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NEU GUINEA Vorstofi in die Vergangenheit - Stichting Papua Erfgoed

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<strong>NEU</strong><br />

<strong>GUINEA</strong>


Bruno Baumann<br />

<strong>NEU</strong><br />

<strong>GUINEA</strong><br />

<strong>Vorstofi</strong> <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Vergangenheit</strong><br />

ORAC


Me<strong>in</strong>er GroBmutter gewidmet,<br />

<strong>die</strong> mir das Tor zu e<strong>in</strong>er geheimnisvoUen Welt aufgestoBen hat.<br />

Die Karten zeichnete Wilhelm Wagner<br />

ISBN 3-7O15-OOO5-3<br />

Copyright © 1985 by Verlag Orac, Wien<br />

Mie Rechte vorbehalten<br />

Schutzumschlag: Gottfried Moritz<br />

Lektorat: Leo Mazakar<strong>in</strong>i<br />

3atz: Bernhard Computertext, Wien<br />

Druck: Wiener Verlag, Himberg bei Wien


Inhaltsverzeichnis<br />

VorstoB <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Vergangenheit</strong><br />

Pygmaen und <strong>Papua</strong>s<br />

Po Anim! — Die Knallmanner kommen<br />

Die geteilte Insel<br />

Traum und Wirklichkeit<br />

FluBfahrt am Sepik<br />

Shangri-La<br />

Die Dani<br />

lm GroBen Tal<br />

Die ErschlieBung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

Carstensz-Tagebuch<br />

Die Insel der Drachen<br />

Der Dank des Autors<br />

Literaturverzeichnis<br />

7<br />

10<br />

14<br />

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181


VorstoB <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

<strong>Vergangenheit</strong><br />

Es ist bereits Abend, als wir an den FluB gelangen. Die Sonne ist langst h<strong>in</strong>ter den<br />

Berggipfeln verschwunden, und <strong>die</strong> Hitze des Tages macht allmahlich der Kühle<br />

der Nacht Platz.<br />

Das Dorf, das wir noch vor E<strong>in</strong>bruch der Dunkelheit erreichen wollen, heiBt Kumuniki<br />

und liegt e<strong>in</strong> Stück fluBaufwarts, genau an der E<strong>in</strong>mündung des Melagi <strong>in</strong><br />

den Tiom. Die Siedlung kündigt sich schon seit langem an: An Stelle des Urwaldes<br />

treten schachbrettartig angelegte Gartenkulturen. Immer haufiger mussen wir Lattenzaune<br />

überklettern; sie unterteilen <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Parzellen; s<strong>in</strong>d weniger dazu<br />

da, um <strong>die</strong> Besitzgrenzen abzustecken, als vielmehr, um <strong>die</strong> herumstreunenden<br />

Schwe<strong>in</strong>e von den Feldern fernzuhalten.<br />

Doch an <strong>die</strong>sem Tag liegt merkwürdige Stille über dem Land. Die Acker sche<strong>in</strong>en<br />

verlassen, und so sehr wir auch nach deren Besitzern Ausschau halten, unsere Bemühung<br />

bleibt erfolglos. Wir vermissen <strong>die</strong> Frauen, <strong>die</strong> sich für gewöhnlich den<br />

ganzen Tag über auf den Feldern aufhalten und erst spatabends mit prall gefüllten<br />

Tragnetzen nach Hause ziehen. Ke<strong>in</strong> „Orang Koteka", ke<strong>in</strong> Penisfutteraltrager,<br />

steht am Wegesrand, um uns mit freundlichem „Wah, Wah, Wah..." zu begrü-<br />

Ben; ke<strong>in</strong>e larmende K<strong>in</strong>derschar begleitet uns.<br />

Erst <strong>in</strong> unmittelbarer Nahe des Dorf es treffen wir auf E<strong>in</strong>geborene. Es s<strong>in</strong>d kle<strong>in</strong>e<br />

Gruppen; Marnier und Frauen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> seltsam gebückter Haltung und mit traurigen<br />

Gesichtern an uns vorüberziehen. Wir begleiten sie bis zum Dorfe<strong>in</strong>gang, erfahren,<br />

dafl e<strong>in</strong> unerwarteter Todesfall <strong>die</strong> Dorfgeme<strong>in</strong>schaft erschüttert. Vorbereitungen<br />

für <strong>die</strong> „Kanggerak-Zeremonie" (= Verbrennung), <strong>die</strong> am darauffolgenden Tag<br />

stattf<strong>in</strong>den soll, s<strong>in</strong>d voll im Gange.<br />

Als wir durch den engen Durchschlupf <strong>in</strong>s Innere des Dorfes treten, f<strong>in</strong>den wir den<br />

GroBteil der Bevölkerung versammelt. HerzzerreiBendes Klagen erfüllt den Platz.<br />

Die <strong>Papua</strong>s haben das „Ie jogwe", ihren traditionellen Klagegesang, angestimmt.<br />

Die „Trauergeme<strong>in</strong>de" steht <strong>in</strong> zwei Gruppen e<strong>in</strong>ander gegenüber. Da s<strong>in</strong>d ausschlieBlich<br />

Manner, <strong>die</strong> rund um e<strong>in</strong> Feuer sitzen, das vor dem Mannerhaus lodert.<br />

Die Gesichter s<strong>in</strong>d dem Dorfe<strong>in</strong>gang zugewandt, an dem sich <strong>die</strong> zweite Gruppe,<br />

<strong>die</strong> ankommenden Trauergaste, versammelt. E<strong>in</strong>e Zeitlang stehen <strong>die</strong> beiden<br />

Gruppen e<strong>in</strong>ander gegenüber. Das Klagen der Manner am Feuer wird lauter, <strong>in</strong>tensiver;<br />

Tranen flieBen über ihre harten Gesichter. Noch verharrt <strong>die</strong> Gruppe am<br />

E<strong>in</strong>gang bewegungslos. Es sche<strong>in</strong>t, als würden sie meditieren.<br />

Me<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geborenen Begleiter aus Wamena ziehen sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Ecke der Dorfarena<br />

zurück. Ich tue es ihnen gleich, um <strong>die</strong>se e<strong>in</strong>malige Stimmung nicht zu storen.<br />

Wieder verstreichen M<strong>in</strong>uten, <strong>in</strong> denen das Wehklagen der Manner am Feuer heftiger<br />

wird. Plötzlich spr<strong>in</strong>gt der Funke auch auf <strong>die</strong> anderen über. Die bisher Un-<br />

7


Vorstoji <strong>in</strong> <strong>die</strong> <strong>Vergangenheit</strong><br />

beteiligten überkommt ebenfalls tiefe Trauer. lm Augenblick höchster Erregung<br />

treffen <strong>die</strong> beiden Grappen <strong>in</strong> der Dorfmitte aufe<strong>in</strong>ander. Alle, Manner und<br />

Frauen, begrüfien e<strong>in</strong>ander auf landesübliche Art. Dabei hakt man zwei F<strong>in</strong>ger so<br />

e<strong>in</strong>, dafl <strong>die</strong> Glieder beim Ause<strong>in</strong>anderziehen laut knacksen. Zusatzlich umarmen<br />

sie e<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> ihrem Schmerz, versuchen, Trost zu spenden.<br />

Obwohl alles nach e<strong>in</strong>em vorgegebenen Ritual abzulaufen sche<strong>in</strong>t, hat es nichts zu<br />

tun mit gespielter Trauer, auch nicht mit dem Aufsagen stereotyper Beileidsphrasen.<br />

Diese Begegnung strahlt mitreifiende Emotionalitat aus.<br />

Auf ke<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen me<strong>in</strong>er vielen Reisen habe ich Menschen ihren Toten mehr beklagen<br />

sehen als <strong>die</strong>se Gruppe von Ste<strong>in</strong>zeitmenschen. Das ist um so erstaunlicher,<br />

wenn man weifl, wie wenig Gefühle sie <strong>in</strong> anderen Lebensbereichen zeigen. Dabei<br />

s<strong>in</strong>d es besonders Manner, <strong>die</strong> für me<strong>in</strong>e Begriffe offen ihre Gefühle zum Ausdruck<br />

br<strong>in</strong>gen. Manner, <strong>die</strong> gewohnt s<strong>in</strong>d, mit unerbittlicher Harte <strong>die</strong> Gesellschaft<br />

zu dom<strong>in</strong>ieren, sehe ich hier ohne Hemmungen schluchzen und we<strong>in</strong>en. Das<br />

gleiche Ritual wiederholt sich an <strong>die</strong>sem Abend noch mehrmals, und zwar immer<br />

dann, wenn neue Trauergaste ersche<strong>in</strong>en. Nur <strong>die</strong> Akteure vertauschen <strong>die</strong> Rollen,<br />

<strong>die</strong> neu h<strong>in</strong>zugekommenen Manner gesellen sich zur Gruppe am Feuer, und <strong>die</strong><br />

Frauen begeben sich - erstaunlicherweise - <strong>in</strong>s Mannerhaus. Damit gehort <strong>die</strong><br />

Totenfeier wohl zu jenen seltenen Gelegenheiten, an denen <strong>die</strong> Dorfbewohner<br />

weiblichen Geschlechts <strong>die</strong>se tabuisierte Hütte überhaupt betreten dürfen.<br />

Als mich spater e<strong>in</strong>ige <strong>Papua</strong>s zum „honai" (= Mannerhaus) führen und mir erlauben,<br />

e<strong>in</strong>en Bliek h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuwerfen, pralle ich entsetzt zurück. Das fahle Dammerlicht<br />

des Innenraumes bildet den Rahmen für e<strong>in</strong>e gespenstische Szene. Anfangs,<br />

als sich me<strong>in</strong>e Augen noch nicht an das Halbdunkel gewöhnt haben, sehe ich nur<br />

das tote K<strong>in</strong>d, das vom Sche<strong>in</strong> des Feuers schwach beleuchtet wird. Es ist auf Gras<br />

gebettet, Oberkörper und Kopf s<strong>in</strong>d leicht erhöht, mit weit aufgerissenen Augen<br />

sche<strong>in</strong>t es mich anzustarren. Rundherum sitzen dicht gedrangt Frauen und Madchen.<br />

Jene von ihnen, deren Platz sich <strong>in</strong> Reichweite des Leichnams bef<strong>in</strong>det,<br />

trachten unter hysterischem Klagen das tote K<strong>in</strong>d zu berühren. Es hat den Ansche<strong>in</strong>,<br />

als wollten sie versuchen, es aus dem Schlaf zu erwecken. Die e<strong>in</strong>e zieht an<br />

den Be<strong>in</strong>en, e<strong>in</strong>e andere streichelt zartlich <strong>die</strong> Wangen, <strong>die</strong> dritte ergreift <strong>die</strong> Hand,<br />

um sie sanft zu drücken. Allen voran <strong>die</strong> Mutter des kle<strong>in</strong>en Agoluk. Sie will den<br />

Tod ihres Sohnes nicht wahrhaben; immer wieder beugt sie sich we<strong>in</strong>end über den<br />

leblosen Körper. Es ist ihr drittes K<strong>in</strong>d, nach zwei Töchtern der e<strong>in</strong>zige Sohn. Da<br />

<strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Gebiet nach wie vor e<strong>in</strong> zirka fünfjahriges Beischlaftabu<br />

e<strong>in</strong>halten, wie der Altersunterschied der K<strong>in</strong>der zeigt, wird sie ihrem Mann wohl<br />

ke<strong>in</strong>en mannlichen Nachkommen mehr gebaren. E<strong>in</strong> Manko, das für <strong>die</strong> Frau<br />

noch böse Folgen haben kann.<br />

Der Klagegesang der Frauen dauert <strong>die</strong> ganze Nacht über an - ohne Unterbrechung.<br />

Meist ist es e<strong>in</strong>e Alte, <strong>die</strong> den Text rezitiert, wahrend alle anderen den monotonen<br />

Refra<strong>in</strong> dazu anstimmen. Die Manner verbr<strong>in</strong>gen <strong>die</strong> Nacht ausnahmsweise<br />

<strong>in</strong> den Familienhütten, und erst am darauffolgenden Morgen, als <strong>die</strong> nachsten<br />

Trauergaste ersche<strong>in</strong>en, greifen sie wieder <strong>in</strong>s Geschehen e<strong>in</strong>.<br />

Kurz vor der Verbrennung, <strong>die</strong> um <strong>die</strong> Mittagszeit stattf<strong>in</strong>det, erreicht <strong>die</strong> Klagezeremonie<br />

noch e<strong>in</strong>en letzten Höhepunkt, um dann langsam auszukl<strong>in</strong>gen. Der Akt<br />

s


Uralte Totenbrauche<br />

der Verbrennung selbst ist bereits stark gekennzeichnet von den Veranderungen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> traditionelle Kultur unter den E<strong>in</strong>flüssen von Mission und Verwaltung allerorts<br />

erfaBt. Die rituelle Verstümmelung als Zeichen der Trauer und zur Versöhnung<br />

der Totengeister ist von den <strong>in</strong>donesischen Behörden unter Strafe gestellt.<br />

Auf Brauche, wie das Beschmieren des Körpers mit Lehm und verschiedene Formen<br />

von Geister- und Fetischverehrung, muB unter dem Druck des baptistischen<br />

Missionars aus dem benachbarten Tiom verzichtet werden.<br />

Geblieben aber ist der alte Glaube an <strong>die</strong> Todesursache. Es steht für sie auBer<br />

Zweifel, daB e<strong>in</strong> böser Geist <strong>die</strong> Seele des K<strong>in</strong>des „gegessen" hat. „Es war nynggirak",<br />

gesteht mir e<strong>in</strong> alter Mann. Sie glauben also, das K<strong>in</strong>d starb durch Schwarze<br />

Magie. Die Frauen verdachtigen <strong>die</strong> Manner. Die Manner ihrerseits halten generell<br />

alle Frauen der Schwarzen Magie kundig.<br />

Zu den Überresten uralter Totenbrauche gehort auch <strong>die</strong> Klagezeremonie. Die ungewöhnliche<br />

Intensitat und <strong>die</strong> Tatsache, daB sich alle gleichermaBen daran beteiligen,<br />

beweist, daB sie aus e<strong>in</strong>er Zeit stammt, <strong>in</strong> der der frühe Tod e<strong>in</strong>es Menschen<br />

e<strong>in</strong>en schweren Schock für <strong>die</strong> Geme<strong>in</strong>schaft bedeutete, eventuell sogar das Überleben<br />

der Gruppe <strong>in</strong> Frage stellte.<br />

Das eben Erlebte berührt mich seltsam. Mich bee<strong>in</strong>druckt vor allem <strong>die</strong> Solidaritat<br />

und <strong>die</strong> starken B<strong>in</strong>dungen <strong>in</strong>nerhalb der Dorfgeme<strong>in</strong>schaft. E<strong>in</strong> Vergleich mit unserer<br />

