irrtums, son<strong>der</strong>n in die des Unsinns wie <strong>der</strong> Ausdruck „ein morali-795 E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen (1932), 408.796 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 115.797 F.A. von Hayek, Illusion <strong>der</strong> Gerechtigkeit, Landsberg am Lech 1981, 111.273


scher Stein‟.” 798 Der Nobelpreisträger Friedrich August von Hayek wendetsich gegen jeden Versuch, Marktwirtschaft mit dem Adjektiv “sozial”zu verbinden. Jede Anwendung des ethischen Maßstabs <strong>der</strong> Gerechtigkeitauf eine marktwirtschaftliche Ordnung lehnt er ab. Er warnt sogar vorden “zerstörerischen Folgen, die die Propagierung <strong>der</strong> sogenannten sozialenGerechtigkeit für unser Moralgefühl mit sich gebracht hat.” 799 Stattdessen gilt eine an<strong>der</strong>e ethische Perspektive: “Ungleichheit ist nicht bedauerlich,son<strong>der</strong>n höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig.”Wenn Friedrich August von Hayek Gerechtigkeit einer Schmähkritikunterzieht und als ethisches Kriterium verwirft, dann steht dahinter dieÜberzeugung, daß <strong>der</strong> Markt quasi automatisch “Gerechtigkeit” schafft.Gerechtigkeit als ethische Orientierung wirtschaftlichen Handelns wirdabgelehnt. Über Gerechtigkeit läßt sich nicht mehr sagen als das, was<strong>der</strong> Markt nun einmal hervorbringt. Der wirtschaftlich handelnde Menschals verantwortliches Subjekt hat in einem solchen Ökonomiekonzeptlängst abgedankt. <strong>Die</strong> Rede vom Sachzwang ist die neoliberale Version<strong>der</strong> ehedem im Osten beheimateten kommunistischen Parteidisziplin.Stefan Baron belegt diese Parallelität, wenn er sagt: “<strong>Die</strong> Globalisierungin ihrem Lauf hält, an<strong>der</strong>s als den Sozialismus, niemand und nichtsauf.” 800 Sozialethisch bedeutet dies, daß implizit in einem solch rigidenSystem ein Vorrang des Marktes vor dem Menschen besteht - im Umkehrschlußeine Unterordnung des Menschen unter den Markt.<strong>Die</strong> Rede von <strong>der</strong> Selbsttätigkeit des Marktes will die Marktökonomieals eine alternativlose Ökonomie, die naturgemäß sei, begründen. Siefolge lediglich unumstößlichen Sachnotwendigkeiten. Sachzwänge verstandenwie Naturgesetze des Marktes können nicht außer Kraft gesetztwerden. Auch Aristoteles legt Wert auf eine Ökonomie, die natürlich o<strong>der</strong>im Einklang mit <strong>der</strong> Natur sei. “Natürlich” nennt Aristoteles das, was füreine Gesellschaft “nötig und nützlich” 801 sei. “Und es scheint sich <strong>der</strong>wahre Reichtum aus diesen Dingen zusammenzusetzen.” 802 Der Neoliberalismusdagegen versteht die Naturgemäßheit <strong>der</strong> Ökonomie nichtaus ihrer Funktion heraus, die Menschen mit Gütern des Bedarfs zu versorgen,son<strong>der</strong>n nennt Ökonomie natürlich, da sie Naturgesetzmäßigkeitenunterworfen sei. Da ist die Rede von einem “natürlichen Arbeitslohn”(Johann Heinrich von Thünen), einem “natürlichen Zins” (Knut Wicksell),798 F.A. von Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Eine neue Darstellung <strong>der</strong> liberalen Prinzipien<strong>der</strong> Gerechtigkeit und <strong>der</strong> politischen Ordnung, Bd. 2, Landsberg am Lech 1980, 112.799 F.A. von Hayek, Interview, in: <strong>Die</strong> Wirtschaftswoche Nr. 11 vom 6.3.1981, 38.800 St. Baron, Traurige Gestalten, in: Wirtschaftswoche Nr. 50 vom 3.12.1998, 3.801 Aristoteles, Politik, A 8 p 1256 b 29.802 Aristoteles, Politik, A 8 p 1256 b 30.274


einer “natürlichen Arbeitslosenrate” (Milton Friedman). 803 Was aber meintdie Bezeichnung “natürlich”? Der Neoliberalismus nennt eine Ökonomiedann natürlich, wenn die Gesetze des Marktes zur Geltung kommen.Was Aristoteles als “naturgemäß” bezeichnet, ist deshalb geradezu dasGegenteil von dem, was neoliberale Ökonomen “natürlich” nennen. Soweitdie Gesetze des Marktes nur befolgt werden, ist das, was <strong>der</strong> Marktdann hervorbringt, rational, optimal und “gerecht”. Jedes inhaltliche Kriteriumwird ausgeschlossen. Ob ein Lohn so niedrig ist, daß man lediglichein menschenunwürdiges Leben damit fristen kann, hat mit <strong>der</strong> Frage, obein Lohn gerecht ist o<strong>der</strong> nicht, gar nichts zu tun. Hayek betont dies ausdrücklich:“Selbstverständlich ist die Gerechtigkeit nicht die Frage desObjekts einer Handlung, son<strong>der</strong>n ihres Gehorsams gegenüber den Regeln,denen sie unterworfen ist.” 804Der Wirtschaftshistoriker Karl Polanyi hat überzeugend dargestellt, wiesich seit dem 17. Jahrhun<strong>der</strong>t nicht gleichsam naturwüchsig, son<strong>der</strong>nvielmehr durch planmäßiges Vorgehen des Staates eine freie Marktökonomieentwickelte, die von den Neoliberalen aber wie eine natürlichbiologischeEvolution gedeutet wird. 805 Der politisch zweckbewußt durchgesetzteEntstehungsprozeß des mo<strong>der</strong>nen Marktes wie auch die Vorgängeauf dem Markt werden auf die naturgeschichtliche Stufe nicht willentlichgestaltbarer, weil natürlicher Ereignisse gestellt. Der Wettbewerbam Markt ist dann nichts weiter als <strong>der</strong> gesellschaftliche Ausdruck naturwissenschaftlicherAbläufe. Eine Ökonomie mit solchem Selbstverständnisimmunisiert sich gegen jede kritische Infragestellung undmacht sich unverän<strong>der</strong>bar, politisch nicht gestaltbar und erlaubt bereitsdenkerisch keine Alternativen. <strong>Die</strong> real existierende freie Marktwirtschaftwird als die einzig denkbare Möglichkeit immunisiert. Wo Alternativenaber nicht zugelassen werden, bildet sich ein wirtschaftlicher Fundamentalismus,<strong>der</strong> keine strategischen Unsicherheiten kennt und sich vom Ansatzher als nichtreformierbar versteht. <strong>Die</strong> aristotelische Trias von Ökonomie,Politik und Ethik ist aufgelöst.Mit Rekurs auf Adam Smith wird von dem Chefökonomen <strong>der</strong> DeutschenBank, Norbert Walter, die “Eigenliebe, also letztlich ein natürlicher803 Belege bei: P. Ulrich, Transformation <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft, 189. Ähnlich <strong>der</strong> Harvard-Ökonom Jeffrey Sachs: “<strong>Die</strong> Gesetze <strong>der</strong> Schwerkraft gelten in <strong>der</strong> Wirtschaft genauso wie in<strong>der</strong> Physik.” (Zit. in: <strong>Die</strong> Zeit Nr. 45 vom 31.10.1997, 26)804 F.A. von Hayek, El ideal democrático y la contención del po<strong>der</strong>. Estudios Públicos 1 (1980) 56,zit. in: F. J. Hinkelammert, Diskursethik und Verantwortung: eine kritische Stellungnahme, in:R. Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz o<strong>der</strong> Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischenDiskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994, 136.805 K. Polanyi, The Great Transformation, 99f.275


Affekt” 806 , als Triebfe<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Motiv des individuellen und auch des ökonomischenHandelns gedeutet. Durch soziale und politische Interventionenin den Marktprozeß würden Freiheiten eingeschränkt und Wohlstandgemin<strong>der</strong>t, da “aufgrund <strong>der</strong> Abweichungen von einer natürlichen Ordnung,das heißt einer solchen, die dem Wesen des Menschen gerechtwird, die allgemein akzeptierten Ziele je<strong>der</strong> Gesellschaft (...) nur in geringeremMaße erreichbar sind” 807 . Mit an<strong>der</strong>en Worten: “<strong>Die</strong> Behin<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Marktkräfte steht im Wi<strong>der</strong>spruch zur Natur unserer Welt und ihrenevolutiven Wesenszügen” 808 . Adam Smith hatte sich in seiner Theorie<strong>der</strong> ethischen Gefühle (1759), die siebzehn Jahre vor dem StandardwerkReichtum <strong>der</strong> Nationen (1776) erschien, kritisch mit anthropologischenAussagen auseinan<strong>der</strong>gesetzt, die Eigenliebe als zentrale Triebkraftmenschlichen Handelns verstanden. Zu Beginn seiner Ausführungen in<strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle setzt er sich mit eben jener Denkhaltungauseinan<strong>der</strong>: “Wie selbstsüchtig auch immer <strong>der</strong> Mensch eingeschätztwerden mag, so liegen doch offensichtlich Grundveranlassungenin seiner Natur, die ihn am Schicksal an<strong>der</strong>er Anteil nehmen und ihm dieAnteilnahme an <strong>der</strong>en Glück notwendig werden lassen, obwohl er keinenan<strong>der</strong>en Vorteil daraus zieht als das Vergnügen, Zeuge davon zusein.” 809<strong>Die</strong> Sozialphilosophie des Adam Smith wäre also mißverstanden,wenn man ihm - wie neoliberale Theoretiker es tun - unterstellte, er säheden einzigen Beweggrund des Handelns in <strong>der</strong> Eigenliebe. Den Menschenso zu sehen, wie er ist, bedeutet für Adam Smith, ihn als Doppelnaturanzunehmen, das zu altruistischem Verhalten fähig ist und ein egoistischesWesen sein kann. Adam Smith kennt sehr wohl Sympathie undAnteilnahme als eine in <strong>der</strong> menschlichen Natur begründete Haltung.“Was immer jedoch die Ursache <strong>der</strong> Sympathie sein und auf welcheWeise sie auch erregt werden mag, so bereitet uns nichts mehr Wohlgefallen,als bei an<strong>der</strong>en Menschen Mitgefühl mit allen unseren eigenenGemütsbewegungen zu sehen; und durch nichts werden wir so erschreckt,als wenn das Gegenteil <strong>der</strong> Fall ist.” 810 Smith setzt sich explizitmit Bernard Mandeville (1670-1733) auseinan<strong>der</strong>, <strong>der</strong> sich in seiner berühmtenBienenfabel 811 ausdrücklich gegen die Sozialität <strong>der</strong> Menschenausgesprochen hatte. Von Natur aus sei <strong>der</strong> Mensch selbstsüchtig und806 N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, in: R. Baa<strong>der</strong> (Hg.), Wi<strong>der</strong> die Wohlfahrtsdiktatur.Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing 1995, 79.807 Ebd. 82.808 Ebd. 81.809 A. Smith, Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle, bearbeitet nach <strong>der</strong> letzten Ausgabe von H. G. Schachtschnabel,Frankfurt 1949, 25.810 Ebd. 31.811 B. Mandeville, <strong>Die</strong> Bienenfabel. Mit einer Einleitung von W. Euchner, Frankfurt 1980.276


werde nur durch die Gesetze daran gehin<strong>der</strong>t, diese Selbstliebe auf Kosten<strong>der</strong> Gesellschaft auszuleben. Ohne Gesetz, so Mandeville, “gibt eskein Geschöpf auf Erden, das ungeeigneter für die Gesellschaft wäre als<strong>der</strong> Mensch” 812 . Der Mensch kenne keine Veranlassung zu altruistischenHandlungen. Der Selbsterhaltungstrieb und die unmittelbar damit verbundeneEigenliebe sei <strong>der</strong> mächtigste Grundtrieb des Menschen. AdamSmith kritisiert diese Anschauung und besteht auf <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Aufklärunggewonnenen - aber von den neoliberalen Theoretikern nicht rezipierten -Unterscheidung zwischen Selbstliebe (amour de soi-meme) und Eigenliebe(amour propre). Bei Jean Jacques Rousseau heißt es: “Man darfdie Eigenliebe und die Selbstliebe nicht durcheinan<strong>der</strong>bringen - zwei Eigenschaften,die ihrer Natur und ihren Wirkungen nach sehr verschiedensind. <strong>Die</strong> Selbstliebe ist ein natürliches Gefühl, das jedes Tier dazu veranlaßt,über den natürlichen Selbsterhaltungstrieb zu wachen.” 813 Sie istalso identisch mit dem natürlichen Selbsterhaltungstrieb. <strong>Die</strong> Eigenliebejedoch setzt gesellschaftliche Beziehungen voraus, angesichts <strong>der</strong>er sichdie Bedürfnisse nicht nur am eigenen Ich orientieren, son<strong>der</strong>n auch dieBedürfnisse des An<strong>der</strong>en berücksichtigen. Der Morallehrer und ÖkonomAdam Smith wird verkürzt, wenn seine sozialphilosophischen und sozialethischenÄußerungen zur Selbstbegrenzung des Eigennutzes nicht rezipiertwerden. Horst Claus Recktenwald, Herausgeber des Werkes Wohlstand<strong>der</strong> Nationen, spricht deshalb von einem “geläuterten, einem aufgeklärtenund einem sozialen und rechtlichen Regeln unterworfenenEgoismus” 814 . Der Eigennutz wird durch Mitgefühl und Sympathie inSchranken gehalten, wobei jedoch die Konkurrenz nur ein Motiv unteran<strong>der</strong>en sei. Recktenwald betont: “Ohne diesen Sinn für Gerechtigkeit istkeine Gemeinschaft lebensfähig.” 815<strong>Die</strong> Denkschrift <strong>der</strong> EKD Gemeinwohl und Eigennutz rezipiert diesenaufgeklärten Begriff von Eigennutz, wenn sie for<strong>der</strong>t, “Eigennutz in eineOrdnung <strong>der</strong> Gegenseitigkeit einzubinden” (Ziff. 139). <strong>Die</strong> Unterscheidungzwischen Selbstliebe und Eigenliebe will einen naturalistischenKehrschluß verhin<strong>der</strong>n, <strong>der</strong> nicht zwischen Geschichte und Natur zu unterscheidenweiß. <strong>Die</strong>se seit <strong>der</strong> Aufklärung und auch bei Adam Smithvollzogene Unterscheidung ist dem Neoliberalismus fremd. Zu Unrechtbezieht er sich auf Adam Smith. 816 Neoliberale Theoretiker sind viel nä-812 Ebd. 378.813 J. J. Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit, 2. Aufl. Pa<strong>der</strong>born-München-Zürich 1990, Anm.XV, 369, zit. in: M. Ramminger, <strong>Die</strong> neoliberale Umwertung <strong>der</strong> Werte, in: Orientierung 61(1997) 201-205. - <strong>Die</strong>sem Aufsatz verdanke ich Anregungen zur anthropologischen Kritik desNeoliberalismus.814 H. C. Recktenwald, Würdigung des Werkes, in: A. Smith, Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen, XLI.815 Ebd. XLI.816 So auch: E. Dussel, Der Markt aus <strong>der</strong> ethischen Perspektive, 220f.277


her bei Mandeville, von dem sich bereits Smith kritisch absetzte, und wollendiesen Erkenntnisfortschritt bei Adam Smith rückgängig machen. Sieknüpfen sozialphilosphisch wie<strong>der</strong> bei Bernard Mandeville und <strong>der</strong> frühenenglischen Aufklärungsphilosophie von Thomas Hobbes, John Lockeo<strong>der</strong> Francis Bacon u.a. an, die mit dem traditionellen Aristotelismus undThomismus gebrochen hatten.Sozialphilosophisch gehen neoliberale Denker von anthropologischenVoraussetzungen aus. Das gesellschaftliche Leben kann nicht einzig aufKonkurrenz als einer angeblich <strong>der</strong> Natur des Menschen entsprechendenGrundstruktur aufgebaut werden. Christliche Sozialethik begreift denMenschen als ein Wesen aus Personalität und Sozialität, das deshalbauch nicht den An<strong>der</strong>en nur als Bedrohung des eigenen Ichs wahrnimmt.Eine allein auf Siegen hin angelegte Konkurrenz des Menschen ist keineanthropologische Konstante, wie neoliberales Denken über die Natur desMenschen unterstellt. Neoliberales Denken gründet auf einer vermeintlichnaturwüchsigen Anthropologie, die jedoch bereits Adam Smith wegenihres reduktionistischen Menschenbildes abgelehnt hatte. Der Neoliberalismuslegitimiert somit seinen Anspruch nicht allein ökonomisch,son<strong>der</strong>n auch anthropologisch und sozialphilosophisch, und - wie im folgendenaufgezeigt werden soll - auch theologisch.8.2.2 Metaphysik des Marktes8.2.2.1 KULT-MarketingSeit einigen Jahren mehren sich Argumentationen zur Begründung neoliberalerKonzepte, die sprachlich Anleihen bei Begriffen nehmen, die <strong>der</strong>Religion und Theologie entlehnt sind. So haben Norbert Bolz, <strong>Prof</strong>essorfür Kommunikationstheorie an <strong>der</strong> Universität Essen, und DavidBosshart, Trendforscher am renommierten Schweizer Duttweiler-Institutfür Management, ein Buch mit dem Titel KULT-Marketing. <strong>Die</strong> neuenGötter des Marktes 817 vorgelegt. Selten zuvor ist die Symbolwelt <strong>der</strong> Reli-8172. Aufl. Düsseldorf , 1996. Daß binnen Jahresfrist eine zweite Auflage erschien, beweist dieAktualität dieses Marketing-Konzeptes. - <strong>Die</strong> Ziffern in den Klammern beziehen sich auf dieSeitenzahl. - Eine kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung mit diesem Marketingkonzept, das sich religiöserSymbole bedient, in: F. <strong>Segbers</strong>, Kult <strong>der</strong> Ware. <strong>Die</strong> Religion des Marktes unter theologischerKritik, in: Evangelische Kommentare 4/1997, 212-214; sowie: <strong>der</strong>s., Eine Ewigkeit fürein Parfüm. <strong>Die</strong> Götter des Himmels tauchen als Idole des Marktes wie<strong>der</strong> auf, in: Junge Kirche(58) 1997, 200 - 208; <strong>der</strong>s., Der Götze Markt und die Religion <strong>der</strong> Ware, in: Reformierte Kirchenzeitung138(1997)115 - 221. Vgl. dazu nähere Ausführungen in: <strong>der</strong>s., Gott gegen Gott.Zur Religion des Alltags im Kapitalismus (im Erscheinen); eine kritische Auseinan<strong>der</strong>setzung278


gion für die Zwecke des Vermarktens in einer solchen Offenheit undKlarheit propagiert worden. Wie lassen sich Produkte auf übersättigtenMärkten absetzen? Eine Antwort auf diese Grundfrage wollen die Autorenmit <strong>der</strong> Strategie des “KULT-Marketing” geben. Norbert Bolz undDavid Bosshart entwickeln darin eine Konzeption, dank <strong>der</strong>er banaleProdukte auf gesättigten Konsumgütermärkten in etwas heiß “Begehrtes”verzaubert werden können, wenn die Werbung sich an die vakant gewordeneFunktionsstelle <strong>der</strong> Religion plaziert. Ihre zentrale These lautet:“<strong>Die</strong> postmo<strong>der</strong>ne Werbung übernimmt die Funktion <strong>der</strong> Religion. Sieentfaltet die Spiritualität des Konsums.” (206, auch: 355) Versprochenwird, die spirituelle Sehnsucht mit Waren befriedigen und gerade dadurchreligiöse Bedürfnisse erfüllen zu können. “<strong>Die</strong> Schöpfergötter <strong>der</strong>kapitalistischen Konsummärkte produzieren endlos und bringen ihreneuesten Kreationen auf die Umlaufbahn <strong>der</strong> Sehnsüchte von Konsumentenseelen.(...) Der Kapitalismus im Stadium gesättigter Märkte hat dieKraft, Waren ins Zentrum des menschlichen Begehrens zu stellen. Erverbürgt die integrale Übernahme <strong>der</strong> religiösen Funktionen.” (22f.) Deshalbfolgern die Marketing-Fachleute: “Der Kapitalismus selbst ist zurstärksten aller Religionen geworden. <strong>Die</strong> Waren selbst werden zurstärksten aller Religionen.” (248) “Gerade in unserer so coolen Zeit ist<strong>der</strong> Götterbedarf enorm groß,” (76) diagnostizieren Bolz und Bosshart diereligiöse Gegenwartslage. “ Deshalb haben auch gottlose Zeiten wie dieunsere eine Religion - man darf sie nur nicht in den offiziellen Kirchensuchen. Nicht die Kirchen, son<strong>der</strong>n die Konsumtempel sind heute <strong>der</strong> Ortmo<strong>der</strong>ner Religiosität.” (217f.) Theologie und Kirche sollten Bolz undBosshart für die Deutlichkeit ihres Konzeptes des KULT-Marketing dankbarsein. Sie sprechen aus, was bislang nur von einer interpretierendentheologischen Kritik gesagt wurde.Marx spricht in seinem Hauptwerk Das Kapital von einem Doppelcharakter<strong>der</strong> Ware. 818 Sie hat einen Gebrauchs- und einen Tauschwert. <strong>Die</strong>Waren sind nicht einfach nur Güter für den Konsum, sie verkörpernSehnsüchte. Das sei “eine grandiose Einsicht” (199) von Marx, attestierendie Werbestrategen. Aus <strong>der</strong> marxschen Fetischismuskritik des Kapitalismusziehen die Werbeleute die Folgerung: “Das Geheimnis <strong>der</strong> Wareund das Geheimnis <strong>der</strong> Religion sind dasselbe.” (199) Deshalb for<strong>der</strong>nsie eine “Entübelung des Warenfetischismus” (210). Es ist geradezu eineIronie, daß <strong>der</strong> zentrale Begriff <strong>der</strong> Kapitalismuskritik bei Karl Marx ausgerechnetvon Werbestrategen dazu genutzt wird, einem in die Sackgasseüberfüllter Märkte geratenen Kapitalismus einen Ausweg zu zeigen.mit meinen Thesen: O. Meyer, <strong>Die</strong> reale Volkskirche des Marktes, in: Junge Kirche 58 (1997)684-690818 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 49ff.279


Den Religions- und Kapitalismuskritiker Karl Marx machen die Marketingfachleutezum Gewährsmann einer Absatzsteigerung <strong>der</strong> Waren mittelsReligion. Sie teilen zwar die Analyse von Marx; doch sie haben ein an<strong>der</strong>esInteresse. Marx will den Menschen vom Fetischkult, vom Kult <strong>der</strong>Ware befreien. <strong>Die</strong> Fetischismuskritik ist deshalb emanzipatorisch. Bolzund Bosshart jedoch wollen genau das Gegenteil: eine “ästhetische Wie<strong>der</strong>verzauberung”(11) und einen “Kult <strong>der</strong> Ware” (223).Wie können die Kunden angesichts <strong>der</strong> verwirrenden Vielzahl <strong>der</strong>Produkte sich orientieren und den Marken treu bleiben? Komplexe Sachverhaltezu reduzieren, ist nach Niklas Luhmann eine wichtige Funktionvon Religion. Religion kann eine Orientierung in einer unübersichtlichgewordenen Welt vermitteln. Unübersichtlich ist auch <strong>der</strong> Warenmarkt.Denn Nike ist nicht Reebok und nicht Adidas und nicht Puma. NichtTurnschuhe sollen gekauft werden. “Der Kunde soll nicht einfach nurkaufen und verbrauchen, son<strong>der</strong>n eine rituelle Handlung vollziehen.”(207) <strong>Die</strong> Auswahl ist dann keine Frage <strong>der</strong> Ergonomie, son<strong>der</strong>n wird zurGlaubensfrage. Der Turnschuh-Kauf wird zum Bekenntnis: Neben Adidassollst du keine an<strong>der</strong>en Turnschuhe haben, so spricht <strong>der</strong> Herr, deinGott - lautet das Credo des KULT-Marketings. Turnschuhe sind ein banalesProdukt, nützlich für den Sport. Sie werden nun zum Erkennungsmerkmaleiner Glaubensgemeinschaft. Ein Markenfetischismus greift umsich: <strong>der</strong> Vierzehnjährige trägt nur noch Nike-Turnschuhe und nichts Billigeres;die <strong>Dr</strong>eizehnjährige will das T-Shirt von <strong>Die</strong>sel und kein an<strong>der</strong>es.Nach Bolz und Bosshart zeigt sich hier Religion: “Nun tauchen die Götter,die aus dem Himmel <strong>der</strong> Religionen verschwunden sind, als Idole desMarktes wie<strong>der</strong> auf.” (12) Der Verbraucher alten Zuschnitts suchte nachGütern, weil er sie brauchte. Jetzt verführen die Marken den Käufer zuWaren, die er nicht braucht. Da die Märkte längst übersättigt seien, müssezum Kaufen verführt werden. <strong>Die</strong> Grundthese <strong>der</strong> Werbeleute lautetdaher:“In gesättigten Märkten ist Marketing nicht primär damit beschäftigt,(kalkulierbare) Bedürfnisse zu befriedigen, son<strong>der</strong>n ein endloses Begehrenzu kö<strong>der</strong>n.” (245) <strong>Die</strong> Sehnsucht nach Spiritualität soll in einerSehnsucht nach Waren aufgehen.Bolz und Bosshart wissen, daß Wohlstand und Armut in einer Überflußgesellschaftnahe beieinan<strong>der</strong> liegen. Deshalb plädieren sie für einenKonsum ohne schlechtes Gewissen im Angesicht <strong>der</strong> Armut. Erst Güter,die zu Kultmarken o<strong>der</strong> Kultprodukten hochstilisiert sind, können denKonsum entschulden. “Der Konsum kann eine transzendente Erfahrungtransportieren, das heißt, das Konsumentenverhalten trägt gewisse Aspektedes Heiligen zur Schau. So entfaltet sich <strong>der</strong> Konsumismus als Religionssystem.”(207) Kaufen allein genügt nicht. Erst wenn es gelinge,“den Akt des Einkaufens als eine Form des Gebets zu stilisieren” (206f.),280


verliere <strong>der</strong> Konsum sein schlechtes Gewissen. Bolz und Bosshart wissen,daß ihr Kult <strong>der</strong> Ware Millionen Opfer hervorbringt. “Was unser Gewissenquält ist ja nicht nur das Wissen vom Elend <strong>der</strong> Welt, son<strong>der</strong>ndas Bewußtsein, daß unser Wohlstand eine Funktion jenes Elends ist. ...Werbung verführt nicht nur zum Genuß, son<strong>der</strong>n erspart auch die Reue.”(207) Der Götze vergibt selber die Sünden, zu denen er verführt. KULT-Marketing narkotisiert das Bewußtsein und för<strong>der</strong>t eine unbekümmerteKultur des Hedonismus mit dem Rücken zu den Opfern.Während Max Weber in seiner berühmten These über <strong>Die</strong> protestantischeEthik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus von einer Einbettung des Kapitalismusin <strong>der</strong> religiös bestimmten Lebenshaltung des Calvinismussprach, befürchtete Walter Benjamin, daß <strong>der</strong> Kapitalismus selber zurReligion werde. Walter Benjamin war 1921 einer <strong>der</strong> ersten, <strong>der</strong> im Totalanspruchdes freien Kapitalismus eine Funktion ausmachte, die traditionellerweise<strong>der</strong> Religion zugeschriebenen war: “Im Kapitalismus ist eineReligion zu erblicken, d.h. <strong>der</strong> Kapitalismus dient essentiell <strong>der</strong> Befriedigung<strong>der</strong>selben Sorgen, Qualen, Unruhen, auf die ehemals die sogenannten Religionen Antwort gaben.” 819 <strong>Die</strong>se Sorge Benjamins verstehennun aber Bolz und Bosshart geradezu als Ermutigung, einen Kapitalismuszu begründen, <strong>der</strong> eben jene Funktionen <strong>der</strong> Religion erfüllenwill. “Marketing bearbeitet die “religiösen” Fragen und schafft Weltvertrauen.”(226) Überleben könne <strong>der</strong> Kapitalismus gesättigter Märkte nur,wenn er sich eben als Religion darstelle und einen Kult <strong>der</strong> Ware inszeniere.Benjamin frei zitierend for<strong>der</strong>n sie deshalb: “Der Kult <strong>der</strong> kapitalistischenReligion dauert permanent an; je<strong>der</strong> Tag ist ein Festtag des Warenfetischismus.... Der Kult <strong>der</strong> kapitalistischen Religion ist natürlich einKult <strong>der</strong> Ware. Das heißt konkret, daß <strong>der</strong> Tauschwert zum Gegenstandreligiöser Verklärung und zum Medium eines religiösen Rausches wird.”(223f.)Menschen werden hier beschrieben als Konsumenten, die nur diejenigenInteressen und Bedürfnisse wahrnehmen, die sich in Warenformpräsentieren lassen. Glück wird zur käuflichen Ware. Bedürfnisse werdenökonomisiert. Der Streit um den Umgang mit <strong>der</strong> gesellschaftlichenZeit kann die herrschende Religiosität illustrieren. Mehr Wachstum, mehrUmsatz, größere Kundennähe sind die sachlichen Argumente. <strong>Die</strong>seökonomischen Gründe jedoch, die vorgetragen werden, verdecken denreligiösen Kern: Kein Sonntag, keine Zeit, die für Produktion und Konsumzur Verfügung stehen könnte, darf ungenutzt bleiben. <strong>Die</strong> Ladenöffnungszeitenmüssen verlängert, Sonntage abgeschafft, <strong>der</strong> Buß- undBettag geopfert werden. Denn diese Zeiten des Konsums sind heilige819 W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1986, 100.281


Zeiten; sie sind Zeiten, in denen <strong>der</strong> Götze in einem Kult <strong>der</strong> Waren verehrtsein will. Das Weihnachtsfest kann auf dem Hintergrund dieser Marketingstrategieals ein zutiefst synkretistisches Fest betrachtet werden.<strong>Die</strong> Religion <strong>der</strong> Ware hat sich mit <strong>der</strong> Religion des Christentums verschmolzen.Das Römische Imperium liefert ein anschauliches Beispielfür den in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne praktizierten Religionspluralismus: <strong>Die</strong> verschiedenenKulte durften nebeneinan<strong>der</strong> praktiziert werden und wurden auchins Pantheon aufgenommen, jedoch lediglich solange wie sie den zentralenKaiserkult nicht in Frage stellten. Heute gilt <strong>der</strong>selbe religiöse Pluralismusund dieselbe postmo<strong>der</strong>ne Toleranz, wenn denn nur die zentraleund faktisch verehrte Religion <strong>der</strong> Ware nicht angerührt wird.<strong>Die</strong> beiden Autoren Bolz und Bosshart treten ausdrücklich für eineWie<strong>der</strong>belebung des Fetischismuskultes ein. Wir haben es hier mit demPhänomen einer interessengeleiteten Inszenierung von Religion zu tun,die sich nicht einmal als Religion zu erkennen gibt, aber alle Funktionsmerkmale<strong>der</strong> Religion erfüllt. “Gott” in einem Kult <strong>der</strong> Ware zu verehren,ist ein Vorhaben, das ernsthafter als je zuvor in <strong>der</strong> GeistesgeschichteEuropas zur Debatte stellt, was mit Religion, ja mit dem Namen Gott gemeintist.Das KULT-Marketing verführt zu einer Religion, die eine ganz an<strong>der</strong>eReligion ist als jene, die in den Kirchen ihren Ort hat. “Das vagabundierende,nie stillbare Begehren nach immer neuen Göttern bedeutet dieRückkehr des heidnischen Polytheismus. Der Tick mit den Labels, dasganze „Name-Game‟ <strong>der</strong> Kids, von Nike über Fucts bis Levi‟s, gibt ein gutesBeispiel ab. Vielgötterei ersetzt den monotheistischen Mythos des einenErlösergottes.” (23) Hier zeigt sich eine kapitalistische Religion, diebereits Karl Marx als Kern des Kapitalismus identifiziert hat. Der wichtigsteBegriff <strong>der</strong> marxschen Kapitalismuskritik ist eine theologische Metapher:<strong>der</strong> Fetischismus. In seinem Hauptwerk Das Kapital nennt Marxdie Ware “ein sehr vertracktes Ding, voll metaphysischer Spitzfindigkeitenund theologischer Mucken.” 820 Er kritisiert jene mythen- undreligionsproduktive Funktion des Kapitalismus und bedient sich dabei mit<strong>der</strong> Kategorie “Fetischismus” ausdrücklich eines religionswissenschaftlichenBegriffes zur Kritik eines Kapitalismus, dem alle Lebensäußerungen<strong>der</strong> Gesellschaft untergeordnet werden. Seine Kapitalismuskritik istdeshalb im Kern auch eine Religionskritik. Er sieht im Kapitalismus eine“Religion des Alltagslebens” 821 . Norbert Bolz rezipiert ausdrücklich KarlMarx, wenn er forsch konstatiert: “<strong>Die</strong> Marktreligion hat den Eingott gestrichen.Das ist aber kein Verlust, son<strong>der</strong>n ein Gewinn an religiöser Flexibilität.Man könnte sagen, <strong>der</strong> eine und einzige Gott ist eliminiert wor-820 K. Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 85.821 K. Marx, Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, 838.282


den, um die religiösen Gefühle leichter handhaben zu können. Um einenberühmten Satz abzuwandeln: <strong>Die</strong> postmo<strong>der</strong>nen Waren sind das Opiumfürs Volk. Wir Konsumenten sind umfangen von einem Polytheismus <strong>der</strong>Marken und Trends; das sind die neuen Götter des Marktes. (...) So verwandeltsich <strong>der</strong> Konsumismus in ein Religionssystem. (...) Wir könnenvon primitiven Religionsgemeinschaften lernen, wie triviale Güter mit spirituellemMehrwert aufgeladen werden.” 822Seit den Tagen <strong>der</strong> biblischen Propheten gibt es im Namen des biblischenGottes einen jahrtausendelangen Kampf gegen eine polytheistischeWelt. Im Stadium gesättigter Märkte soll erneut ein Fetisch “Ware”verehrt und dem Volk zum Opium verabreicht werden. KULT-Marketingist gegen die mythenkritische Tradition <strong>der</strong> Bibel, gegen den jüdischchristlichenMonotheismus und die Aufklärung gerichtet. Es will <strong>der</strong>enFreiheitsimpuls durch die Inszenierung eines neuen Polytheismus überwindenund letztlich beseitigen. Bolz will “religiöse Gefühle handhaben”können. KULT-Marketing entpuppt sich demnach als eine gezielte Manipulationdes Menschen. <strong>Die</strong> biblische Grundfrage, die mit <strong>der</strong> Götzenkritikformuliert wird, stellt sich ausdrücklich: Götze als Synonym für Unfreiheitund Gott als Synonym für Freiheit.Dem Kapitalismus <strong>der</strong> gesättigten Märkte empfehlen Bolz undBosshart im Interesse <strong>der</strong> Mystifizierung den Weg von <strong>der</strong> Ökonomie zurReligion, um die wahren ökonomischen Absichten zu verschleiern. Marxgeht ebenfalls einen Weg von <strong>der</strong> Ökonomie zur Religion, doch im Interesse<strong>der</strong> Aufklärung über eine mystifizierende Ökonomie. Das Ausklärungsprojekt<strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne wird abgebrochen. Im Interesse <strong>der</strong> Freiheitdes Menschen kritisierte Marx die “Religion des Alltagslebens”; Bolz undBosshart dagegen wollen diese “Religion des Alltagslebens” im Interessedes Warenabsatzes för<strong>der</strong>n. Der in Legitimationszwänge geratene Kapitalismusist erneut in einen Zustand geraten, in dem er eine religiöse Hüllebraucht. Eine Theologie in <strong>der</strong> mythenkritischen Tradition <strong>der</strong> Bibelsollte dem Marxschen Hinweis Beachtung schenken, wenn Marketingsich daran macht, eine Wie<strong>der</strong>verzauberung <strong>der</strong> Welt durch einen “Kult<strong>der</strong> Ware” zu inszenieren.In dem Buch KULT-Marketing. <strong>Die</strong> neuen Götter des Marktes wirdnicht von außen in einer gleichsam delegitimatorischen Absicht das Götzenkriteriumeingeführt, son<strong>der</strong>n aus dem ökonomischen Denksystemselber wird ein Kult <strong>der</strong> Ware im Rahmen einer Religion des Marktes inszeniert.Religion wird zur Legitimation herangezogen. Bemerkenswertist, daß die beiden Marketingfachleute Bolz und Bosshart sich <strong>der</strong> Spracheund Begrifflichkeit von Theologie wie auch des funktionalen Religi-822Norbert Bolz, <strong>Die</strong> magische Welt von Nike Town. Über die Wie<strong>der</strong>kehr <strong>der</strong> Rituale und dieMarktreligion, in: Geborgenheit im Chaos, Publik-Forum - extra, o.O. 1997, 8.283


onsbegriffs von Niklas Luhmann im Rahmen einer Marketingstrategiebedienen. Wenn aber schon die Promotoren des Marktes in theologischenBegriffen von den “Göttern des Marktes” (248) reden, dann reichenfür eine Auseinan<strong>der</strong>setzung sozialethische Kategorien allein nichtaus. Eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit diesen Thesen muß deshalb geradeauch von <strong>der</strong> Theologie begrifflich auf dem gleichen Feld, nämlich dem<strong>der</strong> Religion und Theologie, geführt werden. Wer sonst, wenn nicht geradedie Theologie hat die fachliche Kompetenz, dort mitzureden, wo vonGott und den Göttern die Rede ist? Das Buch will nach eigener Einschätzungein “Sachbuch” (12) sein. Es liest sich in <strong>der</strong> Tat auch wie ein theologischesSachbuch über die Religion des Kapitalismus. Es beerbt theologischeFachbegriffe und spricht von “Gott” und “Göttern”, von “Spiritualität”(206), “Devotion” (207), “Rechtfertigung” (155), “Bekenntnis” (253),“Kult” (356), “Heiligkeit” (17ff., 266), von “Theodizee” (154). <strong>Die</strong>se Spracheund Begrifflichkeit sind eine Herausfor<strong>der</strong>ung, die sich nicht allein aufdie Ökonomie beschränkt, son<strong>der</strong>n die Theologie direkt betrifft. Mit <strong>der</strong>Konzeption und Begrifflichkeit des KULT-Marketings liegt erstmals eineaffirmative Bezugnahme auf Religion und Theologie innerhalb <strong>der</strong> Ökonomievor, die gerade von einer theologischen Wirtschaftsethik nicht ignoriertwerden sollte. Zur Aufgabe <strong>der</strong> Theologie wird es deshalb, mittenin <strong>der</strong> Komplexität heutiger Ökonomie über jene Wirklichkeit nachzudenken,die neoliberale Theoretiker selber mit theologischen Begriffen bezeichnen.Werden mit dem Gebrauch <strong>der</strong> Begriffe auch <strong>der</strong>en Inhalteverän<strong>der</strong>t? Welche Bedeutung kommt dem Phänomen zu, daß religiöseund theologische Begriffe für den Umgang mit ökonomischen Sachverhaltenverwendet werden?Mitten in einer sich so säkular und aufgeklärt gerierenden Gesellschaftfeiert ein religiöser Fetischismus seine Wie<strong>der</strong>geburt. Es zeigt sich, daßdie Unterschätzung <strong>der</strong> Religion in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ein folgenschwererTrugschluß war, denn sie verstellte den Blick auf die tatsächliche Anwesenheitvon Religion. Religion ist im Prozeß <strong>der</strong> Aufklärung nicht einfachverschwunden, son<strong>der</strong>n hat sich an<strong>der</strong>e Ausdrucksformen gesucht.Deshalb lautet das Gegensatzpaar auch in <strong>der</strong> sich so säkular gebendenMo<strong>der</strong>ne nicht Gottesglaube versus Atheismus, son<strong>der</strong>n Gottesglaubeversus Götzenglaube. Nicht <strong>der</strong> Atheismus ist deshalb das Problem, mitdem sich die Kirche auseinan<strong>der</strong>setzen muß, son<strong>der</strong>n eine götzendienerischeReligiosität, die sich als Teil <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen kapitalistischen Weltentwickelt hat. Der herrschenden Religiosität ihre Säkularität nicht zuglauben, wird zu einer theologischen Aufgabe. <strong>Die</strong> Mo<strong>der</strong>ne und mit ihrdie Theologie ist Opfer einer gewaltigen Täuschung, wenn sie meint, denGötzendienst zu einer Sache zu machen, die <strong>der</strong> Vergangenheit zuzuordnensei und mit exotischen Kulten unterentwickelter Völker zu tun ha-284


e. Nur weil die Götter <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne nicht die Gestalt von Baal o<strong>der</strong> Astartehaben, ist die Frage nach Gott und den Göttern noch nicht erledigt.<strong>Die</strong> Mo<strong>der</strong>ne hat den Götzenkult irrigerweise als überwunden geglaubtund den Theologen schien die biblische Götterkritik ohne wirkliche Bedeutungfür die Gegenwart zu sein. <strong>Die</strong> durch die Aufklärung verdrängtenGötzen tauchen nunmehr wie<strong>der</strong> auf.Weil <strong>der</strong> Kapitalismus sich selber als Religion geriert, ist Theologie auf<strong>der</strong> Höhe <strong>der</strong> Zeit, wenn sie die biblische Tradition <strong>der</strong> Götzenkritik erinnert.<strong>Die</strong> Fassade <strong>der</strong> Säkularität verbirgt eine religiöse Grundstruktur.Nicht nur materielle Güter, auch Götzen produziert <strong>der</strong> Kapitalismus, wieer hier gepriesen wird. <strong>Die</strong>se Götzenreligion ist eine Form <strong>der</strong> Machterweiterung.Eine Gesellschaft, die sich <strong>der</strong> Religion hingibt, ist dann nichtnur ökonomisch, son<strong>der</strong>n auch spirituell beherrscht. Deshalb ist die kultischeVerehrung <strong>der</strong> Ware im Kapitalismus gesättigter Märkte nicht nureine theologische Verirrung o<strong>der</strong> eine Pervertierung des Bewußtseins,son<strong>der</strong>n eine Form <strong>der</strong> Machterweiterung. <strong>Die</strong>se Macht ist höchst real,auch wenn <strong>der</strong> Kult <strong>der</strong> Ware falsch ist. Das Marketingkonzept, das einenKult <strong>der</strong> Ware inszenieren will, muß deshalb theologisch kritisiertwerden. Denn die Mo<strong>der</strong>ne ist keineswegs gottlos, sie dient Götzen. <strong>Die</strong>seAussage ist analytisch und theologisch zugleich.Bolz und Bosshart stehen mit ihrem Projekt <strong>der</strong> religiösen Aufladungvon Marktprozessen nicht isoliert. Auffallend häufig spricht Friedrich Augustvon Hayek von “Demut” und “Wun<strong>der</strong>”, wenn es um die Haltung gegenüberden Marktprozessen geht. <strong>Die</strong> dem Menschen entsprechendeHaltung gegenüber den Marktgesetzen nennt Hayek eine “Demut gegenüberden Vorgängen” 823 des Marktes. “Demut vor den unpersönlichenund anonymen sozialen Prozessen” 824 soll <strong>der</strong> Mensch nach Hayeküben. Ausdrücklich nimmt Hayek die religiöse Haltung des Vertrauenszum Vorbild für die Einstellung zu den Prozessen des Marktes: “Dabeispielt es keine Rolle, ob die Menschen sich früher infolge von Anschauungenunterworfen haben, die heute vielfach als Aberglaube angesehenwerden: aus einem religiösen Gefühl <strong>der</strong> Demut.” 825 Jene Haltung “demütigerEhrfurcht, die die Religion (...) einflößte” 826 , empfiehlt Hayek alsVorbild für eine Haltung gegenüber den Vorgängen des Marktes. DerBegriff “Demut” gehört seinem ursprünglichen Sinn nach in die Dialektikdes Verhältnisses von Herr und Knecht. Sprachgeschichtlich abgeleitet823 F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, 47.824F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus , in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnungvon Wirtschaft und Gesellschaft, o.O., Bd. 1, 1948, 25.825 F.A. von Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, Erlenbach-Zürich, o.J., 254.826 Ebd. 254.285


aus dem Althochdeutschen bezeichnet Demut eine Haltung tiefer Ergebenheitund <strong>der</strong> Bereitschaft, sich zu unterwerfen. 827Aber nicht nur diese Haltung <strong>der</strong> Demut ist gefor<strong>der</strong>t. Friedrich Augustvon Hayek bestaunt den sich selbst regulierenden Markt als ein “Wun<strong>der</strong>”828 : “Ich habe absichtlich das Wort „Wun<strong>der</strong>‟ gebraucht, um den Leseraus <strong>der</strong> Gleichgültigkeit herauszureißen, mit <strong>der</strong> wir oft das Wirkendieses Mechanismus als etwas Selbstverständliches hinnehmen.” In seinerDankesrede bei <strong>der</strong> Verleihung des Nobelpreises hat Friedrich Augustvon Hayek unter dem Titel Anmaßung des Wissens gesagt: “In demGlauben, daß wir die Kenntnis und die Macht besitzen, die Vorgänge inunserer Gesellschaft nach unserem Gutdünken zu gestalten, eineKenntnis, die wir in Wirklichkeit nicht besitzen, werden wir nur Schadenanrichten.” 829 Religöse Begriffe sollen offenkundig ein Legitimationsdefizitverdecken.827 Demut, in: Duden. Das große Wörterbuch <strong>der</strong> deutschen Sprache, Bd.2, Mannheim 1977, 508.828 F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 116.829F.A von Hayek, <strong>Die</strong> Anmaßung des Wissens, in: ORDO 26 (1975) 12-21, zit. in: Jung MoSung, Das Böse in <strong>der</strong> Ideologie des freien Marktes, in: Conc 33 (D) 1997, 609.286


8.2.2.2 Umdeutung christlicher EthikGanz an<strong>der</strong>s geht Roland Baa<strong>der</strong> in einem Sammelband über einenstringenten (Neo-) Liberalismus Wi<strong>der</strong> die Wohlfahrtsdiktatur mit Begriffen<strong>der</strong> Religion um. Während Norbert Bolz und David Bosshart religiöseBegriffe direkt mit dem Kapitalismus in einen Zusammenhang bringenund mittels Religion einen Kult <strong>der</strong> Ware inszenieren wollen, verwendetRoland Baa<strong>der</strong> Begriffe <strong>der</strong> Religion, um das Konzept einer neoliberalenWirtschaftstheorie gegen sozialstaatliche Konzepte zu legitimieren. Dadurchwerden die Begriffe <strong>der</strong> Religion gleichsam zu Kampfbegriffen.Den Sozialstaat nennt er einen “wohlfahrtsstaatlichen Aberglauben” 830und einen <strong>der</strong> “leersten aller mystischen Worthülsen des Wohlfahrtsstaates”831 . Es sei ein “Irrglaube(n)”, daß <strong>der</strong> Sozialstaat die “humane”, “aufgeklärte”,“moralische” und “menschenwürdige” Variante <strong>der</strong> eigentlich“kalten” und “erbarmungslosen” kapitalistischen Marktwirtschaft sei. 832 “InWahrheit handelt es sich beim einen (dem „hard-core‟-Sozialismus) wiebeim an<strong>der</strong>en (dem Sozial- und Wohlfahrtsstaat) um einen quasireligiösenGötzenkult, um eine Ersatz-Religion.” 833 Der Sozialstaat zerstöre“das Gefühl <strong>der</strong> Nächstenliebe und des menschlichen Erbarmens”834 und verschütte die Fähigkeit zur Hilfe, mit <strong>der</strong> Folge: “Der Götzedes Kollektiv-Sozialen hat das göttliche Feuer des wahrhaft Menschlichenausgelöscht.” 835 Baa<strong>der</strong> nennt “soziale Gerechtigkeit” eine “Inthronisierung<strong>der</strong> Götzen”, die sich “in letzter Konsequenz als Gotteslästerung”836 erweise. In je<strong>der</strong> über eine solide Ordnungspolitik hinausreichendenpolitischen Intervention zeige sich ein “sozial-, wirtschafts- undgesellschaftspolitische(r) Machbarkeitswahn”; man könne auch sagen:“Als Frevel an dem auf Kreativität und Erneuerung, auf Wandel und Verbesserunggerichteten Schöpferauftrag an den Menschen, im Schweißeseines Angesichts das Gesicht und die Fruchtbarkeit <strong>der</strong> Erde mitzugestalten.(...) Hinter <strong>der</strong> ökonomischen Effizienz- und Wertmin<strong>der</strong>ung desFaktors Arbeit wird dem metaphysisch sensibilisierten Auge <strong>der</strong> tiefere830Anmerkung des Herausgebers R. Baa<strong>der</strong> zu einem Beitrag in: <strong>der</strong>s. (Hg.), Wi<strong>der</strong> die Wohlfahrtsdiktatur.Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing, 1995, 147.831 R. Baa<strong>der</strong>, <strong>Die</strong> Angst des Lohnes und <strong>der</strong> Lohn <strong>der</strong> Angst, in: <strong>der</strong>s.(Hg.), Wi<strong>der</strong> die Wohlfahrtsdiktatur.Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing, 1995, 232.832R. Baa<strong>der</strong>, Vorwort, in: <strong>der</strong>s. (Hg.), Wi<strong>der</strong> die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen,Gräfelfing 1995, 9.833 Ebd. 9.834 Ebd. 10.835 Ebd. 12.836 R. Baa<strong>der</strong>, <strong>Die</strong> Angst des Lohnes und <strong>der</strong> Lohn <strong>der</strong> Angst, 242.287


Kern des Geschehens sichtbar: ein ersatzreligiöser blasphemischerKult.” 837Wenn nur <strong>der</strong> Markt Freiheit bekäme, dann könnte er seine Wohltatenerweisen. Je<strong>der</strong> wirtschafts- o<strong>der</strong> sozialpolitische Eingriff in den Marktaber sei nicht nur ökonomisch schädlich, son<strong>der</strong>n “gleichzeitig Sinnbetrugan den arbeitenden Menschen und Verhöhnung des göttlichen Auftragszur schöpferischen Mitgestaltung <strong>der</strong> Erde und ihrer Fruchtbarkeit”838 . Und ökonomische Subventionen, die den freien Markt korrigierten,liefen zudem auch “dem biblischen Gebot von <strong>der</strong> verantwortlichenUmsicht des „guten Verwalters‟” 839 zuwi<strong>der</strong>. Solche staatlich verursachtenInterventionen in den Marktprozeß, die das freie Spiel <strong>der</strong> Kräfte von Angebotund Nachfrage störten, raubten den einen die “göttlichen Geschenkenamens Erde, Leben und Fortschritt”. In “<strong>der</strong> Unfreiheit staatlichstrangulierter Märkte” erhielten die an<strong>der</strong>en “dank <strong>der</strong> Erpressungsgewalt<strong>der</strong> Kartellfunktionäre, mehr als ihre Arbeit wert ist (auch im Sinne desgestalterischen Schöpfungsauftrags).” 840Man mag diese Redeweise als reichlich abstrus bewerten, doch immerhinfindet sie sich in einem Sammelband, in dem bedeutende Autorenwie Václav Klaus, Ministerpräsident a.D. <strong>der</strong> Tschechischen Republik,Norbert Walter, Chefökonom <strong>der</strong> Deutschen Bank, o<strong>der</strong> <strong>der</strong> ungarisch-amerikanischePhilosoph Anthony de Jasay mitgearbeitet haben.Mit einer theologisch aufgeladenen Sprache und Begrifflichkeit versuchtRoland Baa<strong>der</strong> in dieser Streitschrift, den Neoliberalismus als eineschöpfungsgemäße Wirtschaftsordnung zu legitimieren und dadurchprinzipiell unangreifbar zu machen. Er inszeniert dabei den Streit um dierichtige Wirtschaftspolitik als einen Religions- o<strong>der</strong> Glaubenskrieg. SeinenWi<strong>der</strong>sachern in <strong>der</strong> Gestalt <strong>der</strong> Befürworter eines Sozialstaateswirft er “Gotteslästerung” vor. <strong>Die</strong> freie, neoliberale Marktwirtschaft wirdin den Rang einer Glaubenssache und gottgewollten Ordnung erhoben.<strong>Die</strong> Botschaft lautet: Wer zu an<strong>der</strong>en wirtschaftspolitischen Instrumentenals den neoliberalen greift, vergreift sich an <strong>der</strong> Schöpfungsordnung. DerNeoliberalismus macht sich sakrosankt: Seine Unantastbarkeit wird mitreligiösen Begriffen untermauert. Sachargumente aber werden in diesemGlaubenskrieg nicht genannt; sie werden vielmehr durch Begriffe aus <strong>der</strong>Sphäre des Religiösen ersetzt. Ökonomische Überzeugungen erhaltenden Status dogmatischer Gewißheiten.Ganz in <strong>der</strong> Tradition von Bernard Mandeville deutet Norbert Walter,Chefökonom <strong>der</strong> Deutschen Bank, den Sozialstaat und mit ihm die ethi-837 Ebd. 242.838 Ebd. 240.839 Ebd. 240.840 Ebd. 241.288


sche Grundhaltung <strong>der</strong> Barmherzigkeit und Sympathie als gemeinschaftsschädigend,da sie möglichen Wohlstand verhin<strong>der</strong>e und Eigeninitiativeblockiere. Er spricht von einem “Samariter-Dilemma”, das darinbestehe, daß <strong>der</strong> Sozialstaat wie <strong>der</strong> Samariter intentional das Gute zwartun wolle, mit seinem Einsatz für soziale Gerechtigkeit jedoch das Gegenteilbewirke. Der Wohlfahrtsstaat befinde sich in einem Dilemma,denn “er kann nicht mehr moralisch rechtfertigen, einen Menschen fortgesetztzu unterstützen, <strong>der</strong> aufgrund <strong>der</strong> Unterstützung potentielle Eigenanstrengungenunterläßt.” 841 Eine Unterstützung sozial Schwachersei zwar gut gemeint, aber schädlich. Sie sei eine “Paradiesillusion einerGeschenkewirtschaft”, die “letztlich wenig mit Ethik, wenig mit Nächstenliebe,wenig mit Christenliebe zu tun” 842 habe. Deshalb gibt es ein Paradox:Der gesinnungsethische Samariter verfehlt sein Ziel; doch verantwortungsethischhandelt, wer sozialstaatliche Hilfe zurückweist, auchwenn solche Entscheidungen auf den ersten Blick hartherzig aussehenmögen. Deshalb nennt es Walter “im Einzelfall unsozial, ein Gemeinwesenausschließlich auf Altruismus und Gemeinsinn gründen zu wollen.” 843Eine Aufgabenteilung soll herrschen: Der Markt sichert die Wirtschaftlichkeit,für Menschlichkeit sorgt im Einzelfall <strong>der</strong> Einzelne. Gleichwohlwird eine ethische Basis gesucht. “Kein Wirtschaftssystem kanndaher auf Dauer ohne ethische Grundlagen auskommen.” 844 Dabei vollziehtsich aber eine eigentümliche Umwertung <strong>der</strong> traditionellen Werte:“Egoismus kann so tugendhafter sein als Altruismus”, kommentiert <strong>der</strong>Chefredakteur <strong>der</strong> WirtschaftsWoche, Stefan Baron. 845 Ethische Traditionendes Erbarmens und <strong>der</strong> Gerechtigkeit werden im Interesse einerethischen Fundierung des freien Marktes umgedeutet. “Denn eineMarktwirtschaft bereitet wesentlich erfolgreichere Methoden <strong>der</strong> Nächstenliebeals das bloße Teilen. Anstatt nach dem Vorbild Martins denMantel mit dem frierenden Bettler nur solidarisch zu zerschneiden, kannman sich die Massenproduktion von Mänteln zur Aufgabe machen, sodaß sie für alle erschwinglich werden und viele Dünnbekleidete in Brotund Arbeit kommen. Nach aller historischen Erfahrung hat die Maximedes unternehmerischen Handelns mehr für die jeweils Bedürftigen erreichtals alle Ethik <strong>der</strong> Aufteiler.” 846 <strong>Die</strong>se Ethik des Teilens in <strong>der</strong> Symbolfigurdes Sankt Martin steht für eine europäische Sozialtradition, diewegmo<strong>der</strong>nisiert werden soll, da sie heute unter den Bedingungen des841 N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 72.842 Ebd. 74.843 Ebd. 79.844 S. Baron, Herz und Verstand, in: WirtschaftsWoche Nr. 6 vom 30.1.1997, 3.845 Ebd.846 W. Weimer, Das Teilen und die Moral <strong>der</strong> Märkte, in: FAZ vom 24.12.1993, 9.289


Marktes als gesellschaftliche Ethik überholt gilt. “<strong>Die</strong>se „Ethik des Teilens‟bringt kein einziges zusätzliches Brot auf den Markt. Der unternehmerischeImperativ lautet: vermehre die Güter, nicht aber: teile sie!(...) Es ist wohl sicher, daß die Ethik des Produzierens weit mehr zurÜberwindung <strong>der</strong> Armut getan hat als alle caritativen Armenpflegesätzeo<strong>der</strong> Sozialhilfe.” 8478.2.2.3 Neoliberales Credo: Vertrauen auf den MarktDa aber ein empirischer Beweis für die Verwandlung des Eigennutzesdes einzelnen in ein Gemeinwohl aller nicht erbracht werden kann, giltes, diese Behauptung zu glauben. Aus sich heraus kann <strong>der</strong> Neoliberalismuskeine Legitimation finden. <strong>Die</strong>ses Defizit sollen die religiösen Begriffebeheben. So muß Norbert Walter auch konzedieren, daß die sozialeund ökonomische Überlegenheit eines freien Marktsystems, das auf<strong>der</strong> Koordination privater Wünsche aufbaut, “kaum irgendwo als „Beleg‟verfügbar” 848 sei, denn historisch gebe es - lei<strong>der</strong> - nur Gesellschaftenmit einer Vielzahl staatlicher Eingriffe. Angesichts <strong>der</strong> historischen Unzulänglichkeit, daß ideale Bedingungen für marktwirtschaftliche Konzeptereal nicht umgesetzt, son<strong>der</strong>n allenfalls approximiert werden, “tut moralischeAufrüstung not”, die dazu beitrage, “die angemessene Bescheidenheitim Anspruchsniveau zu finden.” 849 Gefor<strong>der</strong>t wird also ein dogmatischesVertrauen, das die Lücke <strong>der</strong> fehlenden Empirie ausfüllen soll. <strong>Die</strong>neoliberale Ökonomie wird zu einer Orthodoxie o<strong>der</strong> unfehlbaren Glaubensangelegenheit,die sich auch nicht durch Massenarbeitslosigkeit,Spaltung <strong>der</strong> Gesellschaft in Arm und Reich o<strong>der</strong> ökologische Schädenerschüttern läßt, da diese a priori nicht durch das Marktsystem, son<strong>der</strong>ndurch den Fehler des Menschen verursacht würden, <strong>der</strong> meint, wirtschaftspolitischin den Markt intervenieren und eingreifen zu dürfen.Auch Milton Friedman diagnostiziert mangelnden Glauben, wenn er zuden Kritikern des freien, neoliberalen Marktes sagt: “Hinter den meistenArgumenten gegen den freien Markt steckt <strong>der</strong> mangelnde Glaube in dieFreiheit selbst.” 850 Marktkritisches Denken ist demnach ein Glaubens-847 G. Habermann, Teilen o<strong>der</strong> produzieren. Bemerkungen zum Ethos des Unternehmers, in: NeueZürcher Zeitung, (Fernausgabe) Nr. 211 vom 12./13. September 1993, 13f.848 N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 68.849 Ebd. 85.850 M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, Frankfurt-Berlin, 1984, 36. - Zur Erinnerung: BereitsLudwig Erhard grenzte die Soziale Marktwirtschaft von einer freien Marktwirtschaft ab. Fürihn gehören Freiheit, Verantwortung und Ordnung untrennbar zusammen. Deshalb sagte er290


zweifel. Freiheit avanciert zu einem Wert an sich, <strong>der</strong> sich auch nicht vorsolchen Argumenten wie dem <strong>der</strong> Gerechtigkeit zu legitimieren braucht.Letztlich erfüllen also die theologischen und religiösen Begriffe die Funktion,über eben jene Tatsache hinwegzuhelfen, daß die freien Märktenicht halten können, was sie verheißen. Der Bezug auf die Begriffe <strong>der</strong>Religion dient dann aber nicht <strong>der</strong> Rationalität o<strong>der</strong> Aufklärung über dieSachlage, son<strong>der</strong>n will diese undurchschaubar machen und dadurch ihreAkzeptanz erhöhen. In einer solchen Situation ist das Vertrauen auf denMarkt eine Tugend, die zur Konformität mit den Erfor<strong>der</strong>nissen des freienMarktes anhalten soll.Das neoliberale Verständnis von Markt kennt keine Alternativen. “Außerhalbdes Marktes kein Heil?” fragt die Internationale Zeitschrift fürTheologie Concilium leitmotivisch im Themenheft 4/1997 . Einige Zitatekönnen belegen, wie Begriffe <strong>der</strong> Religion in <strong>der</strong> neoliberalen ökonomischenDebatte verwendet werden. Stefan Baron zitiert den US-Ökonomen Paul Romer, <strong>der</strong> die ökonomische Spitzenstellung <strong>der</strong> USAgegenüber Europa darin begründet sieht, daß “das größere Vertrauen indie Marktmechanismen in Amerika” bestehe. Stefan Baron diagnostiziertals Grund für den Nie<strong>der</strong>gang <strong>der</strong> deutschen Wirtschaft fehlenden Glauben:“(...) weil wir den Glauben an unsere eigene Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung,die Soziale Marktschaft, verloren haben.” 851 Der MilliardärGeorge Soros sprach in einem viel beachteten Beitrag in <strong>der</strong> ZEITebenfalls von einem Glauben an den Markt: “Insoweit heute in unsererGesellschaft überhaupt von einer vorherrschenden Überzeugung die Redesein kann, dann ist es <strong>der</strong> Glaube an die Zauberkraft des Marktes.(...) <strong>Die</strong> Doktrin des Laissez-Faire-Kapitalismus verkündet, dem Gemeinwohlwerde am besten durch die unbeschränkte Verfolgung <strong>der</strong> Eigeninteressengedient.” 852 Das Manifest Grenzen des Wettbewerbs <strong>der</strong>Gruppe von Lissabon kritisiert, daß die Globalisierung <strong>der</strong> Wirtschaft einefatale Marktgläubigkeit habe entstehen lassen. Das Manifest kritisiert,daß “<strong>der</strong> Glaube an die freie Marktwirtschaft” vorherrsche. 853 Der Mitver-1961: “Freiheit darf nicht zu einem Götzendienst werden, ohne Verantwortung, ohne Bindung,ohne Wurzel. <strong>Die</strong> Verbindung zwischen Freiheit und Verantwortung bedarf vielmehr <strong>der</strong> Ordnung.”(Zit. ohne Quellenangabe in: O. Schlecht, Begriffsverfälschung, in: Evangelische Kommentare10/1998, 597.)851 S. Baron, Marktwirtschaft ist menschlich, in: WirtschaftsWoche Nr. 10 vom 26.2.1998, 34.852 G. Soros, <strong>Die</strong> kapitalistische Bedrohung, in: DIE ZEIT Nr. 4 vom 17. Januar 1997, 25.853 <strong>Die</strong> Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs. <strong>Die</strong> Globalisierung <strong>der</strong> Wirtschaft und dieZukunft <strong>der</strong> Menschheit, München 1997, 63. In einer religiöse Begriffe paraphrasierendenAusdrucksweise heißt es dort: “Das Glaubensbekenntnis <strong>der</strong> Wettbewerbsfähigkeit hat seineEvangelisten, Theologen, Priester und, natürlich, Gläubige. Letztere sind jene Millionen Menschen<strong>der</strong> entwickelten Regionen und Schichten <strong>der</strong> Welt ... <strong>Die</strong> Evangelisten sind jene Tausendevon Wirtschaftswissenschaftlern und Experten aus den USA, Westeuropa ... , die denquasi naturgesetzlichen Charakter <strong>der</strong> Prinzipien und Mechanismen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen kapitalisti-291


fasser dieses Manifestes, Ricardo Petrella, zitiert den Bangemann-Bericht <strong>der</strong> Europäischen Kommission vom 26. Mai 1994, <strong>der</strong> for<strong>der</strong>t,man müsse “auf die Mechanismen des Marktes vertrauen.” 854 In einerBil<strong>der</strong>sprache will Petrella das Vertrauen auf den Markt als religiöse Observanzdeuten und bezeichnet den Neoliberalismus in Anlehnung anbiblische Metaphorik als “die neuen Gesetzestafeln”. “<strong>Die</strong> neuen Gesetzestafelnfeiern die Idee eines Wettbewerbs zwischen allen Menschen,allen Gesellschaftsgruppen und allen territorialen Gemeinschaften (Städten,Regionen, Staaten), denn, so verkünden sie, es gibt kein individuelleso<strong>der</strong> kollektives Heil ohne die Eroberung von Markt- und vor allemWeltmarktanteilen.” 855 Daß eine Ökonomie mit diesem Selbstverständnisdie Stelle <strong>der</strong> Religion einnehmen kann, befürchtet <strong>der</strong> Schweizer ÖkonomHans Chr. Binswanger: “<strong>Die</strong> Wirtschaft gewinnt damit den transzendenten,d.h. grenzüberschreitenden Charakter, den die Menschen früherin <strong>der</strong> Religion gesucht haben.” 856 Auch <strong>der</strong> WirtschaftswissenschaftlerSiegfried Katterle kritisiert, daß dem Markt und seinem Funktionierenhumane Gehalte einer sozial verpflichteten Ökonomie geopfert werden.“<strong>Die</strong>se sinngebende Dimension einer dem Menschenbild des homoculturalis gemäßen Wohlstandsentwicklung, die durch eine bewußt sozialeund ökologische Steuerung des Marktes hergestellt werden müßte,werden heute weithin dem zur totalen Institution vergötzten Markt geopfert.”857 In diesem Zusammenhang an Alfred Müller-Armack zu erinnern,kann hilfreich sein. Denn er sah allein in einer Rückbindung an einechristliche Ethik die Chance zu einer “Ausschaltung aller Idolbildung imWirtschaftlichen” 858 . Auch <strong>der</strong> bekannte französische Soziologe Pierreschen Marktwirtschaft kraft ihrer wissenschaftlichen Autorität kodifiziert und etabliert haben.... <strong>Die</strong> Theologen schossen in den 70er und 80er Jahren wie Pilze aus dem Boden. ... Priesterdes Wettbewerbskultes gibt es zu Tausenden in aller Welt. An den Universitäten wie in denParlamenten, in London wie in Sao Paulo ... wie in den deutschen Gewerkschaften. <strong>Die</strong> Unternehmens-und Managementberater sind die gläubigsten Priester und die am besten ausgestatteten.<strong>Die</strong> Lehre und die Verbreitung des Credos beschert ihnen eine äußerst profitable Einkommensquelle.”<strong>Die</strong> Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs, 134-136.854 Zit. in: R. Petrella, <strong>Die</strong> neuen Gesetzestafeln, in: Le monde diplomatique (dt. Ausgabe) vom 2.Oktober 1995, 2.855 R. Petrella, <strong>Die</strong> neuen Gesetzestafeln, in: Le monde diplomatique (dt. Ausgabe) vom 2. Oktober1995, 2.856 H.Ch. Binswanger, Geld und Magie, Stuttgart 1985, 61.857 S. Katterle, <strong>Die</strong> neoliberale Wende zum totalen Markt aus <strong>der</strong> Sicht des Nordens, 63. Auch PeterUlrich nimmt im Neoliberalismus eine “gedankliche Entgrenzung <strong>der</strong> Idee einer effizientenMarktwirtschaft zur Ideologie einer totalen Marktgesellschaft” wahr. In: P. Ulrich, IntegrativeWirtschaftsethik, 129.858A. Müller-Armack, Das Jahrhun<strong>der</strong>t ohne Gott, 507. Auf dem Hintergrund <strong>der</strong> Erfahrungen mitden Politischen Religionen des Stalinismus und des Nationalsozialismus sagte Müller-Armack:“Nachdem die Geschichte eines Jahrhun<strong>der</strong>ts klargemacht hat, daß man nur zwischen Glaubenund Pseudoglauben und nicht zwischen Glauben und Nichtglauben zu wählen hat, sollte man292


Bourdieu deutet Theorie und Konzept des Neoliberalismus als ein Glaubenssystem.Es schaffe sich selber Zwänge, um dann behaupten zukönnen, sich diesen Zwängen nicht entziehen zu können. “<strong>Die</strong>se Utopiebringt (...) eine außergewöhnliche Gläubigkeit hervor, den free trade faith(...) Sie vertrauen auf Modelle, die sie praktisch nie wissenschaftlichüberprüfen können, und sie verachten die Erkenntnisse an<strong>der</strong>er historischerWissenschaften.” 859 In <strong>der</strong> französischen Debatte wird <strong>der</strong> Begriff“la pensée unique” für dieses Denken in selbstgeschaffenen Sachzwängen,das keine Alternativen zuläßt, verwendet. “Der Neoliberalismuszeigt sich uns schließlich im Schein <strong>der</strong> Unausweichlichkeit.” 860 Man hatkeine Wahl. Es gibt einen Sachzwang, <strong>der</strong> sich aus den Erfor<strong>der</strong>nissendes Marktes ergibt. Doch legitimiert wird dieser Sachwang durch einGemeinwohl, das in Aussicht gestellt wird. Für Pierre Bourdieu ist <strong>der</strong>neoliberale Diskurs das, was Emile Durkheim über Religion gesagt hat,nämlich ein “wohldurchdachtes Delirium” 861 . Mit einem Gewand ökonomischerFeststellungen würden normative Anschauungen verschleiertund Tatsachen in <strong>der</strong> ökonomischen Diskussion überhaupt nicht zurKenntnis genommen. Bourdieu sieht in <strong>der</strong> neoliberalen Argumentationdeshalb “einen neuen Glauben an die historische Unvermeidlichkeit” undkommt zu dem Resümee: “Wir haben es hier mit Religion zu tun”.<strong>Die</strong> Rede von Glauben, Wun<strong>der</strong> o<strong>der</strong> Vertrauen im Zusammenhangmit ökonomischen Sachverhalten ist nicht neu. Bereits Alfred Marshall(1842-1924), <strong>der</strong> wohl bedeutendste Vertreter <strong>der</strong> Neoklassik, rückt dieHaltung des Vertrauens in das Zentrum: “Der Hauptgrund allen Übels (in<strong>der</strong> Wirtschaft) ist fehlendes Vertrauen. Der größte Teil <strong>der</strong> Mißständeließe sich beinahe im Nu beseitigen, wäre es nur möglich, das Vertrauenwie<strong>der</strong>herzustellen, alle Initiativen mit seinem magischen Zauber in Gangzu setzen und sie mit ihrer Produktion und ihrer Nachfrage nach den Warenan<strong>der</strong>er fortfahren zu lassen.” 862 In den ökonomischen Theorien <strong>der</strong>Neoklassik gibt es eine mit dem Attribut “theologisch” zu qualifizierendeTraditionslinie, die über Adam Smith bis zu Bernard Mandeville zurückreichtund von den Neoliberalen unserer Tage aufgenommen wurde.heute vorsichtiger in <strong>der</strong> Anwendung dieses Argumentes (nämlich, daß die Zeit des Glaubensvorüber sei, F.S.) sein.” (A. Müller-Armack, Das Jahrhun<strong>der</strong>t ohne Gott, 494)859 P. Bourdieu, <strong>Die</strong> Sachzwänge des Neoliberalismus, in: Le Monde diplomatique (dt. Ausgabe),März 1998, 3.860 P. Bourdieu, Der Mythos “Globalisierung” und <strong>der</strong> europäische Sozialstaat, in: <strong>der</strong>s., Gegenfeuer.Wortmeldungen im <strong>Die</strong>nste des Wi<strong>der</strong>standes gegen die neoliberale Invasion, Konstanz1998, 40.861zit. in: P. Bourdieu, Krise des Wohlfahrtsstaates. Eine Polemik des französischen SoziologenPierre Bourdieu, in: DIE ZEIT Nr. 45 vom 1. November 1996, 2.862 Zit. in: H. Assmann u. F. J. Hinkelammert, Götze Markt, Düsseldorf 1992, 89.293


8.2.2.4 Neoliberale GlaubensgemeinschaftBereits 1945 hatte Alexan<strong>der</strong> Rüstow mit seiner Schrift Das Versagendes Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem 863 dieethische und theologische Dimension <strong>der</strong> Begründung des sich selbstregulierenden Markt-mechanismus, wie sie Adam Smith formuliert hatte,in einer detaillierten Studie nachgewiesen. Von <strong>der</strong> Kosmostheologie Heraklitsüber das philosophische Denken <strong>der</strong> Stoa, insbeson<strong>der</strong>e ihrerAnthropologie, Ethik und Politik führe eine Entwicklungslinie zu AdamSmith. Smith habe die “unsichtbare Hand” als Teil eines deistischenWeltbildes verstanden. Damit habe er zwar eine ethische Begründung<strong>der</strong> Marktwirtschaft ausgearbeitet, die jedoch nicht auf <strong>der</strong> Grundlagechristlich-theologischer Prinzipien beruhe, son<strong>der</strong>n auf einem deistischenWeltbild. 864 Der zu Beginn <strong>der</strong> Aufklärung im 17. Jahrhun<strong>der</strong>ts geprägteBegriff “Deismus” bezeichnet eine Weltanschauung, die die “christlichenGlaubensaussagen auf eine universale „natürliche‟, aller geschichtlichenElemente, vor allem <strong>der</strong> Heilsbedeutung Jesu entschränkte Religion” 865reduziert. <strong>Die</strong> zeitgenössische anglikanische Theologie war sich <strong>der</strong> stoischenund epikureischen Grundlagen des Deismus bewußt gewesen undsetzte sich deshalb mit dieser vorchristlichen Weltanschauung <strong>der</strong> Antikekritisch auseinan<strong>der</strong>. 866 Nach Binswanger zeige sich die Distanz zurchristlichen Ethik darin, daß Smith in <strong>der</strong> sechsten - <strong>der</strong> ersten überarbeiteten- Auflage seiner Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle alle früheren Hinweiseauf das Christentum gestrichen hat. 867Smith sah in <strong>der</strong> Welt ein göttliches Wesen wirksam, “dessen Wohlwollenund Weisheit seit aller Ewigkeit die ungeheure Maschine desWeltalls so ersonnen und gelenkt hat, daß sie zu allen Zeiten das größtmöglicheMaß von Glückseligkeit hervorbringe.” 868 <strong>Die</strong>ses göttliche We-863 A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, (IstanbulerSchriften Nr. 12) Istanbul - Zürich - New York 1945; vgl. auch: <strong>der</strong>s., Paläoliberalismus,Kollektivismus und Neoliberalismus in <strong>der</strong> Wirtschafts- und Sozialordnung, in: Christentumund Liberalismus. Studien und Berichte <strong>der</strong> katholischen Akademie in Bayern, Heft 13,München 1960, 149-178.864So neben Rüstow auch: N. Monzel, <strong>Die</strong> weltanschaulichen Grundlagen des klassischen Wirtschaftsliberalismus,in: <strong>der</strong>s., <strong>Die</strong> katholische Kirche in <strong>der</strong> Sozialgeschichte. Von den Anfängenbis zur Gegenwart, München - Wien, 1980, 218-231; H. Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Glaubensgemeinschaft<strong>der</strong> Stoa. Essays zur Kultur <strong>der</strong> Wirtschaft, München 1998, 47-64; M. Büscher,Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “Invisible Hand” in<strong>der</strong> säkularisierten Industriegesellschaft, 123-144.865 W. Michaelis, Deismus, III. Englischer Deismus, in: RGG 3. Aufl. 1958, Bd. 2, Sp. 60.866 Ebd. Sp. 64.867 Hinweis bei: H. Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Glaubensgemeinschaft <strong>der</strong> Stoa, 55f.868 A. Smith, Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle, 299.294


sen ist nicht <strong>der</strong> christliche Gott, son<strong>der</strong>n die Weltvernunft <strong>der</strong> Stoa. Eine“Vorsehung” 869 leite in Güte das Weltgeschehen. Ihr sei es deshalb zuverdanken, daß egoistisches Verhalten in Gemeinwohl umgewandeltwerde. <strong>Die</strong> Welt wird als ein mit mechanischer Gesetzmäßigkeit ablaufendesSystem verstanden, das durch Gottes Güte in seinem ungehin<strong>der</strong>tenAblauf garantiert wird. <strong>Die</strong> Koinzidenz von Gemeinwohl und Eigennutzist keineswegs eine Erfahrungstatsache, son<strong>der</strong>n wird bei Smithmit dem Hinweis auf das stoische Vertrauen auf die Vorsehung theologischerklärt und begründet.Smith konnte bei dem Philosophen Epiktet (50- ca.140 n. Chr.), einemHauptvertreter <strong>der</strong> Stoa, lesen: “Daher ist es auch keine Sünde wi<strong>der</strong> dasGemeinwohl, wenn man alles um seiner selbst willen (aus Eigenliebe)tut.” 870 Das marktwirtschaftliche Vertrauen in die Umwandlung des Eigennutzesin das Gemeinwohl ist also keineswegs Ausdruck eines wertfreienökonomischen Gesetzes, son<strong>der</strong>n Teil einer von stoischen undepikuräischen Elementen inspirierten deistischen Weltanschauung. Alexan<strong>der</strong>Rüstow hat in überzeugende Weise eine Traditionslinie belegt,die seit <strong>der</strong> Stoa bis in den Liberalismus immer wie<strong>der</strong> ökonomische Abläufewie beispielsweise einen freien Außenhandel als gottgewollt gedeutetwerde: Um die Völker auf die Notwendigkeit gegenseitigen Austauschesund Handels hinzuweisen, habe Gott in seiner Weisheit die Güterabsichtlich auf die verschiedenen Völker verteilt. 871Auch wenn Smith lediglich an zwei Stellen die für das ökonomischeDenken so bedeutungsvolle Metapher “unsichtbare Hand” verwendet, soist <strong>der</strong> Überzeugungsstandpunkt dennoch häufiger anzutreffen. So heißtes in seinem Hauptwerk Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen: Wer seinen eigenenGewinn vergrößern wolle, werde “von einer unsichtbaren Hand geleitet,um einen Zweck zu för<strong>der</strong>n, den zu erfüllen er in keiner Weise beabsichtigthat.” 872 Und in <strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle spricht Smithden verteilungsgerechten Aspekt so an: “Sie (die Reichen, F.S.) werdenvon einer unsichtbaren Hand dazu geführt, nahezu die gleiche Verteilunglebensnotwendiger Güter vorzunehmen, die gemacht worden wäre, wenndie Erde zu gleichen Teilen unter all ihre Bewohner aufgeteilt worden wä-869 Ebd. 231. <strong>Die</strong>se Vorsehung ist jedoch nicht mit jenem Begriff von Vorsehung identisch, den diechristliche Theologie kennt. Das christliche Verständnis von Vorsehung hat sich seit <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzungmit <strong>der</strong> Stoa in <strong>der</strong> Patristik immer gegen einen Fatalismus abgegrenzt undsich nicht auf die Weltordnung als ganze o<strong>der</strong> auf die Wirksamkeit allgemeiner Gesetze bezogen,son<strong>der</strong>n immer auf den einzelnen. Vgl. die näheren Ausführungen bei: N. Monzel, <strong>Die</strong>weltanschaulichen Grundlagen des klassischen Wirtschaftsliberalismus, 227f.870 Epiktet, Teles und Musonius, Zürich 1948, 123f, zit. nach: H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Glaubensgemeinschaft<strong>der</strong> Stoa, 55.871 A.Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 114ff.872 A. Smith, Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen, 371.295


e, und so för<strong>der</strong>n sie, ohne es zu beabsichtigen, ohne es zu wissen, dasInteresse <strong>der</strong> Gesellschaft und bringen die Mittel zur Vermehrung <strong>der</strong>Gattung auf.” 873Weil eine unsichtbare Hand allemal für das Gemeinwohl sorge, kannsich Smith dem Rat <strong>der</strong> Stoiker anschließen: “Je<strong>der</strong> Mensch ist, wie dieStoiker zu sagen pflegen, in erster Linie und hauptsächlich seiner eigenenFürsorge empfohlen, und je<strong>der</strong> Mensch ist gewiß in je<strong>der</strong> Hinsichtgeeigneter und fähiger, für sich zu sorgen als irgend jemand an<strong>der</strong>s.” 874Das Vertrauen auf die “unsichtbare Hand” nennt Smith theologisch eine“großherzige Ergebenheit in den Willen des großen Lenkers des Weltalls.”875 <strong>Die</strong> Ethik des Marktes ist theologisch begründet: “<strong>Die</strong> Verwaltungdes großen Systems des Weltalls indessen, die Sorge für die allumfassendeGlückseligkeit aller vernünftigen und fühlenden Wesen ist dieAufgabe Gottes und nicht des Menschen.” 876 Das Vertrauen auf denuniversalen Schöpfergott, <strong>der</strong> in seiner Güte die Welt mit “unsichtbarerHand” erhält und lenkt, ist demnach <strong>der</strong> ökonomische Ausdruck desweltanschaulich begründeten Optimismus <strong>der</strong> Stoa. Ebensowenig wieGott in die Welt eingreift, soll <strong>der</strong> Staat in den Markt eingreifen.<strong>Die</strong> “Vorsehung” lenkt und garantiert nach dem deistischen Weltbildund Glauben des Adam Smith den Marktmechanismus so, daß die subjektivenAbsichten eines eigennützigen Vorteilskalküls aufgehen und zugleichdas Gemeinwohl geför<strong>der</strong>t wird. Das <strong>der</strong> Marktwirtschaft zugrundeliegende Gesetz war demnach zugleich göttliches Gesetz und natürlicheOrdnung. Der in <strong>der</strong> Tradition christlicher Sozialethik beargwöhnte Eigennutzkann nunmehr eine für die Gemeinschaft positive Funktion erhaltenund ist ethisch legitimiert, da er eine Bedingung für den wirtschaftlichenWohlstand darstellt.<strong>Die</strong> Doktrin <strong>der</strong> Umwandlung eigennütziger Interessen in ein Gemeinwohlvertrat bereits fast ein halbes Jahrhun<strong>der</strong>t zuvor Bernard Mandeville,wie die Verse in <strong>der</strong> berühmten Bienenfabel verdeutlichen:Der Allerschlechteste sogarFürs Allgemeinwohl tätig war.So herrscht im ganzen Einigkeit,Wenn auch im einzelnen oft Streit. 877Mandeville will die Menschen nehmen, “wie sie in Wirklichkeit sind (...), den Menschen schlechthin, im Naturzustand und ohne Kenntnis des873 A. Smith, Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle, 231.874 Ebd. 272.875 Ebd. 298.876 Ebd. 299.877 B. Mandeville, <strong>Die</strong> Bienenfabel. Mit einer Einleitung von Walter Euchner, Frankfurt 1980, 84f.296


wahren Gottes.” 878 Der konkret vorfindliche Mensch sei egoistisch und alleinauf seinen Vorteil bedacht, lautet die anthropologische Grundaussage.Deshalb spöttelt Mandeville auch über “eine unvernünftige Neigungzu einer Art Verehrung für die Armen (...), die einer Mischung aus Mitleid,Albernheit und Aberglauben entspringt.” 879 In diesen hier zynisch abgewehrtenAnschauungen klingt eine vorkapitalistische Wertüberzeugungnach, die Barmherzigkeit und Sorge für die Armen als oberste ethischeZielsetzung und nicht als Verstoß gegen die individuellen Bereicherungsinteressenansah. Was Mandeville hier als Unvernunft abtut, ist die Vernunft<strong>der</strong> christlich-jüdischen Gerechtigkeitstradition. <strong>Die</strong>se ethische Vernunftist für die liberal-kapitalistische Ökonomie unvernünftig geworden.Sie wird deshalb delegitimiert, um die Vernunft des eigennützigen Interesseszu legitimieren.Erst eine Anthropologie, die Eigennutz zu einer dem Menschen eigentümlichenEigenschaft erklärte und zuließ, konnte den Boden freimachen,auf dem sich eine am Konkurrenzparadigma orientierte Ökonomieentwickeln konnte. <strong>Die</strong> Renaissance stoischen Gedankenguts hat einechristliche Wirtschaftsethik verdrängt, die seit <strong>der</strong> Scholastik ethischeEinschränkungen und korrigierende Eingriffe des Staates kannte, die gerechteVerteilung des Sozialproduktes o<strong>der</strong> den gerechten Preis nichtden Marktkräften überließ, son<strong>der</strong>n an <strong>der</strong> Idee <strong>der</strong> Gerechtigkeit orientierte.880 Adam Smith hat einen ausdrücklichen Gegenentwurf zu einerchristlichen Wirtschaftsethik entwickelt, <strong>der</strong> die ethischen Fesseln sprengensollte, welche die freie Entfaltung <strong>der</strong> Marktkräfte hemmten. 881Der lutherische Theologe Georg Wünsch kennzeichnete zu Recht denOptimismus, wie er sich in <strong>der</strong> ökonomischen Harmonieerwartung <strong>der</strong>“unsichtbaren Hand” nie<strong>der</strong>schlägt, als “einen recht kräftigen Glauben”:“<strong>Die</strong>ser Anschauung liegt <strong>der</strong> religiöse Glaube zugrunde, daß die Vorsehungalle Dinge so geordnet habe, daß, indem jedes seinen Vorteilsucht, es gleichzeitig die Wohlfahrt des Ganzen för<strong>der</strong>t. Damit rückt <strong>der</strong>philosophische und ökonomische Liberalismus wie<strong>der</strong> näher an die Religion,ohne sich freilich immer bewußt zu sein, daß diese Art Optimismusnur durch Glauben, und zwar einen recht kräftigen Glauben, möglich878 Ebd. 93.879 Ebd. 343.880 Bereits im römischen Imperium hatte die Stoa die politischen und wirtschaftlichen Expansionsbestrebungeneiner Marktwirtschaft gestützt. Zur Rehabilitation eines freien Marktes konntedemnach Smith auf eine vorchristliche Weltanschauung zurückgreifen, die bereits in <strong>der</strong> Antikeeinen freien Markt legitimiert hatte. Vgl. die Hinweise von H. Chr. Binswanger auf: M.Pohlenz, <strong>Die</strong> Stoa. Geschichte einer Bewegung, Göttingen 1947 sowie C. ten Brink, <strong>Die</strong> Begründung<strong>der</strong> Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Römischen Republik, Diss. St. Gallen 1994; T. Kopp, <strong>Die</strong>Entdeckung <strong>der</strong> Nationalökonomie in <strong>der</strong> schottischen Aufklärung, Diss. St. Gallen 1995.881 H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Glaubensgemeinschaft <strong>der</strong> Stoa, 50ff.297


ist.” 882 Auch <strong>der</strong> große englische Ökonom John Maynard Keynes merktean, daß die heutigen Nationalökonomen “keine Beziehung mehr zu dentheologischen und politischen Philosophien hätten, aus denen das Dogma<strong>der</strong> Gesellschaftsharmonie entstanden ist.” 883 Und Alexan<strong>der</strong>Rüstow, bedeuten<strong>der</strong> Inspirator <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, prägte denBegriff “Wirtschaftstheologie” 884 , mit dem er eben diese metaphysischenGrundlagen <strong>der</strong> Wirtschaftswissenschaften ansprechen wollte. Er kritisierte,daß seit dem 19. Jahrhun<strong>der</strong>t mehr und mehr in Vergessenheitgeraten sei, daß die liberale Theorie, in deistischer Theologie befangen,die positive Herausarbeitung <strong>der</strong> staatlichen Randbedingungen <strong>der</strong>Marktwirtschaft vernachlässigt habe. 885 Rüstow spricht von dem Glaubenan die prästabilisierte Ordnung als einer “heidnischen, deistischen Theologie”und von einem Deismus, “<strong>der</strong> in Wirklichkeit die antike stoischeMoraltheologie, die stoische Religion” 886 war. Das Christentum stehe mitseinen diesseitsverneinden, pessimistischen und asketischen Strömungenseit Jahrhun<strong>der</strong>ten - so Rüstow - in einem “schärfsten Gegensatz”zur optimistischen, diesseitsbejahenden Erlösungslehre <strong>der</strong> Stoa unddes Liberalismus. 887 Über die Ordnungsvorstellungen des klassischenLiberalismus schreibt Walter Eucken: “Man war von dem Glauben beherrscht,endlich die allein richtige, natürliche, göttliche Ordnung entdecktzu haben und zu verwirklichen.” 888 Der Begrün<strong>der</strong> des Konzeptes <strong>der</strong>Sozialen Marktwirtschaft, Alfred Müller-Armack, kritisierte an <strong>der</strong> liberalenMarktbegründung: “Man sah nicht, daß das Zentrale hier ein Glaubewar, ein handfester, weit über seine rationale Begründung hinausgehen<strong>der</strong>Glaube an die wirtschaftliche Vernunft.” 889 Der christliche Glaubehabe seine Form gewechselt. Auch wenn dieser Glaube sich säkularisierthabe, so habe es einen Zwang gegeben, sich “einem neuen partiellen irdischenWert anzuvertrauen und ihn mit den Qualitäten des höchstenWertes auszustatten.” 890 “Eine weltlich gewendete Glaubenspositionschon von ihrem Ursprung her” nennt Müller-Armack die liberale Theorie882 G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 454.883 J.M. Keynes, Das Ende des Laisser-faire, München 1926, 20, zit. nach: M. Büscher, Gott undMarkt, 123.884 A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 11ff.885 A. Rüstow, Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, in: ORDO, Jahrbuch für die Ordnungvon Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 2, Godesberg 1949, 102f.886 A. Rüstow, Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus in <strong>der</strong> Wirtschafts- und Sozialordnung,in: Christentum und Liberalismus. Studien und Berichte <strong>der</strong> katholischen Akademiein Bayern, Heft 13, München 1960, 155.887 A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 40.888 W. Eucken, Grundsätze <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik, Bern - Tübingen 1952, 27.889 A. Müller-Armack, Das Jahrhun<strong>der</strong>t ohne Gott, in: <strong>der</strong>s., Religion und Wirtschaft. GeistesgeschichtlicheHintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart 1959, 440.890 Ebd. 445.298


und kommt zu <strong>der</strong> Folgerung: “Ihr Harmonieglaube ist nicht wissenschaftlicheEinsicht, son<strong>der</strong>n Gestein aus religiösen Schichten.” 891 In <strong>der</strong>Sozialen Markwirtschaft dagegen will Müller-Armack einen Wirtschaftsstilbegründen, dessen Kennzeichen gerade darin bestehe, daß er nicht aufeinem Glaubensmotiv beruhe. Für den katholischen Sozialethiker EgonEdgar Nawroth ist <strong>der</strong> Glauben an die Wirksamkeit <strong>der</strong> unsichtbarenHand nichts weiter als eine “„Personifizierung‟ jenes „erstaunlichen‟ Mechanismus”892 eines automatischen Ausgleichs von Eigennutz und Gemeinwohl.Rüstow nennt diese Ökonomen, die sich auf das Paradigma <strong>der</strong> unsichtbarenHand beziehen, “Gläubige einer falschen deistischen Theologie”893 und Binswanger spricht von Mitglie<strong>der</strong>n einer “stoischen Glaubensgemeinschaft”894 . Der Liberalismus verfolge zwar das Ziel <strong>der</strong> religiösenSäkularisation und politischen Befreiung, doch zugleich zeigt sicheine Mystifizierung: Das rationale Argument wird durch ein weltanschaulichesersetzt, und an die Stelle einer rationalen Begründung tritt einGlaubensmotiv. <strong>Die</strong> Metapher “unsichtbare Hand” begründet also ein geradezureligiöses Vertrauen auf die Funktionsfähigkeit des Marktes.<strong>Die</strong> Folgen sind weitreichend. <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft versteht sichals eine ökonomische Theorie, die aus <strong>der</strong> Erfahrung mit dem Scheitern<strong>der</strong> freien Marktwirtschaft die alte Lehre des Laisser-faire-Kapitalismusmit ihrem Glauben an die natürliche Harmonie <strong>der</strong> Märkte überwindenwill und die Wettbewerbstheorie auf eine neue Basis stellt. Wettbewerbwerde nicht durch eine prästabilisierte Ordnung von außen vorgegebenund auch nicht von außen garantiert, son<strong>der</strong>n sei eine gesellschaftlicheEinrichtung, die immer wie<strong>der</strong> von neuem nicht zuletzt durch eine ethischeEinbettung hergestellt werden müsse. <strong>Die</strong>se Erkenntnis wird im USamerikanischgeprägten Neoliberalismus wie<strong>der</strong> rückgängig gemacht.Martin Büscher kommt in seiner Analyse <strong>der</strong> religionsgeschichtlichen Ursprüngedieser Haltung zu dem Ergebnis, daß Hayek von den naturtheologischenGrundlagen des Deismus her denke: “Der Markt hat denwohlwollenden Schöpfergott ersetzt.” 895 In <strong>der</strong> neoliberalen Doktrin begegnetman im Argument <strong>der</strong> “unsichtbaren Hand” erneut diesem längstüberwunden geglaubten theologischen Argument des Paläoliberalismus.Ein Kommentar des Herausgebers <strong>der</strong> WirtschaftsWoche, Stefan Baron,illustriert anschaulich, wie das deistische Weltbild des Adam Smith in sä-891 Ebd. 503.892 E.E. Nawroth, <strong>Die</strong> Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalimus, 125.893 A. Rüstow, Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus, 157.894 H. Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Glaubensgemeinschaft <strong>der</strong> Stoa, 56.895 M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “InvisibleHand” in <strong>der</strong> säkularisierten Industriegesellschaft, 128.299


kularer Gestalt weiterhin ungebrochen lebendig ist, ja, verbunden mit <strong>der</strong>Absicht einer Legitimierung neoliberaler Wirtschaftspolitik, <strong>der</strong>zeit einemächtige Renaissance erlebt: “So bewirkt die unsichtbare Hand desMarktes, daß Topmanager, die scheinbar unsozial und egoistisch dieMaximierung des Gewinns und damit ihrer Bezüge verfolgen, gleichzeitigauch das Gemeinwohl mehren.” 896 Lohn- und Einkommensdifferenzenwerden nicht nur mit Verweis auf eine Ausgleich schaffende “unsichtbareHand” wegdefiniert, son<strong>der</strong>n ungewöhnlich hohe Einkommen werdenauch noch zu einer sozialen Wohltat umgedeutet. <strong>Die</strong> Bereicherungssuchtgeht nicht zu Lasten <strong>der</strong> Armen, son<strong>der</strong>n verwandelt sich auf wun<strong>der</strong>sameWeise zu einem Gemeinwohl. Jürgen Jeske von <strong>der</strong> Wirtschaftsredaktion<strong>der</strong> FAZ verweist auf das “schonungslose Walten <strong>der</strong>unsichtbaren Hand” 897 , das alle Versuche, marktwidrig in den Markt einzugreifen,abstrafen und zunichte machen würde. Sozial- o<strong>der</strong> wirtschaftsethischverantwortliches Handeln besteht in <strong>der</strong> Exekution vonSachzwängen, die keiner ethischen Rechtfertigung unterliegen. NachNorbert Walter, Chefökonom <strong>der</strong> Deutschen Bank, hat die “unsichtbareHand” sogar eine zivilisatorische Funktion: “Letztlich ist die „List <strong>der</strong> Natur‟o<strong>der</strong> die „unsichtbare Hand‟ monopolistischem undinterventionistischem Taktieren überlegen (...) <strong>Die</strong>se Prinzipien sind somachtvoll, daß sie den Menschen teils wi<strong>der</strong> seinen eigenen Willen in dieZivilisation führen.” 898 <strong>Die</strong> “unsichtbare Hand” wird hier gleichgesetzt miteiner “List <strong>der</strong> Natur”, also einem natürlichem Prinzip. <strong>Die</strong>se Beispielebelegen, daß neoliberale Ökonomievertreter in ein Wirtschaftsverständniszurückgefallen sind, das gerade nach <strong>der</strong> Weltwirtschaftskrise 1929revidiert werden sollte. Der Harmonieglaube, den die “unsichtbare “Hand”garantiert, macht das eigentliche ideologische Zentrum des Neoliberalismusaus.Auch wenn neoliberale Ökonomen immer wie<strong>der</strong> zur ethischen Begründung<strong>der</strong> Marktökonomie auf die “unsichtbare Hand” des Marktesverweisen und sich in <strong>der</strong> Tradition des Adam Smith glauben, so eignensie sich diese Tradition zu Unrecht an. Martin Büscher nennt folgendeMotive, durch die ein geradezu antagonistisches Bild entsteht: NeoliberaleÖkonomen erwarten eine gesellschaftliche und ökonomische Harmonieals Folge des frei funktionierenden Marktes, während Smith denGlauben an eine prästabilisierte Harmonie als Bedingung für einen funk-896 St. Baron, Unsichtbare Hand, in: WirtschaftsWoche Nr. 21 vom 16.5.1996, 3.897 J. Jeske, <strong>Die</strong> unsichtbare Hand, in: FAZ vom 26.1.1995, 1.898 N. Walter, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, 81.300


tionierenden Markt ansah. 899 Adam Smith verstand das Vertrauen auf die“unsichtbare Hand” als einen Akt, dem Weltenschöpfer Gott die Ehre zugeben. Ohne diesen religiösen Bezug allerdings wird im Denkmodell desfreien Marktes aus dem Akt, Gott die Ehre zu geben, ein Akt, bei welchemdem Markt und seinen Funktionsbedingungen die Ehre gegebenwird. Es hat also eine diametrale Motivverschiebung in <strong>der</strong> Begründung<strong>der</strong> Marktökonomie stattgefunden. Da Smith die Metapher <strong>der</strong> “unsichtbarenHand” einem göttlichen Weltplan zuordnet, ist das Marktgeschehenauch ein Mittel innerhalb einer umfassenden Ordnung. <strong>Die</strong>se Mitteljedoch mutiert ohne diese Einbettung zu einem Selbstzweck und wirdselber zu einem höchsten Ziel, dem alles an<strong>der</strong>e unterzuordnen sei. Dernormative Gehalt <strong>der</strong> Rede von einer “unsichtbaren Hand” zur Begründung<strong>der</strong> Systemlogik eines Marktes, <strong>der</strong> sich selbst reguliert, steckt ineiner Fiktion eines Marktgeschehens, das subjektlos und gänzlich vonethischer Verantwortung losgelöst abläuft. <strong>Die</strong> weltanschauliche und philosophischeFundierung des Marktgeschehens bei Smith wird hier nichtmehr erkannt, son<strong>der</strong>n naturalistisch o<strong>der</strong> mechanistisch verkürzt. Derweltanschaulich begründete Glaube an die “unsichtbare Hand” gibt sichin <strong>der</strong> neoliberalen Doktrin säkular als selbstheilende Marktkräfte aus.Auf diese zu vertrauen, bildet die neoliberale ökonomische Grundüberzeugung,die sich von einer “unsichtbaren Hand” getragen weiß. Das unbedingteVertrauen in die Selbsttätigkeit des Marktes, jene “Demut” 900gegenüber dem “Wun<strong>der</strong>” 901 <strong>der</strong> Marktes, die Hayek lobt, zeichnet dieökonomische Frömmigkeit des religiösen Menschen in <strong>der</strong> Marktreligionaus. Peter Ulrich spricht deshalb auch von einer “Metaphysik des marktwirtschaftlichenSystems” 902 .<strong>Die</strong> Metapher “unsichtbare Hand”, wie sie <strong>der</strong> Neoliberalismus nutzt,ist eine Ideologie <strong>der</strong> organisierten Alternativlosigkeit. Sie for<strong>der</strong>t, Sachzwängeals unausweichlich zu akzeptieren. <strong>Die</strong>se Metapher will eine organisierteAlternativlosigkeit legitimieren, die zwei Folgen zeigt: erstens -handelnde Subjekte werden durch das Reden von <strong>der</strong> “unsichtbarenHand” unsichtbar gemacht; zweitens - enthebt das Wort von <strong>der</strong> “unsichtbarenHand” die Subjekte ihrer Verantwortung und macht alle zu hilflosenOpfern ungestaltbarer Prozessen. Markt und das, was sich aufdem Markt und durch den Markt durchsetzt, erscheint legitim, so daßsich jede verantwortete Rechenschaft erübrigt. <strong>Die</strong> Rede von <strong>der</strong> “un-899 M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “InvisibleHand” in <strong>der</strong> säkularisierten Industriegesellschaft, 135; so auch: E.E. Nawroth, <strong>Die</strong> Sozial- undWirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus, 308.900 F.A. von Hayek, Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, Erlenbach-Zürich 1952, 47.901 Ebd. 116.902 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 144, auch 167.301


sichtbaren Hand” entschuldet. Tatsächliche soziale Unrechtsverhältnissekönnen deshalb guten Gewissens hingenommen werden. In ihrem Kernbricht die Rede von <strong>der</strong> “unsichtbaren Hand” die Aufklärung als einempermanenten Prozeß <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne vorzeitig ab. Der Glaube an die “unsichtbareHand” ist ein Grunddogma <strong>der</strong> neoliberalen Wirtschaftstheorieund begründet den neoliberalen Freiheitsbegriff wirtschaftstheoretisch.Da die Begründungsfigur <strong>der</strong> “unsichtbaren Hand” Relikt einer deistischenTheologie ist, kann sie keine Grundlage für eine wertfreie ökonomischeGesetzmäßigkeit hergeben. Deshalb ist den vermeintlichen Gesetzesdes Marktes auch nicht sachzwanghaft wie Gesetzen <strong>der</strong> NaturBeachtung zu schenken. Religionsgeschichtlichen, philosophischen o<strong>der</strong>weltanschaulichen Ursprungs sind sie, wie die im Markt vermutete “unsichtbareHand”, Teil eines stoischen Glaubenssystems. Nach dem WirtschaftsethikerPeter Ulrich zeigt sich in den neoliberalen Argumentationsmustern“die kryptoreligiöse Tiefenstruktur <strong>der</strong> neoliberalen Marktvergötterung”903 . Wenn diese theologisch-philosophischen Vorgaben undreligionsgeschichtlichen Grundlagen nicht beachtet werden, avanciert <strong>der</strong>Markt von einem Zweck im Sinne des Adam Smith zu einem Selbstzweckinnerhalb neoliberalen Denkens und von einem Teil einer metaphysischenOrdnung zu einem Sachzwang, <strong>der</strong> alternativlos respektiertwerden will.Den neoliberalen Fachökonomen sind die philosophischen Grundlagendes Denkens von Smith kaum mehr bekannt. Noch weniger aberwird das philosophisch-theologische Gedankengebäude als ethischeRechtfertigung für die ökonomischen Annahmen, die nach wie vor zu denGrunddogmen <strong>der</strong> Marktwirtschaft gehören, beachtet. <strong>Die</strong>se weltanschaulicheVorgabe mit den normativen Implikationen bei Smith wirdverkannt und in scheinbar naturgesetzliche Abläufe marktwirtschaftlicherProzesse umgedeutet. <strong>Die</strong> philosophisch-theologisch fundierte Theorieinterpretiert man nun als ganz und gar säkular. Normative und allein religionsgeschichtlichzu erklärende Begründungen für eine Marktwirtschaftbegegnen also gerade dort, wo neoliberale Theoretiker auf naturgegebeneAbläufe verweisen.Markt und Wettbewerb sind keine Mechanismen, die sich selber regeln,son<strong>der</strong>n Gegenstand ethischer Verantwortung. Es kommt also aufein wirtschaftsethisches Verhalten an, bei dem es um eine “Ausschaltungaller Idolbildung im Wirtschaftlichen” 904 geht, wie Müller-Armack sichausdrückte. <strong>Die</strong> Idole o<strong>der</strong> Götzen, vor denen Müller-Armack ausdrücklichwarnte, sind zurückgekehrt. Peter Ulrich nennt es die Aufgabe einer903P. Ulrich, Arbeitspolitik jenseits des neoliberalen Ökonomismus - das Kernstück einer lebensdienlichenSozialpolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften 38 (1997) 139.904 A. Müller-Armack, Das Jahrhun<strong>der</strong>t ohne Gott, 506.302


Wirtschaftsethik, welche die Lektion <strong>der</strong> Geschichte dieses Jahrhun<strong>der</strong>tsmit dem Scheitern des freien Marktes gelernt hat, “Aufklärung gegen denwie<strong>der</strong> auflebenden Marktfundamentalismus, <strong>der</strong> buchstäblich auf <strong>der</strong> altenMarktvergötterung beruht,” 905 zu erbringen. Theologie und Ethik bekommenangesichts dieser Wie<strong>der</strong>geburt <strong>der</strong> Idole und Götzen eineideologiekritische Aufgabe. Wenn sie die religiösen Vorgaben zur Begründung<strong>der</strong> Funktionsfähigkeit des Marktes zum Thema machen, könnensie einen Beitrag zu einem rationalen und analytisch-aufklärendenDiskurs leisten, indem sie einerseits die religionsgeschichtlichen Begründungendes Marktgeschehens freilegen und an<strong>der</strong>erseits auf eine rationaleBegründung dringen. Ein ökonomischer Fatalismus, zu dem die Argumentationmit <strong>der</strong> “unsichtbaren Hand” verleitet will, wird ideologiekritischausgeräumt und zugleich dort handlungsfähig gemacht, wo die Redevon <strong>der</strong> “unsichtbaren Hand” demütige Unterwerfung unter Sachzwängeeinfor<strong>der</strong>n will. Von seinen Ursprungsimpulsen her war <strong>der</strong> Liberalismuseine Bewegung, die von religiöser und politischer Bevormundungbefreien wollte. <strong>Die</strong>ser Emanzipationsimpuls ist jedoch auf halberStrecke steckengeblieben, denn für Adam Smith sind die ökonomischenProzesse keineswegs autonom, son<strong>der</strong>n vielmehr weltanschaulich begründet.Das Sachzwangargument, dem sich nach neoliberaler AnschauungPolitik und Gesellschaft zu unterwerfen haben, baut erneut einenZwang auf, <strong>der</strong> den ursprünglichen Freiheitsimpuls des Liberalismuskonterkariert. Eine theologische Wirtschaftsethik, die den verdeckten religionsgeschichtlichenGrund des neoliberalen Verständnisses des Marktesfreilegt, wird mit dem Gott- und Götzenkriterium ihren ideologiekritischenBeitrag zu einer rational begründeten und aufgeklärten Wirtschaftstheorieleisten können, die religiöser Begründungen zur Mystifikationihrer Markthandlungen nicht bedarf.<strong>Die</strong> Funktionsfähigkeit des Marktes ethisch zu begründen, ist durchausim Sinne von Adam Smith. Anachronistisch ist es allerdings, weiterhinvertrauensvoll auf eine gütige “unsichtbare Hand”, die im Markt waltet,zu rekurrieren. Das Wie<strong>der</strong>aufleben <strong>der</strong> Rede von einer “unsichtbarenHand” zeigt, daß <strong>der</strong> Neoliberalismus auf den Stand des religiös begründetenLiberalismus zurückgefallen ist. Das Glaubensmotiv <strong>der</strong> “unsichtbarenHand” o<strong>der</strong> - wie Alexan<strong>der</strong> Rüstow sagt - “<strong>der</strong> theologischmetaphysischeUrsprungscharakter <strong>der</strong> liberalen Wirtschaftslehre” 906 istin säkularisierter Form zurückgekehrt. Der Neoliberalismus ist also keineswegsneu. Er ist sehr alt und knüpft heute lediglich in säkularer Sprachean <strong>der</strong> weltanschaulich-metaphysischen Begründung des längstüberwunden geglaubten Manchesterliberalismus an.905 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 176.906 A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 48.303


Das Sozial- und Wirtschaftswort <strong>der</strong> Kirchen Für eine Zukunft in Solidaritätund Gerechtigkeit kritisiert einen solchen Ökonomismus: “Dasökonomische Denken tendiert dazu, das menschliche Leben auf dieökonomische Dimension einzuengen und so die kulturellen und sozialenZusammenhänge menschlichen Lebens zu vernachlässigen” (Ziff.129).Das Marktprinzip bekommt eine über ökonomische Wirkungszusammenhängeo<strong>der</strong> Funktionen hinausreichende Geltung und droht alle privatenund gesellschaftlichen Lebensbereiche zu vereinnahmen, indemes allem die Regeln und Rationalitäten des Marktes aufzwingt. Dermarktradikale Neoliberalismus unterscheidet sich von an<strong>der</strong>en marktwirtschaftlichenKonzeptionen durch einen Anspruch, <strong>der</strong> einen gleichsamtotalitären Charakter hat: Das Marktprinzip soll über seinen originärenGeltungsbereich hinaus in allen Lebens-, Kultur- und Gesellschaftsbereichendurchgesetzt werden.8.2.2.5 Totaler MarktDas neoliberale Ökonomieverständnis, das sich dem Sachzwangdenkenunterwirft und keine Alternativen zuläßt, trägt Aspekte des Totalitären insich. Totalitarismus besteht nach Hannah Arendt dort, wo keine Alternativenzugelassen sind. 907 Seit Eric Voegelin und Raymond Aron wird <strong>der</strong>Totalitarismus aber auch als Ausdruck einer Religion gedeutet, die politischenZwecken dient und deshalb Politische Religion genannt wird. 908 Inaufklärerischer und religionskritischer Absicht versteht Raymond Aron totalitäreSysteme insofern als religiös, als sie die mo<strong>der</strong>ne und auchchristliche Scheidung <strong>der</strong> beiden Gewalten Religion und Politik rückgängigzu machen bestrebt sind. 909 Ergebnis <strong>der</strong> Aufklärung ist die Trennungvon Ordnungen <strong>der</strong> Wertsetzungssysteme. Das Modell “Gottesstaat”kennt nur ein Wertesystem, dem sich alle gesellschaftlichen Subsystemeunterzuordnen haben. Wenn <strong>der</strong> Markt mit seinem Wertsetzungssystemsich als ein alle an<strong>der</strong>en Wertsysteme überwölbendes Wertsetzungssystemetabliert, zeichnet sich eine Entwicklung ab, die diese neuzeitlicheErrungenschaft <strong>der</strong> Trennung <strong>der</strong> Ordnungen auflöst. Es kommtzu einer Re-Installierung des Modells “Gottesstaat” unter verän<strong>der</strong>tenVorzeichen: Das allgemeinverbindliche Wertsetzungssystem wird nichtvon <strong>der</strong> Politik auferlegt und definiert, son<strong>der</strong>n selber einem Subsystem,907 H. Arendt, Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft, 593ff.908 H. Maier, Politische Religionen. <strong>Die</strong> totalitären Regime und das Christentum, Freiburg 1995, 9-37.909 Ebd. 29f.304


nämlich dem Markt, untertan. 910 Aus einem Gottesstaat, in dem Religiondas Gemeinwesen definierte, wird ein “Gottesstaat”, in dem die Ökonomiedas Gemeinwesen definiert. Eine zivil-politische Religion wechseltdas Kleid. Sie wird zu einer zivil-ökonomischen Religion. Der WirtschaftswissenschaftlerSiegfried Katterle kritisiert diese Enwicklung zueinem totalen Markt, indem er auf eine religiöse Dimension hinweist. <strong>Die</strong>sinngebende Dimension einer Wohlstandsentwicklung, die durch einebewußte soziale und ökologische Steuerung des Marktes hergestelltwerden müßte, habe man “heute weithin dem zur totalen Institutionvergötzten Markt geopfert.” 9118.2.3 Götzenkritik <strong>der</strong> Hebräischen Bibel im theologischen Erbe8.2.3.1 Biblische Kritik an den GötzenAuch wenn von einem Monotheismus Israels zumindest in vorexilischerZeit nicht gesprochen werden kann, stellt sich die Frage, wie sich die AlleinverehrungJHWHs gerade in Israel entwickeln konnte. Rainer Albertzsieht einen Anhalt zu dieser Entwicklung in Strukturen <strong>der</strong> Jahwereligion,die beim Propheten Hosea als religiöses Schlüsselerlebnis so formuliertwird: “Aber ich, ich bin <strong>der</strong> Herr, dein Gott, seit <strong>der</strong> Zeit in Ägypten; dusollst keinen an<strong>der</strong>en Gott kennen als mich. Es gibt keinen Retter außermir” (Hos 13,4). 912 <strong>Die</strong>se sozial- und religionsgeschichtliche Ausgangskonstellationbeför<strong>der</strong>te die Alleinverehrung JHWHs.Das Gebot <strong>der</strong> Alleinverehrung JHWHs und das Bil<strong>der</strong>verbot müssenvom Exodus her gelesen werden, auf den sich <strong>der</strong> Dekalog in seinemProlog bezieht: “Ich bin JHWH, dein Gott, <strong>der</strong> dich aus Ägypten geführthat, aus dem Sklavenhaus” (Dtn 5,6). Als erstes Gebot wird das Verbotdes Götzendienstes genannt:. “Du sollst neben mir keine an<strong>der</strong>en Götterhaben” (Dtn 5,7). <strong>Die</strong> Formulierung des Ersten Gebotes des Dekalogssetzt die Existenz frem<strong>der</strong>, an<strong>der</strong>er Götter geradezu voraus. Erst seit <strong>der</strong>Exilszeit gibt es nach einer übereinstimmenden Meinung <strong>der</strong> alttestamentlichenWissenschaft einen wirklichen Monotheismus. 913 Nicht einallgemeiner religionstheologischer o<strong>der</strong> kultischer Monotheismus ist fürdie biblische Tradition bedeutsam. Der biblische Monotheismus ist vor al-910 F. Müller u. M. Müller, Macht Markt Sinn? In: dies., Markt und Sinn. Dominiert <strong>der</strong> Markt unsereWerte? Frankfurt 1996, 7-15.911 S. Katterle, <strong>Die</strong> neoliberale Wende zum totalen Markt aus <strong>der</strong> Sicht des Nordens, 63.912 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 98f.913 Vgl. F. Crüsemann, Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit, 43.305


lem ein sozialer Monotheismus. Psalm 82 zeigt, daß JHWH in einer Götterrundeauftritt und die an<strong>der</strong>en Götter nicht kultisch, son<strong>der</strong>n wegen ihrersozialen Ignoranz verstößt. Der biblische Gottesglaube ist darinmonotheistisch, daß er ein sozialer Monotheismus ist, <strong>der</strong> sich an dasRecht <strong>der</strong> Armen bindet. In <strong>der</strong> Religion Israels kann die Lage einer sozialunterdrückten Gruppe zum Zentrum des Gottesbildes werden. 914 Deshalbwird eine Versöhnung JHWHs mit dem Unrecht abgelehnt, das mit“Ägypten”, “Kanaan”, “Mammon” und “fremden Göttern” bezeichnet wird,da diese im Polytheismus soziales Unrecht nicht richteten. Israels Monotheismusist durch eine Leidensfähigkeit am sozialen Unrecht gekennzeichnet.In Auseinan<strong>der</strong>setzung mit Fremdreligionen, die Unrecht undUngerechtigkeit stützen, entwickelte Israel eine polemische und pejorativePosition zu den fremden Göttern. <strong>Die</strong>sen Göttern wird eine wirkendeund wirkliche Kraft abgesprochen, hier einzuschreiten. Beson<strong>der</strong>sDeuterojesaja predigt einen exklusiven Monotheismus, <strong>der</strong> nicht nur dieVerehrung frem<strong>der</strong> Götter ablehnt, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>en Existenz leugnet. DasGebot <strong>der</strong> Alleinverehrung JHWHs ist begründet im Befreiungshandelnund dem Auszug aus Ägypten. Gebotsgehorsam ist Dankbarkeit gegenüberdem Retter. 915 Wenn Israel “keine an<strong>der</strong>en Götter kennt” (Dtn11,28; 13,3.7.14; 29,25), dann will das Deuteronomium mit dieser Formulierungausdrücken, daß Israel neben dem als freiheitsstiftende Beziehunggedachten Gottesverhältnis keine an<strong>der</strong>en Beziehungen hat. <strong>Die</strong>eigene Freiheit, die JHWH zu verdanken ist, würde riskiert durch die Beziehungzu an<strong>der</strong>en Göttern. 916<strong>Die</strong> biblische Kritik an den Götzen und am Götzendienst formuliert daszweite Gebot des Dekalogs mit dem Bil<strong>der</strong>verbot: “Du sollst dir kein Gottesbildnismachen, das irgend etwas darstellt am Himmel droben, auf <strong>der</strong>Erde unten o<strong>der</strong> im Wasser unter <strong>der</strong> Erde” (Dtn 5,8). Das Kultbildverbotvon Ex 20,23 geht in das Bil<strong>der</strong>verbot des Dekalogs ein (Dtn 5,8). Für diealttestamentliche Rede von den Göttern/Götzen ist typisch, daß nichtzwischen ihrer Präsenz im Kultbild und ihrer Existenz unterschieden wird.<strong>Die</strong> biblische Götzenkritik unterstellt eine Identität zwischen Kultbild undGottheit, die dem Selbstverständnis <strong>der</strong> fremden Religion nicht gerechtwird. Vielmehr zeigt sich wie beim Verbot <strong>der</strong> Verehrung frem<strong>der</strong> Götter,daß mit dem Bil<strong>der</strong>verbot das alleinige Befreiungshandeln JHWHs zumAusdruck kommen soll. “Gehört Israels Freiheit zu Gottes Selbstdefinitionund zwar eine in <strong>der</strong> Beziehung zum Gott des Exodus liegende un<strong>der</strong>fahrene Freiheit, dann kann nichts an<strong>der</strong>es zum Offenbarungsmediumwerden. Bei diesem Gott bleiben heißt auch, die in dieser Beziehung er-914 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 11, 569-576.915 Ebd. 336.916 F. Crüsemann, Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit, 46f.306


fahrene Freiheit nicht in einem Bild verdichten.” 917 Erst in nachexilischerZeit kann sich das Bil<strong>der</strong>verbot wie auch <strong>der</strong> AusschließlichkeitsanspruchJHWHs durchsetzen. Für den Deuteronomiker sind Fremdgötter- undBil<strong>der</strong>verbot nahezu identisch. 918 Israels Umgang mit den fremden Götternläßt sich als eine Entwicklung beschreiben: <strong>Die</strong> ursprüngliche Verwendungdes Götzenbegriffs als eines Moments <strong>der</strong> eigenen Identitätswahrungwird zu einem Instrument einer theologischen Ideologiekritik. 919Der biblische Gott ist im Dekalog und ihm verwandten Texten inhaltlichfestgelegt: Es ist ein Gott, <strong>der</strong> sich selbst durch die Befreiung <strong>der</strong> Hebräeraus ägyptischen Verhältnissen definiert, wie <strong>der</strong> Prolog des Dekalogsbegründet (Ex 20,2; Dtn 5,6). Er ist die einzige Freiheitsmacht, und nurdurch die Beziehung zu ihm kann Israel seine Freiheit bewahren. BiblischeGötzenkritik ist deshalb immer von einem mythenkritischen Pathosbegleitet. <strong>Die</strong> geradezu ironische, beißende Götzenkritik bei Jes 44,9-20wirft den Götzenverehrern einen Mangel an “Aufklärung” vor: “Unwissendsind sie und ohne Verstand; denn ihre Augen sind verklebt (...) sie überlegennichts, sie haben keine Erkenntnis und Einsicht” (Jes44,18a.b.,19a). <strong>Dr</strong>astischer läßt sich Götzendienst nicht beschreiben. Mitdem begrifflichen Gegensatz “Gott/Götze” bewahrt die biblische Traditionein Wissen davon, daß Menschen durch das Werk ihrer Hände sich selberentfremden o<strong>der</strong> zu Sklaven ihrer eigenen Werke werden, sich vorihnen beugen o<strong>der</strong> in die Knie gehen können.Erich Fromm verbindet in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> Theologia negativa die AnerkennungGottes mit <strong>der</strong> Ablehnung von Götzen: “die Anerkennung Gottesist grundsätzlich die Negation von Idolen” 920 . In seinen eindrucksvollenAusführungen zur “Götzenproduktion” in Jes 44,9-20; 46,4-7 stellt ereinen Zusammenhang her zwischen Freiheit und Verantwortung einerseitsund Unterwerfung und Demut an<strong>der</strong>erseits. “Wenn das Idol die entfremdeteÄußerung <strong>der</strong> eigenen Kräfte des Menschen ist und wenn dieVerbindung mit diesen Mächten ein unterwürfiges Verhältnis zum Idol ist,so folgt daraus, daß <strong>der</strong> Götzendienst notwendigerweise mit Freiheit undUnabhängigkeit unvereinbar ist.” 921 <strong>Die</strong> Wahrnehmung von Entfremdungund <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand gegen sie reicht weit in die biblische Tradition zurück.Karl Elliger bestätigt in seinem Kommentar zu Jes 44,9-20 diesenaufklärerischen und mythenkritischen Charakter biblischer Götzenkritik:“Bil<strong>der</strong>dienst ist Verehrung eines Geschöpfes anstatt des Schöpfers,917 Ebd. 50f.918 R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1, 337.919 Dem gleichen Anliegen - wenn auch mit an<strong>der</strong>en methodischen und philosophischen Ansätzen- ist Peter Ulrich in seinem Buch “Integrative Wirtschaftsethik” verpflichtet.920 E. Fromm, <strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung Gottes und des Menschen, Zürich 1970, 47.921 Ebd. 51.307


noch dazu eines Geschöpfes, das selbst erst durch ein Geschöpf, denMenschen, zustande kommt. (...) Denn Götter gibt es auch in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nenGesellschaft, Götter in an<strong>der</strong>er Gestalt als damals, aber auch vonMenschenhand gemacht.” 922 Für die biblische Tradition ist die Unterscheidungzwischen <strong>der</strong> Verehrung des wahren Gottes und einer Verehrungvon falschen Götzen leitend. Zusammenfassend läßt sich festhalten,daß die biblische Tradition dasselbe meint, was Gegenstand neuzeitlicherIdeologiekritik ist.Das säkulare Selbstverständnis von Mo<strong>der</strong>ne und Aufklärung schloßmit <strong>der</strong> Absage an die Existenz Gottes auch die Existenz des Gegenbildes,nämlich die Existenz von Götzen, aus. Was in <strong>der</strong> biblischen Traditionmit <strong>der</strong> Antinomie Gott / Götze benannt wird, glaubte man im Zuge<strong>der</strong> Aufklärung als vormo<strong>der</strong>n überwunden zu haben. Doch dadurchwurde zugleich auch jener Referenzrahmen beseitigt, <strong>der</strong> die Existenzvon Götzen überhaupt wahrnehmen konnte. Religion galt als unaufgeklärterRest <strong>der</strong> Menschheitsgeschichte. Mit <strong>der</strong> Aufklärung sollte im Interesse<strong>der</strong> Freiheit ein Aufbruch aus einer mythisch verzauberten Weltangestoßen werden. <strong>Die</strong> biblischen Traditionen kennen eine Tradition<strong>der</strong> Mythenkritik, die den Rationalitätstypus <strong>der</strong> Aufklärung an Radikalitätübertrifft.Erich Fromm nimmt diese mythenkritische Kraft <strong>der</strong> biblischen Traditionenauf, wenn er es eine ideologiekritische Aufgabe nennt, “das Wesen<strong>der</strong> Götzen und des Götzendienstes aufzuzeigen und die verschiedenenGötzen zu identifizieren, die bis zum heutigen Tag in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong>Menschheit verehrt wurden und weiter verehrt werden” 923 . Produktiono<strong>der</strong> Konsum können zu solchen Götzen werden. “Aber weil <strong>der</strong> offizielleGegenstand <strong>der</strong> Verehrung Gott ist, erkennt man die Götzen von heutenicht mehr als das, was sie sind - als reale Objekte menschlicher Verehrung.”924 Der vermeintlichen Säkularität <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne ihre Säkularitätnicht zu glauben wird deshalb zu einer ideologiekritischen und theologischenAufgabe. 925 Wenn Erich Fromm den Gottesgedanken mit Ideologiekritikin einen Zusammenhang bringt, dann steht er in <strong>der</strong> Traditiondes biblischen Gottesgedankens, <strong>der</strong> immer auch sein Gegenteil, denGötzen, mitdachte. Religion bezeichnet keineswegs ein System, dasnotwendigerweise mit einem Gottesbegriff o<strong>der</strong> einem System verbundenist, das sich selber als Religion anerkennt o<strong>der</strong> bezeichnet. Vonzentraler Bedeutung ist, daß in <strong>der</strong> Religion <strong>der</strong> Mensch sich einer frem-922 K. Elliger, Deuterojesaja, 1. Teilband Jes 40,1-45,7, Neukirchen-Vluyn 1978, 440f.923 E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des Alten Testaments und seinerTradition, in: <strong>der</strong>s., Gesamtausgabe Bd. VI., Stuttgart 1989, 112.924 Ebd. 112.925 Vgl. dazu: F. <strong>Segbers</strong>, Wi<strong>der</strong> den Götzen Markt. Athen und Jerusalem im Erbe.308


den Macht anvertraut. Fromm definiert deshalb Religion als “jedes voneiner Gruppe geteilte System des Denkens und Handelns, das dem einzelneneinen Rahmen <strong>der</strong> Orientierung und ein Objekt <strong>der</strong> Hingabe bietet.”926 <strong>Die</strong>se Definition von Religion ist weit genug, alle Phänomene einzubeziehen,bei denen es ein “Objekt <strong>der</strong> Hingabe” gibt. Der Inhalt <strong>der</strong>Hingabe ist keineswegs spezifisch. Objekt können Tiere, Bäume, ein unsichtbarerGott, eine Klasse o<strong>der</strong> eine Partei, Geld, Erfolg, <strong>der</strong> Markto<strong>der</strong> ein Fußballverein sein. Wichtig ist ein Unterscheidungskriterium vonReligion: Religion kann den Hang zur Destruktivität o<strong>der</strong> die Fähigkeitund Bereitschaft zu Liebe und Solidarität för<strong>der</strong>n. Von diesem “Objekt <strong>der</strong>Hingabe” empfängt <strong>der</strong> Verehrer Orientierung. Religion ist deshalb mehrals nur eine Überzeugung von Glaubenssätzen. Sie orientiert Denkenund Handeln. Zu Recht betont Fromm, daß die entscheidende Fragenicht lautet: Religion o<strong>der</strong> nicht? Son<strong>der</strong>n vielmehr: Welche Religion?“För<strong>der</strong>t sie die menschliche Entwicklung, die Entfaltung spezifischmenschlicher Kräfte, o<strong>der</strong> lähmt sie das menschliche Wachstum?” 927Fromm entwickelt also ein Kriterium, das klären soll, ob <strong>der</strong> Mensch sichGott o<strong>der</strong> Götzen anvertraut. <strong>Die</strong> Folgerung lautet: Religion, die dem Lebendient, verehrt Gott; Religion jedoch, die destruktiven Mächten o<strong>der</strong>Todesmächten nutzt, ist Götzendienst. 928 Gott und Götze unterscheidensich wesentlich darin, welchen Anspruch sie an den Menschen erheben.Bei den Götzen bestehe <strong>der</strong> Anspruch nicht in “Liebe und Gerechtigkeit”,son<strong>der</strong>n in “Macht über Menschen” 929 . “Götzendienst verlangt seinemWesen nach Unterwerfung - die Verehrung Gottes dagegen verlangt Unabhängigkeit.”930 Der Gegensatz Gott / Götze steht deshalb biblisch in<strong>der</strong> Dialektik Exodus / Ägypten.Götzenkritik kann zu einer Verführung werden, wenn sie meint, im alleinigenBesitz <strong>der</strong> Wahrheit zu sein. Auch Götzenkritik selber bedarf einerGötzenkritik und muß sich einem Prozeß permanenter Reflexionaussetzen. <strong>Die</strong> Rede von den Götzen muß deshalb vor einem Verbalradikalismusgeschützt werden, <strong>der</strong> nur sich selbst im Besitz <strong>der</strong> Wahrheitdünkt und an<strong>der</strong>e Anschauungen theologisch abqualifiziert. Auch dieGötzenkritik kann also zum Götzen werden. Unterschieden wird mithinnicht nur zwischen Gott und den Götzen wie zwischen gut und böse,son<strong>der</strong>n die theologische Rede von Gott und den Götzen setzt in theologischerSprache eine permanente Götzenkritik in Gang. Dadurch bezieht926 E. Fromm, Haben o<strong>der</strong> Sein, 135.927 Ebd. 135.928 E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, in: <strong>der</strong>s., Gesamtausgabe, Bd. VI - Religion, Stuttgart1989, 248f.; auch: <strong>der</strong>s., Einige post-marxistische und post-freudsche Gedanken über Religionund Religiosität, in: <strong>der</strong>s., Gesamtausgabe, Bd. VI - Religion, Stuttgart 1989, 298f.929 E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, 248.930 E. Fromm, Ihr werdet sein wie Gott, 111.309


sie sich in diesen kritischen Prozeß <strong>der</strong> Kritik auch selber mit ein undbaut einem Fundamentalismus vor. Deshalb ist die Götzenkritik einerGötzenkritik im Interesse <strong>der</strong> Freiheit des Menschen allemal immanent.8.2.3.2 Götzenkritik in <strong>der</strong> theologischen Tradition<strong>Die</strong> mythenkritische Götzenkritik <strong>der</strong> biblischen Tradition ist von <strong>der</strong> Theologie<strong>der</strong> Befreiung wie<strong>der</strong>entdeckt, rezipiert und auf die sozioökonomischenVerhältnisse in Lateinamerika hin neu zur Sprache gebrachtworden. 931 Es gibt in <strong>der</strong> europäischen Theologiegeschichte allerdingseine theologische Traditionslinie des Redens von Gott und denGötzen, die einer aufklärerischen und ideologiekritischen Absicht verpflichtetist. In Martin Luthers theologischem Denken ist <strong>der</strong> Zusammenhangvon Vertrauen, Gott und Mammon von zentraler Bedeutung. Mammonist eine entscheidende Konkurrenzgröße zu Gott. Es fällt jedoch auf,daß diese theologische Argumentation Luthers kaum rezipiert wird, obwohlsie ein ideologiekritisches Potential enthält, das auf Fragen <strong>der</strong> Gegenwarthin ausgelegt werden kann. 932 Nicht zuletzt den lutherischen Kirchendes Südens ist es zu verdanken, die Kirchen des Nordens an diesenLuther und seine Götzenkritik erinnert zu haben. 933 Einige Hinweisekönnen hier genügen, denn Friedrich-Wilhelm Marquardt hat in einerüberwältigenden Fülle von Belegen nachgewiesen, daß Martin Luther diebiblische Redeweise von den Götzen nicht allein auf ein individuellesVerhalten von Personen bezieht, son<strong>der</strong>n auch auf das ökonomischeSystem des Frühkapitalismus angewendet und dieses als götzendienerischqualifiziert hat. Ökonomische Fragen sind in theologischer Hinsichtethisch bedeutsam, gehören aber zunächst in den Zusammenhang <strong>der</strong>Rede von Gott. 934931 Bes. sei erwähnt: H. Assmann u. F.J. Hinkelammert, Götze Markt; H. Assmann u.a. (Hg.), <strong>Die</strong>Götzen <strong>der</strong> Unterdrückung und <strong>der</strong> befreiende Gott; M. Löwy, Der Götze Markt. <strong>Die</strong> Kapitalismuskritik<strong>der</strong> Befreiungstheologie aus marxistischer Sicht, in: J. Moneta u. W. Jacob u. F.<strong>Segbers</strong> (Hg.), <strong>Die</strong> Religion des Kapitalismus. <strong>Die</strong> gesellschaftlichen Auswirkungen des totalenMarktes, Luzern 1996, 106-119.932 Vgl. dazu u.a. H. Barge, Luther und <strong>der</strong> Frühkapitalismus, Gütersloh 1953, 33-40; H. J. Prien,Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen, 1992; U. Duchrow, Weltwirtschaft heute. Ein Feld für BekennendeKirche? München 1986, 79ff.; K. P. Lehmann, Der Mammon ist aller Welt Gott.Rechtfertigungslehre und Kapitalismuskritik bei Martin Luther, in: Lutherische Monatshefte1/1996, 14-16; F.-W. Marquardt, Gott o<strong>der</strong> Mammon. Aber: Theologie und Ökonomie bei MartinLuther, Einwürfe, Bd. 1, München 1983, 176-216; vgl. auch: F. Wagner, Geld o<strong>der</strong> Gott?Zur Geldbestimmtheit <strong>der</strong> kulturellen und religiösen Lebenswelt, Stuttgart 1984.933 Vgl. <strong>Die</strong> Rede des Präsidenten des Lutherishen Weltbundes Gottfried Brakemeier: unten Anm.946.934 F.-W. Marquardt, Gott o<strong>der</strong> Mammon., 183.310


Ausgehend vom ersten Gebot bestimmt die Anithese Gott o<strong>der</strong> MammonLuthers wirtschaftsethisches Denken. Im Großen Katechismus heißtes in <strong>der</strong> bekannten Auslegung zum ersten Gebot: “Ein Gott heißt das,von dem man alles Gute erwarten und bei dem man Zuflucht in allen Nötenhaben soll, so daß „einen Gott haben‟ nichts an<strong>der</strong>es ist, als ihm vonHerzen trauen und glauben; wie ich oft gesagt habe, daß allein das Vertrauenund Glauben des Herzens beide macht: Gott und Abgott. SindGlaube und Vertrauen recht, so ist auch Dein Gott recht; und umgekehrt:wo das Vertrauen falsch und unrecht ist, da ist auch <strong>der</strong> rechte Gottnicht. Denn die zwei gehören zusammen, Glaube und Gott. Woran Dunun (sage ich) Dein Herz hängst und Dich darauf verläßt, das ist eigentlichdein Gott.” 935 Der Mensch kann seinen Glauben und sein Vertrauenauf den “rechten Gott” o<strong>der</strong> auf einen “falschen Gott, den Abgott”, setzen.Ob <strong>der</strong> Mensch an Gott o<strong>der</strong> einen Abgott glaubt, zeigt sich daran, aufwen er faktisch vertraut.In seiner zweiten Katechismuspredigt am 14.9.1528 sagt Martin Luther,daß es Götter gibt, die beanspruchen, Gott zu sein. Doch sie sindfalsche Götter:“Das heißt den einigen Gott haben, daß du von Herzenihm traust und glaubst, denn Trauen und Glauben macht Gott. (...) Jemandtraut auf Gott - solange er es (das Geld, F.S.) hat, ist er befriedigt:durch sein Vertrauen macht er sich Mammon zum Gott.” 936 Auf den <strong>der</strong>Mensch vertraut, den hat er auch durch diesen Akt des Vertrauens zuseinem Gott gemacht.“Es ist mancher, <strong>der</strong> meint, er habe Gott und allesgenug, wenn er Geld und Gut hat; er verläßt und brüstet sich darauf sosteif und sicher, daß er niemand etwas gibt. Siehe: dieser hat auch einenGott, <strong>der</strong> heißt Mammon, das ist Geld und Gut, darauf er all sein Herzsetzt, was auch <strong>der</strong> allergewöhnlichste Abgott auf Erden ist.” 937 Mammonund Gott sind als funktionales Äquivalent nur insofern austauschbar, alsMammon sich eine Funktion aneignet und <strong>der</strong> Mensch auf diesen Mammonsein Vertrauen in einer Weise setzt, die <strong>der</strong> “rechte Glaube” Gottvorbehält und eben nicht dem Mammon zukommen läßt. Ob das Geldzum Gott gemacht wird, hängt nach Luther also von dem vertrauendenVerhalten des einzelnen ab. Falk Wagner kommt deshalb zu demSchluß: “<strong>Die</strong> Konkurrenz von Gott und Geld, die Luther beschreibt, bewegtsich also in <strong>der</strong> Perspektive des personalen Vertrauens und Glaubensund liegt insofern auf <strong>der</strong> Linie <strong>der</strong> überlieferten Einsicht: „Ihr könntnicht Gott dienen und dem Mammon‟ (Matthäus 6,24).” 938935 M. Luther, Der Große und <strong>der</strong> Kleine Katechismus, 9.936 Zit. nach F.-W. Marquardt, Gott o<strong>der</strong> Mammon, 182.937 M. Luther, Der Große Katechismus, 10.938 F. Wagner, Geld o<strong>der</strong> Gott? 102.311


Gott und Mammon als konkurrierende Gottesverständnisse werdenvon Luther als Folie genommen, die klären kann, was und wer Gott o<strong>der</strong>Götze ist. Damit aber wird bei Martin Luther die “Ökonomie (...) zu einemProblem im Bereich <strong>der</strong> Rede von Gott, aus einer ethischen zu einerdogmatischen Frage” 939 . Marquardt hat aus <strong>der</strong> ökonomischen Debattebei Martin Luther die Folgerung gezogen, daß “Luther die Wirtschaftsfragezur Mammonfrage gemacht hat und umgekehrt die Gottesfrage an dieWirklichkeit des Abgotts, des realen Anti-Gottes gebunden hat.” 940Eine theologische Argumentation, die die Gottesfrage mit <strong>der</strong>Mammonfrage verbindet, reicht von Luther über die religiösen Sozialistenund den russisch-orthodoxen Religionsphilosophen Nikolaj Berdijaev 941bis zur Theologie <strong>der</strong> Befreiung 942 und Enzykliken von Papst JohannesPaul II. Einige Zitate sollen diese Traditionslinie belegen: Georg Wünschhat in seiner evangelischen Wirtschaftsethik von einer “Wirtschaftsdämonie”943 gesprochen. Immer dann, wenn Wirtschaft sich verabsolutiere,obgleich sie lediglich ein gesellschaftliches Teilsystem sei, “ist Wirtschaftan die Stelle Gottes getreten”. Der “liberale Kapitalismus ist die geschichtlicheVerkörperung dieser Dämonie. (...) Der Kapitalismus ist von<strong>der</strong> christlichen Ethik her zu beurteilen als ein gewaltiges System <strong>der</strong>Versuchung zur Abgötterei, was man - da er stets seine „ethischen Seiten‟herausstellt - nicht einmal merkt.” In <strong>der</strong> Enzyklika Sollicitudo reisocialis (1988) warnt Papst Johannes Paul II. vor einer “Versuchung zumGötzendienst” (Ziff. 30) und prangert Entscheidungen in Wirtschaft undPolitik an, die in ihrer Gier nach <strong>Prof</strong>it “wahrhafte Formen von Götzendienstverbergen” (Ziff. 37). In <strong>der</strong> Enzyklika Centesimus annus (1991)spricht er von <strong>der</strong> “Gefahr einer „Vergötzung‟ des Marktes” (Ziff. 40) undregistriert, “daß sich eine radikale kapitalistische Ideologie breitmacht, die(...) ihre Lösung in einem blinden Glauben <strong>der</strong> freien Entfaltung <strong>der</strong>Marktkräfte überläßt” (Ziff. 42). <strong>Die</strong> Denkschrift <strong>der</strong> EKD Gemeinwohlund Eigennutz nennt die Überbewertung rein ökonomischer Ziele eine“Vergötzung <strong>der</strong> Wirtschaft” (Ziff. 162). Der Glaubensbrief über die Wirtschaft,den christliche Organisationen in den Nie<strong>der</strong>landen geschriebenhaben, mündet in einem Bekenntnis: “Wir glauben, daß unsere Wirtschaftsordnungsich an <strong>der</strong> menschlichen Habsucht orientiert und darum939 F.-W. Marquardt, Gott o<strong>der</strong> Mammon, 183.940 Ebd. 209.941 N. Berdijaev, Mensch und Technik (Wien 1937), Talheim 1989, 216-218.942H. Assmann u. F. J. Hinkelammert, Götze Markt, 132ff.; H. Assmann, u.a. (Hg.), <strong>Die</strong> Götzen<strong>der</strong> Unterdrückung und <strong>der</strong> befreiende Gott, Münster, 1984.943 G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 475. Emil Brunner verweist darauf, daß wohl PaulTillich den Begriff des Dämonischen , auf die Wirtschaft angewandt, eingeführt habe. Verwendetwurde er auch von Brunners Lehrer L. Ragaz: E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen,634, Anm 17.312


abgöttische Züge trägt.” 944 Der Reformierte Bund in Deutschland hat aufseiner Hauptversammlung 1996 zu einem Anti-Mammon-Programm aufgerufen.Der Reformierte Weltbund hat auf seiner 23. Generalversammlungvom 8.-20. August 1997 in Debrecen, Ungarn, bekräftigt, daß “unsereÖkonomien wie<strong>der</strong> unserem Herrn unterzuordnen” seien: “Wenn wirsagen, daß wir gegen den Mammon sind, dann lehnen wir nicht nur dieGötzen ab, son<strong>der</strong>n wir bekräftigen unser Vertrauen, daß Gott uns zumLeben führen wird.” 945 Aus dieser Einsicht heraus hat <strong>der</strong> ReformierteWeltbund erklärt: “Heute rufen wir zu einem verbindlichen Prozeß <strong>der</strong>wachsenden Erkenntnis, <strong>der</strong> Aufklärung und des Bekennens (processusconfessionis) auf allen Ebenen <strong>der</strong> Mitgliedskirchen des ReformiertenWeltbundes bezüglich wirtschaftlicher Ungerechtigkeit und ökologischerZerstörung auf.” Letztlich wollen diese Argumentationen mit dem Gegensatzpaar“Gott o<strong>der</strong> Götzen”, “Leben o<strong>der</strong> Tod”, die Rede von dem Gottdes Lebens gegen die Götzen des Todes in konkreten ökonomischenund sozialen Verhältnissen plausibel machen. Immer geht es dabei umdie destruktive Beherrschung von Menschen mittels Götzen. Zusätzlichzur sozialen, politischen und ökonomischen Beherrschung wird <strong>der</strong> Götzeals ein weiterer Mechanismus zur Beherrschung des Menschen. Götzenkritikwill über diese ideologischen Mechanismen aufklären. Das biblischeGötzenkriterium, das auch in <strong>der</strong> Theologiegeschichte rezipiertwurde, fungiert deshalb einerseits als Religionskritik, die theologisch argumentiert,und dient an<strong>der</strong>erseits ideologiekritisch <strong>der</strong> Dechiffrierungund Delegitimierung von destruktiver Herrschaft.Jähnichen stellt sich in einen deutlichen Gegensatz zu theologischePositionen, die mit dem Götzenkriterium eine grundlegende Kritik <strong>der</strong> kapitalistischenWirtschaftsweise verbinden wollen. Allenfalls im Kontextpolitischer Diktaturen in Lateinamerika sei eine Götzenkritik berechtigt.Hier rächt es sich, daß Jähnichen auf eine ideologiekritische Analyse <strong>der</strong>verschiedenen Ordnungsgestalten von Marktwirtschaften und beson<strong>der</strong>sdes Neoliberalismus verzichtet. Denn die befreiungstheologische Redevon <strong>der</strong> Götzenkritik bezieht sich keineswegs vorrangig auf totalitäre politischeRegime Lateinamerikas, son<strong>der</strong>n ist eine analytische und ideologiekritischeKategorie, die Theorie und Praxis eines totalitäre Züge tragendenNeoliberalismus mit dem Begriff Götze theologisch zur Sprachezu bringt. 946 Ihren Ursprung hat die befreiungstheologische Rede von den944<strong>Die</strong> Kehrseite <strong>der</strong> Medaille. Ein Glaubensbrief von christlichen Gruppen und Organisationenaus den Nie<strong>der</strong>landen, mit einem Nachwort von F. <strong>Segbers</strong>, Heidelberg, Reihe B Nr. 23 Texteund Materialien <strong>der</strong> FEST, 1995, 58.945 Beschluß Sektion 2, Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung, zit. nach ungedruckten Unterlagendes Reformierten Weltbundes.946 T. Jähnichen, Sozialer Protestantismus und mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftskultur, 35, 46, 163ff., 268f.313


Götzen in <strong>der</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung mit dem ökonomischen System desNeoliberalismus und richtet sich keineswegs gegen eine marktwirtschaftlicheKoordination an sich, son<strong>der</strong>n ausdrücklich gegen eine freie, neoliberaleund insofern kapitalistische Marktwirtschaft. Jähnichen ignoriertjenen sozialethisch entscheidenden Unterschied, <strong>der</strong> gerade <strong>der</strong> Bezugspunkt<strong>der</strong> theologischen Debatte ist, die befreiungstheologische Impulseaufnimmt. Deshalb fällt er hinter den theologischen Stand des Debattezurück. 947Angesichts einer globalen Ökonomie kann es sich eine theologischeSozialethik nicht leisten, national-ökonomisch beschränkt zu denken. EineTheologie, die von <strong>der</strong> Option für die Armen her denkt, wird vielmehrEinsichten von <strong>der</strong> ökonomischen Peripherie aus theologischen und politischenGründen aufnehmen müssen. <strong>Die</strong>ser Standort ist politisch, ökonomischund theologisch bedeutsam, denn an den Rän<strong>der</strong>n werden dieAuswirkungen einer globalen Ökonomie, die vom Zentrum aus gelenktwird, überdeutlich. <strong>Die</strong> Rede vom Götzencharakter einer neoliberalenÖkonomie ist nicht nur für die Län<strong>der</strong> <strong>der</strong> Peripherie bedeutsam und insofernkontextbedingt. Sie verweist auf die Auswirkungen einer Globalisierung,die sich im Zentrum in dieser Weise nicht zeigt, son<strong>der</strong>n eherverhüllt gibt. Gerade deshalb können Theologien des Südens auch Wesentlichesüber die globale Ökonomie im Zentrum aussagen, das Theologieund Sozialethik im Zentrum hören und wahrnehmen sollten.Jähnichens zentraler Einwand ist sozialethischer Natur. Sozialethikmüsse sich auf die Suche nach einem Komparativ und nach graduellverbesserten Lösungen begeben, die durchaus auch Kompromisse einschließe.Doch dies sei auf <strong>der</strong> Folie des Gegensatzpaares Gott undGötze nicht möglich, das nur ein bekenntnishaftes “Entwe<strong>der</strong> - O<strong>der</strong>”kenne. 948 Doch eine Ethik des Komparativs ist nicht einfachhin eine Ethik<strong>der</strong> Alternativlosigkeit, son<strong>der</strong>n vielmehr eine Ethik, die zu <strong>der</strong> Differenzierunganleitet, wie mehr Humanität geför<strong>der</strong>t werden kann und wo Alternativenaus Gründen <strong>der</strong> Humanität gefor<strong>der</strong>t sind. Der Götzengedankeist keine Theologisierung ökonomischer o<strong>der</strong> gesellschaftlicher Sachverhalteund verhin<strong>der</strong>t deshalb nicht einen rationalen Umgang mit ihnen,son<strong>der</strong>n ist eine <strong>der</strong> Theologie zugängliche analytische Kategorie. <strong>Die</strong>Rede vom Götzendienst erfüllt eine kritisch-aufklärerische Funktion, dienicht konstruktive Verantwortung verbauen, son<strong>der</strong>n diese vielmehr theologischformulieren, ermöglichen und inspirieren will. Der biblische Gottesgedankekann als Kritik eines das ganze Wertesystem überwölben-947Ebd. 274. - Jähnichen registriert zwar die befreiungstheologische Differenzierung, nutzt diesejedoch nicht für sein Gesamturteil. Vgl. ebd. 35.948 Ebd. 37.314


den Ökonomismus sowie gegen eine “Kolonisierung <strong>der</strong> Lebenswelt” 949durch die Ökonomie zur Sprache gebracht werden und wird dadurch zueiner theologischen Götzenkritik. Er ist ein Beitrag zur Entkolonisierung<strong>der</strong> Lebenswelt von ökonomischer Dominanz und verweist auf denSachverhalt, daß ökonomische Rationalität im Sinne <strong>der</strong> Neoliberalensich über den Bereich <strong>der</strong> Wirtschaft hinaus auf an<strong>der</strong>e Lebensweltenausdehnt und eine universale, ja totalitäre Geltung beansprucht.<strong>Die</strong>se neoliberale Universalisierung des Marktparadigmas illustriert dieAussage des Wirtschaftswissenschaftlers Wolfram Engels: “Dem Wettbewerbsprinzipunterliegen nicht nur Unternehmen, son<strong>der</strong>n auch Parteien,Kirchen o<strong>der</strong> Forschungsinstitute. Der Markt wird ebenso wie dieMacht, <strong>der</strong> Glaube o<strong>der</strong> die Wahrheit im Wettbewerb gewonnen. Das istdas kulturtragende Prinzip unserer Gesellschaft.” 950 Ein wirtschaftlichesInstrument avanciert hier zu einem kulturtragenden Prinzip, dem alle gesellschaftlichenInstitutionen sich unterwerfen müssen. <strong>Die</strong> Marktwirtschafterweitert sich zu einer Marktgesellschaft, in <strong>der</strong> nur ökonomischeKriterien Geltung haben. Wahrheit, Gerechtigkeit, Forschungsergebnisse,Wettbewerb o<strong>der</strong> ökonomische Effizienz werden auf einer Ebene angesiedelt.<strong>Die</strong> 3. EKD-Studie über Kirchenmitgliedschaft hat auf solcheAspekte hingewiesen. Wenn beispielsweise das ganze Leben einzig umden wirtschaftlichen Erfolg kreise, liege ein religiöses Phänomen vor.Immer wenn dies geschehe, dann gelte Luthers Satz: “Woran du deinHerz hängst, das ist dein Gott.” 951An die Stelle <strong>der</strong> alles bestimmenden Wirklichkeit Gott 952 tritt ein neoliberalesVerständnis von Ökonomie und Gesellschaft, das einen Totalanspruchauf das Gesamt des Lebens, Religion inbegriffen, erhebt undVertrauen, Glauben und Demut gegenüber den universal gültigen Gesetzendes (freien) Marktes einfor<strong>der</strong>t. Der christlich-jüdische Monotheismusgesteht dagegen nur dem einen Gott das Prädikat <strong>der</strong> Universalität zuund entläßt so die Menschen in eine Relativität. Im Interesse <strong>der</strong> Freiheitwird ein Protest erhoben, <strong>der</strong> sich mit dem Gottesgedanken verbindet.Der unbedingte Herrschaftsanspruch des biblischen Gottes ist darin befreiend,daß er die Ansprüche an<strong>der</strong>er Herrscher unter einen letzten Vorbehaltstellt.Im Januar 1998 haben die Schweizer Kirchen ein dem deutschen Vorgangvergleichbares ökumenisches Konsultationsverfahren zur wirtschaftlichenund sozialen Zukunft ihres Landes eröffnet. <strong>Die</strong> Diskussi-949 J. Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981, 522.950 W. Engels, Moral als politische Waffe, in: WirtschaftsWoche Nr. 52 vom 18.12.1992, 126.951K. Engelhardt u. H. von Loewenich u. P. Steinacker, Fremde Heimat Kirche, Gütersloh 1997,zit. nach einem Vorabdruck in: FR Nr. 290 vom 13.12.1997, 10.952 F. Wagner, Geld o<strong>der</strong> Gott? 134.315


onsgrundlage spricht von den “gängigen Mythen” <strong>der</strong> Gesellschaft unddem “Mythos vom reinen Markt”: “Lange haben die westlichen Gesellschaftengeglaubt, sie hätten sich <strong>der</strong> Mythen entledigt. Doch jede Gesellschaft,je<strong>der</strong> Gesellschaftsentwurf bringt eigene Mythen hervor.” 953<strong>Die</strong> Kirchen prüfen die Legitimation <strong>der</strong> neoliberalen Wirtschaftspolitikund Wirtschaftstheorie ideologiekritisch und kommen zu dem Schluß:“Der „reine Markt‟ als gültiges Modell für die wirtschaftliche Wirklichkeit,die Erwartung, dass Wachstum schlechthin die Probleme <strong>der</strong> Zukunftüberwinden werde, sind Mythen - für wahr gehaltene Behauptungen, indie Selbstverständlichkeiten eingepflanzt und so leicht <strong>der</strong> kritischen Prüfungentzogen werden. Sie dienen <strong>der</strong> Rechtfertigung gewisser Verhaltensregelnund weisen bestimmte Massnahmen für Politik und Wirtschaftals scheinbar verbindlich aus - etwa bedingungslose Anpassung an dieGlobalisierung, Deregulierung und Privatisierung schlechthin.” 954 Mit dieseroffiziellen Diskussionsgrundlage <strong>der</strong> Schweizer Bischofskonferenzund des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes liegt erstmalseine ökumenische Erklärung vor, in <strong>der</strong> Kirchen Europas den Mythenbegriffauf die neoliberale Doktrin anwenden und diese dadurch ideologiekritischin einen Zusammenhang mit Religion bringen.8.2.4 Religion des MarktesNach Gottfried Brakemeier, dem früheren Präsidenten des LutherischenWeltbundes, sei die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft keineswegs säkular, son<strong>der</strong>nin ihr werde ein “erbitterter Glaubenskampf” geführt: “Auch in einer nichtreligiösenGesellschaft weiß man sehr wohl, daß Glaube Berge versetzt.Denn was <strong>der</strong> Mensch glaubt, das bestimmt sein Verhalten. Niemand hatdie Menschen fester im Griff wie jemand, <strong>der</strong> ihren Glauben hat. Deshalbkonnte <strong>der</strong> Sozialismus auf Glaubenserziehung nicht verzichten. <strong>Die</strong> ideologischePropaganda war eine Säule des Systems. Im Kapitalismus istes nicht an<strong>der</strong>s. <strong>Die</strong> Wirtschaft wird von Dogmen gesteuert, das heißtvon Bekenntnissätzen. Daß <strong>der</strong> freie Markt die sozialen Probleme wieetwa die Arbeitslosigkeit von allein lösen wird, ist dafür ein Beispiel. (...)Jedenfalls bleibt wahr: Glaube trägt die Welt. <strong>Die</strong> Abwertung des Glaubensist fiktiv. (...) <strong>Die</strong> säkulare Welt ist keineswegs bekenntnislos. Nurhat sie den Hang, ihre Bekenntnisse zu verschleiern.” Daraus ziehtBrakemeier für die Kirche die Folgerung: “Der Kampf gilt nicht dem Un-953 Schweizer Bischofskonferenz u. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund, Welche Zukunftwollen wir? 12.954 Ebd. 14.316


glauben. Unglauben gibt es nicht. Es gibt nur das Nebeneinan<strong>der</strong> vonGlaube und Glaube und die Auseinan<strong>der</strong>setzung zwischen ihnen.” 955 Von<strong>der</strong> Religion des Marktes zu sprechen, hat nicht nur eine ideologiekritischeDimension. Es geht auch um eine hegemoniale Auseinan<strong>der</strong>setzung.Zwischen Glaube und Glaube herrscht ein Konflikt um die Geltungdes Glaubens. Der Glaube an den biblischen Gott gerät in einen Konfliktmit dem Glauben an an<strong>der</strong>e Göttern - auch mit denen des Marktes. WelcherGlaube soll das Sagen haben?Kategorien <strong>der</strong> biblischen Götzenkritik in <strong>der</strong> theologischen Ethik zubeerben bedeutet keineswegs, säkulare Prozesse wie die <strong>der</strong> Ökonomieso zu theologisieren, daß die Sache <strong>der</strong> Ökonomie dadurch undeutlichwürde. Umgekehrt - das biblische Götzenkriterium will einen Beitrag zueiner sachlichen Klärung leisten, denn <strong>der</strong> Götzenbegriff ist ein analytischerBegriff. <strong>Die</strong> Sachfrage lautet: Auf wen o<strong>der</strong> was wird das unbedingteVertrauen in eine gute Zukunft gesetzt? Wer o<strong>der</strong> was ist Objekt <strong>der</strong>Hingabe? Der Götzenbegriff ist demnach die Antwort auf eine Sachfrage.<strong>Die</strong> biblische Götzenkritik erfüllt eine aufklärende Funktion, indem sieklärt, wo <strong>der</strong> Name Gottes für etwas, was nicht Gott ist, benutzt wird.Aufklärung im Erbe des biblischen Götzenkriteriums kann einen objektivenBlick auf die Alltagsreligion geben. Sie demaskiert, wo in einer GesellschaftGötzen als Gott verehrt werden. In <strong>der</strong> Sprache <strong>der</strong> Religion istdas Götzenkriterium <strong>der</strong> Hebräischen Bibel eine analytische Kategorie.Wenn eine theologische Wirtschaftsethik sich also diese Kategorien undEinsichten zu eigen macht, die <strong>der</strong> biblischen Götzenkritik entstammen,dann erfüllt sie eine ideologiekritische Funktion o<strong>der</strong> die “Funktion einerWarnerin”, von <strong>der</strong> Arthur Rich gesprochen hat. 956 Nach Rich ist dietheologische Wirtschaftsethik auf diese Funktion angewiesen, die Menschendavor bewahrt, die “in <strong>der</strong> Wirtschaft unterschwellig ins Spiel gebrachtenund als sachgemäß getarnten Wertorientierungen unbesehen,um nicht zu sagen dogmatisch, zu akzeptieren”.Der religiöse Akt des Vertrauens kann sich auch auf an<strong>der</strong>es als aufGott beziehen. “In unserer eigenen Kultur bilden die monotheistischenReligionen und ebenso atheistische und agnostische Philosophien einendünnen Firnis über die Religionen, die in mancher Beziehung weit „primitiver‟sind als die indianischen, und die als reiner Götzendienst mit denwesentlichen monotheistischen Lehren sogar noch weniger vereinbarsind. Als kollektive und mächtige Form mo<strong>der</strong>nen Götzendienstes findenwir die Anbetung <strong>der</strong> Macht, des Erfolgs und <strong>der</strong> Autorität des Mark-955 G. Brakemeier, Lutherisches Bekenntis in ökumenischer Verantwortung. Vortrag vor <strong>der</strong> 8. Generalsynode<strong>der</strong> VELKD, Lüneburg 1996, 2. - Unveröffentlichtes Manuskript.956 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 76.317


tes.” 957 Ausdrücklich kritisiert Erich Fromm hier ein Verhalten, das sich<strong>der</strong> Autorität des Marktes unterwirft o<strong>der</strong> anvertraut. <strong>Die</strong> Götzen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>neheißen nicht mehr Baal und Astarte, und - das ist gerade in einersich säkular verstehenden Kultur von entscheiden<strong>der</strong> Bedeutung - siegehören nicht zu einer bestimmten fremden “Religion”; ganz im Gegenteil,sie tragen respektable Namen und geben sich rational. 958 <strong>Die</strong>severmeintliche Rationalität o<strong>der</strong> Säkularität erschwert es, diese Mächte als“Götter” im biblischen Verständnis zu durchschauen und in den Alltagsmythenzu erkennen.Ökonomen verwenden theologische Begriffe wie “Demut”, “Wun<strong>der</strong>des Marktes”, “Glaube an den Markt”, “Vertrauen”, “Götzendienst” zurLegitimierung <strong>der</strong> neoliberalen Theorie. <strong>Die</strong>se massierte Verwendungtheologischer Begriffe ist aber nicht nur in einem analogen Sinn zu verstehen,vielmehr handelt es sich um das Phänomen einer Religion, nämlicheiner Religion des Marktes. Von zentraler Bedeutung ist dabei <strong>der</strong>Begriff des Vertrauens, von dem bereits Martin Luther sagte, daß es beidesbegründe: den Glauben an Gott und den an den Abgott. Der beson<strong>der</strong>svon Friedrich August von Hayek immer wie<strong>der</strong> eingefor<strong>der</strong>ten Haltung<strong>der</strong> Demut korrespondiert eine Haltung des Vertrauens. Das LThKsieht “Vertrauen” im Anschluß an Aristoteles und Nikolai Hartmann in“engem Verhältnis zum Wahrheitsethos, dessen Voraussetzung undWirkung es ist. Vertrauen heißt: sich auf den an<strong>der</strong>n verlassen, sich ihmüberlassen, weil man an seine Wohlgesinntheit und Zuverlässigkeitglaubt.” 959 Wie sich das religiöse Bewußtsein von Gott getragen weißund auf Gott vertraut, so soll auch das marktbestimmte Denken auf dieGüte <strong>der</strong> “unsichtbaren Hand” (Adam Smith) des Marktes vertrauen.Vom Vertrauen auf den Markt wird also “Wohlgesinntheit” und “Zuverlässigkeit”erwartet. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich spricht von einem“fast grenzenlosen (Ur-) Vertrauen <strong>der</strong> klassisch-liberalen Ökonomen indie Selbstregulierungskräfte des „freien Marktes‟” 960 . <strong>Die</strong> “unsichtbareHand” des Marktmechanismus wird zu einer steuernden und optimalordnenden Zuverlässigkeit, auf die Verlaß ist. Ihr kann vertraut werden.Wie in <strong>der</strong> Religion Gott dem Einfluß des Menschen entzogen ist, so istauch <strong>der</strong> Markt dem Einfluß des Menschen entzogen. Wenn Menschenalso nur in einer Haltung <strong>der</strong> Demut den Vorgängen des Marktes Vertrauenschenken, dann werden sie gewißlich von dem effizienten Marktmit Wohlfahrtsgewinn belohnt - eben wie von einem guten Gott. “Das957 E. Fromm, Psychoanalyse und Religion, 245.958 E. Fromm, Einige post-marxistische und post-freudsche Gedanken über Religion und Religiosität,299; <strong>der</strong>s., Psychoanalyse und Religion, 292.959 G. Müller, Art. Vertrauen, in: LThK Bd. 10, 2. Aufl. Freiburg 1986, Sp.751.960 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 174.318


Laisser-faire-Prinzip des Adam Smith als „Gott die Ehre geben‟ ist ersetztdurch das Prinzip, dem Markt und seinen Funktionsbedingungen(scheinbar) die Ehre geben zu müssen.” 961 Der Wirtschaftsethiker MartinBüscher nennt es einen Anachronismus, daß eine säkularisierte Marktwirtschaftsich auf Adam Smith bezieht. Der Anachronismus bestehe darin,daß “ <strong>der</strong> Markt vom zweckgebundenen Teil einer höheren Ordnungzum Selbstzweck und selbst zur höheren Ordnung geworden ist. DerMarkt hat den wohlwollenden Schöpfergott ersetzt. <strong>Die</strong> religiös fundierteTheorie ist durch und durch säkular interpretiert. (...) Der Markt ist zurallmächtigen Tiefenstruktur geworden. Der Markt ist die heilende und imHintergrund stehende Instanz <strong>der</strong> sozialen Entwicklung.” 962Enrique Dussel nennt die Verwandlung des Eigeninteresses des einzelnenin eine öffentliche Wohltat einen Vorgang, bei dem es sich “letztenEndes um eine Theologie” handelt, “die die Gegensätze vereint: Esist die „Hand Gottes‟ in seiner Vorsehung, die aus dem Chaos, <strong>der</strong> irrationalenUnordnung (des privaten, egoistischen Eigeninteresses) zwangsläufigund nicht-intentional eine rationalisierte Ordnung (den Markt, den„Raum‟ <strong>der</strong> Universalität) hervorbringt.” 963 Auf je<strong>der</strong> Dollar-Note stehtdas Bekenntnis “In God we trust” . Für den brasilianischen Theologen koreanischerHerkunft Jung Mo Sung hat dieser Aufdruck eine theologischeBedeutung: “Das macht deutlich, daß das Vertrauen in das Geld und denMarkt genauso grundlegend ist wie das Gottvertrauen, denn letztlichwurde <strong>der</strong> Markt in die Sphäre <strong>der</strong> Götter erhoben. Das nennen die Befreiungs-theologenden Götzendienst des Marktes.” 964 Eine Religion trittdort wie<strong>der</strong> auf die Tagesordnung, wo sie gar nicht zu erwarten war: in<strong>der</strong> Theorie <strong>der</strong> neoliberalen Wirtschaftswissenschaften und im Handeln<strong>der</strong> neoliberalen Wirtschaftspraktiker. 965 Walter Benjamin war 1921 einer<strong>der</strong> ersten, <strong>der</strong> im freien Kapitalismus mit seinem Totalanspruch bereitseine Funktion erkannte, die traditionellerweise eben <strong>der</strong> Religion zugeschriebenwurde. “Im Kapitalismus ist eine Religion zu erblicken, d.h. <strong>der</strong>Kapitalismus dient essentiell <strong>der</strong> Befriedigung <strong>der</strong>selben Sorgen, Qualen,Unruhen, auf die ehemals die so genannten Religionen Antwort gaben.”966 Seine Ahnung o<strong>der</strong> Befürchtung unterstreicht diesen funktiona-961 M. Büscher, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smiths und die “InvisibleHand” in <strong>der</strong> säkularisierten Industriegesellschaft, 138f.962 Ebd. 135f.963 E. Dussel, Der Markt aus <strong>der</strong> ethischen Perspektive <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung, 219.964 Jung Mo Sung, Das Böse in <strong>der</strong> Ideologie des freien Marktes, 611.965Vgl. dazu meine Ausführungen in: F. <strong>Segbers</strong>, Gott gegen Gott. Zur Religion des Alltags imKapitalismus (im Erscheinen) sowie <strong>der</strong>s., Kult <strong>der</strong> Ware. <strong>Die</strong> Religion des Marktes unter theologischerKritik, in: Evangelische Kommentare 4/1997, 212-214.966 W. Benjamin, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1986, 100.319


len Aspekt von Religion, <strong>der</strong> sich auf ein Grundvertrauen und eine Bewältigung<strong>der</strong> existentiellen Krisen bezieht.Als Schlußfolgerung über die Verwendung religiöser und theologischerBegriffe zur Begründung des Neoliberalismus ergibt sich: Im Akt desdemütigen Vertrauens als einem genuin religiösen Akt zeigt sich eineStrukturanalogie zwischen dem Vertrauen auf Gott in <strong>der</strong> Religion unddem Vertrauen auf den Markt, eine Strukturanalogie, die von neoliberalenTheoretikern durch die Verwendung religiöser und theologischer Begriffebelegt wird. <strong>Die</strong>se Strukturanalogie erschöpft sich nicht in religionssoziologischeno<strong>der</strong> religionsphänomenologischen Aspekten, son<strong>der</strong>n istin strengem Sinne theologisch zu verstehen. Das Vertrauen auf die Ökonomiedes neoliberalen Marktes ist religiös und real, nicht metaphorischo<strong>der</strong> in einem analogen Sinn als Vertrauen auf einen Götzen und alsGötzendienst zu qualifizieren. <strong>Die</strong>ses gefor<strong>der</strong>te unbedingte Vertrauenwill real und konkret Herrschaft über Menschen absichern.Es ist Aufgabe <strong>der</strong> Theologie und einer theologischen Wirtschaftsethik,diese Strukturanalogie aufzudecken. <strong>Die</strong> Theologie sollte sich deshalbmit <strong>der</strong> Verwendung religiöser Begriffe bei neoliberalen Theoretikernauseinan<strong>der</strong>setzen. Denn diese füllen die Begriffe <strong>der</strong> Religion mit neoliberalenInhalten, um denselben Anspruch an den Menschen legitimierenzu können, den auch die Religion auf den Menschen erhebt. <strong>Die</strong> biblischeGötzenkategorie ist eine analytische Kategorie. Sie kann einen Beitragzur Entmythologisierung ideologischer Rede über den Markt leisten,<strong>der</strong> we<strong>der</strong> dämonisiert noch verteufelt werden soll. Der Markt soll dassein können, was er wirtschaftlich ist: ein effektives Instrument, das aufseine Brauchbarkeit für ein jenseits des Marktes liegendes Ziel kritischanalysiert werden muß. Wo er jedoch mit religiösen Begriffen überhöhtwird, dort muß Theologie ideologiekritisch Einspruch erheben.Der US-amerikanische nobelpreisgeehrte Ökonom Paul A. Samuelsonzog aus dem Scheitern <strong>der</strong> freien Märkte in Theorie und Praxis 1981 dasResümee: “Wir haben vom Baum <strong>der</strong> Erkenntnis gegessen, ein Zurückzum Laissez-faire-Kapitalismus gibt es wohl o<strong>der</strong> übel nicht mehr.” 967Das Urteil stammt aus <strong>der</strong> Zeit vor <strong>der</strong> Wende durch Ronald Reagan undMargaret Thatcher, die Siegfried Katterle eine “Konterrevolution” und einen“Wettlauf in die Vergangenheit” 968 nennt. Es war offensichtlich verfrüht.Ein marktradikaler Neoliberalismus, <strong>der</strong> jede Abweichung vom institutionellenArrangement freier Märkte bekämpft, konnte sich seit Beginn<strong>der</strong> 80er Jahre zunächst in den USA und Großbritannien durchsetzen,hatte aber auch Auswirkungen auf Politik und Wirtschaft auf dem967 P.A. Samuelson, Volkswirtschaftslehre, Bd. 1, 335.968 S. Katterle, <strong>Die</strong> neoliberale Wende zum totalen Markt aus <strong>der</strong> Sicht des Nordens, 47, 63.320


europäischen Festland, das bislang vom Wirtschaftsstil des “RheinischenKapitalismus” geprägt war.321