Kultur drangt sich förmlich auf. Dabei wird mir wieder e<strong>in</strong>mal bewuBt, wie<br />

sehr wir unseren materiellen Reichtum mit e<strong>in</strong>er Verarmung auf anderen Gebieten,<br />

vor allem <strong>in</strong> menschlichen Bereichen, teuer bezahlen mussen.<br />

Aber was wissen wir schon von <strong>die</strong>sen Menschen, von ihrem Denken und Fühlen?<br />

Wir können zwar Brauche beschreiben, vergleichen und analysieren, ihre Mythen<br />

bestenfalls übersetzen und <strong>in</strong>terpretieren, aber das pulsierende Leben e<strong>in</strong>zufangen,<br />

es nachzuvollziehen oder gar daran teilzuhaben, vermogen wir nicht. Hier stoBen<br />

wir auf unsere Grenzen, hier bleiben wir ausgeschlossen als Abendlander, Rationalisten<br />

und Christen. Der Weg zu ihrem Denken ist uns versperrt, wir haben den<br />

Draht zu mythisch-magischen Empf<strong>in</strong>dungen verloren, vielleicht s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Traume<br />

der letzte Rest <strong>die</strong>ser e<strong>in</strong>stigen Fahigkeit. Dennoch bleibt e<strong>in</strong>e Reise nach Neugu<strong>in</strong>ea<br />

e<strong>in</strong> Erlebnis besonderer Art, gewissermaBen e<strong>in</strong>e Reise <strong>in</strong> das Fremde <strong>in</strong> uns<br />

selbst, <strong>in</strong> unsere eigene <strong>Vergangenheit</strong>, vielleicht e<strong>in</strong> letzter Bliek <strong>in</strong>s Para<strong>die</strong>s.<br />

Wahrend <strong>in</strong> der zivilisierten Welt <strong>die</strong> Zukunft bereits begonnen hat, hat im Hochland<br />

von Irian Jaya <strong>die</strong> <strong>Vergangenheit</strong> noch nicht auf gehort. Es ist wohl <strong>die</strong> allerletzte<br />

Möglichkeit auf unserer Erde, Ste<strong>in</strong>zeit noch „live" zu erleben. Ich habe <strong>die</strong>se<br />

Insel und ihre Bewohner kennen und lieben gelernt. Sie wurde Teil me<strong>in</strong>es Lebens,<br />

Denkens und Handelns; me<strong>in</strong>e tiefsten Erlebnisse s<strong>in</strong>d damit verbunden.<br />

Wann immer sich mir e<strong>in</strong>e Möglichkeit bot, b<strong>in</strong> ich <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea gewesen. In<br />

e<strong>in</strong>em Zeitraum von sechs Jahren habe ich weite Teile der Insel durchforscht. Hier<br />

berichte ich von me<strong>in</strong>en Erlebnissen beim Anmarsch und der Besteigung des Carstenszgebirges,<br />

bei e<strong>in</strong>er Befahrung des Sepik mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>baum, bei der Erkundung<br />

des Baliem von se<strong>in</strong>em Oberlauf bis tief h<strong>in</strong>unter <strong>in</strong> <strong>die</strong> Schlucht... und von<br />

manch anderem Abenteuer.<br />

Das gröBte Abenteuer aber ist <strong>die</strong> Begegnung mit Menschen e<strong>in</strong>er langst vergangenen<br />

Welt: <strong>die</strong> Begegnung mit liebenswerten Zeitgenossen.<br />

9


Pygmaen und<br />

<strong>Papua</strong>s<br />

Als unendlich langer grüner Streifen hebt sich <strong>die</strong> Kuste des riesigen Landes vom<br />

umgebenden Wasser am Horizont ab. Still und friedlich liegt das Meer unter der<br />

heifien, tropischen Sonne. Ke<strong>in</strong> W<strong>in</strong>dhauch regt sich an <strong>die</strong>sem Tag. E<strong>in</strong> seltener<br />

Augenblick im zumeist ungehemmten Toben der Elemente, <strong>die</strong> sich an der Kuste<br />

Neugu<strong>in</strong>eas entladen.<br />

Noch ungewöhnlicher aber s<strong>in</strong>d Dutzende schmaler E<strong>in</strong>baume, <strong>die</strong> sich langsam<br />

dem Uferstreifen nahern. Dunkelhautige, kle<strong>in</strong>wüchsige Menschen sitzen dar<strong>in</strong>, alte<br />

und junge, Marnier und Frauen. Die kraftigsten von ihnen betatigen <strong>die</strong> Paddel,<br />

<strong>die</strong> erfahrenen Alten navigieren.<br />

Schon lange vorher hatten sie das unbekannte „Festland" von ihren Wohnplatzen<br />

ausgemacht, oft neugierig und sehnsuchtsvoll den Bliek dorth<strong>in</strong> gerichtet, aber <strong>die</strong><br />

Wasserbarriere schien unüberw<strong>in</strong>dlich. E<strong>in</strong>ige hatten bereits versucht, das trennende<br />

Meer zu überqueren, doch immer wieder muBten sie umkehren.<br />

Diesmal aber wissen sie, daB es gel<strong>in</strong>gen wird! Langsam kommen sie der Kuste naher.<br />

So weit das Auge reicht, breiten sich Urwalder aus, <strong>die</strong> förmlich <strong>in</strong>s Meer h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>greifen<br />

und den schmalen Sandstrand zu verschl<strong>in</strong>gen drohen.<br />

Nun ziehen sie <strong>die</strong> Paddel aus dem Wasser. Ke<strong>in</strong>er von ihnen bewegt sich mehr,<br />

aber Hunderte Augenpaare suchen den Küstenstreifen ab. Doch nichts Verdachtiges<br />

regt sich, ke<strong>in</strong> Laut, der e<strong>in</strong>e Gefahr ankündigt, ist zu horen. Nur das e<strong>in</strong>tönige<br />

rhythmische Gerausch der Brandung.<br />

Endlich ziehen sie ihre E<strong>in</strong>baume ans sandige, flache Ufer und steigen aus den<br />

schaukelnden Booten. Die Marnier ergreifen ihre Pfeile und Bogen und schreiten<br />

entschlossen dem „Land" entgegen, das nun ihre neue Heimat werden sollte.<br />

So oder so ahnlich könnte sich <strong>die</strong> Besiedlung Neugu<strong>in</strong>eas abgespielt haben, im<br />

Dunkel der Frühzeit, m<strong>in</strong>destens dreiBigtausend Jahre vor unserer Zeitrechnung.<br />

Vielleicht ahnten sie bereits, daJJ sie <strong>die</strong> ersten Bewohner der Insel waren, doch<br />

welche unbekannten Gefahren auf sie lauerten und welche neuen Erfahrungen im<br />

taglichen Kampf ums Überleben sie erwarteten, wuBten sie nicht.<br />

Das Wissen um das starkehaltige Mark der Sagopalme dürften sie schon aus ihrer<br />

Inselheimat mitgebracht haben. Vielleicht kannten sie auch bereits <strong>die</strong> Pandanusfrucht.<br />

Aber vieles war neu, das sie nun auf ihren Jagdzügen bis tief <strong>in</strong>s Innere der<br />

Insel entdeckten oder erlernten. Manche von ihnen besiedelten e<strong>in</strong>zelne Taler des<br />

Berglandes, wo sie ihr Leben an <strong>die</strong> neuen Umweltbed<strong>in</strong>gungen anpaBten und fortan<br />

Tausende Jahre ohne jeglichen Kontakt mit anderen Völkerri blieben. Die Tapiro-Pygmaen<br />

im Süden von Irian Jaya und <strong>die</strong> Ayom im nordwestlichen Hochland<br />

von <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> letzten Nachkommen <strong>die</strong>ser Ure<strong>in</strong>wohner.<br />

Auch <strong>die</strong> Sprache veranderte sich im Laufe der Zeit; es entstanden eigene Dialekte,<br />

10


Erlebter Mythos und Dase<strong>in</strong>sbewaltigung<br />

<strong>die</strong> sich stark vone<strong>in</strong>ander unterschieden. Unter den Stammesbrüdern von e<strong>in</strong>st,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong> geme<strong>in</strong>sames Herkunftsland verband, war bald ke<strong>in</strong>e Kommunikation<br />

mehr möglich.<br />

Wie viele <strong>die</strong>ser kle<strong>in</strong>wüchsigen Jager und Sammler <strong>die</strong> Insel erreichten, woher sie<br />

genau gekommen waren, bleibt im Dunkel der <strong>Vergangenheit</strong> verborgen. Nur e<strong>in</strong>es<br />

ist gewiB: Mit dem Ende der letzten Eiszeit endete der Zustrom. Denn durch das<br />

abschmelzende Eis auf der Nordhalbkugel hob sich der Meeresspiegel und liefi <strong>die</strong><br />

umliegenden Eilande und Landbrücken im Wasser vers<strong>in</strong>ken.<br />

Wieder verg<strong>in</strong>gen viele tausend Jahre, <strong>in</strong> denen <strong>die</strong> Natur ihren Gesetzen folgte.<br />

Nichts veranderte sich, nichts wurde verandert. Wenige Menschen teilten sich <strong>die</strong><br />

riesige Insel. Ihr Leben war der natürlichen Umwelt optimal angepaflt, ihre Bedürfnisse<br />

waren ger<strong>in</strong>g, aggressive Ause<strong>in</strong>andersetzungen selten. Weswegen auch?<br />

Niemand besaB mehr als der andere, niemandem konnte man etwas wegnehmen.<br />

Denn alles, was sie hatten, gab <strong>die</strong> Natur; und <strong>die</strong>se war allen zuganglich.<br />

Doch der Augenblick kam, an dem sich aufs neue Menschen der Insel naherten.<br />

Diesmal jedoch vom Nordwesten her. Mit hochseetüchtigen Auslegerbooten und<br />

guten nautischen Kenntnissen waren sie imstande, gröBere Strecken auf offener<br />

See zurückzulegen. Sie führten auf ihrer Entdeckungsfahrt domestizierte Tiere<br />

mit, Hund und Schwe<strong>in</strong> etwa, und kannten bereits den Anbau von Knollenfrüchten.<br />

Dem Aussehen nach waren sie Abkömml<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>er Mischrasse - der <strong>Papua</strong>s<br />

-, deren auffalligstes Merkmal das Kraushaar ist. Sie ergriffen vorerst von den<br />

Küstenregionen Besitz; spater stieBen sie entlang der FluBlaufe auch <strong>in</strong>s Innere vor<br />

und besiedelten <strong>die</strong> groBen Taler.<br />

Wo immer sie auf <strong>die</strong> Urbevölkerung stieBen, wich <strong>die</strong>se zurück oder vermischte<br />

sich mit den Neuankömml<strong>in</strong>gen. Im Hochland errichteten <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s feste Wohnplatze.<br />

Mit ihrem Hauptwerkzeug - dem Walzenbeil - war es ihnen möglich, Urwalder<br />

zu roden. Auf den so gewonnenen Flachen pflanzten sie SüBkartoffeln. In<br />

den sumpfigen Schwemmlandern und FluBniederungen dagegen war <strong>die</strong> Sagogew<strong>in</strong>nung<br />

Grundlage für Überleben und Gedeihen der Geme<strong>in</strong>schaft.<br />

Neue Gesetze muBten geschaffen werden, angepaBt an <strong>die</strong> veranderte Lebenssituation.<br />

Damals mussen sich jene religiös-magischen Vorstellungen entwickelt haben,<br />

<strong>die</strong> spater zu Mythen verschmolzen. Sie berichten von Begebenheiten aus grauer<br />

Urzeit, von der Schöpfung des Lebens und von den Taten der Kulturheroen. Aber<br />

erst der gelebte Mythos konnte dem Menschen <strong>in</strong> der Dase<strong>in</strong>sbewaltigung helfen.<br />

Nur durch standiges Nachvollziehen, Wiederholen und Erneuern solcher von der<br />

Mythologie überlieferten Begebenheiten war immerwahrende Fruchtbarkeit und<br />

damit e<strong>in</strong> Überleben der Gruppe sicher. Kopfjagd und Kannibalismus gehörten<br />

ebenso dazu wie orgiastische Feste und Opfer.<br />

Am ehesten können wir <strong>die</strong> Vorgange <strong>die</strong>ser mythenbildenden Zeit verstehen,<br />

wenn wir versuchen, uns <strong>in</strong> <strong>die</strong> Situation der Menschen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen. Im<br />

gleichbleibenden Rhythmus, jahre<strong>in</strong>, jahraus, vergehen <strong>die</strong> Tage unter der Tropensonne<br />

Neugu<strong>in</strong>eas. Die meiste Zeit des Tages verbr<strong>in</strong>gen <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s mit Nahrungssuche.<br />

Aber <strong>in</strong> den langen Nachten sitzen sie am Feuer und grübeln, sprechen über<br />

ihre Angste und all das, was sie nicht zu erklaren vermogen. Krankheit und Tod<br />

machen ihnen besonders ihre Ohnmacht bewuBt. Wie viele Nachte mogen sie wohl<br />

n


Pygmaen und <strong>Papua</strong>s<br />

verbracht haben, um über <strong>die</strong> Ursache des Sterbens nachzudenken? Bei ihrer genauen<br />

Beobachtung der Umwelt ist es ihnen nicht entgangen, daB <strong>die</strong> Schlange <strong>die</strong><br />

Fahigkeit besitzt, sich zu hauten und damit, im Gegensatz zum Menschen, sche<strong>in</strong>bar<br />

ewiges Leben besitzt. Der Gedankensprung zur Geschichte vom „Vogel und<br />

der Schlange" ist nicht mehr weit. Es ist der Mythos, der bei den Dani im Hochland<br />

von Irian Jaya seit Generationen überliefert wird.<br />

Die Dani glauben namlich, daB ihre Vorfahren e<strong>in</strong>st der Erde entstiegen. Zuerst<br />

bohrten sie e<strong>in</strong> Loch zur Oberflache, und e<strong>in</strong>er nach dem anderen kroch durch <strong>die</strong>ses<br />

aus der Dunkelheit des Erd<strong>in</strong>neren ans Licht. Danach kam <strong>die</strong> Schlange, <strong>die</strong><br />

das Loch vergröBerte, um ihren langen Körper herauszuw<strong>in</strong>den. Jedesmal wenn<br />

sich <strong>die</strong> Schlange hautete, schien aus ihrem toten Körper e<strong>in</strong> neuer, glanzender zu<br />

kommen.<br />

Sie war also unsterblich, sie besafi das Geheimnis ewigen Lebens. Dieses Geheimnis<br />

gab sie den Menschen weiter, so daB auch <strong>die</strong>se ihre Haut abstreifen konnten<br />

und ebenfalls ewiges Leben besaBen.<br />

Als <strong>die</strong> Dani aus dem Erdloch hervorgekrochen waren, versammelten sie sich um<br />