322


VIERTER TEILWIRTSCHAFTSETHIK UND WIRTSCHAFTSPRAXIS323


9. WIRTSCHAFTSETHISCHE IMPULSEWirtschaft gibt es nur, weil es Menschen gibt; sie ist vom Menschen undfür den Menschen geschaffen. Nach Georg Wünsch ist es Aufgabe <strong>der</strong>Wirtschaftsethik, “<strong>der</strong> Wirtschaft als Mittel ein ethisches Ziel zu setzen”969 . <strong>Die</strong> Wirtschaft ist ein Mittel; Zweck <strong>der</strong> Wirtschaft ist es, dafür zusorgen, daß die Güter bereitgestellt werden, die zu einem guten Lebenund gerechten Zusammenleben dienlich sind. Wohl erstmals wirdLebensdienlichkeit als entscheidendes Maß von Wirtschaft von EmilBrunner in seiner Ethik Das Gebot und die Ordnungen genannt: “<strong>Die</strong><strong>Die</strong>nlichkeit, die Lebensdienlichkeit, ist <strong>der</strong> primäre gottgewollte Zweck<strong>der</strong> Wirtschaft. Damit ist gesagt, daß die Wirtschaft Mittel ist und nichtZweck.” 970 Nicht an<strong>der</strong>s Alexan<strong>der</strong> Rüstow, <strong>der</strong> 1945 solche Zeiten bedauerte,in denen an Selbstverständliches erneut erinnert werden muß:“Da die Wirtschaft um des Menschen willen da ist, und nicht <strong>der</strong> Menschum <strong>der</strong> Wirtschaft willen - was ist das für eine Zeit, in <strong>der</strong> eine solcheSelbstverständlichkeit ausgesprochen werden muß! -, so ist die Vitalsituationdes wirtschaftenden Menschen ein überwirtschaftlicher Wert innerhalb<strong>der</strong> Wirtschaft. <strong>Die</strong> Wirtschaft ist Mittel, die Vitalsituation aberZweck.” 971 <strong>Die</strong> Sozialethiker Arthur Rich und Peter Ulrich haben im Anschlußan Emil Brunner die Lebensdienlichkeit <strong>der</strong> Wirtschaft das ausschlaggebendewirtschaftsethische Kriterium genannt. 972 Das entscheidendeKriterium <strong>der</strong> Ökonomie ist also nicht die Effizienz und nicht die969 G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 427, auch: 363f.970 E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 387.971 A. Rüstow, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtliches Problem, 91.972Rich, Arthur, Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaft aus sozialethischerPerspektive, Bd. 2, Gütersloh 1990, 23; P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 11, 204,225, 334, 369, 430, 432324


Produktivität, son<strong>der</strong>n die Lebensdienlichkeit: Ökonomie soll dem Lebendienlich sein. Deshalb hat sie sich an den Bedürfnissen des Menschenauszurichten und nicht umgekehrt. Wirtschaft ist somit nicht eine Ordnung,die in sich selbst ruht und ihren eigenen, vielleicht sogar quasi natürlichenGesetzen folgen würde. Sie ist funktional zu verstehen, denn sieist ein Mittel zur Erfüllung eines gesellschaftlichen Zweckes.Der Maßstab Lebensdienlichkeit dringt darauf, daß die Kriterien, andenen sich wirtschaftliches Handeln auszurichten hat, nicht aus <strong>der</strong> Wirtschaftselber abgeleitet werden können. Wann immer dies geschieht,besteht ein ökonomistischer Begründungszirkel. <strong>Die</strong> Kategorie <strong>der</strong>Lebensdienlichkeit verweist auf Bil<strong>der</strong>, Vorstellungen und normative Aspektedes guten Lebens und des gerechten Zusammenlebens, die sichauch in <strong>der</strong> Bibel finden. Der Rückgriff auf diese biblische Tradition ist<strong>der</strong> spezifische Beitrag einer theologischen Wirtschaftsethik. Eine an biblischenImpulsen orientierte Wirtschaftsethik wird dabei ihre normativethischeLogik des guten Lebens und <strong>der</strong> Gerechtigkeit, die an den Armenorientiert ist, in einen kritischen Dialog mit <strong>der</strong> normativen Logik desMarktes bringen müssen. <strong>Die</strong> Frage für eine an biblischen Kategorienorientierte theologische Wirtschaftsethik lautet deshalb: Kann die wirtschaftsethischeAufgabe, nämlich <strong>der</strong> Ökonomie ein ethisches Ziel zusetzen, sich von den ethischen Zielen inspirieren lassen, welche die <strong>Tora</strong>in ihrem Umgang mit <strong>der</strong> Ökonomie ihrer Zeit gesetzt hat? <strong>Die</strong> PolitischeÖkonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> hatte mit einer Frage zu tun, mit <strong>der</strong> auch heutigeWirtschaftsethik zu tun hat: Wie ist das Verhältnis zwischen <strong>der</strong> Logik<strong>der</strong> Ökonomie und <strong>der</strong> Logik des Humanums zu bestimmen? In ihremUmgang mit <strong>der</strong> Ökonomie verfolgt die Bibel eine Orientierung an “ethischenZielen” 973 , die zu ihrer Zeit durchaus wirtschaftspraktisch waren.<strong>Die</strong> Politische Ökonomie <strong>der</strong> Bibel muß als eine Ökonomie verstandenwerden, in <strong>der</strong> Solidarität, Recht und Gerechtigkeit die entscheidendenOrientierungen bilden, die jede Letztgültigkeit von ökonomischen Zielenzugunsten einer Logik <strong>der</strong> Humanität außer Kraft setzen. <strong>Die</strong>se Logik <strong>der</strong>Humanität ist eine Vorzugsregel, die den Gesichtspunkten <strong>der</strong>Lebensdienlichkeit einen unbedingten Vorrang einräumt. Das Ethos <strong>der</strong><strong>Tora</strong> steht dabei in einer direkten Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> ökonomischenRationalität. “Das Ethos <strong>der</strong> Solidarität wird gegen diese ökonomischeLogik aufgerufen.” 974 <strong>Die</strong> biblische Rationalität <strong>der</strong> Solidaritätund Gerechtigkeit soll also gegen die ökonomische Rationalität ihr Rechtbehalten und Geltung bekommen. <strong>Die</strong> Frage lautet demnach für einetheologische Wirtschaftsethik: Welche Bedeutung kann diese biblische973 O. Weinberger, <strong>Die</strong> Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, 74.974 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 103.325


Rationalität unter den Bedingungen <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschafthaben?Ethik und Wirtschaft sind nicht voneinan<strong>der</strong> getrennt, son<strong>der</strong>n zweiAspekte des gleichen Sachverhaltes. Wenn die Wirtschaft verschiedenenZwecken folgt, dann verfolgt sie dabei verschiedene ethische Zielsetzungen,denn in den Zwecken sind jeweils unterschiedliche ethischeWerte implizit o<strong>der</strong> explizit enthalten. Darin zeigt sich, daß “alles Ethischeeine sachliche und alles Sachliche eine ethische Komponente” 975 hat, wieArthur Rich das Ineinan<strong>der</strong> von Ethik und den Sachnotwendigkeiten beschreibt.Welche Zwecke verwirklichen nun welche Werte? 976 ArthurRich hat ein wirtschaftsethisches Viereck mit den fundamentalen, humanen,sozialen und ökologischen Zwecken <strong>der</strong> Ökonomie formuliert. Vonentscheiden<strong>der</strong> Bedeutung jedoch ist die Tatsache, daß die Beziehungeninnerhalb dieses Vierecks von Spannungen gekennzeichnet sind. Zunächstgibt es den fundamentalen Zweck <strong>der</strong> Wirtschaft, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> materiellenExistenzsicherung besteht. Der implizite Wert dieses fundamentalenZwecks <strong>der</strong> Wirtschaft besteht darin, Leben zu sichern. Wirtschafthat aber darüber hinaus auch einen humanen Zweck, <strong>der</strong> in <strong>der</strong> Sorgebesteht, daß im Bereich <strong>der</strong> Wirtschaft und <strong>der</strong> Produktion auch Ansprüche<strong>der</strong> Humanität zum Tragen kommen. Humanität <strong>der</strong> Arbeitsverhältnisseist <strong>der</strong> Wert, <strong>der</strong> dem humanen Zweck <strong>der</strong> Wirtschaft entspricht.Wo produziert wird, geht es auch um die ethische Frage <strong>der</strong> Verteilung.Der soziale Zweck <strong>der</strong> Wirtschaft führt zu den Fragen <strong>der</strong> Verteilungsgerechtigkeit.Solidarität und Gerechtigkeit sind die impliziten Werte dessozialen Zwecks <strong>der</strong> Wirtschaft. Wirtschaften hat es immer mit <strong>der</strong> Nutzung<strong>der</strong> Schöpfung zu tun. <strong>Die</strong> ethische Dimension legt die Art undWeise dieser Nutzung offen. Der ökologische Zweck <strong>der</strong> Wirtschaftdringt darauf, das ökonomische Ziel <strong>der</strong> Wohlfahrt des Menschen so zuverfolgen, daß das Wohl <strong>der</strong> außermenschlichen Welt möglichst ungefährdetbleibt. Ethisch bedeutet dies die Preisgabe eines anthropozentrischverengten Verständnisses des menschlichen Verantwortungsbereichszugunsten einer ganzheitlichen, die ökologische Dimension <strong>der</strong>Wirklichkeit einbeziehenden Perspektive. Ökologische Zwecke, die ausschließlichauf den ökologischen Wert achten, können so zum Beispiel inKonflikt mit dem fundamentalen Zweck <strong>der</strong> Wirtschaft geraten, nämlichmaterielle Lebensgrundlagen zu sichern o<strong>der</strong> zu maximieren. Aber auchdas Gegenteil kann <strong>der</strong> Fall sein: Dem fundamentalen Zweck <strong>der</strong> Wirtschaftwird alles an<strong>der</strong>e untergeordnet. Wann immer dies geschieht,herrscht Ökonomismus. <strong>Die</strong> verschiedenen Zwecke müssen in einer975 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 1, 82.976 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 21-43. Wohl im Anschluß an: E. Brunner, Das Gebot und dieOrdnungen, 386-400.326


ausgewogenen Relation zueinan<strong>der</strong> stehen. Der eine Zweck darf sichnicht auf Kosten eines an<strong>der</strong>en durchsetzen. Hinter den Zwecken stehennicht einfachhin bloß abstrakte Absichten. Sie sind zumeist an Absichtenvon Interessengruppen und sozialen Bewegungen gebunden. <strong>Die</strong>Relationalität <strong>der</strong> Zwecke bedingt deswegen auch eine Machtbalance<strong>der</strong>jenigen Interessengruppen, die für die unterschiedlichen Zwecke eintreten.Zielkonflikte zwischen den verschiedenen Zwecken sind nicht zu vermeiden,son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Normalfall. In <strong>der</strong> Suche nach einer Balance <strong>der</strong>Zwecke entfaltet sich eine produktive Dynamik, die den Charakter einermachtförmigen Auseinan<strong>der</strong>setzung annehmen kann. Das ökonomischeSachargument kann daher nicht nur eine interessengeleitete Seite wiedie Wirtschaft für sich beanspruchen und erwarten, daß das von <strong>der</strong>Theologie vorgetragene ethische Argument gegenüber dem ökonomischenzurücktreten muß, indem auf die ökonomische Inkompetenz <strong>der</strong>Theologie verwiesen wird. <strong>Die</strong> Relationalität <strong>der</strong> Zwecke will ein solchesGefälle verhin<strong>der</strong>n, denn das Sachliche und das Ethische sind ineinan<strong>der</strong>verschränkt. <strong>Die</strong>se vier Zwecke <strong>der</strong> Wirtschaft stehen in einem solchenBeziehungsverhältnis zueinan<strong>der</strong>, daß die Relationalität <strong>der</strong> Werte einunabdingbares Kriterium für das Menschengerechte ist und bleibt. 977 DasHumanum läßt sich folglich nicht auf einen einzigen Grundwert zurückführen,son<strong>der</strong>n ergibt sich aus einer ausgeglichenen Konvergenz allerZwecke. Kommt es zu einer Vorherrschaft eines einziges Zweckes zuLasten an<strong>der</strong>er Zwecke, ist nicht nur das Sachgerechte <strong>der</strong> Wirtschaft,son<strong>der</strong>n auch das Humanum gefährdet. Das Humanum und das Sachgerechtein <strong>der</strong> Ökonomie sind nämlich ineinan<strong>der</strong> verschränkt.In Anlehnung an das wirtschaftsethische Viereck von Arthur Rich willich im folgenden in einem wirtschaftsethischen Sechsecks darstellen, wiebiblisch begründete Anliegen und Entscheidungen für das Humanum unddas Sachgerechte in <strong>der</strong> Wirtschaft zur Geltung gebracht werden können.Das biblische Argument mit seinen Einsichten, Werten und Kategorienund das ökonomische Sachargument sollen kritisch integriert werden.Nur so läßt sich ein Fundamentalismus nach zwei Seiten hin verhin<strong>der</strong>n:ein biblischer und ein ökonomischer Fundamentalismus, <strong>der</strong> jeweilsnur seine eigene Rationalität akzeptiert. <strong>Die</strong> Formel von <strong>der</strong> kritischenIntegration des biblisch-ethischen und des ökonomischsachgerechtenArguments beschreibt eine doppelte Aufgabe. Das biblischeArgument muß die Einsichten des Sachgerechten <strong>der</strong> Ökonomieund das Sachgerechte <strong>der</strong> Ökonomie muß die ethischen Einsichten desbiblischen Arguments jeweils kritisch integrieren können. Das vorgelegte977 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 39.327


Konzept eines Sechsecks <strong>der</strong> Wirtschaftszwecke und wirtschaftsethischenWerte kann den Ort beschreiben, wo die Impulse des Menschengerechten<strong>der</strong> Ethik und des Sachgerechten <strong>der</strong> Ökonomie aufeinan<strong>der</strong>treffen.Eine “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” deutet diese wi<strong>der</strong>strebendenKräfte ethisch und sucht über Konflikt und Auseinan<strong>der</strong>setzungeinen ethischen Lernprozeß anzustoßen, <strong>der</strong> politisch ein höheresMaß an Gerechtigkeit und Humanität zu verwirklichen hilft. <strong>Die</strong>se Impulsekönnen keine umfassende Wirtschaftsethik darlegen. Sie weisen jedocheine Richtung für eine solche politisch wirksame und ethisch gehaltvolleInspiration <strong>der</strong> Ökonomie, die spezifische Impulse <strong>der</strong> christlichjüdischenTradition aufnimmt und wirtschaftsethisch übersetzen kann.Eine “Wirtschaftsethik sozialer Bewegungen” nimmt theologisch dasExodus-Motiv auf. Theologisch und wirtschaftsethisch bedeutsam ist,daß <strong>der</strong> Exodus ein Aufbruch <strong>der</strong> Arbeitssklaven aus unwürdigen Arbeitsverhältnissenist. In Erinnerung gehalten, begründet diese Erfahrungmit unwürdigen Arbeitsverhältnissen eine biblische Würdetradition, diegeschichtlich wirksam war und innovativ in je neue sozio-ökonomischeSituationen wirtschaftsethische Impulse geben konnte. Nach <strong>der</strong> Befreiungaus dem “Haus <strong>der</strong> Knechtschaft” (Ex 13,3) ging es darum, Lebenund Wirtschaften so zu organisieren, daß die errungene Freiheit auchunter neuen Bedingungen bewahrt wurde. 978 Durch seine Geschichtehindurch blieb das Volk Israel dieser Grundlinie verpflichtet, “gerade angesichts<strong>der</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung inhumaner wirtschaftlicher und politischerZwänge solche Regeln einzupflanzen, die <strong>der</strong> befreienden SolidaritätGottes und seinem sich daraus ergebenden Anspruch nach mitmenschlichersolidarischer Gerechtigkeit mehr entsprachen” 979 .Eine theologische Wirtschaftsethik wird biblisch begründet jene Themenauswählen, die an <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Schwächeren die Konsequenzenaller Maßnahmen und ökonomischen Entscheidungen beurteilen helfen.980 Wenn sie von den Benachteiligten her argumentiert, dann tut siees mit jenem hermeneutischen Ansatz, den Enrique Dussel “das rationalekritische Kriterium schlechthin” 981 nennt und als kategorischen Imperativformuliert: “Befreie den Armen!” 982 . Wie in Abschnitt 5. dargelegt , befindensich in <strong>der</strong> real existierenden Marktwirtschaft Arbeitnehmer strukturellin einer abhängigen und gegenüber den Kapitaleignern nichtgleichberechtigten Position. <strong>Die</strong> abhängig Beschäftigten sind strukturell978 F. Crüsemann, Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit.979 R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt, 22.980 So F. Hengsbach, Wirtschaftsethik, 72; vgl. dazu den Ansatz von E. Dussel, wie er oben in Abschnitt2.3 diskutiert wurde.981 E. Dussel, Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen “Vielheit” <strong>der</strong> Moralen legitimieren?811; vgl. dazu oben Abschnitt 3.2.982 E. Dussel, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, 64, 83.328


die schwächere Arbeitsmarktpartei. Das Kriterium von Enrique Dussel,wirtschaftsethisch übersetzt, bedeutet, daß <strong>der</strong> Mensch und seine Arbeitals verbindlicher Maßstab einer wertenden Analyse anzusehen sind. Inden “Wirtschaftsethischen Impulsen”, wie sie in den folgenden Abschnittendargestellt werden, wird dieser verbindliche Maßstab auf verschiedeneProblemfel<strong>der</strong> entfaltet.<strong>Die</strong> hier vorgelegten wirtschaftsethischen Impulse stellen den Versuchdar, ausdrücklich biblisch-exegetische Einsichten zu rezipieren und fürdie wirtschaftsethische Reflexion wirksam zu machen. Sie nehmen dieindividualethischen Leitlinien <strong>der</strong> Würde <strong>der</strong> Person (Würde <strong>der</strong> menschlichenArbeit), <strong>der</strong> Würde <strong>der</strong> Person in solidarischen Bezügen (Solidarischarbeiten) sowie des Lebens <strong>der</strong> Menschen in ihrer Mitwelt (Mit <strong>der</strong>Schöpfung versöhnt arbeiten) auf. <strong>Die</strong>se arbeitsethischen Impulse reichenjedoch nicht aus, die Fel<strong>der</strong>, auf denen die Würde <strong>der</strong> Person unddie solidarische Verbundenheit <strong>der</strong> Menschen beschädigt werden, zumThema <strong>der</strong> Gestaltung <strong>der</strong> Wirtschaft zu machen. Deshalb müssen sieauch durch institutionenethische Impulse (Marktwirtschaftliche Effizienznutzen, Sorgsam haushalten, Bereicherung begrenzen) erweitert werden,die die Wirtschaft strukturell gestalten. Individual- undinstitutionenethische Motive sollen so verzahnt und integriert werden,daß eine Verkürzung <strong>der</strong> Wirtschaftsethik allein auf individualethischeAspekte o<strong>der</strong> auf die Rahmenordnung als dem alleinigen Ort <strong>der</strong> Ethikvermieden wird.<strong>Die</strong> Ausführungen in Abschnitt 8.1 haben gezeigt, daß die Väter <strong>der</strong>Sozialen Marktwirtschaft aus einer biblischen Fundierung heraus eineNeuordnung <strong>der</strong> Ökonomie nach dem Desaster des freien Marktes in <strong>der</strong>Weltwirtschaftskrise und dem Hitler-Faschismus haben inspirieren wollen.Das hier vorgelegte Konzept einer theologischen Wirtschaftsethik,die sich an biblischen Kategorien und Einsichten orientiert, geht überTheorie, Geltungsanspruch und Anliegen <strong>der</strong> real existierenden SozialenMarktwirtschaft hinaus. Kann <strong>der</strong> Umgang <strong>der</strong> Bibel mit <strong>der</strong> Ökonomie ihrerZeit einen Beitrag zur Lösung <strong>der</strong> <strong>der</strong>zeitigen globalen Krise <strong>der</strong> Ökonomieleisten? O<strong>der</strong> an<strong>der</strong>s gefragt: Können vom Umgang <strong>der</strong> Bibel mit<strong>der</strong> Ökonomie ihrer Zeit Impulse zu mehr Gerechtigkeit und Humanitätim globalen Markt ausgehen?9.1 Erster wirtschaftsethischer Impuls: Würde <strong>der</strong> menschlichen ArbeitachtenArbeit ist zwar grundlegend für das Menschsein; Arbeit und Menschseinsind aber nicht identisch. Wie geht die biblische Tradition mit dieser Ein-329


sicht um? Was immer biblisch und theologisch über Arbeit zu sagen ist,muß von dem theologischen, sozial- und wirtschaftsethisch bedeutsamenGrunddatum ausgehen: <strong>der</strong> Erfahrung <strong>der</strong> Knechtschaft in Ägyptenund <strong>der</strong> Befreiung durch JHWH aus dieser Lage. Israel schuf sich in <strong>der</strong><strong>Tora</strong> ein Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht, das mit seinen zahlreichensozialen Bestimmungen vor einem Rückfall in ägyptische Verhältnissebewahren will.Der Exodus ist ein Ausgang aus ungerechten Arbeitsverhältnissen inÄgypten und ein Weg in eine Freiheit, die auch am Ort <strong>der</strong> Arbeit real erlebbarwerden soll. <strong>Die</strong>se Freiheit ist jedoch nicht ein für allemal gegeben,son<strong>der</strong>n muß immer wie<strong>der</strong> neu in verän<strong>der</strong>ten geschichtlichen undökonomischen Konstellationen realisiert werden. Deshalb ist die Erinnerungan die Arbeit in Verhältnissen <strong>der</strong> Ungerechtigkeit im SklavenhausÄgypten wichtig. Aus <strong>der</strong> Erinnerung wird ein Ethos lebendig gehalten,das die Verhältnisse <strong>der</strong> Arbeit normativ beurteilen und gestaltenkann. “Gott als <strong>der</strong> Barmherzige begründet ein Ethos <strong>der</strong> Solidarität und<strong>der</strong> Barmherzigkeit mit dem Schwachen in <strong>der</strong> Gesellschaft.” 983<strong>Die</strong> biblische Rede von <strong>der</strong> Gottesebenbildlichkeit des Menschen willden Menschen als Statthalter o<strong>der</strong> Repräsentanten Gottes auf Erdenauszeichnen und seine beson<strong>der</strong>e Nähe zu Gott ausdrücken. 984 Wie <strong>der</strong>altorientalische Götterhimmel, so kannten auch die griechischen Göttereine Zweiteilung - wie im Himmel, so auf Erden. Oben ist Muße, untenPlackerei. An<strong>der</strong>s die Bibel: Sie reißt Arbeit und Ruhe nicht auseinan<strong>der</strong>und teilt Arbeit und Ruhe nicht auf Klassen auf. Der Gott <strong>der</strong> Bibel arbeitetund ruht, nachdem er sein Werk vollendet hat (Gen 2,1f.). <strong>Die</strong> Schöpfungswerkesind in eine Ganzheit <strong>der</strong> Zeit eingeordnet. “<strong>Die</strong> Tage desWirkens haben ihr Ziel in einem Tag, <strong>der</strong> an<strong>der</strong>s ist als sie.” 985 Der Sabbatwird mit <strong>der</strong> Schöpfung gestiftet und als ein Tag verstanden, <strong>der</strong> eineOrdnung wi<strong>der</strong>spiegelt, die mit <strong>der</strong> Schöpfung gegeben ist (Ex 20,11).<strong>Die</strong> Schöpfungserzählung sieht wie das ganze Alte Testament, daß dieArbeit zum Menschsein gehört. Ein Leben ohne Arbeit kann kein volles,erfülltes Leben sein; es wäre kein menschenwürdiges Dasein. Geradeweil Menschen zur Sicherung ihrer Existenz arbeiten müssen, ist dieFrage außerordentlich wichtig, unter welchen Verhältnissen und zu welchemZiel gearbeitet wird. Trotz dieser dem Menschen aufgetragenenArbeiten ist die Arbeit nicht sein Lebens- o<strong>der</strong> Existenzziel. Sein Ziel ist,wie das <strong>der</strong> Schöpfungswerke, hingeordnet auf die Ruhe des siebtenTages. Darin zeigt sich eine Wertentscheidung, die den arbeitendenMenschen schützt. Er ist nicht für die Arbeit da.983 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 85.984 Vgl. C. Westermann, Genesis 1, 203-218.985 C. Westermann, Schöpfung, Stuttgart 1971, 94.330


9.1.1 Arbeit ist keine WareÄgypten ist eine Hochkultur und nach dem Urteil <strong>der</strong> Bibel sehr wohl einLand, “in dem Milch und Honig fließen” (Num 16,13); doch dieses Ägyptenist nach Ex 1,14 ebenso ein Land, in dem die Hebräer durch harteZwangsarbeit unterdrückt werden. Erlittene Zwangsarbeit, nicht die politischeUnterdrückung o<strong>der</strong> die beachtliche ökonomische und kulturelleLeistung des Landes sind die zentrale biblische Deutungskategorie fürÄgypten. <strong>Die</strong> Erfahrungen mit unwürdiger Arbeit in Ägypten werden fürIsrael zu einem Impuls, Bedingungen und Regelungen für eine menschenwürdigeArbeit zu schaffen. Ägyptische Verhältnisse sollen also inIsrael nicht herrschen (Dtn 6,12; 8,14; 17,16). <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> enthält deshalbauch Regulierungen für die sozial- und arbeitsrechtlichen Verhältnisse.Walther Bienert mißt <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gar eine solche Gestaltungskraft zu, daßer schreibt: “Selbst wenn manche Einzelheit unter verän<strong>der</strong>ten Verhältnissennicht kopierbar ist, bleibt das AT doch die größte Sozialordnungskraft<strong>der</strong> vorchristlichen Antike.” 986 Detaillierte Untersuchungenmüßten im einzelnen erst zeigen, ob dieses Urteil zutrifft. 987Einige Hinweise sollen diese Tendenz verdeutlichen. Sklaverei war zurZeit des Zweiten Tempels (515 v. Chr bis 70 n .Chr.) als Institution zwarkeineswegs abgeschafft, son<strong>der</strong>n immer noch verbreitet. Zwischen jüdischenund nicht jüdischen Sklaven wurde jedoch streng unterschieden.988 In Galiläa gab es zur Zeit Jesu keine jüdischen Leibeigenenund auch keine Latifundien mit Sklavenarbeit. 989 Jüdische Sklaven hat esin talmudischer Zeit nur im Sinne zeitlich befristeter Schuldknechtschaftgegeben, während die Sklaven immer nichtjüdischer Herkunft waren.Angesichts dieser Tatsache meint Ben-David, daß es richtiger sei, einzigund allein von Schuldknechten statt von Sklaven zu sprechen. Sklave imVollsinn des Wortes ist allein <strong>der</strong> nicht-jüdische Sklave. 990 Durch vier986 W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel, 112.987<strong>Die</strong> rabbinische Theologie hat diesen Exodus-Impuls weiterverfolgt und in <strong>der</strong> Halacha “einsystematisches Arbeits- und Arbeiterrecht entwickelt, dem bis in die Mo<strong>der</strong>ne kein vergleichbararbeitnehmerfreundliches zur Seite zu stellen war (wie Vertragsrücktritts- und Streikrecht, Arbeitszeitbegrenzung,Ruhetag, Überstundenverbot bei gleichzeitigem Verbot des Lohnniveaudrucks,Gewerkschaftsbildung.” So M. Brocke, Art. Arbeit II. Judentum, in: TRE Bd. 3, 618.988 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 69.989J. Habbe, Palästina zur Zeit Jesu. <strong>Die</strong> Landwirtschaft in Galiläa als Hintergrund <strong>der</strong> synoptischenEvangelien, Neukirchen-Vlyun 1994, 56.66; J. Klausner geht von einer verhältnismäßiggeringen Anzahl von Latifundien aus. J. Klausner, Jesus von Nazareth, 242; auch: J. Jeremias,Jerusalem zur Zeit Jesu, 125ff.990 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 70f.331


Umstände konnten nach Arye Ben-David Juden um die Zeitenwende zuSklaven werden: <strong>Die</strong>bstahl, Schuldsklaverei aus Verschuldung in wirtschaftlicherNot, Verkauf eines Schuldners durch den Gläubiger, Kriegsgefangenschaft.Insgesamt läßt sich sagen, daß die Lage <strong>der</strong> jüdischenArbeiter zur Zeit Jesu besser als die <strong>der</strong> römischen, ägyptischen o<strong>der</strong>babylonischen Arbeiter gewesen ist. 991Der Terminus “Sklave” ist in <strong>der</strong> griechisch-römischen und auch altorientalischenAntike ein juristischer Begriff, <strong>der</strong> jemanden benennt, <strong>der</strong> alsPerson Eigentum eines an<strong>der</strong>en ist. Grundsätzlich an<strong>der</strong>s war dieRechtsstellung des jüdischen Sklaven, denn er war kein Leibeigener.Den rechtlichen Schutz für die jüdischen und nicht-jüdischen Sklaven beschreibtBen-David folgen<strong>der</strong>maßen: “Sie (die Sklaven, F.S) galten alsMenschen und durften von ihrem Herrn nicht beleidigt, mißhandelt o<strong>der</strong>verletzt werden.” 992 <strong>Die</strong> Rechtsentwicklung in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und später auchim Talmud führte dazu, den jüdischen Sklaven als gleichwertigen undfreien Menschen anzusehen und mit Rechten auszustatten. Der Talmudbestimmte: “Der Leib des hebräischen Sklaven wird beim Kauf nicht erworben.”993 Deshalb kommentiert P. Billerbeck die Belegstellen zum Umgangmit Sklaven im Judentum folgen<strong>der</strong>maßen: “Was sein Herr erwarb,war ausschließlich seine Arbeitskraft.” 994 Der jüdische Sklave war imGrunde genommen ein für sechs Jahre verdingter Tagelöhner. JosephKlausner weist aber auf eine Tatsache hin, die das Bewußtsein desSklaven in Israel im Unterschied zu dem des Sklaven in an<strong>der</strong>en antikenGesellschaften nachhaltig prägte. Der jüdische Sklave wußte, daß ernach sechs Jahren frei wurde. 995 <strong>Die</strong> Position des jüdischen Sklaven warrechtlich so geregelt, daß seine personale Würde nicht beschädigt wurde.So regulierte <strong>der</strong> Talmud die Arbeitsbedingungen sehr ausführlich. Erverbot beispielsweise, daß <strong>der</strong> jüdische Sklave Nachtarbeit verrichtenmußte o<strong>der</strong> zu erniedrigenden Arbeiten (wie Badedienste etc.) herangezogenwerden konnte. Darüber hinaus wurde er mit Rechtspositionenausgestattet: Er hatte in Nahrung, Kleidung und Ruhelager Anspruch aufGleichstellung mit seinem Herrn. 996 Der jüdische Sklave war also Träger991 J. Klausner, Jesus von Nazareth, 241.992 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 71.993 BM 99a (Schemuel um 254) und BM 8,3, zit.nach: W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong>Bibel, 110. Dort weitere Belege und Ausführungen zur Rechtsstellung <strong>der</strong> jüdischen Sklaven.994H.L. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, Bd.IV, 2, München 1922-1928, 709, zit. In: W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel, 110.995 J. Klausner, Jesus von Nazareth, 243. Dort auch weitere Ausführungen zur Behandlung nichtjüdischerSklaven und Sklavinnen, die wie “Wertgegenstände o<strong>der</strong> Vieh” gekauft wurden (J.Klausner, Jesus von Nazareth, 244ff.).996so bei: H.L. Strack, P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud undMidrasch, Bd. IV, 2, München 1922-1928, 709, zit. in: W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre332


von eigenen Rechten, seine Würde als menschliche Person blieb vonden arbeitsrechtlichen Umständen, dem Status als Sklave, unberührt.<strong>Die</strong> Rechtsstellung <strong>der</strong> jüdischen Sklaven unterschied sich wesentlichvon dem Sklavenrecht <strong>der</strong> Antike. 997 Während die Rechtstexte des AltenOrients beispielsweise bei Personenschäden unterschieden, ob <strong>der</strong> GeschädigteSklave o<strong>der</strong> ein freier Mensch war, kannte die <strong>Tora</strong> eine solcheUnterscheidung nicht. 998 Nach griechischer Vorstellung führen Sklavenein Leben, das nicht die Bezeichnung menschlich verdient. Deshalbund nicht aus einem gattungsmäßigen Grund wurde den Sklaven dasMenschsein abgesprochen. Im römischen Recht besaß <strong>der</strong> Sklavenhalterdie “vitae necisque potestas” (die Macht, über Leben und Tod zu entscheiden).Nach <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> wurde, an<strong>der</strong>s als im antiken Recht, <strong>der</strong> Sklavenicht nach dem Sachenrecht behandelt. <strong>Die</strong> Rechtsentwicklung führtedazu, daß <strong>der</strong> jüdische “Sklave” kein Leibeigener war, son<strong>der</strong>n in einemArbeitsverhältnis stand, das faktisch dem eines abhängigen Lohnarbeitersgleichkam. Rechtlich blieb <strong>der</strong> hebräische “Sklave” als Person frei.Arye Ben-David spricht angesichts <strong>der</strong> Bestimmungen und Regulierungen<strong>der</strong> Arbeitsverhältnisse davon, daß es ein ausgeprägtes Arbeitsrechtgegeben habe, das ausdrücklich die schwächere Partei am Arbeitsmarktschützte. An<strong>der</strong>s als die benachbarten Ökonomien <strong>der</strong> Antike, diemenschliche Arbeit geringschätzten, ihre Ökonomien auf Sklavenarbeitaufbauten und Sklaven die vollen Bürger- o<strong>der</strong> Menschenrechte, ja sogardas volle Menschsein nicht zubilligen wollten, hat die <strong>Tora</strong> und <strong>der</strong> sieweiterentwickelnde Talmud die Würde des Menschen und seine Zugehörigkeitzur Gesellschaft niemals gänzlich suspendiert o<strong>der</strong> in Frage gestellt.999Sozialethisch ist mit <strong>der</strong> Sklavenfrage die Stellung des Menschen alsSubjekt und seine personale Würde im Arbeitsprozeß angesprochen.Der Hannoveraner Theologe Gerhard Uhlhorn hat schon vor über hun<strong>der</strong>tJahren ähnlich wie die ersten Sozialenzykliken <strong>der</strong> katholischen Kirchegegen die Behandlung <strong>der</strong> menschlichen Arbeit als einer Ware Stellunggenommen. In einer Zeit, die sich ihrer Humanität so brüste, sei dasBewußtsein von Menschenwürde gering, so Gerhard Uhlhorn. “Es ist dieAufgabe <strong>der</strong> Kirche, das Bewußtsein wie<strong>der</strong> zu wecken, daß <strong>der</strong>Mensch, auch <strong>der</strong> geringste, mehr ist als bloße Arbeitskraft, daß er Got<strong>der</strong>Bibel, 110. Dort auch weitere Nachweise und Ausführungen. Vgl. auch A. Ben-David,Talmudische Ökonomie, 69ff.997 Vgl. P. Arzt, “... einst unbrauchbar, jetzt aber gut brauchbar.” (Phlm 11) Das Problem <strong>der</strong> Sklavereibei Paulus, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”,132.998 Vgl. die Rechtssammlung in: E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 75-78.999A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 67.333


tes Ebenbild ist.” 1000 <strong>Die</strong> Weltkirchenkonferenz von Oxford 1937 erklärteim gleichen Sinne: “Im Wirtschaftsprozeß darf darum die Arbeit niemalsals bloße Ware angesehen werden.” 1001 Der Sozialethiker FriedhelmHengsbach spricht diese sozialethische Grundüberzeugung so aus, daßer von einem “Grundwert Arbeit” ausgeht. 1002 Wenn eine theologischeSozialethik sich weigert, die Arbeit <strong>der</strong> Menschen im Produktionsprozeßals Ware o<strong>der</strong> nach dem Sachenrecht zu verstehen, steht sie in <strong>der</strong> Traditionslinieeines biblischen Ethos, das an die Erfahrungen mit Sklavenarbeitunter ägyptischen Verhältnissen erinnert. Christliche Sozialethikkann auf eine lange Tradition verweisen, die sich gegen die liberaleGleichbewertung <strong>der</strong> Arbeit des Menschen mit an<strong>der</strong>en instrumentellenProduktionsfaktoren wendet. Über die Arbeit des Menschen kann aussozialethischer Perspektive nicht als Ware o<strong>der</strong> Produktionsfaktor gesprochenwerden. Sozialethik wird daher wegen <strong>der</strong> Mißachtung <strong>der</strong>anthropologischen Qualität <strong>der</strong> Arbeit Einspruch gegen die ökonomischeRedeweise vom Produktionsfaktor Arbeit erheben.<strong>Die</strong> anthropologische Qualität <strong>der</strong> Arbeit hat für die neoklassischeÖkonomie keine Bedeutung. Sehr deutlich wird dies in <strong>der</strong> neoliberalenDoktrin. Sie stellt Arbeit ordnungspolitisch den an<strong>der</strong>en Produktionsfaktorengleich. Der Kommentar von Wolfram Engels in <strong>der</strong> Wirtschaftswocheillustriert in populär-journalistischer Sprache den Stellenwert von Arbeitim neoliberalen Wirtschaftsverständnis: “In einer Marktwirtschaft geltenfür Arbeit dieselben Gesetzmäßigkeiten wie für Waren. Arbeit wird nurgekauft, wenn ihr Wert für den Unternehmer höher ist als ihr Preis. Ideologenwie Gewerkschafter sehen darin ein Entwürdigung des Menschen.Der Mensch, so sagen sie, sei keine Ware; für Menschen dürfe nicht gelten,was für Blumentöpfe, Apfelsinen o<strong>der</strong> Aluminiumschrott gilt. GegenNaturgesetze gibt es solchen Wi<strong>der</strong>spruch nicht. Wenn ein Mensch ausdem Fenster springt, dann fällt er mit einer Beschleunigung von 9,81m/sec 2 und damit genauso schnell wie ein Blumentopf - ohne daß dieevangelische Soziallehre das je als entwürdigend angeprangert hätte.”1003Vom Standpunkt <strong>der</strong> ökonomischen Rationalität interessiert an Arbeitnur <strong>der</strong> Marktpreis. <strong>Die</strong> Arbeit wird den Gesetzen des Marktes unterworfenund dadurch zur Ware. <strong>Die</strong> Bewertung <strong>der</strong> Arbeit als Ware argumen-1000G. Uhlhorn, Katholizismus und Protestantismus gegenüber <strong>der</strong> socialen Frage (1887), in: G.Uhlhorn, Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover 1990, 238.1001Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht <strong>der</strong> Weltkonferenz von Oxford über Kirche,Volk und Staat, hg. von <strong>der</strong> Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für PraktischesChristentum, Genf 1938, Teil V. A.(iv), 182.1002F. Hengsbach, <strong>Die</strong> Arbeit hat Vorrang. Eine Option katholischer Soziallehre, Mainz 1982, 9-46.1003 W. Engels, Stoppsignal, in: <strong>Die</strong> Wirtschaftswoche Nr. 18 vom 25.4.1986, 144.334


tiert in einer volks- o<strong>der</strong> betriebswirtschaftlichen Logik, die nicht registriert,daß ethisch die Würde <strong>der</strong> menschlichen Arbeit in Frage gestelltwird. Oswald von Nell-Breuning nennt dies den Punkt, in dem am allerschärfstendie Unvereinbarkeit von Neoliberalismus und christlicher Sozialethikzum Vorschein kommt. 1004 Unter Neoliberalismus versteht Oswaldvon Nell-Breuning hier jene wirtschaftspolitische Richtung, zu <strong>der</strong>auch die Soziale Marktwirtschaft zählt. Eine Wirtschaftsordnung, die Arbeitordnungspolitisch den an<strong>der</strong>en instrumentellen Produktionsfaktorengleichstellt, ist nicht wirklich sozial befriedigend. <strong>Die</strong>s gilt auch für die SozialeMarktwirtschaft. Erst dann kann von einer sozial befriedigendenWirtschaftsordnung die Rede sein, wenn ordnungspolitisch die Arbeit ineiner Weise gewertet wird, die dem Subjektcharakter und <strong>der</strong> anthropologischenQualität <strong>der</strong> Arbeit des Menschen gerecht wird.Von einem anthropologisch-personalen Aspekt aus betrachtet, ist dieArbeit des Menschen etwas an<strong>der</strong>es als eine Ware. Sie ist mit <strong>der</strong>menschlichen Person als ihrem Träger untrennbar verbunden. Deshalbtut eine christliche Wirtschaftsethik gut daran, eine Gleichwertigkeit o<strong>der</strong>Gleichrangigkeit unterstellende Redeweise von den ProduktionsfaktorenKapital und Arbeit nicht nur als unsachgemäß abzulehnen. Einer solchenBegrifflichkeit liegen verfälschende Kriterien zugrunde, die elementareAspekte <strong>der</strong> Wirklichkeit verdrängen. Kapital und Arbeit können nicht aufeiner Ebene als gleichwertige Produktionsfaktoren bezeichnet werden.<strong>Die</strong> volkswirtschaftliche Terminologie unterstellt hingegen eine Gleichrangigkeit,gibt aber nur jene dehumanisierende Wertung <strong>der</strong> lebendigenArbeit des Menschen wie<strong>der</strong>, die das tote Kapital mit <strong>der</strong> lebendigen Arbeitgleichsetzt. Arthur Rich sieht deshalb zu Recht die Subjekthaftigkeitdes Menschen angesprochen. Ein Vorrang des Kapitals vor <strong>der</strong> Arbeitwürde die Arbeit unter das Kapital subsumieren und den Menschen alsSubjekt preisgeben. 1005Für die klassische Ökonomie bei Adam Smith und David Ricardo warArbeit prioritär und wurde als Quelle aller wirtschaftlichen Güter verstanden.Das neoklassische ökonomische Denken hat Arbeit vom Zentrum<strong>der</strong> Wertschöpfung an den Rand gedrückt. 1006 Der Bericht an den Club ofRome Wie wir arbeiten werden sieht in <strong>der</strong> Abkehr von einer Werttheorie<strong>der</strong> Arbeit und <strong>der</strong> Hinwendung zu den Begriffen des Nutzens und <strong>der</strong>1004 O. von Nell-Breuning, Kapitalismus und gerechter Lohn, Freiburg 1960, 80.1005 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 86.1006 Das verkehrswirtschaftliche Funktionieren des Marktes mit den Produktionsfaktoren wurdezum erkenntnistheoretischen Ansatz. Für David Ricardo (1772-1823) war die Verteilung nochdas wichtigste Problem. Er suchte alle Produktionsfaktoren auf Arbeit zurückzuführen und sieso zum Verteilungsmaßstab zu machen. Erst seit A. Smith wird Arbeit unter dem Aspekt desMittels interpretiert. Vgl. dazu die Ausführungen bei: F. <strong>Segbers</strong>, Streik und Aussperrung sindnicht gleichzusetzen. Eine sozialethische Bewertung, Köln 1986, 290ff.335


Präferenzen eine Entwicklung, welche dazu geführt habe, daß die Bedeutung<strong>der</strong> Arbeit aus <strong>der</strong> ökonomischen Theorie verdrängt wurde.“Dementsprechend war <strong>der</strong> Bezugspunkt innerhalb des Wirtschaftssystemsnun nicht mehr <strong>der</strong> Produzent, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Konsument.” 1007 Ökonomietheoretischverschwand die spezifische Bedeutung von Arbeit fürden Prozeß <strong>der</strong> Güterherstellung mit <strong>der</strong> Folge, daß die Neoklassik dieProduktionsfaktoren ordnungspolitisch gleichstellte und den Wert <strong>der</strong> Arbeitdes Menschen ignorierte.<strong>Die</strong> Neukonzipierung <strong>der</strong> Arbeitsorganisation in neuen Managementkonzeptenrückt den Menschen wie<strong>der</strong> in den Mittelpunkt des Interesses.Seine kreativen und kommunikativen Fähigkeiten seien im Fordismusungenutzt und ignoriert worden. Wissen und Können, das Potential <strong>der</strong>Mitarbeiter sei besser auszuschöpfen. Hans-J. Bullinger, Leiter desFraunhofer-Instituts für Arbeitswissenschaft und Organisation auf demForum “Mensch - Arbeit - Technik”: “<strong>Die</strong> Mitarbeiter des neuen Unternehmenswerden we<strong>der</strong> als wegzurationalisierende „Störfaktoren‟ einerperfekten Organisation noch als bloßes Rädchen einer Maschinerie gesehen,son<strong>der</strong>n als wertgeschätztes, wesentliches Element des soziotechnischenSystems Unternehmen.” 1008 Der Bericht an den Club ofRome mit dem Titel Wie wir arbeiten werden rückt die Bedeutung desHumankapitals ebenfalls in den Mittelpunkt. 1009 Es sei ein zentraler Produktionsfaktor.“Von diesem Humankapital hängt vor allem unser Wohlstandund <strong>der</strong> von künftigen Generationen ab.” 1010 Mit <strong>der</strong> Stärkung <strong>der</strong>Humanressourcen wird die Achtung <strong>der</strong> Arbeit des Menschen zu einemZentralwert. Verschüttete humane Ansprüche an Arbeit können durch dieReorganisation industrieller Arbeit im Zuge <strong>der</strong> neuen Management-Strukturen erreicht werden. <strong>Die</strong> Neubewertung des bedeutenden Stellenwerts<strong>der</strong> Arbeit und des Menschen darf allerdings die Zwiespältigkeitdieser Konzepte <strong>der</strong> Stärkung des sog. Humankapitals nicht übersehenlassen. Bereits die Bezeichnung “Humankapital” ist allerdings keineswegsso wertfrei, wie sie sich gibt. 1011 <strong>Die</strong> Rede vom Humankapitalmeint, daß zusätzlich zu den fachlichen Qualifikationen auch die kommunikativenund kreativen Fähigkeiten <strong>der</strong> Beschäftigten genutzt werdensollen, und drückt eine Wertentscheidung aus, nach <strong>der</strong> die Wertschätzungdes Wissens und <strong>der</strong> kreativen Fähigkeiten <strong>der</strong> Beschäftigten sich1007O. Giarni u. P.M. Liedke, Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht an den Club of Rome,Hamburg 1998, 46.1008 Zit: in G. Heller, Mensch - Arbeit - Technik. Forum von Gesamtmetall, Handelsblatt Nr. 215vom 4.11.1992, 24.1009 O. Giarni u. P.M. Liedke, Wie wir arbeiten werden, 27.1010 Ebd. 27.1011M. Honecker, Art. Wert, Werte, Werturteilsfreiheit, in: G. En<strong>der</strong>le u.a. (Hg.), Lexikon <strong>der</strong>Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, Sp. 1263.336


aus <strong>der</strong> ökonomischen Verwertung im Rahmen betrieblicher Organisationstrukturenableitet. Der Mensch als ein wertgeschätztes und wesentlichesElement des Produktionssystems erhält diese Achtung aus <strong>der</strong> instrumentellenAbsicht, die wertvolle und teure Ressource Mensch miteben jenen Eigenschaften, die technologisch nicht subsumierbar sind, effektivernutzen zu wollen. <strong>Die</strong> Absicht, Mitarbeiter mit ihren einzigartenFähigkeiten zur Geltung zu bringen, liegt sicherlich im Interesse <strong>der</strong> Beschäftigten,und doch ist zu beachten, daß soziale und humane Aspekteeinerseits und Gesichtspunkte <strong>der</strong> praktischen und ökonomischen Vernunftan<strong>der</strong>erseits sich nicht gänzlich decken, son<strong>der</strong>n sich nur partiellüberschneiden. <strong>Die</strong> Würde <strong>der</strong> menschlichen Person besitzt stets einenWert, <strong>der</strong> nicht auf eine instrumentelle Funktion verengt werden darf.Nachdem die technische Rationalisierung in nicht wenigen Bereichen anein vorläufiges Ende gekommen ist, ergänzen die neuen Managementmethodendie technische Rationalisierung um eine weitere, nämlich arbeitsorganisatorischeRationalisierung. <strong>Die</strong>se arbeitsorganisatorischeRationalisierung ist in sich zwiespältig: die Arbeit des Menschen wird alszusätzliche Ressource für die Rationalisierungsmaßnahmen wertgeschätztund gleichzeitig wird die Reorganisation von Arbeit nicht seltenals tatsächlicher Humanitätsgewinn erlebt. 1012Theologisches Reden in <strong>der</strong> Traditionslinie des Exodus denkt vomMenschen und seiner Arbeit her und sucht <strong>der</strong> Mittelpunktstellung desMenschen eine reale ökonomische, soziale und rechtliche Gestalt zu geben,die <strong>der</strong> Würde des arbeitenden Menschen gerecht wird. Eine amrealen Menschen und seiner Arbeit orientierte Ethik wird alle Formen <strong>der</strong>bloßen Instrumentalisierung menschlicher Arbeit zum Thema machen.1013 Wenn theologische Ethik an mehr Humanität in realen Arbeitsprozesseninteressiert ist, dann wird sie sehr wohl den erlebbaren Zuwachsvon Humanität in <strong>der</strong> Arbeit bejahen, aber auf den zwiespältigenCharakter des Humanitätsfortschrittes aufmerksam machen müssen.9.1.2 Arbeit begründet Rechte1012Vgl. dazu: E. Senghaas-Knobloch u. B. Nagler u.a. (Hg.), Zukunft <strong>der</strong> industriellen Arbeitskultur.Persönliche Sinnansprüche und Gruppenarbeit, Münster 1996.1013 G. Brakelmann, Das Recht auf Arbeit, in: J. Moltmann, Recht auf Arbeit. Sinn <strong>der</strong> Arbeit,München 1979, 9 - 39; <strong>der</strong>s., Arbeit, in: Christlicher Glaube in mo<strong>der</strong>ner Gesellschaft,Teilband 8, Enzyklopädische Bibliothek, hg. von F. Böckle u. F.X. Kaufmann, Freiburg 1980,102 - 135; <strong>der</strong>s., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum1988; M. Volf, Zukunft <strong>der</strong> Arbeit. Arbeit <strong>der</strong> Zukunft. Der Arbeitsbegriff bei Karl Marx undseine theologische Wertung, München , Mainz 1988; Chr. Gremmels u. F. <strong>Segbers</strong>, Am Ort <strong>der</strong>Arbeit.337


<strong>Die</strong> Rechte <strong>der</strong> abhängig Beschäftigten auf Mitbestimmung undMitberatung werden juristisch aus eingeschränkten Eigentumsrechtenabgeleitet. Günter Brakelmann hat auf diese einseitig auf Eigentumsgarantieaufgebaute Grundrechtslegitimierung demokratischer Rechte <strong>der</strong>Mitsprache und Mitbestimmung im Unternehmen hingewiesen: Nach <strong>der</strong>Rechtsordnung ist allein das Eigentum eine Institution, die mit Rechtenausstattet. 1014 Gegen diese auf Verfügung am Eigentum und an Eigentümerrechtengebundene Argumentation wird Sozialethik auf Arbeit alseinem eigenen Rechtsinstitut dringen müssen, das erst <strong>der</strong> hohen anthropologischenBedeutung <strong>der</strong> Arbeit gerecht wird. Es ist <strong>der</strong> enge personaleBezug, <strong>der</strong> die Arbeit zu einer Quelle von Rechten macht, die ebennicht das Ergebnis eingeschränkter Eigentumsrechte sind. In diese Argumentationgeht ein Menschenbild ein, das sich dem hohen Stellenwert<strong>der</strong> Person und seiner Tätigkeit bewußt ist. Arbeit begründet Recht aufArbeit und Rechte aus Arbeit.9.1.3 Recht auf ArbeitDaß <strong>der</strong> menschliche Vollzug <strong>der</strong> Arbeit ein wirtschaftsethisch relevantesAnliegen ist, findet im wichtigsten Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> Bibel, dem Sabbat,seinen Nie<strong>der</strong>schlag (Dtn 5,12-15; Ex 20,8-11). Der Sabbat meintdie Würde <strong>der</strong> menschlichen Arbeit. Er ist eine Einrichtung, die den Arbeitendenschützen will. “<strong>Die</strong> gefor<strong>der</strong>te Ruhe ist das praktizierte Gegenteilvon Sklavenarbeit.” 1015 <strong>Die</strong> durch den Exodus errungene Freiheit sollnicht nur bewahrt werden. Der Sabbat ist <strong>der</strong> Ort, wo diese Freiheit auchpraktiziert wird. Benno Jacob deutet den Sabbat in rabbinischer Tradition:“Laß deine Arbeitstage bereits durch den Gedanken an den Sabbat beherrschtsein und bereite dich auf ihn vor. Ibn Esra: Der Mensch soll stetsdaran denken, welcher Tag <strong>der</strong> Woche ist, damit er den siebenten Tagbeobachte, keine Arbeit zu tun.” 1016 Der Sabbat ist also mehr als nur eineZeit des Ausruhens. Er will die Verhältnisse <strong>der</strong> Arbeit verän<strong>der</strong>n. AdolphStoecker (1835-1909) hat deshalb auch den Sabbat die “magna chartaaller Arbeitenden und Geplagten” 1017 genannt. Der Sabbat ist aus <strong>der</strong>Sicht <strong>der</strong> Arbeitenden eine arbeits- und sozialrechtliche Regulierung, diesich gegen Interessen an einer permanenten Nutzung <strong>der</strong> Arbeitskraftwendet.1014 G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? 318.1015 F. Crüsemann, Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit, 58.1016 B. Jacob, Das Buch Exodus, 572.1017A. Stöcker, Christlich-Sozial, Bielefeld, Leipzig 1885, 311, zit. nach: W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeitnach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel, 91.338


Der Sabbat steht auch für die Einsicht, daß die Arbeitszeit des Menschenkeine Ware darstellt, die an <strong>der</strong> Börse des Marktes gehandeltwerden kann. Deshalb darf sie auch nicht einem wirtschaftlichen Kostenkalkülunterworfen werden. Der Sabbat geht von <strong>der</strong> Grundeinsicht aus,die Ansprüche <strong>der</strong> Ökonomie zu begrenzen. Ökonomie hat nicht dasRecht auf die ganze Zeit des Lebens. Der kollektive Rhythmus von Arbeitund Ruhe drückt diese Einsicht aus. Vom Sabbat ist in <strong>der</strong> Bibel das ersteMal die Rede, als es um das rechte Maß <strong>der</strong> Vorsorge für das Lebengeht (Ex 16,6 ff). Der Sabbat steht im Zusammenhang <strong>der</strong> Frage, obdenn die sechs Tage Arbeit genügen o<strong>der</strong> ob nicht auch dieser freie siebenteTag für die Sicherung des Lebens zur Verfügung stehen müsse.<strong>Die</strong>se Frage klärt die Bibel mit dem Sabbat: <strong>Die</strong> Dinge sollen dem Lebendienen, aber das Leben dient nicht allein dem Besorgen <strong>der</strong> Dinge. Deshalbreicht zum Leben, was in den Tagen zwischen den Sabbaten erwirtschaftetwird. Der Sabbat ist eine sozialethische Wertentscheidung zugunsten<strong>der</strong> Arbeitenden gegen eine Flexibilisierung <strong>der</strong> Arbeit über dieganze Zeit.Der Dekalog sagt im Sabbatgebot ausdrücklich, daß die Arbeitsruhesich auf Herrn, Magd und Knecht bezieht (Dtn 5,14; Ex 20,10). JeglicheDifferenz zwischen Herrn und Knecht wird abgeschafft. <strong>Die</strong> real erfahreneHerrschaft an den Werktagen wird am Sabbat außer Kraft gesetztund in einem wöchentlichen Zyklus nivelliert. “Der Sabbat macht also allegleich, es gibt an ihm keinen Knecht, alle sind frei.” 1018 Während die Antikeeine Verteilung von Arbeit und Ruhe entlang gesellschaftlicher Trennungslinienzwischen oben und unten vornahm, orientierte sich die Bibelan einer Gleichverteilung von Arbeit und Ruhe. Alle sieben Tage hat fürHerrn und Knecht, Magd, Haus und Vieh die Arbeit ein Ende. Der Sabbatpraktiziert eine Umverteilung von Arbeit und Ruhe nach dem Kriterium<strong>der</strong> Gerechtigkeit und nicht nach <strong>der</strong> Positionsstärke auf dem Arbeitsmarkt.Wie sehr den Kirchen selber das Wissen um den humanen, sozialenund auch religiösen Wert des Sonntags verlorengegangen ist, belegt dieEKD-Studie zur Arbeitslosigkeit Solidargemeinschaft von Arbeitendenund Arbeitslosen, in <strong>der</strong> empfohlen wird, “beson<strong>der</strong>e Arbeitsplätze fürdas Wochenende bei vollkontinuierlichem Betrieb anzubieten, also dieZwei-Tage-Woche.” 1019 <strong>Die</strong>ser Vorschlag hat in Kauf genommen, daß eineganze Belegschaft o<strong>der</strong> Schicht aus dem sozialen und gesellschaftlichenLeben (und auch vom sonntäglichen Gottesdienst!) ausgeschlossenworden wäre. Faktisch würde dies nicht allein auf einen Verlust desSonntags für eine kleine Gruppe von Betroffenen hinauslaufen. Der1018 B. Jacob, Das Buch Exodus, 592.1019 Gütersloh 1982, 53.339


Sonntag als ein erwerbsarbeitsfreier Tag wäre tendenziell für die ganzeGesellschaft außer Kraft gesetzt. Der Sonntag lebt nämlich von demGrundgedanken, daß <strong>der</strong> Griff <strong>der</strong> Ökonomie nach <strong>der</strong> ganzen Zeit begrenztwerden soll und die Gesellschaft in einem gemeinsamen Rhythmusvon Arbeit und Ruhe lebt. Im Konflikt zwischen Ansprüchen <strong>der</strong>Ökonomie und den Ansprüchen des Menschen trifft <strong>der</strong> Sabbat eine Entscheidungzugunsten des Menschen. <strong>Die</strong> Schaffung von reinen Wochenendschichtengibt den Ansprüchen <strong>der</strong> Ökonomie nach. Wenn dieserKern des Sabbatgedankens auch nur punktuell suspendiert wird, verliert<strong>der</strong> Sabbat insgesamt seine Bedeutung. <strong>Die</strong> jahrhun<strong>der</strong>tlange Geschichtedes Sabbat war immer begleitet von einem Ringen um ein Transformation<strong>der</strong> Geltung des Sabbatgedankens unter verän<strong>der</strong>ten ökonomischenVerhältnissen. Ausnahmen von dem Grundgedanken <strong>der</strong> Unterbrechungvon Arbeit und <strong>der</strong> Einschränkung <strong>der</strong> Ansprüche <strong>der</strong> Ökonomiehat es immer gegeben. Gerungen werden muß deshalb um die Geltungdes sozialethischen Kerns des Sabbat und um eine konkrete Ausgestaltung,die Ausnahmen begründet und ermöglicht. <strong>Die</strong> Kirchen habenseit <strong>der</strong> EKD-Studie zur Arbeitslosigkeit von 1982 den Wert desSonntags geradezu wie<strong>der</strong> neuentdeckt. Seither haben sich die Kirchenin zahlreichen Erklärungen in die Debatte um den Schutz des Sonntagseingeschaltet. Im Wirtschafts- und Sozialwort bekräftigen sie den Sonntagals “unersetzliches Gut <strong>der</strong> Sozialkultur (...), das nicht zur Dispositiongestellt werden darf” (Ziff. 223).Bereits die Hebräische Bibel berichtet von Wi<strong>der</strong>ständen gegen denSabbat. Schon die älteste Fassung des Gebots <strong>der</strong> Arbeitsruhe betonteigens, auch während <strong>der</strong> Aussaat und <strong>der</strong> Ernte die Arbeit ruhen zu lassen.<strong>Die</strong>ser ausdrückliche Hinweis läßt darauf schließen, daß die Beachtung<strong>der</strong> Arbeitsruhe immer schon umstritten war und keineswegs alsselbstverständlich angesehen werden konnte (Ex 34,21, vgl. auch Jes58,13f.; Am 8,4). Der <strong>Dr</strong>uck auf einen von Erwerbsarbeit freien Tag reichtbis in die Anfänge <strong>der</strong> Industrialisierung zurück und dauert auch heutenoch an. Ab 1820, mit dem Übergang von <strong>der</strong> handarbeitsorientierten zurmaschinenbestimmen Produktionsweise, expandierte die tägliche undwöchentliche Dauer <strong>der</strong> Arbeitszeit. Bis zur Mitte <strong>der</strong> ersten Hälfte des19. Jahrhun<strong>der</strong>ts war <strong>der</strong> Sonntag als arbeitsfreier Tag verschwunden.Der erste Kongreß für die Innere Mission 1848 in Wittenberg for<strong>der</strong>te bereits,die Sonntagsarbeit abzuschaffen. 1850 erstellte <strong>der</strong> preußischeOberkirchenrat ein Gutachten zur Sonntagsarbeit. Erst die Gewerbeordnungvon 1891 erließ ein Arbeiterschutzgesetz, das die Sonntagsruhe340


schützte. 1020 Das Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen nennt denSonntag “ein unersetzliches Gut <strong>der</strong> Sozialkultur” (Ziff. 223): “Der Schutzdes Sonntags ist immer mehr dadurch bedroht, daß ihm ökonomische Interessenvorgeordnet werden.” Als gemeinsame Zeit <strong>der</strong> Familie und fürsoziale Kontakte und als Tag des Herrn mit zentralem religiösen Inhalt ist<strong>der</strong> Sonntag “ein wichtiges kulturelles Gut, das nicht zur Disposition gestelltwerden darf” (Ziff. 223).Der Rhythmus von Arbeit und Ruhe gerät von zwei Seiten unter <strong>Dr</strong>uck:aus einem produktionstechnischen und einem arbeitsorganisatorischenGrund. Für eine Bewertung des produktionstechnischen <strong>Dr</strong>ucks auf erwerbs-und produktionsfreie Zeit ist die prinzipielle Unterscheidung zwischeneiner Arbeit am Sonntag und einer Arbeit für den Sonntag wichtig.<strong>Die</strong>se Unterscheidung führt ein Kriterium ein, das klären kann, welcheArbeiten aus ökonomischen, biologischen o<strong>der</strong> physikalischen Gründenam Sonntag durchgeführt werden müssen und welche Arbeiten für denSonntag unabdingbar sind. Beim technologischen Zwang zu einem vollkontinuierlichenBetrieb ist nach den Gründen zu fragen. Soweit nichtphysikalische o<strong>der</strong> biologische Prozesse einen vollkontinuierlichen Betrieberfor<strong>der</strong>n, liegt kein technischer Sachzwang vor, son<strong>der</strong>n ein technologischerGrund, <strong>der</strong> sich als technischer Sachzwang ausgibt. <strong>Die</strong>serist das Ergebnis von <strong>der</strong> Vorentscheidungen, die in eine Technologieentwicklungeingehen, von <strong>der</strong> Voraussetzung ausgeht, daß die ganzeZeit für die Maschinenlaufzeit zur Verfügung stehe. Ein dem Menschengemäßer Arbeitsrhythmus müßte Arbeit am Sonntag und auch Nachtschichtarbeitauf das erfor<strong>der</strong>liche Mindestmaß reduzieren und gemeinsameZeit ermöglichen. Das Sabbatkriterium gemeinsamer freier Zeitund <strong>der</strong> Begrenzung <strong>der</strong> Zeit für die Ökonomie könnte eine technologiepolitischeInnovation auslösen, die sich am Maß des Menschengerechtenausrichtet. Eine Arbeitszeitpolitik, die jene Vorentscheidung <strong>der</strong> Technologieentwicklungakzeptiert, vollzieht dagegen letztlich nur diese Prämisseund nimmt sich selber die Chance, über Arbeitszeitpolitik auch dieTechnologieentwicklung mitzugestalten.<strong>Die</strong> Arbeitszeit wird als eine Rationalisierungsressource zur Erhöhung<strong>der</strong> Konkurrenzfähigkeit <strong>der</strong> Unternehmen genutzt. Wenn rund um dieUhr und ohne Unterbrechung (an Sonntagen o<strong>der</strong> Feiertagen) gearbeitetwird, werden die letzten Zeitporen zur Produktions- und Maschinenlaufzeit.<strong>Die</strong> arbeitsorganisatorischen Rationalisierungsmaßnahmen zielendarauf, die ganze mögliche Zeit auszunutzen und zu intensivieren. <strong>Die</strong>Zeit des Menschen wird ökonomisiert und in einer betriebswirtschaftli-1020Vgl. dazu die Ausführungen: F. Heckmann, Der Kampf um den freien Sonntag im 19.Jahrhun<strong>der</strong>t, in: H. Przybylski u. J. Rin<strong>der</strong>spacher (Hg.), Das Ende gemeinsamer Zeit. Risikenneuer Arbeitszeitgestaltung und Öffnungszeiten, Bochum 1988, 99-115.341


chen Rechnung lediglich als Konkurrenzfaktor gewertet und einem ökonomischenKalkül unterworfen. Gesellschaftliche Zeit, <strong>der</strong> soziorhythmischeWechsel von Arbeit und Ruhe, kommen in den Griff ökonomischerAnsprüche. Einer Ethik des Ökonomischen, wie sie sich im Griff auf dieletzten freien Zeiträume des menschlichen Lebens ausdrückt, erscheintfreie Zeit nur als entgangene Produktionszeit, letztlich deshalb als ungenutzteZeit.Biblisch steht nicht die Befreiung von <strong>der</strong> Arbeit im Zentrum, son<strong>der</strong>neine Arbeit, die Teil eines erfüllten und gelungenen Lebens ist. Deshalbstehen sich nicht Mühsal und Notwendigkeit <strong>der</strong> Arbeit auf <strong>der</strong> einen Seiteund Freiheit von <strong>der</strong> Arbeit auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Seite gegenüber. Der Gegensatzlautet biblisch: erfülltes Leben in <strong>der</strong> Arbeit versus unwürdigeArbeit. Auf diesem Hintergrund kann die alte For<strong>der</strong>ung des “Rechts aufArbeit” als ein Recht auf ein erfülltes Leben ethisch gedeutet werden.Recht auf Arbeit, in diesem Sinne verstanden, geht über Erwerbsarbeithinaus, ersetzt sie aber nicht. Das Recht auf Arbeit umgreift dann alleTätigkeiten, die in einer Gesellschaft nötig sind und zu <strong>der</strong> ein jedes Gesellschaftsmitgliedseinen Beitrag einbringen muß. Recht auf Arbeitmeint in diesem Sinne mehr als das Recht auf Einkommen, will aber denZusammenhang zwischen Einkommen und Arbeit als Beitrag zur Gesellschaftnicht auflösen und gesellschaftlich asymmetrisch verteilen. DasRecht auf Arbeit gehört in den Zusammenhang eines Rechts auf einemenschenwürdige Existenz, zu <strong>der</strong> auch eine Arbeit gehört, durch die einMitglied <strong>der</strong> Gesellschaft seinen Beitrag für die Gesellschaft einbringt.Das Recht auf Arbeit darf jedoch nicht auf ein Recht verkürzt werden, amMarkt seine Arbeitskraft zu verkaufen. 1021<strong>Die</strong> seit Jahrzehnten beobachtbare Verlagerung <strong>der</strong> Beschäftigungvon Produktions- in <strong>Die</strong>nstleistungstätigkeiten verschränkt (industrielle)Produktionsprozesse und (industrie-bezogene) <strong>Die</strong>nstleistungsprozesseimmer enger. <strong>Die</strong> Würde <strong>der</strong> menschlichen Arbeit ist nicht zu trennenvon dem Problem des humanen Vollzugs <strong>der</strong> Arbeit selbst. Nicht nurmonetäre Entgelte machen eine Arbeit menschlich, son<strong>der</strong>n vorrangig“Arbeitsbedingungen, die ihr die Chancen geben, durch eigene Initiativenund Verantwortung den Produktions- wie den Sozialprozeß selbst zu bestimmen.”1022 Konzepte wie jene <strong>der</strong> Arbeiterselbstverwaltung sindethisch bedeutsam. Wenn Günter Brakelmann es eine Frage <strong>der</strong> Humanität<strong>der</strong> Arbeit und in <strong>der</strong> Arbeit nennt, daß “das perspektivische Ziel einerSelbstorganisation <strong>der</strong> Produzenten” zur Humanität gehört, dann1021 T. Meireis, ”Arbeit macht das Leben süß...”, in: J. Becker (Hg.), Ethik in <strong>der</strong> Wirtschaft, Stuttgart,Berlin 1996, 170.1022G. Brakelmann, Zur anthropologischen und sozialphilosophischen Struktur <strong>der</strong> Gestaltungskonzepteindustrieller Arbeitswelt, in: <strong>Die</strong> Mitarbeit 31 (1982) 323.342


formuliert er eine Wertentscheidung, die biblische Anhaltspunkte hat.Frank Crüsemann sieht in <strong>der</strong> Sozialgesetzgebung des Deuteronomiumein solches Vorhaben: “<strong>Die</strong> Möglichkeiten, sich die von an<strong>der</strong>en erarbeitetenProdukte o<strong>der</strong> die Produzenten selbst anzueignen, werden entscheidendeingeschränkt.” 1023 Daß Produzenten in den Genuß ihrer Arbeitkommen, ist eine Perspektive, die auch im Psalm ausgesprochenwird. “Was deine Hände erwarben, kannst du genießen” (Ps 128,2). <strong>Die</strong>Arbeit des an<strong>der</strong>en sich nicht anzueignen, Autonomie und Selbstbestimmungsind Aspekte von Humanität. Humanisierung ist deshalb sozialethischmehr als die bloße Anpassung <strong>der</strong> Technik und <strong>der</strong> technologischenAusstattungen an den Menschen. Humanisierung <strong>der</strong> Arbeit betrifftauch strukturelle Rahmenbedingungen <strong>der</strong> Produktion und <strong>der</strong> Besitzverhältnisse.Theologische Wirtschaftsethik kann auf eine jahrtausendealteTradition des Ringens um Arbeitsverhältnisse verweisen, dieEntfremdung und Trennung <strong>der</strong> Arbeitenden von ihren Produkten aufhebt.Humanisierung <strong>der</strong> Arbeit reicht deswegen über technische und arbeitsorganisatorischeAspekte hinaus. In Zeiten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit entstehtoft ein Konflikt zwischen dem Anspruch auf Humanität <strong>der</strong> Arbeitund dem humanen Anspruch auf Arbeit. Der Konflikt darf nicht gelöstwerden um den Preis von Arbeitsplätzen, die humanen Ansprüchen nichtgerecht werden. Gefährlich wäre es, wenn <strong>der</strong> Skandal einer sich verfestigendenMassenarbeitslosigkeit dazu führen würde, die Debatte um einemenschenwürdige Gestaltung von Arbeit abzusagen. Zeiten <strong>der</strong> Arbeitslosigkeitsind keine Zeiten <strong>der</strong> Humanitätspause.Arbeit begründet ein Recht auf eine humane Arbeit. Nicht Befreiungvon <strong>der</strong> Arbeit, son<strong>der</strong>n Befreiung zur Humanität in <strong>der</strong> Arbeit ist die gesellschaftlicheAufgabe. Zwischen den Ansprüchen auf humane Arbeitund <strong>der</strong> Wirtschaftlichkeit kann es zu Konflikten kommen. <strong>Die</strong>ser Wertkonfliktdarf jedoch nicht vorzeitig zugunsten <strong>der</strong> Wirtschaftlichkeit gelöstwerden, denn sachlich würde dies die Preisgabe <strong>der</strong> Humanität zugunsten<strong>der</strong> Ansprüche von Wirtschaftlichkeit bedeuten. Es gibt einen Vorrangdes Menschen, <strong>der</strong> sich auch in den humanen Ansprüchen im Vollzug<strong>der</strong> Arbeit äußern muß. <strong>Die</strong>se Wertentscheidung zugunsten <strong>der</strong> Arbeitbetont <strong>der</strong> Sozialethiker Günter Brakelmann: “Im Ziel- und Wertekonfliktmuß klar im Sinne des „Rechts auf Arbeit‟ entschieden werden.”10249.1.4 Rechte aus Arbeit1023 F. Crüsemann, “...damit er dich segne...”(Dtn 14.29), 95.1024 G. Brakelmann, Zur Arbeit geboren, 65.343


Im Arbeits- und Sozialrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> drückt sich eine Einsicht aus, daßzwischen Würde <strong>der</strong> Arbeit, Recht für die Armen und <strong>der</strong> Regulierung<strong>der</strong> Arbeitsverhältnisse ein Zusammenhang existiert. <strong>Die</strong>ser Zusammenhangzeigt sich in <strong>der</strong> Absicht, Arbeitsbedingungen dadurch zu humanisieren,daß die Interessen <strong>der</strong> Arbeitenden zum Maßstab werden. Sklavereiwird zeitlich zu begrenzen (Ex 21,2-6); einen Schuldner nach seinerzeitlich befristeten Knechtschaft mit einer Unterstützung zum Aufbau einereigenen Existenz auszustatten (Dtn 15,14), Schuldknechtschaft in eineabhängige Lohnarbeiterexistenz umzuwandeln (Lev 25,39-43), Bedingungen<strong>der</strong> abhängigen Lohnarbeit zu regeln (Dtn 15,18; 24,14), abhängigeLohnarbeiter mit einem Recht auf fristgerechte Lohnzahlung undhumane Behandlung zu versehen (Dtn 24,14f; Lev 25,43) o<strong>der</strong> demKnecht das Recht auf Arbeitsruhe (Ex 20,10; Dtn 5, 14) zu garantieren,sind nur einige jener arbeitsrechtlichen Regulierungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, die dieTendenz aufzeigen, auch den Knecht und nicht allein den Herrn zumTräger von Rechten zu machen. Durch Arbeitsverhältnisse hervorgerufeneObjekt- o<strong>der</strong> Abhängigkeitssituationen werden minimiert, indemFreiheitsrechte allen und nicht allein denen zuerkannt werden, die übereine ökonomisch starke Position verfügen. “Du sollst deiner Herrschergewaltüber deinen Knecht freiwillig am Sabbattag in danken<strong>der</strong> Erinnerungan IHN, deinen Befreier, entsagen. Damit machst du den Sabbattag,<strong>der</strong> schon seit <strong>der</strong> Schöpfung als Idee existiert hat, zu einer Wirklichkeitim Leben.” 1025 Der Sabbat ist eine soziale Errungenschaft, die dieArbeitsherren achten und garantieren sollen. Der Rabbiner Benno Jacobnennt die Arbeit an den Werktagen eine “Vorhalle zum Heiligtum”. Denn:Ebenso wie die Ruhe am siebenten Tag, folgt die Arbeit an den Werktagendem göttlichen Vorbilde, wenn sie “sinnvolle, zweckmäßige, lebensför<strong>der</strong>ndeArbeit” 1026 ist. Getragen sind diese Regulierungen des Arbeitsrechtsvon einem Ethos, das reale Freiheit und Gerechtigkeit für alle will.Auch <strong>der</strong> Arme und ökonomisch Schwache hat das Recht auf Freiheitsrechte.<strong>Die</strong>se Tendenz fand im Arbeitsrecht des Talmuds ihre Fortsetzung.Hier zeigt sich die klare Absicht, die Rechtsposition des Arbeitnehmerszu stärken. 1027 A.Ben-David nennt es deshalb auch einen bemerkenswertenGrundzug <strong>der</strong> Rechtsauffassung in <strong>der</strong> Zeit des Talmud, daß beispielsweiseim Gegensatz zum römischen wie übrigens auch zum mo<strong>der</strong>nenArbeitsrecht nicht dem Arbeitgeber, wohl aber dem Arbeitnehmerdas Recht eingeräumt wird, das Arbeitsverhältnis einseitig und zu je<strong>der</strong>Zeit zu kündigen. Darin zeige sich eine Rechtsauffassung, die von dem1025 B. Jacob, Das Buch Exodus, 594.1026 Ebd. 575.1027 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 67f.344


her denkt, <strong>der</strong> arbeitet, und nicht von dem her, <strong>der</strong> die Arbeitskraft desan<strong>der</strong>en für seine Zwecke nutzen will.Der biblische Gerechtigkeitsbegriff, <strong>der</strong> ein gemeinschaftsgemäßes Verhaltenmeint, verbindet sich mit Freiheitsrechten für den Arbeitenden.Strukturelle Benachteiligung soll durch ein Recht ausgeglichen werden,das dadurch Gerechtigkeit schafft, daß es sich zugunsten <strong>der</strong> Schwächereneinsetzt. <strong>Die</strong>ses parteiliche Gerechtigkeitsverständnis zugunsten <strong>der</strong>Schwächeren am Arbeitsmarkt will eine Rückkehr in “ägyptische Verhältnisse”<strong>der</strong> Unfreiheit, Unterdrückung und Unterlegenheit abwehren. Gerechtigkeitund Freiheit stehen im biblischen Verständnis nicht in einemGegensatz, son<strong>der</strong>n bedingen sich gegenseitig. Wie kann eine solcheethische Grundentscheidung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zugunsten des arbeitenden Menschen,<strong>der</strong> ansonsten in struktureller Benachteiligung leben müßte, unterden Bedingungen einer nach wie vor strukturell kapitalistischen Produktionsweiseseine ursprüngliche Wirkung entfalten und weiterführen?Traugott Jähnichen nennt das Eintreten für Partizipationsrechte <strong>der</strong>Arbeitnehmer ein “wesentliches Merkmal des sozialen Protestantismus”1028 . In <strong>der</strong> Entschließung des Rates <strong>der</strong> EKD zur Mitbestimmungwird auf den Sinn des Mitbestimmungsrechtes verwiesen, nämlich “dasbloße Lohnarbeitsverhältnis zu überwinden und den Arbeiter als Menschenund Mitarbeiter ernst zu nehmen.” 1029 Das Mitbestimmungsrechtstellt <strong>der</strong> Rat <strong>der</strong> EKD in eine Perspektive, die den “Gedanken <strong>der</strong>Selbstverwaltung unter maßgeblicher Beteiligung <strong>der</strong> Arbeiterschaft” imBlick hat. 1030 Das Recht auf Partizipation, Mitbestimmung, Mitgestaltungo<strong>der</strong> Mitverantwortung ist ein Recht, das sich aus <strong>der</strong> Arbeit selber undnicht aus eingeschränkten Eigentumsrechten begründet. Arbeit selberkonstituiert Freiheitsrechte <strong>der</strong> Mitsprache, Mitbestimmung und Mitgestaltungim Unternehmen. 1031 Es geht dabei um die Freiheitsrechte allerWirtschaftssubjekte. <strong>Die</strong> politischen Freiheitsrechte des Bürgers müssenzu Freiheitsrechten des Wirtschaftsbürgers erweitert werden. KapitalistischeMarktwirtschaften statten bislang nur die, die Kapital in den Produktionsprozeßeinbringen, mit Freiheitsrechten aus. Damit aber wird Freiheithalbiert. Der Unternehmer ist nicht das einzige wirtschaftsethischverantwortliche Subjekt. Erst eine Unternehmensverfassung, die eine aktiveBeteiligung aller im Unternehmen realisiert, vermag Marktwirtschaftund Freiheit zu versöhnen.1028 T. Jähnichen, Vom Industrieuntertan zum Industriebürger. Der soziale Protestantismus und dieEntwicklung <strong>der</strong> Mitbestimmung (1848-1955), Bochum 1993, 390.1029 Rat <strong>der</strong> EKD, Entschließung zur Mitbestimmung (1950), zit. nach: G. Brakelmann u. T. Jähnichen(Hg.), <strong>Die</strong> protestantischen Wurzeln <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, 380.1030 Rat <strong>der</strong> EKD, Entschließung zur Mitbestimmung (1950), 381.1031 Vgl. dazu G. Brakelmann, Mitbestimmung am Ende? 316-321.345