<strong>die</strong> Schlange, wollten ihre Unsterblichkeit empfangen. Da erschallte plötzlich e<strong>in</strong><br />

ihnen fremder Schrei: „Pirigoobit, Pirigoobit." Sie bekamen Angst, und mit der<br />

Angst begann auch der ProzeB des Todes. Die Schlange konnte ihnen nicht mehr<br />

langer ewiges Leben verleihen. Als sie aufschauten, erblickten sie den Vogel, der<br />

den Schrei ausgestoBen hatte, und sie wurden sich ihrer Angst bewuBt wie auch deren<br />

Konsequenz, den Verlust der Unsterblichkeit.<br />

Jeder Tote bedeutete für <strong>die</strong> Gruppe e<strong>in</strong>en schweren Verlust, e<strong>in</strong>e Schwachung der<br />

Geme<strong>in</strong>schaft. Besonders, wenn es sich um e<strong>in</strong>en starken, erfahrenen Mann handelte.<br />

Verstorbene waren nicht mehr <strong>die</strong> bloB Dah<strong>in</strong>gegangenen, <strong>die</strong> Verblichenen, sondern<br />

Ahnen, denen man über den Tod h<strong>in</strong>aus Verehrung zollte. Warum sollte man<br />

nicht versuchen, <strong>die</strong> Lücke, <strong>die</strong> das Ableben wertvoller Mitglieder der Gruppe aufgerissen<br />

hatte, wieder zu füllen? Wie aber konnte man <strong>die</strong> Lebenskraft der Toten<br />

konservieren, sie auf <strong>die</strong> Überlebenden übertragen? Was lag naher, als den Kopf,<br />

der als Sitz besonderer Krafte angesehen wurde, zu praparieren, an ausgewahlten<br />

Orten aufzubewahren, gleichsam als kostbaren Schatz und Unterpfand für Fruchtbarkeit<br />

und Gedeihen des Stammes?<br />

E<strong>in</strong>e noch gröBere Wirkung konnte man erwarten, wenn man den Kopf e<strong>in</strong>es<br />

Fremden erbeutete. Doch <strong>die</strong>s war schwierig und gefahrlich. E<strong>in</strong> derartiges Vorhaben<br />

konnte nur <strong>in</strong> der Gruppe gewagt werden. Vielfaltige Rituale und magische<br />

Beschwörungen waren notwendig, um sich <strong>die</strong> Unterstützung der machtigen Ahnen<br />

und Geister zu holen, aber auch, um <strong>die</strong> „Opfer" zu schwachen. E<strong>in</strong>e erfolgreiche<br />

Kopfjagd erhöhte <strong>die</strong> Kraft der gesamten Stammesgeme<strong>in</strong>schaft und wurde<br />

vielfach als Voraussetzung für Fruchtbarkeit angesehen. Erst der Tod e<strong>in</strong>es Menschen<br />

schuf neues Leben.<br />

Ungeschriebene Gesetze und Tabus regelten das Zusammenleben. Sie waren nicht<br />

das Ergebnis rationaler Überlegungen, sondern weit zurückreichender Erfahrung.<br />

Ihre Mythen waren nicht totes, vergangenes Gedankengut, sie lebten und muBten<br />

12


Die Zeit steht still<br />

immer wieder nachvollzogen und neu belebt werden. Sie erfüllten somit e<strong>in</strong>e reale<br />

Funktion im Leben der Gruppe.<br />

Jahrhunderte, Jahrtausende haben <strong>die</strong> Vater <strong>die</strong>ses „Wissen" ihren Söhnen weitervermittelt.<br />

Es wurde zur Richtl<strong>in</strong>ie ihres Denkens und Handelns, ihrer Moral und<br />

ihrer Wertvorstellungen. Das Ziel im Leben war nicht, mehr zu wissen und zu besitzen<br />

als <strong>die</strong> Vater, sondern höchstens gleichviel. E<strong>in</strong>e solche E<strong>in</strong>stellung gewahrt<br />

Sicherheit und Kont<strong>in</strong>uitat, ist Garant für das Überleben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er geheimnisvollen<br />

Welt. Nicht <strong>die</strong> Natur sich untertan zu machen war ihr Bestreben, sondern ihr so<br />

gut wie möglich angepaBt zu se<strong>in</strong>.<br />

Ke<strong>in</strong>e Erf<strong>in</strong>dung wurde gemacht, <strong>die</strong> auBerhalb des Lebensnotwendigen lag. Dafür<br />

entwickelten sie erstaunliche psychische Fahigkeiten, <strong>die</strong> <strong>in</strong> seltsamem Kontrast zu<br />

ihrer „armen" materiellen Kultur stehen.<br />

Wissenschaft und Fortschritt haben <strong>in</strong> Europa zu unermeBlichem materiellem<br />

Reichtum geführt. Technische Errungenschaften haben zweifellos das Leben der<br />

Menschen erleichtert, aber auch ungeahnte Vernichtungswaffen geschaffen. Aus<br />

Machtstreben und Habgier wurden Kriege entfesselt, Völker unterjocht und dezimiert.<br />

Das Verhaltnis Mensch - Natur ist zutiefst fe<strong>in</strong>dselig geworden. Rücksichtslose<br />

E<strong>in</strong>griffe haben der natürlichen Umwelt schwere Wunden zugefügt und<br />

das ökologische Gleichgewicht empf<strong>in</strong>dlich gestort.<br />

In Neugu<strong>in</strong>ea dagegen hat sich nichts Wesentliches verandert, <strong>die</strong> Zeit sche<strong>in</strong>t stillgestanden<br />

zu se<strong>in</strong>. Für <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s hatte „Fortschritt" ihren Anschauungen von der<br />

Allmacht der Natur widersprochen.<br />

Aus der Sicht e<strong>in</strong>es Europaers mag zwar ihr Weltbild widersprüchlich, lückenhaft<br />

und naiv ersche<strong>in</strong>en, mag ihre „materielle" Kultur primitiv se<strong>in</strong>. Für sie hat sich<br />

ihre Form des Dase<strong>in</strong>s als richtig erwiesen - der Stamm hat überlebt...<br />

13


Po Anim! - Die<br />

Knallmanner<br />

kommen<br />

„Das Morgengrauen kam langsam. Der Sonne fehlte <strong>die</strong> Kraft, <strong>die</strong> dunklen<br />

Schleier der Nacht zu zerstreuen. SchlieBlich brach der Tag an, aber <strong>die</strong> runde,<br />

strahlenlose Sonne zeigte sich durch den Nebel, den sie nicht auflösen konnte, als<br />

scharlachrote Scheibe. Nach und nach erschienen Land und Urwald, aber über allem<br />

lag weiterh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> undurchdr<strong>in</strong>glicher Nebel.<br />

Wahrend wir naB und zitternd darauf warteten, aufbrechen zu können, kreisten<br />

fünf groBe Habichte bald nah, bald fem wie Nachtgespenster durch <strong>die</strong> Luft über<br />

unseren Köpfen. Ich sagte: ,Diese Habichte s<strong>in</strong>d Vorboten e<strong>in</strong>es BlutvergieBens;<br />

sie haben bereits Leichengeruch gewittert.'<br />

Nachdem wir im Nebel etwa fünf Meilen weit gedampft waren, rief der Ausguck:<br />

,Kanu voraus!' Ich sah h<strong>in</strong> und erkannte etwa siebzig Marnier <strong>in</strong> ihren Kanus; sie<br />

waren mit Pfeilen und Bogen bewaffnet, machten teuflischen Larm, griffen uns an<br />

und versuchten, uns den Weg zu versperren. Wir fuhren so schnell wie möglich<br />

zum l<strong>in</strong>ken Ufer h<strong>in</strong>über und versuchten weiterzufahren, ohne zu verwunden oder<br />

verwundet zu werden, aber sobald sie <strong>in</strong> PfeilschuBweite kamen, begannen sie, auf<br />

<strong>die</strong> ,Neva' ihre Pfeile abzuschiefien.<br />

Nur e<strong>in</strong> Kanu, das mit e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zelnen Mann besetzt war, kam <strong>in</strong> <strong>die</strong> Reichweite<br />

unserer Gewehre. Er legte se<strong>in</strong> Paddel aus der Hand und griff nach se<strong>in</strong>em Bogen;<br />

der Pfeil g<strong>in</strong>g über me<strong>in</strong>en Kopf h<strong>in</strong>weg. Nach drei Gewehrschüssen stürzte er <strong>in</strong><br />

den Flufi und versank."<br />

Diese Zeilen stammen aus der Feder des Italieners Luigi D'Albertis. Er war e<strong>in</strong>er<br />

der ersten Europaer, der e<strong>in</strong>e gröBere Strecke <strong>in</strong>s Innere Neugu<strong>in</strong>eas zurücklegte.<br />

Die Er<strong>in</strong>nerungen an se<strong>in</strong>e Abenteuer am Fly River (heute <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea) lie-<br />

Ben ihn noch am Schreibtisch erzittern, als er se<strong>in</strong>e Tagebücher auswertete. D'Albertis'<br />

Interesse galt <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie der Flora und Fauna. Zur Erreichung se<strong>in</strong>er<br />

Ziele war er <strong>in</strong> der Wahl der Mittel nicht zimperlich. Auf der Suche nach neuen<br />

Pflanzen- und Tierarten schreckte er auch nicht zurück, ganze Dörfer auszuplündern.<br />

Ke<strong>in</strong> Wunder also, daB er sich des öfteren gegen angreifende E<strong>in</strong>geborene<br />

zur Wehr setzen muBte. In anderen Fallen war es e<strong>in</strong>fach Unwissenheit des Fremden<br />

gegenüber Tabus und Normen e<strong>in</strong>er anderen Gesellschaft, <strong>die</strong> kritische Situationen<br />

heraufbeschwor. Die folgende Begebenheit aus D'Albertis' Tagebüchern<br />

macht <strong>die</strong>s augensche<strong>in</strong>lich.<br />

„Der Dorfhauptl<strong>in</strong>g heiBt Aira, und ich wurde gegen Abend eiligst <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Haus ge-<br />

14


Kolonialbeamte und Missionare<br />

rufen, wo ich ihn mit e<strong>in</strong>em Speer <strong>in</strong> der Hand antraf. E<strong>in</strong>e groBe Schlange kroch<br />

langsam über den Boden, und Aira machte beschwörende Handbewegungen.<br />

Me<strong>in</strong>e Führer, <strong>die</strong> nicht wuBten, daB <strong>die</strong> Schlange zahm war und Aira gehorte,<br />

versuchten, sie zu toten, bevor ich sie daran h<strong>in</strong>dern konnte. Zum Glück konnte<br />

das Reptil entkommen. Aber Aira schaumte vor Wut und machte se<strong>in</strong>em Zorn dadurch<br />

Luft, daB er mit se<strong>in</strong>em Speer nach e<strong>in</strong>er alten KokosnuB stieB, <strong>die</strong> vor se<strong>in</strong>en<br />

FüBen lag. In <strong>die</strong>sem Augenblick glich er e<strong>in</strong>em schrecklichen und wutentbrannten<br />

Zauberer.<br />

Me<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>geborenen Begleiter waren recht bestürzt, und als <strong>die</strong> Nacht here<strong>in</strong>brach,<br />

scharten sie sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Ecke der Hütte und machten den E<strong>in</strong>druck, als ob sie'<br />

e<strong>in</strong>en Plan ausheckten und sich geme<strong>in</strong>sam gegen mich oder Aira verschwören<br />

wollten.<br />

Mir war klar, daB ich nun handeln muBte, und ich verstreute e<strong>in</strong>e groBe Handvoll<br />

SchieBpulver auf dem Erdboden. E<strong>in</strong>er der <strong>Papua</strong>s, den ich <strong>in</strong>s Vertrauen gezogen<br />

hatte, setzte es <strong>in</strong> Brand, ohne daB jemand merkte, was er tat. Der helle Lichtblitz<br />

und der erstickende Pulverqualm hatten geme<strong>in</strong>sam e<strong>in</strong>e gewaltige Wirkung und<br />

versetzten <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen <strong>in</strong> den von mir erwarteten Schrecken. Als <strong>die</strong> Ruhe<br />

wieder hergestellt zu se<strong>in</strong> schien, begab ich mich <strong>in</strong> Airas Haus und besanftigte se<strong>in</strong>en<br />

Zorn, der sich bereits ziemlich gelegt hatte. Jetzt ist alles still, aber ich halte es<br />

für wenig ratsam, ohne den Revolver an me<strong>in</strong>er Seite zu schlafen."<br />

Abenteurer und Forscher vom Kaliber D'Albertis' unterschieden sich von den<br />

ihnen nachfolgenden Kolonialbeamten und Missionaren vor allem <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er H<strong>in</strong>sicht:<br />

sie waren nicht gekommen, um zu verandern. Dennoch waren sie es, <strong>die</strong> den<br />

ersten Keim für den Untergang vieler Völker gelegt hatten. Ungewollt wurden sie<br />

zu Wegbereitern für Verwaltung und Mission, zu Vorreitern der „Zivilisierung".<br />

Die Taten <strong>die</strong>ser Manner werden heute oft als Pioniertaten verherrlicht: <strong>die</strong> Kultivierung...<br />

Mit Sicherheit würde e<strong>in</strong> <strong>Papua</strong> <strong>die</strong>se anders beurteilen. Für ihn waren<br />

<strong>die</strong>se Erkundungsfahrten ke<strong>in</strong>e Entdeckungen; er lebt ja schon seit urdenklichen<br />

Zeiten dort; aber sie und <strong>die</strong> folgende „Zivilisierung" bedeuten für ihn das Ende<br />

se<strong>in</strong>er Unabhangigkeit, se<strong>in</strong>es traditionellen Glaubens, se<strong>in</strong>er Sitten und se<strong>in</strong>er<br />

Brauche. Es war der erste Zusammenprall mit e<strong>in</strong>er Welt und Kultur, <strong>die</strong> andersartig<br />

war und auBerhalb se<strong>in</strong>es gewohnten Weltbildes stand.<br />

Er hatte <strong>die</strong> Werte, Gesetze und Religion des weiBen Mannes zu akzeptieren,<br />

gleichgültig ob er sie mochte oder überhaupt verstand.<br />

Die Insel wurde erstmals vom Portugiesen Antonio D'Abreu im Jahre 1511 gesichtet.<br />