<strong>Die</strong> Entscheidung über Produktionsvolumen, Produktionsrichtung undArbeitsplätze ist in einem kapitalistischen Unternehmen mit dem Eigentumsrechtverbunden und deshalb asymmetrisch verteilt. Erst eine Unternehmensverfassung,die die Unternehmensseite nicht allein von <strong>der</strong>Kapitalseite legitimiert, son<strong>der</strong>n auch von den Kapitalgebern und denen,die ihre Arbeit in den Prozeß des Unternehmens einbringen, löst dasDemokratiepostulat ein. Das zweipolige Verständnis von Kapital auf <strong>der</strong>einen Seite und Arbeit auf <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en ist durch ein dreipoliges zu erweitern.Kapital und Arbeit bestellen und legitimieren eine dritte Funktion fürein Unternehmen: die Unternehmensleitung. Es ist ein Zeichen für einedemokratische Gesellschaft, daß <strong>der</strong> mündige Wirtschaftsbürger seineRechte aus Arbeit nutzen kann zur Ausgestaltung seiner Arbeitsverhältnisse.<strong>Die</strong> Kirchen haben in ihrem Wirtschafts- und Sozialwort deshalbauch zu Recht die Schaffung und den Ausbau von “Wirtschaftsbürgerrechten”(Ziff. 143) gefor<strong>der</strong>t.9.2 Zweiter wirtschaftsethischer Impuls: Solidarisch arbeiten<strong>Die</strong> Bibel spricht vom Menschen als Ebenbild eines Gottes, <strong>der</strong> selberarbeitet (Gen 1,1-2a). Das Ebenbild Gottes ist ein Mitarbeiter Gottes.<strong>Die</strong>ser mitarbeitende Mensch wird wie<strong>der</strong>um zum Mitarbeiter aller Menschen.<strong>Die</strong> theologische Rede von <strong>der</strong> Ebenbildlichkeit des Menschenbegründet die Gleichheit aller Menschen in <strong>der</strong> Arbeit. <strong>Die</strong>se Gleichheit in<strong>der</strong> Arbeit stiftet zugleich Solidarität. Arbeit verbindet die Menschen miteinan<strong>der</strong>.<strong>Die</strong> soziale Dimension <strong>der</strong> Arbeit ist nicht von <strong>der</strong> personalenzu trennen. <strong>Die</strong>se biblische Sicht <strong>der</strong> Arbeit des Menschen soll an zweiFolgerungen exemplarisch ausgeführt werden: dem gerechten Lohn und<strong>der</strong> Umverteilung von Arbeit.9.2.1 Gerechter LohnEine Wirtschaftsethik, die vom arbeitenden Menschen her denkt, hat dengerechten Lohn und nicht nur die ökonomische Debatte um den gerechtenPreis zum Thema. Der Lohn ist ein Grundproblem für den arbeitendenMenschen. Für das Kapital ist <strong>der</strong> Lohn lediglich Kostenfaktor, für dieArbeit ist er Lebensunterhalt. <strong>Die</strong>se gegensätzliche Bedeutung des Lohnesmacht die Hauptursache <strong>der</strong> Konflikte zwischen Kapital und Arbeitaus. Der Arbeitslohn ist einer <strong>der</strong> wichtigsten Aspekte von Arbeit im realenLeben. Georg Wünsch ist einer <strong>der</strong> ganz wenigen Sozialethiker, <strong>der</strong>diesen Tatbestand sieht und benennt. In <strong>der</strong> 2. Auflage <strong>der</strong> RGG schreibter: “<strong>Die</strong> hohe Bedeutung und Tragweite des Lohnes beruht auf dem Um-346


stand, daß er für die meisten Menschen die alleinige wirtschaftliche Lebensbasisdarstellt und daher von ihm, soweit wirtschaftliche Bedingungenin Frage stehen, allein die Lebensmöglichkeit und die Verwirklichungsonstiger Lebenswerte abhängt, nämlich aller Werte, die eine menschenwürdigeExistenz ausmachen.” 1032Angesichts <strong>der</strong> großen ökonomischen und gesellschaftlichen, aber individuellenBedeutung <strong>der</strong> Frage nach dem gerechten Lohn ist <strong>der</strong> Befundaußerordentlich erstaunlich, wie peripher und beiläufig Sozialethiksich dieser Thematik angenommen hat. 1033 Dabei spielt die Lohnfragebereits in <strong>der</strong> biblischen Tradition und auch im realen Leben <strong>der</strong> Menschenheute eine wichtige Rolle. Friedrich Fürstenberg geht zwar in <strong>der</strong>RGG davon aus, daß die betreffenden neutestamentlichen Stellen “nurallgemeine Ansatzpunkte, die <strong>der</strong> Konkretisierung entsprechend jeweilsgültiger gesellschaftlicher Normen bedürfen” 1034 , bieten, doch worin dieseallgemeinen Ansatzpunkte, die konkretisiert werden müssen, bestehenkönnten, ist aus seinen Ausführungen nicht mehr ersichtlich. Da staatlicheo<strong>der</strong> profane Instanzen zur Regelung <strong>der</strong> Lohnfragen in biblischerZeit fehlten, war es um so dringlicher, über die Religion zu einer akzeptablenLösung <strong>der</strong> Konflikte um die Lohnhöhe zu kommen. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> wurdedeshalb zur einzigen Instanz, die Probleme des Lohnes regulierenund dadurch den wirtschaftlich und sozial Schwachen stützen konnte.<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> regelt nicht die Höhe des Entgeltes o<strong>der</strong> des Lohnes, will aberdie verbindliche Auszahlung des Lohnes am Ende des Arbeitstages sicherstellen.Begründet wird diese Bestimmung theologisch mit dem Unterdrückungsverbot(Ex 22,20-26; Lev 19,13; Dtn 24,14f., Jer 22,13, vgl.auch Jes Sir 4,1-6, ntl. Verweise: Lk 10,7; Apg. 1,18; 1 Tim 5,18; Jak 5,4;2 Petr 2,13.15; Jud 11). 1035 In talmudischer Zeit beträgt <strong>der</strong> Lohn des Tagelöhnerseinen Denar (vgl. Mt 20,8ff.). 1036Walther Bienert ordnet die Frage nach dem gerechten Lohn biblischdem Ausbeutungsverbot und dem gemeinschaftsgerechten Verhalten zu.“Sobald die Lohnhöhe danach bemessen wird, wer <strong>der</strong> Stärkere ist, han-1032 G. Wünsch, Art. Lohn- und Lohnsystem: II. Ethisch, in: RGG 2. Aufl. Bd. III, 1716f.1033 Vgl. dazu: W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel, 94-98; H. Echternach, Art. Lohn,in: Ev. Soziallexikon, Stuttgart 7. Aufl. 1980, Sp. 835 - auffallend ohne atl. Bezüge. Auch dieTRE verweist in ihrem Beitrag zum “Lohn” nicht auf atl. Bezüge, vgl. M. Winter, Art. Lohn, I.Neues Testament, TRE Bd. 21, 447-449. Vgl. dazu Y. Spiegel, Wirtschaftsethik und Wirtschaftspraxis,102. G. Wünsch ist einer <strong>der</strong> wenigen Wirtschaftsethiker, <strong>der</strong> die ethische Fragedes gerechten Lohns aufnimmt (G. Wünsch , Evangelische Wirtschaftsethik, 637ff.). Wennüber Lohn die Rede ist, dann zumeist im Zusammenhang mit dem theologischen Begriff <strong>der</strong>Gnade, so auch Art. “misthos/Lohn” , in: THWNT Bd. IV, 699ff.; vgl. G. Bornkamm, DerLohngedanke im Neuen Testament, Lüneburg 1947.1034 F. Fürstenberg, Art. Lohn und Lohnsystem, II. Sozialethisch, in: RGG 3. Aufl. Bd. IV, 444f.1035 nähere Ausführungen oben in Abschnitt: 6.1.2.2.2.1036 Ben-David, A., Talmudische Ökonomie, 66.347


delt es sich biblisch gesprochen um eine „Bedrückung‟ <strong>der</strong> Armen.” 1037Der ökonomisch Schwache soll seiner Lage wegen nicht ausgenutztwerden. <strong>Die</strong> Position am Markt darf daher sozialethisch auch nicht alleinden Ausschlag über die Verteilung des Sozialproduktes geben. Gerechtigkeitals gemeinschaftsgerechtes Verhalten nennt nach biblischem Verständnisden ungerecht, <strong>der</strong> sich gemeinschaftswidrig verhält. Nicht nurdas Prinzip von Angebot und Nachfrage soll deshalb leitend für die Bestimmung<strong>der</strong> Lohnhöhe sein, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> Bedarf (vgl. Jes 58,7). <strong>Die</strong>biblischen “Primär-Tugenden” Recht und Gerechtigkeit wenden sich gegeneine reine Ausrichtung des Lohnes nach dem Marktwert.Im Anschluß an die wichtigsten Wirtschaftsgesetze reflektiert dasBuch Deuteronomium das Verhältnis von menschlicher Arbeit, sozialemVerhalten und göttlichem Segen. Sachlich for<strong>der</strong>t es eine an den Normenund Werten des sozialen Ausgleichs orientierte Umverteilung. Arbeit, Ertrag<strong>der</strong> Arbeit und Solidarität werden in einem Verhältnis gesehen. Dergöttliche Segen für die Arbeit wird explizit daran gebunden, daß ein Teildes Ertrags den gesellschaftlich Schwächsten zugute kommt. Erst diesolidarische Einbeziehung <strong>der</strong> Schwachen in den Reichtum und den Gewinn<strong>der</strong> Produktion gewährleistet den Segen für die Arbeit. “Um dieserSache willen wird dich JHWH, dein Gott, segnen in all deinem Tun und inall deinem Erwerb deiner Hand” (Dtn 15,10; auch Dtn 15,18; 23,21;24,19). Es ist ein Segen für die Menschen, daß dieser Umverteilungsprozeßmöglich wird. 1038<strong>Die</strong> Steuergesetzgebung des Zehnten ist die erste historisch nachweisbareSozialsteuer im gesamten Umfeld Israels (Dtn 14,22-29). 1039Sie war eine Umverteilung, die den gesellschaftlich und ökonomischSchwächeren den Lebensunterhalt sichern sollte. In jedem dritten Jahrsoll <strong>der</strong> Zehnte direkt in den Ortschaften an die sozial Unterprivilegiertenund die Landlosen verteilt werden. <strong>Die</strong>se Personengruppe bekommt eineökonomisch gesicherte Grundlage. Das Deuteronomium schafft einevermutlich zunächst erhobene Abgabe auf den Ernteertrag für den Königab, verwandelt diese Naturalsteuer in eine Sozialabgabe und bestimmtden Rest für Feierlichkeiten beim zentralen Tempel. 1040 <strong>Die</strong> Staats- o<strong>der</strong>Königsabgaben werden nun nicht gänzlich in Tempelabgaben überführt,son<strong>der</strong>n zur Existenzsicherung unterprivilegierter Personen verwendetwerden. Begründet wird diese Maßnahme mit dem Hinweis “... damit du1037 W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel, 97.1038F. Crüsemann, “ ... damit er dich segne in allem Tun deiner Hand ...”, 7-103; F. Crüsemann,<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 263.1039 F. Crüsemann, Für eine Armensteuer. Ein biblisches Plädoyer, in: Evangelische Kommentare,Heft 9, 1993, 532; <strong>der</strong>s., <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 263f.; R. Albertz, Religionsgeschichte Israels, Bd. 1,338.342-346.1040 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 254f.348


lernst, den Herrn, deinen Gott, zu fürchten” (Dtn 14,23). <strong>Die</strong>se biblischeSozialsteuer löst eine doppelte Wertentscheidung ein: Sie dringt auf eineverteilungsrelevante Dimension <strong>der</strong> Arbeit und macht aus einer ethischenGrundentscheidung einen Rechtsanspruch <strong>der</strong> Schwachen. <strong>Die</strong>se normativeWertentscheidung setzt auf Ausgleich und auf Unterstützung <strong>der</strong>Schwächeren. Dabei weiß die Bibel, daß Wertentscheidungen zugunsten<strong>der</strong> Schwächeren nur etwas wert sind, wenn sie in einen Rechtsanspruchüberführt werden.Das neutestamentliche Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg illustriertein toragemäßes Verständnis von Lohn und Recht auf Existenz (Mt20,1-16). 1041 Arbeiter erhalten für unterschiedlich lange Arbeitszeiten dengleichen Lohn. An dieser als ungerecht empfundenen Situation entzündetsich ein Streit. <strong>Die</strong> Langzeitarbeiter protestierten dagegen, daß sie einenLohn in <strong>der</strong> gleichen Höhe ausbezahlt bekamen wie die Kurzarbeiter. Inden Augen <strong>der</strong> Langzeitarbeiter und des Weinbergsbesitzers war auchein Hungerlohn rechtens, <strong>der</strong> unterhalb des Existenzminimums lag. Voneiner realen Alltagserfahrung her, die Arbeitslosigkeit 1042 und Lohndruckvorausgesetzt, deutet Luise Schottroff das Gleichnis: es ist nicht einetheologische Kritik am Lohndenken, son<strong>der</strong>n es wendet sich gegen dieBenutzung des Gerechtigkeitsempfindens als Waffe gegen an<strong>der</strong>e Menschen:Es gehe “um eine konkrete Funktion von Lohndenken” 1043 . DasGleichnis setzt die Alltagserfahrung voraus, daß diejenigen, die nur kürzerals einen ganzen Arbeitstag gearbeitet haben, einen geringeren Lohnbekommen, selbst wenn dieser dann unter dem Existenzminimumliegt. 1044 Das Gleichnis illustriert eine Arbeitsrealität, macht aber auch jenealttestamentliche Gerechtigkeitsvorstellung deutlich, die den Arbeits-1041 L. Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” (Mt 20,15) <strong>Die</strong> Arbeit im Weinberg und <strong>der</strong>patriarchale Mythos vom Familieneinkommen, in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernendie Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 205-225. Vgl. auch: J. Jeremias, <strong>Die</strong> Gleichnisse Jesu,6. Aufl. Göttingen 1962; E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen1961, 87-94; 158-162.1042 “Unser Gleichnis ist mitten aus dem Leben seiner Zeit genommen, über <strong>der</strong> das Gespenst <strong>der</strong>Arbeitslosigkeit stand.” J. Jeremias, <strong>Die</strong> Gleichnisse Jesu, 138; auch: L. Schottroff, “... du hastsie uns gleichgestellt.” (Mt 20,15) 205ff.1043 L. Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” 214.1044 “Ihr Verdienst (<strong>der</strong> Sklaven und Tagelöhner, F.S.) betrug im Durchschnitt einen Denar mit Beköstigung.”(J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 126) “Der Tagelohn eines ungelernten Landarbeitersbetrug im selben Zeitraum einen Denar. ... In <strong>der</strong> Landwirtschaft wurde und wird dieAnzahl <strong>der</strong> Arbeitstage bedingt durch die Jahreszeit und die Sabbath- und Festtage. Deshalbscheint sicher, daß ein Tagelöhner nur an etwa 200 Tagen im Jahr Arbeit fand.” (A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 293) Das Einkommen erreichte also gerade das Existenzminimum.<strong>Die</strong> Mischna definierte genau, wer arm war und Recht auf den Armenzehnten hatte.“So bildeten 200 Denar o<strong>der</strong> Zuz die untere Grenze des damaligen Lebensstandards.” (Ebd.292)349


lohn in einen Zusammenhang mit dem Recht auf Existenz stellt. 1045 Essetzt gegen diese erfahrene Realität, die Menschen unter das Existenzminimumdrückt, einen an<strong>der</strong>en Maßstab. Es will Solidarität stiften zwischendenjenigen, die wegen <strong>der</strong> Arbeit eines langen Tages Anspruchauf den vollen Lohn hatten, und denjenigen, die nur die Chance erhaltenhatten, wenige Stunden zu arbeiten. Basis dieses Solidaritätsdenkens istdie Gottesvorstellung. “Das Gleichnis wirbt um die Solidarität von Menschen,die die gemeinsame Gottesvorstellung vom barmherzigen Gotthaben.” 1046 Doch an einem Punkt trennt sich das Gleichnis von <strong>der</strong> erlebtenRealität: Der Weinbergsbesitzer durchbricht eine Lohnordnung, diesich ausschließlich an dem Gerechtigkeitsgrundsatz “Jedem nach seinenLeistungen” orientiert. “Das Gleichnis stellt die Güte Gottes dar.” 1047 <strong>Die</strong>sehält <strong>der</strong> normalen Realität <strong>der</strong> Weinbergsbesitzer, die sich ansonstennur am Grundsatz <strong>der</strong> Leistungsgerechtigkeit orientieren, den Spiegelvor. Über Gottes Güte nachzudenken, wirft ein Licht auf eine Realität, dievon Leistungsgerechtigkeit geprägt ist. Das Gleichnis setzt aber nichtden Gerechtigkeitsgrundsatz außer Kraft (“Jedem nach seiner Leistung”),son<strong>der</strong>n ergänzt ihn durch ein Gerechtigkeitsprinzip (“Jedem nach seinenBedürfnissen”). Formal wird die Rechtsordnung gehalten. Nach <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>ist <strong>der</strong> Tageslohn am Abend auszuzahlen (Lev 19,13; Dtn 24,15). Auchdie vereinbarte Lohnhöhe für den Tag wird eingehalten. Der formaleRechtsgrundsatz jedoch wird durchbrochen, indem sich <strong>der</strong> “gütigeWeinbergsbesitzer” an einer Norm orientiert, die außerhalb des formalenRechtsgrundsatzes besteht: das Lebensrecht selber. Das Gleichnisspricht ein Urteil über eine Realität, die vom Grundsatz <strong>der</strong> Leistungsgerechtigkeitallein geprägt ist. <strong>Die</strong> Leistungsgerechtigkeit allein genügtnicht, denn sie ist blind gegenüber den Bedürfnissen. <strong>Die</strong> ökonomischeRationalität, die das Gleichnis veranschaulichen will, ist die Kombinationvon Leistungsgerechtigkeit und Bedürfnisgerechtigkeit. Gerechtigkeitwird gedeutet als das Recht auf Existenzsicherheit.Welche Kriterien kann es geben, nach denen ein Lohn als “gerecht”o<strong>der</strong> “ungerecht” bezeichnet werden kann? Ein marktwirtschaftlichesDenkmodell geht von <strong>der</strong> Vorstellung aus, daß sich die Löhne am Arbeitsmarktauf <strong>der</strong> Grundlage von Angebot und Nachfrage bilden. DerNeoliberalismus wertet deshalb im Rahmen dieses Denkmodells Arbeitals Ware. <strong>Die</strong> Höhe des Lohnes als Entgelt für geleistete Arbeit wirddann als “gerecht” bezeichnet, wenn <strong>der</strong> Lohn dem Marktlohn entspricht.<strong>Die</strong> Rolle kollektiver Organisationen wie <strong>der</strong> Gewerkschaften o<strong>der</strong> auchdes Staates bei dem Prozeß <strong>der</strong> Lohnfindung wird folgerichtig als markt-1045 Vgl. H. Schrö<strong>der</strong>, Jesus und das Geld, 87ff.1046 L.Schottroff, “... du hast sie uns gleichgestellt.” 214.1047 Ebd. 212; so auch: E. Linnemann, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, 82.350


widrig abgelehnt. Der Lohn ist ein nackter Wettbewerbspreis, <strong>der</strong> sich aufdem Markt bildet, wie die folgenden Zitate illustrieren: “<strong>Die</strong> Tarifautonomieist also nicht notwendiger Bestandteil, son<strong>der</strong>n ein Fremdkörper in<strong>der</strong> Marktwirtschaft.” 1048 Denn: “<strong>Die</strong> Gewerkschaftsbewegung entstandaus dem Gedanken <strong>der</strong> Solidarität, und das bedeutet konkret die Ausschaltungdes Wettbewerbs am Arbeitsmarkt.” <strong>Die</strong> neoliberale Positionwill Arbeitszeit und Lohn allein nach den Gesetzen des Marktes regeln.“Der kartellmäßig organisierte Einkauf von Arbeitskraft steht im Wi<strong>der</strong>spruchzu unserem Wirtschaftssystem.” 1049 Alle Versuche, den Marktmechanismusaußer Kraft zu setzen, würden mißlingen und letztendlich zueiner Schädigung gar <strong>der</strong>er führen, die meinten, gegen den Markt For<strong>der</strong>ungeno<strong>der</strong> auch soziale Errungenschaften durchsetzen zu können.Wenn Arbeit ökonomisch den an<strong>der</strong>en Waren auf dem Markt gleichgestelltwird, wird die Frage nach dem gerechten Lohn vom Ansatz her erledigt.Mit <strong>der</strong> Arbeit geht es in einer Marktwirtschaft zu wie mit den Warenim Supermarkt. 1050 Das Marktdenken kennt keinen Maßstab, <strong>der</strong>Auskunft darüber geben könnte, wann ein Lohn auf einem Wettbewerbsniveauliegt. Der Wettbewerb setzt vielmehr eine Spirale frei, die nachunten offen ist, denn immer gibt es irgendwo irgendjemanden, <strong>der</strong> einenLohn-Preis unterbieten könnte. Oswald von Nell-Breuning akzeptiertzwar, daß die Marktlage den Preis <strong>der</strong> Waren bestimmen kann, doch“auf den Lohn, von dem <strong>der</strong> Arbeiter seine und seiner Familie Lebensbedürfnissebestreitet, ist diese Auffassung unanwendbar.” 1051 Der Grundliegt darin, daß die Annahme, die Arbeit des Menschen und <strong>der</strong> Lohn fürdiese Arbeit seien wie irgendeine Ware zu behandeln, inhuman ist.<strong>Die</strong> Frage nach dem gerechten Lohn kann nicht dem Marktmechanismusunterworfen werden, denn dieser bestimmt Preise und Löhnenicht nach dem Maßstab <strong>der</strong> Gerechtigkeit, son<strong>der</strong>n nach dem <strong>der</strong>Durchsetzungsmacht und <strong>der</strong> Position auf dem Markt. Nicht welche Preisegerecht sind, son<strong>der</strong>n mit welchen Preisen ein Anbieter sich am Marktdurchsetzen kann, entscheidet dann über die Höhe des Preises für den1048 W. Engels, Fremdkörper, in: <strong>Die</strong> Wirtschaftswoche Nr. 19 vom 3.5.1992, 138.1049 R. Hank, Fluchthelfer. Verbände ohne Tarifbindung, in: FAZ Nr. 220 vom 22.9.1997, 15 unterBezug auf die Satzung des Arbeitgeberverbandes <strong>der</strong> Holz- und Kunststoffverarbeitenden Industriein Rheinland-Pfalz.1050In einer eher journalistischen Sprache begründet W. Engels, daß <strong>der</strong> Markt Löhne wie Preisefestzulegen hat. “Karstadt, Rewe und Tengelmann legen ihre Preise autonom fest, ohne sie miteiner Verbraucherorganisation auszuhandeln. Mit diesem Preisdiktat sind wir gut gefahren . ...Je erfolgreicher die Gewerkschaften im Arbeitskampf abschneiden, um so schlimmer kommt esfür die Arbeitnehmer.” W. Engels, Fremdkörper, in: <strong>Die</strong> Wirtschaftswoche Nr. 19 vom3.5.1992, 138.1051 O.von Nell-Breuning, Soziallehre <strong>der</strong> Kirche. Erläuterungen <strong>der</strong> lehramtlichen Dokumente,Wien 1977, 37.351


Lohn. Der Lohn wird zu einer Machtfrage. Der Marktmechanismus beseitigtdie Frage nach dem gerechten Lohn, statt sie zu stellen und zubeantworten. Welcher Lohn für welche Arbeit? Welche Äquivalente gibtes für die beiden grundverschiedenen Faktoren Arbeit und Entgelt? DasMarktmodell bietet eine nur vor<strong>der</strong>gründige Lösung in <strong>der</strong> Suche nacheinem Äquivalent an, wenn es die Preisbildung von Waren auf die Preisbildung<strong>der</strong> Löhne überträgt. Doch Lohn und Ware sind substantiell nichtvergleichbar. Wenn die eine Seite auf den Lohn dringlicher angewiesenist als die an<strong>der</strong>e Seite auf das Erbringen <strong>der</strong> Leistung, dann verbürgt<strong>der</strong> Markt nicht Gerechtigkeit. Er verstärkt vielmehr das Ungleichgewichtvon Macht und Ohnmacht. 1052Der gerechte Lohn läßt sich also we<strong>der</strong> als Ergebnis von Angebot undNachfrage noch als Ergebnis des machtförmig ausgetragenen Tarifkonfliktesbestimmen; die sozialethische Suche nach Gerechtigkeitskriterienist unverzichtbar. 1053 Welche Auskunft kann schon <strong>der</strong> Markt über einedann auch gerecht zu nennende Lohnzumessung für den Bediener einerCNC-Maschine, den kontrollierenden Meister o<strong>der</strong> den Top-Managermachen? Zu Recht hat Georg Wünsch den gerechten Lohn als eine “sittlicheFrage” 1054 bezeichnet. Dadurch wird die Lohnfrage aus einemMarktautomatismus herausgenommen und in die gesellschaftliche Verantwortunggestellt. Der Markt kann keine Antwort auf die Frage nach einemgerechten Lohn geben. Eine Orientierung am Markt hat ethischhöchst problematische Implikationen.Auch wenn eindeutige Kriterien nicht erreichbar sind, so lassen sichfür eine sozialethische Bewertung zwei Grenzbestimmungen formulieren:das Existenzminimum als Untergrenze und die Grenzproduktivität alsObergrenze. Innerhalb dieser beiden Markierungen lassen sich sozialethischeKriterien für einen Maßstab von Gerechtigkeit eines Lohnes geltendmachen, die durchaus in Konflikt zueinan<strong>der</strong> stehen können. <strong>Die</strong>seKriterien sind Leistung, Lebenslage, Solidarität.Lohn als Leistungslohn ist Entgelt für geleistete Arbeit, Lohn als Lebenslohnein Unterhaltsmittel für ein menschenwürdiges Dasein. Gerechtigkeitbedeutet für den Leistungslohn, daß Arbeit nach Kriterien <strong>der</strong> Zeit,<strong>der</strong> Schwere <strong>der</strong> Arbeit, Ausbildung etc. entlohnt wird. <strong>Die</strong> Frage nachdem, was gerechter Lohn bedeutet kann, beantwortet <strong>der</strong> Leistungslohnmit dem Verweis auf Leistung als Maßstab. Aber in diesen Maßstab gehenabermals Kriterien ein. Welcher Maßstab liegt vor, nach dem entschiedenwird, ob die Arbeit in Planung und Disposition höher o<strong>der</strong> niedrigerals die in <strong>der</strong> Produktion zu veranschlagen sei? Warum wird die1052 Vgl. dazu W. Huber, Gerechtigkeit und Recht, 156.1053 Vgl. zum folgenden: W. Huber, Lohn, II. Ethisch, in: TRE Bd. 21, 449-453.1054 G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 612.352


Leistung <strong>der</strong> geistigen, planerischen Arbeit höher bewertet als produktiveArbeit?Auch beim Lebenslohn fehlen eindeutig fixierbare Maßstäbe <strong>der</strong> Gerechtigkeit.Sozialethisch läßt sich sagen, daß aus Gründen des Existenzrechteseines jeden die untere Grenze des Lebenslohnes das Existenzminimumist. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> hatte sich mit dieser entscheidenden Lohnfrageauseinan<strong>der</strong>zusetzen. Sie legte eine untere Lohnhöhe fest, die wenigstensdas Existenzminimum sicherte. 1055 Um den <strong>Dr</strong>uck und die Existenzangstniedriger Löhne zu mil<strong>der</strong>n, regulierte die <strong>Tora</strong> den Lohnzahlungsmodus.Lohn dürfe nicht zurückgehalten werden, son<strong>der</strong>n müssenoch am Tag, bevor die Sonne untergehe, ausgezahlt werden (vgl. Lev19,13; Dtn 24,14ff.; Jer 22,13b). Das Deuteronomium läßt sich verstehenals “eine durchdachte Sozialgesetzgebung, die darauf abzielt, daßdie Arbeitenden das von ihnen Produzierte selbst zu essen vermögen,wo aber zugleich die daran partizipieren, denen eigenes Produzierennicht möglich ist.” 1056 <strong>Die</strong>se Regelung wollte sicherstellen, daß niemandaus dem sozialen Gefüge herausfiel. Eine solche Lohnregelung verhin<strong>der</strong>t,daß Menschen trotz Arbeit arm sind. Auch entwickelte Industriegesellschaftenkennen das Problem <strong>der</strong> Working poor, <strong>der</strong> arbeitenden Armen.Untere Grenze des Lebenslohnes ist das Existenzminimum.<strong>Die</strong> For<strong>der</strong>ung nach einem familiengerechten (Lebens-)Lohn ist einetraditionelle For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Katholischen Soziallehre. 1057 Sie hält die Erinnerungan ein Ethos wach, das <strong>der</strong> Bibel nicht fremd ist. Wenn sie auchmit dieser For<strong>der</strong>ung das traditionelle Familienideal stabilisieren wollte,das einen in Erwerbsarbeit tätigen Vater und eine vom Mann abhängigeHausfrau und Mutter voraussetzte, so kommt in dieser For<strong>der</strong>ung docheine ethische Entscheidung zum Ausdruck, die frei vereinbarte Marktlöhnenicht gerechte Löhne nennen will. 1058Leistungskriterien und Solidarität stehen deutlich in einer Spannung,denn Leistung zielt auf Ungleichheit und Solidarität auf größtmöglicheGleichheit. Wolfgang Huber urteilt: “Im Gefälle christlicher Ethik liegt <strong>der</strong>Vorrang des Solidaritätsprinzips vor dem Leistungsprinzip.” 1059 <strong>Die</strong>sesVorzugsurteil hat die Gründe auf seiner Seite, die auch maßgeblich sindfür die <strong>Tora</strong> und ihrem Grundprinzip, einer Logik <strong>der</strong> Humanität Vorrangvor an<strong>der</strong>en Rationalitäten zu geben.1055 W. Bienert, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel, 94f.1056 F. Crüsemann, “... damit er dich segne...”, 102.1057 O. von Nell-Breuning, Kapitalismus und gerechter Lohn, 169ff.1058M. Riley, <strong>Die</strong> Rezeption <strong>der</strong> katholischen Soziallehre bei christlichen Feministinnen, in:Concilium 27 (1991) 420-430.1059 W. Huber, Lohn, 453.353


Zusammengefaßt: Der Produktionsprozeß muß als Sozialprozeß verstandenwerden, in dem arbeitsteilig produziert wird. <strong>Die</strong> Zuordnung <strong>der</strong>gerecht zu nennenden Anteile an diesem Sozialprozeß ist nicht objektivherzustellen. <strong>Die</strong> Frage nach dem gerechten Lohn ist nicht allein einökonomisches Problem; es gehört in den Zusammenhang <strong>der</strong> solidarischenDimension <strong>der</strong> Arbeit. Sozialethik wird deswegen beide Aspektezusammenhalten müssen: Lohn als ein Einkommen, das einen kulturellenund sozialen Lebensstandard und einen gerechten Anteil an dem sozialerwirtschafteten Gewinn des Unternehmens ermöglicht. Zur Lohngerechtigkeitgehört deshalb, daß die Lohnhöhe den Unternehmensgewinnund die Aktienentwicklung wi<strong>der</strong>spiegelt.Arbeit durch Einkommen statt Grundeinkommen ohne Arbeit erst löstjenen hohen personalen, sozialen und demokratischen Stellenwert <strong>der</strong>Arbeit ein, wie ihn die Bibel kennt. 1060 <strong>Die</strong> For<strong>der</strong>ung nach einem garantiertenGrundeinkommen ohne Arbeit ist so alt wie <strong>der</strong> Kapitalismusselbst. 1061 Ein garantiertes Grundeinkommen, das ohne “Gegenleistung”gezahlt wird und mehr sein will als ein zeitweiliger Notbehelf, steht in <strong>der</strong>Gefahr, wie ein Lohn für die Ausgrenzung aus <strong>der</strong> Gesellschaft zu fungieren.Vor allem aber unterschätzt die For<strong>der</strong>ung nach einem garantiertenGrundeinkommen den Stellenwert <strong>der</strong> Beteiligung an Erwerbsarbeit.Sie resigniert aber auch vor einer auf privatem Eigentum beruhendenMarktwirtschaft, die nicht den Wert <strong>der</strong> Arbeit, son<strong>der</strong>n nur die Ware Arbeitkennt. Daß je<strong>der</strong> die Möglichkeit erhalten muß, für das einen Beitragzu leisten, was die Gesellschaft ihm zukommen läßt, ist eine ethische1060 Fast alle Parteien kennen Modelle, die jedoch unter verschiedenen Bezeichnungen diskutiertwerden, so Existenzgeld, Bürgergeld, Grundsicherung, Grundeinkommen. Vgl. die Debatte umdas Grundeinkommen: H. Büchele u. L. Wohlgenannt, Grundeinkommen ohne Arbeit. Aufdem Weg zu einer kommunikativen Gesellschaft, Wien 1985; M. Opielka u. G. Vobruba, Dasgarantierte Grundeinkommen. Entwicklung und Perspektiven einer For<strong>der</strong>ung, Frankfurt 1986;G. Bäcker- Breil, “Konzepte für eine Grundsicherung, in: epd-Dokumentation 1995 Nr. 6/7,99-112.; A. Spermann, “Das Bürgergeld - ein sozial- und beschäftigungspolitisches Wun<strong>der</strong>mittel?”in: Sozialer Fortschritt Heft 4/1994, 105-111. Einige Konzepte wollen an die Stelle <strong>der</strong>bisherigen Hilfen zum Lebensunterhalt gemäß dem Bundessozialhilfegesetz treten; an<strong>der</strong>e wolleneine Grundsicherung gewähren, die bürgerrechtlich begründet wird; an<strong>der</strong>e wie<strong>der</strong>um wollenGrundsicherung an die Bereitschaft zu sozialem o<strong>der</strong> familiärem Engagement binden. -<strong>Die</strong>se Konzepte stellen weitreichende Fragen, die wenigstens genannt werden sollen: Welchegesellschaftlichen Verän<strong>der</strong>ungen werden durch diese Konzepte eingeleitet? Welche Auswirkungenwerden sich im Konsumverhalten zeigen? Führt die bedarfsorientierte Grundsicherung,die zu einer Absenkung des Konsumniveaus führt, auch zur Entwicklung eines an<strong>der</strong>en Wohlstandsmodells,das sich nicht allein an materiellen Wohlstandsbegriffen orientiert?1061So beispielsweise die sog. Speenhamland-Gesetze (1795), mit denen in England bei <strong>der</strong> Einführungeiner liberalen Wirtschaftsordnung versucht wurde, Arbeit nicht den Gesetzen desMarktes zu unterwerfen, son<strong>der</strong>n ein “Recht auf Lebensunterhalt” zu garantieren. Der Versuch,eine liberal-kapitalistische Ordnung ohne einen Arbeitsmarkt zu schaffen, scheiterte mit verheerendensozialen Folgen. Vgl. dazu: K. Polanyi, The Great Transformation, 113ff.354


Perspektive, an <strong>der</strong> festgehalten werden muß, denn zwischen dem Rechtauf Arbeit und dem Recht auf Einkommen gibt es eine unauflöslicheVerbindung. 10629.2.2 ArbeitsumverteilungEin “Kapitalismus ohne Arbeit” 1063 wird als Folge <strong>der</strong> Rationalisierungdurch den Einsatz neuer Technologie prognostiziert. Logische Konsequenzaus dem Optimierungskalkül <strong>der</strong> am Markt agierenden Personenund Unternehmen ist es, den Arbeitseinsatz zu reduzieren. Verdrängungvon Arbeit ist jedoch keineswegs nur Ergebnis von Rationalisierung imSinne eines effektiveren Einsatzes <strong>der</strong> Produktionsfaktoren. Sie resultiertauch aus einer betriebswirtschaftlichen Diskriminierung <strong>der</strong> Arbeit. <strong>Die</strong>Ersetzung von Arbeit durch automatisierte Produktion kann epochaleChancen zur Freiheit eröffnen. <strong>Die</strong>se Freiheitschance jedoch ist an Bedingungengebunden. Der ökonomisch und technologisch erzwungeneTrend zu steigen<strong>der</strong> Arbeitsproduktivität ist kein Fluch, son<strong>der</strong>n dann einSegen, wenn die Effekte erhöhter Arbeitsproduktivität nicht privat genutzt,son<strong>der</strong>n gesellschaftlich weitergegeben und verteilt werden. Einean <strong>der</strong> Ethik <strong>der</strong> Beteiligung und Teilhabe orientierte Perspektive wird daraufdringen, daß jedes Mitglied <strong>der</strong> Gesellschaft Recht und Anspruchauf Anteil an Zuwächsen des Produktivitätsfortschrittes hat. Arbeitsumverteilungist ein Modus <strong>der</strong> Umverteilung des Produktivitätsfortschrittes.Unterbleibt diese Umverteilung, ist <strong>der</strong> Mangel an Arbeitsplätzen o<strong>der</strong> dieArbeitslosigkeit eine pervertierte Form eines möglichen Segens <strong>der</strong> Produktivität.Unter dieser Perspektive erfor<strong>der</strong>n Gerechtigkeit und Solidaritäteine gerechte Verteilung <strong>der</strong> Einkommen.Prinzipiell gibt es drei unterschiedliche Strategien <strong>der</strong> Arbeitsumverteilung:- Mehrverteilung <strong>der</strong> Erwerbsarbeit durch Schaffung zusätzlicher Nachfrageo<strong>der</strong> durch Steigerung des Wirtschaftswachstums;- Schrägverteilung <strong>der</strong> Erwerbsarbeit, die bestimmte Gruppen - vor allemSchwächere - ausgrenzt, die Mehrzahl <strong>der</strong> Beschäftigten aber unterimmer größerem Leistungsdruck weiterarbeiten läßt;1062 So auch: T. Jähnichen, Zeit für sich, Jobs für alle, in: Evangelische Kommentare 11/1997, 647-650.1063 U. Beck, Kapitalismus ohne Arbeit, in: Der Spiegel Nr. 20/1996, 140-146; vgl. dazu auch: J.Rifkin, Das Ende <strong>der</strong> Arbeit und ihre Zukunft, Frankfurt, New York 1995.355


- Gleichverteilung <strong>der</strong> Arbeit als eine Form, die alle Arbeitswilligen an<strong>der</strong> Beschäftigung beteiligt.Der Sabbat ist eine Institution, die nicht nur das Verhältnis von ArbeitsundRuhezeit regelt. Er ist auch eine Institution <strong>der</strong> Gleichverteilung vonArbeit und Ruhe zwischen Herrn und Knecht. <strong>Die</strong> griechische Antikepraktizierte dagegen eine Schrägverteilung von Arbeit und Ruhe nach<strong>der</strong> Klassen- o<strong>der</strong> Schichtzugehörigkeit.Anhaltende Arbeitslosigkeit in entwickelten Industriegesellschaftenstellt auch eine Form <strong>der</strong> Arbeitsumverteilung dar, eine Form jedoch, bei<strong>der</strong> die einen ganz ausgegrenzt werden und die an<strong>der</strong>en weiterhin Anteilan Erwerbsarbeit haben. Arbeitslosigkeit läßt sich deshalb durchaus alseine Form asymmetrischer Arbeitszeitverkürzung darstellen, bei <strong>der</strong> allerdingsnicht nach dem Maßstab <strong>der</strong> Gerechtigkeit die gesellschaftlichvorhandene Arbeit verteilt wird. Arbeit gerecht zu verteilen, wird in <strong>der</strong>beschäftigungspolitischen Debatte auch mit Begriffen diskutiert, die sichan Einrichtungen wie dem Sabbatjahr / Sabbatical ausrichten. Zumeistist die Sabbatjahr-Regelung eher privilegierten Berufsgruppen vorbehalten.Geiko Müller-Fahrenholz knüpft an <strong>der</strong> biblischen Sabbatjahr-Tradition an und hat ein Konzept arbeitsrechtlich abgesicherter, regelmäßigwie<strong>der</strong>kehren<strong>der</strong> bezahlter Perioden entwickelt, die frei von Lohnerwerbstätigkeitsind und zugleich eine Lohnabsicherung gewähren.Seinen Vorschlag nennt er “Freijahre”. <strong>Die</strong>ser Vorschlag hat einen verteilungspolitischenund einen humanen Aspekt. 1064 Der Soziologe UlrichBeck plädiert ebenfalls für Sabbaticals, mit denen <strong>der</strong> <strong>Dr</strong>uck auf Vollarbeitsplätzegemin<strong>der</strong>t werden könnte, wenn ein steuerfinanziertes Bürgerengagementmit einem Lohneinkommen aus Erwerbsarbeit kombiniertwerde. 1065 Eine an<strong>der</strong>e Art von “Vollbeschäftigung” entstünde. Auseiner Vollbeschäftigung herkömmlicher Art entstünde eine volle Teilhabealler Bürger an gesellschaftlichen Prozessen. <strong>Die</strong> Dominanz von Erwerbsarbeitim individuellen und gesellschaftlichen Leben muß in <strong>der</strong> Tatzugunsten an<strong>der</strong>er Tätigkeiten zurückgedrängt weden. Erst seit <strong>der</strong> Industrialisierungnimmt Erwerbsarbeit eine zentralen Stellenwert im Lebenein. <strong>Die</strong> Erinnerung an den Sabbat enthält ein an<strong>der</strong>es Arbeitsverständnis.An dieses Arbeitsverständnis <strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne zu erinnern, kann einBeitrag sein, die Reduzierung von Arbeit auf Erwerbsarbeit in <strong>der</strong> Indust-1064 G. Müller-Fahrenholz, Freijahre für alle, in: Evangelische Kommentare 21 (1988) 595-598. - In<strong>der</strong> kirchlichen Debatte wird dieser Anstoß nicht weiter verfolgt. Hingewiesen werden soll andieser Stelle auf die Initiative des DGB, Sabbatjahre einzuführen. Sie existieren für Beamte seiteinigen Jahren bereits u.a. in Berlin, Schleswig-Holstein, Rheinland-Pfalz. (DGB-Informationvom 24. Mai 1995)1065 U. Beck, <strong>Die</strong> Seele <strong>der</strong> Demokratie. Wie wir Bürgerarbeit statt Arbeitslosigkeit finanzierenkönnen, in: DIE ZEIT Nr. 49 vom 29.11.1997, 7f.356


iegesellschaft rückgängig zu machen und verdrängte Tätigkeitsformenzu ihrem Recht kommen zu lassen.Arbeit gerecht zu verteilen ist eine Leitlinie, die den Wert <strong>der</strong> Arbeit realisiert.Arbeitslosigkeit bedeutet sozialethisch, das Recht auf Weltgestaltungvorzuenthalten. Das Recht auf Arbeit ist Ausdruck eines Partizipationsrechtes<strong>der</strong> Mitgestaltung. <strong>Die</strong> soziale Spaltung <strong>der</strong> Gesellschaft kannnur durch Formen <strong>der</strong> Arbeitsumverteilung, die den Umfang <strong>der</strong> Arbeitfür alle reduziert, aufgehalten und rückgängig gemacht werden.Bei <strong>der</strong> aus Gründen <strong>der</strong> gerechten Arbeitsumverteilung notwendigenArbeitszeitverkürzung stellt <strong>der</strong> Lohn die Schlüsselfrage dar. 1066 Einegleichzeitige Vermin<strong>der</strong>ung von Arbeit und Einkommen ist jedenfallsnicht allen Beschäftigten zumutbar. Ein sozialethisches Verständnis vonArbeit, das Arbeit in seiner individuellen und sozialen Dimension begreift,wird daher das Projekt Arbeitteilen mit einer solidarischen Umverteilungvon Einkommen und Vermögen verknüpfen müssen. Nur so ist zu verhin<strong>der</strong>n,daß <strong>der</strong> Arbeitsmarkt gespalten ist zwischen denen, die Arbeithaben, und Arbeitslosen, die über Transferleistungen ihren Lebensunterhaltsichern müssen. <strong>Die</strong>se Arbeitsumverteilung ist eine teurere Formvon Arbeitsumverteilung, da sie mit einer Verteilung von Einkommendurch Transferleistungen im Rahmen sozialer Sicherungssysteme einhergeht.Auch eine nicht an solidarischen Kriterien orientierte Arbeitsumverteilungist immer eine Umverteilung von Einkommen.Von Niedriglöhnen, die sich aus <strong>der</strong> Preisbildung über Marktkräfte ergeben,wird eine Stärkung <strong>der</strong> Wettbewerbsfähigkeit <strong>der</strong> Unternehmenerwartet. Billigjobs stehen deshalb im <strong>Die</strong>nst <strong>der</strong> Wettbewerbsfähigkeit.Doch die amerikanischen “Working poor”, die trotz Erwerbsarbeit nichtgenügend für ein würdiges Leben verdienen, sind ein warnendes Beispiel.1067 Billigjobs sind deshalb nur zugleich mit einem Ausbau einesstarken Sozialstaats zuzumuten und können nicht Teil eines Abbaus desSozialstaates sein. Der Sozialstaat ist eine Gestalt <strong>der</strong> solidarischen Dimension<strong>der</strong> Arbeit. Ökonomisch wie auch sozialethisch sind deshalb Billigjobsin den Unternehmen nur erträglich, wenn sie von einem effizientenund starken Sozialstaat flankiert werden. Das Wirtschafts- und Sozi-1066 Konkrete, auch finanziell durchkalkulierte Berechnungen für Vorschläge einer solidarischenArbeitsumverteilung liegen vor. Für den Öffentlichen <strong>Die</strong>nst könnten so 17-20 Mrd. DM eingespartwerden, mit denen 300.000 bis 500.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden, wennnach diesem Vorschlag die oberen Gehaltsgruppen auf 10%, die mittleren auf 5% Einkommenverzichten würden und dies mit einem Zeitwohlstand “vergütet” bekämen. Vgl. dazu: P.Grottian, Th. Wiedmann, Für einen neuen Typus von Tarifvertrag, in: FR Nr. 183 vom9.8.1997, 7.1067 Vgl. dazu die Erfahrungen mit Billigjobs in den USA und die Erklärung <strong>der</strong> US-Bischöfe zumNeoliberalismus: F. <strong>Segbers</strong>, Von Amerika lernen heißt nicht, siegen lernen, in: F. von Auer u.F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland, 57 - 66.357


alwort <strong>der</strong> Kirchen hat deshalb gefor<strong>der</strong>t, die vom Arbeitgeber gezahltegeringe Entlohnung durch ein zusätzliches Sozialeinkommen zu ergänzen,damit die Beschäftigten nicht in Armut geraten (Ziff. 174). 10689.3 <strong>Dr</strong>itter wirtschaftsethischer Impuls: Versöhnt mit <strong>der</strong> Schöpfung arbeiten9.3.1 Logik <strong>der</strong> NutzungIm Wirtschaftsprozeß setzen sich die Ansprüche des Menschen auf Nutzung<strong>der</strong> natürlichen Umwelt durch. <strong>Die</strong>se Ansprüche können mit denökologischen Bedingungen harmonieren, ihnen aber auch zuwi<strong>der</strong>laufen.In einer auf Privatkapital beruhenden Marktwirtschaft sind Umweltgüterwie Luft, Boden, Wasser, insofern sie Gemeinschaftsgüter (öffentlicheGüter) sind, in gewissem Maße Fremdkörper, da nämlich eine Privateigentumsordnungwie die Marktwirtschaft die Auf- und Zuteilbarkeit vonRessourcen voraussetzt. 1069 Umweltgüter jedoch sind grundsätzlich alsVermögensgüter zu verstehen, die nur genutzt, nicht verbraucht werdendürfen. Wo aber Verbrauch unumgänglich ist, ist eine Kompensation zusichern. Das sog. Verursacherprinzip will Kosten “internalisieren” und alsGegenstand <strong>der</strong> Rechnungsstellung dem Produktionsprozeß zuordnen.Das Konzept <strong>der</strong> “externen Kosten” will jene Kosten offenlegen, die bei<strong>der</strong> Produktion entstehen, nicht aber dem Verursacher zugerechnet werden.Solange jedoch verursachte Kosten extern abgewälzt werden können,sagen die am Markt erzielten Preis nicht die ökonomische Wahrheit,so Ernst Ulrich von Weizsäcker. 1070 In die am Markt erzielten Preisemüssen aus Gründen <strong>der</strong> “ökologischen Wahrheit” all jene Kosten eingehen,die auch ökologisch verursacht worden sind.Zwei Essentials aus dem Erbe <strong>der</strong> neuzeitlichen Aufklärung bestimmennach wie vor das Verständnis von Ökonomie und Ökologie: zum einendie Dominanz technischer und ökonomischer Rationalität, zum ande-1068 Kritisch wendet H. Stüwe gegen den “Kombi-Lohn” ein, daß ein marktgerechtes Arbeitsentgeltdann keine Richtschnur mehr für Tarifverhandlungen wäre. “Wobei die Beschäftigungschancenwesentliche Indikatoren <strong>der</strong> Marktgerechtigkeit zu sein haben: durch <strong>der</strong>en Mißachtung istdas Problem entstanden, das jetzt durch den Kombilohn verdeckt werden soll. ... Da nirgendwoeine überzeugende Lösung als Marktersatz gefunden wurde, wird die Idee des Kombilohnesimmer wie<strong>der</strong> propagiert. Sie mag verführerisch sein. Aber letztlich birgt auch sie mehr Risikenals Chancen.” So B. Stüwe, Der Kombi-Lohn - eine riskante Idee, in: FAZ Nr. 230 vom4.10.1997, 13.1069 U. E. Simonis, Ökologischer Imperativ und privates Eigentum, Wissenschaftszentrum Berlin,Berlin 1996, 6.1070 E. U. von Weizsäcker, Erdpolitik, 142ff.358


en die beanspruchte Herrschaftsstellung des Menschen gegenüber <strong>der</strong>Natur. Aus diesem Willen zur Macht und dem Herrschaftsbewußtseindes Menschen wurde und wird ein Verständnis von Fortschritt hervorgebracht,daß keine Ehrfurcht gegenüber <strong>der</strong> Mitwelt kennt, son<strong>der</strong>n zumeigenen Nutzen in die Lebenszusammenhänge dieser Erde eingreift.<strong>Die</strong>ses seit Descartes ausgeübte Unterwerfungsverhältnis zwischenMensch und Mitwelt ignoriert, daß <strong>der</strong> Mensch selber in die Lebenszusammenhänge<strong>der</strong> Erde integriert ist. Das neuzeitliche, von Ausnutzungund Beherrschung geprägte Verhältnis des Menschen zur Natur hatDennis L. Meadows, <strong>der</strong> Verfasser <strong>der</strong> Studie des Club of Rome Grenzendes Wachstums, auf ein Menschenbild zurückgeführt, das jüdischchristlichenUrsprungs sei. “Das eine Menschenbild, das von den Befürworterneines unbegrenzten Wachstums getragen wird, ist <strong>der</strong> homo sapiens,ein ganz beson<strong>der</strong>es Geschöpf, dessen einzigartiges Gehirn ihmnicht nur die Fähigkeit, son<strong>der</strong>n auch das Recht gibt, alle an<strong>der</strong>en Geschöpfeund alles, was die Welt zu bieten hat, für seine Zwecke auszubeuten.<strong>Die</strong>s ist ein uraltes Menschenbild, fest in <strong>der</strong> jüdisch-christlichenTradition verankert und erst kürzlich bestärkt durch die großartigen technischenErrungenschaften <strong>der</strong> letzten wenigen Jahrzehnte.” 1071 <strong>Die</strong> Bedeutung<strong>der</strong> jüdisch-christlichen Tradition für die Entstehung des neuzeitlichenNaturverständnisses darf sicherlich nicht so einlinig undundialektisch beschrieben werden, auch wenn die Hypothek einesSchöpfungsverständnisses mit ihren Aussagen über die Herrschaftsstellungdes Menschen gegenüber <strong>der</strong> geschaffenen Natur schwer lastet.Das neuzeitliche Unterwerfungsinteresse basiert auf einem Nutzenkalkül,das sich auch im ökonomischen Konzept <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne Ausdruckverschaffte. <strong>Die</strong> Grundannahme des am Markt orientierten Ökonomiekonzeptesgeht davon aus, daß das individuelle Einzelinteresse sich zumNutzen aller summiere. <strong>Die</strong>se Grundannahme hat sich jedoch als irrigerwiesen: Das eigene Interesse auch aus wohlverstandenem wirtschaftlichenGründen zu verfolgen, för<strong>der</strong>t nicht das dem Menschen und allemLebendigen gemeinsame Interesse. Das Eigeninteresse hat sich nichtals ein Motiv erwiesen, das die Bewahrung des außermenschlichen Lebensgarantiert. So konnte die Ökonomie zu einem Ort werden, wo <strong>der</strong>Mensch seinen Anspruch auf die natürliche Umwelt als einer unerschöpflichenRessource in die Tat umsetzte. Eine Wirtschaftsweise vermochtesich durchzusetzen, die sich aggressiv gegen die nichtmenschliche Naturwendet und den Lebenszusammenhang mit <strong>der</strong> Natur, in die <strong>der</strong> Menschhineingestellt ist, abzuschneiden droht.1071 D.L. Meadows u.a., Wachstum bis zur Katastrophe? Stuttgart 1974, 28f., zit. nach: N. Lohfink,“Macht euch die Erde untertan”? In: Orientierung 38 (1974) 137.359


Der erste industrielle Konflikt - Kapital gegen Arbeit - resultiert aus einemVerteilungsproblem kollektiv erwirtschafteter Güter. Ulrich Beckweist zu Recht darauf hin, daß dieser Verteilungskonflikt mit einer “Ausbeutungslogik”verbunden ist: Der Vorteil des einen wird zum Nachteildes an<strong>der</strong>en. 1072 “Interessant ist, daß <strong>der</strong> ökologische Gesellschaftskonfliktsich genau spiegelbildlich zu diesem Wohlstandsverteilungskonfliktbegreifen läßt.” 1073 Es sind gerade die Folgen <strong>der</strong> Reichtumsproduktion,die zerstörerisch wirken. Das industriegesellschaftliche Dilemma bestehtdarin, daß die <strong>Dr</strong>osselung <strong>der</strong> einen Konfliktlogik die an<strong>der</strong>en Konflikteforciert. <strong>Die</strong> Industriegesellschaft kannte bislang im Verteilungskonfliktnur einen Konflikt um partielle Interessen. Der ökologische Konflikt jedochist kein partieller, son<strong>der</strong>n ein Konflikt um die Sicherung des Lebenso<strong>der</strong> Überlebens überhaupt. Ulrich Beck sieht deshalb in ökologischenKonflikten “eine moralische und soziale Tiefenstruktur, die aus <strong>der</strong>Verletzung von Überlebensnormen entsteht” 1074 .Ursprünglich hatten die Menschen sich gegen eine feindliche Umweltbehaupten müssen. Inzwischen hat sich das Gewaltverhältnis umgekehrt:<strong>Die</strong> Menschen sind in <strong>der</strong> Lage, gegen die Umwelt vernichtendeSiege zu erringen. Sie haben es in ihrer Hand, die natürlichen Lebensgrundlagenzu zerstören. <strong>Die</strong> Natur steht im Schatten <strong>der</strong> Gewalt. Darinzeigt sich eine ökonomische Durchdringung des gesamten Lebens. ÖkonomischeSteigerungsinteressen erhalten Vorrang vor den Erhaltungsinteressen<strong>der</strong> Natur.<strong>Die</strong> Logik, die zu gesellschaftlichen Asymmetrien und Spaltungsprozessenführt, ist dieselbe, die sich auch ökologisch verheerend auswirkt.Ökologische Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, Schöpfung und Gerechtigkeitgehören deshalb zusammen. In den Vorbereitungsdokumentenzur 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes1997 heißt es:Analyse und Kritik werden in diesen Zeiten dringend benötigt, wo die ökologischeKrise sich zuspitzt, weil wirtschaftliche Einstellungen die räuberischeErweiterung von Riesenunternehmen, den Verbrauch natürlicherRessourcen und die entmenschlichende Ausbeutung von Arbeitern erlauben.(...) <strong>Die</strong> Wirtschaftstheorie kann nicht mehr mit <strong>der</strong> Annahme weitermachen,daß natürliche Ressourcen unerschöpflich sind. 10751072 U. Beck, Der ökologische Gesellschaftskonflikt, WSI-Mitteilungen 12/1990, 751.1073 Ebd. 751.1074 Ebd. 753.1075Reformierter Weltbund, Schöpfung und Gerechtigkeit (Vorbereitungsmaterialien für die 23.Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1997), abgedruckt in: Reformierte Kirchenzeitung5/1997, 238.360


9.3.2 Regulierungen aus dem biblischen SchöpfungsethosWelche Einsichten kann eine Orientierung am biblischen Schöpfungsethosfür die ökologische Frage vermitteln? Nicht das von Descartes definierteUnterwerfungsverhältnis von Mensch und Natur, son<strong>der</strong>n dasökologische und auch soziale Verbundensein allen Lebens ist <strong>der</strong> Maßstab,<strong>der</strong> in den theologischen Begründungen <strong>der</strong> biblischen Überlieferungzur Sprache kommt. Der Mitwelt kommen Rechte zu, die sie nichtdem Nutzer verdanken. <strong>Die</strong> Welt ist mehr wert als sie Nutzen hat. ChristophStückelberger hat aus dem Bild einer Ökonomie des Hauses dasLeitbild einer christlichen Mitweltethik des Maßes entwickelt. 1076 Ausgangspunkt<strong>der</strong> sozialethischen Argumentation ist die schöpfungstheologischbegründete Aussage: “Gott ist Gastgeber und <strong>der</strong> Mensch ist Gastauf Erden.” 1077 Aus dieser Grundaussage heraus formuliert ChristophStückelberger “Leitlinien <strong>der</strong> Gästeordnung”. Sie wollen Auskunft darübergeben, was es heißt, sich als Gast auf Erden maßvoll zu verhalten.Gerhard Breidenstein kommt in seiner Untersuchung zum Eigentumsbegriffzu dem skeptischen Ergebnis, “daß die biblischen Äußerungenzum Thema Eigentum für die Probleme <strong>der</strong> Eigentumsordnung, d.h. fürdie spezifisch sozialethische Fragestellung, nichts ergeben. Damit sindaber alle christlichen, jedenfalls alle evangelisch-theologischen Aussagenzur Ordnung des Eigentums ohne Legitimation.” 1078 Mit dieser Aussagewird zum einen die Bedeutungslosigkeit biblischer Kategorien undEinsichten für die neuzeitliche Eigentumsethik konzediert und zum an<strong>der</strong>engefolgert, aus biblischen Traditionen seien keine gegenwartsgestaltendenethischen Perspektiven zu gewinnen. Läßt sich dieses Urteil halten?Gestaltung <strong>der</strong> Schöpfung in treuhän<strong>der</strong>ischer Verantwortung ist diePerspektive, unter die die Bibel die Arbeit des Menschen stellt. “Machteuch die Erde untertan” (Gen 1,28). Jahrhun<strong>der</strong>telang haben Menschendieses Mandat als Verantwortung verstanden und einen schonendenUmgang mit <strong>der</strong> Schöpfung gelebt. Zeitgleich mit <strong>der</strong> Auswan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong>Ökonomie aus dem gemeinsamen Gehäuse mit <strong>der</strong> Ethik wurde dieAnthropozentrik des biblischen Verantwortungsgedankens, wie sie in <strong>der</strong>Gottebenbildlichkeit des Menschen zum Ausdruck kommt, in eineAnthropozentrik des Interessenmotivs für den Markt überführt. 1079 Der1076Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, bes. 226ff. Von Arbeitsansatz und Methodikher fügt sich diese Arbeit in meine Konzeption ein.1077 Ebd. 231.1078 G. Breidenstein, Das Eigentum und seine Verteilung. Eine sozialwissenschaftliche und evangelisch-sozialethischeUntersuchung zum Eigentum und zur sozialen Gerechtigkeit, Stuttgart1968, 292.1079 W. Huber, Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik <strong>der</strong> Verantwortung, München 1990, 230f.361


iblische Verantwortungsgedanke sagt: Der Mensch bleibt auch seineneigenen Interessen nur dann treu, wenn er seine Rücksichtnahme nichtauf das Eigeninteresse beschränkt. <strong>Die</strong> den Menschen umgebendeSchöpfung wurde aber zur Ressource zur Erfüllung eigener ökonomischerInteressen und Motive. Der Mensch erklärte sich zum Meister undBesitzer <strong>der</strong> Natur. <strong>Die</strong> heute ausgerufene Partnerschaft mit <strong>der</strong> Naturbleibt ein vergebliches Postulat, wenn und solange die tieferen, geistesgeschichtlichbegründeten Ursachen für die Krise im Mensch-Natur-Verhältnis nicht aufgedeckt werden. <strong>Die</strong>se haben ihren Grund darin, daß<strong>der</strong> Mensch sich als Subjekt versteht, das einem Objekt, nämlich <strong>der</strong> Natur,gegenübersteht.Das antike Palästina war ein eher armes Land. Um diesem Land dieLebensgrundlage abzuringen, brauchte <strong>der</strong> Bauer ökologisches Wissen,denn Land konnte auch wie<strong>der</strong> versteppen und unfruchtbar werden. DerBiologe Aloys Hüttermann attestiert <strong>der</strong> Bibel “ein profundes biologischesund ökologisches Wissen” und “intime Kenntnisse <strong>der</strong> Naturgesetze” 1080 ,die sich in den Nutzungsvorschriften des Bodens und in Vorschriftenüber den Umgang mit <strong>der</strong> Natur nie<strong>der</strong>geschlagen haben. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> enthältdeshalb auch Bestimmungen, die eine ökologische Balance sichernsollte. Wichtigste Institution war die Ackerbrache. “Sechs Jahre kannstdu in deinem Land säen und die Ernte einbringen; im siebten Jahr sollstdu es brach liegen lassen und nicht bestellen. <strong>Die</strong> Armen in deinem Volksollen davon essen, den Rest mögen die Tiere des Feldes fressen.” (Ex23,10.11a)Das Brachegebot steht in einem direkten Zusammenhang mit demRecht <strong>der</strong> Armen und dem diesem nachgeordneten Recht <strong>der</strong> Tiere aufNahrung. Soziale Gerechtigkeit, sozialer Ausgleich, Regeneration <strong>der</strong>Erde stehen nicht gegeneinan<strong>der</strong>. Dtn 15,1-11 verschiebt den Akzent aufdas Soziale und verän<strong>der</strong>t das ökologische Brachjahr zu einem Schuldenerlaßjahr.Lev 25,2-7.18-23 betont die Regenerationszeit, die dasLand braucht. Das Land gehört JHWH (V 23). Ihm zur Ehre wird nicht eineAusnutzung des Landes, son<strong>der</strong>n vielmehr ein Sabbat gehalten, <strong>der</strong>Land, Mensch und Tiere regenerieren läßt (V 2). Wenn das karge Landnach diesem Rhythmus bestellt wird, dann kann es seine Fruchtbarkeiterhalten und so produktiv sein, daß es nach dem Sabbatjahr einen Überschußhervorbringt. Nach sechs Jahren folgte ein Sabbatjahr und demSabbatjahr das Jahr <strong>der</strong> Aussaat, so daß nach dem Sabbatjahr erst imdarauf folgenden Jahr geerntet werden konnte (V 22). “Seht, ich werdefür euch im sechsten Jahr meinen Segen aufbieten, und er wird den Er-1080 A. Hüttermann, <strong>Die</strong> ökologische Botschaft <strong>der</strong> Thora, 148.154. <strong>Die</strong>sen angepaßten Umgang mitden Ressourcen bestätigt auch H.Vogelstein, <strong>Die</strong> Landwirtschaft in Palästina zur Zeit <strong>der</strong>Misnah. Vgl. dazu auch: F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 304ff.362


trag für drei Jahre geben” (Lev 25,21). <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> wird als Anweisung zueiner Ökonomie verstanden, die Leben garantiert (Dtn 8). Hält Israel die<strong>Tora</strong>, dann wird Israel zu einem “prächtigen Land” (Dtn 8,7). <strong>Die</strong> Katastrophedes Exils wird als Folge <strong>der</strong> Mißachtung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gedeutet (Lev26,43f): Das Land wird zur Wüste und Steppe (Lev 26,33f). Das Sabbatjahrist also getragen von einem Respekt vor dem Land und <strong>der</strong> Schöpfunginsgesamt.Das Sabbatjahr gibt die Erkenntnis wie<strong>der</strong>, daß Ökonomie mit Gewaltgegen die Schöpfung zu tun haben kann. <strong>Die</strong>se strukturelle Gewalt solldurch die Institution des Sabbatjahres minimiert werden (Ex 23,10f.; Dtn15,1f.). “<strong>Die</strong>ses Gesetz ist eine Erweiterung des Gedankens des Friedensvom sozialen Bereich auf den Naturbereich.” 1081 So lehren Sabbatund Sabbatjahr einen an<strong>der</strong>en Umgang mit <strong>der</strong> Schöpfung und mit denen,die die Erde bewohnen: nicht alles unter Kontrolle bringen, loslassenkönnen, die Natur sich selber überlassen - wenigstens in regelmäßigwie<strong>der</strong>kehrenden Zyklen. <strong>Die</strong> gemeinsame Ruhe aller am siebenten Tagund die Brache aller Äcker im selben Jahr war immer kontraproduktiv,wenn ökonomische Kategorien angelegt werden. Für jede allein am kurzfristigenNutzen orientierte Wirtschaftsweise bedeutet diese Weisheitnichts an<strong>der</strong>es als ein entgangener möglicher Gewinn. In den Einrichtungendes Sabbat und des Sabbatjahres drückt sich eine Vorzugsregelaus, die ethisch plausibel und ökonomisch vernünftig ist: Bei konkurrierendenökonomischen und ökologischen Interessen kommt den ökologischenein Vorrang zu.Land und Landbesitz bilden für den altisraelitischen Bauern die entscheidendeVoraussetzung für die Sicherung des Lebens. Um dieseExistenzbedingung zu sichern, gab es ein Eigentumsrecht, nach demGrund und Boden, Eigentum, vornehmlich Landbesitz nicht frei verfügbarsind, son<strong>der</strong>n dienen <strong>der</strong> Familie als Lebensraum. 1082 Bereits sprachlichkommt dieses Eigentumsverständnis zum Ausdruck. Hebräische Wortefür Eigentum, Besitz bezeichnen sowohl die Art <strong>der</strong> Aneignung als auchdie Beziehung zwischen Besitzer und Besitz. Damit unterscheiden siesich von einem Eigentumsverständnis, das von Aneignungsformen undpersonaler Beziehung abstrahiert. 1083 Eigentum und Besitz sind Beziehungsbegriffe.Aus diesem Grund weisen nahezu alle Begriffe für Eigentumim Hebräischen anthropologische und theologische Bezüge auf. 1084Bereits terminologisch unterscheidet das Alte Testament Eigentum an1081 E. Fromm, <strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung Gottes und des Menschen, Zürich 1970, 197.1082 J. Ebach, Art, Eigentum, I. Altes Testament, in: TRE, Bd. 9, 406.1083 Ebd. 405.1084 Ebd. 404.363


Tieren, Boden und Menschen. 1085 “Dem Herrn gehört die Erde und wassie erfüllt, <strong>der</strong> Erdkreis und seine Bewohner” (Ps 24,1, auch Lev 25,23).<strong>Die</strong>se biblische Weisheit des Psalmisten beschreibt den theologischenRahmen biblischer Eigentums- und Bodenrechtsbestimmungen. Sie stehenfür einen an<strong>der</strong>en, einen treuhän<strong>der</strong>ischen Umgang nicht nur mitdem Boden, son<strong>der</strong>n mit <strong>der</strong> Schöpfung insgesamt. Das Land ist zumErbbesitz gegeben (Dtn 4,38). Der Schöpfungsglaube behauptet deshalbdas prinzipielle Eigentumsrecht Gottes an allem, was geschaffen ist, undsetzt <strong>der</strong> Verfügung des Menschen auf die Schöpfung eine kritischeGrenze.Bereits das Bundesbuch setzt ein Verständnis von Eigentum voraus,das den Lebensraum als Patrozinium Gottes begreift. Das priesterlicheSchrifttum entwickelt den Gedanken weiter, indem es noch deutlicherdas Eigentumsrecht Gottes an seinem Grundbesitz betont und diesenBesitz deshalb nur mit einem auf Zeit verliehenen Nutzungsrecht ausstattet.1086 Lev 25,23 regelt, daß <strong>der</strong> Boden grundsätzlich unverkäuflich ist,weil das Land JHWH gehört. Nur die Ernten dürfen veräußert werden (V13-19). Boden wird also nur auf Zeit und zur Nutzung übergeben. Privateigentumwird als anvertrauter Lebensraum verstanden, d.h. niemandhat das Recht, es seinem Nächsten vorzuenthalten o<strong>der</strong> sich auf Kostenwirtschaftlich Schwächerer zu bereichern.Land soll geschützt bleiben, denn es ist das lebensnotwendige Produktionsmittel<strong>der</strong> Agrargesellschaft und die Existenzgrundlage <strong>der</strong> bäuerlichenBetriebe. Eindeutig denkt diese Regelung von dem her, <strong>der</strong> gezwungenist, Land zu veräußern. Er soll geschützt werden. Gerade Notlagenkönnten dazu führen, daß <strong>der</strong> eine sich auf Kosten des an<strong>der</strong>enbereichert. Gegen diese Mechanismen des Marktes will das “Ausbeutungsverbot”(V 14b) schützen. “Wenn du deinem Stammesgenossenetwas verkaufst o<strong>der</strong> von ihm etwas kaufst, sollt ihr einan<strong>der</strong> nicht übervorteilen”(Lev 25,14). <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> nimmt den Bodenpreis aus den Marktgesetzenheraus: Der Käufer bezahlt nicht nach dem Marktpreis, son<strong>der</strong>nnach dem realen Wert, <strong>der</strong> sich aus <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong> Ernteerträge biszum Jobeljahr ergibt, denn mit dem Jobeljahr fällt <strong>der</strong> Boden wie<strong>der</strong> anden Verkäufer zurück. <strong>Die</strong>ser Eingriff in die Marktgesetze wird theologischbegründet: “Das Land darf nicht endgültig verkauft werden; denndas Land gehört mir, und ihr seid nur Fremde und Halbbürger bei mir”(Lev 25,23 auch V 17). 10871085 F. Horst, Art. Eigentum, biblisch, in: RGG Bd II, 3. Aufl. Sp. 363.1086 Ebd. Sp. 364.1087 Vgl. auch die näheren Ausführungen oben Abschnitt .4.2.2.364


<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> bemühte sich darum, den Schutz des Eigentums vor Übergriffenund die soziale Verpflichtung des Eigentums zu garantieren. 1088Eigentum ist eine materielle Grundlage <strong>der</strong> Freiheit. Der Dekalog verbietetdeshalb Übergriffe auf das Eigentum des Nächsten. (Ex 20,17; Dtn5,21) Grundbesitz ist in einer Agrargesellschaft wie <strong>der</strong> des Alten IsraelGrundlage des Wirtschaftens und wird deshalb auch im Dekalog ausdrücklicheinem Schutz unterstellt. Ex 20,17 bezieht sich weniger auf einBegehren im Sinne neidischer Gesinnung als auf einen geplanten undausgeführten Übergriff auf fremdes Gut; die Fassung Dtn 5,21 verschärftdie Aussage gegenüber Ex 20,17, indem ein begehrliches Wollen („wh)hinzugefügt wird. <strong>Die</strong> wichtigste Intention <strong>der</strong> Schutz des Eigentums bestehtdarin, vor dem Zugriff des Stärkeren zu schützen. 1089 “Nichtbegehrenin <strong>der</strong> (unterschiedlichen) doppelten Auffächerung (nämlich Hausund Frau, Sklave, Vieh, F.S.) sichert die gesamte Lebensgrundlage desNächsten, Besitz und Familie.” 1090In Israel gab es Bodenpacht. 1091 Wie wurden die Pachtverhältnisserechtlich geregelt? Wie sah das wirtschaftlich-soziale Gefälle zwischenPächtern und Verpächtern aus? Willy Schottroff versteht das Gleichnisvon den bösen Weingärtnern als Darstellung eines realen Sozialkonfliktes(Mk 12,1-9 parr.). <strong>Die</strong> Pächter ermorden den Abgesandten desGrundbesitzers, wohl um sich durch “Ersitzung” in Besitz des Weinbergszu bringen. Das Gleichnis spricht ein Urteil über die sozio-ökonomischenVerhältnisse: Israel ist wie ein Volk, das keinen Hirten hat (Mk 6,34). Von<strong>der</strong> ausbeutenden Führungsschicht wird die Masse des Volkes unterschieden(Mk 12,12). Durch die ausbeuterischen Interessen <strong>der</strong> Oberschichtsei das Land in einen heillosen und von Gewalt geprägten Zustandgeraten, ist die Pointe des Gleichnisses. 1092Das Sabbatjahr bedeutet einen Vorrang des allgemeinen Rechts aufLeben vor dem Recht auf Eigentum. Im Vor<strong>der</strong>grund steht eine Orientierungam Nutzen. Da JHWH Eigentümer des Landes ist, steht aller Besitzan Grund und Boden unter einem göttlichen Eigentumsvorbehalt. Eigentumist dem Menschen zu seinem Nutzen gegeben und kein Selbstzweck.Nutzung des Eigentums soll daher zum Vorteil aller sein. Eigentumdarf deshalb nicht in willkürlicher Weise gehandhabt werden, diesich ruinös auf an<strong>der</strong>e auswirkt. Das Recht auf privates Eigenum findetseine Grenze dort, wo das Lebensrecht an<strong>der</strong>er bedroht ist. Getragen ist1088 J. Ebach, Art, Eigentum, I. Altes Testament, 403-407.1089 So J. Ebach, Art., Eigentum , I. Altes Testament, in: TRE, Bd. 9, 406.1090 F. Crüsemann, Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit, 76.1091 W. Schottroff, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-9 parr.). Ein Beitrag zurGeschichte <strong>der</strong> Bodenpacht in Palästina, in: Zeitschrift des deutschen Palästina-Vereins 112(1996) 18-48.1092 W. Schottroff, Das Gleichnis von den bösen Weingärtern (Mk 12,1-9 parr.), 41.365


die biblische Eigentumsvorstellung von <strong>der</strong> Idee vom Eigentum als Nießbrauch.Um die sozialen Schäden aus einem freien Handel mit Bodenabzufangen, wird <strong>der</strong> Handel auf den Ertrag des Bodens beschränkt, <strong>der</strong>Boden selbst jedoch ist nicht veräußerbar. Dabei handelt es sich um einenbewußten Eingriff in die Mechanismen des Marktes, wie die Ausnahmeregelzeigt: Immobilien in <strong>der</strong> Stadt, die nicht als Produktionsmitteldienen, unterliegen nicht <strong>der</strong> Verkauftsbeschränkung <strong>der</strong>Jobeljahrformel. Sie sind frei verkäuflich (Lev 25,29-31). Der wirtschaftsethischeKern des Jobeljahres besteht darin, allen einen offenen Zugangzu den Ressourcen des Landes zu gewähren und einen verantwortlichenUmgang mit den Ressourcen zu gewährleisten.<strong>Die</strong>ses Eigentumsverständnis <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gewinnt gerade angesichts <strong>der</strong>Umweltproblematik, die zutiefst mit dem Weltbild <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne zusammenhängt,eine hohe Aktualität. Der Ausschluß des Handels mit demBoden und das Brachjahr zeigen einen hohen Respekt vor dem Boden.Der Umgang mit Grund und Boden steht nicht allein unter einer Nutzen -Perspektive. <strong>Die</strong>se Haltung kann beitragen, zu einem Eigentumsverständniszu kommen, das eine Balance zwischen Nutzung und Regenerationdes Bodens herbeiführt. Das Eigentumsverständnis kann deswegenals umweltfreundlich charakterisiert werden.Zwei Wege gibt es, die zu einer umweltgerechten Eigentumsordnungführen. Entwe<strong>der</strong> werden Umweltaspekte in <strong>der</strong> Privateigentumsordnungselbst stärker wirksam. <strong>Die</strong>s läuft auf einen Ausbau des Privateigentumsan Umweltgütern hinaus, denn dem Eigentümer wird die Verantwortungfür umweltverbrauchende und -belastende Wirkungen zugewiesen. Deran<strong>der</strong>e Weg geht von <strong>der</strong> Annahme aus, daß die natürliche Umwelt ansich ein gemeinschaftlich-öffentliches Gut ist. Das bedeutet nun nicht,daß wirtschaftliche Nutzung kollektiviert werden müßte. Udo Ernst Simonisschlägt ein Eigentumsrecht vor, das dem ökologischen Imperativ gerechtwerden kann. <strong>Die</strong>ses Eigentumsrecht an Umweltgütern wäre geteilt:das wirtschaftliche Eigentum an Umweltgütern als individuelles Dominiumund das gemeinschaftliche Patrimonium. Das Konzept des Patrimoniumsgeht davon aus, daß die wirtschaftliche Nutzung <strong>der</strong> Umweltgüterdem Anspruch auf Eigentum unterzuordnen ist. <strong>Die</strong> Umwelt wirdalso als ein Erbgut betrachtet, das <strong>der</strong> Mensch nicht geschaffen hat, unddas auch künftigen Generationen als Existenzgrundlage dienen soll. Nutzungsrechtund Eigentumsrecht müßten miteinan<strong>der</strong> verbunden sein. Invielen Gemeinden gibt es noch aus älteren Zeiten stammende Eigentumsordnungen,die gemeinschaftliches Bodeneigentum kennen, dasprivate Nutzung erlaubt. In <strong>der</strong> Allmendenordnung gibt es beispielsweiseeine solche Verbindung von privater Nutzung und Eigentum. Udo ErnstSimonis schlägt vor, Elemente einer umweltgerechten Eigen-366


tumsordnung im Sinne des Patrimoniums in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaftzu verankern. 1093<strong>Die</strong>se von Udo Ernst Simonis gefor<strong>der</strong>te “Verknüpfung von individuellerwirtschaftlicher Nutzung des Eigentums und Erhaltung <strong>der</strong> ökologischenFunktionsbestimmung” 1094 kommt dem Eigentums- und Besitzverständnis<strong>der</strong> Bibel recht nahe. Der Schutz <strong>der</strong> natürlichen Umwelt istkonstitutiver Bestandteil eines Eigentums, als dessen “Besitzer” Gott unddessen “Nutzer” die Menschen verstanden werden. <strong>Die</strong> Menschen sindTreuhän<strong>der</strong> und Nutzer eines Gutes, dessen Besitzer nicht sie, son<strong>der</strong>nGott ist. Grund und Boden sind grundsätzlich nicht verkäuflich, son<strong>der</strong>ndienen allen als Existenzgrundlage in einer bäuerlichen Gesellschaft (Lev25,23). Akkumulationsprozesse von Grund und Boden werden mit <strong>der</strong>Institution des Jobeljahres zyklisch korrigiert (Lev 25, 8ff.).Zwischen <strong>der</strong> Eigentumsfrage und <strong>der</strong> Nutzung des Besitzes an Bodeno<strong>der</strong> Ressourcen und <strong>der</strong> For<strong>der</strong>ung nach Solidarität, o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>sausgedrückt: zwischen Ökonomie, Solidarität und Ökologie existiertdurch einen solchen Eigentumsbegriff ein enger innerer Zusammenhang.Ein schöpfungsgerechter Umgang mit Eigentum und Solidarität bleibt solangeeine Fiktion, wie das Eigeninteresse eines Besitzindividualismussich als Strukturprinzip <strong>der</strong> Gesellschafts- und Wirtschaftsordnung darstellenkann. Solidarität und Ökologie sind dann nichts weiter als einenachträgliche Reparaturmaßnahme, welche die schädlichen Nebenfolgendes Besitzindividualismus abfangen soll. Deshalb sagt auch dasWirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen: “Mit einer ökologischen Nachbesserungdes Modells <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft ist es nicht getan.Notwendig ist vielmehr eine Strukturreform zu einer ökologisch-sozialenMarktwirtschaft insgesamt” (Ziff. 148). <strong>Die</strong> Rede von <strong>der</strong> Bestimmung <strong>der</strong>Güter dieser Erde für alle zur Befriedigung ihrer Lebensbedürfnisse wirdohne einen solidarischen und schöpfungsgerechten Eigentumsbegriff zueinem leeren Pathos.Gegen die Ökonomisierung aller Lebenswelten setzt die biblische Traditiondie Institution des Sabbat. Erich Fromm legt den Sabbat auf dieseökologische Dimension hin aus: “Der Sabbat ist ein Tag des Waffenstillstandesim Kampf des Menschen mit <strong>der</strong> Natur.” 1095 Der wöchentlichwie<strong>der</strong>kehrende Sabbat ist <strong>der</strong> wöchentlich wie<strong>der</strong>kehrende Einspruchgegen eine Ökonomisierung aller Lebensbereiche. <strong>Die</strong> Erde steht demMenschen nicht zur grenzenlosen Ausbeutung und zum grenzenlosenNutzen zur Verfügung. Der Sabbat ist aber mehr als nur ein Waffenstill-1093U.E. Simonis, Ökologischer Imperativ und privates Eigentum, Wissenschaftszentrum Berlin,1996, 12. Dort auch weitere Literaturangaben.1094 Ebd. 14.1095 E. Fromm, Haben o<strong>der</strong> Sein, 57.367


stand. Der aus Deutschland emigrierte jüdische Theologe AbrahamHeschel bewertete den Sabbat: “Er ist die tiefe bewußte Harmonie desMenschen und <strong>der</strong> Welt, Mitgefühl für alle Dinge und Teilhabe an demGeist, <strong>der</strong> vereint, was unten und oben ist.” 1096 Deshalb ist <strong>der</strong> Sabbatbeson<strong>der</strong>s in <strong>der</strong> ökumenischen Sozialethik zunehmend als ein Zeichen<strong>der</strong> Versöhnung von Ökonomie und Ökologie wie<strong>der</strong>entdeckt worden.<strong>Die</strong> Vollversammlung des Ökumenischen Rats <strong>der</strong> Kirchen in Canberra1991 stellt einen beispielhaften Versuch dar, alte Einsichten <strong>der</strong> biblischenTradition für gegenwärtige Fragestellungen neu zu erschließen.Sowohl für Juden als auch für Christen bietet die Einführung des Sabbat,des Sabbatjahres und des Jubeljahres eine deutliche Vision <strong>der</strong> ökonomischenund ökologischen Versöhnung, <strong>der</strong> sozialen und persönlichen Erneuerung.Der Sabbat erinnert uns daran, daß die Zeit, <strong>der</strong> Bereich desSeienden, nicht lediglich Verfügbares ist, son<strong>der</strong>n eine heilige Dimensionhat, die unserem Kontroll-, Befehls- und Unterdrückungsdrang wi<strong>der</strong>steht.In den Konzepten des Sabbat- und des Jubeljahres verbinden sich dieökonomische Effektivität bei <strong>der</strong> Nutzung <strong>der</strong> knappen Ressourcen mit <strong>der</strong>Haushalterschaft über die Umwelt, das Gesetz mit dem Mitleid, die Wirtschaftsordnungmit <strong>der</strong> sozialen Gerechtigkeit. Nicht Produktion und Konsumerhalten unsere Erde, son<strong>der</strong>n die ökologischen Systeme, die die Voraussetzungenfür das menschliche Leben bilden. Es gibt eine enge undunauflösliche Verbindung zwischen Ökonomie und Ökologie, wie <strong>der</strong>konziliare Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung <strong>der</strong>Schöpfung deutlich gezeigt hat. 1097<strong>Die</strong> biblische Perspektive lenkt den Blick auf den einen Haushalt <strong>der</strong>Schöpfung, in dem Ökonomie und Ökologie versöhnt werden sollen. ÄlteresWissen, das in <strong>der</strong> Bibel überliefert wird, eröffnet eine neue Perspektivezur Wahrnehmung von Problemen, die ansonsten nicht als solchebegriffen würden. Darin zeigt sich ihre Aktualität.In den Vorbereitungsdokumenten zur 23. Vollversammlung des ReformiertenWeltbundes (1997) heißt es:Der Sabbat erinnert an die Tatsache, daß die Schöpfung einen Wert ansich hat und nie einfach auf “natürliche Ressourcen” reduziert werdenkann. In <strong>der</strong> Bibel bezieht sich <strong>der</strong> Aufruf, den Sabbat zu halten, nicht nurauf einen Tag von sieben, son<strong>der</strong>n auf einen Lebensstil. (...) In <strong>der</strong> heutigenWelt mit ihrer Kultur <strong>der</strong> Habgier und Ausbeutung ist es ein Zeichen1096 A. Heschel, Der Sabbat, 28.1097 W. Müller-Römheld (Hg.), Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1991. OffiziellerBericht <strong>der</strong> Siebten Vollversammlung des Ökumenischen Rates <strong>der</strong> Kirchen, 7.- 20.Februar 1990 in Canberra, Frankfurt 1991, 54.368


von Wi<strong>der</strong>stand, gerecht zu handeln und sich an den Sabbat zu erinnern,ihn heilig zu halten. <strong>Die</strong>s stellt eine Gegenkultur dar. 1098<strong>Die</strong> Sabbattradition erinnert an ein Konzept, das Ökonomie und Ökologiedurch solche Regulierungen in den Institutionen von Sabbat undSabbatjahr versöhnt, die Naturnutzung auf ein Maß begrenzt und die Regenerationsfähigkeit<strong>der</strong> Natur nicht überfor<strong>der</strong>t.9.3.3 Soziale und ökologische Marktwirtschaft<strong>Die</strong> lei<strong>der</strong> viel zu wenig beachtete Gemeinsame Erklärung des Rates <strong>der</strong>EKD und <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz Verantwortung wahrnehmenfür die Schöpfung 1099 hatte bereits 1985 gefor<strong>der</strong>t, das Konzept einer SozialenMarktwirtschaft um die ökologische Komponente zu erweitern. In<strong>der</strong> Erklärung heißt es:Es geht dabei um eine Wirtschaftsordnung, in <strong>der</strong> freier Wettbewerb durchAnreize und Auflagen Impulse zugunsten ökologischer Ziele enthält und<strong>der</strong> ein ökologiepolitischer Rahmen gesetzt ist, <strong>der</strong> den Wirtschaftsprozeßgegenüber <strong>der</strong> Umwelt in eindeutige Schranken verweist. (...) Der Gedankeeiner „ökologisch verpflichteten sozialen Marktwirtschaft setzt also aufdie Anpassungsfähigkeit des wirtschaftlichen Systems sowie auf die unternehmerischeEinsicht und das Interesse, bei gegebenen Anreizen Aufgabenaufzugreifen, die <strong>der</strong> Natur und dem Gemeinwohl dienen. (Ziff. 81)Strukturelle Eingriffe sind gefor<strong>der</strong>t, damit <strong>der</strong> ökologische Umbau <strong>der</strong>Sozialen Marktwirtschaft vollzogen werden kann. “<strong>Die</strong> Verpflichtung aufden Schutz <strong>der</strong> Umwelt stellt keine kosmetische Korrektur <strong>der</strong> bestehendenWirtschaftsordnung dar, son<strong>der</strong>n einen grundlegenden Einschnitt”(Ziff. 83). Das Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen nimmt diese Argumentationauf, wenn es die Erweiterung des Begriffs <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftum das Attribut “ökologisch” (Ziff. 142) for<strong>der</strong>t. Lei<strong>der</strong> jedochwerden die strukturellen Ursachen <strong>der</strong> ökologischen Schädigung als Folgeeiner auf Wachstum angelegten Wirtschaftsweise nicht thematisiert.Wie läßt sich aber eine Marktwirtschaft ohne Wachstumszwang konzipieren?<strong>Die</strong>se entscheidende Frage läßt das Wort <strong>der</strong> Kirchen unbeantwortet.Auch wenn Ökologie als Referenzrahmen für ökonomisches Denkenseit den Grenzen des Wachstums (Club of Rome) erst jüngeren Datumist, lassen sich doch Traditionslinien aufzeigen, die bis zu den Begrün<strong>der</strong>n<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft zurückreichen und an Aktualität nichts1098 Reformierter Weltbund, Schöpfung und Gerechtigkeit, 235.1099 Gütersloh 1985.369


verloren haben. In seiner frühesten Schrift, die sich mit <strong>der</strong> Konzipierungeiner Sozialen Marktwirtschaft beschäftigt, setzt sich Alfred Müller-Armack bereits 1948 (!), mit den “Problemen des Überflusses” auseinan<strong>der</strong>.1100 Weitsichtig for<strong>der</strong>te er deshalb in einer Zeit, als große TeileDeutschlands noch in Trümmern lagen, Instrumentarien zur Bändigungdes erwarteten Überflusses. Auch Wilhelm Röpke war sich <strong>der</strong> konstitutivenund immanenten ökologischen Brisanz <strong>der</strong> Marktwirtschaft bewußt.Der Wachstumszwang för<strong>der</strong>e einen Kult <strong>der</strong> Produktivität, <strong>der</strong> materiellenExpansion und des Lebensstandards. 1101 “Entscheidend sind dieDinge jenseits von Angebot und Nachfrage, von denen Sinn, Würde undinnere Fülle abhängen, die Zwecke und Werte, die dem Reich des Sittlichenim weitesten Verstande angehören.” 1102 <strong>Die</strong> Ökologiedebatte zeigt,daß die Soziale Marktwirtschaft von sich aus keineswegs ökologischeRücksichten kennt.Das Postulat einer auch ökologisch verpflichteten Sozialen Marktwirtschaftwird sich nur dann einlösen lassen, wenn von <strong>der</strong> Anthropozentrikdes ökonomischen Interessenmotivs Abschied genommen wird. Das geschiehtdadurch, daß erstens ein neuer Wirtschaftsbegriff realisiert wird,<strong>der</strong> ein ökologieverträgliches Ziel des Wirtschaftens formuliert, und zweitensein auf Nutzung und Verbrauch <strong>der</strong> Ressourcen <strong>der</strong> Erde reduziertesEigentumsverständnis revidiert wird. Ein an realen Alternativen orientiertesDenken wird allerdings davon ausgehen müssen, daß außerhalb<strong>der</strong> arbeitsteiligen Industriegesellschaft o<strong>der</strong> gar gegen sie keine Auswegeaus dem ökologischen Desaster gefunden werden können. Hier könnteman sich vom biblischen Schöpfungs- und Eigentumsverständnis inspirierenlassen, um zu einer mitweltgerechten Zivilgesellschaft zu gelangen,die realpolitische Lösungsansätze für eine zukunftsweisendeÖkonomie entwickelt und umsetzt.9.4 Vierter wirtschaftsethischer Impuls: Marktwirtschaftliche Effizienz nutzen<strong>Die</strong> säkularen Umbrüche des Jahres 1989 haben die ökonomische Effizienzeinzelwirtschaftlicher Produktion in Marktwirtschaften bestätigt. Dasökonomische Urteil jedoch reicht nicht für ein wirtschaftsethisches Urteilaus. Marktwirtschaften können ja höchst effizient in <strong>der</strong> Produktion <strong>der</strong>Güter sein, trotzdem aber soziale, humane o<strong>der</strong> ökologische Schäden1100 A. Müller-Armack, <strong>Die</strong> Wirtschaftsordnungen, sozial gesehen, 154.1101W. Röpke, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach-Zürich, Stuttgart 1966,166.1102 Ebd. 22.370


hervorrufen. Für ein einzelnes Unternehmen kann als vernünftig gelten,was für eine gesamte Gesellschaft in keiner Weise vernünftig zu seinbraucht. Der Wirtschaftsethiker Peter Ulrich for<strong>der</strong>t deshalb, daß Marktwirtschaftengerade wegen ihrer ökonomischen Effizienz “zur Vernunft zubringen” 1103 seien. <strong>Die</strong> Beantwortung <strong>der</strong> ökonomischen Grundfragennach dem Was, Wie und Für wen darf trotz marktwirtschaftlicher Effizienznicht von <strong>der</strong> Eigenlogik des Marktes erwartet werden: MarktwirtschaftlicheEffizienz ist nicht Ergebnis <strong>der</strong> Logik des Marktes, son<strong>der</strong>nmuß in einem demokratischen Prozeß erfolgen.Der marktradikale Neoliberalismus erwartet von einem freien, <strong>der</strong>eguliertenMarkt die höchste ökonomische Effizienz. Ökonomische Freiheitsteht deshalb auch im Zentrum. Marktwirtschaftliche Effizienz kann abernicht allein auf den Erfolg einzelwirtschaftlicher Produktionsweise zurückgeführtwerden. Das Gegenteil hat sich geschichtlich erwiesen: InnovativePartizipation und demokratische Teilhabechancen sind Voraussetzungfür die ökonomische Effizienz <strong>der</strong> Marktwirtschaft. Das WirtschaftsundSozialwort <strong>der</strong> Kirchen verweist auf diesen Zusammenhang, wennes gegen kurzfristige isolierte Gewinninteressen, die sich am Markt realisierenlassen, auf die gesellschaftliche Einbettung des Marktes hinweist.“<strong>Die</strong>se Perspektiven und Maßstäbe sind nicht wirklichkeitsferne Postulate,son<strong>der</strong>n Ausdruck einer langfristig denkenden Vernunft, die sich nichtdurch vermeintliche Sachzwänge o<strong>der</strong> durch kurzfristige Interessen irremachen läßt” (Ziff. 126). Ein soziales Klima o<strong>der</strong> verläßliche gesellschaftlicheund soziale Strukturen sind in diesem Sinn als eine gute Rahmenbedingungökonomischen Handelns zu verstehen. Finden die wirtschaftsethischenWertentscheidungen für eine Kombination von Ökonomieund Solidarität, von ökonomischer Effizienz und sozialer Einbindungin <strong>der</strong> Politischen Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> einen Rückhalt?9.4.1 Regulierung des Marktes in <strong>der</strong> <strong>Tora</strong><strong>Die</strong> wirtschafts- und sozialethisch relevanten Rechtskorpora <strong>der</strong> biblischenTradition bemühen sich um eine intensive Auseinan<strong>der</strong>setzung mitden Wirtschaftssystemen ihrer Zeit. 1104 Akkumulationsprozesse, die zuasymmetrischen Verhältnissen in <strong>der</strong> Gesellschaft führen, sind nicht nureine Signatur kapitalistischer Marktgesellschaften, son<strong>der</strong>n beginnen bereitsmit dem Übergang von Kleingruppengesellschaften zu Ackerbaukulturenund setzen sich in <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Städtegründungen und später inden Großreichen fort. In allen antiken Gesellschaften gab es Gegenbe-1103 P. Ulrich, Transformation <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft, 483.1104 Vgl. oben Abschnitt 4.2.371


wegungen gegen zerstörerische Akkumulations- und Verelendungsprozesse.Auch die <strong>Tora</strong> mußte sich mit sozialen Folgen einer Marktökonomieauseinan<strong>der</strong>setzen. Das Wirtschafts-, Sozial- und Arbeitsrecht <strong>der</strong><strong>Tora</strong> lebt von dem Grundsatz, daß alle Menschen gleichen Zugang zuden Lebensressourcen haben sollen. Rainer Albertz sieht deswegen in<strong>der</strong> Wirtschaftsethik <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> den Versuch, “gegen die unterdrückendenZwänge wirtschaftlicher Eigengesetzlichkeit” 1105 Regulierungen <strong>der</strong>Marktökonomie zu stellen.Der Markt gehört wirtschaftshistorisch zu den ältesten gesellschaftlichenEinrichtungen; in Ausmaß und Bedeutung für die jeweiligen Gesellschaftenist er allerdings unterschiedlich zu bewerten. 1106 <strong>Die</strong> Bibel kannauf ein jahrtausendealtes Erfahrungswissen im Umgang mit dem Marktverweisen. <strong>Die</strong> biblischen Wirtschaftsgesetze sind entstanden in Auseinan<strong>der</strong>setzungmit dem Markt. So kennt die <strong>Tora</strong> Bestimmungen in ihremWirtschaftsrecht, die Verkauf und Handel regeln und die Gesetzedes Marktes suspendieren. Der Kauf und Erwerb von Grund und Bodenwird nicht als ein <strong>der</strong>eguliertes freies Marktgeschehen geregelt (Lev25,14 ff.). Allein <strong>der</strong> Gebrauchswert einer Immobilie zählte ökonomisch,denn <strong>der</strong> Wert resultierte aus <strong>der</strong> Anzahl <strong>der</strong> Ernteerträge. Spekulationauf <strong>der</strong> Basis des Gesetzes von Angebot und Nachfrage war ausgeschaltet.1107Auch das Neuen Testament mußte sich mit den Grundprinzipien <strong>der</strong>Marktwirtschaft auseinan<strong>der</strong>setzen. Das Gleichnis vom reichen Kornbauernhandelt als eines <strong>der</strong> wenigen neutestamentlichen Texte ausdrücklichvon marktwirtschaftlichen Vorgängen (Lk 12,16-21). 1108 Es erzähltvon einem reichen Bauern, <strong>der</strong> die Chancen nutzt, die eine freieMarktwirtschaft ihm bieten. Er verknappt das Angebot, indem er denWeizen in Scheunen hortet und nicht auf dem Markt verkauft. Wirtschaftlichist Knappheit auf dem Markt vernünftig, denn ein knappes Angebottreibt die Preise hoch. Der reiche Bauer erzeugt eben diesen wirtschaftlicherwünschten Knappheitseffekt. Sein Verhalten ist ökonomisch vernünftig;es folgt <strong>der</strong> Logik des Marktes.1105 R. Albertz, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge, 309.1106 H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Antike, 23 - 35.1107 Vgl. die näheren Ausführungen und Berechnungen in Abschnitt4.2.2.1108 <strong>Die</strong> erste unveröffentlichte Vorlage für eine Diskussionsgrundlage für den Konsultationsprozeßüber ein gemeinsames Wort <strong>der</strong> Kirchen “Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland”bezog sich noch auf dieses Gleichnis und sah in ihm ein Beispiel für ein Verhalten, dasVorsorge nur als die eigene Versorgung, sein eigenes Essen und seine Getränke begreift. “Zukunftsverantwortungmuß mehr einschließen, als nur die jeweils eigene Versorgung.” <strong>Die</strong>seErzählung, die wie nur wenige von marktwirtschaftlichem Verhalten spricht, fiel aber dem weiterenRedaktionsprozeß zum Opfer.372


Der Anbau von Getreide war <strong>der</strong> wichtigste landwirtschaftliche Produktionszweig.1109 Weizen war das Hauptnahrungsmittel in <strong>der</strong> Antike, wiePlinius‟ Aussage belegt: “Nichts ist fruchtbarer als <strong>der</strong> von <strong>der</strong> Natur zurmenschlichen Hauptnahrung bestimmte Weizen.” 1110 Ähnlich einMidrasch: “Dem Weizen gegenüber ist alles Nebensache, er erhält dieWelt.” 1111 Palästina nennt die Bibel ein Land des Weizens und <strong>der</strong> Gerste(vgl. Num 8,8; 2 Sam 17,28; Jes 28,25; Jer 41,8; Joel 1,11; Rut 2,23;Chron 2,14). 1112 Mit Getreideprodukten, hauptsächlich mit Weizenbrot,deckte man die Hälfte des täglichen Kalorienbedarfs. 1113 In <strong>der</strong> Antikeschwankten die Getreidepreise auch unabhängig von Notsituationen wieMißernten erheblich. Durch Verknappung wurde versucht, den Getreidepreishochzutreiben. 1114 Mangellagen und sogar Ernährungskrisen wurdenkünstlich geschaffen. <strong>Die</strong> Weizenpreise reagierten deutlich aufKnappheiten im Angebot, sofern nicht <strong>der</strong> Staat regulierend eingriff. 1115 InNotzeiten stieg <strong>der</strong> Weizenpreis um das 16fache an. <strong>Die</strong>se Preissteigerung,die für die Bevölkerung Hungersnot bedeutete und den Getreidehändlernenorme Gewinnspannen bescherte, spricht auch ein palästinensischeSprichwort an, das Joachim Jeremias zitiert: “<strong>Die</strong> Wuchererbeuten die Notlage aus; es ist die Rede von <strong>der</strong> Regen bringenden „Wolke,die das Unglück <strong>der</strong> Wucherer (wörtlich: <strong>der</strong> Ansetzer des Marktpreises)ist‟.” 1116 Von Rabbi Akiba (50/55 - 135 n. Chr.) stammt die knappeDefinition des Wirtschaftsgesetzes von Angebot und Nachfrage: “<strong>Die</strong>Mengen des zum Markte gebrachten Getreides wurden größer und nahmenwie<strong>der</strong> ab, so (kehrte) <strong>der</strong> Markt (will sagen die Preise am Markt)wie<strong>der</strong> zu seinem alten Platze (Stand) zurück.” 1117 Cicero verweist bei<strong>der</strong> Preisgestaltung von landwirtschaftlichen Produkten auf eine herrschendePraxis nach den Gesetzen des Marktes: “Das Getreide hat nurbei Mißernten einen Preis; ist die Ernte reichlich ausgefallen, so verkauftes sich unvorteilhaft.” 1118 Er spricht hier ein zentrales Gesetz <strong>der</strong> Marktwirtschaftan: <strong>Die</strong> Verknappung des Angebotes treibt die Preise hoch.1109 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 99.1110 Plinius, nat. hist. XVIII (XXI), 508d, zit. ebd. 101.1111 Mdr Peiktha Rabbathi zu Ki -Theze X, 35 a, zit. ebd. 297.1112 Zum Gertreideanbau vgl. die Ausführungen ebd. 99ff; 297ff; vgl. auch: J. Jeremias, Jerusalemzur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtliche Untersuchung zur neutestamentlichen Zeitgeschichte,3. neubearb. Aufl. Göttingen 1962, 42ff; J. Habbe, Palästina zur Zeit Jesu. <strong>Die</strong> Landwirtschaftin Galiläa als Hintergrund <strong>der</strong> synoptischen Evangelien, Neukirchen - Vluyn 1996.1113 A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 99.1114 Zu den Weizenpreisen in <strong>der</strong> Antike: Ebd. 102, 106.1115 M.I. Finley, <strong>Die</strong> antike Wirtschaft, 209.1116 Gen R. XIII, zit. nach: J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, 137f. Dort auch weitere Angabenzu den Weizenpreisen in normalen Zeiten und auch in Zeiten <strong>der</strong> Not.1117 Zit. in A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, XX.1118 Cicero, Verr II, 3, 227, zit. nach L. Schottroff, W. Stegemann, Jesus, 163, Anm. 33.373


<strong>Die</strong>ses Wirtschaftsgesetz von Angebot und Nachfrage war in <strong>der</strong> Antikenicht nur bekannt; es wurde auch gezielt eingesetzt. 1119 <strong>Die</strong> knappenHinweise deuten auf marktwirtschaftliche Vorgänge bei <strong>der</strong> Versor-gung<strong>der</strong> Bevölkerung mit Getreide.Luise Schottroff und Wolfgang Stegemann deuten das Gleichnis vomreichen Kornbauern als ein Gleichnis, das von einem Getreidespekulantenhandelt. 1120 Auch Aurel von Jüchen stellt sich den Bauern als einen“üblen Spekulanten” 1121 vor. <strong>Die</strong> individuelle Bereicherung mit Hilfe <strong>der</strong>Gesetze des Marktes macht den Kern des Gleichnisses vom reichenKornbauern aus. Der durch Getreidespekulation erworbene Reichtumsoll ein sorgenfreies Leben in Überfluß ermöglichen (Lk 12,19). DerKornbauer agiert ökonomisch vernünftig: Er verknappt das Angebot. <strong>Die</strong>sekünstliche Verknappung treibt die Preise hoch. Das ökonomisch vernünftigeVerhalten am Markt ist jedoch sozial verheerend. Der ökonomischeKnappheitspreis ist unsozial, denn die Armen haben unter dem erhöhtenMarktpreis zu leiden. Der reiche Kornbauer zieht aus <strong>der</strong> Notlage<strong>der</strong> Armen seinen Nutzen. Er beteiligt sich jedoch an einem “Wirtschaftsverbrechen,das für die antike Wirtschaft von zentraler Bedeutung ist.” 1122Lukas fällt ein Urteil über das systemlogische Verhalten des Kornbauernin einer Ökonomie des freien Marktes: Das marktrationale Verhaltenwird ethisch und theologisch als Verbrechen gedeutet. Denn <strong>der</strong> erwirtschafteteGewinn stammt aus einer Notlage von Mitmenschen. Lukasbeurteilt das ökonomische Verhalten nach <strong>der</strong> Logik des Marktes ethischund theologisch. Er nennt die Haltung des reichen Bauern “töricht” (Lk12,20). “Töricht” (hebr. kesil) bezeichnet nicht einen intellektuellen Mangel.Das negativ geprägte Bild des Toren ist nicht zuletzt theologisch geprägt,zumal die Antitypik von “Tor” (hebr. kesil) und “Weiser” (hebr.hakam) dem Gegensatz von Frevler (hebr. rasa) - dem <strong>der</strong> “Tor” nahekommt- und Gerechten (hebr. saddiq) entspricht (siehe etwa Spr 10,23;15,7). 1123 Das Verhalten des reichen Bauern ist als töricht zu bezeichnen,denn es ist ungerecht und gemeinschaftsschädigend.1119 Gegen E.W. Stegemann, E. Stegemann, Urchristliche Sozialgeschichte, 40. “Das Wechselspielvon Angebot und Nachfrage, das nach <strong>der</strong> volkswirtschaftlichen Lehre vom Grenznutzen denPreis bestimmt, kannten die antiken Menschen nicht.”1120 L. Schottroff u. W. Stegemann, Jesus von Nazareth - Hoffnung <strong>der</strong> Armen, Stuttgart, Berlin1978, 125ff.. <strong>Die</strong>ser Deutung habe ich mich angeschlossen in meinem Beitrag: “Ich will größereScheunen bauen.” (Lk 12,18) Genug durch Gerechtigkeit und die Sorge um Gerechtigkeit,in: K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 105-114.1121 A. von Jüchen, Jesus zwischen reich und arm. Mammonworte und Mammongeschichten imNeuen Testament, Stuttgart 1985, 30.1122 L. Schottroff, W. Stegemann, Jesus, 126.1123 M. Saeboe, Art. kesil = Tor, in: THAT, Bd. I., 4. Aufl. München , Zürich 1984, Sp. 838.374


Das Gleichnis vom reichen Kornbauern schil<strong>der</strong>t die Folgen desMarktmechanismus von Angebot und Nachfrage. Marktwirtschaftlich organisierteÖkonomien beachten prinzipiell nicht die Grundbedürfnisse,denn sie bekommen nur die Bedürfnisse in den Blick, die mit Geld ausgestattetsind. Mit “Leben”, “Essen”, “Trinken” sind in Lk 12,22 dieGrundbedürfnisse des Menschen angesprochen. Aufgabe <strong>der</strong> Ökonomieals System ist die Bereitstellung von Gütern zur Befriedigung menschlicherBedürfnisse. Aber erst wenn Geld o<strong>der</strong> Kaufkraft den Bedürfnissenzugeordnet werden, entsteht für Marktwirtschaften die realisierbare GrößeBedarf. Auf Bedarf, nicht aber auf Bedürfnisse reagieren die Märkte.“Gottes Abbau <strong>der</strong> Knappheit durch Gottes Gerechtigkeit schafft einenneuen Menschen, das Geschöpf, das seine Genugtuung darin findet,Gottes Recht und Gerechtigkeit zu dienen. Der Glaube an den Gott des„Genug durch Gerechtigkeit‟ befreit den Menschen nicht von jedem Hunger,son<strong>der</strong>n er verwandelt diesen in den Hunger nach Gerechtigkeit.Ziel des menschlichen Lebens ist nicht Konsum und nicht Akkumulation,son<strong>der</strong>n das Tun <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Alle Bedürfnisse sollten im Hinblickdarauf definiert werden.” 1124 Wenn die Versorgung mit den lebenswichtigenGütern <strong>der</strong> Logik des Marktes allein überlassen wird, werden dieBedürfnisse <strong>der</strong> Armen vernachlässigt. Gemeinwohlorientierungen sindeinem Denken, das marktwirtschaftlich vernünftig ist, zunächst fremd.Auf das eingeschränkte ökonomische Ziel <strong>der</strong> Güterproduktion bezogen,ist diese Ökonomie effektiv. Sozial gesehen aber ist sie katastrophal.Nicht die Produktionsleistungen <strong>der</strong> Weizenernte sind fehlerhaft, son<strong>der</strong>ndie Verteilungsverhältnisse.In seiner Rede an die Jünger (Lk 12,22-31) gibt Jesus eine Antwortauf die herrschende Ökonomie des Marktes, die in <strong>der</strong> Traditionslinie <strong>der</strong>Hebräischen Bibel und <strong>der</strong> aus <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> weiterentwickelten mündlichenGesetzestradition, dem Talmud, liegt. Zwei Ökonomien mit ihren je eigenennormativen Gehalten stehen sich gegenüber. Lukas verbindet dieGleichniserzählung vom reichen Kornbauern durch ein “Deswegen” (Lk12,22) mit <strong>der</strong> folgenden Anweisung zu einer ökonomischen Alternativean die Jünger. “Deswegen sage ich euch: Sorgt euch nicht um euer Lebenund darum, daß ihr etwas zu essen habt, noch um euren Leib unddarum, daß ihr etwas anzuziehen habt” (Lk 12,22). Jener Ökonomie alsUmgang mit Knappheit, wie sie <strong>der</strong> reiche Kornbauer praktiziert, setztJesus in seiner Rede an die Jünger eine Ökonomie als Umgang mit Vertrauengegenüber. <strong>Die</strong> Mahnung zur Sorglosigkeit will nicht zur einerSorglosigkeit anhalten, die die Probleme <strong>der</strong> Existenzsicherung zurückstellt,son<strong>der</strong>n weist auf Gott hin, <strong>der</strong> wie ein guter Ökonom für die1124 D.M. Meeks, God the economist, 177, eigene Übersetzung.375


Schöpfung sorgt. “Euer Vater weiß, daß ihr das alles braucht. Euch jedochmuß es um sein Reich gehen; dann wird euch das an<strong>der</strong>e dazugegeben”(Lk 12, 30f.). Das Wirtschaften aus Vertrauen auf den Schöpferorientiert sich am Reichtum <strong>der</strong> Schöpfung. Von dieser Voraussetzungaus wird die Frage gestellt nach <strong>der</strong> gerechten Verteilung dessen, wasvorhanden ist. 1125 <strong>Die</strong> Sorglosigkeit steht für das Paradigma <strong>der</strong> Ökonomiedes Vertrauens. <strong>Die</strong> Sorge soll sich deswegen nicht auf die Knappheitbeziehen, son<strong>der</strong>n auf die Gerechtigkeit. Das Reich Gottes hebt dieSorgen auf, die mit <strong>der</strong> Ökonomie aus Knappheit gegeben sind. Erwartetwird die Befriedigung <strong>der</strong> Lebensbedürfnisse vom Reich Gottes, in demdie Ökonomie nach den Weisungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zum Zuge kommt.Das Gleichnis und die daran anschließende Rede Jesu schil<strong>der</strong>n zweialternative Ökonomien mit ihren jeweils konkurrierenden normativen Absichten:<strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> Bereicherung (Lk 12,16-21) steht gegen dieÖkonomie des Vertrauens auf die Fülle <strong>der</strong> Schöpfung (Lk 12, 22-31).An<strong>der</strong>s gesagt: Sich gegenüber stehen die normative Logik des Marktesund die normative Logik einer Ökonomie des Vertrauens.Innerhalb des marktwirtschaftlichen Systems treibt <strong>der</strong> reiche Kornbauersachgerecht Ökonomie. Er folgt <strong>der</strong> normativen Logik des Marktes.Ein so verstandenes ökonomisch vernünftiges Verhalten ist jedochnach dem Urteil <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> “tödlich”: Der reiche Kornbauer stirbt (Lk12,20f). <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> setzt einen Bezugsrahmen für ein lebensdienlichesökonomisches Handeln: Wirtschaften ist nicht eine Veranstaltung zurGewinnerzielung, son<strong>der</strong>n hat für gerechte Produktion und Distribution zusorgen. Ökonomisch vernünftig ist nach <strong>der</strong> Urteil <strong>der</strong> Bibel nur ein ökonomischesVerhalten, welches das Lebensrecht <strong>der</strong> Armen sichert undeinbezieht. Der Kornbauer und Weizenspekulant ist ein Mann, <strong>der</strong> dieökonomisch vernünftigen Anweisungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zu gerechtem Wirtschaftenmißachtet hat und Ökonomie wie die “Heiden” treibt (Lk12,30).<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> wie auch das Gleichnis vom Kornbauer befaßen sich mit denGrundstrukturen einer Marktökonomie, die seit <strong>der</strong> Antike bis in die Gegenwartdie gleiche geblieben ist: Es ist die erwerbswirtschaftlich geprägteMarktwirtschaft, <strong>der</strong>en Triebfe<strong>der</strong> das Gewinnstreben ist. <strong>Die</strong> for<strong>der</strong>teökonomische Tugend in dieser Ökonomie ist die Habsucht. Vor ihr warntJesus ausdrücklich in <strong>der</strong> Einleitung zu dem Gleichnis (Lk 12,15). <strong>Die</strong>Habsucht ist dort rational und verständlich, wo von einer Knappheit ausgegangenwird, die individuelle und auf Kosten an<strong>der</strong>er überwundenwerden soll (vgl. Lk 12,19). Sie ist Anreiz zu einem erfolgreichen Verhaltenim Rahmen dieser Ökonmie <strong>der</strong> Bereicherung. Bereicherung ist aufden eigenen Nutzen bedacht, sogar dann wenn er sich aus Nachteilen1125 Vgl. die Ausführungen dazu in Abschnitt 4.2.2 und 4.4.4.376


an<strong>der</strong>er ergeben sollte. Der Kornbauer registriert seinen Nutzen: “Ruhdich aus, iß, trink, und freu dich des Lebens” (Lk 12,19). Das Gegenbildgeht von einer Ökonomie aus, die von <strong>der</strong> vorhandenen und anvertrautenFülle <strong>der</strong> Schöpfung ausgeht. Hingewiesen wird auf die Raben, dienicht säen und doch ernten (Lk 12,24), auf die Lilien, die nicht arbeitenund doch prächtig gekleidet sind (Lk 12, 26). Eine Ökonomie, die sich dieFülle <strong>der</strong> Schöpfung zum Leitbild nimmt, erfor<strong>der</strong>t eine an<strong>der</strong>e ökonomischeTugend als die Ökonomie <strong>der</strong> Bereicherung: Nicht die Sorge um dieÜberwindung <strong>der</strong> Knappheit, son<strong>der</strong>n die Sorge um das Reich Gottes,also um eine Ökonomie nach <strong>der</strong> Weisung Gottes (Lk 12,31). 1126 Währendin <strong>der</strong> Ökonomie <strong>der</strong> Bereicherung eigennützige Konkurrenzbeziehungenum die knappen Güter gelten, ist die Ökonomie aus Vertrauenauf die Schöpfung von solidarischen Beziehungen <strong>der</strong>er geprägt, diehaushälterisch mit <strong>der</strong> ihnen gemeinsam anvertrauten Schöpfung umgehen.Welche Leitlinien für die Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> Geltung hatten, könnenfolgende Bestimmung des Talmud verdeutlichen, die ein Verbot desSpeicherns von Grundnahrungsmitteln aussprechen.Man darf keine Früchte (d.h. Getreide), Dinge, die als Lebensmittel dienen,z.B. Wein, Öl und Mehl aufspeichern, wohl aber Gewürze, Kümmel, Pfeffer,die die nicht lebensnotwendigen Dinge repräsentieren. <strong>Die</strong>s gilt nurvon einem Einkauf auf dem Markt, bei <strong>der</strong> eigenen Ernte aber ist es erlaubt:Man darf im Israellande Früchte (Getreide) für drei Jahre aufspeichern:für das Vorjahr des Siebentjahres (im Siebentjahr ist die Bestellungdes Feldes verboten, und die nächste Ernte ist erst am Ende des zweitenJahres nach Beginn des Siebentjahres zu erwarten), für das Siebentjahrund für das Nachjahr des Siebentjahres (...). 1127Das Verbot, Getreide zu speichern, spricht sich nicht gegen eine vernünftigeVorratshaltung aus, son<strong>der</strong>n will verhin<strong>der</strong>n, daß durch Speichernund Zurückhaltung von Gütern <strong>der</strong> Marktpreis steigt. Nicht <strong>der</strong>Markt soll über den Zugang zu lebensnötigen Gütern entscheiden dürfen.Das, was <strong>der</strong> Mensch unbedingt zu seiner Existenz braucht, soll nicht einemMarktpreis unterworfen werden. Denn letztlich würde dies bedeuten,daß <strong>der</strong> Markt über die Zuteilung und den Zugang zu lebenswichtigenGütern entscheidet. <strong>Die</strong>se Talmudbestimmung regelt durchdacht undrechtlich detailliert, wie sich <strong>der</strong> Preis für Grundnahrungsmittel bilden soll:Der Preis für die Grundnahrungsmittel darf kein Marktpreis sein, <strong>der</strong> sichnach Angebot und Nachfrage richtet. An<strong>der</strong>s die sogenannten Luxusgüterwie Gewürze, Kümmel, Pfeffer. <strong>Die</strong>se Güter gehören nicht zum absolutenExistenzminimum, deshalb können <strong>der</strong>en Preise sich am Markt bil-1126 Nähere Ausführungen zu einer Ökonomie <strong>der</strong> Fülle unterAbschnitt: 4.2.2.3.1127 TB Baba Bathra 90b, zit. nach: A. Ben-David, Talmudische Ökonomie, 212.377


den. Zusätzlich regelt <strong>der</strong> Talmud genau, wie mit dem Sabbatjahr umzugehenist. Steht ein Sabbatjahr bevor, dann ist Speichern in einer solchenHöhe erlaubt, daß für das Sabbatjahr selber und für die Aussaatnach dem Sabbatjahr genug Getreidegut vorhanden ist. Das Verbot, dieGrundnahrungsmittel zu horten, soll <strong>der</strong> Gesellschaft einen marktunabhängigenPreis für diese Lebensmittel sichern. Dadurch soll gewährleistetwerden, daß <strong>der</strong> Lebensunterhalt und die Versorgung mit den Grundnahrungsmittelnnicht den Gesetzen des Marktes ausgeliefert sind. Geradedies aber hat <strong>der</strong> reiche Kornbauer getan. Er zieht seinen Nutzenaus einem marktwirtschaftlichen Verhalten, das <strong>der</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>wi<strong>der</strong>spricht.Eine weitere Regelung des Talmud, die für unseren Zusammenhangwichtig ist, reguliert den Handel. Der Zwischenhandel wird ausgeschaltet.Auch diese Bestimmung will eine Versorgung <strong>der</strong> Bevölkerung zu einemPreis ohne einer gewinnbringenden Handelsspanne sichern:Man darf im Israellande an Dingen, die als Lebensmittel dienen, zum BeispielWein, Öl und Mehl, nichts verdienen (d.h. <strong>der</strong> Zwischenhandel istverboten und die Produzenten haben direkt an die Konsumenten zu verkaufen).Man erzählt, daß Rabbi Elasar ben Assarja an Öl und Wein verdiente.Hinsichtlich des Weines war er <strong>der</strong> Ansicht Rabbi Jehudas (<strong>der</strong>meinte, <strong>der</strong> Weingenuß in Israel sei zu beschränken); Öl war in <strong>der</strong> Ortschaftdes Eleasar genügend vorhanden (so daß er durch seinen Verdienstden Preis nicht in die Höhe trieb). <strong>Die</strong> Rabbinen lehren: Man darf anEiern nicht doppelt verdienen. Mari bar Mari sagte: Hierüber streiten Rabund Schmuel: einer erklärt „eines auf zwei‟(d.h. unter “doppelt” ist <strong>der</strong> Verkaufzu doppeltem Preis zu verstehen) und <strong>der</strong> an<strong>der</strong>e sagt: Ein Kaufmannan einen an<strong>der</strong>en Kaufmann - d.h. <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>verkauf ist verboten, dahierdurch zweimal verdient wird. 1128Der Zwischenhandel ist also verboten, erlaubt ist nur <strong>der</strong> Direktverkauf.Der Talmud gibt hier einen Streit <strong>der</strong> Rabbinen wie<strong>der</strong> und belegtdadurch, daß um eine Anpassung <strong>der</strong> ursprünglichen Intention an verän<strong>der</strong>tesozio-ökonomische Verhältnisse gerungen wurde.In <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> steht die Marktregulierung, wie sie hier <strong>der</strong>Talmud for<strong>der</strong>t: ein durch Knappheit hervorgerufener Preis und einepreistreibende Handelsspanne bei Zwischenhandel für Grundnahrungsmittelsoll außer Kraft gesetzt werden. In dieser regulierenden Einschränkungschlägt sich eine jahrhun<strong>der</strong>telange Erfahrung <strong>der</strong> biblischenÜberlieferungen mit den Mechanismen des Marktes nie<strong>der</strong>. <strong>Die</strong> biblischeTradition hält ein Wissen darüber bereit, daß eine reine Marktökonomie1128 TB Baba Bathra 90b, zit. ebd. 212. Festgegt haben die Rabbinen die Gewinnspanne, die alsÜbervorteilung zu bezeichnen ist. Wenn sie ein Sechstel des Einstandspreises (=16,6%) übersteigt,dann kann ein Handel als unerlaubt annuliert werden. Vgl. ebd. 211.378


den ökonomischen Zwecken, nämlich <strong>der</strong> Güterherstellung und Güterverteilungzum Nutzen aller, nicht gerecht werden kann. Aus dieser Erfahrungzieht die <strong>Tora</strong> die Konsequenz, die Möglichkeiten des Marktes zunutzen und seine negativen Effekte auszuschalten. Maßnahmen wurdenalso getroffen, die einerseits die Gewinnspanne aus dem Handel begrenztenund an<strong>der</strong>erseits den Handel mit lebenswichtigen Produktenregelten. Deshalb sollten die Marktprozesse dadurch sozial reguliert werden,daß <strong>der</strong> Preis <strong>der</strong> lebensnotwendigen Güter und die Versorgung <strong>der</strong>Gesellschaft mit Gütern nicht allein über den Markt, son<strong>der</strong>n auch überden Bedarf gesteuert wurde. <strong>Die</strong>se Regulierungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> sind in direkterAuseinan<strong>der</strong>setzung mit den Mechanismen einer Marktwirtschaft entstanden;sie wollen eine Logik <strong>der</strong> Humanität gegen ökonomische Gewinninteressendurchhalten, setzen ethische Ziele gegen vermeintlichökonomische Sachzwänge und entwickeln praktikable Instrumentariengegen negative und unsoziale Effekte eines freien Marktes. Darin zeigtsich die Absicht, ökonomische Vorgänge in die Gestaltungsverantwortungdes Menschen zu geben.Zusammenfassend läßt sich sagen: <strong>Die</strong> Gleichnisrede vom reichenKornbauern und die anschließende Mahnung an die Jünger stehen in <strong>der</strong>Tradition <strong>der</strong> ökonomischen Leitlinien <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und lassen sich auch injene Leitlinien einordnen, die sich in den ökonomischen Regulierungendes palästinensischen Talmud nie<strong>der</strong>schlagen. Zentrales Kriterium ist dieLebensdienlichkeit <strong>der</strong> Ökonomie, die sich gegenüber den Armen erweisenmuß. Hier wird das wirtschaftliche Leben keinesfalls lediglich “miteinfachster Kindlichkeit als eine Angelegenheit des Tages” 1129 betrachtet,wie Ernst Troeltsch die ökonomischen Vorstellungen in Jesu Predigt charakterisiert,son<strong>der</strong>n in <strong>der</strong> Tradition <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> werden Grundhaltungendargelegt, die wirtschaftspraktisch sind und zu einem ökonomischenVerhalten anleiten sollen, das eine Alternative zur herrschenden Ökonomiedarstellte.9.4.2 An Gerechtigkeit und Partizipation gebundene FreiheitFreiheit gilt als Markenzeichen des herrschenden Wirtschaftssystems.<strong>Die</strong> Bibel kennt einen zweifachen Begriff von Freiheit. Der Exodus istdas Symbol <strong>der</strong> äußeren Freiheit, <strong>der</strong> Sabbat das <strong>der</strong> inneren Freiheit.“Kein politischer, sozialer und ökonomischer Exodus aus Unterdrückung,Deklassieren und Ausbeutung führt wirklich in die Freiheit einer menschlichenWelt ohne den Sabbat, ohne das Lassen aller Werke, ohne die1129 E. Troeltsch, <strong>Die</strong> Soziallehren <strong>der</strong> christlichen Kirchen und Gruppen (1912), 46.379


Ruhe findende Gelassenheit in <strong>der</strong> Gegenwart Gottes. (...) Exodus undSabbat gehören also untrennbar zusammen. Sie ergänzen sich notwendig.Sie verkommen und führen nicht zur Freiheit, wenn sie getrennt werdenund nur <strong>der</strong> eine von ihnen zur Grundlage <strong>der</strong> Freiheitserfahrunggemacht werden soll.” 1130 Wie Exodus und Sabbat untrennbar verbundensind, so gehören auch Gerechtigkeit und Freiheit zusammen. Benno Jacobnennt den Sabbat ein “Zeichen <strong>der</strong> sich selbst bestimmenden Freiheit”1131 . <strong>Die</strong>se untrennbare Verbindung zwischen Gerechtigkeit/Exodusund Freiheit/Sabbat enthält eine Wertentscheidung, die wirtschaftsethischvon Belang ist. Begrenzung ökonomischer Freiheiten und Ansprücheist eine wirtschaftsethische Grundkategorie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>: das Sabbatgebotbegrenzt die Ausnutzung von Arbeit, das Sabbatjahr begrenztdie Ausnutzung des Bodens, das Jobeljahr begrenzt die Akkumulationvon Boden und Reichtum, das biblische Eigentumsrecht begrenzt die privatenVerfügungsrechte - generell: nicht Freiheit für eine Eigenlogik <strong>der</strong>Ökonomie, son<strong>der</strong>n Freiheit für eine Logik <strong>der</strong> Humanität durch Begrenzung<strong>der</strong> ökonomischen Dynamik.<strong>Die</strong> Effizienz <strong>der</strong> Marktwirtschaft muß aus ökonomischen und auchaus ethischen Gründen genutzt werden, um Märkte zu organisieren. AmMarkt vorbei getroffene wirtschaftliche Entscheidungen werden bestraft.Das zwingt zu ökonomischer Effizienz. Wofür Bedarf besteht, was produziertwerden soll, was angeboten werden soll, kurz die Allokationsfunktiondes Marktes (nämlich die Steuerung <strong>der</strong> Ressourcen nach den Bedürfnissen),kann sehr wohl über Preise und marktwirtschaftliche Prozesseangezeigt werden. Marktwirtschaften sind ökonomisch effizient,sozialethisch jedoch erst erträglich, wenn sie gesellschaftlich eingebettetsind und sozialethischen Impulsen wie Freiheit und Gerechtigkeit Geltungverschaffen. Aus ethischen Gründen sind deshalb zwei Prämissenzu beachten: Einerseits ist die mo<strong>der</strong>ne, komplex arbeitsteilig organisierteWirtschaft aus Gründen des Effizienz und <strong>der</strong> Koordinationskapazitätauf wesentliche Elemente marktwirtschaftlicher Systemsteuerung angewiesen,an<strong>der</strong>erseits muß Ökonomie immer aus Gründen <strong>der</strong>Lebensdienlichkeit prinzipiell den Charakter eines Subsystems <strong>der</strong> Gesellschafthaben und sich deshalb <strong>der</strong> Gesellschaft unterordnen. <strong>Die</strong>sebeiden Prämissen nennt <strong>der</strong> Wirtschaftsethiker Peter Ulrich treffend diefunktionale Prämisse des Marktes und die normative Prämisse des Vorrangs<strong>der</strong> Ethik vor <strong>der</strong> Logik des Marktes. 1132 Wirtschaftsethisch gesehenmüssen beide Prämissen beachtet werden.1130J. Moltmann, Gott in <strong>der</strong> Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, 3. Aufl. München 1987,289f.1131 B. Jacob, Das Buch Exodus, 573.1132 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 333f.380


<strong>Die</strong> Denkschrift <strong>der</strong> EKD Gemeinwohl und Eigennutz proklamiert jenseits<strong>der</strong> Fundamentalalternative Marktwirtschaft o<strong>der</strong> Planwirtschaft einFreiheitspostulat: Das demokratische Recht aller Wirtschaftssubjekte aufBeteiligung (Ziff. 28). Aus freiheitsethischen Motiven ist “die SozialeMarktwirtschaft als eine demokratische Wirtschaft zu gestalten” (Ziff.195). <strong>Die</strong> Demokratiefähigkeit <strong>der</strong> Marktwirtschaft muß folglich in “Leitideeneiner republikanischen Ethik des mo<strong>der</strong>nen Wirtschaftsbürgers” 1133ihren Ausdruck finden. Politische Bürgerrechte und Wirtschaftsbürgerrechtegehören zusammen, wenn das Demokratieprojekt <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>nenicht unvollendet abgebrochen werden soll. <strong>Die</strong> neuzeitliche Vorstellungpolitischer Freiheitsrechte findet in wirtschaftlich-sozialen Rechten ihreErgänzung. Wirtschaftsbürgerrechte haben nicht nur partizipative Momente<strong>der</strong> Mitsprache und Mitbestimmung. <strong>Die</strong> Idee des Wirtschaftsbürgerswill in aktiven Teilhaberechten auch eine Entsprechung zur angemessenenVerteilung des Sozialproduktes einlösen. Teilhabe und Beteiligungsind eine Form <strong>der</strong> Gerechtigkeit. “<strong>Die</strong> Frage <strong>der</strong> Gerechtigkeit hatauch mit <strong>der</strong> Verteilung von Macht zu tun” (Ziff. 155). <strong>Die</strong> einzelwirtschaftlicheProduktion in einer Marktwirtschaft steht unter einer doppeltenKontrolle: Zwang zur ökonomischen Effizienz und zur Zustimmung<strong>der</strong> beteiligten Wirtschaftssubjekte.<strong>Die</strong>se an Gerechtigkeit gebundene Freiheit unterziehen die Neoliberaleneiner Schmähkritik. “Wahr ist (...), daß eine soziale Marktwirtschaftkeine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein sozialesGewissen kein Gewissen, soziale Gerechtigkeit keine Gerechtigkeit- und ich fürchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist.” 1134Milton Friedman, Schüler von Hayek, sah die westlichen Marktwirtschaftenvor 1989 in einer doppelten Bedrohung ihrer Freiheit: von außendurch die “Männer im Kreml” und durch eine “Bedrohung von innen, dievon den Menschen mit guten Absichten und gutem Willen ausgeht, dieuns zu reformieren wünschen.” 1135 <strong>Die</strong> Protagonisten des ökonomischenMainstreams des Neoliberalismus verstehen jeden ethischen und sozial-, gesellschafts- o<strong>der</strong> ordnungspolitischen Impuls als Bedrohung <strong>der</strong> Freiheitin einer Marktwirtschaft. Friedrich August von Hayek spricht von <strong>der</strong>Notwendigkeit, daß beim Marktgeschehen, in dem “die Wirkungen <strong>der</strong>Handlungen eines jeden weit über seinen möglichen Gesichtskreis hinausreichen,<strong>der</strong> Einzelne sich den unpersönlichen und scheinbar unvernünftigenKräften <strong>der</strong> Gesellschaft unterwirft.” 1136 Freiheit wird also vonden extremen Neoliberalen in eine Freiheit zur Unterwerfung unter den1133 P. Ulrich, Moral in <strong>der</strong> Marktwirtschaft, in: Evangelische Kommentare 2/1992, 89.1134 F.A. von Hayek, Wissenschaft und Sozialismus, Tübingen 1979, 16.1135 M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 257.1136 F.A. von Hayek, Wahrer und falscher Individualismus, 39.381


Markt umgedeutet. Dem Neoliberalismus liegt ein Freiheitsverständniszugrunde, nach dem Freiheit in <strong>der</strong> Hinnahme von Marktprozessen unddem Ausführen von Sachgesetzmäßigkeiten besteht. <strong>Die</strong> Neoliberalenreduzieren den Freiheitsbegriff auf ökonomische Freiheit. Nach MiltonFriedman macht diese wirtschaftliche Freiheit “einen bedeutenden Teil<strong>der</strong> ganzen Freiheit” 1137 aus. <strong>Die</strong> durchaus anzuerkennende Verteidigung<strong>der</strong> Freiheit des einzelnen wird durch die Verengung auf die ökonomischeFreiheit jedoch höchst zweifelhaft. In mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaftenlebt <strong>der</strong> größte Teil <strong>der</strong> Menschen in abhängigen Arbeitsverhältnissen.Ihre Freiheitsrechte jedoch werden von den neoliberalen Verteidigern<strong>der</strong> Freiheit nie zum Thema gemacht. Das Freiheitspostulat <strong>der</strong>Neoliberalen verdient nicht deshalb Kritik, weil sie die Freiheit zu sehr indas Zentrum rücken, son<strong>der</strong>n weil sie ein ökonomisch reduziertes Freiheitsverständnishaben.Trotz <strong>der</strong> systemtheoretischen Behauptung einer Entsprechung vonFreiheit und Markt kennt die Marktwirtschaft von sich aus keineswegs einereale Freiheit aller beteiligten Wirtschaftssubjekte. Sie hat nur ein Interessean den Freiheitsrechten <strong>der</strong> Unternehmerseite. So behandelt dasgeltende Recht <strong>der</strong> Unternehmensverfassung allein das Unternehmenund nicht die Arbeitnehmer als Mitglie<strong>der</strong> eines Unternehmens. 1138 DasUnternehmen ist jedoch nicht nur ein Ort <strong>der</strong> Herstellung von Güterno<strong>der</strong> <strong>Die</strong>nstleistungen, son<strong>der</strong>n ein Sozialprozeß, in dem Menschen ineinem Verbund stehen. Erst eine Unternehmensverfassung, die allen, dieam Sozialprozeß <strong>der</strong> Gütererzeugung beteiligt sind, reale mitgestaltendeFreiheitsrechte zugesteht, wird dem Demokratieanspruch <strong>der</strong> Verfassungund dem Freiheitsanspruch <strong>der</strong> Marktwirtschaft gerecht. 1139 Demokratisierung<strong>der</strong> Wirtschaft ist ein Weg, die politischen Freiheitsrechte desBürgers zu Freiheitsrechten des Wirtschaftsbürgers zu erweitern und mitwirtschaftlichen und sozialen Grundrechten auszustatten. Erst die durchgehendeBeteiligung aller Wirtschaftssubjekte - und eben auch <strong>der</strong> Arbeitnehmer- an den Entscheidungsprozessen am Arbeitsplatz, im Betriebund Unternehmen - löst das Postulat <strong>der</strong> Demokratieverträglichkeitauch <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft ein. 11401137 M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 29.1138 Das Zweite Vatikanische Konzil versteht das wirtschaftliche Geschehen als einen Prozeß, indem “Personen miteinan<strong>der</strong> im Verbund stehen” (Gaudium et spes 68, Abs.1 Satz 1). <strong>Die</strong> PastoralkonstitutionGaudium et spes for<strong>der</strong>t die “aktive Beteiligung aller an <strong>der</strong> Unternehmensgestaltung”(Gaudium et spes 68, Abs. 1 Satz 2). Nicht unähnlich heißt es in den “SozialethischenErwägungen zur Mitbestimmung” <strong>der</strong> EKD vom 8.11.1968: “Der Christ versteht daspartnerschaftliche Verhältnis zwischen sozialen Gruppen als Ausdruck <strong>der</strong> gegenseitigen Achtungund des gemeinsamen <strong>Die</strong>nstes” (Ziff. 5, Abs. 3).1139 Vgl. dazu die Ausführungen oben Abschnitt 9.1.4 zu Rechte aus Arbeit.1140 Vgl. F. <strong>Segbers</strong>, Markt und Teilhabe, 195f.382


Mit <strong>der</strong> Neuen Technologie und Mikroelektronik hat sich in den Unternehmenein demokratiefreundlicher Trend durchsetzen können, <strong>der</strong> dezentraleFührungsstrukturen und Autonomie an die Stelle hierarchischerSysteme gesetzt hat. <strong>Die</strong>se neuen Partizipationsformen sind nicht denmit dem Eigentum verbundenen Rechten abgerungen worden, son<strong>der</strong>nsind ein Führungsinstrument, das vom Management selbst installiertwurde. Das Management hatte erkannt, daß autoritäre Führungsmusterkostenträchtiger sind als Organisationsformen, die partizipativ Gestaltungs-und Autonomieräume erschließen, da Motivation und Kreativität inkomplexen Unternehmensorganisationen Kostenvorteile verschaffen undsich in einem Kosten-Nutzen-Kalkül rechnen. Soweit Motivation und Kreativitätdurch Demokratisierung unternehmensstrategisch genutzt werden,sind sie letztlich Marktimperativen untergeordnet. Demokratie jedochbesitzt einen Selbstwertcharakter. Das Verständnis von Demokratie,wie es sich in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne entfaltet hat, besitzt stets eine Bedeutung,die nicht funktionalisiert verengt werden darf. <strong>Die</strong>se betrieblichen und unternehmenspolitischenKonzeptionen, die Partizipations- und Autonomieräumeverschaffen, sollten nicht gleich mit Demokratisierung in Zusammenhanggebracht werden. Denn unternehmenspolitische Modelle, diedemokratische Spielregeln nur für funktionale Zwecke einsetzen und gewähren,entwickeln von sich aus noch nicht das Demokratisierungsprojektweiter. Wichtiges Kriterium für diese neuen Führungsstrukturenist, ob sie das Demokratisierungsprojekt weiterbringen.Der vorhandene demokratiefreundliche Zug bietet einen Ansatz für einetatsächliche Demokratisierung, die über die funktionalistische Nutzungvon Teilhabe und Mitgestaltung hinausreichen kann. <strong>Die</strong> demokratiefreundlichenAnsätze in den Unternehmen sind deshalb als Chance fürdie Entwicklung einer demokratischen Lebenswelt, die <strong>der</strong> Autonomieund Partizipation Raum gibt, zu nutzen.<strong>Die</strong> Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft nach Alfred Müller-Armack orientiert wirtschaftliches Handeln an den “zwei großen Zielen(...) <strong>der</strong> Freiheit und <strong>der</strong> sozialen Gerechtigkeit”: “Bloße Freiheit könntezu einem leeren Begriff werden, wenn sie sich nicht mit <strong>der</strong> sozialen Gerechtigkeitals verpflichten<strong>der</strong> Aufgabe verbände. So muß die soziale Gerechtigkeitmit und neben <strong>der</strong> Freiheit zum integrierenden Bestandteil unsererzukünftigen Wirtschaftsordnung erhoben werden.” 1141 Zwischenmarktwirtschaftlicher Effizienz, den wirtschaftlichen Impulsen <strong>der</strong> Freiheitund Gerechtigkeit besteht hier kein Gegensatz. Sie bedingen sich vielmehrgegenseitig und werden gleichrangig nebeneinan<strong>der</strong> gestellt. DasWirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen thematisiert auch die Frage des1141 A. Müller-Armack, Vorschläge zur Verwirklichung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, in: <strong>der</strong>s., Genealogie<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, 2. Aufl. Bern-Stuttgart 1981, 96.383


Verhältnisses von Sozialem und Wirtschaftlichem. Es wendet sich gegendie Kurzbenennung “Sozialwort” (Ziff. 6). Um beides, um wirtschaftlicheund soziale Belange, soll es gehen. Im Wirtschafts- und Sozialwort heißtes: “Verteilt werden kann nur das, was in einem bestimmten Zeitraum anGütern und <strong>Die</strong>nstleistungen erbracht worden ist” (Ziff. 6). <strong>Die</strong> hier formulierteNachrangigkeit des Sozialen gegenüber dem Wirtschaftlichen nennenKarl Gabriel und Werner Krämer “eine Verkehrung <strong>der</strong> Präferenzen(...): Wirtschaftliche Rationalität und ihre Werttheorie erhalten eine Prioritätvor dem Entwickeln von schöpferischen sozialen Kräften.” 1142 BereitsAlexan<strong>der</strong> Rüstow hatte sich diese Position zueigen gemacht, nach <strong>der</strong>die Ökonomie sich in den <strong>Die</strong>nst höherer, außerökonomischer Werte zustellen habe: “Das heißt, alle diese überwirtschaftlichen (d.h. religiösen,ethischen, kulturellen, F.S.) Dinge haben For<strong>der</strong>ungen an die Wirtschaftzu stellen. <strong>Die</strong> Wirtschaft hat diese For<strong>der</strong>ungen zu erfüllen, sie hat sichin den <strong>Die</strong>nst dieser For<strong>der</strong>ungen zu stellen.” 1143 Ausdrücklich wendetsich Rüstow gegen eine Anschauung, die eine Moral des Marktes bereitsdarin ausmacht, daß <strong>der</strong> Markt ökonomisch effizient sei. Kennzeicheneiner “Wirtschaft als <strong>Die</strong>nerin <strong>der</strong> Menschlichkeit” - so auch <strong>der</strong> Titel desBeitrag von Rüstow - , ist <strong>der</strong> Primat einer Logik <strong>der</strong> Humanität und desSozialen vor <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong> Wirtschaftsinteressen. <strong>Die</strong> Bedeutsamkeitdieses Primats müsse sich nach Rüstow an folgendem Kriterium beweisen:“Wir müßten bereit sein und wären bereit, für das aus überwirtschaftlichenGründen vorzugswürdige Wirtschaftssystem auch dann einzutreten,wenn es weniger produktiv wäre als an<strong>der</strong>e. Wir wären bereitund müßten bereit sein, dafür auch wirtschaftliche Opfer zu bringen.” 1144Im Konflikt zwischen den Ansprüchen <strong>der</strong> Humanität und den Wirtschaftsinteressensei ein klarer Vorrang einzuräumen, “daß die Wirtschaftin allen Punkten und durchweg in den <strong>Die</strong>nst überwirtschaftlicherWerte gestellt werden muß, und daß im Konfliktfall diese überwirtschaftlichenWerte den Vorrang verdienen.” 1145 Der Unterschied zu Müller-Armack ist offensichtlich. <strong>Die</strong>se Grundhaltung wird auch von Nell-Breuning geteilt, wenn er den Satz kritisiert, daß eine gute Wirtschaftspolitikdie beste Sozialpolitik sei. <strong>Die</strong>se Aussage stelle die Dinge auf denKopf. Richtig sei vielmehr: “Ob eine Wirtschaftspolitik gut o<strong>der</strong> schlechtist, bestimmt sich danach, wieviel o<strong>der</strong> wie wenig sie beiträgt zu einer befriedigenden,an ethischen-kulturellen Maßstäben gemessen positiv zubewertenden Gestaltung des sozialen Lebens.” 1146 Kritisch zu befragen1142 K. Gabriel u. W. Krämer (Hg.), Vorwort, in: dies., Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt, 9.1143 A. Rüstow, Wirtschaft als <strong>Die</strong>nerin <strong>der</strong> Menschlichkeit, 78.1144 Ebd. 79.1145 Ebd. 87.1146 O. von Nell-Breuning, Neoliberalismus und katholische Soziallehre, 96.384


ist die gleichwertige Betonung des Ökonomischen und des Sozialen, von<strong>der</strong> Alfred Müller-Armacks Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft ausgeht.Sie sichert nicht die Lebensdienlichkeit <strong>der</strong> Ökonomie. Der Vorrang <strong>der</strong>Arbeit vor dem Kapital meint das Kriterium <strong>der</strong> Lebensdienlichkeit angesichts<strong>der</strong> Ansprüche <strong>der</strong> Ökonomie. Da das Ökonomische nur einen instrumentellenWert darstellt, <strong>der</strong> eine Funktion gegenüber dem Sozialenhat, muß eine am Vorrang <strong>der</strong> Arbeit orientierte lebensdienliche Ökonomieim Konfliktfall institutionell sichern, daß das Soziale das Ökonomischeregieren kann. Im Ringen um einen Vorrang dessen, was dem Lebendient, wird ein unabgeschlossener Prozeß ausgelöst, in dem um dasOptimum gestritten wird.9.5 Fünfter wirtschaftsethischer Impuls: Sorgsam haushaltenDer Begriff Ökonomie besteht aus den beiden griechischen Begriffenoikos (die häusliche, gemeinschaftliche Produktionseinheit) und “nómos”(das Gesetz). Der Oíkos benennt den Ort, an dem produziert wird;nómos gibt Auskunft darüber, wie produziert wird. “Nomos gehört etymologischzu nemoo, zuteilen.” 1147 Nemoo (= zuteilen) wurde fast synonymmit dikaion (= gerecht) verwendet. Ökonomie teilt somit den zu einemProduktionsverband (oikos) Gehörenden das Vorhandene nach demMaßstab <strong>der</strong> Gerechtigkeit (nómos) zu. 1148 Aufgabe <strong>der</strong> Ökonomie ist es,allen einem Sozialverband zugehörenden Menschen Güter und Arbeitgerecht zuzuteilen. Daß diese ökonomische Zielrichtung auch in <strong>der</strong>Ökonomik diskutiert wird, zeigt Jürgen Seifert in seiner Kritik des Gutachtendes Sachverständigenrates <strong>der</strong> Bundesregierung:“<strong>Die</strong> Bundesrepublik kann sich die Dominanz eines begrenztökonomischenAnsatzes nicht mehr leisten. Sie braucht eine Ökonomieauch für das soziale Ganze und auch für den Haushalt <strong>der</strong> Natur. Esgeht um eine Ökonomie, die nicht das Ökonomische verabsolutiert, son<strong>der</strong>nim ursprünglichen Sinn des Wortes „oíkos‟ (Haus) für das „ganze1147 Th. Kleinknecht, Art. nomos, in: ThWNT IV, 1942, 1016 sowie 1017, Anm. 1.1148 Der Sache nach wird in diesem Abschnitt das behandelt, was zumeist mit “Nachhaltigkeit” bezeichnetwird. Ich habe jedoch das Attribut “sorgsam” vorgezogen, um den Verantwortungsaspektzu unterstreichen. Ökonomie hat es von <strong>der</strong> Sache und dem Begriff her mit einer Sorge zutun: mit gerechter Verteilung und sorgsamem Umgang bei <strong>der</strong> Herstellung von Gütern. DerBegriff “Nachhaltigkeit” ist zu disparat und bezeichnet diametral gegensätzliche Anliegen.Vgl. die Studie des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt, Energie: Zukunftsfähiges Deutschland.Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung, hg. von BUND und Misereor, Basel1996; U Steger, Konsens ohne Wert, in: <strong>Die</strong> Zeit vom 8.9.1995, 26. Vgl. auch: E. U. vonWeizsäcker, Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an <strong>der</strong> Schwelle zum Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Umwelt,4. akt. Aufl. Darmstadt 1994, 121, 180f.385


Haus‟ sorgt, also für die Arbeitslosen ebenso wie für die Umwelt, für dieAlten ebenso wie für die Jugend, für die Gesundheit ebenso wie für dieVerteilung von Arbeit zwischen den Geschlechtern. (...) Es geht um eineÖkonomie, die das soziale Ganze im Blick hat.” 1149 Eine am Leitbild desHauses orientierte Ökonomie wird in einen Zusammenhang mit <strong>der</strong> Lebensweltgebracht. Oskar Negt betont zu Recht, daß dieser Ökonomieein Menschenbild zugrunde liege, das den alltagsweltlichen Erfahrungenund Wünschen <strong>der</strong> Menschen nach gegenseitiger Achtung und Anerkennungentspreche. 11509.5.1 Ökonomie als Haushaltsökonomie<strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>-Ökonomie versteht sich als Fürsorge für das anvertraute Lebenin dem einen Welten-Haus für Menschen und Mitwelt. <strong>Die</strong> Erde ist <strong>der</strong>oikos, das gemeinsame Haus; Gott ist <strong>der</strong> Haushalter, <strong>der</strong> den MenschenWeisungen zu einem haushälterischen Verhalten gibt, und die <strong>Tora</strong>ist die <strong>Hausordnung</strong>, <strong>der</strong> nómos. 1151 <strong>Die</strong>ses Reden von Gott als Ökonomeneröffnet auch den Zugang zu einem neuen ökonomischen Wertbegriff.Wie oben bereits ausführlich dargestellt, ist Ökonomie nach demVerständnis <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ein Umgang mit Vertrauen auf die gegebene Fülle<strong>der</strong> Schöpfung und kein Umgang mit Knappheiten, die es zu behebengilt. 1152 <strong>Die</strong>se unterschiedlichen ökonomischen Prämissen haben weitreichendeFolgen. <strong>Die</strong> Ökonomie seit Adam Smith gilt für die Ökonomienach dem Verständnis des Aristoteles und <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> als eine Fehlformo<strong>der</strong> allenfalls Grenzform <strong>der</strong> Ökonomie. Und umgekehrt: <strong>Die</strong> Ökonomie<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und auch die des Aristoteles ist keine Ökonomie im Verständnisvon Ökonomie seit Adam Smith. 1153 Von <strong>der</strong> oikonomía des Aristotelesblieb nur <strong>der</strong> Name Ökonomie. In <strong>der</strong> oikonomía des Aristoteles handelndie Menschen sorgend, sie haben die an<strong>der</strong>en und die Mitwelt im Blick;in <strong>der</strong> Ökonomie seit Smith sind sie eigennützig und allein auf ihren Vorteilbedacht. Nur eine Ökonomie, <strong>der</strong>en Ziel die Versorgung mit nützlichenund notwendigen Gütern ist, verdient nach Aristoteles die Bezeich-1149 J. Seifert, Wir brauchen eine “Ökonomie für das ganze Haus”, in: vorgänge 28(1989) 2, S. 25,zit. in: O. Negt, <strong>Die</strong> Krise <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft, 6.1150 O. Negt, <strong>Die</strong> Krise <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft, 9.1151Von Gott im Zusammenhang mit “Ökonomie” zu reden, entspricht nicht nur dem biblischenZeugnis, son<strong>der</strong>n ist auch <strong>der</strong> altkirchlichen Theologie vertraut, wenn sie von Heilsökonomiespricht. Lei<strong>der</strong> jedoch wurden diese in <strong>der</strong> Dogmenschichte vorhandenen Begriffe nicht mehrso weiterentwickelt, daß sie in eine Beziehung zu dem gebracht wurden, was heute mit Ökonomiegemeint ist.1152 Vgl. die Ausführungen oben in den Abschnitten 4.2.1;4.2.2; 4.4.4 sowie 9.4.1.1153 G. Bien, <strong>Die</strong> aristotelische Ökonomik und die mo<strong>der</strong>ne Ökonomie, 214.386


nung “naturgemäß” 1154 . Ökonomie ist also nach dem aristotelischenVerständnis auf den gesellschaftlichen Zweck <strong>der</strong> Güterversorgunghingeordnet. Karl Polanyi nennt “die Trennung einer separaten wirtschaftlichenZielsetzung von den gesellschaftlichen Beziehungen, denen solcheGrenzen und Schranken eigen waren,” 1155 den Bruch zwischen beidenKonzeptionen von Ökonomie. <strong>Die</strong> Ökonomie begann, sich aus <strong>der</strong>Lebenswelt zu lösen, entwickelte eine Eigendynamik, die schließlich zueiner “Kolonisierung <strong>der</strong> Lebenswelt” (J. Habermas) führte.1154 Aristotles, Politik, 8 p 1256 b 27.1155 K. Polanyi, The Great Transformation, 86.387


Den Bruch kann das folgende Schema verdeutlichen: 1156Ö k o n o m i eWas will Ökonomie?Ökonomie dient <strong>der</strong> Beschaffung, Versorgung und Verteilung vonGütern und <strong>Die</strong>nstleistungen zum Lebensunterhalt.Gängige Vorstellung:Ziel:Grundprinzip:Fertigkeit:Ökonomische“Tugend”:Instrumente:<strong>Tora</strong>-Ökonomie:Ökonomie <strong>der</strong> Sorge- unterentwickelt, primitiv- Versorgung mit denGütern- Befriedigung <strong>der</strong> natürlichenBedürfnisse- Gebrauch <strong>der</strong> Güterfür ein gutes Leben- Versorgung mit Gütern- Ökonomie als “Kunst”- ethische Orientierungen:Gerechtigkeit undMaß- Maßhalten- Ökonomie als Sorge- solidarische Sozialbeziehungen- Produktion von GebrauchsgüterndesLebens, Kreislaufwirtschaftohne o<strong>der</strong> mitnur geringem FernhandelÖkonomie <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>neÖkonomie des Marktes- mo<strong>der</strong>n, entwickelt- Güterversorgung- Befriedigung von Nachfrage- Kapitalerwerb; Geldvermehrung- Wachstum- wachsen<strong>der</strong> Wohlstand- Eigennutz- Wachstum- Trennung <strong>der</strong> Ökonomievon ethischen Erwägungen- Ökonomie als Sachzwang- Sachzwangdenken- Eigennutz- Konkurrenzbeziehungen- Markt zum Austauschvon Gütern- Handel- Kapital/Geld/Zins zurKapitalbeschaffung fürInvestitionen- Wettbewerb durch Angebotund Nachfrage- Gewinnerwirtschaftung- Preis als Ergebnis vonTausch; Lohn alsMarktpreis1156 Das Schema modifiziert eine Skizze von G. Bien, <strong>Die</strong> aristotelische Ökonomik und die mo<strong>der</strong>neÖkonomie, 232.388


Wirtschaftssubjekte:- Personenverbände - MarktprozesseAuch wenn es nicht um eine unmittelbare Anwendung dieser Einsichtendes Aristoteles o<strong>der</strong> <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> geht, gleichwohl enthält das Ökonomieverständnisaus <strong>der</strong> Zeit <strong>der</strong> Vormo<strong>der</strong>ne Einsichten für eine lebensdienlicheÖkonomie, wie sich an folgenden vier Aspekten zeigt:Sich an diesen alten aristotelischen und auch <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> geläufigen Begriffvon Ökonomie zu erinnern, bedeutet erstens keineswegs eine Rückkehrzu einer älteren und längst überholten Produktionsweise. Der vorneuzeitlichenÖkonomiebegriff hat eine Aktualität, die darin besteht, <strong>der</strong>Ökonomie die Funktion eines Mittels zuzuerkennen. 1157 Ökonomie heißt,sich um die Versorgung mit den lebensnotwendigen Gütern zu sorgen.Jenseits des Eigennutzes, <strong>der</strong> ein leitendes Prinzip des Marktes ist,kommen die Bedürfnisse in den Blick. Zugrunde liegt eine Grundhaltungdes Sorgens. <strong>Die</strong> Ökonomie ist nicht ihr eigenes gesellschaftliche Ziel,son<strong>der</strong>n ihr wird ein Ziel gesetzt, für das sie zu sorgen hat. Sie ist ein Mittelzur Erreichung des Zwecks <strong>der</strong> gesellschaftlich notwendigen Güterversorgung.<strong>Die</strong> Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und die nach aristotelischem Verständnisverstand sich als ein solches Mittel. Dadurch war sie gesellschaftlicheingebettet. Wirtschaftsethisch bedeutet dies: Ökonomie sozialund ökologisch einzubetten, ist die aktuelle Herausfor<strong>der</strong>ung, auf die dasÖkonomieverständnis <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und des Aristoteles hinweist. Es kannnicht darum gehen, bloß auf die Versorgungsökonomie <strong>der</strong> Antike zurückzugreifenund diese auf die Bedingungen mo<strong>der</strong>ner Erwerbsökonomieanwenden zu wollen. Es kommt vielmehr darauf an, die alten Prinzipienund Leitvorstellungen auf die Beson<strong>der</strong>heiten einer neuzeitlichenErwerbsökonomie hin zu mo<strong>der</strong>nisieren.<strong>Die</strong>ser ökonomische Wertbegriff verpflichtet zweitens zu einem verantwortlichenökonomischen Handeln, das dem Leben aller auf diesereinen Erde dient. Damit Ökonomie diese Aufgabe überhaupt wahrnehmenkann, braucht sie ethische Orientierungen und Maßstäbe, die jedochnicht so verstanden werden dürfen, daß sie lediglich ethisch Grenzenmarkieren. Ethisches und ökonomisches Handeln sind vielmehr integrativzu verstehen. Ethik erscheint von diesem Ansatz her als einenormative Voraussetzung und als konstitutive Bedingung ökonomischenHandelns überhaupt. <strong>Die</strong> Metapher “Haus” kann eine solche ethische Voraussetzungformulieren, die ökonomisches Handeln auf die begrenztenRessourcen des Hauses bezieht, mit denen sorgsam umzugehen ist.O<strong>der</strong> bildlich gesprochen: Wer bei seiner Tätigkeit im Haus sich so ver-1157 Vgl. oben die Ausführung in Abschnitt: 4.2.389


hält, daß das Haus zerstört wird, macht auch für die Zukunft weitere Tätigkeitenim Hause selber unmöglich.<strong>Die</strong> Menschen als Bundespartner Gottes sind deshalb zur Fürsorge fürdas Leben (oikonomia) gerufen. <strong>Die</strong> Beziehung des Schöpfers zu seinemVolk wird im Bund versinnbildlicht. In den Kirchen gibt es eine wirtschaftsethischeDebatte, die sich an diesem Ökonomiebegriff orientiertund in ihm einen Ausweg aus sozialen, ökologischen und ökonomischenKrisen sieht. <strong>Die</strong> Erste Europäische Ökumenische Versammlung in Basel(1989) hat in den Mittelpunkt ihrer wirtschaftsethischen Überlegungen dieMetapher des Hauses gestellt. Sie hat für das “gemeinsame Haus Europa”“einige grundlegende Hausregeln, eine Art <strong>Hausordnung</strong>, die dasZusammenleben möglich macht” 1158 , vorgelegt. <strong>Die</strong> Zweite EuropäischeÖkumenische Versammlung in Graz 1997 griff ebenfalls den theologischenBegriff <strong>der</strong> Haushalterschaft auf, nannte die Erde einen “Haushaltaller Kreaturen, <strong>der</strong> auch unser eigenes Heim ist” und klagte angesichts<strong>der</strong> Verwüstungen eine “Versöhnung im Haushalt des Lebens” (BasistextA 30) ein.<strong>Dr</strong>ittens kann <strong>der</strong> Bezugspunkt <strong>der</strong> aristotelischen Ökonomie undauch <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, <strong>der</strong> mit dem Leitbild des “Hauses” formuliert wird, einGegenbild zu einer Globalisierung ökonomischer Interessen formulieren,die das “Haus <strong>der</strong> ganzen Welt” mit seinem Gefälle in Lohnhöhe, sozialeno<strong>der</strong> ökologischen Standards als Motor des Wettbewerbs und dieganze Erde als weltweite Ressource für Rohstoffe begreift. <strong>Die</strong> ökonomischeGlobalisierung über die Märkte deckt sich keineswegs mit <strong>der</strong> Suchenach einer bestandsfähigen politischen und zivilen Weltgemeinschaft.Aristoteles versteht das Haus als Ort des täglichen Zusammenlebensund des Wirtschaftens; vom Staat sagt er, daß dieser “zwar desLebens wegen entstanden ist, aber doch um des guten Lebens willenbesteht.” 1159 Christoph Stückelberger hat biblisch begründete sozialethischeRegeln für eine <strong>Hausordnung</strong> entwickelt, die die Beziehungen zwischenGott, den Menschen und allen, mit denen die Menschen das Lebenauf <strong>der</strong> Erde teilen, regeln. Mit <strong>der</strong> Metapher des Hauses wird einMaß genannt, das sich gegen eine in <strong>der</strong> Ökonomie strukturell institutionalisierteHabgier wendet. 1160Viertens sind die ökonomischen Konzeptionen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und des Aristotelesim Zusammenhang <strong>der</strong> Ausweitung des Handels entstanden. 1161Ganz deutlich entwickelt Aristoteles seine Vorstellungen angesichts <strong>der</strong>1158Europäische Ökumenische Versammlung, Frieden in Gerechtigkeit. Basel, 15.-21. Mai 1989,in: EKD-Texte Nr. 27, Hannover 1989, 33.1159 Aristoteles, Politik, A 2 p 1252 b 29.1160 Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, 307.1161 vgl. oben Abschnitt 4.2.390


Tatsache, daß über das Maß des natürlichen Selbstgenügens hinausweitere Güter durch Tausch und Handel von weither herbeigeschafftwerden. Durch Handel komme eine Dynamik in Gang, die unbegrenztReichtum durch Geld beschaffen wolle. “So gibt es auch für dieses Kapitalerwerbswesenkeine Grenze des Zieles; Ziel aber ist ein solcherReichtum und somit <strong>der</strong> Besitz von Geldmitteln.” 1162Zusammengefaßt: Gefor<strong>der</strong>t ist also eine Rückbesinnung auf jeneAufgabenstellung <strong>der</strong> Ökonomie, wie sie bei Aristoteles und auch in <strong>der</strong><strong>Tora</strong> beschrieben wird, also auf eine Ökonomie, die sich als Sorge fürdas Haus und Anleitung zur Haushalterschaft versteht und nicht nur ammarktförmigen Tauschwert <strong>der</strong> Güter und <strong>Die</strong>nstleistungen orientiert ist.Es geht darum, das Haus des eigenen Lebensraumes mit dem größerenHaushalt <strong>der</strong> Schöpfung zu verknüpfen. Von dort her bekommt <strong>der</strong> eigenekleine Haushalt des Lebens seine Ordnung und sein Maß.Seit dem 18. Jahrhun<strong>der</strong>t hat die neuzeitliche Ökonomie diese überzweitausendjährige Tradition einer lebensdienlichen Ökonomie, die sichals Teil <strong>der</strong> Ethik verstand, verlassen und tritt nunmehr als eine eigenständigeDisziplin auf, <strong>der</strong> ethische Reflexionen fremd sind. WirtschaftlichesHandeln orientierte sich seit dieser Zeit ausschließlich anden Marktgesetzen von Angebot und Nachfrage. Aus dem Blick geriet,daß Ökonomie für das Lebensnotwendige zu sorgen habe und nicht alleinauf Tauschprozesse am Markt reduziert werden dürfe. <strong>Die</strong> Folgewar, daß das Konzept <strong>der</strong> Sorge um die Bedürfnisse <strong>der</strong> Menschendurch das Konzept <strong>der</strong> Nachfrage ersetzt wurde. Milton Friedman kanndeshalb das Ziel <strong>der</strong> Ökonomie so beschreiben: “<strong>Die</strong> freie Wirtschaft (...)gibt den Menschen das, was sie wollen.” 1163 Gefragt wird nicht, wasMenschen benötigen, son<strong>der</strong>n welche Nachfrage angemeldet wird. Beantwortetwird allerdings nur jene Nachfrage, die mit Geld und Kaufkraftausgestattet ist. <strong>Die</strong> Kategorie <strong>der</strong> Nachfrage ersetzt die Kategorie desBedarfs. <strong>Die</strong> Nachfrage jedoch ist prinzipiell unbegrenzt. Denn nie gibt esgenug, um alle Bedürfnisse zu befriedigen. Deshalb vermin<strong>der</strong>t sich auchin diesem Ökonomiekonzept nie die Knappheit <strong>der</strong> Güter. <strong>Die</strong> Knappheitvermehrt sich vielmehr. <strong>Die</strong>sem Ökonomieverständnis ist nicht nur dieKategorie des Genug fremd, auch jene des Zuviel. Keine Produktionsmengekann zu groß sein, kein Unternehmen kann zuviel Gewinnmachen, kein Betrieb zuviel produzieren. Wachstumssteigerung wirdzum obersten Indikator des ökonomischen Erfolgs. Es gibt kein ökonomischesKriterium, sich mit dem zufrieden zu geben, was da ist. EineGrenze des Genug gibt es nicht. Umgekehrt: Es wird das Gefühl stimuliert,es wäre nie genug da.1162 Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 28f.1163 M. Friedman, Kapitalismus und Freiheit, 36.391