Doch den Ruhm des Entdeckers trug Jorge de Menezes (1527) davon. Portugal<br />

zeigte ke<strong>in</strong> Interesse, e<strong>in</strong>e Kolonie zu gründen, ebensowenig wie der Nachbar Sparden.<br />

Der Seefahrer Ynigo Ortiz de Retez g<strong>in</strong>g zwar im Jahre 1545 an der Nordküste<br />

an Land und hiBte <strong>die</strong> spanische Flagge, aber auch er segelte wieder ab. Das<br />

Land verhieB weder Gold noch andere Schatze. Nur der Name der Insel blieb; Ynigo<br />

glaubte namlich, zwischen den <strong>Papua</strong>s und den Negern Gu<strong>in</strong>eas an der afrikanischen<br />

Westküste e<strong>in</strong>e Ahnlichkeit festgestellt zu haben und nannte <strong>die</strong> Insel deshalb<br />

Nova Gu<strong>in</strong>e (Neu-Gu<strong>in</strong>ea).<br />

Trotz <strong>die</strong>ser relativ frühen Entdeckung blieb Neugu<strong>in</strong>ea <strong>in</strong> den folgenden Jahrhunderten<br />

unangetastet. E<strong>in</strong>er Kolonialisierung standen <strong>die</strong> weiten Schwemm- und<br />

Ï5


Po Anim! - Die Knallmanner kommen<br />

Sumpflander an den Kusten, <strong>die</strong> nur sparlich Hafenplatze boten, ebenso entgegen<br />

wie <strong>die</strong> kriegerischen Ure<strong>in</strong>wohner.<br />

Erst im 19. Jahrhundert kam es zu e<strong>in</strong>em dramatischen E<strong>in</strong>schnitt <strong>in</strong> der Geschichte<br />

Neugu<strong>in</strong>eas, als namlich <strong>die</strong> Europaer begannen, sich an den Küstenregionen<br />

festzusetzen. Diese Begegnung zwischen <strong>Papua</strong>s und WeiBen war der verhangnisvolle<br />

Auftakt zum schwarzesten Kapitel <strong>in</strong> der Historie der Insel. E<strong>in</strong>e Geschichte,<br />

<strong>die</strong> ausschlieBlich von WeiBen aufgezeichnet ist. E<strong>in</strong>e Geschichte von Taten, <strong>die</strong><br />

- oftmals <strong>in</strong> den Mantel „christlicher Nachstenliebe" gehüllt - heute <strong>in</strong> verstaubten<br />

Archiven ruhen oder verharmlost dargestellt <strong>in</strong> Geschichtsbüchern zu f<strong>in</strong>den<br />

s<strong>in</strong>d. Mit willkürlichen Strichen auf der Landkarte haben Hollander, Briten und<br />

Deutsche das Land untere<strong>in</strong>ander aufgeteilt, zu e<strong>in</strong>em Zeitpunkt, als von der Insel<br />

kaum mehr als der Küstenverlauf bekannt war. Verwaltungsstationen wurden an<br />

strategisch günstigen Platzen errichtet und von dort ausgehend das Land nach<br />

eigenem Ermessen „entwickelt". Dazu gehorte es, <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen „umzuerziehen"<br />

und e<strong>in</strong>er überlegenen europaischen Lebensform zuzuführen. Dies geschah,<br />

wie es hieB, durch geeignete MaBnahmen, etwa durch neue Verordnungen, <strong>die</strong> folgenschwere<br />

E<strong>in</strong>griffe <strong>in</strong> das althergebrachte Leben der <strong>Papua</strong>s bewirkten. Alle<br />

Praktiken und Rituale, <strong>die</strong> dem moralischen oder hygienischen Empf<strong>in</strong>den der<br />

Fremden nicht entsprachen, wurden unter Strafe gestellt. Wo es Widerstand gab,<br />

setzte man <strong>die</strong> neuen Verbote mit Gewalt oder Schocks durch.<br />

Zweifel über <strong>die</strong> Berechtigung derartiger Handlungen kamen nicht auf. Immerh<strong>in</strong><br />

spielte sich all das <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit ab, als der „tödliche Atem" des WeiBen <strong>die</strong> Indianerkulturen<br />

Amerikas bereits vernichtet, <strong>die</strong> Südsee entvölkert und <strong>die</strong> Ure<strong>in</strong>wohner<br />

Tasmaniens ausgerottet hatte.<br />

E<strong>in</strong> Vorgehen gegen <strong>die</strong>se Völker war auch damals schon kaum zu rechtfertigen, es<br />

sei denn, man sprach ihnen <strong>die</strong> elementarsten Menschenrechte ab. Trotzdem versuchte<br />

man <strong>die</strong> kolonialen Ansprüche zu legitimieren. E<strong>in</strong>e für unsere Ohren makabre<br />

Begründung dafür hat der Hauptmann e<strong>in</strong>er deutschen Schutztruppe gefunden.<br />

Er schwarmte: „Das ganze Innere Neugu<strong>in</strong>eas sche<strong>in</strong>t für das Deutschtum<br />

pradest<strong>in</strong>iert zu se<strong>in</strong>. Die drei Hauptfarben, welche <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen herzustellen<br />

wissen, mit denen sie ihre dunkle Hautfarbe anlaBlich von Feierlichkeiten oder<br />

wahrend der Kampfe oder auch, wenn sie auf FreiersfüBen gehen, ,verschönern',<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> deutschen Flaggenfarben" (damals schwarz-weiB-rot).<br />

Nach Ansicht des Hauptmanns haben <strong>in</strong> der deutschen Kolonie geradezu „para<strong>die</strong>sische"<br />

Zustande geherrscht. Denn „jedes Dörfle<strong>in</strong>, jedes Gehöft besaB e<strong>in</strong>e deutsche<br />

Flagge, <strong>die</strong> aufgezogen werden muBte und mit Stolz gehiBt wurde, sobald sich<br />

irgende<strong>in</strong> WeiBer naherte". Mit preuBischer Gründlichkeit und <strong>in</strong> treuer Pflichterfüllung<br />

erfolgte <strong>die</strong> Zivilisierung der „dunkelhautigen Deutschen". Von sauberen<br />

Verwaltungsstationen aus wurden Wege angelegt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Dörfer verbanden.<br />

Aufsichtsorgane übten <strong>die</strong> Kontrolle aus und hielten <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s zu geregelter<br />

Arbeit an. Dies alles war <strong>die</strong> Frucht der „groBartigen Erziehungsarbeit des Sattelberger<br />

Missionars Ch. Keyser".<br />

Wie <strong>die</strong>se Erziehungsarbeit ausgesehen hat, schildert uns unverblümt Hermann<br />

Detzner, Hauptmann der deutschen Schutztruppe. „Jede Verfehlung gegen <strong>die</strong> Sitte,<br />

vor allem jedes Drückertum und Faulenzertum, wird streng geahndet, mit der<br />

16


Die Mayo-Zeremonien<br />

Prügelstrafe und Strafarbeiten auBerhalb der Heimatorte belegt."<br />

Als Krönung der Umerziehung zum Deutschtum wertete der Hauptmann, daB <strong>die</strong><br />

E<strong>in</strong>geborenen es verstanden, <strong>die</strong> schone deutsche Weise „Ich hab mich ergeben mit<br />

Herz und mit Hand" fast fehlerlos abzus<strong>in</strong>gen. Verstandnis für <strong>die</strong> tiefere Tragik<br />

<strong>die</strong>ses Geschehens konnte man bei e<strong>in</strong>em Militar wohl kaum erwarten. Stattdessen<br />

erg<strong>in</strong>g er sich <strong>in</strong> der Schilderung, daB <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s nach se<strong>in</strong>er Ankunft, bis <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Nacht h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, vom groBen und tüchtigen „Kaisa Wihem" erzahlten.<br />

lm niederlandischen Westteil der Insel war <strong>die</strong> Situation nicht viel besser. Mit Verordnungen<br />

wurden <strong>die</strong> Brauche, <strong>die</strong> <strong>die</strong> neuen Herren für grausam hielten oder <strong>die</strong><br />

ihren „sittlichen" MaBstaben nicht entsprachen, e<strong>in</strong>fach verboten.<br />

Das betraf nicht nur Kopfjagd und Kannibalismus, sondern auch Totenkuit und<br />

Initiationsriten. Kopfjagd und Kannibalismus losten gröBte Empörung und Abscheu<br />

aus und wurden deshalb mit besonderer Harte unterdrückt. Man wuBte allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht, dafi Kannibalismus niemals <strong>in</strong> biologisch-profanen Gesetzen, etwa<br />

der Emahrung, se<strong>in</strong>e Erklarung f<strong>in</strong>det, sondern fest <strong>in</strong> der Mythologie verankert<br />

ist und somit von wesentlicher Bedeutung für das kultische Leben, für Fruchtbarkeit<br />

und Gedeihen der betreffenden Gesellschaft.<br />

In <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist es notwendig festzustellen, daB <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Kuituren alle<br />

Aspekte des Lebens untrennbar und unlösbar mite<strong>in</strong>ander verbunden s<strong>in</strong>d. Wo<br />

immer e<strong>in</strong>e Anderung oder e<strong>in</strong> Verfall beg<strong>in</strong>nt - <strong>in</strong> wirtschaftlicher, sozialer oder<br />

religiöser H<strong>in</strong>sicht -, immer wird dadurch <strong>die</strong> Gesamtkultur zerstört. E<strong>in</strong>e schwache,<br />

e<strong>in</strong>e beschadigte, e<strong>in</strong>e vernichtete Stelle genügt meistens, um das Ganze <strong>in</strong>s<br />

Wanken zu br<strong>in</strong>gen. Kopfjagd und Kannibalismus waren nie nur Teilaspekte, sondern<br />

Mittelpunkt des religiösen Lebens; nui als solche hatten sie S<strong>in</strong>n. Dies zeigt<br />

sich besonders deutlich im berühmten Mayo-Kult der Mar<strong>in</strong>d-Anim.<br />

Die Mayo-Zeremonien bestanden aus zwei Teilen: aus sexuellen Orgien und Kannibalismus<br />

e<strong>in</strong>erseits, woran nur <strong>die</strong> alteren, e<strong>in</strong>geweihten Marnier beteiligt waren,<br />

und aus Fruchtbarkeitsriten andererseits, <strong>die</strong>se <strong>in</strong> Zusammenhang mit Feiern für<br />

<strong>die</strong> Heranwachsenden. Natürlich steckte da und dort weit mehr dah<strong>in</strong>ter als bloB<br />

sexuelle und kannibalische Orgien, namlich wieder Mythos und Kult. Erst wurden<br />

<strong>in</strong> getanzten Geschichten alle Praktiken, <strong>die</strong> für e<strong>in</strong> Überleben der Menschen notwendig<br />

waren, vorgeführt. Die jungen Erwachsenen sollten dabei lernen, wie man<br />

Sago zubereitet, Waffen und Werkzeuge herstellt, Feuer macht. Danach traten <strong>die</strong><br />

Demas auf, jene Damonen und mythischen Ahnen, denen <strong>die</strong> Menschen ihre kulturellen<br />

Errungenschaften verdankten und deren fruchtbr<strong>in</strong>gendes Wirken immer<br />

wieder durch den Kult erneuert wurde. Von der richtigen Durchführung <strong>die</strong>ser Riten<br />

h<strong>in</strong>g, wie sie glaubten, weitgehend <strong>die</strong> Fruchtbarkeit ihrer Nahrungspflanzen<br />

ab, <strong>in</strong>sbesondere <strong>die</strong> der Kokos- und Sagopalmen. Die Zeremonien um den Mayo-<br />

Kult dauerten mehrere Tage und erreichten ihren Höhepunkt, wenn Marnier mit<br />

besonderen Kopfbedeckungen auftraten. Deren Anzahl entsprach den Opfern, <strong>die</strong><br />

am Ende des Festes getötet und geme<strong>in</strong>sam verzehrt werden sollten. Die Marnier<br />

ergriffen e<strong>in</strong>es oder mehrere junge Madchen und töteten sie. Die Menschenopfer<br />

wurden anschlieBend verspeist. Blut und Knochen der Getöteten vergruben <strong>die</strong><br />

Mar<strong>in</strong>d-Anim rund um Kokospalmen.<br />

Der Kult ist demnach e<strong>in</strong> Fruchtbarkeitsritus. Der Wunsch nach une<strong>in</strong>geschrankter<br />

1?