<strong>Die</strong> Knappheitsökonomie führte zu einer Umwertung <strong>der</strong> Produktionsfaktoren.Arbeit und Natur hatten fortan nur den Wert, den <strong>der</strong> Marktergab. Aus Natur o<strong>der</strong> Arbeit als grundlegenden Werten im Prozeß <strong>der</strong>Gütererzeugung wurden bloße Produktionsfaktoren. Darin liegt auch <strong>der</strong>tiefste Grund für die Blindheit <strong>der</strong> Ökonomie gegenüber Natur und Arbeit.Sorgsam zu haushalten, setzt heute voraus, daß man <strong>der</strong> lebendigen Arbeitund <strong>der</strong> lebendigen Schöpfung, kurz: dem Leben gegenüber wie<strong>der</strong>eine Einstellung gewinnt, die den Wert und nicht nur den Nutzen gewichtet.Aristoteles weist auf einen Aspekt hin, <strong>der</strong> seit den Grenzen desWachstums (Club of Rome) geradezu mo<strong>der</strong>n anmutet: Das Strebennach einem unendlichen Mehr wirkt sich auf die Ökonomie zerstörerischaus: “Grund für diese Gesinnung (nach immer mehr, F.S.) ist die emsigeBemühung um das Leben, doch nicht um das gute Leben; weil aber jenesBegehren ins Grenzenlose geht, so begehren sie auch unbegrenzteMöglichkeiten, dies zu bewerkstelligen.” 1164 Ökonomie hatte es seit Aristotelesund <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> immer auch mit <strong>der</strong> Begrenzung von Wünschen zutun, wie <strong>der</strong>en Kritik an <strong>der</strong> Untugend “Habgier / Habsucht” zeigt.<strong>Die</strong> Rückbesinnung auf die klassische Aufgabenstellung <strong>der</strong> Ökonomie,wie sie Europa von seinen kulturellen und religiösen Ursprüngen herkennt, leitet zu einer Haushalterschaft an, die sich nicht einseitig amMarktwert von Gütern und <strong>Die</strong>nstleistungen orientiert. Sie fragt vielmehrnach <strong>der</strong> sozialen und ökologischen Gerechtigkeit. Dadurch kann sieökonomisches Handeln wie<strong>der</strong> an den Erfor<strong>der</strong>nissen <strong>der</strong> sozialen Lebensweltund <strong>der</strong> kreatürlichen Mitwelt ausrichten. <strong>Die</strong>sen Erfor<strong>der</strong>nissengilt die ökonomische Sorge. “Vorrang haben demnach immer jene Bedürfnisse,die Leben ermöglichen und erhalten.” 1165 Der Markt antwortetnicht auf die notwendige Unterscheidung zwischen menschlichen Nöten,dem Bedarf und luxurierten Bedürfnissen. Aber gerade die Nöte <strong>der</strong> Armensind die himmelschreienden Herausfor<strong>der</strong>ungen <strong>der</strong> Ökonomie, dievon den Wünschen <strong>der</strong> Reichen verdrängt werden. <strong>Die</strong> Reichen - imWeltmaßstab bedeutet dies auch: die reichen Nationen - verschlingeneinen übergroßen Anteil an Ressourcen und Energien <strong>der</strong> Erde, weil sieihre Bedürfnisse auf dem Weltmarkt durchsetzen können. Sie können estun, weil <strong>der</strong> herrschenden Ökonomie die Einsicht in die Nöte und in dieBedürfnisse <strong>der</strong> Armen fremd ist.In <strong>der</strong> ökumenischen Sozialethik gibt es einen doppelten Perspektivenwechsel.<strong>Die</strong> Option für die Armen schuf den Durchbruch für einePerspektive aus <strong>der</strong> Sicht <strong>der</strong> Armen. <strong>Die</strong>ser Perspektivenwechsel wirdseit dem Konziliaren Prozeß für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung<strong>der</strong> Schöpfung um einen zweiten ergänzt: Es gilt das Ganze dieser Erde1164 Aristoteles, Politik, A 9 p 1257 b 41 - 1258 a 1.1165 G. Goudzwaard u. H. de Lange, We<strong>der</strong> Armut noch Überfluß, 71.392


und aller Geschöpfe in den Blick zu nehmen. 1166 Soziale und ökologischeGerechtigkeit sind nicht einan<strong>der</strong> entgegengesetzt, son<strong>der</strong>n ergänzensich durchaus. Mit diesem Perspektivenwechsel kann ein neuer ökonomischerWertbegriff entwickelt werden, <strong>der</strong> die fundamentalen Lebensbedürfnisse(beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Armen im globalen Süden) und das Überlebendes Oíkos insgesamt in den Blick bekommt. Beide Anliegen gehörenzusammen. Gerade ein hermeneutischer Ausgangspunkt vom perspektivischenStandort bei den Armen nimmt wahr, daß es dieselbe ökonomischeLogik ist, die zur Verarmung eines großen Teils <strong>der</strong> Menschheit -nicht nur, aber beson<strong>der</strong>s im globalen Süden - und zum ruinösen Raubbauan <strong>der</strong> Natur beiträgt. Der brasilianische Befreiungstheologe LeonardoBoff will deshalb auch die sozialen und ökologischen Aspekte integrieren,wenn er eine Option für die Armen for<strong>der</strong>t, die jene am meisten bedrohtenGeschöpfe mit einschließt: “<strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung besteht darin,dahin zu gelangen, daß sich die Menschen mit an<strong>der</strong>en Arten zusammenals eine große Familie des Planeten Erde verstehen und daß sie denWeg zurück finden zur Gemeinschaft mit den übrigen Lebewesen, zurplanetarischen und kosmischen Gemeinschaft.” 1167 Ohne ausdrücklichauf das biblische Verständnis von oikos einzugehen, nimmt LeonardoBoff doch in <strong>der</strong> Sache das Anliegen auf, wie sein Buchtitel Unser Haus -die Erde 1168 , zeigt.<strong>Die</strong> US-amerikanische Kirche United Church of Christ hat in ihrer ErklärungChristlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit einenBegriff von Ökonomie entwickelt, <strong>der</strong> beide Aspekte von Gerechtigkeit integriert:Ökonomie habe die Aufgabe, dafür zu sorgen, daß “alle Haushaltsmitglie<strong>der</strong>eine menschenwürdige Grundversorgung und die Mittelzur Beteiligung am Gemeinschaftsleben haben.” 1169 <strong>Die</strong> Sorge um denbewohnten Erdkreis schließt die soziale und ökologische Dimension ein,aber auch die Dimension <strong>der</strong> Zukunft. Sorgsam zu haushalten bedeutet,so mit den Gütern dieser Erde umzugehen, daß diese gerecht unter denenverteilt werden, die gegenwärtig das Leben auf dieser Erde miteinan<strong>der</strong>teilen, aber auch mit denen, die zukünftig diese Erde als ein bewohnbaresHaus vorfinden wollen.<strong>Die</strong> Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Canberra (1991)hat einen ökonomischen Wertbegriff entwickelt, “<strong>der</strong> nicht auf Geld- und1166 K. Raiser, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in <strong>der</strong> ökumenischen Bewegung, München1989; M. Robra spricht von einem “Wandel ökumenischer Sozialethik” (ÖkumenischeSozialethik, 172.); auch: F. <strong>Segbers</strong>, Eine Welt. <strong>Hausordnung</strong> für den globalen Markt, in:F.von Auer u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 297 - 302.1167 L. Boff, Theologie <strong>der</strong> Befreiung und Ökologie, 430.1168 L. Boff, Unser Haus - die Erde. Den Schrei <strong>der</strong> Unterdrückten hören, Düsseldorf 1996.1169 So in <strong>der</strong> Erklärung <strong>der</strong> UCC, Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit, in: epd- Dokumentation, Nr. 13/1988, 15.393


Tauschwert, son<strong>der</strong>n Überlebensfähigkeit und Gebrauchswert beruht.”1170Dadurch übernimmt <strong>der</strong> Mensch eine doppelte ökonomische Rolleund Verantwortung: Er ist Teil <strong>der</strong> geschaffenen Welt und zugleich auchdamit beauftragt, Gottes Haushalter in ihr zu sein. 1171 <strong>Die</strong> Sorge um denbewohnten Erdkreis, die die Sorge um das Lebensrecht <strong>der</strong> Armen und<strong>der</strong> zukünftigen Generationen einschließt, und nicht die abstrakte Fragenach Systemen, Systemtheorien o<strong>der</strong> ökonomische Modellen, gilt hierals das entscheidende sozialethische Kriterium. 11729.5.2 Regulierung <strong>der</strong> WünscheGerechte Verteilung <strong>der</strong> produzierten Güter ist ein Maßstab für einenmaßvollen Umgang mit den Ressourcen <strong>der</strong> Erde. <strong>Die</strong> prophetischenÜberlieferungen verstehen einen maßvollen Umgang mit den Gütern nieals Selbstzweck, son<strong>der</strong>n als Beitrag zu Recht und Gerechtigkeit (vgl.Jes 1,10-17; 24,1-6; Am 5,1ff.). 1173 Das biblische Eigentumsverständnis,wie es in <strong>der</strong> Aussage “Dem Herrn gehört die Erde” (Ps 24,1) zum Ausdruckkommt, steht unter dem Vorzeichen <strong>der</strong> grundsätzlichenUnverfügbarkeit des Bodens. <strong>Die</strong> Güter sind nur anvertraut und nicht zurprivaten Verfügung gegeben. Gerechte Nutzung <strong>der</strong> Ressourcen undTeilen <strong>der</strong> Güter sind deswegen auch Aspekte des biblischen Eigentumsverständnisses.<strong>Die</strong> biblische Sabbattradition kann eine Perspektive für an<strong>der</strong>e als nurmaterielle Bedürfnisse eröffnen. Der Sabbat steht quer zu einem Zeitverständnis,das Zeit als knappe und deshalb ökonomisch effektiv auszunutzendeRessource versteht. <strong>Die</strong> Arbeit an den Werktagen, das Produzierenund Herstellen wird zyk-lisch unterbrochen, um Zeit für an<strong>der</strong>e,nämlich kulturelle, kreative und kommunikative Tätigkeiten zu haben. DerSabbat schafft, Raum für eine Zeit, in <strong>der</strong> humane Tätigkeiten gelebtwerden können. Er läuft deswegen auch einem Trend zuwi<strong>der</strong>, wie ersich im ökonomischen Umgang mit <strong>der</strong> Zeit ausdrückt, die bei <strong>der</strong> Rationalisierung<strong>der</strong> Produktion auf die Ausnutzung letzter Zeitporen setzt.Dem nur auf materiellen Wohlstand ausgerichteten Denken setzt <strong>der</strong>Sabbat ein an<strong>der</strong>es Verständnis von Wohlstand gegenüber, nämlich einen“Zeitwohlstand” (J. Rin<strong>der</strong>spacher), <strong>der</strong> zwar mit dem Symbol des1170 W. Müller-Römheld (Hg.), Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht aus Canberra 1990, 68.1171 Ebd. 61.1172 Vgl. dazu K. Füssel u. F. <strong>Segbers</strong>, <strong>Die</strong> Bibel zu Rate ziehen. Einleitung, in: dies. (Hg.), “... solernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” 13f.; auch: F. <strong>Segbers</strong>, Eine Welt. <strong>Hausordnung</strong>für den globalen Markt, 285-308.1173 Chr. Stückelberger, Umwelt und Entwicklung, 300.394


Sabbat jenseits <strong>der</strong> Werktage angesiedelt ist, dennoch die Werktage gestaltenwill. Vom Sabbat her soll ein Licht auf die Werktage fallen. Habgiererstreckt sich nicht allein auf materielle Güter, auch auf die Zeit selber,die ökonomisch möglichst total genutzt werden soll. <strong>Die</strong>ser Giernach <strong>der</strong> ganzen Zeit für Produktion und Handel setzt <strong>der</strong> Sabbat durchUnterbrechung eine Grenze.<strong>Die</strong> 23. Vollversammlung des Reformierten Weltbundes hat sich inDebrecen 1997 ausdrücklich auf die biblische Bedeutung des Sabbat berufen:In einem solchen Sabbatverständnis wird deutlich, daß dem erbarmungslosenAppetit nach Konsum Grenzen gesetzt werden müssen. <strong>Die</strong> Gier <strong>der</strong>Vielen raubt dem Leben des Planeten den Atem. Land, Luft, Wäl<strong>der</strong> undWasser brauchen Erneuerung, Regenerierung und die Wie<strong>der</strong>aufrichtung,die aus <strong>der</strong> biblischen Vision des Sabbattages, des Sabbatjahres und desJubeljahres erwächst. Am Sabbat wird Gottes Absicht gefeiert, die ganzeSchöpfung von Ausbeutung zu erlösen. Es ist eine Vision des Genug, dieden wenigen Privilegierten das Recht abspricht, die erschöpflichen Ressourcenvöllig auszubeuten. Im Geist des Sabbat sind alle zu einem solchenLebensstil gerufen (Ziff. 16). 1174<strong>Die</strong> Bedeutungsgehalte des Sabbat können zu einem neuen Wohlstandsbegriffbeitragen, <strong>der</strong> den herrschenden, am Materiellen ausgerichtetentranszendiert.Das Sabbatjahr ist eine Erinnerung und ein Gegenmittel gegen denWachstumszwang. Im Bericht <strong>der</strong> Europäischen Ökumenischen Kommissionfür Kirche und Gesellschaft (EECCS) in Brüssel zum Umwelt-Aktionsprogramm <strong>der</strong> EU heißt es, daß die Beschreibung des Jubeljahresfür eine ethische Bewertung <strong>der</strong> Umweltproblematik aus folgendenGründen heute wichtig und aktuell sei:a) Sie ist realistisch in ihrer Betrachtungsweise des menschlichenVerhaltens.b) Sie hilft uns zu verstehen, was die Bibel meint, wenn sievon Gerechtigkeit spricht. Gerechtigkeit ist kein abstraktes Konzept,sie appelliert vielmehr an Beziehungen: Beziehungen sindgerecht o<strong>der</strong> ungerecht.c) Beziehungen beschränken sich nicht auf die Menschen allein;sie umfassen die Ganzheit <strong>der</strong> Schöpfung: Land, Wasserund Luft, Tiere und Pflanzen.d) In bezug auf das Wachstumskonzept, das unserem gegenwärtigenWirtschaftsmodell zugrunde liegt, warnt uns Leviticus25 vor dem möglicherweise destruktiven Element, das essowohl in bezug auf die Beziehung zu den Menschen als auch1174 Beschluß Sektion 2, Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung, zit. nach ungedruckten Unterlagendes Reformierten Weltbundes.395


zur Natur enthält. Um diesem destruktiven und entzweiendenElement entgegenzuwirken, bedarf es <strong>der</strong> Einführung bestimmterMechanismen, die auf die Wie<strong>der</strong>herstellung <strong>der</strong> gerechtenBeziehungen zwischen Mensch, Land und Wohlstand abzielen.e) Sie bringt die Idee <strong>der</strong> Begrenzung und <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellungguter Verhältnisse im Wirtschaftsleben zur Sprache. DasLand muß ruhen, um „erlöst‟ zu werden. Auch dem käuflichenErwerb sind Grenzen gesetzt (Lev 25,28). <strong>Die</strong>s ist beson<strong>der</strong>s imHinblick auf unser Modell <strong>der</strong> „nachhaltigen Entwicklung‟ wichtig,das verlangt, daß die wirtschaftliche Entwicklung innerhalb<strong>der</strong> Grenzen des Ökosystems gesehen werden muß.f) Sie entlarvt die Neigung <strong>der</strong> Menschen zu Habgier alsMangel an Vertrauen in Gottes Verheißungen.g) In unserer heutigen Gesellschaft, in <strong>der</strong> je<strong>der</strong> Zweifel an<strong>der</strong> Idee eines „ständigen Wachstums‟ und <strong>der</strong> Wettbewerbsfähigkeitzumeist für tabu erklärt wird, appelliert <strong>der</strong> Leviticus-Textan die mo<strong>der</strong>ne Menschheit, sich davon, als Formen <strong>der</strong> Idolatrie,abzuwenden. 1175Eine christliche Theorie <strong>der</strong> Bedürfnisse, die den biblischen Befundaufnimmt, wird zunächst darauf verweisen, daß die Menschen zu demeinen Leib Christi zusammengefügt sind (vgl. 1 Kor 12,12 f). Jedes Glieddes einen Leibes empfindet das Bedürfnis <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en Glie<strong>der</strong> als seineigenes Bedürfnis. Christliche Ethik tritt als Anwältin beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Armenund Ausgeschlossenen auf, wird deshalb gerade zunächst auf dieBedürfnisse <strong>der</strong> Bedürftigen achten und die Interessen <strong>der</strong> Benachteiligtenartikulieren. Einen Hinweis kann auch die neutestamentliche Redevom Weltgericht geben (Mt 25,31-46). Sie rückt die ökonomischenGrundfragen ins Zentrum: die Fragen nach Essen, Trinken, Wohnung,Kleidung werden heilswichtig. Schließlich wird eine christliche Theorie<strong>der</strong> Bedürfnisse verdeutlichen müssen, daß die Bedürfnisse <strong>der</strong> Bedürftigenauch <strong>der</strong> Befriedigung und Erweiterung <strong>der</strong> eigenen BedürfnisseGrenzen setzen. Der Schwache o<strong>der</strong> die Option für die Armen sind einMaß <strong>der</strong> Gerechtigkeit. Gerecht ist, was dem Schwächsten am meistennützt.<strong>Die</strong> Erinnerung an die Ökonomie <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> und an die aristotelischeUnterscheidung zwischen <strong>der</strong> Haus- und <strong>der</strong> Kapitalerwerbsökonomiekann beitragen, eine ökonomische Alternative zu denken. Karl Polanyisieht in <strong>der</strong> aristotelischen Unterscheidung zwischen “Haus-haltsführungund Gel<strong>der</strong>werb den prophetischsten Hinweis, <strong>der</strong> jemals im Bereich <strong>der</strong>Sozialwissenschaften gegeben wurde; er stellt jedenfalls immer noch die1175 Europäische Ökumenische Kommission für Kirche und Gesellschaft (EECCS), Ist das herrschendeWirtschaftsmodell mit nachhaltiger Entwicklung vereinbar? Ein kritischer Bericht zurHalbzeit - Auswertung des fünften Umwelt-Aktionsprogramms <strong>der</strong> EU, in: epd-Dokumentation17/1996, 74f.396


este, uns zur Verfügung stehende Analyse des Problems dar. Aristotelesbeharrt darauf, daß <strong>der</strong> Sinn des eigentlichen Haushalts die Produktionfür den Gebrauch und nicht Produktion für den Gewinn ist, aber einezusätzliche Produktion für den Markt, meint er, müsse die Autarkie desHaushalts nicht gefährden, sofern die zum Verkauf bestimmten Produkteohnehin zu Ernährungszwecken auf dem Gut erzeugt würden, wie Getreideo<strong>der</strong> Vieh; <strong>der</strong> Verkauf von Überschüssen müsse daher die Grundlagedes Haushalts nicht zerstören. Nur ein Genie <strong>der</strong> praktischen Vernunftkonnte, wie er, erkannt haben, daß das Gewinnstreben ein für dieMarktproduktion charakteristisches Motiv ist und daß <strong>der</strong> Geldfaktor einneues Element einführte; daß aber das Prinzip <strong>der</strong> Produktion für denGebrauch weiterhin funktionieren würde, solange Märkte und Geld bloßAnhängsel eines ansonsten autarken Haushalts blieben.” 1176 Anknüpfendan diese Traditionslinie in <strong>der</strong> Theologie- und Philosophiegeschichtekönnte die alte aristotelische Unterscheidung zwischen Ökonomie undChrematistik eine Einsicht in den wirtschaftsethischen Diskurs einbringen,die von <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen und in beson<strong>der</strong>em Maße von <strong>der</strong> neoliberalenÖkonomie als sachfremd abgetan wird.Thomas von Aquin dringt auf eine Unterscheidung, die im gegenwärtigenökonomischen und gesellschaftlichen Bewußtsein kaum mehr vorhandenist: “Alle Güter sind entwe<strong>der</strong> nötig und nützlich o<strong>der</strong> überflüssig.”1177 Bei Jan A. Comenius (1592 - 1670) findet sich eine Argumentation,die auch noch von eben jener Unterscheidung zwischen Nötigemund Überflüssigem weiß, die im entwickelten Kapitalismus aber verlorengegangen ist. In einem Brief an den Kurfürsten von <strong>der</strong> Pfalz schriebComenius 1668: “<strong>Die</strong> ganze Welt ist ein Markt mit allerlei Waren; voll vondiesen, die jene Waren auch verkaufen, kaufen, schauen; aber die Wenigstenvon ihnen wissen das Nötige von dem Unnötigen zu unterscheiden.Da ist bunt durcheinan<strong>der</strong> Gutes und Schlechtes, Notwendiges undÜberflüssiges, Nützliches und Schädliches, Kostbares und Wertlosesausgestellt und wird angepriesen, verkauft, gekauft. Und was noch mehrverwun<strong>der</strong>lich und beklagenswert ist, man bringt häufiger überflüssigeDinge zum Markt als nötige, häufiger schädliche als nützliche und häufigerschlechte als gute; man preist sie an, verkauft und kauft sie.” 1178Nützliche von überflüssigen Bedürfnissen zu unterscheiden, setzt eineTheorie <strong>der</strong> Bedürfnisse voraus, die sozialethisch jedoch erst noch zu1176 K. Polanyi, The Great Transformation, 85.1177 Zit. ohne Fundstelle nach D. Sölle, Lieben und Arbeiten. Eine Theologie <strong>der</strong> Schöpfung. Stuttgart1985, 143.1178 Zit. nach M. Stöhr, Biblische Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, in: Pastoraltheologie 84(1995) 547.397


entwickeln ist. 1179 <strong>Die</strong>se Aufteilung zwischen notwendigen Gütern undLuxusgütern ist jedoch nicht unproblematisch, da die Gefahr besteht,daß das Notwendige auf das reduziert wird, was für die nackte Subsistenznotwendig ist. Soweit theologische und sozialethische Bewertungen<strong>der</strong> Bedürfnisse vorliegen, haben sie oftmals diesen Grundtenor, Bedürfnissezu begrenzen. Will man allerdings nicht einer Diktatur über Bedürfnisseo<strong>der</strong> einer asketischen Unterscheidung von Notwendigem und Luxusdas Wort reden, so wird es darauf ankommen, einen Wohlstandsbegriffzu entwickeln, <strong>der</strong> nicht auf materielle Inhalte allein reduziert ist. Zeitzu haben, ist eine Form des Zeitwohlstandes. Kulturelle Betätigung o<strong>der</strong>Eigenarbeit sind als Arten von Wohlstand anzusehen. Von diesem erweitertenWohlstandsbegriff her können materielle Bedürfnisse durch dieEntwicklung an<strong>der</strong>er, ebenfalls fundamentaler Bedürfnisse des Menschenbegrenzt werden.Was könnte ein “Genug” an materiellen Gütern heißen? In eine Definitiondes Genug wird eine Verantwortungsdimension eingehen müssen.Keine absolute Festlegung o<strong>der</strong> Richtschnur wird Auskunft über ein Genuggeben können - und dürfen, wenn die Freiheit des Menschen nichtautoritativ beschränkt werden soll. Was “Genug” bedeuten kann, wird immerwie<strong>der</strong> neu zu definieren sein, indem kulturelle, soziale und ökologischeFaktoren mitberücksichtigt werden. <strong>Die</strong> Auseinan<strong>der</strong>setzung umdas materielle “Genug” muß in Verbindung mit ökonomischen und kulturellenVorgaben gesetzt werden, die das Mehr-Haben als Leitbild för<strong>der</strong>n.Der Un-Kultur einer kollektiven Habsucht im globalen Maßstab, die institutionellund strukturell geför<strong>der</strong>t wird, ist eine globale Kultur <strong>der</strong> Selbstbeschränkungentgegenzustellen. 1180 Das Wirtschafts- und Sozialwort<strong>der</strong> Kirchen will sich an dieser Debatte um einen neuen Wohlstandsbegriffbeteiligen. Es eröffnet eine Perspektive, die zu einer Än<strong>der</strong>ung desLebensstils gegen ein vorherrschend gewordenes Konsum- und Wohlstandsdenkenbeitragen kann (Ziff. 231). In <strong>der</strong> Gesellschaft insgesamtseien die Ziele <strong>der</strong> ökonomischen Rationalität dominierend geworden.<strong>Die</strong> Kirchen for<strong>der</strong>n, daß von den Quantitäts-Zielen des “Mehr” und“Schneller” zu den Qualitäts-Zielen des “Weniger”, “Langsamer” und“Bewußter” umgesteuert wird. Es geht um einen neuen Wohlstandsbegriff,<strong>der</strong> “dem dauernden Wohl des Menschen dient” (Ziff. 232). Lei<strong>der</strong>verbinden die Kirchen diese Ethik jedoch nicht mit den strukturellen Fragenund Bedingungen einer auf Wachstum orientierten Ökonomie, son-1179 Vgl.dazu die Ausführungen bei: M. Volf, Zukunft <strong>der</strong> Arbeit, 143 - 158; W. Bindemann, <strong>Die</strong>Hoffnung <strong>der</strong> Schöpfung. Römer 8, 18-27 und die Frage einer Theologie <strong>der</strong> Befreiung vonMensch und Natur, Neukirchen - Vlyun 1983, 170-177.1180 So O. Höffe, Bausteine für ein ökologisches Weltethos, in: <strong>der</strong>s., Moral als Preis <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne,2. Aufl. Frankfurt 1993, 165.398


<strong>der</strong>n allein mit dem individuellen Verhalten. Dadurch überfor<strong>der</strong>n sienicht nur das einzelne Gesellschaftsmitglied, sie verzichten auch darauf,die sozio-strukturellen und ökonomischen Ursachen zu analysieren undzu benennen. <strong>Die</strong> ökonomische Theorie geht von einem Knappheitstheoremaus, von <strong>der</strong> relativen Knappheit <strong>der</strong> Güter und den unbegrenztenmenschlichen Bedürfnissen. Eine sozialethische Theorie <strong>der</strong>Bedürfnisse dagegen wird über die Lebensqualitätsdimension und überdie Ökologiediskussion auf die absolute Knappheit <strong>der</strong> Güter verweisenund über die Unterscheidung von materiellen und immateriellen Bedürfnissenvon relativen Bedürfnissen sprechen.Spätestens mit <strong>der</strong> ökologischen Krise hat sich das ökonomischeSteigerungsinteresse in seiner ganzen Problematik gezeigt. ZahlreicheFaktoren haben zu einer Entfesselung <strong>der</strong> Bedürfnisse beigetragen. EinGrund jedoch ist ohne Zweifel ein Umwertungsprozeß, <strong>der</strong> mit dem Beginn<strong>der</strong> Neuzeit einsetzte. Der Philosoph Otfried Höffe for<strong>der</strong>t deshalb,wie<strong>der</strong> zu lernen, Geschäftssinn als Habsucht, Konkurrenzdruck alsNeid, kurz: zahlreiche Interessen als Leidenschaften, vielleicht sogar alsLaster anzusprechen. Ein Bewußtsein für moralisch illegitime Leidenschaftensei wie<strong>der</strong>zugewinnen. 1181 Er will nicht einer neuen Tugendethikdas Wort reden und erwartet sich auch nicht aus <strong>der</strong> Summe <strong>der</strong> Besonnenheit<strong>der</strong> je einzelnen eine Lösung. Doch ohne eine Än<strong>der</strong>ung auf <strong>der</strong>privaten Ebene können nicht jene Prozesse eingeleitet werden, die zu einergesellschaftlichen Umsteuerung <strong>der</strong> Produktionsziele beitragen. <strong>Die</strong>serangestrebte Kurswechsel kann solange nicht allein durch individuellesVerhalten erreicht werden, wie <strong>der</strong> inhärente Wachstumszwang <strong>der</strong>Marktökonomien das Laster Habgier strukturell institutionalisiert hat.Deswegen wird es darauf ankommen, Strukturen zu schaffen, die denWachstumszwang nicht lediglich von einem quantitativen zu einem qualitativenWachstum umlenken, son<strong>der</strong>n die in einem grundsätzlicherenSinne Wachstums- und Steigerungsziele aus ökologischen Gründen insgesamtreduzieren und die Produktionsziele beson<strong>der</strong>s an jenen Bedürfnisseausrichten, die die Armen und die kreatürliche Mitwelt anmelden.Walther Bindemann nennt deshalb auch zu Recht die Kritik <strong>der</strong> Bedürfnisseein Paradigma einer Befreiungstheologie <strong>der</strong> Reichen. 1182Das handlungsleitende Prinzip <strong>der</strong> Knappheit setzt einen Wachstumsprozeßin Gang, <strong>der</strong> prinzipiell unbegrenzt ist. Das Gesetz <strong>der</strong> Knappheitkennt kein Genug. <strong>Die</strong> Allokation von Ressourcen nach gewinnmaximierendenPrinzipien hat die Effektivität und Produktivität in einem weltgeschichtlichbislang unerreichten Maße erhöhen können. Angesichts <strong>der</strong>ökologischen Folgen dieses ökonomischen Paradigmas <strong>der</strong> Knappheit1181 Ebd. 164.1182 W. Bindemann, <strong>Die</strong> Hoffnung <strong>der</strong> Schöpfung, 170.399


wird die natürliche Basis <strong>der</strong> Ökonomie inzwischen selber zerstört.Knappheit verkehrt sich von <strong>der</strong> Hilfe zur Beseitigung von ökonomischenNöten und Zwängen zum ökologischen Verhängnis. <strong>Die</strong> Begrenzung <strong>der</strong>Wünsche hat es neben diesem ökologischen Aspekt immer auch mit einerUmverteilung <strong>der</strong> Wünsche zu tun: Der Wunsch einer großen Mehrheit<strong>der</strong> Weltbevölkerung nach den lebensnötigen Dingen zum Lebenüberhaupt muß endlich das ihm gebührende Gewicht erhalten. DasGegenbild einer Marktökonomie des Nimmersatt ist eine “Ökonomie desGenug”, wie sie Bob Goudswaard und Harry de Lange vorgelegt haben.Beide Ökonomen geben zu, daß diese Ökonomie in <strong>der</strong> Regulierung <strong>der</strong>Wünsche “ihren harten Kern” 1183 hat. Ein perspektivischer Standort, <strong>der</strong>die Option für die Armen ernst nimmt, klärt den Vorrang <strong>der</strong> Bedürfnisse:Vorrangig sind immer die Nöte <strong>der</strong> Armen, <strong>der</strong> Arbeitslosen, <strong>der</strong> Sozialhilfeempfängerund <strong>der</strong> beschädigten Schöpfung. Wo solidarische Orientierungenden Vorrang haben, sind die Bedürfnisse von vornherein begrenzt.“Der Preis dafür ist, daß ein Teil <strong>der</strong> Wünsche <strong>der</strong> Menschenweichen muß.” 1184 Es geht also um nichts weniger als um eine Orientierungökonomischen Handelns an dem, was den Menschen und <strong>der</strong> Erdenot tut.9.6 Sechster wirtschaftsethischer Impuls: Bereicherung begrenzen9.6.1 Ökonomischer ParadigmenwechselZu Beginn <strong>der</strong> Neuzeit vollzog sich ein folgenreicher Paradigmenwechsel.<strong>Die</strong> seit “Athen” und “Jerusalem” geläufige Kritik <strong>der</strong> Habsucht alseiner Untugend verkehrte sich: Aus einem privaten Laster wurde einesoziale Tugend. Der Ökonom Hans G. Nutzinger teilt diese Einschätzungdes Paradigmenwechsels, wenn er schreibt: “Damit wird eine jahrtausendealteTradition philosophisch-religiöser Kritik von Habsucht undReichtum - gespeist aus so unterschiedlichen Quellen wie Aristoteles‟Unterscheidung von Chrematistik (als Bereicherungslehre) undOikonomia (als Lehre von <strong>der</strong> - naturalen - Hauswirtschaft) in seiner „Politik‟und in <strong>der</strong> „Nikomachischen Ethik‟ o<strong>der</strong> aus <strong>der</strong> jüdisch-christlichenHervorhebung von Nächstenliebe und <strong>der</strong> Verdammung des Mammon -1183 G. Goudzwaard u. H. de Lange, We<strong>der</strong> Armut noch Überfluß, 83. Arthur Rich unterstützt diesenAnsatz: “Es geht keineswegs um eine rigide Verzichtswirtschaft, son<strong>der</strong>n um den Weg voneiner Ökonomie des Immer-Mehr zu einer Ökonomie des Genug.” (A. Rich, Wirtschaftsethik,Bd. 2, 128f.)1184 G. Goudzwaard u. H. de Lange, We<strong>der</strong> Armut noch Überfluß, 83.400


prinzipiell in Frage gestellt.” 1185 In seiner berühmten Bienenfabel hat BernardMandeville einen Paradigmenwechsel in <strong>der</strong> Umwertung <strong>der</strong> UntugendHabgier in eine Tugend literarisch mit dem Paradoxon “private Laster,öffentliche Vorteile” zu begründen versucht. In <strong>der</strong> Bienenfabel heißtes:<strong>Die</strong> Moral: Stolz, Luxus und Betrügereimuß sein, damit ein Volk gedeih‟. 1186In <strong>der</strong> gesamten Philosophie- und Ökonomiegeschichte war diese zynischeund amoralische Haltung eines blanken Utilitarismus bislang immerauf Ablehnung gestoßen. Gezeichnet wird eine Natur des Menschen,<strong>der</strong> nur auf sein Wohl bedacht ist. Der Wirtschaftshistoriker R.H.Tawny spricht von einem Bruch mit <strong>der</strong> europäischen, d.h. griechischrömischenund auch christlich-jüdischen Geistesgeschichte: “Gerade dasBestreben, das die mo<strong>der</strong>ne Gesellschaft als verdienstlich ansieht, nämlichden irdischen Reichtum unablässig und grenzenlos zu mehren, verurteilte<strong>der</strong> Denker des Mittelalters als sündhaft, und die Laster, die eram leidenschaftlichsten anprangerte, gehörten zu den edleren und feinerenwirtschaftlichen Tugenden einer späteren Zeit.” 1187 Zu diesem Bruchmit den religiösen und philosophischen Traditionen mußte es kommen,um die Voraussetzungen für die Entwicklung einer kapitalistischen Wirtschaftsweisezu schaffen. <strong>Die</strong> Grundstruktur <strong>der</strong> Geld- und Marktwirtschaftmit ihrer Triebfe<strong>der</strong> des Gewinnstrebens ist seit <strong>der</strong> Antike diegleiche geblieben. 1188 Damit sich in <strong>der</strong> Neuzeit <strong>der</strong> Kapitalismus entfaltenkonnte, war es nötig, die Untugend Habgier als Grundhaltung dieserTriebfe<strong>der</strong> in eine Tugend umzudeuten. <strong>Die</strong> klassische politische Ökonomieim 17./18. Jahrhun<strong>der</strong>t begann, die Habsucht in <strong>der</strong> Gestalt desEigennutzes als Antrieb des Menschen zu wirtschaftlichem Handeln zuwerten, und deutete die Ausübung individueller Vorteilsnahme als Vorteilfür die Gesamtheit. Sie wird zu einem wünschenswerten, erstrebenswertensozialen Verhalten umgedeutet. Ökonomisch wird dieser Antrieb zumMehr-Haben-Wollen, die Habgier, strukturell als Zwang zum Wachstuminstitutionalisiert. “Das Beson<strong>der</strong>e am Marktsystem ist, daß durch dasEigeninteresse des Einzelnen auch <strong>der</strong> Gesamtnutzen maximiert wird.1185 H. G. Nutzinger, Arbeit unter dem Primat <strong>der</strong> Ökonomie, in: Pastoraltheologie 84 (1995) 580-582; auch A. O. Hirschman, Leidenschaft und Interesse. Politische Begründung des Kapitalismusvor seinem Sieg, Frankfurt 1980.1186 B. Mandeville, <strong>Die</strong> Bienenfabel, 92.1187R.H. Tawny, Religion und Frühkapitalismus, Bern 1946, 50. Vgl. auch oben Abschnitt 8.2;sowie: L. Schottroff, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen.” 168-172.1188 H.Chr. Binswanger, <strong>Die</strong> Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Antike, 34.401


Der Erfolg des Individuums erst garantiert den Wohlstand vieler.” 1189 DasEigeninteresse avanciert demnach zum ökonomisch besten Weg, dasGemeinwohl zu erreichen. Das, was die philosophischen und religiösenTraditionen Europas “Laster” und “Sünde” nennen, summiert sich nun zueinem positiven Saldo. Das Gewinnmotiv ist wegdefiniert. “Nicht die„pleonaxia‟, das Mehrhaben-Wollen ist <strong>der</strong> neue Zug des Kapitalismus,son<strong>der</strong>n die moralische Neutralisierung des Gewinnmotivs zu einem respektablenmenschlichen Motiv und seine Anerkennung als Grundmotiv<strong>der</strong> Wirtschaft.” 1190 <strong>Die</strong> in <strong>der</strong> Geschichte europäischer Philosophie immerals Untugend bezeichnete Habgier konnte so zu einer sozialen Tugend,die die Effizienz <strong>der</strong> Ökonomie garantiert, umgedeutet werden. OtfriedHöffe ordnet einer Motivationsverschiebung jene Verän<strong>der</strong>ung <strong>der</strong>Moral zu, die zu einer folgenreichen Umwertung <strong>der</strong> Werte führte, durchdie Laster - ihrer Illegalität befreit - normativ positiv beurteilt werden: dasLaster <strong>der</strong> Habsucht wird zum lobenswerten Geschäftssinn. 1191 <strong>Die</strong>seUmwandlung <strong>der</strong> Untugend Habsucht in eine Tugend hatte zur Folge,daß “eine lange Tradition <strong>der</strong> Beschäftigung mit <strong>der</strong> Habsucht (...) allmählichin Vergessenheit” 1192 geriet. <strong>Die</strong>se Umformung <strong>der</strong> traditionellenWerte <strong>der</strong> jüdisch-christlichen Tradition konnte einer kapitalistischenProduktionsweise den Boden bereiten.<strong>Die</strong> Verän<strong>der</strong>ungen in Ökonomie und Ethik bedingen sich gegenseitigund führen zu einem Menschenbild, das es bis zur Mo<strong>der</strong>ne in <strong>der</strong> Philosophiegeschichtenicht gegeben hat. Funktional zu einer Ökonomie, dieWettbewerb und Konkurrenz zu ihrem Antrieb machte, formte sich einadäquates Menschenbild: ein Mensch, <strong>der</strong> primär auf seinen Eigennutzbedacht ist. Der Mensch, <strong>der</strong> zu Gutem und Bösem fähig ist, wird nunzum Menschen, <strong>der</strong> “des Menschen Wolf” (Hobbes) ist. <strong>Die</strong>se anthropologischeAussage geht konform mit einer Anthropologie, die den Werthaltungenund Motiven jener seit <strong>der</strong> Aufklärung sich herausbildendenfreien Marktwirtschaft entspricht. <strong>Die</strong> im 17./18. Jahrhun<strong>der</strong>t eingeführteund sich herausbildende Marktwirtschaft konnte sich dadurch als eineWirtschaftsform legitimieren, die <strong>der</strong> Natur des Menschen entsprecheund sich genauso wie <strong>der</strong> Mensch und alles Lebendige evolutionär entwickelthabe.Christliche Ethik hat sich lange schwer getan, Eigennutz als einethisch legitimes Motiv wirtschaftlichen Handelns zu akzeptieren. <strong>Die</strong>Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz kann als ein Durchbruch be-1189 W. Weimer, Das Teilen und die Moral <strong>der</strong> Märkte, 9.1190 P. Koslowski, Ethik des Kapitalismus, 17.1191 O. Höffe, Bausteine für ein ökologisches Weltethos, 164.1192R. Rieth, “Habsucht” bei Martin Luther, 41; vgl. auch: L. Schottroff, “Habgierig sein - dasheißt den Götzen dienen.”402


zeichnet werden, wenn sie for<strong>der</strong>t, “Eigennutz in einer Ordnung <strong>der</strong> Gegenseitigkeiteinzubinden” (Ziff. 139). Der Eigennutz wird nicht mehrethisch diskreditiert, son<strong>der</strong>n als Grundstruktur menschlicher Existenzakzeptiert und deswegen auch für ökonomische Prozesse legitimiert, jedochnur insofern, wie Eigennutz begrenzt und eingebunden ist. Problematischist allerdings eine gleichgewichtige Wertung, wenn es in <strong>der</strong>Denkschrift heißt, daß es darauf ankomme, nach Formen des “„intelligentenEigennutzes‟ als „intelligenter Nächstenliebe‟” (Ziff. 147) zu suchen.Eigennutz sollte nicht theologisch legitimiert, son<strong>der</strong>n durch Einrichtungenreglementiert werden, welche die Bedürfnisse des Nächsten und <strong>der</strong>kreatürlichen Mitwelt respektieren. Wie <strong>der</strong> Eigennutz effektiv begrenztwird, kann als <strong>der</strong> kritische Maßstab gelten, <strong>der</strong> darüber entscheidet, obeine auf Eigennutz basierende marktwirtschaftliche Ordnung ethisch legitimiertist. 1193Was über die Anthropologie zu sagen ist, wird theologisch auch in <strong>der</strong><strong>Tora</strong> thematisiert. 1194 Alle Weisungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> stehen unter demObersatz: “Wer sie einhält, wird durch sie leben” (Lev 18,5). Auf die anthropologischeGrundfrage, wie es denn mit dem Bösen und dem Guten imLeben <strong>der</strong> Menschen bestellt sei, antwortet die <strong>Tora</strong> in zweifacher Hinsicht.Sie sagt zum einen, was Gottes Wille ist, und lehrt dadurch, vonGottes Willen her zu erkennen, wo Menschen ihre Bestimmung verfehlen.Zum an<strong>der</strong>en aber will die <strong>Tora</strong> Leben trotz und inmitten des Bösenerhalten. Das Böse, “das Wölfische”, soll nicht bleiben. Humanisierungsoll eine Chance bekommen. Dazu legt die <strong>Tora</strong> konkrete Instrumentarienund Institutionen <strong>der</strong> Gerechtigkeit vor. Benno Jacob charakterisiert1193 Interessant ist, daß zeitgleich auch die römisch-katholische Kirche ihre notorische Skepsis gegenübermarktwirtschaftlichem Wirtschaften auf <strong>der</strong> Basis von Konkurrenz in <strong>der</strong> EnzyklikaCentesimus annus (1991) abgelegt hat. Der US-amerikanische Sozialwissenschaftler MichaelNovak hat diese Entwicklung als Versöhnung des Katholizismus mit dem Kapitalismus gewürdigtund in Parallele zum Protestantismus verstanden, dem nach M.Weber <strong>der</strong> Kapitalismusseine geistigen Grundlagen verdanke. Positiv wird <strong>der</strong> Kapitalismus gewertet, wenn er alsWirtschaftssystem betrachtet wird, “das die grundlegende und positive Rolle des Unternehmers,des Marktes, des Privateigentums ... anerkennt”, negativ jedoch, wenn unter Kapitalismusein Wirtschaftssystem verstanden wird, “ in dem die wirtschaftliche Freiheit nicht in einefeste Rechtsordnung eingebunden ist” (Centesimus annus, Ziff. 42). Vgl. dazu die im Buchtitelformulierte Parallelität: M. Novak, <strong>Die</strong> Katholische Ethik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus, Trier1996. Als Grundthese formuliert M. Novak: “Aus dem Schmelztiegel einer hun<strong>der</strong>tjährigeninnerkirchlichen Diskussion geht eine angemessenere und befriedigen<strong>der</strong>e kapitalistische Ethikhervor als die Protestantische Ethik Max Webers” (M. Novak, <strong>Die</strong> Katholische Ethik und <strong>der</strong>Geist des Kapitalismus, 23). M. Novak übersieht jedoch die notorische Kritik päpstlicher Verlautbarungenan einer freien Marktwirtschaft o<strong>der</strong> dem Neoliberalismus. Novak identifiziertdie päpstlichen Aussagen zur Marktfunktion mit dem Neoliberalismus.1194 O. Bayer, Bleibt das Böse? Mit einer realistischen Anthropologie den Friedensprozeß för<strong>der</strong>n,in: Evangelische Kommentare 1/1994, 31ff.403


die <strong>Tora</strong>-Weisungen so: “Sie wollen erziehen, nämlich zu Gottesfurchtund Achtung des Menschen in seinen Grundrechten.” 1195Christliche Anthropologie ist deshalb nach zwei Seiten hin als realistischzu charakterisieren: gegen die Verharmloser des Bösen in <strong>der</strong> Traditiondes Rousseau‟schen Denkens, welches das gemeinschaftswidrigeHandeln vom Menschen weg auf die Gesellschaft verlagert; aber auchgegen eine Argumentationslinie, die auf Hobbes zurückgeht, das Bösezum Grundprinzip macht und deshalb gemeinschaftsschädigendes Verhaltennicht nur fest und unverän<strong>der</strong>lich <strong>der</strong> Natur des Menschen zurechnet,son<strong>der</strong>n darüber hinaus auch noch als gemeinschaftsför<strong>der</strong>ndumdeutet. Ein Humanismus, <strong>der</strong> die <strong>Tora</strong> ernst nimmt, resigniert nichtvor dem Bösen, nimmt es aber auch nicht als Faktum o<strong>der</strong> Fatum hin. Ersetzt vielmehr auf “humanisierende Eingriffe” 1196 . <strong>Die</strong>se Einsicht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>befreit zur Analyse gemeinschaftswidriger Strukturen in <strong>der</strong> Ökonomieund setzt gegen Mächte und Gewalten, die Leben behin<strong>der</strong>n, solche Regeln,Institutionen und Mechanismen, die das Leben för<strong>der</strong>n.Von Adam Smith stammt die klassische Beschreibung <strong>der</strong> liberalenWirtschaftsweise, die von positiven Motiven des Handelnden zur Erreichungeines wirtschaftlich wünschenswerten Ziels absieht: “Nicht vomWohlwollen des Metzgers, Brauers, Bäckers erwarten wir das, was wirzum Essen brauchen, son<strong>der</strong>n davon, daß sie ihre eigenen Interessenwahrnehmen. Wir wenden uns nicht an ihre Menschen- son<strong>der</strong>n an ihreEigenliebe, und wir erwähnen nicht die eigenen Bedürfnisse, son<strong>der</strong>nsprechen von ihrem Vorteil.” 1197 Gesteuert und motiviert wird das Marktgeschehenvom Eigennutz, nicht von einer Sorge, die im Mittelpunktklassischer oikonomìa stand. Adam Smith teilt das maßgeblich von Hobbesgeprägte Selbstverständnis seiner Zeit, daß <strong>der</strong> Mensch von Eigennutzgeleitet ist und dieser Eigennutz sich zu einer Quelle des Wohlstands<strong>der</strong> Gesellschaft summiert. Kennwort ist eine Metapher, die mitdem Namen Adam Smith verbunden ist, aber gleichwohl in seinemHauptwerk Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen nur ein einziges Mal vorkommt.Wer seine Interessen bei <strong>der</strong> Gewinnmaximierung verfolge, werde “voneiner unsichtbaren Hand geleitet, um einen Zweck zu för<strong>der</strong>n, den zu erfüllener in keiner Weise beabsichtigt hat.” 1198 <strong>Die</strong> Motivation wird alsovon den Zielen abgekoppelt. Für Adam Smith als Ethiker war jedoch dieseVerfolgung des Eigennutzes ethisch nur dann zu rechtfertigen, wenndaraus ein gemeinwohlverträgliches Ergebnis resultierte. Horst ClausRecktenwald, Herausgeber des Hauptwerkes Wohlstand <strong>der</strong>Nationen,1195 B. Jacob, Das Buch Exodus, 1061.1196 R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt, 20.1197 A. Smith, Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen, 17.1198 Ebd. 371.404


nennt es eine “Verstümmelung o<strong>der</strong> pervertierte Auslegung <strong>der</strong> Grundidee”1199 , wenn <strong>der</strong> Vorwurf erhoben werde, daß Adam Smith das Ökonomischeund Materielle verabsolutiere und die ethische Dimension ignoriere.In seinem Werk Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle betont Adam Smitheine altruistische Grundhaltung des Menschen: “Der weise und tugendhafteMensch ist allezeit bereit, daß sein eigenes Interesse seiner eigenenbestimmten Klasse o<strong>der</strong> Gesellschaftsschicht geopfert wird.” 1200 DerMensch ist deshalb nach dem anthropologischen Verständnis des AdamSmith keineswegs allein von egoistischen Motiven geleitet. Lei<strong>der</strong> jedochfanden in <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Ökonomie diese sozialethischen AusführungenAdam Smiths nicht die ihnen gebührende Aufmerksamkeit undRezeption. Es wird deshalb darauf ankommen, zu diesem integrativenVerständnis von Ethik und Ökonomie zurückzufinden, das Adam Smithformuliert hat.Allein die Steigerung des Unternehmenswertes sei Aufgabe <strong>der</strong> Unternehmen,so Stefan Baron: “„The business of business is business‟meinte <strong>der</strong> US-Ökonom Milton Friedman einmal, und er hat recht: Unternehmersind dazu da, den Unternehmenswert zu maximieren und nichtdie Zahl <strong>der</strong> Arbeitsplätze o<strong>der</strong> die Summe <strong>der</strong> zu zahlenden Steuern.”1201 Er nennt eine solche Haltung “aufs Ganze gesehen eine sozialeGroßtat.” <strong>Die</strong> Definition “business of business is business” ist tautologischund dokumentiert einen ökonomistischen Zirkelschluß: Was Wirtschaftist, erklärt sich aus <strong>der</strong> Wirtschaft selber. Wer wissen will, was“business” ist, wird nicht auf außerökonomische Gesichtspunkte verwiesen;diese sind vielmehr definitorisch ausgeschlossen. Unternehmendienen dem alleinigen Ziel <strong>der</strong> Gewinnerzielung. Je besser sie diesesZiel erreichen, desto wirtschaftlicher handeln sind sie. Was allerdings dieBezeichnung “besser” verdient, bemißt sich hier allein an <strong>der</strong> Kategoriedes “Mehr”. Möglichst hohe Gewinne zu erzielen, ist dann nicht nur gerechtfertigt,son<strong>der</strong>n ökonomisch und ethisch geradezu geboten. WelcheHaltung liegt <strong>der</strong> Handlung zugrunde und beför<strong>der</strong>t dieses Gewinnprinzip?Das Ziel, Gewinne in unbegrenzter Höhe zu erstreben, setzt bei denwirtschaftenden Akteuren eine motivationale Haltung voraus, die nur seltenso offen ausgesprochen wird, wie es Stefan Baron tut: “Topmanager,die Gewinne und Bezüge (ihre eigenen, F.S.) maximieren, mehrengleichzeitig auch das Gemeinwohl.” Das eigennützige Motiv <strong>der</strong> individuellenBereicherung durch Maximierung eigener Bezüge entschwindet undverwandelt sich zu einem Beitrag zum Gemeinwohl. <strong>Die</strong> Maximierungs-1199 H. C. Recktenwald, Würdigung des Werkes, Vorwort, in: A. Smith, Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen,XXXV. Vgl. weitere Ausführungen dazu oben Abschnitt 8.2.1200 A. Smith, Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle, Frankfurt 1949, 297.1201 St. Baron, Unsichtbare Hand, 3.405


absicht von Gewinnen und Bezügen wird zwar unsichtbar gemacht, istjedoch gleichwohl eine Lebensform, die Max Weber so diagnostizierte:Zum Wesen <strong>der</strong> Sache gehöre, “daß hier nicht einfach Lebenstechnik,son<strong>der</strong>n eine eigentümliche „Ethik‟ gepredigt wird, <strong>der</strong>en Verletzung nichtnur als Torheit, son<strong>der</strong>n als eine Art von Pflichtverletzung behandelt wird.... Es ist nicht nur „Geschäftsklugheit‟, was da gelehrt wird ... es ist einEthos, welches sich äußert.” 1202 Eine möglichst hohe Gewinnerwartungals normativer Maßstab ökonomischen Handelns nimmt nach Weber“hier den Charakter einer ethisch gefärbten Maxime <strong>der</strong> Lebensführung”1203 an. Alle an<strong>der</strong>en sozialen Gesichtspunkte o<strong>der</strong> ethischen Wertüberzeugungen,die mit diesem normativen Ziel des Wirtschaftens inKonflikt geraten, werden dem ökonomischen Gewinnziel untergeordnet.Wie eine Grundorientierung an ausschließlich ökonomischen Rationalitätsgesichtspunktengesellschaftliche Wertmaßstäbe verän<strong>der</strong>t hat,zeigt eine Untersuchung über den Wandel von Charakter und Gesellschaftin den USA. Robert Bellah u.a. haben einen gesellschaftlich repräsentativenCharakter beschrieben: konkurrenzbewußt, frei von moralischenund sozialen Bindungen, marktorientiert. <strong>Die</strong> in <strong>der</strong> Arbeitsweltund im Wettbewerb am Markt eingeübten, rein instrumentellen Haltungenwerden also auf an<strong>der</strong>e Lebensbereiche übertragen. 1204 Es bestätigt sichdie Ahnung von Max Weber: “Der heutige, zur Herrschaft im Wirtschaftslebengelangte Kapitalismus also erzieht und schafft sich im Wege <strong>der</strong>ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte - Unternehmer und Arbeiter-, <strong>der</strong>en er bedarf. Damit (...) jene <strong>der</strong> Eigenart des Kapitalismus angepaßteArt <strong>der</strong> Lebensführung und Berufsauffassung „ausgelesen‟ werden,d.h. über an<strong>der</strong>e den Sieg davontragen konnte, mußte sie offenbarzunächst entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen,son<strong>der</strong>n als Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragenwurde.” 1205 <strong>Die</strong> Kirchen registrieren ebenfalls in ihrem Wirtschafts- undSozialwort eine sich verbreitende desolidarisierende und opportunistischeEinstellung und beklagen: “Doch Solidarität und Gerechtigkeit genießenheute keine unangefochtene Wertschätzung. Dem Egoismus auf<strong>der</strong> individuellen Ebene entspricht die Neigung <strong>der</strong> gesellschaftlichen1202 M. Weber, <strong>Die</strong> protestantische Ethik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus, 33.1203 Ebd.1204 R.N. Bellah u. R. Madsen u.a., Gewohnheiten des Herzens. Individualismus und Gemeinsinn in<strong>der</strong> amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987; vgl. auch: S. Katterle, <strong>Die</strong> neoliberale Wendezum totalen Markt aus <strong>der</strong> Sicht des Nordens, 50ff.; F.-X. Kaufmann u. W. Kerber u. P.Zulehner (Hg.), Ethos und Religion bei Führungskräften, München 1986. Dort kommen dieAutoren zu einem Ergebnis, das den kulturellen Wertebruch bestätigt: “<strong>Die</strong> heute nachwachsendeGeneration an Führungskräften (ist) zunehmend weniger von jenen Formen des Ethosgeprägt, die bisher die europäische Tradition bestimmt haben.” (275)1205 M. Weber, <strong>Die</strong> protestantische Ethik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus, 37.406


Gruppen, ihr partikulares Interesse dem Gemeinwohl rigoros vorzuordnen.Manche würden <strong>der</strong> regulativen Idee <strong>der</strong> Gerechtigkeit gern denAbschied geben” (Ziff. 2). Ein marktökonomisches Konkurrenzparadigmawird inkulturiert und zu einem gesellschaftlichen de-facto-Leitbild. Esetabliert sich eine gesellschaftsdominierende Ethik des Marktes, die individuelleBereicherung zu einem geachteten Motiv macht. 1206 <strong>Die</strong>ser gesellschaftlicheZustand resultiert aus einer ökonomischen “Zwei - Reiche- Ethik”, nach <strong>der</strong> Ethik zunächst aus dem wirtschaftlichen Handeln verbanntwird und erst am Ziel, nämlich bei <strong>der</strong> Erreichung eines verheißenenallgemeinen Wohlstandes, wie<strong>der</strong> zum Zuge kommt. In letzterInstanz tun somit die wirtschaftlich Handelnden nie das, was sie wirklichwollen. Sie tun das Gute, ohne es zu wollen, und sie sind eigennützig,um das Gute für alle zu erreichen. Erst das Resultat <strong>der</strong> verstreuten eigennützigenHandlungen sammele sich zu einem Gut, dem bonumcommune.<strong>Die</strong>se Haltung findet ihren Ausdruck in <strong>der</strong> Verteilungslage einer Gesellschaft.<strong>Die</strong> sozialen Strukturen <strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland sindungleicher denn je: Das obere <strong>Dr</strong>ittel <strong>der</strong> privaten Haushalte hat mit einemAnteil von 57 % <strong>der</strong> gesamten verfügbaren Haushaltseinkommen in<strong>der</strong> Bundesrepublik Deutschland mehr als die beiden unteren <strong>Dr</strong>ittel zusammen,auf die nämlich 43 % entfallen. 1207Zwischen Einkommen aus Geldvermögen und Einkommen durch Erwerbstätigkeittut sich eine Schere auf. Das geldbezogene Einkommenlag 1950 bei vier Prozent und ist auf 18% im Jahr 1990 und auf 23% imJahre 1993 gestiegen. 1208 Helmut Creutz führt diese Entwicklung auf eine“zinsbedingte Einkommensumschichtung” 1209 zurück, die strukturelldurch den Zins zu einer immer stärkeren proportionalen Benachteiligung<strong>der</strong> Arbeitleistenden gegenüber denen führt, die Einkommen aus Geldvermögenbeziehen. Das Prinzip von Zins und Zinseszins führt zu einemexponentiellen Wachstum von Geldvermögen, wenn <strong>der</strong> Zinseinnehmermehr Zinsen erhält als verbraucht werden. Der Zins wirkt wie ein1206 In einem Kommentar kritisierte die FAZ diese gesellschaftlich vorherrschende Ethik desMarktes: “Tut Böses, auf daß Gutes daraus entstehe: <strong>Die</strong> alte Formel, mit <strong>der</strong> die Habsuchtnicht nur entschuldigt, son<strong>der</strong>n regelrecht ermuntert wird, ist zum ersten Gebot einer funktionalen,eben kapitalistischen Ethik geworden ... (sie) ist nicht nur bei denen beliebt, die über dieWirtschaft reden, son<strong>der</strong>n fast noch mehr bei den an<strong>der</strong>en, die Wirtschaft machen.” K. Adam,in: FAZ vom 5.7.1991.1207 E.-U. Huster, Unternehmer und Selbständige sind die Sieger im Verteilungskampf, in: FR Nr.15 vom 19.1.1993, 10. ; E.-U. Huster, Teilen - aber wie? Optionen für eine Neufassung desGesellschaftsvertrags, in: F. von Auer u. F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Markt und Menschlichkeit, 193-196.1208H. Creutz, Das Geldsyndrom, Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft, 2. Aufl. Berlin -Frankfurt 1995, 278-292.1209 Ebd. 292.407


“Umverteiler” 1210 . Das ungleich verteilte Vermögen wächst nach Angaben<strong>der</strong> Deutschen Bundesbank weitestgehend “von allein” 1211 . Kehrseite <strong>der</strong>zinsbedingten Umverteilung und <strong>der</strong> Zinsgewinne ist eine zunehmendeVerschuldung privater und öffentlicher Haushalte. <strong>Die</strong> Pro-Kopf-Verschuldung im Konsumentenkredit betrug 1950 noch 3,60 DM und istim Jahre 1992 auf durchschnittlich 5.000 DM angewachsen. Allein 1989erfolgten 160.000 Lohn- o<strong>der</strong> Gehaltspfändungen, ca. 1,2 MillionenHaushalte sind überschuldet. Je<strong>der</strong> Haushalt in <strong>der</strong> Bundesrepublik ist in<strong>der</strong> Höhe von 15.000 DM durchschnittlich verschuldet .1212Neben <strong>der</strong> privaten Verschuldung gibt es auch eine Verschuldung <strong>der</strong>Öffentlichen Hand. 1213 <strong>Die</strong> öffentliche Verschuldung erreichte mit 5.338Milliarden DM für die Jahre 1982-1991 etwa die Höhe eines Betrages,<strong>der</strong> - so H. Creutz - “ziemlich genau den Zinsen entsprach, die von denGebietskörperschaften im gleichen Zeitraum aufgebracht werden mußte.”1214 <strong>Die</strong>se monetären Wirkungsmechanismen werden eine weitereÖffnung <strong>der</strong> Schere zwischen Arm und Reich herbeiführen. <strong>Die</strong> Bundesbankbefürchtet deshalb den “Teufelskreis einer Schuldendynamik” 1215 .Welchen Beitrag kann eine Orientierung am Zinsverbot <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> zurDurchbrechung dieses Teufelskreises leisten?9.6.2 Regulierungen für den sozialen AusgleichFrank Crüsemann nennt das Verbot <strong>der</strong> Pfandleihe und des Zinses denAnfang des Wirtschaftsrechts <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>. “Es setzt an dem gleichen Punktan wie die späteren: beim Kern <strong>der</strong> sozialen Abhängigkeit, dem Schuldenwesen.”1216 Am Anfang des Wirtschaftsrechts steht somit ein Eingriff1210 Ebd. 106.1211 183 Mrd., d.h. 78 % an zusätzlichem finanziellen Sparaufkommen, stammen nach Schätzungen<strong>der</strong> Deutschen Bundesbank aus Vermögenseinkünften wie Zinsen und Dividenden. Dem Vermögenvon 4,6 Bill. DM stehen private Schulden von 1,6 Bill. DM gegenüber. Nach Angaben<strong>der</strong> Deutsche Bundesbank, zit. in: FR Nr. 114 vom 17.5.1996.1212 W. Uhlenbrock, <strong>Die</strong> Restschuldbefreiung nach dem Regierungsentwurf einer Insolvenzordnung,in: Deutsche Gerichtsvollzieher - Zeitung 107 (1992) Nr. 33, 39.1213 <strong>Die</strong> Gesamtverschuldung <strong>der</strong> Volkswirtschaft liegt bei ca. 7.7000 Mrd. DM. Umgelegt auf die35 Mill. Haushalte ergibt sich eine anteilige Durchschnittsschuldenlast von 13.000 DM. Bezogenauf die durchschnittlichen Ausgaben <strong>der</strong> Haushalte im Jahr 1995 in <strong>der</strong> Höhe von 56.400DM (bei einem verfügbaren Haushaltseinkommen von 64.300 DM abzüglich Ersparnisse von7.900 DM) sind das etwa 23%. So: H. Creutz, <strong>Die</strong> Verschuldung in Deutschland. Größenordnungen,Entwicklungen und Auswirkungen, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 33 (1996) 15f.1214 Ebd. 13.1215So ein Sprecher <strong>der</strong> Bundesbank in einer Anhörung des Finanzausschusses des Bundestagesüber das Jahressteuergesetz 1997, in: Handelsblatt vom 24.6.1996, 5.1216 F. Crüsemann, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>, 217f.408


in die ökonomischen Gesetze, wo sie zu Ausbeutung und Abhängigkeitführen. Der Eingriff erfolgt also im Interesse <strong>der</strong> Opfer ökonomischerGesetzmäßigkeiten, die außer Kraft gesetzt und dadurch als verän<strong>der</strong>bardeutlich gemacht werden. Teil <strong>der</strong> biblischen wirtschaftsethischen Traditionist es, den Kreislauf, <strong>der</strong> durch Armut abhängig macht und <strong>der</strong> dieArmen den Mächtigen ausliefert, zu durchbrechen. <strong>Die</strong> biblische Traditionkennt mit dem Zinsverbot (Ex 22,24ff; Dtn 23,20f.; Lev 25,35-38),dem Sabbatjahr (Dtn 15,1ff.) und dem Erlaßjahr (Lev 25,8ff.) Institutionen,die soziale und ökonomische Prozesse <strong>der</strong> Bereicherung und <strong>der</strong>Akkumulation unterbrechen wollen. Das Zinsverbot ist eine Maßnahmegegen strukturell und ökonomisch verursachte Verarmung und Ausgrenzung.Es gehört in den Zusammenhang weiterer Gegenstrategien wieSchuldenerlaß und Erlaßjahr. <strong>Die</strong>se Maßnahmen wurden in einen engenZusammenhang mit <strong>der</strong> Gottesverehrung gestellt, wie Psalm 15 zeigt.“Herr, wer darf Gast sein in deinem Zelt, wer darf weilen auf deinem heiligenBerg? (...) <strong>der</strong> sein Geld nicht auf Wucher ausleiht und nicht zumNachteil <strong>der</strong> Schuldlosen Bestechung annimmt” (Ps 15,1.4b.5a). 1217 InDtn 23,20 und Lev 25,35f. wird das Zinsverbot als Teil und Ausfluß des in<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> formulierten Willens Gottes verstanden. Es einzuhalten wird zueinem effektiven Faktor gegen Verarmung und Verelendung.9.6.2.1 SchuldenerlaßDer Schuldenerlaß wird von weiteren Sozialgesetzen flankiert, <strong>der</strong>enwichtigstes das Zinsverbot ist. Der regelmäßig alle sieben Jahre wie<strong>der</strong>kehrendeSchuldenerlaß verhin<strong>der</strong>t zwar keine Verschuldung, wohl abereine Überschuldung, die eine Zahlungsunfähigkeit des Schuldners bedeutet.Jobeljahr, Sabbatjahr, Schuldenerlaß, Erlaßjahr und Zinsverbotsind Maßnahmen, die einerseits wie ein institutionalisierter Lastenausgleichzugunsten <strong>der</strong> Verarmten und Verschuldeten wirken und an<strong>der</strong>erseitsMechanismen sind, die eine ansonsten ungebremste Tendenz zurAkkumulation und Bereicherung unterbrechen o<strong>der</strong> wenigstens sozial erträglicherbegrenzen. “Das Jobeljahrprogramm ist von dem Grundsatz,daß alle Menschen das gleiche Recht auf einen Zugang zu den natürlichenLebensressourcen haben, durchzogen.” 1218 Eckart Otto nennt diedeuteronomische Konzeption ein Programm für einen “Ausgleich zwischenArm und Reich durch die Sabbatordnung” 1219 . <strong>Die</strong>se Maßnahmen,die Eingang in das Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gefunden haben, zeigen1217 Wenn die Einheitsübersetzung von “Wucher” spricht, unterstellt sie eine Unterscheidung zwischenakzeptablen Zinsen und unakzeptablen Wucherzinsen, eine Unterscheidung, die dembiblischen Sprachgebrauch fremd ist.1218 E. Otto, Theologische Ethik des Alten Testaments, 255.1219 Ebd. 249.409


zugleich, daß soziale Ungleichheiten als Ergebnis von ökonomischenProzessen verstanden werden, die vom Menschen verursacht und deswegenauch grundsätzlich korrigierbar sind. Ökonomische Gesetzmäßigkeitwird nicht als gegeben hingenommen. <strong>Die</strong> Prozesse <strong>der</strong> Bereicherungauf Kosten <strong>der</strong> Armen o<strong>der</strong> auf Kosten <strong>der</strong> Natur werden revidiert.<strong>Die</strong>se Regulierungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> wirken ökonomisch als Umverteilung undpolitisch als Ausgleich sozialer Spaltungen zwischen Arm und Reich.Theologisch werden sie als Ausfluß des Willens Gottes begründet, <strong>der</strong>Gerechtigkeit und Recht für die Armen will. Biblische Traditionen kennenkein absolut gesetztes Recht, son<strong>der</strong>n fragen immer nach den Folgenvon Handeln für die Gemeinschaft. Vom Eigentum wird deshalb gefor<strong>der</strong>t,“daß Ausnutzung von Eigentumsrechten nicht die soziale Karitätverletzt und das Ordnungsgefüge <strong>der</strong> Gemeinschaft nicht gefährdet.” 1220Soziale und ökonomische Schieflagen werden nicht als unabwendbareSachzwänge hingenommen. <strong>Die</strong> Realität von Armut wird vielmehr alsVerdikt über das Versagen in <strong>der</strong> Befolgung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> gedeutet (Dtn 15,7-11).(1) Sabbatjahr und ErlaßjahrDaß die Tradition des regelmäßigen Schuldenerlasses und des Erlaßjahres,wie sie die <strong>Tora</strong> formuliert hat, im nachbiblischen Judentum weitergeführtwird, zeigen Hinweise im Neuen Testament. 1221 <strong>Die</strong> Weisungendes Erlaßjahres (Dtn 15,1-11; Lev 25,8ff.) gelten auch für die Christen,denn altes und neues Gottesvolk stehen unter <strong>der</strong> gleichen Verheißung,daß Gott seine Gerechtigkeit gegen die unterdrückenden Zwänge wirtschaftlicherEigengesetzlichkeiten aufrichten wird: Das Erlaßjahr sei aucheine <strong>Tora</strong> für Christen, resümiert Rainer Albertz. 1222 <strong>Die</strong>se Einsicht jedochwird in den Ethiken nicht aufgenommen. <strong>Die</strong> Bibel- und Stichwortregisterbekannter Dogmatiken und neuer Ethiken kennen keinen Verweisauf Lev 25 o<strong>der</strong> Neh 5. Begriffe wie “Halljahr”, “Jobeljahr”, “Sabbatjahr”,“Erlaßjahr” fehlen gänzlich. 1223 Allenfalls die prophetische Ankündigungeines “Gnadenjahres des Herrn” (Jes 61,1ff.), das in Lk 4,19 angesprochenwird, wird theologisch aufgenommen. Es bestätigt sich abermals,daß sozial- o<strong>der</strong> wirtschaftsethisch relevante exegetische Einsichtenin <strong>der</strong> Ethik gerade dann nicht rezipiert werden, wenn diese zu1220 F. Horst, Art. Eigentum, biblisch, Sp. 364.1221 Vgl. dazu R. Albertz, <strong>Die</strong> “Antrittsrede” Jesu im Lukasevangelium; F. Crüsemann, “... wie wirvergeben unseren Schuldigern.”; W. Bindemann, “... Gutes tun und leihen...”(Lk 6,35).1222 R. Albertz, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen wirtschaftliche Sachzwänge, 309.1223 E.M. Dörrfuss, Das Jobeljahr in Verkündigung und Theologie <strong>der</strong> Kirche. SystematischtheologischeImplikationen, in: Ökumenische Rundschau 44 (1995) 311- 327.410


eintschneidend in ökonomische Verhältnisse eingreifen. Alfred deQuervin sagt zu Recht, daß das Erlaßjahr gleichermaßen “in das ökonomischeLeben, damals und heute,” 1224 eingreift. “Sie (die Verkündigungdieser Weisungen, F.S.) ruft auf zu Entscheidungen, zur Errichtung vonOrdnungen, die die ungerecht gewordenen korrigieren sollen.” Alfred deQuervin deutet diese Weisungen als Zeichen, die “nach <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong>Gemeinwirtschaft hinweisen” 1225 . <strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> Theologie hat allerdingsdiese konkrete Bestimmung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> für eine Schuldenbefreiungmit dem Neuen Bund als erledigt angesehen, obwohl sich durchaus inden neutestamentlichen Schriften Hinweise und deutliche Spuren zeigen,daß die Schuldenbefreiung und <strong>der</strong> Schuldenerlaß als Teil des formuliertenGotteswillens verstanden wird, denn kein einziges Jota dürfe entfallen(Mt 5,17f.). 1226 <strong>Die</strong>ser Eingriff in die Wirtschaftsabläufe zugunsten <strong>der</strong>ökonomisch Schwachen ist Teil des theologischen Erbes, das wirtschaftsethischrelevant ist.Der zeitgenössische jüdische Theologe A. Waskow sieht die Sabbattraditionin ihrer verteilungspolitischen Bedeutung Er deutet den wirtschaftsethischenKern <strong>der</strong> Sabbat- und Jobeljahrtradition als eine Überlieferung,die in Erinnerung halte, “daß in jedem siebten Jahr alle Schuldenaufgelöst und alle Armen aus <strong>der</strong> Verzweiflung <strong>der</strong> Verschuldung befreitwerden müssen, daß aber einmal in je<strong>der</strong> Generation eine großeWandlung vollzogen werden muß und daß jede Generation wissen muß,daß es noch einmal getan werden muß, in <strong>der</strong> nächsten Generation.” 1227Armut bleibt nicht immer, Reichtum auch nicht. Gesellschaften bekommendie Chance zur Korrektur von Ungerechtigkeiten und zur Wie<strong>der</strong>herstellunggerechter Verhältnisse. “Es würde bedeuten, daß alle sicherwissen, daß we<strong>der</strong> Armut noch Wohlstand für immer bleiben, (...) daß allenMenschen angemessene Arbeit und angemessene wirtschaftlicheUnabhängigkeit zukommt. Daß es Hoffnung gibt - nicht die Hoffnung <strong>der</strong>Phantasie, son<strong>der</strong>n die Hoffnung sicheren Wissens. Und daß Hoffnungsowohl geistig als auch wirtschaftlich gemeint ist.” 1228 <strong>Die</strong> Regelung desSabbat- und Jobeljahres will also eine Zukunft vor Augen stellen, in <strong>der</strong>man frei von Mangel leben kann.1224 A. de Quervin, Ruhe und Arbeit. Lohn und Eigentum, 121.1225 Ebd. 122.1226E.M. Dörrfuss, Das Jobeljahr in Verkündigung und Theologie <strong>der</strong> Kirche, 313f. Dörrfuss behandeltdie Rezeption des Jobeljahres theologiegeschichtlich von Luther über Zwingli bis zuEbeling und Barth.1227 A. Waskow, God Wresting, New York 1978, 119, zit. in: M. Fox, Revolution <strong>der</strong> Arbeit. Damitalle sinnvoll leben können, München 1994, 336.1228 Zit. in: ebd., 337.411


(2) Sozialethischer Kern: Recht auf einen NeuanfangDas Problem <strong>der</strong> Verschuldung ist ein mo<strong>der</strong>nes Problem nur in seinerKomplexität und Tragweite, insofern private Haushalte, Staaten im Innernund Staaten gegenüber Geldgebern sich verschulden können. Doch dasProblem <strong>der</strong> Überschuldung reicht zurück bis in die Anfänge <strong>der</strong> Hochkulturenund <strong>der</strong> Geldwirtschaft. In kirchlichen Erklärungen mehren sichseit einigen Jahren die Stimmen, die angesichts gesellschaftlicher undweltweiter Spaltungs- und Verarmungstendenzen die biblische SabbatundErlaßjahrtradition wie<strong>der</strong>entdecken und in Erinnerung rufen. DerPäpstliche Rat für Gerechtigkeit und Frieden hat in seinem DokumentFür eine bessere Landverteilung - <strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Agrarreformdirekt auf die biblische Tradition des Jobeljahr Bezug genommen. 1229“Der Geist des Jubeljahres möge uns veranlassen, angesichts <strong>der</strong> vielenSünden auf persönlicher und gesellschaftlicher Ebene, die zu tragischerunsäglicher Armut und Ungerechtigkeit führen, auszurufen “genug damit!”Unter Berufung auf die einzigartige grundlegende Bedeutung, die<strong>der</strong> Gerechtigkeit in <strong>der</strong> Frohbotschaft zukommt, nämlich die Schwachenals Kin<strong>der</strong> Gottes in ihren Rechten zum Wohle <strong>der</strong> Schöpfung zu schützen,geben wir dem innigen Wunsch Ausdruck, daß das Jubeljahr wie in<strong>der</strong> biblischen Geschichte über eine Verteilung des Grundbesitzes, dievon dem Geist <strong>der</strong> Solidarität geprägt ist, auch heute zur Wie<strong>der</strong>herstellungdieser sozialen Gerechtigkeit führen möge.” <strong>Die</strong> römische EnzyklikaTertio millennio adveniente nimmt den Jahrtausendwechsel zum Anlaß,den Appell für Entschuldung zu erneuern und in <strong>der</strong> Erinnerung an dasalttestamentliche Erlaß- und Jobeljahr (Lev 25,8-28) zu verstärken: “Sowerden sich ... die Christen zur Stimme aller Armen <strong>der</strong> Welt machenmüssen, indem sie das Jubeljahr als eine passende Zeit hinstellen, umunter an<strong>der</strong>em an einer Überprüfung, wenn nicht überhaupt an einen erheblichenErlaß <strong>der</strong> internationalen Schulden zu denken, die auf demGeschick vieler Nationen lasten” (Nr. 51). Eine Gemeinsames Wort desRates <strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland und des deutschen BischofskonferenzInternationale Verschuldung - eine ethische Herausfor<strong>der</strong>ungvom 21. Oktober 1998 unterstützt Entschuldungskampagnenund for<strong>der</strong>t die Einrichtung eines internationalen Insolvenzrechts, das <strong>der</strong>Überschuldung von Län<strong>der</strong>n in Zukunft vorbeugen könnte. Der Teufelskreis<strong>der</strong> Marginalisierung armer Län<strong>der</strong> lasse sich nur durchbrechen ineiner Verbindung von Schuldenerlaß und internen Reformen <strong>der</strong> betroffenenLän<strong>der</strong> sowie einer neuen Wirtschaftspolitik <strong>der</strong> reichen Staaten.Auch wenn <strong>der</strong> Grundsatz, daß die Schulden bezahlt werden müssen,1229 Päpstlicher Rat für Gerechtigkeit und Frieden, Für eine bessere Landverteilung. <strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Agrarreform, zit. in: FR Nr. 19 vom 23.1.1998, 7.412


ichtig sei, so gäbe es dennoch ein ethisches Argument, das die Kirchensich mit Bezug auf die römische Enzyklika Centesimus annus, Nr. 35 sobegründen: “Es ist jedoch nicht erlaubt, eine Zahlung einzufor<strong>der</strong>n o<strong>der</strong>zu beanspruchen, die zu politischen Maßnahmen zwingt, die ganze Völkerin den Hunger und in die Verzweiflung treiben würde. Man kann nichtverlangen, daß die aufgelaufenen Schulden mit unzumutbaren Opfernbezahlt werden.”Gnana Robinson versteht die Jobeljahrtradition <strong>der</strong> Hebräischen Bibelals eine Herausfor<strong>der</strong>ung für Christen angesichts weltweiten Unrechts:1230 Das Jobeljahr sei erstens ein Gesetz, das als Ergebnis einerdynamischen Anpassung an verän<strong>der</strong>te ökonomische und gesellschaftlicheVerhältnisse zu verstehen sei. <strong>Die</strong>ser dynamische Anpassungsprozeßin <strong>der</strong> Bibel selber solle in <strong>der</strong> Gegenwart inspirieren, neue Institutionen<strong>der</strong> Gerechtigkeit zu entwickeln. Zweitens for<strong>der</strong>e das Jobeljahr einsoziales Engagement, das seine Wurzeln im Glauben an Gott hat. ZwischenTheologie und Ökonomie gebe es Wechselwirkungen. “In einerungerechten Gesellschaft kann er (<strong>der</strong> Glaube, F.S.) nicht mit dem statusquo zufrieden bleiben; er muß die ungerechte Ordnung herausfor<strong>der</strong>nund nach einer neuen, gerechten Ordnung <strong>der</strong> Gesellschaft streben.” 1231Schließlich for<strong>der</strong>e das biblische Jobeljahr Gerechtigkeit auf internationalerEbene. Auch wenn die <strong>Tora</strong> zunächst dem Volk Israel gegeben ist,hat sie doch eschatologisch die ganze Menschheit im Blick (vgl. Jes61,1ff; Lk 4,18-19). “Je<strong>der</strong> Mensch dieser Erdkugel hat das fundamentaleRecht, den Reichtum dieser Erde gleichberechtigt zu genießen. Ihndieses Rechts zu berauben, ist eine große Sünde.” 1232 Deshalb kommtGnana Robinson zu <strong>der</strong> Folgerung: “In einer Weltwirtschaft, in <strong>der</strong> dieökonomische Ungleichheit gewachsen ist und Millionen von Menschen inunmenschliche Lebensbedingungen gefallen sind, wird eine Zuflucht zumGeist des Jubiläums unvermeidbar, wenn man sich um die Beschaffungeiner gerechten Wirtschaftsordnung ernsthaft bemüht. Auf die Reste <strong>der</strong>kolonialen Unterdrückung muß verzichtet werden. Schulden, verursachtdurch den nach-kolonialen Bankrott <strong>der</strong> Entwicklungslän<strong>der</strong>, müssen erlassenwerden. Das Jobel-Jahr for<strong>der</strong>t die Menschheit auf, in solch einAbenteuer des Glaubens einzutreten.” Gnana Robinson stellt sich ausdrücklichin die Traditionslinie des Jobeljahres und for<strong>der</strong>t, dieses Erbe<strong>der</strong> Bibel für die Gegenwart zu erschließen.<strong>Die</strong> Stellungnahme <strong>der</strong> Kammer <strong>der</strong> EKD für Kirchlichen Entwicklungsdienstzur Schuldenkrise (1988) plädiert dafür, “Ordnungen zuschaffen, die gewährleisten, daß die Lasten <strong>der</strong> Verschuldung das Le-1230 G. Robinson, Das Jobel-Jahr, 492ff.1231 Ebd. 493.1232 Ebd. 494.413


ensrecht <strong>der</strong> Armen nicht gefährden, son<strong>der</strong>n daß ihr Lebens- undHandlungsspielraum erweitert wird.” Begründet wird die For<strong>der</strong>ung mitdem alttestamentlichen Erlaßjahr, das darauf abziele, “die Ausbreitungund Verfestigung struktureller Armut zu verhin<strong>der</strong>n.” 1233 <strong>Die</strong> ethischenImplikationen <strong>der</strong> Institution des Jobeljahres werden in dieser Studie <strong>der</strong>EKD in aller Deutlichkeit aufgenommen.Auf diese “tiefen Einschnitte in die Wirtschaftsabläufe” 1234 verweist dieWeltversammlung des Ökumenischen Rats <strong>der</strong> Kirchen in Canberra mitihrer Erinnerung an das Jobeljahr, wenn sie neben diesem sozialökonomischenAspekt auch den des ökologischen Umgangs einbezieht. 1235Der Ökumenische Rat <strong>der</strong> Kirchen will den 50. Jahrestag seiner Gründungals Jubeljahr in Erinnerung an das biblische Erlaßjahr begehen.“<strong>Die</strong>ses Projekt, in dem die sozialen, wirtschaftlichen und ökologischenKonsequenzen des biblischen Erlaßthemas in den Vor<strong>der</strong>grund treten,führt die Erkenntnis weiter, die 1992, beim 500. Jahrestag <strong>der</strong> Reise vonKolumbus, in Lateinamerika gewonnen wurde: <strong>Die</strong> Anwendung des Erlaß-Prinzips,im beson<strong>der</strong>en des Schuldenerlasses, ist ein zentraler Bestandteil<strong>der</strong> biblischen Hoffnung.” 1236 Eine von zahlreichen christlichenInitiativen getragene Kampagne mobilisiert seit 1997 weltweit unter demMotto “Erlaßjahr 2000 - Entwicklung braucht Entschuldung”. <strong>Die</strong> Kampagneknüpft direkt an die Tradition des biblischen Jobeljahres an undwill die Jahrtausendwende als symbolisches Jahr für eine Entschuldungnutzen.Es gibt eine nachbiblische jüdische Auslegungsgeschichte <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>,die in <strong>der</strong> christlichen Ethik bislang überhaupt noch nicht wahrgenommen,geschweige denn rezipiert worden ist. Um so mehr ist <strong>der</strong> Versuchdes ÖRK zu würdigen, die Gegenwartsrelevanz des Jobeljahres gemeinsammit jüdischen Gesprächspartnern auf einer Konferenz des ICCJ (In-1233 Bewältigung <strong>der</strong> Schuldenkrise - Prüfstein für die Nord-Süd-Beziehungen. Eine Stellungnahme<strong>der</strong> Kammer <strong>der</strong> EKD für kirchlichen Entwicklungsdienst, hg. vom Kirchenamt <strong>der</strong> EKD,EKD-Texte 23, Hannover 1988, 4,1234 R. Albertz, Der Mensch als Hüter seiner Welt, 45.1235 W. Müller-Römheld (Hg.), Im Zeichen des Heiligen Geistes, 54.1236 Zit. nach: Beschlußfassung des ÖRK- Zentralausschusses, Johannesburg 20.-28.1.1994. Auchdie Zweite Europäische Ökumenische Versammlung in Graz (Juni 1997) hat einen Schuldenerlaßfür die ärmeren Län<strong>der</strong> gefor<strong>der</strong>t (vgl. epd-Dokumentation 35/1997, 12). Einen Appell zurVerlebendigung <strong>der</strong> Sabbatjahr-Tradition anläßlich <strong>der</strong> Jahrtausendwende hat G. <strong>Franz</strong>oni verfaßt.Er for<strong>der</strong>t, die Jahrtausendwende als Erlaß- und Ruhejahr zu begehen, in dem ein an<strong>der</strong>erUmgang mit den Ressourcen eingeübt und ein Schuldenerlaß für die ärmsten Län<strong>der</strong> erlassenwird (G.<strong>Franz</strong>oni, Laßt die Erde ausruhen. Offener Brief für ein mögliches Jubiläum, Wien -München 1997). Auch die Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1997 in Debrecenhat die Mitgliedskirchen aufgefor<strong>der</strong>t, sich weltweiten Kampagnen für den Schuldenerlaßanzuschließen (so die Sektion 2 - Gerechtigkeit für die ganze Schöpfung, zit. nach unveröffentlichtenUnterlagen des Reformierten Weltbundes).414


ternational Council of Christians and Jews) zu erarbeiten. <strong>Die</strong> Konferenzteilnehmerhaben vorgeschlagen, daß <strong>der</strong> ÖRK sich mit <strong>der</strong> Bedeutungdes Jobeljahres, des Sabbatjahres und des Sabbat für das wirtschaftlicheLeben heute auseinan<strong>der</strong>setzen sollte. <strong>Die</strong> Konferenz unterstreicht,daß die biblische Tradition des Jobeljahres über Protest und Anprangernvon Ungerechtigkeit hinausgeht. In <strong>der</strong> gemeinsamen Erklärung <strong>der</strong> Konferenzheißt es: “Vielmehr sollte uns die jüdische Halakha inspirieren: diekonkrete Anwendung <strong>der</strong> Gebote in den Gesetzen, Richtlinien und Maßnahmen,die die Rabbinen in genauer Analyse <strong>der</strong> Probleme, mit großerGenialität und großer moralischer Energie ausgearbeitet haben, um Lösungenfür die komplexesten Probleme zu finden.” 1237 Der ÖRK versucht,die Sabbattradition - mit den Elementen Neuverteilung des Landes, Befreiungaller Versklavten, Einführung eines Brachjahres, Entschuldung -als Inspiration zur Lösung aktueller Probleme ökonomischer und sozialerAsymmetrien zu aktualisieren.<strong>Die</strong> gewaltigen Finanzströme aus dem armen Süden in den reichenNorden machen die For<strong>der</strong>ung nach einem Schuldenerlaß nicht nur moralisch,son<strong>der</strong>n auch politisch und ökonomisch plausibel, denn <strong>der</strong> Kreditgebermuß auch ein ökonomisches Interesse an <strong>der</strong> Solvenz des Kreditnehmershaben. Ein “Recht auf einen Neuanfang” zu ermöglichen,macht den wirtschaftsethischen Kern des Schuldenerlasses aus. 1238 Dasbiblisch begründete Zinsverbot ist in seinem Anliegen angesichts desweltweiten Verschuldungsproblems bedeutsam.1237 ICCJ-Nachrichten Nr. 14, Herbst 1996, zit. nach: Freiburger Rundbrief/Neue Folge 3/1997,226. - <strong>Die</strong>se Fachkonferenz kann als ein Beispiel dafür gelten, wie biblische Traditionen nichteinfach nur durch direkte Rezeption in die christliche Ethik aufgenommen werden son<strong>der</strong>n imGespräch mit dem - zeitgenössischen - Judentum, von dem etwas zu lernen ist über die lebendige,dynamische und kreative Weiterentwicklung <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> in <strong>der</strong> jüdischen Halacha(=rabbinische Auslegungstradition <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, die die rechtlich verbindliche Seite <strong>der</strong> religiösenLehren im Judentum bezeichnet ).1238 So J. Wieland, “Option für die Schwachen?”, 61. J. Wieland formuliert als sozialethische Botschaftdieser For<strong>der</strong>ung: “Selbst dann, wenn jemand in Kenntnis aller Konsequenzen und auseigener Schuld in eine Situation <strong>der</strong> Überschuldung gerät, muß es eine Möglichkeit zu einemNeuanfang geben. Wohlgeordnete Gesellschaften sollten daher das „Recht auf Neuanfang‟ akzeptieren.”(Ebd. 61) <strong>Die</strong>ses Recht auf Neuanfang jedoch lasse sich letztlich we<strong>der</strong> ökonomischnoch vertragsrechtlich beründen, dennoch könne es aus <strong>der</strong> Tradition christlicher Ethikheraus so plausibilisiert werden, daß Ökonomik und Recht zustimmen könnten, denn erst erneutzahlungsfähig gewordene Schuldner könnten Verträge einhalten und zahlen. J. Wielandwill aus ökonomischer Sicht die theologische Option für die Armen kritisch befragen. ZentraleKategorien christlicher Ethik nennt er “Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Opferbereitschaft”(Ebd. 58). Bezeichnen<strong>der</strong>weise jedoch unterschlägt er jene biblische Grundkategorie, die vonentscheidener sozialethischer Relevanz ist, nämlich Gerechtigkeit. Von <strong>der</strong> Kategorie <strong>der</strong>Barmherzigkeit aus sucht er die For<strong>der</strong>ung nach einem Schuldenerlaß/Schuldenmoratorium zubegründen. Daß es sich dabei auch um eine Frage <strong>der</strong> Gerechtigkeit handeln könnte, wird nichtreflektiert.415


9.6.2.2 UmverteilungDas Zinsverbot ist für die Bibel keineswegs eine Selbstverständlichkeit,son<strong>der</strong>n es ist ein Instrumentarium, das gezielt geschaffen wurde, um inökonomische Prozesse eingreifen zu können, die strukturell zu Verarmung<strong>der</strong> einen und Bereicherung <strong>der</strong> an<strong>der</strong>en führen (Ex 22,24ff; Dtn23,20f.; Lev 25,35-38). Das Zinsverbot ist ein Versuch, Wirtschaftsstrukturenso zu gestalten, daß ökonomische Abhängigkeit und Verelendungsprozesseunterbunden werden. Es ist als ein Instrument gegen gesellschaftlicheUmverteilung zugunsten <strong>der</strong> ökonomisch Stärkeren zuverstehen. Der wirtschaftsethische Impuls des biblischen Zinsverbotes isttheologisch lange wirksam geblieben und reichte bis in die Neuzeit hinein.1239(1) Zinsverbot und JobeljahrDas Problem <strong>der</strong> Überschuldung ist nur in seiner Komplexität mo<strong>der</strong>n,nicht aber in <strong>der</strong> Sache selber. <strong>Die</strong> Komplexitätssteigerung in <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>neverbietet sicherlich einen Rückgriff auf vormo<strong>der</strong>ne Konzepte. Deshalbkann es auch keine fundamentalistische Anwendung biblischerZinsverbote geben. Bereits die <strong>Tora</strong> hat eine unhistorische Anwendungund Geltung biblischer Zinsverbote nicht gekannt. In <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> stehenZinsverbote nebeneinan<strong>der</strong>, die keineswegs sachlich identisch sind. <strong>Die</strong>biblischen Zinsverbote spiegeln ihrerseits verschiedene Phasen <strong>der</strong> sozio-ökonomischenEntwicklung Israels. <strong>Die</strong>se <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> immanente Pluralitätvon Zinsverboten mit material unterschiedlichen Gehalten ist hermeneutischbedeutsam, wenn nach <strong>der</strong> Relevanz dieser biblischen Zinsverbotegefragt wird. Es kommt deshalb darauf an, in einem ersten Schrittnach dem wirtschaftsethisch bedeutsamen Kern <strong>der</strong> biblischen Regelungenzu fragen. Erst in einem zweiten Schritt kann von diesem Kernanliegenher die Frage nach <strong>der</strong> wirtschaftsethischen Bedeutung bei heutigenZinsfragen gestellt werden.Auch von ökonomischer Seite wird das israelitische Zinsverbot in Erinnerunggebracht. So bezeichnete beispielsweise <strong>der</strong> neoliberale ÖkonomWolfram Engels, Mitherausgeber <strong>der</strong> Wirtschaftswoche, eine Weltohne Zins als “wahrscheinlich ökonomisch optimal” und nannte Jesus,Moses und Mohammed, die bekanntlich allesamt das Zinsnehmen verur-1239 Verwiesen sei an dieser Stelle auf M. Luthers Stellung zum Zins, in: H.J. Prien, Luthers Wirtschaftsethik,56ff.; 97ff.416


teilt hätten, die “besseren Geldtheoretiker” 1240 . Wenn nach <strong>der</strong> Relevanzdes biblischen Zinsverbotes für heutige Wirtschaftsprobleme gefragtwird, ist zunächst zu klären ist, ob das, was das hebräische nesek meint,in <strong>der</strong> Sache dem mo<strong>der</strong>nen Begriff von Zins unter den Bedingungen industriellerkapitalistischer Produktionsweise entspricht. Reale Basis fürden Zins ist immer die Produktion. In einer Agrargesellschaft ist dieselandwirtschaftliche Produktion nur bedingt steigerungsfähig. So führt eineZins genannte Abgabe mit hoher Wahrscheinlichkeit in eine zunehmendeVerarmung, denn <strong>der</strong> Zinsnehmer muß den Zins aus <strong>der</strong> Agrarproduktionbezahlen, die nicht beliebig zu steigern ist. Bei einer auf Subsistenzniveausich befindenden Produktionshöhe wirkt Zins so, wie Maimonidesden hebräischen Begriff nesek deutet, nämlich als Abbiß. 1241Zinsnahme fungiert nicht als Anteil an Gewinnen o<strong>der</strong> wirtschaftlichemWachstum, son<strong>der</strong>n wie eine fortschreitende Enteignung von Produzenten.Sie geraten in einen Teufelskreis: Aus <strong>der</strong> Not heraus brauchen sieZins; dieser Zins kann nur von <strong>der</strong> Produktion zurückbezahlt werden, diejedoch nicht steigerungsfähig ist. Also muß von <strong>der</strong> Produktion ein Teilals Zins zurückbezahlt werden. <strong>Die</strong> Basis für die Produktion verschmälertsich. Eine solche Zinsnahme zerstört die Grundlagen <strong>der</strong> Existenz.<strong>Die</strong> ökonomische Funktion des Zinses ist zu differenzieren: Erstenshat <strong>der</strong> Zins in einer industriellen Produktion eine an<strong>der</strong>e Funktion undAuswirkung als in einer Agrargesellschaft. Er dient zur Ausweitung <strong>der</strong>Produktion. Deshalb belohnt er ökonomische Investitionen und wirtschaftlichesWachstum. Zwischen neshek (= hebr. Zins) und dem Investitionszinsim mo<strong>der</strong>nen Verständnis gibt es in diesem Sinn einen strukturellenUnterschied, <strong>der</strong> die beiden Begriffe nur analog zu verwenden erlaubt.1242 Trotz dieser aus ökonomischer Sicht unterschiedlichen Funktionendes Zinses in einer landwirtschaftlichen o<strong>der</strong> industriellen Produktionsweise,existiert für beide Ökonomien dennoch eine gemeinsamenErfahrung von Abhängigkeit, die gerade Entwicklungslän<strong>der</strong> zu spürenbekommen, die über Kreditfinanzierung ökonomische Entwicklungen einleitenwollten: <strong>Die</strong> Abhängigkeit vom Zinsgeber. <strong>Die</strong>se Abhängigkeit kannsolche Ausmaße annehmen, daß überschuldeten Län<strong>der</strong>n jede weiteresoziale und ökonomische Entwicklung außerordentlich erschwert o<strong>der</strong>gar unmöglich gemacht wird. <strong>Die</strong>se Erfahrung zinsbedingter Abhängig-1240 W. Engels, Das Zinsverbot <strong>der</strong> Religionen, in: WirtschaftsWoche Nr. 1 vom 1.1.1993, 86.Nicht unerwähnt bleiben soll <strong>der</strong> Ausgangspunkt, daß W. Engels aus einer radikal monetaristisch-neoliberalenPosition heraus zu dieser Auffassung kommt.1241 Vgl. dazu oben Abschnitt 6.1.2.2.3 - Zinsverbot im Heiligkeitsgesetz, sowie: E.Klingenberg,Das israelitische Zinsverbot, 43, Anm. 185.1242 So T.Veerkamp, Autonomie und Egalität, 28-32. Schroff faßt T.Veerkamp zusammen: “OhneBerücksichtigung <strong>der</strong> gesellschaftlichen Differenz wirkt ein Text wie Lev 25,35-38 wie abgeschmackterMoralismus” (Ebd. 31).417


keit kommt in <strong>der</strong> Rede von “Schuldenfalle” o<strong>der</strong> “Schuldenautomatismus”zum Ausdruck. 1243Für die Bedeutung des Zinsverbotes ist eine zweite Unterscheidungwichtig: <strong>Die</strong> Differenzierung zwischen Konsumkredit und Investitionskredit.In <strong>der</strong> Theologiegeschichte wurden Zinsen für Konsumdarlehen langeabgelehnt, während Investitionskredite und entsprechende Zinsen seitdem Mittelalter nach und nach gebilligt wurden. Das Konsumdarlehenwird zur Überwindung einer akuten Notlage gebraucht, während <strong>der</strong> Investitionskreditdem Aufbau einer eigenen Verdienstquelle dient. DasZinsverbot <strong>der</strong> Bibel gehörte ursprünglich systematisch zum Konsumdarlehen.Es will verhin<strong>der</strong>n, daß <strong>der</strong> Kapitalgeber einseitig Vorteile aus <strong>der</strong>Notlage eines an<strong>der</strong>en zieht. “Das Darlehen ist kein Rechtsgeschäft, beidem <strong>der</strong> Darlehensgeber zumindest keinen Schaden erleiden soll, son<strong>der</strong>nes ist eine miswah, ein sittliche Pflicht gegenüber dem in Not geratenenund <strong>der</strong> Hilfe bedürftigen Mitbürger. Man erbittet kein Darlehen,um damit Geschäfte zu machen, son<strong>der</strong>n nur, um die eigene Not zu lin<strong>der</strong>n.”1244 Das Zinsverbot will also verhin<strong>der</strong>n, daß sich jemand an <strong>der</strong>Not des Mitbürgers bereichern kann.(2) Sozialethischer Kern: Schutz vor ökonomischer AbhängigkeitDas Investitionsdarlehen erfüllt eine an<strong>der</strong>e in biblischer Zeit noch nichtbekannte ökonomische Funktion. Es dient <strong>der</strong> Ausweitung <strong>der</strong> Produktion,ist also ein Betriebsmittel o<strong>der</strong> will die Betriebsmittel erweitern. BeimKredit wird ökonomische Potenz zur Verfügung gestellt und nicht notwendigerweiseaus einer Notlage heraus nachgefragt. Daraus folgertJähnichen, daß die For<strong>der</strong>ung des Zinsverbots anachronistisch gewordensei. Er fragt vielmehr nach möglichen geldpolitischen mo<strong>der</strong>nenÄquivalenten etwa in Gestalt von Währungsstabilität. 1245 Er fragt allerdingsnicht nach <strong>der</strong> Bedeutung <strong>der</strong> sozialethischen Grundintention desbiblischen Zinsverbotes für die Gegenwart. Wie ist <strong>der</strong> Zins für Produktivkreditesozialethisch zu bewerten? Wem kommt <strong>der</strong> Zinsertrag zu?Hier ist an Arthur Rich zu erinnern, <strong>der</strong> Kapital “primär produziertes, vomMenschen erarbeitetes Produktionsmittel” 1246 nennt. Menschengerechtund ökonomisch sachgemäß ist es deshalb, Arbeit als den vorrangigenund verursachenden Produktionsfaktor in <strong>der</strong> Wirtschaft anzusehen und1243 K. Füssel u.a.(Hg.), “... in euren Häusern liegt das geraubte Gut <strong>der</strong> Armen.” ÖkonomischtheologischeBeiträge zur Verschuldungskrise, Freiburg 1989.1244 E. Klingenberg, Das israelitische Zinverbot, 51.1245 T. Jähnichen, Sozialer Protestantismus und mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftskultur, 193.1246 A. Rich, Wirtschaftsethik, Bd. 2, 85.418


aus diesem Grunde das Prinzip des arbeitslosen Einkommens in Gestaltdes Zinses zurückzuweisen. Kapital hat das Betriebsergebnis ermöglicht,nicht aber verursacht. <strong>Die</strong>ser ökonomische Sachverhalt erlaubt es alsonicht, den Zinsertrag von <strong>der</strong> Arbeit loszulösen, einzig <strong>der</strong> Kapitalseitezuzuschreiben und eine zudem risikolose Rendite bereits vorab festzulegen.Deshalb ist die Vorstellung des arbeitenden Kapitals eine Fiktion.<strong>Die</strong>se ethische und ökonomische Einsicht ist für den Zins bedeutsam, daes um die Frage geht: Wie sind Arbeit und Kapital am Betriebsergebniszu beteiligen? Da das Kapital lediglich eine Instrumentalursache, nichtaber eine eigenständige Teilursache des Arbeitsertrags ist, kommt demKreditgeber nur insofern eine Beteiligung am Betriebsergebnis zu, wieseine Kreditgewährung das Betriebsergebnis wohl ermöglicht, nicht aberverursacht hat. Es besteht demnach nicht so sehr ein Zinsproblem, son<strong>der</strong>nein Verteilungsproblem des Betriebsergebnisses auf den ökonomischund sozialethisch unterschiedlich zu bewertenden Beitrag von Arbeitund Kapital. <strong>Die</strong> Gewährung eines Kredites begründet deshalb allenfallseine Gewinnbeteiligung, nicht aber eine risikolose Rendite, die vorabfixiert ist. Kreditgewährung wäre dann eine Risikobeteiligung. Wer an einemRisiko beteiligt ist, hat an Gewinnen wie an möglichen Verlusten teil.Nach seiner Grundintention will das biblische Zinsverbot ökonomischeAbhängigkeit aus <strong>der</strong> Gewährung von Krediten ausschalten. Das aberbedeutet in seinem sozialethischen Kern, daß auch <strong>der</strong> Arbeitende durchKreditgewährung nicht ökonomisch abhängig sein soll. Von diesem Ausgangspunktaus läßt sich darlegen, daß zinsbedingte Akkumulation vonReichtum aus arbeitslosem Einkommen sich nicht auf Kosten <strong>der</strong>er vollziehendarf, die als Arbeitende am Zustandekommen des Produktionsergebnissesbeteiligt sind. <strong>Die</strong>se wären in diesem Fall ökonomisch benachteiligtund insofern abhängig. An dieser Stelle kann die Erinnerung an sozialethischeEinsichten vergangener Jahrzehnte hilfreich sein. GeorgWünsch ließ keinen Zweifel an seiner Ablehnung des Zinses. “Zins istAusbeutung frem<strong>der</strong> Arbeit; das muß je<strong>der</strong> sittlich empfindende Kapitalist,auch <strong>der</strong> kleine, beim Einstreichen spüren. Zins und Dividende gehörenentwe<strong>der</strong> dem Unternehmen, um es auszubauen und die Produktionzu verbilligen, o<strong>der</strong> sie sind in Form von Gehältern und Löhnen an die imBetrieb Arbeitenden auszuzahlen.” 1247 Nicht an<strong>der</strong>s Emil Brunner, <strong>der</strong>den Zins “eine ethisch bedenkliche Größe” 1248 nennt, wenn er ein Einkommenbegründe, das zwar nicht leistungslos, wohl aber arbeitslos zu-1247 G. Wünsch, Evangelische Wirtschaftsethik, 687. Mit Rekurs auf M. Luther sagt Wünsch: “Lutherwar nicht mittelalterlich rückständig mit seiner Verpönung des Zinsgenusses, son<strong>der</strong>n hatals Ethiker vollständig recht gehabt. Nur Arbeit hat, nach quantitativer Leistung abgestuft, einenAnspruch auf Einkommen und damit auf Erwerb von Konsumtionseigentum.” (688)1248 E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, 421.419


stande gekommen sei. Auch wenn Zins für die Wirtschaft unentbehrlichsei, so hafte an ihm doch ein Makel. Deshalb möge <strong>der</strong> Christ in diesemDilemma das, was er an arbeitslosem Einkommen gewinnt, <strong>der</strong> Gesellschaftzurückerstatten.<strong>Die</strong> ethische Grundüberzeugung, sich an <strong>der</strong> Not und <strong>der</strong> Arbeit desan<strong>der</strong>en nicht bereichern zu dürfen, macht den bleibenden ethischenKern des israelitischen Zinsverbotes aus, <strong>der</strong> auch als wirtschaftsethischeMaxime nach wie vor Geltung hat. Das biblische Zinsverbot willnicht nur die Symptome, son<strong>der</strong>n grundsätzlich die Ursachen <strong>der</strong> durchZinswirtschaft verursachten Probleme anzugehen. Das biblische Zinsverbotwill das Recht auf einen Neuanfang und einen Schutz vor andauern<strong>der</strong>ökonomischer und sozialer Abhängigkeit formulieren. Es kannnicht darum gehen, dieses Verbot einfach zu übertragen o<strong>der</strong> analog zuihm heute entsprechend ein Zinsverbot finanzpolitisch begründen zu wollen.Doch das, was das Zinsverbot in <strong>der</strong> Sache meint, ist eine bleibendesozialethische Aufgabe: <strong>Die</strong> Erinnerung an die Grundidee des israelitischenZinsverbotes kann zu einer Geldpolitik inspirieren, die in <strong>der</strong> Lageist, die negativen gesellschaftlichen Wirkungen des Zinsmechanismusauszuschalten o<strong>der</strong> aber diese wenigstens zu minimieren.<strong>Die</strong> hohe Verschuldung <strong>der</strong> Län<strong>der</strong> des armen Südens, aber auch <strong>der</strong>Volkswirtschaften des reichen Nordens und <strong>der</strong> Privatverschuldung machendas Anliegen, das mit den biblischen Gesetzen des Zinsverbotsgemeint ist, in bestürzen<strong>der</strong> Weise aktuell. Der Logik des biblischenZinsverbotes entspricht das Insolvenzrecht: Zwischen Gläubiger undSchuldner soll es zu einem fairen Ausgleich kommen, <strong>der</strong> die Leistungsfähigkeit,die Überlebensfähigkeit des Schuldners, wie<strong>der</strong>herstellt undgarantiert. Ein solcher Schutzmechanismus existiert für Privatschuldner,fehlt jedoch für Gläubiger und Schuldner im globalen Finanzsektor, zwischenBanken, internationalen Finanzinstitutionen und überschuldetenLän<strong>der</strong>n. Soweit es überhaupt Schuldenerlasse o<strong>der</strong> Umschuldungen imzwischenstaatlichen Bereich gibt, basieren diese auf Gnadenakten. Esfehlt ein internationales Insolvenzrecht.<strong>Die</strong> negativen Auswirkungen des Zinses betreffen sowohl den Investitions-wie auch den Konsumzins, den Zins in einer Agrargesellschaft undden Zins in einer industriellen Produktion. Ökonomisch ist zunächst wichtig,daß <strong>der</strong> Zinssatz das Wachstum des Bruttosozialprodukts nicht übersteigt.Denn immer, wenn die Kreditzinsen höher liegen, als es <strong>der</strong>Wachstumsrate des Bruttosozialprodukts entspricht, beginnt mit demTeufelskreis von Verschuldung und Verarmung auch eine zinsbedingteUmverteilung gesellschaftlichen Reichtums zugunsten <strong>der</strong> Kreditgeber,weil ihnen durch Zins und Zinseszins automatisch ein immer größererAnteil am Bruttosozialprodukt zufällt. <strong>Die</strong>sen zinsbedingten Mechanismus420


von Verarmung und Bereicherung durch Umverteilung wollte das israelitischeZinsverbots unterbrechen und ausschalten. 1249 Sache <strong>der</strong> Sozialethikist es nicht, ökonomische Konzepte vorzulegen, wohl aber daraufzu dringen, daß das zinsbedingte sozialethische Problem <strong>der</strong> Umverteilungzu Lasten <strong>der</strong> Schwächeren ökonomisch gelöst wird.Das sozialethische Anliegen des Zinsverbotes ist dem des Jobeljahresvergleichbar. Beide Einrichtungen wollen vor ökonomischer Abhängigkeitschützen. <strong>Die</strong>sen Schutz will das Jobeljahr durch eine Unterbrechung <strong>der</strong>Akkumulationsprozesse von Eigentum und Vermögen erreichen. “In diesemJubeljahr soll je<strong>der</strong> von euch zu seinem Besitz zurückkehren” (Lev25,13). <strong>Die</strong> Chance <strong>der</strong> einen, zurückkehren zu können, bedeutete fürdie an<strong>der</strong>en die Verpflichtung, zurückzuerstatten. In einer Agrargesellschaftbedeutete diese Unterbrechung eine Wie<strong>der</strong>herstellung desGrundbesitzes, um allen das Subsistenzrecht zu sichern. Lev 25, 25ffenthält eine juristische Regelung zur Min<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Schuldhöhe. <strong>Die</strong>Ausgangsschuld wird jährlich um ein Fünfzigstel, also um zwei Prozentreduziert, bis sie im Jobeljahr automatisch getilgt ist. <strong>Die</strong>se degressiveVermin<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Schulden führt gemeinsam mit dem Zinsverbot zu einerEntwicklung, die dem Zinsmechanismus zuwi<strong>der</strong>läuft. Währenddurch Zins und Zinseszins die Verschuldung anwächst, nimmt sie mit <strong>der</strong>Jobeljahrformel automatisch ab. Begründet wird diese Bestimmung damit,daß <strong>der</strong> Kreditgeber und <strong>der</strong> Pfandnehmer Nutzen aus dem Pfandziehen.Das biblische Jobeljahr führt zu tiefgreifenden Eingriffen in Vermögensverhältnisse.Daraus erklärt sich auch <strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>stand gegen solcheMaßnahmen. Doch das Jobeljahr gehört zum theologischen Erbe <strong>der</strong>christlich-jüdischen Tradition und orientiert sich gegen Wi<strong>der</strong>stände ökonomischmächtiger Gruppierungen und Interessen an dem sozialethischenZiel <strong>der</strong> Korrektur ökonomischer Akkumulationsprozesse. <strong>Die</strong>sevollziehen sich in <strong>der</strong> Akkumulation von Kapital und Vermögen sowie <strong>der</strong>Akkumulation von ökonomischer Macht. Das Konzept von Gerechtigkeit,wie es sich in <strong>der</strong> Jobeljahrfor<strong>der</strong>ung ausdrückt, enthält neben dem Aspekt<strong>der</strong> Unterbrechung von Bereicherungsprozessen noch einen Gesichtspunkt:<strong>Die</strong> Reichen werden aufgefor<strong>der</strong>t, Strategien und Konzepte1249 Verwiesen sei an dieser Stelle auf den theoretisch überzeugenden wie auch ökonomisch sinnvollenVorschlag des Nobelpreisträgers James Tobin, spekulativen, grenzüberschreitenden Kapitalverkehrdurch eine Steuer abzuschöpfen. <strong>Die</strong> weltweit täglich umgesetzten Devisentransaktionenliegen bei über 1.300 Mrd $ zuzüglich Optionen, <strong>der</strong>ivate Geschäfte etc., von denenweniger als vier Prozent realwirtschaftlicher Abrechnung dienen; 96 % sind also reine Spekulationsgeschäfte.<strong>Die</strong> sog. Tobinsteuer auf diese Transaktionen von nur 0,1% könnte nicht nurdie Spekulation dämpfen, son<strong>der</strong>n auch ca. 150 Mrd $ für globale Ziele <strong>der</strong> Armutsbekämpfungund Entwicklung bereitstellen. Vgl. dazu C. Jakobeit, <strong>Die</strong> Realisierungschancen <strong>der</strong> Tobin-Steuer,in: Frankfurter Neue Hefte/ Neue Gesellschaft 44 (1997) 447-450.421


<strong>der</strong> Zurückerstattung zu entwickeln und umzusetzen. <strong>Die</strong>se Wertüberzeugung,wie sie sich im Konzept des Jobeljahres und des Erlaßjahresausdrückt, stellt die Frage, woher <strong>der</strong> Reichtum stammt. Angesichts <strong>der</strong>Akkumulation von Besitz, Vermögen, Geld und Reichtum geht es sozialethischnicht nur um die Frage des rechten und verantwortungsbewußtenUmgangs mit Reichtum, son<strong>der</strong>n analytisch um die Frage nach <strong>der</strong> Herkunftdes Reichtums. Jobeljahr und Erlaßjahr siedeln die Ethik auf dieseranalytischen Ebene an. Hier wollen sie eine Lösung des Problems dessozioökonomischen Problems von Bereicherung und Verarmung herstellen.Regelmäßig ökonomische Bereicherungsprozesse zu korrigieren, istvernünftig, wie die folgenden Gesichtspunkte begründen können. Unterden Bedingungen einer Industriegesellschaft kann das sozialethischeGrundanliegen des Jobeljahres, Gerechtigkeit wie<strong>der</strong>herzustellen, Anwendungfinden:Erstens kann die Erinnerung an das Jobeljahr bedeuten, die Kapital-Akkumulationsprozesse nicht einer eigensinnigen Entwicklung zu überlassen,son<strong>der</strong>n sie gesellschaftlich zu steuern und zu regulieren. 1250 <strong>Die</strong>BBE-Unternehmensberatung geht in einer Studie davon aus, daß es alleinin den Jahren 1997 bis 2002 zu einer noch nie dagewesenen Verlagerungvon Familienvermögen in <strong>der</strong> Höhe von 2 Billionen DM kommenwerde; die durchschnittliche Hinterlassenschaft von 85.000 DM im Jahr1980 erhöhe sich mit steigen<strong>der</strong> Tendenz auf 470.000 DM im Jahr2002. 1251 <strong>Die</strong>se steigende Tendenz resultiert aus einem exponentiellwachsenden Akkumulationsprozeß. Wobei jedoch anzumerken ist, daßdieser statistische Durchschnittswert nicht die tatsächlichen höchst ungleichenVererbungsverhältnisse berücksichtigt. Eine Schere tut sich auf:Während Vermögenswerte in bislang nicht gekannter Höhe vererbt werden,verarmt ein an<strong>der</strong>er Teil <strong>der</strong> Gesellschaft. Es gibt keine Mechanismenund Regelungen, die zu einer wirklichen Korrektur dieser zunehmendungleichen Verteilung beitragen könnten.Eine weiterer Ansatz, das sozialethische Anliegen des Jobeljahresaufzugreifen, wäre eine konsequente und reale Beteiligung <strong>der</strong> Bevölke-1250 Das öffentlich registrierte private Geldvermögen betrug nach Angaben <strong>der</strong> Deutschen Bundesbank1995 ca. 4.650 Milliarden DM , so: Deutsche Bundesbank Monatsbericht, 48 Jg. Mai1996, 44. Bei gleichmäßiger Verteilung auf jeden Bundesbürger würde sich ein Betrag von57.000 DM pro Person ergeben. Nach Berechnungen des DIW, die die Angaben <strong>der</strong> Bundesbankergänzen und korrigieren, verfügen 4,3% aller Haushalte (ca. 450.000 Haushalte) über23,7% des gesamten Geldvermögens, dagegen können die unteren 80% <strong>der</strong> Haushalte lediglich26,3% des Netto-Geldvermögens unter sich aufteilen. DIW (= Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung,Berlin) Wochenberichte 30/1996.1251 Zit. in: O. Schumacher, <strong>Die</strong> Republik <strong>der</strong> entzweiten Erben, in: DIE ZEIT Nr. 47 vom14.11.1997, 41.422


ung am Produktiveigentum, an Produktionsergebnissen und Aktienentwicklungen.In einer Industriegesellschaft verläuft die Eigentumsbildungohne staatliche Intervention “naturwüchsig” und führt zwangsläufig zurEigentumskonzentration in wenigen Händen. Theodor Strohm sieht imJobeljahr ein wichtiges biblisches Motiv für ein protestantisches Eigentumsverständnis,das Eigentum als Faktor des Wirtschaftens ernstnimmt und zugleich in soziale Verantwortung stellt. 1252 Er for<strong>der</strong>t deshalb,daß die Kirchen sich wie<strong>der</strong> stärker in die Debatte um eine gerechteund ausgewogene Einkommens- und Vermögenspolitik einschalten.<strong>Die</strong> Verteilung von Einkommen, Vermögen und Arbeit sieht das Wirtschafts-und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen als wesentlichen Schlüssel zurÜberwindung <strong>der</strong> wirtschaftlichen und sozialen Krise, denn die friedlicheEntwicklung fortgeschrittener Industriegesellschaften hängt ganz wesentlichdavon ab, ob es gelingt, die sich verschärfenden Verteilungskonfliktezu lösen. Wichtig und gesellschaftlich mutig ist die For<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Kirchennicht nur nach einem Armutsbericht, son<strong>der</strong>n nach einem “Reichtumsbericht”(Ziff. 219), <strong>der</strong> regelmäßig Auskunft über Entwicklung undVerteilung des Reichtums geben soll. 1253 <strong>Die</strong> Kirchen mahnen: “Aus sozialethischerSicht gibt es auch solidarische Pflichten von Vermögendenund die Sozialpflichtigkeit des Eigentums. <strong>Die</strong> Leistungsbereitschaft zumTeilen und zum Tragen von Lasten in <strong>der</strong> Gesellschaft bestimmt sichnicht nur nach dem laufenden Einkommen, son<strong>der</strong>n auch nach demVermögen” (Ziff. 220). Hier rächt es sich, daß das Wirtschafts- und Sozialwortauf eine Rezeption <strong>der</strong> biblischen Wirtschaftsethik verzichtet hat.Ausgespart blieb in <strong>der</strong> theologischen Grundlegung die Eigentumsfrage,für <strong>der</strong>en sozial verträgliche Regelung es im Sabbat- undJobeljahrgesetz Lösungsansätze gibt, welche die sozialethische For<strong>der</strong>ungzusätzlich hätten begründen können. Karl-Hans Kern hat ein “Sabbatjahrfür Deutschland” gefor<strong>der</strong>t. Vergleichbar dem Lastenausgleichnach dem Zweiten Weltkrieg plädiert er nach dem Vorbild des Jobeljahresangesichts des Vermögensgefälles zwischen Ost und West für eineVermögensabgabe im Interesse <strong>der</strong> Erhaltung <strong>der</strong> innergesellschaftlichenSolidarität. 12541252 Th. Strohm, “Eigentum in Arbeitnehmerhand” im Lichte <strong>der</strong> evangelischen Sozialethik, in:Kirchenamt <strong>der</strong> EKD u. Sekretariat <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz (Hg.), Beteiligung amProduktivvermögen, 126-128.1253 Sie stieß auf vehemente Ablehung bei den Arbeitgeberverbänden: B. Mrytz, Sozialwort <strong>der</strong>Kirchen - Für mehr Eigenverantwortung, in: Informationsdienst des Instituts <strong>der</strong> deutschenWirtschaft, 23. Jg., Nr. 10 vom 6.3.1997, 2.1254 K.-H. Kern, Sabbatjahr für Deutschland. Christliches Plädoyer für einen neuen Lastenausgleich,in: Evangelische Kommentare 4/1997, 287-289. Dort mit genauen Berechnungen <strong>der</strong>Effekte einer Vermögensabgabe.423


<strong>Dr</strong>ittens kann <strong>der</strong> sozialethische Impetus <strong>der</strong> Unterbrechung <strong>der</strong> Akkumulationsprozessevon Kapital und Vermögen sich in einem Erbrechtausdrücken, das Ungleichheiten nicht in <strong>der</strong> Erbfolge weiterreicht, son<strong>der</strong>nreal gleiche Startchancen verschafft. Alexan<strong>der</strong> Rüstow for<strong>der</strong>t eindurchgreifendes Erbrecht, das je<strong>der</strong> Generation auch tatsächlich möglichstgleiche Startchancen gewährt und verhin<strong>der</strong>t, daß eine nachwachsendeGeneration ohne eigene Leistung den Erfolg <strong>der</strong> vorangegangenenGeneration für sich “verbuchen” könne. Ein Ungleichheiten nicht korrigierendesErbbrecht, nennt er ein Überbleibsel des Feudalismus. 1255Deshalb for<strong>der</strong>te er ein Erbrecht, das gleichsam konfiskatorischen Charakterhaben müsse, das jedoch nicht zu einer Umverteilung des Vermögensaus privaten Händen in die öffentlichen führen dürfe. Ihm schwebteine Umwandlung in genossenschaftliche Betriebsformen vor, bei denendie Arbeiter zu Miteigentümern <strong>der</strong> Betriebe werden o<strong>der</strong> auf an<strong>der</strong>eWeise Eigentumstitel erhalten. Hier taucht eine Gedanke auf, <strong>der</strong> in <strong>der</strong>Sache dem sozialethischen Kern des Jobeljahres entspricht: Rückerstattungvon akkumuliertem Vermögen. Nichts an<strong>der</strong>es hatte auch EmilBrunner gefor<strong>der</strong>t, wenn er eine Rückerstattung des arbeitslosen Einkommensgefor<strong>der</strong>t hatte, das durch Zins entstanden sei. <strong>Die</strong>se wirtschafts-und sozialethische Position, die <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>generation <strong>der</strong> SozialenMarktwirtschaft durchaus noch vertraut war, ist völlig in Vergessenheitgeraten. Angesichts <strong>der</strong> enorm akkumulierten Vermögenswerteist eine Debatte, wie sie in <strong>der</strong> Grün<strong>der</strong>phase <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftgeführt wurde, ein Tabu.Der sozialethische Kern des Jobeljahres, Akkumulationsprozesse zuunterbrechen, angesammelten Reichtum zurückzuerstatten und Gerechtigkeitwie<strong>der</strong>herzustellen, ist angesichts dieser Entwicklung nicht nurplausibel. Sie ist dringend nötig. <strong>Die</strong> verläßliche Gleichmäßigkeit von zyklischenSabbat- und Jobeljahren ist durchaus rational, vielleicht sogar rationalerals gelegentlich politisch arrangierte o<strong>der</strong> durch den Markt herbeigeführteAb- und Aufwertungen des Geldes, Währungsreformen o<strong>der</strong>internationale Schuldenmoratorien und Schuldenerlasse. <strong>Die</strong> Erinnerungan das biblische Jobeljahr könnte zu einer Politik inspirieren, die Akkumulationsprozesseund wachsende Ungleichheiten in <strong>der</strong> Gesellschaftbewußt korrigiert.9.6.2.3 Machtkontrolle1255 A. Rüstow, Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, in: ORDO. Jahrbuch für die Ordnungvon Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 2, 1949, 100-169, bes. 148-151. Ähnliche Gedanken bereitsin: A. Rüstow, das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtlichesProblem, 96ff.424


Ein wirtschaftsethischer Impuls, <strong>der</strong> Bereicherungs- und Akkumulationsprozesseunterbrechen und korrigieren will, wird sich nicht allein den Akkumulationsprozessenvon Vermögen, son<strong>der</strong>n auch denen von Machtzuwenden müssen. Von zentraler Bedeutung für die Konzeption einerSozialen Marktwirtschaft sind Instrumente wie die Kartellgesetze zurKontrolle über den Wettbewerb und Verhin<strong>der</strong>ung einer Vermachtungund Monopolisierung <strong>der</strong> Wirtschaft. <strong>Die</strong>se bestehenden Kontrollmechanismenscheinen ihre Funktion allerdings kaum angemessen zu erfüllen,sonst hätte <strong>der</strong> ehemalige Präsident des Deutschen Kartellamtes, W.Karrte, nicht vorgeschlagen, zyklisch ökonomische Akkumulationsprozessezu unterbrechen: “Wir müssen alle hun<strong>der</strong>t Jahre entflechten o<strong>der</strong>alle fünfzig - das hängt von <strong>der</strong> Entwicklung ab. Dann müssen wir diegroßen Unternehmen teilen. Alle hun<strong>der</strong>t Jahre ein Entflechtungsgesetzals Notwehr des Staates.” 1256 Mit diesem Vorschlag spricht Karrte ein Anliegenan, das in <strong>der</strong> Sache im Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> mit dem Jobeljahrgemeint ist. Politisch, ökonomisch und gesellschaftlich ist eine zyklischeUnterbrechung von Akkumulationsprozessen zur Begrenzung ökonomischerMacht nötig und sinnvoll. <strong>Die</strong> Erinnerung an das biblische Jobeljahrkann zu einer Politik inspirieren, welche die zunehmen<strong>der</strong> Fusionenals Problem wahrnimmt und gegensteuert. Karrte bezeichnet einesolche Maßnahme eine “Notwehr des Staates”. Wenn Konzerne sich zuGroßkonzernen, Großkonzerne zu Megakonzernen zusammenschließen,ist die Frage nach den politischen Folgen ökonomischer Macht zu stellen.Wer wird jemals eine Fusion wie jene zwischen Daimler und Chryslerwie<strong>der</strong> rückgängig machen können? Wer wird eine solche Zusammenballungvon ökonomischer Macht politisch kontrollieren können? 1257<strong>Die</strong> bundesdeutsche Wirtschaftsverfassung vertraut nicht darauf, daßsich gleichsam von selber eine gleichgewichtige Wettbewerbslage einstellt.Deshalb hat sie ein Wettbewerbsgesetz geschaffen, um <strong>der</strong> strukturellangelegten Tendenz <strong>der</strong> Monopolisierung und Vermachtung <strong>der</strong>Wirtschaft entgegensteuern zu können. Den Wettbewerb zu sichern wirdalso zu einer staatlichen Aufgabe. Das Wettbewerbsrecht will den Bestanddes Wettbewerbs sichern und wirtschaftliche Macht begrenzen.Der Wettbewerb ist innerhalb <strong>der</strong> Marktwirtschaft ein Mittel, das die1256 Zit. in: FAZ vom 26.5.1992.1257 <strong>Die</strong> private Universität Witten / Herdecke hat als erste deutsche Universität ein eigenes Institutgegründet, das die spektakuläre Entwicklung <strong>der</strong> weltweiten Firmenfusionen und Übernahmenbearbeiten will. Anläßlich <strong>der</strong> Institutsgründung veröffentlichte die Universität eigene Hochrechnungenüber den Konzentrationsprozeß: Gab es 1992 erst 7.500 Zusammenschlüsse weltweitmit einem Volumen von 250 Mrd. Dollar, seien 1998 bereits 24.000 Akquisitionen miteiner addierten Kaufsumme von 2,3 Bill. Dollar zu verzeichnen. Mitgeteilt in: FrankfurterRundschau Nr. 301 vom 29.12.1998, 14.425


Funktionsfähigkeit des Marktes garantieren will. Der marktwirtschaftlicheWettbewerb ist deshalb niemals oberstes Ziel, dem an<strong>der</strong>e Ziele geopfertwerden müssen, son<strong>der</strong>n Stimulans und Regulator produzieren<strong>der</strong> wirtschaftlicherTätigkeit. Oswald von Nell-Breuning hat das Wort Röpkes,Wettbewerb sei eine Kulturpflanze und kein Naturgewächs, weitergeführt,wenn er sagt: “Wettbewerb ist eine Hochblüte <strong>der</strong> Kulturgesellschaft.”1258 Der Wettbewerb bedarf, damit er nicht in einen vernichtendenWettbewerb umschlägt, einer ethischen und politischen Ordnung. Zuunterscheiden ist zwischen einem ökonomisch notwendigen und sinnvollenWettbewerb zur Steigerung <strong>der</strong> Effizienz von einem Wirtschaftsgebaren,das Wettbewerb zu einem obersten Ziel erhebt, dem soziale Zieleuntergeordnet werden. Wettbewerbsfähigkeit kann nicht Ziel des Wirtschaftenssein, denn erst von ihrem Nutzen für das Wohl einer Gesellschafther erhalten wirtschaftliche Grundbegriffe wie Wettbewerb, Leistungo<strong>der</strong> Effizienz ihren Sinn. Sie sind nicht in sich sinnvoll und ethischlegitimiert, son<strong>der</strong>n werden es erst durch ihre Funktionserfüllung o<strong>der</strong>Lebensdienlichkeit im Hinblick auf die Gesellschaft. <strong>Die</strong> an sich ökonomischrationalen Instrumentarien können pervertieren, wenn die Konkurrenz-und Wettbewerbsfähigkeit <strong>der</strong> Unternehmen zu einem oberstenZiel erklärt wird. Gewinn und Wettbewerbsfähigkeit sind dann nicht mehrIndikatoren für wirtschaftliche Effizienz, son<strong>der</strong>n mutieren zu einemSelbstzweck, <strong>der</strong> ein Netz von Zwängen schafft und alle ökonomischenEntscheidungen präjudiziert, die sich dann als Sachzwänge ausgeben,obwohl sie Ergebnis von Grundentscheidungen sind.1258 O. von Nell-Breuning, Formen und Deutungen <strong>der</strong> Wettbewerbsgesellschaft, in: <strong>der</strong>s., DerMensch in <strong>der</strong> heutigen Wirtschaftsgesellschaft, München-Wien 1975, 39.426


10. ARBEIT VOR KAPITAL:PERSPEKTIVE FÜR EIN MITWELTGERECHTESWIRTSCHAFTENDas Gespenst <strong>der</strong> Arbeitslosigkeit geht in den Industrielän<strong>der</strong>n um: Arbeitslosigkeitverletzt die Würde des Menschen. Aber nicht nur das. Arbeitslosigkeitschwächt auch das demokratische Gewicht <strong>der</strong> Arbeit.Wenn Arbeit nur einen geringen Anteil an <strong>der</strong> Gestaltungsmacht hat,kann sie nur auf vorgegebene Entscheidungen reagieren. Dann aber bestehtdie Gefahr, daß mit <strong>der</strong> Schwächung des demokratischen Gewichts<strong>der</strong> Arbeit die ökonomische Rationalität überhand nehmen kann. Der“Rheinische Kapitalismus” hat es vermocht, die drei konkurrierendenZielgrößen mo<strong>der</strong>ner Marktgesellschaften auszubalancieren: nämlichsoziale Integration durch Teilhabe an Erwerbsarbeit, politische Teilhabechancenin einer liberalen Demokratie und Teilhabe an <strong>der</strong> Wohlfahrtauf <strong>der</strong> Basis kapitalistischer Produktion. Auf dieser Grundlage bestandim “Rheinischen Kapitalismus” ein Gesellschaftsvertrag, den ein “Kapitalismusohne Arbeit” 1259 auflöst, da er die Teilhabe durch Arbeit an <strong>der</strong>Gesellschaft nicht mehr einhalten kann. Der Kapitalismus trägt nämlichseine ethische, soziale und politische Legitimierung nicht in sich, son<strong>der</strong>nerhält sie erst durch ein Wechselspiel von sozialen und politischen Rechtenin einer Demokratie. Demokratie als Lebensform steht deshalb miteiner sich verfestigenden und massenhaft ansteigenden Arbeitslosigkeitzur Disposition. Wenn die ökonomische Logik o<strong>der</strong> wenn die Interessendes homo oeconomicus allein das Sagen haben, dann kommt es zu einerAbkopplung <strong>der</strong> Rationalität <strong>der</strong> Ökonomie von <strong>der</strong> Lebenswelt.Durch diese Abkopplung werden die lebensweltlichen Bedürfnisse <strong>der</strong>Menschen, beson<strong>der</strong>s <strong>der</strong> Armen, aber auch <strong>der</strong> Mitwelt nicht in ausrei-1259 U. Beck, Kapitalismus ohne Arbeit, in: Der Spiegel Nr. 20/1996, 140-146.427


chendem Maße geachtet. Zu Recht spricht deshalb Peter Ulrich von einerdoppelten wirtschaftsethischen Aufgabe: <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> Ökonomieauf das ganze Leben muß eingegrenzt und <strong>der</strong> Lebenswelt wie<strong>der</strong>ein eigenes Recht verschafft werden. 1260<strong>Die</strong> Sozialethik kennt eine Formel, die dieses Anliegen zur Sprachebringt. <strong>Die</strong>se Formel “Arbeit vor Kapital” bringt eine Wertentscheidungzum Ausdruck, die sich zwar vom Entstehen her <strong>der</strong> Katholischen Sozialethikverdankt, jetzt aber zunehmend ökumenisch konsensfähig gewordenist. 1261 Es geht bei dieser sozialethischen Formel des Vorrangs<strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital sicherlich zunächst um den ordnungspolitischenAspekt des Verhältnisses von Kapital und Arbeit als Produktionsfaktoren.1262 Der Anspruch des Kapitals, führen<strong>der</strong> o<strong>der</strong> gar einzigerOrdnungsfaktor sein zu können, soll zurückgewiesen werden. Es gehtjedoch um mehr. <strong>Die</strong> Formel “Arbeit vor Kapital” drückt eine sozialethischeWertentscheidung gegen eine Ökonomisierung aller Lebensweltenaus. Sie orientiert sich zwar sprachlich am Vorrang des Menschen undseiner Arbeit, ist aber keineswegs anthropozentrisch. Sie meint das Lebendes Menschen inmitten des Lebens insgesamt, das einen Vorrangerhalten soll. Vorrang soll das Leben vor allen an<strong>der</strong>en Ansprüchen erhalten.Darin liegt <strong>der</strong> sozialethische Kern <strong>der</strong> Aussage, <strong>der</strong> wirtschaftsethischausgelegt werden muß. <strong>Die</strong>se Wertüberzeugung kann auf einealte biblische Traditionslinie verweisen. Sie kommt bereits zum Ausdruckin <strong>der</strong> Einrichtung des Sabbat, dem Tag, an dem alle zugleich ruhen,o<strong>der</strong> jener des Sabbatjahres, in dem alle Äcker durch eine Brache ausruhenkönnen. Darin drückt sich die Logik aus, daß im Wi<strong>der</strong>streit zwischenden Interessen <strong>der</strong> Wirtschaft und denen <strong>der</strong> Menschen sich nichtvorrangig die Wirtschaftsinteressen durchsetzen sollen. Ohne dieseFormel vom Vorrang <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital zu verwenden, spricht<strong>der</strong> Wirtschaftsethiker Peter Ulrich das gleiche ethische Grundanliegenan, wenn er den “wirtschaftsethisch entscheidenden Primat <strong>der</strong> Gesichtspunkte<strong>der</strong> Lebensdienlichkeit vor <strong>der</strong> Logik des Marktes” 1263 einfor<strong>der</strong>t.Viel zu lange nämlich dominiert schon ein ökonomisches Denken,das mit seiner Rationalität alle Lebenswelten überzieht. Auf sichausgerichtet, ist die ökonomische Rationalität immer an Steigerungsinteressenorientiert, die sich sozial und ökologisch als blind erwiesen haben.<strong>Die</strong>se ökonomische Rationalität verfolgt ihre Eigenlogik mit den ZielenLeistung, Wettbewerb, Effizienz und hat das verdrängt, wofür Ökonomie1260 P. Ulrich, Transformation ökonomischer Vernunft, 453.1261 Vgl. dazu weitere Ausführungen oben: Abschnitt 5.3.1262 Gegen P. Ulrich, Transformation ökonomischer Vernunft, 414ff.1263 P. Ulrich, Integrative Wirtschaftsethik, 18.428


da ist: die Sorge dafür, die Güter des Lebens in Achtung vor <strong>der</strong> Mitweltzu erarbeiten und allen zugänglich zu machen.<strong>Die</strong> sozialethische For<strong>der</strong>ung nach einem Vorrang <strong>der</strong> Arbeit vor demKapital beschreibt eine dreiseitige Priorität und bringt eine eindeutigeGewichtung <strong>der</strong> Lebensinteressen zum Ausdruck. Sie läßt sich erstensals wirtschaftsethische Übersetzung des kategorischen Imperativs verstehen,wie ihn Enrique Dussel für seinen Kontext in Lateinamerika formulierthat: Befreie den Armen! Das Lebensrecht <strong>der</strong> Armen erhält alsoVorrang vor an<strong>der</strong>en Ansprüchen. Wirtschaftsethisch in unseren Kontextübersetzt lautet diese Priorität: Sorge dafür, daß den ökonomisch, ökologisch,politisch und sozial Schwachen Gerechtigkeit wi<strong>der</strong>fährt und sie zuihrem Recht kommen! 1264 <strong>Die</strong>se Wertüberzeugung ist die Grundnorm <strong>der</strong><strong>Tora</strong>, die in unterschiedlichen sozialökonomischen Bedingungen durchgehaltenund jeweils neu ausgelegt - o<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nisiert - wurde. <strong>Die</strong> sozialethischeFormel <strong>der</strong> Priorität <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital fügt sich zweitensauch in jenen Paradigmenwechsel <strong>der</strong> Ökumenischen Sozialethikein, den Martin Robra beschreibt als Wechsel von einer Ethik, “die dashandelnde Subjekt in den Mittelpunkt stellt, (...) zu einer lebenszentriertenEthik für Mensch und Mitwelt, die von <strong>der</strong> trinitarisch begründetenBeziehungswirklichkeit des Lebens ausgeht.” 1265 Das Lebensrecht desLebendigen erhält unbedingten Vorrang. <strong>Die</strong> Priorität <strong>der</strong> Arbeit läßt sichim Kontext dieses ethischen Paradigmenwechsels schließlich drittens alswirtschaftsethische Übersetzung eines Paradigmenwechsels in <strong>der</strong> Ökonomieselber verstehen, die wie<strong>der</strong> nach einer Ankopplung an die Lebensweltsucht. <strong>Die</strong> Lebenswelt erhält Vorrang vor <strong>der</strong> Logik des Systems.Peter Ulrich nennt dies eine “Reethisierung <strong>der</strong> Ökonomie” 1266 ,welche die Auswan<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Ökonomie aus <strong>der</strong> Praktischen Philosophieund ihre Verselbständigung zu einer autonomen Wissenschaft rückgängigzu machen versucht. <strong>Die</strong> autonomisierte und deshalb problematischgewordene ökonomische Rationalität ethisch in eine Rationalität zutransformieren, die den Ansprüchen des Humanum und alles Lebendigengerecht wird, bringt die sozialethische Formel des Primats <strong>der</strong> Arbeitzum Ausdruck.Biblische Einsichten, Orientierungen und Kategorien können zu diesemProjekt <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung einer Logik <strong>der</strong> Humanität vor <strong>der</strong>Logik des Marktes einen Beitrag leisten, <strong>der</strong> den Kriterien des Menschengerechtenund des ökonomisch Sachgemäßen entspricht. MitMarx‟ Beitrag war nämlich das letzte Wort in <strong>der</strong> Kapitalismusdebattenoch nicht gesprochen. Auch die Kirchen können auf eine eigene lange1264 Vgl. oben Abschnitt 3.2.1265 M. Robra, Ökumenische Sozialethik, 172.1266 P. Ulrich, Transformation ökonomischer Vernunft, 343.429


Tradition einer theoretischen und praktischen Kritik am Kapitalismus zurückschauen.Im letzten Jahrhun<strong>der</strong>t lag zwar das Schwergewicht kirchlichenUmgangs mit dem Kapitalismus in den karitativen und diakonischenHilfen in Gemeinden und Anstalten, mit denen jenes soziale Elend, dasmit <strong>der</strong> Industrialisierung aufkam, gemil<strong>der</strong>t wurde. Es gibt darüber hinauseinen weiteren Zweig einer praktisch gewordenen Kapitalismuskritik,die nicht die Karitas als einzige Gestalt christlicher Nächstenliebe verstand,son<strong>der</strong>n Gerechtigkeit und Wohlfahrt im Staat zu den Aufgabenstaatlicher Fürsorge zählte. Es waren insbeson<strong>der</strong>e lutherische Politikerund Ministerialbeamte im preußischen Staat Bismarcks, die aus sozialethischerund christlicher Überzeugung heraus diesen Staat sozialpolitischin die Pflicht nahmen und die Grundlagen für einen Sozialstaat legten.1267Neben <strong>der</strong> praktischen gibt es auch eine theoretische Kapitalismuskritikim sozial engagierten Katholizismus und Protestantismus. Einigkeitbestand und besteht darüber, daß eine um den Markt zentrierte kapitalistischeWirtschaft nur dann sozialethisch erträglich ist, wenn sie politischund gesellschaftlich eingebettet ist. In meinem hier vorliegenden Beitragmöchte ich diese theoretische Kapitalismuskritik um eine weitere ergänzen,die sich ausdrücklich von biblischen Wertüberzeugungen inspirierenläßt. Zu den Vertretern einer kapitalismuskritischen sozialprotestantischenTradition sind auch die -zumeist protestantischen- Verfasser <strong>der</strong>Freiburger Denkschrift zu zählen. Sie haben in <strong>der</strong> Denkschrift 1943ausdrücklich auf biblische Wertüberzeugungen zurückgegriffen, um Maximenzu formulieren, die dem Anspruch des Humanum in <strong>der</strong> ÖkonomieGeltung verschaffen können. Ihnen lag daran, durch einen Rückbezugauf biblische Traditionen “die Grundlagen <strong>der</strong> Sozial-Wirtschaftsethikchristlich zu begründen, gerade nach evangelischem Verständnis.” 1268<strong>Die</strong>ser Befund, <strong>der</strong> in die Entstehung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft zurückreicht,kann und will die real existierende Marktwirtschaft in keinerWeise biblisch legitimieren. Das historische Beispiel <strong>der</strong> biblischnormativenFundierung, die die Konzeption <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaftinspirierte, soll lediglich als eine mögliche Version verstanden werden.Meine hier vorgelegten Ausführungen sollen zu weiteren Versionen unterverän<strong>der</strong>ten sozio-ökonomischen o<strong>der</strong> historischen Konstellationen anregen,die danach suchen, wie biblische Wertüberzeugungen und Impulseeine Ordnung <strong>der</strong> Wirtschaft inspirieren können, die dem Anspruchdes Menschen- und Sachgerechten Geltung verschaffen kann. Es1267 Vgl. Abschnitt 8.1.1.1. Günter Brakelmann und Traugott Jähnichen haben in ihrem Band <strong>Die</strong>protestantischen Wurzeln <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft diese Beiträge nachgezeichnet unddokumentiert.1268 Denkschrift: In <strong>der</strong> Stunde Null,Vorwort, 128.430


kommt darauf an, sich auf die ursprüngliche Aufgabenstellung <strong>der</strong> Ökonomiezurückzubesinnen: Anleitung zu einem haushälterischen Umgangmit den Ressourcen <strong>der</strong> Schöpfung.Bruce C. Birch und Larry L. Rasmussen sprechen in ihrem Buch Bibelund Ethik im christlichen Leben von einer “ethischen Ressource in <strong>der</strong>Bibel” 1269 . <strong>Die</strong> Verknüpfung zwischen den biblischen Texten und denethischen Fragen <strong>der</strong> Gegenwart erscheint in dem vom Kommunitarismusgeprägten Konzept von Birch und Rasmussen als Aufgabe <strong>der</strong>mündigen Gemeinde. <strong>Die</strong> Bibel enthält demnach nicht allein Modelle <strong>der</strong>Entscheidungsfindung und gibt nicht nur normative Antworten auf Handlungsprobleme,sie ist vor allem an die Gemeinde als Subjekt und alsethisch relevanten Ort einer spezifischen Traditionsgemeinschaft gebunden.<strong>Die</strong> sozialethische Praxis <strong>der</strong> Gemeinde rückt dadurch ins Zentrum.<strong>Die</strong> Gemeinde ist ein mündiges Subjekt, das auf gesellschaftliche Herausfor<strong>der</strong>ungenreagiert, indem sie sich in ihrem jeweiligen geschichtlichenund gesellschaftlichen Kontext an <strong>der</strong> Bibel orientiert, die eine akkumulierteErinnerung an unwürdige Verhältnisse in Ägypten und die Geschichte<strong>der</strong> Befreiung aus ihnen enthält. Wie für das Judentum, so giltauch für die ersten Christen, daß sie “nicht so sehr eine Sozialethik „hatten‟als vielmehr selber eine im Entstehen begriffene Sozialethik „waren‟.”1270 <strong>Die</strong> sozialethische Praxis geht also einer sozialethischen Theorievoraus. <strong>Die</strong> Ethik reflektiert die sozialethisch relevante Praxis desVolkes Gottes. <strong>Die</strong> konkret vorfindliche Gemeinde ist demnach beideszugleich: Ort und Subjekt <strong>der</strong> Praxis einer Sozialethik.<strong>Die</strong> Aufnahme einer an biblischen Wertentscheidungen und Kategorienorientierten Argumentation zur Begründung einer theologischenWirtschaftsethik ist letztlich auf das Praxisargument angewiesen. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>selber hat ein praktisches, nicht ein theoretisches Interesse. So enthältdie <strong>Tora</strong> substantielle und in Praxis überführte gesellschaftliche, sozialeund ökonomische Ordnungsentwürfe. Sie weicht Begründungsfor<strong>der</strong>ungennicht aus, behauptet ihre Evidenz und Legitimierung nicht abstrakttheonom, son<strong>der</strong>n will Evidenz und Legitimierung vielmehr an jene überzeugendePraxis von Solidarität und Gerechtigkeit binden, die Freiheitund Würde eines jeden zur Geltung bringen will. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> behauptet undfor<strong>der</strong>t nicht nur, son<strong>der</strong>n setzt sich dem Test des guten Lebens und desgerechten Zusammenlebens aus. So enthält das Wirtschafts-, ArbeitsundSozialrecht <strong>der</strong> Bibel eine fundierte und durchdachte ökonomischeKonzeption, die auf die sozialen und ökologischen Herausfor<strong>der</strong>ungeneiner Marktwirtschaft antworten will. Einrichtungen wie Sabbat, Sabbatjahr,Jobeljahr, Zinsverbot, Erlaßjahr sind ökonomisch sinnvolle und1269 B.C. Birch u. L.L. Rasmussen, Bibel und Ethik, 198.1270 Ebd. 40f.431


praktikable Lösungen, die immer dann in die ökonomischen Mechanismenund Prozesse eingreifen, wenn ein freier Markt zu ethisch unerträglichenAuswirkungen führen würde. Immer verfolgt das Wirtschafts-, Arbeits-und Sozialrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> dabei das Ziel, sozial Schwächere zuschützen und strukturell gegen Verarmung und Verelendung vorzubeugen.<strong>Die</strong>se rechtlichen Bestimmungen, Weisungen und Regulierungen<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> wollen im Konflikt zwischen ethischen Zielen und <strong>der</strong> Logik <strong>der</strong>Ökonomie dadurch zu einer lebensdienlichen Ökonomie beitragen, daßsie sich an einer parteilichen Logik <strong>der</strong> Humanität zugunsten <strong>der</strong> Schwächerenorientieren.Gerechte Verhältnisse sind für die <strong>Tora</strong> nicht allein Frucht des Bundesmit Gott, son<strong>der</strong>n Vollzug dieses Bundes selbst. Dtn 4,6-8 sieht eine Legitimation<strong>der</strong> <strong>Tora</strong> in einem Praxisbeweis, den die Nachbarvölker vorAugen haben. Sie können Israels <strong>Tora</strong> als Weisungen zur Gerechtigkeitin <strong>der</strong> Praxis beurteilen. <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> muß sich öffentlich bewähren. Begründetund gerechtfertigt wird <strong>der</strong> Anspruch <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> nicht heteronom alsGottes Gebot. <strong>Die</strong> bloße Berufung auf eine göttliche Autorität sieht die<strong>Tora</strong> nicht als zureichendes Kriterium an. <strong>Die</strong> Wahrheit <strong>der</strong> sozial-, arbeits-und wirtschaftsrechtlichen Regulierungen <strong>der</strong> <strong>Tora</strong> ergibt sich ausihrer überzeugenden Praxis. Deshalb will die <strong>Tora</strong> sich als eine Weisungpräsentieren, die sich als praktikabel, gut und gerecht erweisen kann.Erst dadurch wird sie universal und weist über das kleine Israel hinaus:Ihr sollt auf sie achten und sollt sie halten. Denn darin besteht eure Weisheitund eure Bildung in den Augen <strong>der</strong> Völker. Wenn sie dieses Gesetzeswerkkennenlernen, müssen sie sagen: In <strong>der</strong> Tat, diese große Nationist ein weises und gebildetes Volk. Denn welche große Nation hätte Götter,die ihr so nah sind, wie JHWH, unser Gott, uns nah ist, wo immer wir ihnanrufen? O<strong>der</strong> welche große Nation besäße Gesetze und Rechtsvorschriften,die so gerecht sind, wie alles in dieser Weisung, die ich euchheute vorlege? (Dtn 4,6-8)432


AbkürzungsverzeichnisDBKEKDFAZFRLThKÖRKRGGTHATThWNTTREDeutsche BischofskonferenzEvangelische Kirche in DeutschlandFrankfurter Allgemeine ZeitungFrankfurter RundschauLexikon für Theologie und Kirche, versch. Aufl.Ökumenischer Rat <strong>der</strong> KirchenReligion in Geschichte und Gegenwart, versch. Aufl.Theologisches Handwörterbuch zum Alten Testament,2 Bde., hg. von E. Jenni unter Mitarbeitvon C. Wester-mann, 3. und 4. durchges. Aufl. München/Zürich1984.Theologisches Wörterbuch zum Neuen TestamentTheologische RealenyklopädieLiteraturverzeichnisAufgeführt wird nur zitierte Literatur. Im Text wird bei <strong>der</strong> ersten Zitation <strong>der</strong> Volltitelbenutzt, danach Kurztitel. <strong>Die</strong> Transkription hebräischer Wörter ist nicht vereinheitlichtworden, son<strong>der</strong>n richtet sich nach <strong>der</strong> jeweils verwendeten Transkriptionin <strong>der</strong> Literatur.Albert, Michael, Kapitalismus contra Kapitalismus, Frankfurt 1992.Albertz, Rainer, Der Kampf gegen die Schuldenkrise - das Jobeljahr Leviticus25, in: <strong>der</strong>s., Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeitenzu den Themen des konziliaren Prozesses, Stuttgart 1990, 40-61.Albertz, Rainer, Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeitenzu Themen des konziliaren Prozesses, Stuttgart 1990.Albertz, Rainer, <strong>Die</strong> “Antrittsrede” Jesu im Lukasevangelium auf ihrem alttestamentlichenHintergrund, in: Zeitschrift für neutestamentliche Wissenschaft 74(1983) 182 - 206.Albertz, Rainer, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong> Gottes gegen die wirtschaftlichen Sachzwänge. <strong>Die</strong>Sabbat- und Jobeljahrgesetzgebung. Lev 25 in ihrer Geschichte, in: ÖkumenischeRundschau 44 (1995) 295 - 310.Albertz, Rainer, Religionsgeschichte Israels in alttestamentlicher Zeit, Bd.1, Bd.2, Göttingen 1992.Apel, Karl-Otto, Transformation <strong>der</strong> Philosophie. Apriori <strong>der</strong> Kommunikationsgemeinschaft,Frankfurt 1973.433


Arendt, Hannah, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, 3. Aufl. München1993.Aristoteles, Politik. Schriften zur Staatstheorie, übers. von <strong>Franz</strong> F. Schwarz,Stuttgart 1989.Arzt, Peter, “... einst unbrauchbar, jetzt aber gut brauchbar.” (Phlm 11) DasProblem <strong>der</strong> Sklaverei bei Paulus, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “...so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel undÖkonomie, Luzern / Salzburg 1995.132-138.Assmann, Hugo u. Hinkelammert, <strong>Franz</strong> J., Götze Markt, Düsseldorf 1992.Assmann, Hugo, u.a. (Hg.), <strong>Die</strong> Götzen <strong>der</strong> Unterdrückung und <strong>der</strong> befreiendeGott, Münster 1984.Assmann, Jan, Ma‟at. Gerechtigkeit und Unterdrückung im Alten Ägypten, München1990.Assmann, Jan, Moses <strong>der</strong> Ägypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München,Wien 1998.Auer, Frank von u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland.Kirchen und Gewerkschaften gemeinsam für eine Zukunft in Gerechtigkeit undSolidarität, Bochum 1997.Auer, Frank von u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), Markt und Menschlichkeit. Kirchlicheund gewerkschaftliche Beiträge zur Erneuerung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft.Mit dem gemeinsamen Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Reinbek 1995.Auer, Frank von u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung.Kaiserreich, Weimarer Republik, BundesrepublikDeutschland, Köln 1994.Avemarie, Friedrich u. Lichtenberger, Hermann (Hg.), Bund und <strong>Tora</strong>. Zur theologischenBegriffsgeschichte in alttestamentlicher, frühjüdischer und urchristlicherTradition, Tübingen 1996.Baa<strong>der</strong>, Roland, <strong>Die</strong> Angst des Lohnes und <strong>der</strong> Lohn <strong>der</strong> Angst, in: <strong>der</strong>s.(Hg.),Wi<strong>der</strong> die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing, 1995,217-243.Babylonischer Talmud, ausgewählt, übersetzt und erklärt von R. Meyer, 7. Aufl.München 1963.Bäcker- Breil, Gerhard, Konzepte für eine Grundsicherung, in: epd-Dokumentation 1995 Nr. 6/7, 99-112.Baeck, Leo, Das Evangelium als Urkunde <strong>der</strong> jüdischen Glaubensgeschichte,Berlin 1938.Barbier, Hans D., Bourdieu und die Idee Tietmeyer, in: FAZ Nr. 258 vom5.11.1996, 17.Barge, Hermann, Luther und <strong>der</strong> Frühkapitalismus, Gütersloh 1953.434


Baron, Stefan, Herz und Verstand, in: WirtschaftsWoche Nr. 6 vom 30.1.1997,3.Baron, Stefan, Standpunkt, in: WirtschaftsWoche Nr. 46 vom 7.11.1996, 3.Baron, Stefan, Traurige Gestalten, in: Wirtschaftswoche Nr. 50 vom 3.12.1998,3.Baron, Stefan, Unsichtbare Hand, in: WirtschaftsWoche Nr. 21 vom 16.5.1996,3.Bayer, Oswald, Bleibt das Böse? Mit einer realistischen Anthropologie den Friedensprozeßför<strong>der</strong>n, in: Evangelische Kommentare 1/1994, 31-33.Beck, Ulrich, Der ökologische Gesellschaftskonflikt, in: WSI-Mitteilungen12/1990, 750-755.Beck, Ulrich, <strong>Die</strong> Seele <strong>der</strong> Demokratie. Wie wir Bürgerarbeit statt Arbeitslosigkeitfinanzieren können, in: DIE ZEIT Nr. 49 vom 29.11.1997, 7f.Beck, Ulrich, Kapitalismus ohne Arbeit, in: Der Spiegel Nr. 20/1996, 140-146.Beck, Ulrich, Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine an<strong>der</strong>e Mo<strong>der</strong>ne, Frankfurt1986.Becker, Garry S., Der ökonomische Ansatz zur Erklärung des menschlichenVerhaltens, 2. Aufl. Tübingen 1993.Becker, Jürgen, Das Problem <strong>der</strong> Schriftgemäßheit <strong>der</strong> Ethik, in: Anselm Herz u.Wilhelm Korff u. Trutz Rendtorff, Hermann Ringeling (Hg.), Handbuch <strong>der</strong> christlichenEthik. Bd. 1, 2. Aufl. Freiburg/Basel/Wien 1979, 243-260.Bedford-Strohm, Heinrich, Vorrang für die Armen. Auf dem Weg zu einer theologischenTheorie <strong>der</strong> Gerechtigkeit, Gütersloh 1993.Bellah, Robert N. u. Madsen R ., u.a., Gewohnheiten des Herzens. Individualismusund Gemeinsinn in <strong>der</strong> amerikanischen Gesellschaft, Köln 1987.Ben-David, Arye, Talmudische Ökonomie. <strong>Die</strong> Wirtschaft des jüdischen Palästinazur Zeit <strong>der</strong> Mischna und des Talmud, Bd. 1, Hildesheim/New York 1974.Benjamin, Walter, Gesammelte Schriften, Bd. VI, Frankfurt 1986, 100.Berdijaev, Nicolaij, Mensch und Technik (Wien 1937), Talheim 1989.Bernholz, Peter u. Breyer, F., Grundlagen <strong>der</strong> politischen Ökonomie, Tübingen1984.Bien, Günther, <strong>Die</strong> aristotelische Ökonomik und die mo<strong>der</strong>ne Ökonomie, in: Moralals Kapital. Perspektiven des Dialogs zwischen Wirtschaft und Ethik, Kath.Akademie Stuttgart, Stuttgart 1990, 211-234.Bienert, Walther, <strong>Die</strong> Arbeit nach <strong>der</strong> Lehre <strong>der</strong> Bibel. Eine Grundlegung evangelischerSozialethik, Stuttgart 1954.Bindemann , Walther, “... Gutes tun und leihen...”(Lk 6,35) Feindesliebe im Wirtschaftsleben,in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker435


des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökumene, Luzern /Salzburg 1995, 259-266.Bindemann, Walther, “Wir haben alles aufgegeben.”(Mk 10,29) Christusnachfolgezwischen Besitzverzicht und Hoffnung auf soziale Reintegration, in: KunoFüssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “” ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökumene, Luzern/Salzburg 1995, 266-274.Bindemann, Walther, <strong>Die</strong> Hoffnung <strong>der</strong> Schöpfung. Römer 8, 18 - 27 und dieFrage einer Theologie <strong>der</strong> Befreiung von Mensch und Natur, Neukirchen-Vuyn1983.Binswanger, Hans Chr., Geld und Magie, Stuttgart 1985.Binswanger, Hans Christoph, <strong>Die</strong> Glaubensgemeinschaft <strong>der</strong> Stoa. Essays zurKultur <strong>der</strong> Wirtschaft, München 1998.Binswanger, Hans Chr., <strong>Die</strong> Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Antike. Zu den ökonomischenLehren <strong>der</strong> griechischen Philosophie, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>(Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zuBibel und Ökumene, Luzern/Salzburg 1995, 23-35.Birch, Bruce C. u. Rasmussen, Larry L. Bibel und Ethik im christlichen Leben,Gütersloh 1993.Bismarck, Philipp von, Soziale Marktwirtschaft. Das Geschenk <strong>der</strong> Stunde Null,Freiburg 1992.Bloch, Ernst, Naturrecht und menschliche Würde, Frankfurt 1961.Blohm, B., Unterm Strich nicht genug. <strong>Die</strong> Gesetze des Marktes verlieren alsökonomische Leitidee an Faszination, in: <strong>Die</strong> Zeit Nr. 15 vom 7. April 1989.Böckenförde, Ernst-Wolfgang, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorieund zum Verfassungsrecht, Frankfurt 1976.Boff, Clodovis u. Pixley, Jorge, <strong>Die</strong> Option für die Armen, Düsseldorf 1987.Boff, Clodovis, Theologie und Praxis. <strong>Die</strong> erkenntnistheoretischen Grundlagen<strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung, München/Mainz 1983.Boff, Leonardo, Theologie <strong>der</strong> Befreiung und Ökologie: Alternativen, Gegensatzo<strong>der</strong> Ergänzung, in: Concilium 31 (1995) 423-430.Boff, Leonardo, Unser Haus - die Erde. Den Schrei <strong>der</strong> Unterdrückten hören,Düsseldorf 1996.Bolz, Norbert u. Bosshart, David, KULT-Marketing. <strong>Die</strong> neuen Götter des Marktes,2. Aufl. Düsseldorf 1996.Bolz, Norbert, <strong>Die</strong> magische Welt von Nike Town. Über die Wie<strong>der</strong>kehr <strong>der</strong> Ritualeund die Marktreligion, in: Geborgenheit im Chaos, Publik-Forum - extra,o.O., 1997, 7-9.Bonhoeffer, <strong>Die</strong>trich, Ethik, 12. Aufl. München 1988.436


Bonhoeffer, <strong>Die</strong>trich, Nach zehn Jahren, in: <strong>der</strong>s., Wi<strong>der</strong>stand und Ergebung.Briefe und Aufzeichnungen aus <strong>der</strong> Haft, hg. von Eberhard Bethge, 14. Aufl.München 1990.Bornkamm, Günter, Der Lohngedanke im Neuen Testament, Lüneburg 1947 .Bourdieu, Pierre, Der Mythos “Globalisierung” und <strong>der</strong> europäische Sozialstaat,in: <strong>der</strong>s., Gegenfeuer. Wortmeldungen im <strong>Die</strong>nste des Wi<strong>der</strong>standes gegen dieneoliberale Invasion, Konstanz 1998.Bourdieu, Pierre, <strong>Die</strong> Sachzwänge des Neoliberalismus, in: Le Monde diplomatique(dt. Ausgabe), März 1998, 3.Bourdieu, Pierre, Krise des Wohlfahrtsstaates. Eine Polemik des französischenSoziologen Pierre Bourdieu, in: DIE ZEIT Nr. 45 vom 1. November 1996, 2.Brakelmann, Günter u. Jähnichen,Traugott (Hg.), <strong>Die</strong> protestantischen Wurzeln<strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband, Gütersloh 1994.Brakelmann, Günter, Arbeit, in: Christlicher Glaube in mo<strong>der</strong>ner Gesellschaft,Teilband 8, Enzyklopädische Bibliothek, hg. von <strong>Franz</strong> Böckle u. <strong>Franz</strong> XaverKaufmann, Freiburg 1980, 102-135.Brakelmann, Günter, Das Konzept <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft als einer evolutivenOrdnung, in: <strong>der</strong>s., Für eine menschliche Gesellschaft. Reden und Gegenreden,Bochum, 1996, 191-203.Brakelmann, Günter, Das Recht auf Arbeit, in: Jürgen Moltmann (Hg.), Recht aufArbeit. Sinn <strong>der</strong> Arbeit, München 1979, 9-39.Brakelmann, Günter, <strong>Die</strong> Zukunft <strong>der</strong> Arbeit, in: <strong>der</strong>s., Zur Arbeit geboren? Beiträgezu einer christlichen Arbeitsethik, Bochum 1988, 99-123.Brakelmann, Günter, Evangelische Sozialetheoretiker vor dem Problem <strong>der</strong> Gewerkschaften,in: Frank von Auer u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Sozialer Protestantismusund Gewerkschaftsbewegung. Kaiserreich - Weimarer Republik - BundesrepublikDeutschland, Köln 1994, 17-38.Brakelmann, Günter, Greschat, Martin, Jochmann, Werner, Protestantismus undPolitik. Werk und Wirkung Adolf Stoeckers, Hamburg 1982.Brakelmann, Günter, Mitbestimmung am Ende? Kritische Anmerkungen nachdem Mitbestimmungsurteil des Bundesverfassungsgerichts, in: Theodor Strohm(Hg.), Christliche Wirtschaftsethik vor neuen Aufgaben. Festgabe für ArthurRich, Zürich 1980, 295-322.Brakelmann, Günter, Priorität <strong>der</strong> Arbeit vor dem Kapital. Nachwort zu “Laboremecercens”, in: <strong>der</strong>s., Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik,Bochum 1988, 39-42.Brakelmann, Günter, Sinn <strong>der</strong> Arbeit - Sinn des Lebens, in: <strong>der</strong>s.,G.Brakelmann, Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik,Bochum 1988, 197-213.437


Brakelmann, Günter, Theodor Lohmann - ein protestantischer Sozialpolitiker aus<strong>der</strong> Inneren Mission, in: <strong>der</strong>s., Zwischen Wi<strong>der</strong>stand und Mitverantwortung. VierStudien zum Protestantismus in sozialen Konflikten, Bochum 1994, 85-131.Brakelmann, Günter, Zur anthropologischen und sozialphilosophischen Struktur<strong>der</strong> Gestaltungskonzepte industrieller Arbeitswelt, in: <strong>Die</strong> Mitarbeit 31 (1982)309-324.Brakelmann, Günter, Zur Arbeit geboren? Beiträge zu einer christlichen Arbeitsethik,Bochum 1988.Brakemeier, Gottfried, Lutherisches Bekenntis in ökumenischer Verantwortung.Vortrag vor <strong>der</strong> 8. Generalsynode <strong>der</strong> VELKD, Lüneburg 1996, 2. - UnveröffentlichtesManuskript.Breidenstein, Günter, Das Eigentum und seine Verteilung. Eine sozialwissenschaftlicheund evangelisch-sozialethische Untersuchung zum Eigentum und zursozialen Gerechtigkeit, Stuttgart 1968.Brunner, Emil, Das Gebot und die Ordnungen (1932), Nachdruck o.O., o.J.,1978.Büchele, Herwig u. Wohlgenannt, Lieselotte, Grundeinkommen ohne Arbeit. Aufdem Weg zu einer kommunikativen Gesellschaft, Wien 1985.Bücher, Karl, <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> Volkswirtschaften, in: <strong>der</strong>s., <strong>Die</strong> Entstehung<strong>der</strong> Volkswirtschaft. Vorträge und Versuche, 3. Aufl. Tübingen 1901, 101-174.Bundesbank, Monatsbericht <strong>der</strong> deutschen Bundesbank (43) 1991, Nr. 5.Büscher, Martin, Gott und Markt - religionsgeschichtliche Wurzeln Adam Smithsund die “Invisible Hand” in <strong>der</strong> säkularisierten Industriegesellschaft, in: A. Meyer-Faje u. P. Ulrich (Hg.), Der an<strong>der</strong>e Adam Smith. Beiträge zur Neubestimmungvon Ökonomie als Politischer Ökonomie, Bern/Stuttgart 1991, 123-144.Collet, Giancaro, “Den Bedürftigen solidarisch verpflichtet”, Implikationen einerauthentischen Rede von <strong>der</strong> Option für die Armen, in: Jahrbuch für christlicheSozialwissenschaften, Bd. 33 Münster 1992, 67-84.Commission sociale de l´épiscopat, Face au chomage - changer le travail. Declarationde la Commission sociale, Paris 1993.Creutz, Helmut, Das Geldsyndrom, Wege zu einer krisenfreien Marktwirtschaft,2. Aufl. Berlin/Frankfurt 1995.Creutz, Helmut, <strong>Die</strong> Verschuldung in Deutschland. Größenordnungen, Entwicklungenund Auswirkungen, in: Zeitschrift für Sozialökonomie 33 (1996) 3-18.Croatto, J. Severino, <strong>Die</strong> Bibel gehört den Armen. Perspektiven einer befreiungstheologischenHermeneutik, München 1989.Croatto, J. Severino, <strong>Die</strong> soziohistorische und hermeneutische Bedeutung desExodus, in: Concilium 23 (1987) 82-88.Crüsemann , Frank, Für eine Armensteuer. ein biblisches Plädoyer, in: EvangelischeKommentare 9/1993, 532.438