Po Anim! - Die Knallmanner kommen<br />

Fruchtbarkeit wurde noch dadurch unterstrichen, daB wahrend der gesamten Zeit<br />

des Mayo-Festes ungezügelte sexuelle Freiheit herrschte.<br />

Auffallend ist <strong>die</strong> besondere Beziehung zwischen Kannibalismus und der Fruchtbarkeit<br />

der Natur, vor allem der Kokospalme, <strong>die</strong> sich schon <strong>in</strong> der Mythe von den<br />

frühesten Mayo-Zeremonien f<strong>in</strong>det.<br />

Als der Mayo-Kult se<strong>in</strong>en Anfang nahm, so erzahlt man, kamen une<strong>in</strong>geweihte<br />

junge Manner h<strong>in</strong>zu und wollten an den Orgien teilnehmen. Sie gesellten sich zu<br />

den „Mayo-iwag", das s<strong>in</strong>d jene Madchen, <strong>die</strong> bei den Zeremonien getötet wurden.<br />

Darüber aufgebracht, vertrieben <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geweihten <strong>die</strong> Jüngeren. Doch <strong>die</strong>se verwandelten<br />

sich rasch <strong>in</strong> schwarze fliegende Hunde und flogen übers Meer davon.<br />

Nachts, wenn <strong>die</strong> Menschen schliefen, kamen sie zurück - mit jungen Kokosnüssen<br />

und -blüten im Maul, <strong>die</strong> sie auf schlafende Leute fallen lieJkn. Danach verwandelten<br />

sie sich <strong>in</strong> Knaben und mischten sich unter <strong>die</strong> Mayo-iwag. Als <strong>die</strong> Leute<br />

am nachsten Morgen erwachten, entdeckten sie all <strong>die</strong> Kokosnüsse und Blüten<br />

am Boden und betrachteten sie kopfschüttelnd, denn sie sahen sie zum ersten Mal<br />

<strong>in</strong> ihrem Leben.<br />

Auch bei den benachbarten Asmat schuf erst <strong>die</strong> Zerstörung von Leben neues<br />

Leben. Die Institution der Kopfjagd war <strong>in</strong> ihrer Gesellschaft wichtigster Teil der<br />

Zeremonien um <strong>die</strong> Aufnahme <strong>in</strong> <strong>die</strong> Mannergesellschaft. Nur wer sich der Gefahr<br />

e<strong>in</strong>er Kopfjagd aussetzte und <strong>die</strong>se auch erfolgreich bestand, wurde als vollwertiges<br />

Mitglied betrachtet und durfte im Yeu (Mannerhaus) Platz nehmen. Auch bei<br />

den Asmat ist <strong>die</strong> Kopfjagd mythologisch begründet.<br />

Der Kulturschöpfer Fumeripitis, e<strong>in</strong> Halbgott, tötete nach langem erbittertem<br />

Kampf e<strong>in</strong> riesiges Krokodil, das versucht hatte, se<strong>in</strong>e Schöpfung, das Yeu-Haus,<br />

zu zerstören. Er zerschnitt das Krokodil <strong>in</strong> Stücke und verstreute <strong>die</strong>se <strong>in</strong> alle Richtungen.<br />

Den Krokodilstücken entsprangen <strong>die</strong> verschiedenen Menschentypen: <strong>die</strong><br />

Schwarzen, <strong>die</strong> Braunen und <strong>die</strong> WeiBen.<br />

Nach dem Glauben der Asmat ist Schöpfung nur möglich, wenn gleichzeitig etwas<br />

zugrunde geht. Der Tod ist Vorbed<strong>in</strong>gung für das Leben. Hier<strong>in</strong> liegt auch <strong>die</strong><br />

Begründung für das der Kopfjagd <strong>in</strong>newohnende Element der Fruchtbarkeit und<br />

deren logische Folge, den Kannibalismus, wodurch <strong>die</strong> Lebenskraft des Opfers e<strong>in</strong>verleibt<br />

werden soll.<br />

Aber solche Begründungen kümmerten <strong>die</strong> WeiBen wenig. Sie erfaBten nur das<br />

profane Geschehen, und das war <strong>in</strong> ihren Augen absolut verdammungswürdig.<br />

Nur wird dabei e<strong>in</strong>es übersehen: <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s haben uns nicht gerufen. Ihre Welt ist<br />

e<strong>in</strong>e andere, und ihre Wertvorstellungen entsprechen nicht unseren. Jede wertende<br />

Betrachtungsweise ist daher s<strong>in</strong>nlos und führt zu nichts.<br />

Nach der Errichtung von Verwaltungsstationen wurden Kopfjagd und Kannibalismus<br />

unterdrückt und, wann immer man davon erfuhr, hart bestraft. Strafexpedi-<br />

1 ionen wurden ausgeschickt, um der „Tater" habhaft zu werden. Die Anklage lautete<br />

auf Mord, und das StrafausmaB betrug e<strong>in</strong>ige Jahre Zwangsarbeit.<br />

„Das Strafsystem", schrieb Richard Semon, „hat sich übrigens auBerordentlich gut<br />

bewahrt. Die Zeit der Strafgefangenschaft ist für viele der Betroffenen zu e<strong>in</strong>er<br />

wahren Bildungszeit geworden!" Heute kann man derartige Satze nur noch als unfreiwilligen<br />

Sarkasmus auffassen, bemerkt Wilhelm Ziehr dazu kritisch. „Wer als<br />

18


Ritual Kopfjagd<br />

freigeborener Mensch für se<strong>in</strong>e Art zu leben bestraft wird, kann nur verzweifeln.<br />

Er verliert <strong>die</strong> Orientierung <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Leben, er weicht zwar der Gewalt, aber se<strong>in</strong>em<br />

Wandel liegt ke<strong>in</strong>e wie auch immer geratene E<strong>in</strong>sicht zugrunde, sondern<br />

Angst."<br />

lm Zuge derartiger Strafexpeditionen lernten <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen auch gleich <strong>die</strong><br />

Doppelzüngigkeit europaischen Rechtsempf<strong>in</strong>dens kennen. Zur Verfolgung der<br />

„straffallig" gewordenen Kopfjager waren <strong>die</strong> Kolonialbehörden vielfach auf <strong>die</strong><br />

Unterstützung durch e<strong>in</strong>heimische Führer und Trager angewiesen. Klugerweise<br />

trachteten sie <strong>die</strong>se aus solchen Dörfern zu rekrutieren, aus denen <strong>die</strong> Opfer der<br />

Kopfjagdüberfalle stammten. Dennoch gelang es nur <strong>in</strong> seltenen Fallen, trotz wertvoller<br />

Geschenke als Lockmittel, E<strong>in</strong>geborene für <strong>die</strong> Sache der Behörden zu gew<strong>in</strong>nen.<br />

Alle<strong>in</strong> schon daran ist zu erkennen, wie wenig Kopfjagd mit Motiven wie etwa der<br />

Rache zu tun hatte.<br />

lm niederlandischen Süden trachtete <strong>die</strong> Verwaltung, <strong>die</strong>sem Umstand dadurch<br />

beizukommen, daB sie im Verlauf der Strafexkursionen den <strong>Papua</strong>s erlaubte, <strong>die</strong><br />

Köpfe der im Kampf Getöteten zu erbeuten. Der Zweck heiligt <strong>die</strong> Mittel; Handlungen,<br />

für <strong>die</strong> jeder E<strong>in</strong>geborene schwer bestraft würde, waren für <strong>die</strong> Behörden<br />

recht und billig. Der hollandische Journalist van Kampen berichtet von e<strong>in</strong>em solchen<br />

Fall, der sich im Gebiet des oberen Digul ereignete. Der Straftrupp im Dienste<br />

der hollandischen Adm<strong>in</strong>istration bestand aus e<strong>in</strong>em jungen Offizier, e<strong>in</strong>igen Ambonesen,<br />

<strong>die</strong> als Mittler zwischen <strong>Papua</strong>s und WeiBen fungierten, und etwa fünfzig<br />

E<strong>in</strong>geborenen. Die <strong>Papua</strong>krieger bemalten ihre Gesichter und trugen, wie bei ihren<br />

traditionellen Kopfjagdzügen, bunten Federschmuck. E<strong>in</strong>e groBe Anzahl noch<br />

nicht e<strong>in</strong>geweihter Jungen begleitete den Zug und schleppte Verpflegung und Waffen<br />

der Erwachsenen. In der Nacht bevor sie das fe<strong>in</strong>dliche Stammesgebiet erreichten,<br />

führten <strong>die</strong> Krieger <strong>die</strong> gewohnten Rituale durch, <strong>die</strong> auch sonst e<strong>in</strong>e Kopfjagd<br />

begleiteten. Als sie am nachsten Morgen <strong>die</strong> Grenzen des fremden Territoriums erreichten,<br />

verweigerten <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s plötzlich, ohne ersichtliche Grimde, den Weitermarsch.<br />

Sie bewegten sich nicht mehr von der Stelle und waren weder durch Zureden<br />

noch durch Androhung von Straf en zu e<strong>in</strong>er S<strong>in</strong>nesanderung bereit. Damit<br />

war <strong>die</strong> ganze Strafexpedition klaglich gescheitert. Doch Dauerlösung bedeutete<br />

<strong>die</strong>s für <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s ke<strong>in</strong>e, denn es folgten andere, erfolgreichere Beutezüge der<br />

WeiBen.<br />

Die Folge war, daB <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen <strong>die</strong> verbotenen Brauche nur mehr im geheimen<br />

durchführten. Die Kopfjagdzüge wurden <strong>in</strong> immer weiter entfernte Gebiete<br />

unternommen. Beim Herannahen hollandischer Patrouillen ergriffen <strong>die</strong> Menschen<br />

<strong>die</strong> Flucht und versuchten, <strong>in</strong> solche Gebiete auszuweichen, <strong>die</strong> noch nicht<br />

unter Kontrolle der Behörden standen. Ganze Stammesgruppen gerieten <strong>in</strong> Bewegung,<br />

ganze Landstriche wurden entvölkert. Wenn sich e<strong>in</strong> WeiBer e<strong>in</strong>em Dorf naherte,<br />

hallte der Schrei „Po-Anim" durch den Busch. Po-Anim bedeutet <strong>in</strong> der<br />

Sprache der Mar<strong>in</strong>d-Anim „Knallmensch". „Po" ist dabei <strong>die</strong> Nachahmung des<br />

Gewehrknalls. Denn <strong>in</strong> jedem WeiBen sahen sie e<strong>in</strong>en Vertreter der Obrigkeit, der<br />

vielleicht von ihren heimlich durchgeführten Brauchen erfahren hatte und nun gekommen<br />

war, über sie Gericht zu halten.<br />

19


Po Anim! - Die Knallmanner kommen<br />

Wie rasch sich <strong>die</strong> Veranderungen vollzogen, konnte der Baseier Völkerkundler<br />

Paul Wirz an Ort und Stelle beobachten. Als er im Jahre 1920 verschiedene Stamme<br />

im Gebiet des Digul besuchte, entg<strong>in</strong>g der Forscher nur mit knapper Not den<br />

Nachstellungen der Kopfjager. Zwei Jahre spater besuchte er <strong>die</strong>selben Dörfer<br />

noch e<strong>in</strong>mal. „Die Leute erkannten mich sogleich wieder, machten aber etwas verlegene<br />

Gesichter, daB sie mich hier wiedersahen. Sie waren kle<strong>in</strong>laut und verdutzt.<br />

Fürchteten sie etwa, daB ich jetzt gekommen sei, um mit ihnen abzurechnen? Aber<br />

wie natten sich <strong>die</strong> Leute verandert! Wo waren <strong>die</strong> prachtigen Gestalten mit den<br />

bemalten Gesichtern und den schmucken Haartrachten? Viele, ja <strong>die</strong> meisten, natten<br />

<strong>die</strong> Haarflechten abgeschnitten und trugen schmutzige, zcfetzte Kleider auf<br />

dem Leib, e<strong>in</strong> Paar Hosen oder e<strong>in</strong>en von Schmutz starrenden Lappen um <strong>die</strong> Lenden.<br />

So waren <strong>die</strong> Leute heruntergekommen und zahm geworden. Vorbei war es<br />

mit der Kopfjagerei! Vorbei mit den Geheimbünden! Vorbei mit den Festen!"<br />

So sehr sich <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen auch den E<strong>in</strong>griffen der Fremdherrschaft zu entziehen<br />

versuchten, lieber ihre Dörfer auflieBen und flüchteten, als <strong>die</strong> überlieferten<br />

Traditionen aufzugeben, so wurden sie doch immer wieder e<strong>in</strong>geholt. Bis sie nicht<br />

mehr flohen und auch nichts mehr zu verbergen hatten - denn der alte Glaube<br />

war tot!<br />

Ersatz dafür gab es freilich nicht; weder e<strong>in</strong> im Schnellverfahren aufgezwungenes<br />

Christentum noch behördlich gelenkte Maf<strong>in</strong>ahmen waren geeignete Mittel, um<br />

den entwurzelten und allen Lebenselans beraubten <strong>Papua</strong>s e<strong>in</strong>en neuen Lebenss<strong>in</strong>n<br />

zu geben. Statt dessen durften sie ihre Fahigkeiten und ihre Geschicklichkeit bei<br />

organisierten Belustigungen für weiBe Gaste der Kolonie zur Schau stellen. Paul<br />

Wirz, der zu Beg<strong>in</strong>n unseres Jahrhunderts <strong>die</strong> Südküste von Hollandisch-Neugu<strong>in</strong>ea<br />

durchstreifte, wurde Augenzeuge solcher Spektakel. Die „gezahmten Kopfjager"<br />

wurden angehalten, allerlei Kunststücke - wie Turnübungen auf Stangen<br />

- auszuführen. Oder sie wurden aufgefordert, ihre Treffsicherheit im Umgang<br />

mit Pfeil und Bogen unter Beweis zu stellen. Man lieB sie auf bestimmte Ziele<br />

schieBen, und wer traf, erhielt als Belohnung Zwieback oder Konfekt. Den e<strong>in</strong>st<br />

freien und stolzen Menschen muBte das wie purer Hohn vorkommen.<br />

Die Methoden, <strong>die</strong> auf Umerziehung der E<strong>in</strong>geborenen und wirtschaftliche Ausbeutung<br />

des Landes abzielten, unterschieden sich <strong>in</strong> den e<strong>in</strong>zelnen Koloniën nur<br />

unwesentlich. Aus der Sicht e<strong>in</strong>es <strong>Papua</strong> war das Verwaltungssystem im britischen<br />

Südosten sicherlich ertraglicher als im niederlandischen Teil der Insel. Die Englander<br />

belieBen namlich <strong>die</strong> traditionell e<strong>in</strong>flufireichen Dorfführer <strong>in</strong> ihrer Funktion,<br />

wahrend <strong>die</strong> Hollander <strong>die</strong>se Posten zumeist an Indonesiër vergaben. Dadurch erwuchs<br />

den <strong>Papua</strong>s e<strong>in</strong>e doppelte Fremdherrschaft, und der Willkür wurde Vorschub<br />

geleistet. Denn <strong>die</strong> Indonesiër verachteten <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen, betrachteten<br />

sich als <strong>die</strong> eigentlichen Herren im Busch und fühlten sich <strong>in</strong> ihren Handlungen weder<br />

den Hollandern noch den <strong>Papua</strong>s verpflichtet.<br />

Nach dem Ersten Weltkrieg übernahm Australien den gesamten Ostteil der Insel<br />

als Völkerbundmandat zur Verwaltung. Die neuen Herren führten <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenenpolitik<br />

ihrer Vorganger beharrlich weiter.<br />

G. W. L. Townsend, e<strong>in</strong> Beamter der Kolonie, berichtet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Memoiren mit<br />

seltener Offenheit, wie er das Sepik-Gebiet mit dem „staatlichen H<strong>in</strong>richtungs-<br />

20


Jagd auf Kopf jager<br />

strick" eroberte. Er fuhr mit e<strong>in</strong>em Regierungsboot den Sepik h<strong>in</strong>auf, besuchte<br />

Dorf um Dorf und verkündete, dafi mit se<strong>in</strong>em Ersche<strong>in</strong>en das Toten von Menschen<br />

und andere Gewalttatigkeiten verboten waren und Zuwiderhandelnde streng<br />

bestraft würden. Für <strong>die</strong>se Worte erntete er überall schallendes Gelachter, denn <strong>die</strong><br />

<strong>Papua</strong>s konnten sich nicht vorstellen, wie e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>zelner Mann sie davon abhalten<br />

könnte, ihre althergebrachten Brauche durchzuführen. Aber das Lachen verg<strong>in</strong>g<br />

ihnen bald. Was sie nicht ahnten, war <strong>die</strong> ungeheure Macht, <strong>die</strong> <strong>die</strong>ser kle<strong>in</strong>e<br />

Mann reprasentierte und <strong>die</strong> es ihm erlaubte, mit ihnen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Ton zu<br />

sprechen.<br />

Mit Hilfe von Polizeitrupps f <strong>in</strong>g er <strong>die</strong> erfolgreichen Kopf jager e<strong>in</strong> und überstellte<br />

sie dem Gericht. Nach angelsachsischem Recht wurde über sie <strong>die</strong> Todesstrafe verhangt.<br />

Aber <strong>die</strong> Richter <strong>in</strong> Rabaul schickten <strong>die</strong> Del<strong>in</strong>quenten, da sie für <strong>die</strong> Vollstreckung<br />

als zu leicht empfunden wurden, zurück nach Ambunti, wo sie Townsend<br />

eigenhandig aufhangte. Der H<strong>in</strong>richtungsstrick, so berichtet Townsend <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em skurrilen Detail, wurde immer aus Australien fabrikneu geliefert und war<br />

deshalb für den Zweck ungeeignet. Er war so elastisch, daB <strong>die</strong> gesunden Nacken<br />

nicht brechen wollten. So kam er auf <strong>die</strong> Idee, den H<strong>in</strong>richtungsstrick so lange als<br />

Schlepptau für das nachziehende Rettungsboot zu verwenden, bis er genug von se<strong>in</strong>er<br />

Dehnbarkeit e<strong>in</strong>gebüJJt hatte, um <strong>die</strong> jungen Kopfjager <strong>in</strong> den Tod zu befördern.<br />

21


Die geteilte Insel<br />

Am 16. September 1975 wurde aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kaiser-Wilhelms-Land<br />

und der australisch verwalteten Kolonie <strong>Papua</strong> der unabhangige Staat<br />

<strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea. Aus e<strong>in</strong>em Land, das jahrtausendelang als gröBte politische<br />

E<strong>in</strong>heit den ZusammenschluB e<strong>in</strong>er Handvoll Dörfer kannte, war damit - jedenfalls<br />

der Papierform nach - e<strong>in</strong>e Nation entstanden. Die gegenwartige <strong>Papua</strong>-Regierung<br />

unter Michael Somare strebt e<strong>in</strong>e an westlichen Industrielandern orientierte<br />

Entwicklung an. Das bedeutet: verstarkte Anstrengungen zur Erschliefiung und<br />

Ausbeutung vorhandener Bodenschatze, Verbesserung der Infrastruktur und Aufbau<br />

des Tourismus. Dieser Weg führt aber gleichzeitig zu vermehrter Abhangigkeit<br />

von westlichen Krediten, Know-how und Technologien, zu e<strong>in</strong>er Öffnung des Landes<br />

für noch nie gekannte Konsumgüter. Die raumliche Nahe zur Industriemacht<br />

Japan und deren starker wirtschaftlicher E<strong>in</strong>fluB ist unverkennbar. Der Sprung<br />

von der Ste<strong>in</strong>zeit <strong>in</strong> <strong>die</strong> Dase<strong>in</strong>sform e<strong>in</strong>er Welt, <strong>die</strong> von Computern und Mikroelektronik<br />

bestimmt wird, vollzieht sich dort <strong>in</strong> wenigen Jahren. Noch ist <strong>die</strong> Kaufkraft<br />

der <strong>Papua</strong>s nicht groB genug, um e<strong>in</strong>en profitablen Markt abzugegeben; vorerst<br />

s<strong>in</strong>d nur „Abfallprodukte" unserer Zivilisation <strong>in</strong> gröBeren Mengen absetzbar.<br />

Aber <strong>die</strong> nötigen Bedürfnisse und Wünsche s<strong>in</strong>d bereits geweckt. Die vage Vorstellung<br />

von künftigen Reichtümern hat unter der Bevölkerung <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>eas zu<br />

e<strong>in</strong>er folgenschweren Mobilitat geführt. Zu Tausenden verlassen <strong>die</strong> Bergbewohner<br />

des Insel<strong>in</strong>neren ihre angestammten Dörfer, <strong>in</strong> denen sie bis dah<strong>in</strong> lebten, e<strong>in</strong>gebettet<br />

<strong>in</strong> Sippe und Dorfgeme<strong>in</strong>schaft, <strong>in</strong> aus Naturstoffen errichteten Hutten,<br />

und ziehen <strong>in</strong> <strong>die</strong> schnell wachsenden Küstenstadte. Dort trifft man sie wieder,<br />

aber <strong>in</strong> welch bedauernswertem Zustand; dah<strong>in</strong>vegetierend <strong>in</strong> elenden, verrosteten<br />

Wellblechhütten, <strong>die</strong> sich wie R<strong>in</strong>ge um <strong>die</strong> „Stadte" legen und rasch wachsen. Die<br />

meisten <strong>die</strong>ser Menschen s<strong>in</strong>d auf gut Glück <strong>in</strong> <strong>die</strong> Stadt gezogen und können ke<strong>in</strong>e<br />

Arbeit f<strong>in</strong>den. Arbeitslosigkeit wiederum hat zur Folge, daB <strong>die</strong> Krim<strong>in</strong>alitat<br />

steigt. Für viele ist Alkohol letzte Zuflucht geworden, und mancher karge Hilfsarbeiterlohn<br />

ist oft schon Monate im voraus <strong>in</strong> Alkohol umgesetzt worden. Das heiBt<br />

nichts anderes als: Vollendung des Kulturverfalls, völlige Entwurzelung und Unterentwicklung.<br />

Was bleibt, ist e<strong>in</strong>e Hoffnung auf e<strong>in</strong>en zweifelhaften Fortschritt,<br />

der im Vergleich mit der ungeheuren Vielfalt der alten Kultur - und mit Seitenblick<br />

auf Stammeskulturen anderer Erdteile, das kann man jetzt schon sagen<br />

- e<strong>in</strong> „Fortschritt <strong>in</strong>s Nichts" se<strong>in</strong> wird.<br />

Überall dort, wo noch Reste traditionellen Lebens vorhanden s<strong>in</strong>d, werden sie touristisch<br />

genutzt. Was ebenfalls e<strong>in</strong>er Vernichtung der Kultur gleichkommt. Denn<br />

niemand wird behaupten können, daB <strong>die</strong> taglich x-te Vorführung e<strong>in</strong>es Tanzes<br />

oder e<strong>in</strong>er Zeremonie noch e<strong>in</strong> „garantiert echtes" Zeugnis unverfalschten Brauchtums<br />

ist. Masken, bemalte Fratzen, Knochenschmuck, Schlamm-Manner, Stammeskrieg<br />

um geraubte Jungfrauen und Menschenfresser s<strong>in</strong>d Reizworte für jeden<br />

abenteuerlustigen Zivilisationsmenschen. Zutreffen sollen sie, so wird versichert,<br />

22


Der kopflose Milliardar<br />

auf <strong>die</strong> Mt.-Hagen-Völkerschau, <strong>die</strong> alljahrlich im Hochland von <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea<br />

über <strong>die</strong> Bühne geht. Was man nicht erfahrt, ist, da/3 das teuer erkaufte<br />

„Abenteuer" mit tausenden anderen Touristen geteilt werden muB, gleichsam mit<br />

Spiegelbildern jener Gesellschaft, aus der man mit Hilfe der „Wilden", wenn auch<br />

nur für kurze Zeit, entfliehen wollte.<br />

E<strong>in</strong> Stacheldraht umgibt den Festplatz, auf dem sich <strong>die</strong> Akteure im Rhythmus der<br />

Trommeln bewegen. Nach der feierlichen Eröffnungsrede des M<strong>in</strong>isters für Tourismus<br />

von e<strong>in</strong>er eigens dafür errichteten Tribune auBerhalb der Stacheldrahtumzaunung<br />

beg<strong>in</strong>nt das Fest. Schon s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Leiber der Krieger mit prachtigen Farbmustern<br />

bemalt, sie haben sie mit der Schulkreide der K<strong>in</strong>der aufgetragen; <strong>die</strong> Para<strong>die</strong>svogelfedern<br />

für den Kopfschmuck s<strong>in</strong>d auf Pappkarton befestigt. Als Höhepunkt<br />

werden <strong>die</strong> Speere rhythmisch geschüttelt, <strong>in</strong> deren hohlen Handgriffen man<br />

<strong>die</strong> Zigarettenpackchen aufbewahrt. „<br />

Wilde Urvölker und fremde Rituale feilzubieten, das zieht offensichtlich immer,<br />

denn <strong>die</strong> Sehnsucht des Menschen nach jungfraulicher Idylle ist unausrottbar. Irgendwo,<br />

irgendwo muB es sie noch geben. Wenn nicht, gibt man sich willig der IIlusion<br />

h<strong>in</strong>.<br />

Irian Jaya, der <strong>in</strong>donesische - westliche - Teil Neugu<strong>in</strong>eas, blieb bis heute von<br />

den Auswirkungen des Massentourismus weitgehend verschont. Nur das Baliem-<br />

Tal und <strong>die</strong> Asmat-Region werden gelegentlich von kle<strong>in</strong>en Reisegruppen, Hobbyvölkerkundlern<br />

und Möchtegernforschern heimgesucht, <strong>die</strong> ihre Unternehmungen<br />

gerne als „Expeditionen" tarnen.<br />

Im Baliem-Tal bleiben <strong>die</strong> Aktivitaten um <strong>die</strong> Blechhüttensiedlung Wamena beschrankt.<br />

Das begehrteste Ziel <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Gegend ist der geraucherte Leichnam e<strong>in</strong>es<br />

Dani-Hauptl<strong>in</strong>gs, den man im Dorf Jiwika, etwa zwei bis drei Gehstunden von<br />

Wamena entfernt, nach „rituelier Geldübergabe" fotografieren darf. Der Weg<br />

dorth<strong>in</strong>, von den Betreffenden zumeist als mörderischer Urwaldtrip bezeichnet, ist<br />

zum Teil e<strong>in</strong> breiter Schotterweg, auf dem regelmaJïig <strong>in</strong>donesische Soldaten, hoch<br />

zu Fahrrad, patrouillieren!<br />

Das zweite, nicht weniger begehrte Reiseziel ist der Lebensraum der Asmat, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

sumpfigen Niederungen der Südküste bewohnen. Ihre kopfjagende <strong>Vergangenheit</strong><br />

ist wohl der Hauptgrund für <strong>die</strong> Besuche der Fremden.<br />

Mit gemieteten zweimotorigen Flugzeugen dr<strong>in</strong>gen <strong>die</strong> „Abenteurer" bis zu den<br />

Verwaltungs- oder Missionsstationen vor, um von dort aus <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen „Kopfjagerdörfer"<br />

mittels Motorbooten aufzusuchen. Besonderer Beliebtheit erfreut sich<br />

das Dorf Otsjanep. Denn hier soll, jedenfalls nach der publicitytrachtigsten Version,<br />

der Amerikaner Michael Rockefeller Opfer e<strong>in</strong>es Kopfjagdüberfalles geworden<br />

se<strong>in</strong>. Obwohl Rockefeller mit gröflter Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit „bloB" ertrunken ist,<br />

als er versuchte, von se<strong>in</strong>em gekenterten Katamaran aus schwimmend <strong>die</strong> Kuste zu<br />

erreichen, so halt sich doch <strong>die</strong> Mar von se<strong>in</strong>em gewaltsamen Ende am langsten.<br />

Trotzdem bleibt gerade Irian Jaya noch e<strong>in</strong>es der wenigen Gebiete, wo kle<strong>in</strong>e Reste<br />

ursprünglicher Stammesvölker, <strong>in</strong> schwer zuganglichen Regionen des Berglandes,<br />

bis heute existieren. Aber jede Hoffnung auf e<strong>in</strong> Überleben ihrer Kultur ist unberechtigt.<br />

Denn mit rasender Geschw<strong>in</strong>digkeit friBt sich <strong>die</strong> Zivilisation durch Urwald<br />

und Busch. Die Missionen erweitern stetig ihren E<strong>in</strong>fluBbereich. H<strong>in</strong>zu<br />

23


Die geteilte Insel<br />

kommt, daB <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s neben der „Zivilisierung" und „Missionierung" auch noch<br />

e<strong>in</strong>e „Indonesierung" erdulden mussen, <strong>die</strong> so vehement vorangetrieben wird, daB<br />

zu befürchten ist, <strong>die</strong>ses kle<strong>in</strong>e Volk werde <strong>in</strong> absehbarer Zeit verschw<strong>in</strong>den. Die<br />

Indonesiër roden <strong>die</strong> Urwalder der <strong>Papua</strong>s und beuten ihre Bodenschatze aus. In<br />

der Nahe von Tempagapura, e<strong>in</strong>er Kupferm<strong>in</strong>e auf der Südseite des Carstenszgebirges,<br />

<strong>die</strong> vom Freeport Indonesia betrieben wird, fand ich ganze Dörfer zerstört<br />

und <strong>die</strong> Bewohner vertrieben. Immer wieder klagten <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen über diskrim<strong>in</strong>ierende<br />

MaBnahmen der Indonesiër, nicht selten berichteten sie mir über Gemetzel<br />

<strong>in</strong> den Dörfern.<br />

Als ich im Mai 1985 mit me<strong>in</strong>em Kameraden Fritz Lasser nach Enarotali <strong>in</strong>s Gebiet<br />

der Wissel-Seen kam, um von dort aus den geplanten Marsch zur Südflanke der<br />

Carstenszpyramide <strong>in</strong> Angriff zu nehmen, wurden wir gleich bei unserer Ankunft<br />

von der <strong>in</strong>donesischen Polizei <strong>in</strong> Gewahrsam genommen. E<strong>in</strong> durch Bestechung ergatterter<br />

Freibrief, mit dessen Hilfe wir überhaupt so weit gekommen waren, erwies<br />

sich hier als nutzlos. Das Gebiet sei zu gefahrlich für uns, hieB es von offizieller<br />

Seite, <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen unberechenbar, und für unsere Sicherheit könne nicht<br />

garantiert werden. Der wahre Grand war natürlich e<strong>in</strong> anderer. Diesen erfuhren<br />

wir von den <strong>Papua</strong>s. Sie berichteten uns von e<strong>in</strong>em Massaker, das sich e<strong>in</strong>e Woche<br />

zuvor im Dorf Komopa auf der gegenüberliegenden Seite des Paniai-Sees ereignet<br />

hatte. Nach deren Darstellung nahmen e<strong>in</strong>ige ihrer Stammesbrüder fünf <strong>in</strong>donesische<br />