Crüsemann, Frank, “... wie wir vergeben unseren Schuldigern.” Schulden undSchuld in <strong>der</strong> biblischen Tradition, in: Marlene Crüsemann u. Willy Schottroff(Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten,München 1992, 90-103.Crüsemann, Frank, “Das Land voll Silber und Gold, Waffen und Götzen.” (Jes2,7f) in:.Renate Jost u. Rainer Kessler u. Christoph M. Raisig (Hg.), Auf Israelhören. Sozialgeschichtliche Bibelauslegung, Luzern 1992, 25-46.Crüsemann, Frank, “... damit er dich segne in allem Tun deiner Hand...”(Dtn14,29) <strong>Die</strong> Produktionsverhältnisse <strong>der</strong> späten Königszeit, dargestellt am Ostrakonvon Mesa Hashavjahu die Sozialgesetzgebung des Deuteronomium, in: LuiseSchottroff u. Willy Schottroff (Hg.), Mitarbeiter <strong>der</strong> Schöpfung. Bibel und Arbeitswelt,München 1983, 71-104.Crüsemann, Frank, “... wie wir vergeben unseren Schuldigern”. Schulden undSchuld in <strong>der</strong> biblischen Tradition, in: Marlene Crüsemann u. Willy Schottroff(Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigen Konflikten,München 1992, 90-103.Crüsemann, Frank, Bewahrung <strong>der</strong> Freiheit. Das Thema des Dekalogs in sozialgeschichtlicherPerspektive, München 1983.Crüsemann, Frank, Das Alte Testament als Grundlage <strong>der</strong> Diakonie, in: GerhardK.Schäfer u. Theodor Strohm, Diakonie - biblische Grundlagen und Orientierungen.Ein Arbeitsbuch, 2. Aufl. Heidelberg 1994, 67-93.Crüsemann, Frank, Der größere Sabbat o<strong>der</strong> die Weisung, sich nicht zu Todezu arbeiten. Bibelarbeit über 3 Mose 25,1-13, in: <strong>der</strong>s., Wie Gott die Welt regiert.Bibelauslegungen, München 1986, 45-61.Crüsemann, Frank, <strong>Die</strong> <strong>Tora</strong>. Theologie und Sozialgeschichte des alttestamentlichenGesetzes, München 1992.Crüsemann, Frank, Wie Gott die Welt regiert, München 1986.Crüsemann, Marlene u. Schottroff, Willy (Hg.), Schuld und Schulden. BiblischeTraditionen in gegenwärtigen Konflikten, München 1992.Dahm, Karl - Wilhelm, Management of Values. Ethikseminare für Führungskräfte,Teile I-III, in: Forum Wirtschaftsethik 1 (1993) 4-9; Teile IV - V in: ForumWirtschaftsethik 2 (1994) 3-11.Dahm, Karl - Wilhelm, Unternehmensbezogene Ethikvermittlung. Literaturbericht:Zur neueren Entwicklung <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, in: Zeitschrift für evangelischeEthik 33 (1989) 121-147.Dahm, Karl - Wilhelm, Wenn <strong>der</strong> Markt zum “Sündenbock” wird. Kritische Rückfragenan die theologischen Kritiker <strong>der</strong> Marktwirtschaft, in: Zeitschrift für evangelischeEthik 36 (1992) 276-290.Dautzenberg, Gerhard, Jesus und die <strong>Tora</strong> (I), in: Orientierung 55 (1991) 229-232; (II) in: Orientierung 55(1991)243-246.439


DBK u. EKD, Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit. Wort des Rates<strong>der</strong> Evangelischen Kirche in Deutschland und <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenzzur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland, Bonn, Hannover 1997.DBK u. EKD, Verantwortung wahrnehmen für die Schöpfung, Gütersloh 1985.DBK u. EKD, Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage in Deutschland. Diskussionsgrundlageüber ein gemeinsames Wort <strong>der</strong> Kirchen, hg. vom Kirchenamt<strong>der</strong> Ev. Kirche in Deutschland und dem Sekretariat <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz.DBK, Unsere Verantwortung für Wirtschaft und Gesellschaft (1994), ArbeitshilfeNr. 116, hg. vom Sekretariat <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz.DBK u. EKD, Beteiligung am Produktivvermögen, Hannover, Berlin 1993.DBK u. EKD, Unsere Verantwortung für den Sonntag. Gemeinsame Erklärung,EKD - Texte 22, Hannover 1988.DBK u. EKD, Gemeinsames Wort, Internationale Verschuldung - eine ethischeHerausfor<strong>der</strong>ung, Bonn/Hannover 1998.Dibelius, Martin, Das soziale Motiv im Neuen Testament, in: Kirche, Bekenntnisund Sozialethos. Forschungsabteilung des Oekumenischen Rates für PraktischesChristentum, Genf 1934, 9-32.<strong>Die</strong> Gruppe von Lissabon, Grenzen des Wettbewerbs. <strong>Die</strong> Globalisierung <strong>der</strong>Wirtschaft und die Zukunft <strong>der</strong> Menschheit, München 1997.<strong>Die</strong> Kehrseite <strong>der</strong> Medaille. Ein Glaubensbrief von christlichen Gruppen und Organisationenaus den Nie<strong>der</strong>landen, mit einem Nachwort von <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>,Heidelberg, Reihe B Nr. 23 Texte und Materialien <strong>der</strong> FEST, 1995.<strong>Die</strong>ffenbacher, Hans u. Müller, Eckart, Wirtschaft und Ethik. Eine kommentierteBibliographie (Texte und Materialien <strong>der</strong> FEST) Heidelberg Bd. 1; Bd.2, 1992.<strong>Die</strong>trich, Werner, Der rote Faden im Alten Testament, in: Evangelische Theologie49 (1989) 232-250.<strong>Die</strong>tze, Constantin von, Nationalökonomie und Theologie. Mit Anhang: Grundsätzeeiner Wirtschafts- und Sozialordnung in evangelischer Sicht, Tübingen-Stuttgart 1947.Donner, Hans, Geschichte des Volkes Israels und seiner Nachbarn. Grundzüge(ATD Erg.-Reihe 4/1) Göttingen 1984.Doornkaat, Hans ten , <strong>Die</strong> Oekumenischen Arbeiten zur sozialen Frage, Frankfurt1954.Dörrfuss, Ernst M., Das Jobeljahr in Verkündigung und Theologie <strong>der</strong> Kirche.Systematisch-theologische Implikationen, in: Ökumenische Rundschau 44(1995) 311- 327.Duchrow, Ulrich, Weltwirtschaft heute. Ein Feld für Bekennende Kirche? München1986.440


Duchrow, Ulrich, Alternativen zur kapitalistischen Weltwirtschaft, Biblische Erinnerungund politische Ansätze zur Überwindung einer lebensbedrohenden Ökonomie,Gütersloh, Mainz 1994.Duden. Das große Wörterbuch <strong>der</strong> deutschen Sprache, Mannheim 1977.Dussel, Enrique, Der Markt aus <strong>der</strong> ethischen Perspektive <strong>der</strong> Theologie <strong>der</strong> Befreiung,in: Concilium 33(1997) 217-232.Dussel, Enrique, Ethik <strong>der</strong> Befreiung. Zum “Ausgangspunkt” als Vollzug <strong>der</strong> “ursprünglichenethischen Vernunft”, in: Raúl Fornet-Betancourt (Hg,), Konvergenzo<strong>der</strong> Divergenz? Eine Bilanz des Gesprächs zwischen Diskursethik und Befreiungsethik,Aachen 1994, 83-110.Dussel, Enrique, Ethik <strong>der</strong> Gemeinschaft, Düsseldorf 1989.Dussel, Enrique, Läßt sich “eine” Ethik angesichts <strong>der</strong> geschichtlichen “Vielheit”<strong>der</strong> Moralen legitimieren? In: Concilium 17 (1981), 807-813.Dussel, Enrique, Philosophie <strong>der</strong> Befreiung, Berlin 1989.Dussel, Enrique, Theologie und Wirtschaft. Das theologische Paradigma deskommunikativen Handelns und das Paradigma <strong>der</strong> Lebensgemeinschaft als Befreiungstheologie,in: Raúl Fornet-Betancourt (Hg.) , Verän<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Glaube dieWirtschaft? Theologie und Ökonomie in Lateinamerika, Freiburg 1991, 39-57.Dussel, Enrique, Vier Themen zu Theologie und Ökonomie, in: Thomas Buhlu.a. (Hg.), Option für die Armen und kirchliche Basisgemeinden in Lateinamerika,Leipzig 1990, 278-320.Ebach, Jürgen, Über die Wie<strong>der</strong>herstellung gerechter Verhältnisse, in: <strong>der</strong>s.,Theologische Reden, mit denen man keinen Staat machen kann, Bochum1986,109-125.Ebach, Jürgen, “damit er ihn bebaue und bewahre”. <strong>Die</strong> Aufnahme biblischerTexte zur Arbeit in Laborem exercens, in: Wolfgang Klein u. Werner Krämer(Hg.), Sinn und Zukunft <strong>der</strong> Arbeit, Mainz, 1982, 48-59.Ebach, Jürgen, Arbeit und Ruhe. Eine utopische Erinnerung, in: <strong>der</strong>s., Ursprungund Ziel. Erinnerte Zukunft und erhoffte Vergangenheit. Biblische Exegesen -Reflexionen - Geschichten, Neukirchen - Vluyn 1986.Ebach, Jürgen, Art, Eigentum , I. Altes Testament, in: TRE, Bd. 9, 403-407.Ebach, Jürgen, Nicht alles herausholen! Biblische Erinnerungen zum Thema:Arbeits- und Ruhezeit, in: Hartmut Prybylski u. Jürgen Rin<strong>der</strong>spacher (Hg.), DasEnde gemeinsamer Zeit? Risiken neuer Arbeitszeitgestaltung und Öffnungszeiten,Bochum, 1988, 83-98.Echternach, Horst, Art. Lohn, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl. Stuttgart1980, Sp. 835-837.EKD, Denkschrift Gemeinwohl und Eigennutz. Wirtschaftliches Handeln in Verantwortungfür die Zukunft, Gütersloh 1990.EKD, Europäische Ökumenische Versammlung, Frieden in Gerechtigkeit. Basel,15.-21. Mai 1998, in: EKD-Texte Nr. 27, Hannover 1989.441


EKD, Solidargemeinschaft von Arbeitenden und Arbeitslosen. Studie zur Arbeitslosigkeit,Gütersloh, 1982.Elliger, Kurt, Deuterojesaja, 1. Teilband Jes 40,1-45,7, Neukirchen-Vluyn 1978.Engelhard, Klaus, “Für eine Kultur des Erbarmens”, in: epd-Dokumentation Nr.49/1996, 1-7.Engels, Wolfram, Das Zinsverbot <strong>der</strong> Religionen, in: WirtschaftsWoche Nr. 1vom 1.1.1993, 86.Engels, Wolfram, Fremdkörper, in: <strong>Die</strong> Wirtschaftswoche Nr. 19 vom 3.5.1992,138.Engels, Wolfram, Moral als politische Waffe, in: WirtschaftsWoche Nr. 52 vom18.12.1992, 126.Engels, Wolfram, Stoppsignal, in: <strong>Die</strong> Wirtschaftswoche Nr. 18 vom 25.4.1986,144.Ernst, Michael, “... er war <strong>der</strong> oberste Zollpächter und war sehr reich.” (Lk 19,2)Das Zollwesen, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völkerdes Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern/Salzburg1995, 160-168.Eucken, Walter, Grundsätze <strong>der</strong> Wirtschaftspolitik, Bern/Tübingen 1952.Faith in the City. A call for action by Church and Nation. The Report of theArchbishop of Canterbury´s Commission on Urban Priority Areas, London -published by the General Synod of the Church of England, 1985.Finley, Moses I., <strong>Die</strong> antike Wirtschaft, 3. Aufl. München 1993.Fornet-Betancourt, Raúl (Hg,), Konvergenz o<strong>der</strong> Divergenz? Eine Bilanz desGesprächs zwischen Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen 1994.Fornet-Betancourt, Raúl (Hg.), <strong>Die</strong> Diskursethik und ihre lateinamerikanischeKritik, Aachen 1993.Fornet-Betancourt, Raúl (Hg.), Ethik <strong>der</strong> Befreiung, Aachen 1990.Fornet-Betancourt. Raúl (Hg.), Diskursethik o<strong>der</strong> Befreiungsethik? Aachen 1992.Fox, Michael, Revolution <strong>der</strong> Arbeit. Damit alle sinnvoll leben können, München1994.<strong>Franz</strong>oni, Giovanni, Laßt die Erde ausruhen. Offener Brief für ein mögliches Jubiläum,Wien/München 1997.Frey, Christofer, <strong>Tora</strong> für Protestanten - o<strong>der</strong> über die sich rasch wechselndenEvidenzen in <strong>der</strong> protestantischen Theologie, in: Zeitschrift für evangelischeEthik 38 (1994) 242-246.Frey, Christofer, Vernunftbegründung in <strong>der</strong> Ethik. Eine protestantische Sicht, in:Zeitschrift für evangelische Ethik 37 (1993) 22-32.Friedman, Milton, Kapitalismus und Freiheit, Frankfurt,Berlin 1984.442


Fromm, Erich, <strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung Gottes und des Menschen, Zürich 1970.Fromm, Erich, Einige post-marxistische und post-freudsche Gedanken über Religionund Religiosität, in: <strong>der</strong>s., Gesamtausgabe, Stuttgart Bd. VI - Religion,Stuttgart 1989, 293-299.Fromm, Erich, Haben o<strong>der</strong> Sein. <strong>Die</strong> seelischen Grundlagen einer neuen Gesellschaft,Stuttgart 1976.Fromm, Erich, Ihr werdet sein wie Gott. Eine radikale Interpretation des AltenTestaments und seiner Tradition, in: <strong>der</strong>s., Gesamtausgabe, Bd. VI., Stuttgart1989, 83-226.Fromm, Erich, Psychoanalyse und Religion, in: <strong>der</strong>s., Gesamtausgabe, StuttgartBd. VI - Religion, Stuttgart 1989, 227-292.Fürstenberg, Friedrich., Art. Lohn und Lohnsystem, II. Sozialethisch, in: RGG 3.Aufl. Bd. IV, 444f.Füssel, Kuno u. Ramminger, Michael, Armut und Reichtum - Biblische Erinnerungan einen Wi<strong>der</strong>spruch, in: Demokratiefähigkeit. Jahrbuch Politische Theologie,hg. von Jürgen Manemann, Bd. 1, Münster 1995, 188-203.Füssel, Kuno u.a. (Hg.) “... in euren Häusern liegt das geraubte Gut <strong>der</strong> Armen.”Ökonomisch-theologische Beiträge zur Verschuldungskrise, Freiburg 1989.Füssel, Kuno, Der Kult des Goldes, die Zerstörung des Menschen und <strong>der</strong> ZornGottes, in: Willibald Jacob u. Jakob Moneta u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), <strong>Die</strong> Religiondes Kapitalismus. <strong>Die</strong> gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen Marktes, Luzern, Salzburg 1996, 130-149.Füssel, Kuno, <strong>Die</strong> politische Ökonomie des römischen Imperiums in <strong>der</strong> frühenKaiserzeit, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker desErdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern ,Salzburg 1995, 36-59.Füssel, Kuno, <strong>Dr</strong>ei Tage mit Jesus im Tempel. Einführung in die materialistischeLektüre <strong>der</strong> Bibel, Münster 1986.Füssel, Kuno, Perspektiven einer theologischen Kapitalismuskritik, in: Orientierung55 (1991), 169-176.Füssel, Kuno, <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern , Salzburg 1995.Gabriel, Karl u. Kremer, Werner (Hg.), Kirchen im gesellschaftlichen Konflikt.Der Konsultationsprozeß und das Sozialwort “Für eine Zukunft in Solidarität undGerechtigkeit”, Münster 1997.Galbraith, John Kenneth, Interview, in: <strong>Die</strong> WirtschaftsWoche, Nr. 29 vom11.7.1996, 31.Georgi, <strong>Die</strong>ter, Der Armen zu gedenken. <strong>Die</strong> Geschichte <strong>der</strong> Kollekte des Paulus,2. erw. Aufl. Neukirchen - Vluyn, 1994.Giarni, Orio u. Liedke, Patrick M., Wie wir arbeiten werden. Der neue Bericht anden Club of Rome, Hamburg 1998.443


Gorz, André, Kritik <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft, Berlin 1989.Goudzwaard, Bob u. Lange, Harry de, We<strong>der</strong> Armut noch Überfluß. Plädoyer füreine neue Ökonomie, München 1990.Gremmels, Christian u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Überlegungen zu einer "Theologie <strong>der</strong>Arbeit", in: Christian Gremmels u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Am Ort <strong>der</strong> Arbeit. Berichteund Interpretationen, Mainz/München 1981, 153-184.Gremmels, Christian u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), Am Ort <strong>der</strong> Arbeit. Berichte undInterpretationen, Mainz/ München 1981.Gremmels, Christian u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), Arbeitslosigkeit - Herausfor<strong>der</strong>ung<strong>der</strong> Kirchen. Dokumente-Analysen, Mainz/München 1979.Gustafson, James M., Der Ort <strong>der</strong> Schrift in <strong>der</strong> christlichen Ethik. Eine methodologischeStudie, in: Hans G. Ulrich (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträgezu ihrer Grundlegung und ihren Aufgaben, München 1990, 246-279.Habbe, Joachim, Palästina zur Zeit Jesu. <strong>Die</strong> Landwirtschaft in Galiläa als Hintergrund<strong>der</strong> synoptischen Evangelien, Neukirchen-Vluyn 1996.Habermann, Gert, Teilen o<strong>der</strong> produzieren. Bemerkungen zum Ethos des Unternehmers,in: Neue Zürcher Zeitung, (Fernausgabe) Nr. 211 vom 12./13. September1993, 13f.Habermas, Jürgen <strong>Die</strong> neue Unübersichtlichkeit. Kleine politische Schriften, Bd.V., 3. Aufl. Frankfurt 1986.Habermas, Jürgen, Erläuterungen zur Diskursethik, Frankfurt 1991.Habermas, Jürgen, Israel und Athen, in: Orientierung 57 (1993) 241-243.Habermas, Jürgen, Nachmetaphysisches Denken, 2. Aufl. Frankfurt 1988.Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Frankfurt 1981.Habisch, André, Christliche Wirtschaftsethik - eine Jeremiade <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne?Theologische Grundlegung und interdisziplinäre Methodologie, in: MarianneHeimbach-Stein u. Andreas Lienkamp u. Joachim Wiemeyer (Hg.), BrennpunktSozialethik. Theorien, Aufgaben, Methoden, Festschrift für <strong>Franz</strong> Furger, Freiburg,1995, 189 - 212.Härle, Wilfried, “Suum cuique”. Gerechtigkeit als sozialethischer und theologischerGrundbegriff, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 41 (1997) 303-312.Häuser, Karl, Volkswirtschaftslehre, Frankfurt 1974.Hayek, Friedrich August von, Interview, in: <strong>Die</strong> Wirtschaftswoche Nr. 11 vom6.3.1981, 36-40.Hayek, Friedrich August von, Recht, Gesetzgebung und Freiheit. Eine neueDarstellung <strong>der</strong> liberalen Prinzipien <strong>der</strong> Gerechtigkeit und <strong>der</strong> politischen Ordnung.Illusion <strong>der</strong> Gerechtigkeit, Bd. 2, Landsberg am Lech 1980.444


Hayek, Friedrich August von, Wahrer und falscher Individualismus, in: ORDO.Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, o.O. Bd. 1, 1948, 19-55.Hayek, Friedrich August von Individualismus und Wirtschaftsordnung, Zürich1952.Hayek, Friedrich August von, Interview in: Wirtschaftswoche Nr. 11 vom6.3.1981, 38.Heckmann, Friedrich, Der Kampf um den freien Sonntag im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t, in:Hartmut Przybylski u. Jürgen Rin<strong>der</strong>spacher (Hg.), Das Ende gemeinsamer Zeit.Risiken neuer Arbeitszeitgestaltung und Öffnungszeiten, Bochum 1988, 99-115.Heichelheim, Fritz Moritz, Wirtschaftsgeschichte des Altertums ( 2 Bde. Leyden1939) Nachdruck 3 Bde. Leyden 1969.Heienbrok, Klaus u. Przybylski, Hartmut u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), ProtestantischeWirtschaftsethik und Reform des Kapitalismus. 100 Jahre EvangelischsozialerKongreß, SWI-Materialien Heft Nr.6, Bochum 1991.Heimbach-Stein u. Marianne, u.a., Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit,eingeleitet und kommentiert von Marianne Heimbach-Stein u. AndreasLienkamp, München 1997.Heller, G., Mensch-Arbeit-Technik. Forum von Gesamtmetall, Handelsblatt, Nr.215 vom 4.11.1992, 24.Hengsbach, Friedhelm u. Emunds. Bernhard u. Möhring-Hesse, Matthias, Reformenfallen nicht vom Himmel. Was kommt nach dem Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen?Freiburg 1997.Hengsbach, Friedhelm, Arbeitsethische Innovationen durch alte und neue sozialeBewegungen, in: Bernd Bievert u. Martin Held (Hg.), Ethische Grundlagen <strong>der</strong>ökonomischen Theorie. Eigentum, Verträge, Institutionen, Frankfurt 1989, 156-188.Hengsbach, Friedhelm, Art. Soziale Bewegungen, in: Georges En<strong>der</strong>le u.a.(Hg.), Lexikon <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, Sp. 963-968.Hengsbach, Friedhelm, <strong>Die</strong> Arbeit hat Vorrang. Eine Option katholischer Soziallehre,Mainz 1982.Hengsbach, Friedhelm, Interesse an Wirtschaftsethik, in: Jahrbuch für ChristlicheSozialwissenschaften 29 (1988) 127-150.Hengsbach, Friedhelm, Wirtschaftsethik. Aufbruch - Konflikte - Perspektiven,Freiburg 1991.Her<strong>der</strong>-Dorneich, Phillip, Der Markt und seine Alternativen in <strong>der</strong> freien Gesellschaft,Freiburg, Hannover, 1968.Herms, Eilert, Theologische Wirtschaftsethik. Das Problem ihrer bibeltheologischenBegründung und ihres spezifischen Beitrags zum wirtschaftsethischenDiskurs, in: Bil<strong>der</strong> <strong>der</strong> Gerechtigkeit, als Manuskript gedruckt, hg. von ESG undKDA, Vorlesungsreihe an <strong>der</strong> Universität Konstanz, Wintersemester 1990/91,445


Konstanz.o.J., 81-109. Auch abgedruckt in: Baadtke, Günter u. Rauscher, Anton(Hg.), Wirtschaft und Ethik (Kirche heute, Bd. 5), Graz 1991, 31-69.Herrmann, Siegfried, <strong>Die</strong> konstruktive Restauration. Das Deuteronomium alsMitte biblischer Theologie, in: Probleme biblischer Theologie, Festschrift für Gerhardvon Rad, München 1971,155-170.Heschel, Abraham, Der Sabbat. Seine Bedeutung für den heutigen Menschen,Neukirchen-Vluyn 1990.Hinkelammert, <strong>Franz</strong> J., Diskursethik und Verantwortung: eine kritische Stellungnahme,in: Raúl Fornet-Betancourt (Hg.), Konvergenz o<strong>der</strong> Divergenz? EineBilanz des Gesprächs zwischen Diskursethik und Befreiungsethik, Aachen1994, 111-150.Hirschman, Albert O., Leidenschaft und Interesse. Politische Begründung desKapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt 1980.Höffe, Otfried, Bausteine für ein ökologisches Weltethos, in: <strong>der</strong>s., Moral alsPreis <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Ein Versuch über Wissenschaft, Technik und Umwelt, 2.Aufl. Frankfurt 1993, 151-171.Höffe, Otfried, Ethik und Politik. Grundmodelle und -probleme <strong>der</strong> praktischerPhilosophie, Frankfurt 1979.Höffe, Otfried, Moral als Preis <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne. Ein Versuch über Wissenschaft,Technik und Umwelt, 2. Aufl. Frankfurt 1993.Hofmann, Werner, Grundelemente <strong>der</strong> Wirtschaftsgesellschaft, Reinbek 1969.Homann, Karl u. Blome-<strong>Dr</strong>ees, <strong>Franz</strong>, Wirtschafts- und Unternehmensethik,Göttingen 1992.Homann, Karl, Art. Wirtschaftsethik, in: Lexikon <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, hg. vonGeorges En<strong>der</strong>le u.a., Freiburg 1993, Sp.1286-1295.Homann, Karl, Ethik und Ökonomik, in: Ekkehard Kappler, Tobias Scheytt, Unternehmensführung- Wirtschaftsethik - Gesellschaftliche Evolution. Annäherungenan eine verantwortungsbewußte Führungspraxis, Verlag Bertelsmann Stiftung,Gütersloh 1995, 177-200.Homann, Karl, Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, in: JohannesGründel (Hg.), Leben aus christlicher Verantwortung. Ein Grundkurs <strong>der</strong> Moral,Bd. 2, Düsseldorf 1992, 70-116.Homann, Karl, Individualisierung: Verfall <strong>der</strong> Moral? Zum ökonomischen Fundamentaller Moral, in: Aus Politik und Zeitgeschichte. Beilage zum Parlament B21/1997, 13-21.Homann, Karl, Wirtschaft - Gewinnorientierung und soziale Gerechtigkeit, in:J.Gründel (Hg.), Ein Grundkurs <strong>der</strong> Moral, Bd. 2: Schöpfung-Wirtschaft-Gesellschaft-Kultur, Düsseldorf 1992, 96-118.Homann, Karl, Wirtschaftsethik. <strong>Die</strong> Funktion <strong>der</strong> Moral in <strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Wirtschaft,in: J.Wieland (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft,Frankfurt 1993, 32-53.446


Homann, Karl, Art. Wirtschaftsethik, in: Lexikon <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, hg. vonGeorges En<strong>der</strong>le, Karl Homann, Martin Honcker, Walter Kerber, Horst Steinmann,Freiburg 1993, Sp. 1286-1296.Homann, Karl,Verfall <strong>der</strong> Moral? In: WirtschaftsWoche Nr. 38 vom 12.9.1996,39f.Honecker, Martin, Art. Wert, Werte, Werturteilsfreiheit, Georges En<strong>der</strong>le u.a.(Hg.), Lexikon <strong>der</strong> Wirtschaftsethik, Freiburg 1993, Sp. 1256-1265.Honecker, Martin, Einführung in die theologische Ethik, Berlin 1990.Honecker, Martin, Konzept einer sozialethischen Theorie, Tübingen 1971.Horn, Karen Ilse, Moral und Wirtschaft, Tübingen 1995.Horst, F., Art. Eigentum, in: RGG 3. Aufl. Bd. II, Sp.363-365.Huber, Wolfgang, <strong>Die</strong> Krone <strong>der</strong> Schöpfung ist nicht <strong>der</strong> Mensch, son<strong>der</strong>n <strong>der</strong>Ruhetag. Festvortrag zur Verleihung des Hans - Böckler - Preises an den KDA,in: kda Nr. 1/1996, 27-31, auch in verän<strong>der</strong>ter Fassung in: Martin Huhn u. <strong>Franz</strong><strong>Segbers</strong> u. Walter Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. Beiträge zum Wirtschafts-und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Bochum 1997, 123-128.Huber, Wolfgang, Gerechtigkeit und Recht. Grundlinien christlicher Rechtsethik,Gütersloh 1996.Huber, Wolfgang, Konflikt und Konsens. Studien zur Ethik <strong>der</strong> Verantwortung,München 1990.Huber, Wolfgang, Lohn, II. Ethisch, in: TRE Bd. 21, 449-453.Huhn, Martin u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> u. Sohn,Walter (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar.Beiträge zum Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Bochum 1997.Huster, Ernst -Ulrich, Teilen - aber wie? Optionen für eine Neufassung des Gesellschaftsvertrags,in: Frank von Auer u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Markt undMenschlichkeit, Reinbek 1995, 193-196.Huster, Ernst -Ulrich, Unternehmer und Selbständige sind die Sieger im Verteilungskampf,FR Nr. 15 vom 19.1.1993, 10.Hüttermann, Aloys, <strong>Die</strong> ökologische Botschaft <strong>der</strong> Thora. <strong>Die</strong> mosaischen Gesetzeaus <strong>der</strong> Sicht eines Biologen, in: Naturwissenschaften 80 (1993) 147-156.In <strong>der</strong> Stunde Null, mit einem Vorwort von Helmuth Thielicke und einem Nachwortvon Philipp von Bismarck, Tübingen 1979.Jacob, Benno, Das Buch Exodus, hg. im Auftr. des Leo-Baeck-Instituts vonShlomo Mayer, Stuttgart 1997.Jacob, Benno, Das erste Buch <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, Berlin 1934.Jacob, Willibald u. Moneta, Jakob u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), <strong>Die</strong> Religion desKapitalismus. <strong>Die</strong> gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen Marktes, Luzern1996.447


Jähnichen, Traugott, Zeit für sich, Jobs für alle, in: Evangelische Kommentare11/1997, 647-650.Jähnichen, Traugott, Protestantische Impulse für das Konzept “Soziale Marktwirtschaft”,in: Günter Brakelmann u. Traugott Jähnichen (Hg.), <strong>Die</strong> protestantischenWurzeln <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft. Ein Quellenband, Gütersloh 1994,312-316.Jähnichen, Traugott, Sozialer Protestantismus und mo<strong>der</strong>ne Wirtschaftskultur.Sozialethische Studien zu grundlegenden anthropologischen und institutionellenBedingungen ökonomischen Handelns, Münster 1998.Jähnichen, Traugott, Vom Industrieuntertan zum Industriebürger. Der sozialeProtestantismus und die Entwicklung <strong>der</strong> Mitbestimmung (1848-1955), Bochum1993.Jakobeit, Cord, <strong>Die</strong> Realisierungschancen <strong>der</strong> Tobin-Steuer, in: FrankfurterNeue Hefte / Neue Gesellschaft 44 (1997) 447 - 450.Jankowski, Gerhard, “... und hatten alles gemeinsam.” (Apg 4,32) ÖkonomischeFragen in <strong>der</strong> Apostelgeschichte, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.) “... solernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel undÖkonomie, Luzern/Salzburg 1995, 139-148.Jenni, E., <strong>Die</strong> theologische Bedeutung des Sabbatgebotes im Alten Testament,Theologische Studien, Schriftenreihe Heft 46, Zollikon/Zürich 1956.Jenni, Ernst, Art. bajit=Haus, in: THAT, Bd. I., 4. durchges. Aufl. München 1984,308-313.Jeremias, Gert, Art. Bibel, in: Evangelisches Soziallexikon, 7. Aufl. Stuttgart1981, Sp.174-179.Jeremias, Joachim, <strong>Die</strong> Gleichnisse Jesu, 6. Aufl. Göttingen 1962.Jeremias, Joachim, Jerusalem zur Zeit Jesu. Eine kulturgeschichtliche Untersuchungzur neutestamentlichen Zeitgeschichte, 3. neubearb. Aufl. Göttingen1962.Jeske, Jürgen, <strong>Die</strong> unsichtbare Hand, in: FAZ vom 26.1.1995, 1.Jüchen, Aurel von, Jesus zwischen reich und arm. Mammonworte undMammongeschichten im Neuen Testament, Stuttgart 1985.Kaiser, Jochen - Christoph u. Loth, Wilfried (Hg.), Soziale Reform im Kaiserreich.Protestantismus, Katholizismus und Sozialpolitik, Stuttgart/Berlin/Köln1997.Kandel, Johannes, Evangelische Christen und sozialistische Arbeiterbewegung,in: Frank von Auer u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Sozialer Protestantismus und Gewerkschaftsbewegung,Kaiserreich - Weimarer Republik - BundesrepublikDeutschland, Köln 1993, 53-77.Katterle, Siegfried, Jenseits <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft. Zurück in die Vergangenheito<strong>der</strong> ordnungspolitische Innovation? In: <strong>der</strong>s., Alternativen zur neolibe-448


alen Wende. Wirtschaftspolitik in <strong>der</strong> sozialstaatlichen Demokratie, Bochum1989, 32-42.Katterle, Siegfried, <strong>Die</strong> neoliberale Wende zum totalen Markt aus <strong>der</strong> Sicht desNordens, in: Willibald Jacob u. Jakob Moneta u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), <strong>Die</strong> Religiondes Kapitalismus. <strong>Die</strong> gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen Marktes,Luzern 1996, 47-69.Kaufmann, <strong>Franz</strong> - Xaver u. Kerber,Walter u. Zulehner, Paul, (Hg.), Ethos undReligion bei Führungskräften, München 1986.Kaufmann, <strong>Franz</strong> - Xaver u. Metz, Johann Baptist, Zukunftfähigkeit. Suchbewegungenim Christentum, Freiburg/Basel/Wien 1987.Kegler, Jürgen, “Was ist am Sabbat erlaubt?” (Lk 6,9) Das Ringen um den Sabbatin den biblischen Schriften, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>, (Hg.), “ ... solernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel undÖkumene, Luzern/Salzburg 1995, 240-258.Kegler, Jürgen, Arbeitsorganisation und Arbeitskampfformen im Alten Testament,in: Luise Schottroff, Willy Schottroff (Hg.), Mitarbeiter <strong>der</strong> Schöpfung. Bibelund Arbeitswelt, München 1983, 51-71.Kegler, Jürgen, Das Zinsverbot in <strong>der</strong> hebräischen Bibel, in: Marlene Crüsemann,Willy Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Traditionen in gegenwärtigenKonflikten, München 1992, 17-39.Kehrer, Günther, Wie christlich ist die christliche Ethik? O<strong>der</strong>: Auf <strong>der</strong> Suchenach dem Proprium, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 16 (1972) 1-14.Kern, K.-H., Sabbatjahr für Deutschland. Christliches Plädoyer für einen neuenLastenausgleich, in: Evangelische Kommentare 4/1997, 287-289.Kessler, Rainer, Das hebräische Schuldenwesen. Terminologie und Metaphorik,in: WuD NF 20 (1989) 181-195.Kessler, Rainer, Das Sabbatgebot. Historische Entwicklung, kanonische Bedeutungund aktuelle Aspekte, in: <strong>Die</strong>ter Georgi u.a.(Hg.), Religion und Gestaltung<strong>der</strong> Zeit, Kampen 1994, 92-107.Kessler, Rainer, Ein Gnadenjahr des Herrn. Schuldenerlaß für ärmste Län<strong>der</strong> istbiblisch begründbar, in: Evangelische Kommentare 1 / 1999, 24-26.Kessler, Rainer, Frühkapitalismus, Rentenkapitalismus, Tributarismus, antikeKlassengesellschaft. Theorien zur Gesellschaft des alten Israel, in: EvangelischeTheologie 54 (1994) 413-427.Kessler, Rainer, Keine Freiheit ohne materielle Grundlage, in: Frank von Auer u.<strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Markt und Menschlichkeit, Reinbek 1995, 105-110.Kessler, Rainer, Staat und Gesellschaft im vorexilischen Juda vom 8. Jahrhun<strong>der</strong>tbis zum Exil: SVT 47, Leiden u.a. 1992.Kessler, Rainer, Wirtschaftsrecht <strong>der</strong> <strong>Tora</strong>, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>(Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zuBibel und Ökumene, Luzern /Salzburg 1995, 78-94.449


Kessler, Rainer, Zur israelitischen Löserinstitution, in: Marlene Crüsemann u.Willy Schottroff (Hg.), Schuld und Schulden. Biblische Tradition in gegenwärtigerKonflikten, München 1992, 40-53.Kippenberg, Hans G. u. Wewers, Gerd A., Textbuch zur neutestamentlichenZeitgeschichte, Göttingen 1979.Kirche und Welt in ökumenischer Sicht. Bericht <strong>der</strong> Weltkonferenz von Oxfordüber Kirche, Volk und Staat, hg. Forschungsabteilung des Oekumenischen Ratesfür Praktisches Christentum, Genf 1938.Klappert, Bertold, A.Friedlan<strong>der</strong>, Leo Baeck. Leben und Lehre (1973), München1990.Klausner, Joseph, Jesus von Nazareth. Seine Zeit, sein Leben und seine Lehre,Berlin 1930.Kleinknecht, Th., Art. nomos, in: ThWNT IV, 1942, 1016 -1017.Klingenberg, Eberhard, Das israelitische Zinsverbot in <strong>Tora</strong>h, Misnah und Talmud,(Akademie <strong>der</strong> Wissenschaften und <strong>der</strong> Literatur, Abhandlungen <strong>der</strong> Geistes-und Sozialwissenschaftlichen Klasse, Jahrgang 1977, Nr. 7, Mainz ) Wiesbaden1977.Klippert, Heinz, Mythos Markt. Kritik eines ökonomischen Glaubensartikels, in:Evangelische Kommentare 1/1996, 12-13.Klüber, <strong>Franz</strong>, Katholische Soziallehre und demokratischer Sozialismus, Bonn1976.Koch, Klaus, Art. Propheten/Prophetie II, in: TRE Bd. 27, 477-499.Koch, Klaus, Art. sdq=gemeinschaftstreu/heilvoll sein, in: THAT, Bd. II., 3.durchgeseh. Aufl. München 1984, Sp.507-530.Koch, Klaus, <strong>Die</strong> Entstehung <strong>der</strong> sozialen Kritik bei den <strong>Prof</strong>eten,in: Hans WalterWolff (Hg.), Probleme biblischer Theologie, FS Gerhard von Rad, München1971, 242-257.Koch, Klaus, Gesetz I. Altes Testament, TRE Bd. 13, 40-52.Koch, Klaus, Gestaltet die Erde, doch hegt das Leben! Einige Klarstellungenzum dominium terrae in Gen 1, in: H.-G. Geier u.a. (Hg.): Wenn nicht jetzt, wanndann? Aufsätze für H.-J. Kraus zum 65. Geburtstag , Neukirchen - Vluyn 1983,23-36.Koslowski, Peter, Ethik des Kapitalismus, 4. Aufl.Tübingen 1991.Kretschmar, Gottfried, Der Evangelisch-soziale Kongreß. Der Protestantismusund die soziale Frage, Stuttgart, 1972.Lampe, Adolf, Gefallene Wirtschaft, Kirche und Welt. Schriftenreihe <strong>der</strong> EvangelischenAkademie in Hessen und Nassau, Heft 2, <strong>Dr</strong>uckerei Otto Lembeck,Frankfurt 1949.Lange, <strong>Die</strong>tz, Ethik in evangelischer Perspektive, Göttingen 1992.450


Lapide, Pinchas, Exodus in <strong>der</strong> jüdischen Tradition, in: Concilium 23 (1987) 29-34.Le Goff, Jacques, Wucherzins und Höllenqual. Ökonomie und Religion im Mittelalter,Stuttgart 1988.Lehmann, Klaus Peter, Der Mammon ist aller Welt Gott. Rechtfertigungslehreund Kapitalismuskritik bei Martin Luther, in: Lutherische Monatshefte 1/1996, 14-16.Levinas, Emmanuel., Jenseits des Buchstabens, Frankfurt 1986.Liedke, Gerhard, Art. spt=richten, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München1984, Sp. 999-1011.Liedke, Gerhard, Gestalt und Bezeichnung alttestamentlicher Rechtssätze,Neukirchen 1971.Lienemann, Wolfgang, Gerechtigkeit, Ökumenische Studienhefte, Göttingen1995.Lienkamp, Andreas, <strong>Die</strong> Herausfor<strong>der</strong>ung <strong>der</strong> Denkens durch den Schrei <strong>der</strong>Armen. Enrique Dussels Entwurf einer Ethik <strong>der</strong> Befreiung, in: FriedhelmHengsbach u.a. (Hg.), Jenseits Katholischer Soziallehre. Neue Entwürfe christlicherGesellschaftsethik, Düsseldorf 1993, 191-215.Linnemann, Edda, Gleichnisse Jesu. Einführung und Auslegung, Göttingen1961.Lohfink, Norbert, “Macht euch die Erde untertan”? In: Orientierung 38 (1974)137-142.Lohfink, Norbert, <strong>Die</strong> Priesterschrift und die Grenzen des Wachstums, in: Stimmen<strong>der</strong> Zeit Heft7/1974, 435-450.Lohfink, Norbert, Gott auf <strong>der</strong> Seite <strong>der</strong> Armen, in: <strong>der</strong>s., Das Jüdische im Christentum,Freiburg 1987, 122-143.Loretz, Oswald, Schöpfung und Mythos, Stuttgart 1968.Löwy, Michael, Der Götze Markt. <strong>Die</strong> Kapitalismuskritik <strong>der</strong> Befreiungstheologieaus marxistischer Sicht, in: Willibald Jakob u. Jakob Moneta u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>(Hg.), <strong>Die</strong> Religion des Kapitalismus. <strong>Die</strong> gesellschaftlichen Auswirkungen destotalen Marktes. Luzern 1996, 106-119.Ludwig, Heiner u. <strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong> (Hg.), Handbuch <strong>der</strong> Arbeiterpastoral, Mainz1984.Lührmann, <strong>Die</strong>ter, Neutestamentliche Haustafeln und antike Ökonomie, in: NewTest. Stud. NTS 27 (1981) 81-97.Luther, Martin, Der Große und <strong>der</strong> Kleine Katechismus, ausgew. von K.Alandund H. Kunst, Göttingen 1983.Luz, Ulrich, Das Evangelium nach Matthäus, Bd.I/1, Zürich / Neukirchen-Vlyun1985.451


Maier, Hans, Politische Religionen. <strong>Die</strong> totalitären Regime und das Christentum,Freiburg 1995.Mandeville, Bernard, <strong>Die</strong> Bienenfabel. Mit einer Einleitung von W. Euchner,Frankfurt 1980.Markmann, Heinz, Was ist die Soziale Marktwirtschaft, in: Werden 91/92. Jahrbuchdes DGB, Köln 1991,107-118.Marquardt, Friedrich - Wilhelm, Gott o<strong>der</strong> Mammon. Aber: Theologie und Ökonomiebei Martin bei Luther, Einwürfe, Bd. 1, München 1983, 176-216.Martin-Achard, R., „nh=elend sein, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München1984, Sp. 342-350.Marx, Karl, Das Kapital, Bd. 1, MEW 23.Meeks, M. Douglas, God the Economist. The Doctrine of God on political economy,Minneapolis 1989.Meinhold, Arndt, Jubeljahr, I. Altes Testament, in: TRE Bd. 16, 280-281.Meireis, Torsten, “Arbeit macht das Leben süß...”. Das „Recht auf Arbeit‟ - einereformatorische Herausfor<strong>der</strong>ung? In: Jürgen Becker (Hg.), Ethik in <strong>der</strong> Wirtschaft,Stuttgart, Berlin 1996, 158-176.Metz, Johann Baptist, Athen versus Jerusalem. Was das Christentum dem europäischenGeist schuldig geblieben ist, in: Orientierung 60 (1996) 59-60.Metz, Johann Baptist, Glaube in Geschichte und Gesellschaft. Studien zu einerpraktischen Fundamentaltheologie, Mainz 1977.Meyer, Eduard, <strong>Die</strong> wirtschaftliche Entwicklung des Altertums, in: <strong>der</strong>s., KleineSchriften I, 2. Aufl. Halle 1924, 79-168.Meyer, Otto, <strong>Die</strong> reale Volkskirche des Marktes, in: Junge Kirche 58 (1997)684-690.Michaelis, W. , Deismus, III. Englischer Deismus, in: RGG 3. Aufl. 1958, Bd. 2,Sp. 59-69.Misereor (Hg.), <strong>Die</strong> deutsche Rolle in <strong>der</strong> Schuldenkrise <strong>der</strong> Entwicklungslän<strong>der</strong>.Perspektiven <strong>der</strong> Entschuldungsarbeit in Deutschland (Berichte und DokumenteNr. 79) Aachen 1993.Möhring-Hesse, M., Theozentrik, Sittlichkeit und Moralität christlicher Glaubenspraxis.Theologische Rekonstruktion, Freiburg i. Ue. 1997.Moltmann, Jürgen, Gott in <strong>der</strong> Schöpfung. Ökologische Schöpfungslehre, 3.Aufl. München 1987.Moltmann, Jürgen, Kirche in <strong>der</strong> Kraft des Geistes. Ein Beitrag zu messianischenEkklesiologie, München 1975.Monz, Heinz, Gerechtigkeit bei Karl Marx und in <strong>der</strong> Hebräischen Bibel. Übereinstimmung,Fortführung und zeitgenössische Identifikation, Baden - Baden1995.452


Monzel, Nikolaus, <strong>Die</strong> weltanschaulichen Grundlagen des klassischen Wirtschaftsliberalismus,in: Monzel, Nikolaus, <strong>Die</strong> katholische Kirche in <strong>der</strong> Sozialgeschichte.Von den Anfängen bis zur Gegenwart, München / Wien 1980, 218-23.Moral als Kapital. Perspektiven des Dialogs zwischen Wirtschaft und Ethik,Kath. Akademie Stuttgart, Stuttgart 1990.Mrytz, B., Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen - Für mehr Eigenverantwortung, in: Informationsdienstdes Instituts <strong>der</strong> deutschen Wirtschaft, 23. Jg., Nr. 10 vom 6.3.1997,2.Müller, Eckart, Evangelische Wirtschaftsethik und Soziale Marktwirtschaft. <strong>Die</strong>Konzeption <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft und die Möglichkeiten ihrer Rezeptiondurch eine evangelische Wirtschaftsethik, Neukirchen-Vluyn, 1997.Müller, Florian u. Müller, Michael (Hg.), Macht Markt Sinn? In: diess., Markt undSinn. Dominiert <strong>der</strong> Markt unsere Werte? Frankfurt 1996, 7-15.Müller, G., Art. Vertrauen, in: LThK Bd. 10, 2. Aufl. Freiburg 1986, Sp. 751-752.Müller, Klaus, <strong>Tora</strong> für die Völker. <strong>Die</strong> noachidischen Gebote und Ansätze zu ihrerRezeption im Christentum, Berlin 1994.Müller, Klaus, Diakonie im Dialog mit dem Judentum. Eine Studie zu den Grundlagensozialer Verantwortung im jüdisch-christlichen Gespräch, Heidelberg1999.Müller-Armack, Alfred, Stil und Ordnung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, in: <strong>der</strong>s.,Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2. Aufl. Bern / Stuttgart 1976.Müller-Armack, Alfred, Das Jahrhun<strong>der</strong>t ohne Gott, in: <strong>der</strong>s., Religion und Wirtschaft,Stuttgart 1959, 371-521.Müller-Armack, Alfred, <strong>Die</strong> Soziale Marktwirtschaft und ihre Wi<strong>der</strong>sacher, in:<strong>der</strong>s., Genealogie <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, 2. erw. Aufl. Bern 1981, 147-160.Müller-Armack, Alfred, <strong>Die</strong> Wirtschaftssordnungen, sozial gesehen, in: ORDO.Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1, oO. 1948,125-154.Müller-Armack, Alfred, Soziale Irenik (1948), in: <strong>der</strong>s., Religion und Wirtschaft.Geistesgeschichtliche Hintergründe unserer europäischen Lebensform, Stuttgart1959, 559-578.Müller-Armack, Alfred, Vorschläge zur Verwirklichung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft,in: <strong>der</strong>s., Genealogie <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, 2. Aufl. Bern/Stuttgart1981.Müller-Armack, Alfred, Wirtschaftsordnung und Wirtschaftspolitik, 2.erw. Aufl.Bern/Stuttgart 1976.Müller-Fahrenholz, Geiko, Freijahre für alle, in: Evangelische Kommentare 21(1988) 595-598.453


Müller-Römheld, Walter (Hg.), Im Zeichen des Heiligen Geistes. Bericht ausCanberra 1991. Offizieller Bericht <strong>der</strong> Siebten Vollversammlung des ÖkumenischenRates <strong>der</strong> Kirchen, 7.- 20. Februar 1990 in Canberra, Frankfurt 1991.Nationalkommitee des Lutherischen Weltbundes in <strong>der</strong> DDR, Verantwortlichwirtschaften. Studien zu Fragen christlicher Wirtschaftsethik, 1990 (Manuskript).Naumann, Friedrich, Brief über Religion, in: Gesammelte Werke, Bd.1, Köln1964.Nawroth, Edgar E., <strong>Die</strong> Sozial- und Wirtschaftsphilosophie des Neoliberalismus,2. Aufl. Heidelberg 1962.Nawroth, Edgar, Zur Sinnerfüllung <strong>der</strong> Marktwirtschaft, Köln 1965.Negt, Oskar, <strong>Die</strong> Krise <strong>der</strong> Arbeitsgesellschaft: Machtpolitischer Kampfplatzzweier “Ökonomien”, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 15/1995, 3-9.Nell-Breuning, Oswald von, Arbeit vor Kapital. Kommentar zur EnzyklikaLaborem exercens von Johannes Paul II., Wien, 1983.Nell-Breuning, Oswald von, Art. Liberalismus, in: Wörterbuch <strong>der</strong> Politik, hg. vonHermann Sacher u. Oswald von Nell-Breuning, Heft V. - Gesellschaftliche Ordnungssysteme,Freiburg 1951, Sp. 198-220.Nell-Breuning, Oswald von, Den Kapitalismus umbiegen. Schriften zu Kirche,Wirtschaft und Gesellschaft, Düsseldorf 1990.Nell-Breuning, Oswald von, <strong>Die</strong> Arbeitswertlehre in <strong>der</strong> scholastischen Theologie,in <strong>der</strong> katholischen Soziallehre und nach Karl Marx, in: Theodor Strohm(Hg.), Christliche Wirtschaftsethik vor neuen Aufgaben. Festgabe für ArthurRich, Zürich 1980, 57-74.Nell-Breuning, Oswald von, <strong>Die</strong> soziale Marktwirtschaft im Urteil <strong>der</strong> katholischenSoziallehre, in: <strong>der</strong>s., Wirtschaft und Gesellschaft. Zeitfragen Bd. III 1955-1959, Freiburg 1960, 99-102.Nell-Breuning, Oswald von, Eigentum und wirtschaftliche Demokratie. Schriftenreihe<strong>der</strong> IG Metall Nr. 64, Frankfurt 1975.Nell-Breuning, Oswald von, Formen und Deutungen <strong>der</strong> Wettbewerbsgesellschaft,in: <strong>der</strong>s., Der Mensch in <strong>der</strong> heutigen Wirtschaftsgesellschaft, München/Wien1975, 31-39.Nell-Breuning, Oswald von, Gerechtigkeit und Freiheit. Grundzüge katholischerSoziallehre, Wien 1980.Nell-Breuning, Oswald von, Kapitalismus und gerechter Lohn, Freiburg 1960.Nell-Breuning, Oswald von, Mitbestimmung - wer mit wem? Freiburg 1969.Nell-Breuning, Oswald von, Neoliberalismus und Katholische Soziallehre, in:<strong>der</strong>s., Wirtschaft und Gesellschaft. Zeitfragen Bd. III 1955-1959, Freiburg 1960,81-98.454


Nell-Breuning, Oswald von, Situation und soziokulturelle Umwelt <strong>der</strong> Arbeiterschaft,in: J.Wiener, H.Erharter (Hg.), Arbeiterpastoral in <strong>der</strong> Pfarre, Wien 1979,11-23.Nell-Breuning, Oswald von, Soziale Sicherheit? Zu Grundfragen <strong>der</strong> Sozialordnungaus christlicher Verantwortung, Freiburg 1975.Nell-Breuning, Oswald von, Soziallehre <strong>der</strong> Kirche. Erläuterungen <strong>der</strong> lehramtlichenDokumente, Wien 1977.Nell-Breuning, Oswald von, Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 1, Freiburg 1956.Nethöfel, Wolfgang, Theologische Hermeneutik. Vom Mythos zu den Medien,Neukirchen - Vluyn 1992.Nutzinger, Hans G., Arbeit unter dem Primat <strong>der</strong> Ökonomie, in: Pastoraltheologie84 (1995) 580-582.Opielka, Michael u.Vobruba, Georg, Das garantierte Grundeinkommen. Entwicklungund Perspektiven einer For<strong>der</strong>ung, Frankfurt 1986.ÖRK, Christlicher Glaube und Weltwirtschaft. Eine Studie des ÖRK “Leben undvolle Genüge für alle”, in: epd-Dokumentation Nr. 40/1992.ÖRK, Erklärung zum Wirtschaftsleben, in: epd-Dokumentation Nr. 45/1991.ÖRK, Vollversammlung des Ökumenischen Rates <strong>der</strong> Kirchen in Canberra, Aufdem Weg zu einer ökologischen Wirtschaftsethik, in: epd-Dokumentation Nr.18/1991.Otto, Eckart, Theologische Ethik des Alten Testaments, Stuttgart, Berlin, Köln1994.Otto, Eckart, Wirtschaftsethik im Alten Testament, in: Informationes TheologiaeEuropae. Internationales ökumenisches Jahrbuch für Theologie, Bd. 3, Frankfurt1994, 279-289.Oxford-Erklärung “Christlicher Glaube und Wirtschaft”, in: EMW - Information Nr.88 vom August 1990.Pannenberg, Wolfhart, Grundlagen <strong>der</strong> Ethik. Philosophisch-theologische Perspektiven,Göttingen, 1996.Petrella, Ricardo., <strong>Die</strong> neuen Gesetzestafeln, in: Le monde diplomatique (dt.Ausgabe) vom 2. Oktober 1995, 2.Pixley, Jorge, Hosea: Ein Lesevorschlag aus Mittelamerika, in: EvangelischeTheologie 51 (1991) 60-81.Plaskow, Judith, Und wie<strong>der</strong> stehen wir am Sinai. Eine jüdisch-feministischeTheologie, Luzern 1992.Körting, Corinna u. Speckermann, Hermann, Sabbat, I. Altes Testament, in: TREBd. 24, 518-521.Polanyi, Karl, The Great Transformation (dt.), Frankfurt 1978.Polanyi, Karl, Wirtschaft und Gesellschaft, Frankfurt 1979.455


Preuß, H.D., Art. Heiligkeitsgesetz, TRE 14, 713-718.Preuß, Horst <strong>Die</strong>trich, Art. Arbeit, I., in: TRE 1978, Bd. 3, 613-618.Prien, Hans - Jürgen, Luthers Wirtschaftsethik, Göttingen, 1992.Quervin, Alfred de, Ruhe und Arbeit. Lohn und Eigentum. Ethik II, 3. Bd. Zollikon/Zürich1956.Rad, Gerhard von, Theologie des Alten Testaments, Bd. 1,Bd. 2, 6. Aufl. München1969.Ragaz, Leonhard,<strong>Die</strong> Bibel - eine Deutung. <strong>Die</strong> Urgeschichte / Moses(1947),Neuauflage in vier Bänden, Bd. 1 Fribourg / Brig 1990.Raiser, Konrad, Ökumene im Übergang. Paradigmenwechsel in <strong>der</strong> ökumenischenBewegung, München 1989.Ramminger, Michael, <strong>Die</strong> neoliberale Umwertung <strong>der</strong> Werte, in: Orientierung 61(1997) 201-205.Reformierter Weltbund, Schöpfung und Gerechtigkeit.(Vorbereitungsmaterialienfür die 23. Generalversammlung des Reformierten Weltbundes 1997) abgedrucktin: Reformierte Kirchenzeitung 5/1997, 234-239.Rendtorff, Rolf, Art. <strong>Tora</strong>, in: RGG 3. Aufl. 1962, 950f.Rendtorff, Trutz, <strong>Die</strong> soziale Marktwirtschaft in <strong>der</strong> Perspektive theologischerEthik, in: Ludwig-Erhard-Stiftung (Hg.), <strong>Die</strong> Ethik <strong>der</strong> sozialen Markwirtschaft.Thesen und Anfragen, Stuttgart 1988.Rendtorff, Trutz, <strong>Die</strong> Kirchen und die soziale Marktwirtschaft, in: F. von Auer u.F. <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland. Kirchen und Gewerkschaftengemeinsam für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität, Bochum1998, 31-38.Rendtorff, Trutz, Gemeinwohl und Eigennutz - Perspektiven für den Dialog zwischenKirche und Wirtschaft, in: Paul Bocklet u. Gerhard Fels u. Hartmut Löwe(Hg.), Der Gesellschaft verpflichtet. Kirche und Wirtschaft im Dialog, Köln 1994,145-164.Rendtorff, Trutz, Historische Bibelwissenschaft und Theologie. Ihr Verhältnis imZusammenhang des neuzeitlichen Christentums, in: H.J. Birkner u. D. Rößler(Hg.), Beiträge zur Theorie des neuzeitlichen Christentums, Berlin 1968, 72-90.Rich, Arthur, Wirtschaftsethik. Grundlagen in theologischer Perspektive, Bd.1,Gütersloh 1984.Rich, Arthur, Wirtschaftsethik. Marktwirtschaft, Planwirtschaft, Weltwirtschaftaus sozialethischer Sicht, Bd.2, Gütersloh, 1991.Richard, Pablo, <strong>Die</strong> Anwesenheit und Offenbarung Gottes in <strong>der</strong> Welt <strong>der</strong> Unterdrückten,in: Concilium 28 (1992) 299-306.Riedel, Manfred, Norm und Werturteil. Grundprobleme <strong>der</strong> Ethik, Stuttgart 1979.456


Rieth, Ricardo, „Habsucht‟ bei Martin Luther. Ökonomisches und theologischesDenken, Tradition und soziale Wirklichkeit im Zeitalter <strong>der</strong> Reformation, Weimar1996.Rifkin, Jeremy, Das Ende <strong>der</strong> Arbeit und ihre Zukunft, 3. Aufl. Frankfurt 1996.Riley, Maria, <strong>Die</strong> Rezeption <strong>der</strong> katholischen Soziallehre bei christlichen Feministinnen,in: Concilium 27 (1991) 420-430.Rin<strong>der</strong>spacher, Jürgen, Warum nicht auch mal sonntags arbeiten? In: Karl -Wilhelm Dahm, u.a. (Hg.), Sonntags nie? <strong>Die</strong> Zukunft des Wochenendes,Frankfurt / New York 1989, 13-42.Robinson, Gnana, Das Jobel-Jahr. <strong>Die</strong> Lösung einer sozial-ökonomischen Krisedes Volkes Gottes, in: D.R. Daniels u.a. (Hg.), Ernten, was man sät, FS K. Koch,Neunkirchen 1991, 471-494.Robra, Martin, Ökumenische Sozialethik, Gütersloh 1994.Röpke, Wilhelm, Jenseits von Angebot und Nachfrage, 4. Aufl. Erlenbach-Zürich1966.Rostovtzeff, Michael, Wirtschaft und Gesellschaft im römischen Kaiserreich, 2Bde., Leipzig 1929.Rottlän<strong>der</strong>, Peter, Option für die Armen. Erneuerung <strong>der</strong> Weltkirche und Umbruch<strong>der</strong> Theologie, in: Mystik und Politik. Theologie im Ringen um Geschichteund Gesellschaft. Festschrift für Johann Baptist Metz, Mainz 1988.Rottlän<strong>der</strong>, Peter, Ordnungsethik statt Handlungsethik, in: Orientierung 60(1996) 165-171.Rudoph, R., Joel - Amos - Obadja - Jona. Kommentar zum alten Testament, Bd.13/2 Gütersloh 1971.Ruh, Hans, Gerechtigkeitstheorien, in: A.Wil<strong>der</strong>muth u. A.Jäger (Hg.), Gerechtigkeit.Themen <strong>der</strong> Sozialethik, Tübingen 1981, 55-69.Ruh, Hans, Recht auf Arbeit, in: Frank von Auer u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), GerechtigkeitsfähigesDeutschland. Kirchen und Gewerkschaften gemeinsam füreine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität, Bochum 1998, 99-104.Rüstow, Alexan<strong>der</strong>, Das Versagen des Wirtschaftsliberalismus als religionsgeschichtlichesProblem,(Istanbuler Schriften Nr. 12) Istanbul / Zürich / New York1945.Rüstow, Alexan<strong>der</strong>, Paläoliberalismus, Kollektivismus und Neoliberalismus in<strong>der</strong> Wirtschafts- und Sozialordnung, in: Christentum und Liberalismus. Studienund Berichte <strong>der</strong> katholischen Akademie in Bayern, Heft 13, München 1960,149-178.Rüstow, Alexan<strong>der</strong>, Rede und Antwort, Ludwigsburg 1963.Rüstow, Alexan<strong>der</strong>, Wirtschaft als <strong>Die</strong>nerin <strong>der</strong> Menschlichkeit, in: <strong>der</strong>s., Redeund Antwort, Ludwigsburg 1963, 76-91.457


Rüstow, Alexan<strong>der</strong>, Wirtschaftspolitik und Moral, in: <strong>der</strong>s., Rede und Antwort,Ludwigsburg 1963, 9-29.Rüstow, Alexan<strong>der</strong>, Zwischen Kapitalismus und Kommunismus, in: ORDO.Jahrbuch für die Ordnung von Wirtschaft und Gesellschaft, Bd. 2, o.O. 1949,100-169. (Auch abgedruckt in: Rüstow, Alexan<strong>der</strong>, Zwischen Kapitalismus undKommunismus, Godesberg 1949).Saeboe, M., Art. Tor, in: THAT, Bd.I.,4. durchgeseh. Aufl. München 1984, Sp.836-838.Samuelson, Paul - A., Volkswirtschaftslehre, 2 Bd., Köln 1981.Schaller, Berndt, Jesus und <strong>der</strong> Sabbat, <strong>Franz</strong>-Delitzsch-Vorlesung 1992, Münster1994.Schelkshorn, Hans, Diskursethik und lateinamerikanische Befreiungsethik. ZweiVarianten universalistischer Ethik, in: Walter Lesch u. Alberto Bondolfi (Hg.),Theologische Ethik im Diskurs. Eine Einführung, Tübingen 1995, 237-255.Schelkshorn, Hans, Ethik <strong>der</strong> Befreiung. Einführung in die PhilosophieE.Dussels, Wien 1992.Schmid, Josef, Wohlfahrtstaaten im Vergleich. Soziale Sicherungssysteme inEuropa. Organisation, Finanzierung, Leistungen und Probleme, Opladen 1996.Schlecht, Otto, Begriffsverfälschung. Der Neoliberalismus ist besser als seinRuf. In: Evangelische Kommentare 10 / 1998, 596f.Schmidt, Werner H., Gott II. Altes Testament, in: TRE Bd. 13, 608-626.Schottroff, Luise u. Stegemann, Wolfgang, Jesus von Nazareth - Hoffnung <strong>der</strong>Armen, Stuttgart, Berlin 1978.Schottroff, Luise, “... du hast sie uns gleichgestellt.” (Mt 20,15) <strong>Die</strong> Arbeit imWeinberg und <strong>der</strong> patriarchale Mythos vom Familieneinkommen, in: Kuno Füsselu. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”Arbeitsbuch zu Bibel und Ökumene, Luzern / Salzburg 1995, 205-225.Schottroff, Luise, Das Sabbatjahr und das Grundrecht auf Arbeit, in: dies., Suchetmich bei meinen Kin<strong>der</strong>n. Bibelauslegung im Alltag einer bedrohten Welt,München 1986, 18-26.Schottroff, Willy, Das Gleichnis von den bösen Weingärtnern (Mk 12,1-9 parr.).Ein Beitrag zur Geschichte <strong>der</strong> Bodenpacht in Palästina, in: Zeitschrift desdeutschen Palästina-Vereins 112 (1996) 18-48.Schottroff, Luise, “Habgierig sein - das heißt den Götzen dienen”(Eph 5,5). Kritikan <strong>der</strong> Habsucht als theologische Analyse, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>(Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zuBibel und Ökumene, Luzern / Salzburg 1995, 168-178.Schrö<strong>der</strong>, Heinz, Jesus und das Geld. Wirtschaftskommentar zum Neuen Testament,3. erw. Aufl. Karlsruhe 1981.Schulz, Siegfried, Neutestamentliche Ethik, Zürich 1987.458


Schumacher, Oliver, <strong>Die</strong> Republik <strong>der</strong> entzweiten Erben, in: DIE ZEIT Nr. 47vom 14.11.1997, 41.Schwantes, Milton, Das Land kann seine Worte nicht ertragen. Meditationen zuAmos, München 1991.Schwarz, Gerhard, Marktwirtschaft ohne Wenn und Aber, in: Detmar Doering, u.Fritz Flizar (Hg.), Freiheit: <strong>Die</strong> unbequeme Idee, Stuttgart 1995,117-135.Schwegler, Theodor, Familie, Gesellschaft und Wirtschaft nach dem mosaischenGesetz und den Propheten. Wissenschaftliche Beilage zum Jahresbericht<strong>der</strong> Stiftsschule Einsiedeln 1934/35.Schweizer Bischofskonferenz u. Schweizerischer Evangelischer Kirchenbund,Welche Zukunft wollen wir? Diskussionsgrundlage für eine ökumenische Konsultationzur sozialen und wirtschaftlichen Zukunft <strong>der</strong> Schweiz, Bern/Freiburg1998.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, “... eine gewissermaßen adjektivlose Marktwirtschaft ist ein Irrglaube.”Das Evangelium des Neoliberalismus, in: Martin Huhn u. Walter Sohnu. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. Beiträge zum WirtschaftsundSozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Bochum 1997, 21-32.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, “... im Gottesdienst hat nicht nur <strong>der</strong> Choral, son<strong>der</strong>n auch <strong>der</strong>Schrei <strong>der</strong> Armen seinen Platz.” Zu einer Spiritualität <strong>der</strong> Gerechtigkeit von Mystikund Politik, in: Martin Huhn u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> u. Walter Sohn (Hg.), Gerechtigkeitist unteilbar. Beiträge zum Wirtschafts- und Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Bochum1997, 43-48.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, “... und alle aßen und wurden satt.” (Mt 14,20) Meditation zu einerbiblischen Ökonomie des Genug - o<strong>der</strong>: Teilen macht satt, in: Kuno Füsselu. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökumene, Luzern / Salzburg 1995, 97-105.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, “Den Wohlstand aller zu för<strong>der</strong>n ...” Zur Wirtschaftsethik desEG-Binnenmarkt-Projekts `92, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 34 (1990)265-274.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, “Ich will größere Scheunen bauen.” (Lk 12,18) Genug durchGerechtigkeit und die Sorge um Gerechtigkeit, in: Kuno Füssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>(Hg.), “ ... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zuBibel und Ökumene, Luzern /Salzburg 1995, 105-114.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” (Jes26,9) Bibel - Ökonomie - Ethik, in: Kuno Füssel, u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... solernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.” Ein Arbeitsbuch zu Bibel undÖkumene, Luzern/Salzburg 1995, 287 - 330.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Alle Tage ist kein Werktag, in: Deutscher Evangelische Kirchentag.Kirchentag „89. Materialien und Berichte, München 1989, 125-130.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, <strong>Die</strong> Arbeit hat Vorrang vor dem Kapital. <strong>Die</strong> Enzyklika “Über diemenschliche Arbeit” von Johannes Paul II., in: Neue Stimme 1/1982, 12-15.459


<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Der Götze Markt und die Religion <strong>der</strong> Ware,in: Reformierte Kirchenzeitung138(1997)115-221.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, <strong>Die</strong> Praxis <strong>der</strong> Gewerkschaftsbewegung reflektieren. Zu einerWirtschaftsethik am Ort <strong>der</strong> Arbeit. In: kda. Kirchlicher <strong>Die</strong>nst in <strong>der</strong> Arbeitswelt.Zeitschrift für evangelische Arbeitnehmer, Bad Boll Nr. 1 / Februar 1990, 15f.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Eine Ewigkeit für ein Parfüm. <strong>Die</strong> Götter des Himmels tauchenals Idole des Marktes wie<strong>der</strong> auf, in: Junge Kirche (58) 1997, Heft , 200-208.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Eine Welt. <strong>Hausordnung</strong> für den globalen Markt, in: Frank vonAuer u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Markt und Menschlichkeit. Kirchliche und gewerkschaftlicheBeiträge zur Erneuerung <strong>der</strong> Sozialen Marktwirtschaft, Reinbek1995, 285-308.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Gott gegen Gott. Zur Religion des Alltags im Kapitalismus (imErscheinen).<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Kult <strong>der</strong> Ware. <strong>Die</strong> Religion des Marktes unter theologischerKritik, in: Evangelische Kommentare 4/1997, 212-214.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Markt und Teilhabe, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 36(1992) 194-196.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Ökumene auf <strong>der</strong> Bremsspur? Zum Sozialwort <strong>der</strong> Kirchen, in:epd-Dokumentation Nr. 16 vom 10.4.1995, 31-36.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Rheinischer Kapitalismus o<strong>der</strong> Neoliberalismus? “... <strong>der</strong> regulativenIdee <strong>der</strong> Gerechtigkeit Abschied geben.”, in: Martin Huhn u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong>u. Walter Sohn (Hg.), Gerechtigkeit ist unteilbar. Beiträge zum Wirtschafts- undSozialwort <strong>der</strong> Kirchen, Bochum 1997, 11-16.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Soziale Marktwirtschaft - Lösung o<strong>der</strong> Teil <strong>der</strong> Krise? In: <strong>Die</strong>Kehrseite <strong>der</strong> Medaille. Ein Glaubensbrief über die Wirtschaft von christlichenGruppen und Organisationen aus den Nie<strong>der</strong>landen, Nachwort zur deutschenAusgabe, Texte und Materialien <strong>der</strong> Forschungsstätte <strong>der</strong> Evangelischen Studiengemeinschaft,Reihe B Nr. 23, Heidelberg 1995, 68 - 81.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Streik und Aussperrung sind nicht gleichzusetzen. Eine sozialethischeBewertung, Köln 1986.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Traditionslinien des sozialen Protestantismus, in: KlausHeienbrok u. Hartmut Prybylski u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Protestantische Wirtschaftsethikund Reform des Kapitalismus. 100 Jahre Evangelisch-sozialerKongreß, SWI-Materialien Heft Nr. 6, Bochum 1991, 30-36.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Von Amerika heißt nicht, siegen lernen, in: Frank von Auer u.<strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), Gerechtigkeitsfähiges Deutschland. Kirchen und Gewerkschaftengemeinsam für eine Zukunft in Gerechtigkeit und Solidarität, Bochum1998, 57-66.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Wende, die wir meinen. Der Vorrang <strong>der</strong> Arbeit in <strong>der</strong> SozialenzyklikaLaborem exercens, in: Neue Stimme 4/1984, 14-16.460


<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Wenn die Dogmen des Marktes wackeln. Der EG Binnenmarktin <strong>der</strong> Krise, in: <strong>Die</strong> Kirchen und Europa. Herausfor<strong>der</strong>ungen, Perspektiven, Luzern1993, 141-162.<strong>Segbers</strong>, <strong>Franz</strong>, Wi<strong>der</strong> den Götzen Markt. Athen und Jerusalem im Erbe, in: WillibaldJacob u. Jakob Moneta u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), <strong>Die</strong> Religion des Kapitalismus.<strong>Die</strong> gesellschaftlichen Auswirkungen des totalen Marktes, Luzern 1996,70-85.Senghaas-Knobloch, Eva u. Nagler, Brigitte, u.a.(Hg.), Zukunft <strong>der</strong> industriellenArbeitskultur. Persönliche Sinnansprüche und Gruppenarbeit, Münster 1996..Simonis, Ernst Ulrich, Ökologischer Imperativ und privates Eigentum, WissenschaftszentrumBerlin, Berlin 1996.Smith, Adam, Der Wohlstand <strong>der</strong> Nationen. Eine Untersuchung seiner Naturund seiner Ursachen. Aus dem Englischen übertragen und mit einer umfassendenWürdigung herausgegeben von Horst Claus Recktenwald, 6. Aufl. München1978.Smith, Adam, Theorie <strong>der</strong> ethischen Gefühle, bearbeitet nach <strong>der</strong> letzten Ausgabevon H.G. Schachtschnabel, Frankfurt 1949.Sobrino, Jon, <strong>Die</strong> Gewalt <strong>der</strong> Ungerechtigkeit, in: Concilium 1997/4, 477-486.Sölle, Dorothee, Lieben und Arbeiten. Eine Theologie <strong>der</strong> Schöpfung. Stuttgart1985.Soros, George, <strong>Die</strong> kapitalistische Bedrohung, in: DIE ZEIT Nr. 4 vom 17. Januar1997, 25.Spermann, A., Das Bürgergeld-ein sozial- und beschäftigungspolitisches Wun<strong>der</strong>mittel?In: Sozialer Fortschritt, Heft 4/1994, 105-111.Spiegel, Yorick, Wirtschaftsethik und Wirtschaftsspraxis - ein wachsen<strong>der</strong> Wi<strong>der</strong>spruch?Göttingen 1992.Spiegel, Yorick, Wirtschaftsethische Leitlinien - ein Vergleich, in: WolfgangMarhold u. Michael Schibilsky (Hg.), Ethik - Wirtschaft - Kirche. Verantwortungin <strong>der</strong> Industriegesellschaft, Düsseldorf 1991, 141-160.Spier, Erich, Der Sabbat, 2. durchgesehene und ergänzte Aufl. Berlin 1992.Stegemann, Ekkehard W., Stegemann, Wolfgang, Urchristliche Sozialgeschichte.<strong>Die</strong> Anfänge im Judentum und die Christusgemeinden in <strong>der</strong> mediterranenWelt, Stuttgart, Berlin, Köln 1995.Steger, Ulrich, Konsens ohne Wert, in: <strong>Die</strong> Zeit vom 8.9.1995, 26.Stegmann, Josef, Neoliberalismus - Soziale Marktwirtschaft, in: <strong>der</strong>s., <strong>Die</strong> KatholischeKirche in <strong>der</strong> Sozialgeschichte. <strong>Die</strong> Gegenwart, München/Wien, 1983,9-28.Stöhr, Martin, Biblische Gerechtigkeit und soziale Gerechtigkeit, in: Pastoraltheologie84 (1995) 544-550.461


Stolz, F., Art. sbt=aufhören, ruhen, THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München1984, Sp. 863-869.Strecker, Georg, Strukturen einer neutestamentlichen Ethik, in: ZthK 75(1978)117-146.Strohm, Theodor, “Eigentum in Arbeitnehmerhand” im Lichte <strong>der</strong> evangelischenSozialethik, in: Kirchenamt <strong>der</strong> EKD, Sekretariat <strong>der</strong> Deutschen Bischofskonferenz(Hg.), Beteiligung am Produktivvermögen, Bonn / Hannover 1993, 117-135.Strohm, Theodor, Christliche Wirtschaftsethik vor neuen Aufgaben, Festgabe fürArthur Rich, Zürich 1980.Stübinger, Ewald, Wirtschaftsethik I, II., in: Zeitschrift für evangelische Ethik 40(1996) 148ff.; 226ff.;Stückelberger, Christoph, Umwelt und Entwicklung, Eine sozialethische Orientierung,Göttingen 1997.Sung, Jung Mo, Das Böse in <strong>der</strong> Ideologie des freien Marktes, in: Concilium 33(1997) 606-614.Tawny, R.H., Religion und Frühkapitalismus, Bern 1946.Thiel, Winfried, <strong>Die</strong> soziale Entwicklung Israels in vorstaatlicher Zeit, 2. durchgeseheneund ergänzte Aufl. Neukirchen - Vlyun 1985.Thielicke, Helmuth, Zu Gast auf einem schönen Stern. Erinnerungen, Hamburg1984.Thiessen, Rudolf, Kapitalismus als Religion, in: Prokla. Zeitschrift für kritischeSozialwissenschaft, Heft 96, 24 (1994) Nr. 3, 400-418.Tödt, Heinz Eduard, Versuch einer ethischen Theorie sittlicher Urteilsfindung, in:<strong>der</strong>s., Perspektiven theologischer Ethik, München 1988, 21-48.Tracy, David, Der Exodus. Eine theologische Überlegung, in: Concilium 23(1987) 77-81.Troeltsch, Ernst, <strong>Die</strong> Soziallehren <strong>der</strong> christlichen Kirchen und Gruppen (1912)Bd. 1, Bd. 2, Neudruck - Tübingen 1994.Uhlenbrock, Wolfgang, <strong>Die</strong> Restschuldbefreiung nach dem Regierungsentwurfeiner Insolvenzordnung, in: Deutsche Gerichtsvollzieher - Zeitung (107) 1992,Nr. 33, 39ff.Uhlhorn, Gerhard, Katholizismus und Protestantismus gegenüber <strong>der</strong> socialenFrage (1887), in: G. Uhlhorn, Schriften zur Sozialethik und Diakonie, Hannover1990.Ulrich, Hans G., Zur Einführung: Theologische Verständigung über Ethik, in:<strong>der</strong>s. (Hg.), Evangelische Ethik. Diskussionsbeiträge zu ihrer Grundlegung undihren Aufgaben, München 1990, 9-41.462


Ulrich, Peter, Arbeitspolitik jenseits des neoliberalen Ökonomismus - das Kernstückeiner lebensdienlichen Sozialpolitik, in: Jahrbuch für christliche Sozialwissenschaften38 (1997) 136-152.Ulrich, Peter, Integrative Wirtschaftsethik. Grundlagen einer lebensdienlichenÖkonomie, 2. Auflage Bern /Stuttgart/Wien.Ulrich, Peter, Moral in <strong>der</strong> Marktwirtschaft, in: Evangelische Kommentare2/1992, 89f.Ulrich, Peter, Transformation <strong>der</strong> ökonomischen Vernunft. Fortschrittsperspektiven<strong>der</strong> mo<strong>der</strong>nen Industriegesellschaft, 3. Aufl. Bern/Stuttgart/Wien 1993.Ulrich, Peter, Thielmann, Ulrich, Wie denken Manager über Markt und Moral? In:Josef Wieland (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft, Frankfurt1993, 54-91.United Church of Christ (UCC), Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit(Erklärung), Hrsg. von <strong>der</strong> Ev. Akademie Iserlohn 1989.United Church of Christ (UCC), Christlicher Glaube: Wirtschaftsleben und Gerechtigkeit,in: epd -Dokumentation, Nr. 13/1988.Unser Glaube. <strong>Die</strong> Bekenntnisschriften <strong>der</strong> evangelisch-lutherischen Kirche. ImAuftrag <strong>der</strong> Kirchenleitung <strong>der</strong> VELKD hg. vom Lutherischen Kirchenamt, 2. Aufl.Gütersloh 1987.US-Hirtenbrief, Gegen Unmenschlichkeit in <strong>der</strong> Wirtschaft. Der Hirtenbrief <strong>der</strong>katholischen Bischöfe <strong>der</strong> USA “Wirtschaftliche Gerechtigkeit für alle”. Ausdeutscher Sicht kommentiert von Friedhelm Hengsbach, Freiburg 1987.Veerkamp, Ton, “Der Sabbat ist für den Menschen da ...” (Mk 2,27) In: KunoFüssel u. <strong>Franz</strong> <strong>Segbers</strong> (Hg.), “... so lernen die Völker des Erdkreises Gerechtigkeit.”Ein Arbeitsbuch zu Bibel und Ökonomie, Luzern/Salzburg 1995, 226-239.Veerkamp, Ton, Autonomie und Egalität. Ökonomie, Politik und Ideologie in <strong>der</strong>Schrift, Berlin, 1992.Vidal, Marie, Le Juif Jésus et le Shabbat. Une lecture de l‟Évangile à la lumièrede la <strong>Tora</strong>h, Paris 1997.Vogelstein, H., Landwirtschaft in Palästina zur Zeit <strong>der</strong> Mischna, Auguraldiss.Breslau 1894.Volf, Miroslav, Zukunft <strong>der</strong> Arbeit. Arbeit <strong>der</strong> Zukunft. Der Arbeitsbegriff bei KarlMarx und seine theologische Wertung, München / Mainz 1988.Wagner, Falk, Geld o<strong>der</strong> Gott? Zur Geldbestimmtheit <strong>der</strong> kulturellen und religiösenLebenswelt, Stuttgart 1984.Wagner, Falk, Zwischen Autoritätsanspruch und Krise des Schriftprinzips, in:<strong>der</strong>s., Zur gegenwärtigen Lage des Protestantismus, Gütersloh 1995, 47-67.Walter, Norbert, Ethik + Effizienz = Marktwirtschaft, in: Roland Baa<strong>der</strong> (Hg.),Wi<strong>der</strong> die Wohlfahrtsdiktatur. Zehn liberale Stimmen, Gräfelfing 1995, 67-86.Walzer, Michael, Exodus und Revolution, Berlin 1988.463


Weber, Max, <strong>Die</strong> protestantische Ethik und <strong>der</strong> Geist des Kapitalismus, in: <strong>der</strong>s.,Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, Bd.I, 2. Aufl. Tübingen 1922.Weber, Max, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie (1921), Bd.III. ,7.Aufl. Tübingen 1983.Weber, Max, Wirtschaft und Gesellschaft, 5. Aufl. Tübingen 1980.Weimer, Wolfram, Das Teilen und die Moral <strong>der</strong> Märkte. Wirtschaftsleitartikel,in: FAZ Nr. 299 vom 24.12.1993, 9.Weinberger, Otto, <strong>Die</strong> Wirtschaftsphilosophie des Alten Testaments, Wien1948.Weizman, Ezer, Mit dem Rucksack <strong>der</strong> Erinnerungen und dem Stab meinerHoffnung, in: FR Nr. 14 vom 17.1.1996, 14.Weizsäcker, Ernst Ulrich von, Erdpolitik. Ökologische Realpolitik an <strong>der</strong> Schwellezum Jahrhun<strong>der</strong>t <strong>der</strong> Umwelt, 4. akt. Aufl. Darmstadt 1994.Welker, Michael, Erwartungssicherheit und Freiheit. Zur Neuformulierung <strong>der</strong>Lehre von gesetz und Evangelium, in: Evangelische Kommentare 18 (1995)680-683 (Teil 1); <strong>der</strong>s., Erbarmen und Identität, in: Evangelische Kommentare19 (1986) 39-42 (Teil 2).Welker, Michael, Gesetz und Geist, in: Jahrbuch für Biblische Theologie 4, “Gesetz”als Thema Biblischer Theologie, Neukirchen-Vluyn 1989, 215-229.Welker, Michael, Gottes Geist. Theologie des Heiligen Geistes, Neukirchen-Vluyn 1992.Wendland, Hans - <strong>Die</strong>trich, Ethik des Neuen Testaments, NTD-Ergänzungsreihe4, Göttingen 1970.Westermann, Claus, Genesis, Kap. 1-11, BK, Bd.1/1, 3. Aufl. Neukirchen-Vluyn1983.Westermann, Claus, Schöpfung,. Stuttgart 1971.Wieland, Josef, “Option für die Armen”? Grenzübergänge <strong>der</strong> Sozialethik, in:Zeitschrift für evangelische Ethik 40 (1996) 57-66.Wieland, Josef, <strong>Die</strong> Ethik <strong>der</strong> Wirtschaft als Problem lokaler und konstitutionellerGerechtigkeit, in: <strong>der</strong>s. (Hg.), Wirtschaftsethik und Theorie <strong>der</strong> Gesellschaft,Frankfurt 1993, 7-31.Wildberger, H., säläm = Abbild, in: THAT, Bd. II., 3. durchgeseh. Aufl. München1984, Sp. 556-563.Winter, Martin, Art. Lohn, I. Neues Testament, TRE Bd. 21, 447-449.Wolff, Hans Walter, Anthropologie des Alten Testaments, München 1973.Wolff, Hans Walter, <strong>Die</strong> Stunde des Amos, Prophetie und Protest, München1969.Wolff; Hans Walter, Dodekapropheton 2 Joel und Amos, BK, Bd 14/2, Neukirchen-Vluyn 1969.464


Wünsch, Georg, Art. Lohn- und Lohnsystem: II.Ethisch, in: RGG 2. Aufl. Bd. III,1716f.Wünsch, Georg, Evangelische Wirtschaftsethik, Tübingen 1927.Zenger, Erich, Priesterschrift, TRE, Bd. 27, 435-446.Zukunftsfähiges Deutschland. Ein Beitrag zu einer global nachhaltigen Entwicklung,hg. von BUND und Misereor, Basel 1996.465

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!