Soldaten als Geiseln, um damit <strong>die</strong> Freilassung <strong>in</strong>haftierter Ges<strong>in</strong>nungsgenossen<br />

zu erzw<strong>in</strong>gen. Daraufh<strong>in</strong> natten <strong>die</strong> Indonesiër Komopa und e<strong>in</strong>en benachbarten<br />

Weiier angegriffen, dabei zirka 80 E<strong>in</strong>geborene ermordet, <strong>die</strong> Hutten niedergebrannt<br />

und <strong>die</strong> Felder verwüstet. Im Zuge <strong>die</strong>ser Gewaltaktion hatten <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s<br />

zwei ihrer fünf Geiseln mit Pfeilen getötet.<br />

In den darauffolgenden Tagen gelang es mir, mit e<strong>in</strong>em Augenzeugen aus Komopa<br />

selbst <strong>in</strong> Kontakt zu treten, und, wahrend Fritz <strong>die</strong> <strong>in</strong>donesischen Polizisten<br />

ablenkte, dessen Aussage auf me<strong>in</strong>em Tonband zu verewigen.<br />

Die <strong>Papua</strong>s waren auflerst erpicht darauf, uns zum Schauplatz des Geschehens zu<br />

führen. Aber als <strong>die</strong> Indonesiër von unseren Aktivitaten W<strong>in</strong>d bekamen, waren<br />

unsere Tage <strong>in</strong> Enarotali gezahlt. Man hat uns vorerst nach Nabire an <strong>die</strong> Kuste<br />

abgeschoben und dort höflichst aufgefordert, Irian Jaya auf schnellstem Wege zu<br />

verlassen.<br />

Noch vor unserer erzwungenen Abreise suchte ich den hoUandischen Missionar <strong>in</strong><br />

Enarotali auf, um me<strong>in</strong> Befremden darüber zum Ausdruck zu br<strong>in</strong>gen, daB <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er<br />

christlichen Geme<strong>in</strong>de, und quasi vor se<strong>in</strong>en Augen, derartige D<strong>in</strong>ge geschehen,<br />

ohne daB davon etwas an <strong>die</strong> Öffentlichkeit dr<strong>in</strong>ge. Se<strong>in</strong>e Antwort war noch<br />

befremdender. „Ich b<strong>in</strong> selbst nur Gast im Lande", erklarte er mir, „und e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige<br />

unbedachte AuBerang kann <strong>die</strong> Früchte der Missionsarbeit <strong>in</strong> Frage stellen.<br />

AuBerdem führen öffentliche Proteste ohneh<strong>in</strong> zu nichts, wie das Beispiel Osttimor<br />

beweist." Die Wurzeln für <strong>die</strong>sen Ste<strong>in</strong>zeitkrieg liegen freilich viel weiter zurück.<br />

Er ist e<strong>in</strong>e jener traurig-typischen Erbschaften, <strong>die</strong> der europaische Kolonialismus<br />

<strong>in</strong> der Dritten Welt h<strong>in</strong>terlassen hat. Hollander, Briten und Deutsche hatten<br />

<strong>die</strong> Insel unter sich nicht nach Volksgruppen aufgeteilt, sondern nach ihren eigenen<br />

Interessen - mit straffen, willkürlichen Strichen auf der Landkarte. Als sie <strong>die</strong><br />

24


Traurige Erbschaften<br />

Lander <strong>in</strong> <strong>die</strong> Unabhangigkeit entliefien, waren Völker zusammengefaBt, <strong>die</strong> nichts<br />

geme<strong>in</strong> haben, und Völker getrennt, <strong>die</strong> zusammengehören. Die Osthalfte der Insel<br />

- das unabhangige <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea (Niug<strong>in</strong>i) - entstand aus dem Territorium<br />

der deutschen Kolonie Kaiser-Wilhelms-Land und dem britischen Überseebesitz<br />

<strong>Papua</strong>. Der gesamte Westteil jedoch war mehr als hundert Jahre lang der „letzte<br />

Waggon im ost-<strong>in</strong>dischen Zug", wie <strong>die</strong> Hollander selbst <strong>die</strong>sen ungeliebten Kolonialbesitz<br />

nannten.<br />

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als Holland all se<strong>in</strong>e Koloniën zugunsten der<br />

unabhangigen Republik Indonesien abtreten muöte, erkannte man den Wert von<br />

West-Neugu<strong>in</strong>ea und verstarkte <strong>die</strong> Anstrengungen, das Land zu „entwickeln".<br />

Die Hollander beabsichtigten, <strong>die</strong> beiden Inselhalften zusammenzuschlieBen und<br />

e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen <strong>Papua</strong>staat zu gründen. Indonesien dagegen betrieb von Beg<strong>in</strong>n an<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>gliederung West-Neugu<strong>in</strong>eas <strong>in</strong> den Vielvölkerstaat. Die Legitimation dafür<br />

sah man <strong>in</strong> der Tatsache, dafi West-Neugu<strong>in</strong>ea Teil des niederlandischen Kolonialreiches<br />

war.<br />

Als <strong>die</strong> Verhandlungen scheiterten, spitzte sich <strong>die</strong> Neugu<strong>in</strong>ea-Frage immer mehr<br />

zu. Zu Beg<strong>in</strong>n des Jahres 1962 versuchten sogar <strong>in</strong>donesische Fallschirmjager an<br />

der Südküste West-Neugu<strong>in</strong>eas zu landen. In der Zwischenzeit kam es zu e<strong>in</strong>er diplomatischen<br />

Lösung. Die USA, <strong>die</strong> bis dah<strong>in</strong> <strong>die</strong> Hollander unterstützten,<br />

schwenkten <strong>in</strong> der UNO zu e<strong>in</strong>er pro-<strong>in</strong>donesischen Haltung um. Die Freiheit und<br />

Unabhangigkeit e<strong>in</strong>es kiemen Volkes wurde wieder e<strong>in</strong>mal „höheren politischen<br />

Zielen" geopfert. Holland übergab <strong>die</strong> Inselhalfte vorerst an <strong>die</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen,<br />

<strong>die</strong> es ihrerseits den Indonesiern zur Verwaltung übertrugen, bis durch e<strong>in</strong>e<br />

Volksabstimmung <strong>die</strong> endgültige staatsrechtliche Stellung entschieden werden sollte.<br />

Die Indonesiër losten das Versprechen der Volksabstimmung, das sie der UNO<br />

gegeben hatten, auf ihre Weise (1969). Die 800.000 <strong>Papua</strong>s, kaum des Lesens und<br />

Schreibens machtig, seien mit <strong>die</strong>ser Wahl überfordert. So liefi man 1025 ausgesuchte<br />

„Reprasentanten" abstimmen. Wen wundert's, daB sich 100 Prozent für<br />

den Verbleib bei Indonesien aussprachen. Das soll nicht darüber h<strong>in</strong>wegtauschen,<br />

dafi <strong>die</strong>se manipulierte Volksabstimmung von der überwiegenden Mehrheit der <strong>Papua</strong>s<br />

nie zur Kenntnis genommen wurde.<br />

Der Unmut und <strong>die</strong> Verbitterung der <strong>Papua</strong>s über <strong>die</strong>sen neuerlichen „Kolonialismus"<br />

ist grofi und auBert sich <strong>in</strong> of f ener Rebellion. E<strong>in</strong> Haufchen mit Pfeil und<br />

Bogen bewaffneter Ste<strong>in</strong>zeitkrieger kampft gegen e<strong>in</strong>e übermachtige <strong>in</strong>donesische<br />

Armee. Ab und zu gel<strong>in</strong>gt es ihnen, e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Verwaltungsstation zu besetzen und<br />

e<strong>in</strong> paar Gewehre zu erbeuten. Als Antwort darauf beschieBt und bombar<strong>die</strong>rt <strong>die</strong><br />

<strong>in</strong>donesische Armee ganze Dörfer. Rund 200.000 E<strong>in</strong>geborene sollen nach Schatzungen<br />

der Londoner „Anti-Slavery Society" bereits getötet oder verschleppt worden<br />

se<strong>in</strong>. Bald werden sie auch zahlenmaBig den Indonesiern unterlegen se<strong>in</strong>.<br />

Durch <strong>die</strong> „transmigrasi"-Politik wurden schon mehr als 400.000 Menschen aus<br />

dem überbevölkerten Java nach Irian Jaya umgesiedelt. E<strong>in</strong>e weitere Million soll<br />

bis zum Jahre 1990 folgen. „Wir br<strong>in</strong>gen Irian Jaya von der Ste<strong>in</strong>zeit <strong>in</strong>s 20. Jahrhundert",<br />

ist <strong>die</strong> fadensche<strong>in</strong>ige Rechtfertigung der Verantwortlichen <strong>in</strong> Jakarta.<br />

Das er<strong>in</strong>nert an „Die Operation ist gelungen, aber der Patiënt ist tot". Denn es<br />

steht heute schon fest, wer dabei auf der Strecke bleiben wird: <strong>die</strong> Ure<strong>in</strong>wohner.<br />

25


Die geteilte Insel<br />

E<strong>in</strong>ige Widerstandsgruppen operieren von <strong>Papua</strong> Neugu<strong>in</strong>ea aus und ziehen sich<br />

nach Überfallen immer wieder dorth<strong>in</strong> zurück. Indonesische Soldaten verfolgen sie<br />

dabei <strong>in</strong> den schwer kontrollierbaren Grenzgebieten bis weit <strong>in</strong> papuanisches Territorium<br />

h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>. Das tragt nicht gerade dazu bei, <strong>die</strong> ohneh<strong>in</strong> stark belasteten Beziehungen<br />

zwischen den beiden Nachbarstaaten zu verbessern. Die <strong>Papua</strong>-Regierung<br />

<strong>in</strong> Port Moresby bef<strong>in</strong>det sich auf e<strong>in</strong>er standigen Gratwanderung zwischen e<strong>in</strong>er<br />

Konfrontation mit dem machtigen Nachbarn Indonesien und der Solidaritat gegenüber<br />

ihren Brüdern <strong>in</strong> Irian Jaya.<br />

26


Traum und<br />

Wirklichkeit<br />

„Auf vielen pazifischen Inse<strong>in</strong> ist das<br />

Werk der Christianisierung vollendet.<br />

Überall <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem ganzen riesengroBen<br />

Gebiet ist <strong>die</strong> Zahl der Christen standig<br />

und sehr e<strong>in</strong>drucksvoll gewachsen, ohne<br />

daB es irgendwelche spektakulare<br />

Massenbewegungen gegeben hatte."<br />

(Stephen Neill <strong>in</strong> „Mission zwischen<br />

Kolonialismus und Ökumene" 1955)<br />

„Vor undenklicher Zeit lebte auf dem Inselchen Meok Wundi, bei Biak, e<strong>in</strong> haBlicher<br />

alter Mann, der e<strong>in</strong>en kratzigen Hautausschlag hatte. Man nannte ihn deshalb<br />

Manarmakeri. Er lebte unverheiratet und e<strong>in</strong>sam. Se<strong>in</strong>e ganze Freude bestand dar<strong>in</strong>,<br />

sich ab und zu etwas Palmwe<strong>in</strong> zuzubereiten. Dabei entdeckte er e<strong>in</strong>es Tages,<br />

daB ihm jemand se<strong>in</strong>en We<strong>in</strong> gestohlen hatte. Er legte sich auf <strong>die</strong> Lauer, um den<br />

Dieb zu fangen. Nachts sah er, wie der Morgenstern Sampari als Jüngl<strong>in</strong>g <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

Baumkrone safi. Sofort kletterte Manarmakeri hoch und hielt den Dieb f est. Dieser<br />

hatte es aber eilig, noch rechtzeitig vor Tagesanbruch wieder <strong>in</strong> das Firmament<br />

zurückzukehren und sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gestalt e<strong>in</strong>es Sternes zurückzuverwandeln. Er bot<br />

sich daher an, dem alten Mann e<strong>in</strong> paar Wünsche zu erfüllen, wenn er ihn freilie-<br />

Be. Der Alte nützte <strong>die</strong> Gelegenheit und lieB sich nache<strong>in</strong>ander drei wundersame<br />

D<strong>in</strong>ge gewahren: 1. So jung und schön zu werden wie Sampari selbst. 2. E<strong>in</strong> Zauberholz,<br />

mit dem man alles, was man wollte, nur <strong>in</strong> den Sand zu zeichnen brauchte,<br />

und schon würde es sich verwirklichen. 3. E<strong>in</strong>e Frucht, <strong>die</strong> man lediglich <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Richtung e<strong>in</strong>es Madchens zu werfen brauchte, um e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d zu bekommen. Mit anderen<br />

Worten: Jugend, Wohlstand und Nachkommenschaft.<br />

Manarmakeri probierte <strong>die</strong> Gabe sogleich aus, als er <strong>die</strong> schone N<strong>in</strong>ggai beim Baden<br />

sah. Als das Madchen daraufh<strong>in</strong> schwanger wurde und e<strong>in</strong>en Sohn gebar, gab<br />

es groBe Aufregung im Dorf. Um den Vater des K<strong>in</strong>des herauszuf<strong>in</strong>den, wurde e<strong>in</strong><br />

Tanzfest veranstaltet. Alle Manner wurden dazu e<strong>in</strong>geladen. Bei <strong>die</strong>ser Party<br />

schrie der Saugl<strong>in</strong>g plötzlich lauthals: „Vater, Vater", als er den Alten sah. Alle<br />

waren betreten und verstiefien das ungleiche Paar. Um <strong>die</strong>ser Demütigung zu entgehen,<br />

nahm Manarmakeri se<strong>in</strong>e junge Frau N<strong>in</strong>ggai und se<strong>in</strong>en Sohn Konor,<br />

zeichnete e<strong>in</strong> Auslegerkanu <strong>in</strong> den Sand und fuhr mit <strong>die</strong>sem davon. Unterwegs<br />

rief er <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Inse<strong>in</strong>, darunter auch Numfoor, <strong>in</strong>s Leben, damit se<strong>in</strong> Söhnchen<br />

Land zum Spielen habe. E<strong>in</strong>mal sah der Alte <strong>in</strong>s Wasser und bemerkte wie <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Spiegel se<strong>in</strong>e eigene unschöne Gestalt. Um se<strong>in</strong>e junge, aber traurige Frau zu<br />

tl


Traum und Wirklichkeit<br />

beglücken, beschloB er, sich zu verwande<strong>in</strong> und zu neuem Leben aufzuerstehen. Er<br />

machte e<strong>in</strong> Feuer aus Eisenholz und sprang <strong>in</strong> <strong>die</strong> verzehrende und zugleich re<strong>in</strong>igende<br />

Flamme. Dabei fiel se<strong>in</strong>e alte Haut ab, und er wurde e<strong>in</strong> strahlender junger<br />

Mann mit weiBer Haut. Da ihm <strong>die</strong>se aber e<strong>in</strong> wenig zu weiB war, g<strong>in</strong>g er noch e<strong>in</strong><br />

zweites Mal durch <strong>die</strong> Flammen <strong>die</strong>ses mythischen Purgatoriums. Nach se<strong>in</strong>er endgültigen<br />

Wiedergeburt bzw. Auferstehung wurde er aufs herzlichste von Frau<br />

N<strong>in</strong>ggai und Sohn Konor begrüBt. N<strong>in</strong>ggai nannte ihren Mann von nun an Mansren<br />

Manggundi. Da sie aber auBer ihrer Familie niemanden zum Plaudern hatte,<br />

bat sie um <strong>die</strong> Erschaffung von Menschen. Mansren schuf daher <strong>die</strong> vier Stamme<br />

auf Numfoor, baute ihnen <strong>die</strong> Mannerhauser und gab ihnen Recht und Ordnung.<br />

Lange Zeit regierte er über se<strong>in</strong> Volk. Es war e<strong>in</strong> para<strong>die</strong>sisches Leben: Die Kranken<br />

wurden geheilt, <strong>die</strong> Sterbenden wieder auferweckt, Nahrungssorgen gab es<br />

nicht, alle Streitfalle wurden <strong>in</strong> Frieden und Glückseligkeit umgewandelt. Mansren<br />

sorgte für alle. Doch e<strong>in</strong>es Tages starb e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d, und <strong>die</strong> Mutter hatte nicht genug<br />

Vertrauen, es zu dem .Heiland' Mansren zu br<strong>in</strong>gen. Teile der Bevölkerung f<strong>in</strong>gen<br />

an zu meutern und gegen ihren Herrn aufzubegehren. Sie fielen von ihm ab. Das<br />

erzürnte Mansren so sehr, daB er <strong>die</strong> Menschen verlieB und sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong> fernes Land<br />

begab. E<strong>in</strong>ige sagen, er sei zum Memberamoflufi gegangen. Andere waren überzeugt,<br />

er sei <strong>in</strong> den Westen gezogen, dorth<strong>in</strong>, wo man seit altersher das Totenreich<br />

wahnte. Dort habe er anderen Völkern den Wohlstand gebracht. Das sei der<br />

Grund, warum <strong>die</strong> WeiBen nun so machtig seien. Nun war es vorbei mit dem friedlichen<br />

Leben. Zurück blieb nur noch der Traum vom verlorenen Para<strong>die</strong>s. E<strong>in</strong>st<br />

aber würde Mansren wiederkommen und auch den Bewohnern der Geelv<strong>in</strong>k Bay<br />

noch e<strong>in</strong>e Gelegenheit geben, gleichzuziehen. E<strong>in</strong>st würde e<strong>in</strong>e groBe Palme wachsen.<br />

Diese würde sich neigen, nach Numfoor fallen und so e<strong>in</strong>en Verb<strong>in</strong>dungsweg<br />

zum Land des Glückes herstellen. Auf <strong>die</strong>sem Weg würde Mansren dann se<strong>in</strong>en<br />

Sohn Konor vorausschicken, um den Menschen se<strong>in</strong>e baldige Ankunft zu vermelden.<br />

Bei se<strong>in</strong>er Rückkehr würde das Goldene Zeitalter der Koreri anbrechen und<br />

alles neu werden."<br />

Diese Geschichte ist der zugrundeliegende Mythos für e<strong>in</strong>e ganze Reihe von messianischen<br />

Bewegungen, <strong>die</strong> im melanesischen Raum unter dem Begriff Cargo-Kulte<br />

(Cargo = Schiffsladung) bekannt s<strong>in</strong>d. Cargo-Kulte s<strong>in</strong>d Waren-Kulte und wurden<br />

zelebriert, um an <strong>die</strong> Güter des WeiBen zu gelangen und <strong>in</strong> weiterer Folge se<strong>in</strong>e<br />

Herrschaft abzuschütteln. Sie stehen daher unmittelbar mit dem Kommen des<br />

WeiBen <strong>in</strong> Zusammenhang und s<strong>in</strong>d verzweifelte Versuche der E<strong>in</strong>geborenen, mit<br />

Mitteln ihrer untergehenden Kultur sich gegenüber den materiell überlegenen Europaern<br />

zu emanzipieren.<br />

Tatsachlich hielten <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s der Geelv<strong>in</strong>k Bay <strong>die</strong> ankommenden hoUandischen<br />

Schiffe für Boten aus dem Totenreich, vielleicht auch für Abgesandte Mansrens,<br />

<strong>die</strong> ihnen das Goldene Zeitalter ankündigten und dabei schon e<strong>in</strong>en Teil der Gaben<br />

mitbrachten. Doch <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen durften zwar <strong>die</strong> Schiffsladungen löschen,<br />

aber <strong>die</strong> Reichtümer teilten <strong>die</strong> wenigen WeiBen unter sich auf. Die hier Heimischen<br />

blieben vom GüterfluB ausgeschlossen. Ihre Enttauschung darüber schlug<br />

bald <strong>in</strong> HaB und offene Fe<strong>in</strong>dschaft um. Sie sahen sich als Betrogene. Propheten<br />

tauchten auf, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ankunft groBer Schiffsladungen voraussagten, gaben sich als<br />

28


Jesus, das ist Mansren<br />

Konor, ja sogar als Mansren aus. Als sich <strong>die</strong> Prophezeiungen nicht erfüllten, gaben<br />

sie den WeiBen <strong>die</strong> Schuld, <strong>die</strong> sie offensichtlich betrogen und <strong>die</strong> Güter nicht<br />

an <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s weitergaben. Viele Propheten verschwanden so schnell, wie sie aufgetaucht<br />

waren, andere erlangten überregionale Bedeutung und gründeten Bewegungen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Kolonialbehörden und Missionen vor groBe Probleme stellten.<br />

lm Jahre 1886 f<strong>in</strong>den wir das Motiv des Cargoschiffes zum erstenmal. E<strong>in</strong> „Konor"<br />

prophezeite se<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>geborenen Brüdern, dafi e<strong>in</strong> Schiff mit Gütern bald zu<br />

ihnen kommen werde. Die meisten waren von der Aussicht begeistert und hielten<br />

regelrechte Versammlungen ab, <strong>in</strong> denen sie um <strong>die</strong> baldige Ankunft des Segens<br />

beteten. Als sich <strong>die</strong> Erwartungen nicht erfüllten, nahm <strong>die</strong> Menge e<strong>in</strong>e deutlich<br />

antiweiBe Haltung e<strong>in</strong>. Sie organisierten sich militarisch, hielten Paraden ab und<br />

sangen Lieder wie: „Herr, wir wollen zu dir kommen, doch wir können's nicht.<br />

Vogel, seltsam, und aus Holland, sperren uns den Weg zum Licht."<br />

E<strong>in</strong>e ungleich gröBere Bewegung ist mit der Prophet<strong>in</strong> Angganita Menufaur verknüpft.<br />

Sie lebte nach dem Tode ihres Mannes, von e<strong>in</strong>er lepraahnlichen Krankheit<br />

befallen, als AusgestoBene auf der oden Insel Insulabi. Schon mehrmals war<br />

sie dem Tode nahe, aber überlebte jedesmal auf wunderbare Weise. Als sie wieder<br />

e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> höchster Not war, erschien ihr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Vision Mansren, heilte sie vollstandig<br />

und schickte sie als Prophet<strong>in</strong> zurück <strong>in</strong> ihr Dorf. Dort verbreitete sie <strong>die</strong><br />

Nachricht vom bald anbrechenden Friedensreich und unermefilichen Schatzen, <strong>die</strong><br />

demnachst per Schiff ankommen würden. Aus allen benachbarten Inse<strong>in</strong> strömten<br />

<strong>die</strong> Leute herbei, um <strong>die</strong> Wunderfrau zu bestaunen, deren prophetische Berufung<br />

durch ihre wundersame Heilung h<strong>in</strong>reichend bewiesen war. lm S<strong>in</strong>ne e<strong>in</strong>er E<strong>in</strong>verleibung<br />

christlicher Glaubensvorstellungen <strong>in</strong> den neuen Kult wurden <strong>die</strong> papuanischen<br />

Ortsnamen <strong>in</strong> biblische umgetauft. Angganita selbst nannte man nur noch<br />

„Die goldene Jungfrau" oder „Maria", und <strong>in</strong> Jesus Christus sah man eigentlich<br />

niemand anders als Mansren. Daher beschuldigte man <strong>die</strong> Kirchen, sie natten <strong>die</strong>jenigen<br />

Passagen der Bibel, welche <strong>die</strong> Identitat von Jesus und Mansren bewiesen,<br />

bewuBt manipuliert oder vorenthalten. Das führte zu wachsender Fe<strong>in</strong>dschaft, <strong>die</strong><br />

sich nicht alle<strong>in</strong> gegen <strong>die</strong> Missionen, sondern auch gegen <strong>die</strong> Kolonialverwaltung<br />

richtete. Die Behörden schritten e<strong>in</strong>. Angganita wurde verhaftet und unter Anklage<br />

gestellt, aber <strong>in</strong> der Gerichtsverhandlung mangels an Beweisen wieder freigesprochen.<br />

Das wurde von Angganita und ihren Anhangern als groBer Sieg gewertet,<br />

mehr noch als deutlicher Beweis der Krafte Mansrens, und erhöhte noch <strong>die</strong><br />

Popularitat der Prophet<strong>in</strong>. SchlieBlich wurde sie e<strong>in</strong> zweites Mal gefangen genommen.<br />

Dabei kam es zu schweren Ause<strong>in</strong>andersetzungen zwischen Kultanhangern<br />

und der Polizei. Die Prophet<strong>in</strong> wanderte <strong>in</strong>s Gefangnis von Biak, wo sie im Jahre<br />

1942, im Zuge allgeme<strong>in</strong>er Wirren, umkam.<br />

Ihre Nachfolge trat e<strong>in</strong> gewisser Stefanus Simopiaref an, der spater unter dem Namen<br />

„General Stefanus" als militanter Kultführer Berühmtheit erlangte. Se<strong>in</strong>e Aktivitaten<br />

begannen, als er aus e<strong>in</strong>em japanischen Gefangnis entlassen wurde, wo er<br />

e<strong>in</strong>e Haftstrafe wegen Mordes zu verbüflen hatte. Nach der Rückkehr <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Heimatdorf<br />

gab er sich als neuer Konor aus. Er nannte sich auch „Dewa", das heifit<br />

Gott, und prasentierte sich als Verkörperung Mansrens. Von Beg<strong>in</strong>n an organisierte<br />

er se<strong>in</strong>e Anhangerschaft militarisch, <strong>die</strong> Armee sollte 8888 Manner umfassen,<br />

29


Traum und Wirklichkeit<br />

Angganita ernannte er zur Fürst<strong>in</strong>, sich selbst erhob er zum General. Mit Hilfe der<br />

Armee wollte er <strong>die</strong> politische Unabhangigkeit West-Irians durchsetzen. Gleichzeitig<br />

schürte er den HaB gegen <strong>die</strong> WeiJJen, <strong>die</strong> offensichtlich <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s standig betrogen.<br />

Se<strong>in</strong>e Botschaft lautete: „Wir s<strong>in</strong>d Christen, aber jetzt sehen wir alles <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em neuen Licht und <strong>in</strong> der rechten Wahrheit. Die Missionare haben <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s<br />

absichtlich getauscht. Sie haben <strong>die</strong> ersten Seiten der Bibel entfernt. Dort steht geschrieben,<br />

dafl Jesus e<strong>in</strong>er von unserer Rasse war, e<strong>in</strong> <strong>Papua</strong>, und ke<strong>in</strong> WeiBer und<br />

Fremder, wie <strong>die</strong> Missionare uns glauben machen wollen. Von dem Augenblick<br />

an, als <strong>die</strong> Fremden bei uns ankamen, hatten wir zu gehorchen und waren ke<strong>in</strong>e<br />

f reien Menschen mehr <strong>in</strong> unserem eigenen Land. Jetzt aber ist unsere Zeit gekommen.<br />

Die Herren sollen zu Sklaven werden und <strong>die</strong> Sklaven zu Herren."<br />

Se<strong>in</strong>e Aufrufe wurden aggressiver. Die Beseitigung der Fremden wurde immer heftiger<br />

gefordert; und da Stefanus sich gezwungen sah, auch Taten zu setzen, übersiedelte<br />

er nach Numfoor und stiftete von dort aus <strong>die</strong> Leute an, Kirchen und<br />

Schulen niederzubrennen und e<strong>in</strong> Massaker unter den Gegnern der Bewegung anzuzetteln.<br />

Die Ause<strong>in</strong>andersetzungen lieBen nicht lange auf sich warten. Zwar gelang<br />

es ihm für kurze Zeit, <strong>die</strong> Armee zusammenzuhalten und kle<strong>in</strong>ere Aktionen<br />

durchzuführen, aber bald geriet er immer mehr unter Druck und wurde schlieJJlich<br />

von den Japanern, <strong>die</strong> mittlerweile <strong>die</strong> Hollander abgelöst hatten, gefangengenommen.<br />

Aller Wahrsche<strong>in</strong>lichkeit nach hat man ihn - geme<strong>in</strong>sam mit Angganita<br />

- enthauptet.<br />

Alle drei hier angeführten Cargo-Bewegungen stehen <strong>in</strong> engem Zusammenhang<br />

mit dem Mansren-Mythos, bzw. f<strong>in</strong>den dar<strong>in</strong> ihre geistige Grundlage. Insgesamt<br />

hat Friedrich Ste<strong>in</strong>bauer, dem ich <strong>die</strong>se Beispiele verdanke, 186 verschiedene Heilsbewegungen<br />

im melanesischen Raum nachgewiesen. Sie offenbaren <strong>die</strong> tiefe Erschütterung<br />

und Verwirrung der <strong>Papua</strong>s, ausgelöst durch den Zusammenprall mit<br />

der materiell überlegenen Kultur der Europaer. Tag für Tag sahen sie ankommende<br />

Schiffe, deren Ladungen, das „cargo", sich <strong>die</strong> Weifien offensichtlich ohne Gegenleistung<br />

e<strong>in</strong>verleibten. Von bargeldlosen Zahlungspraktiken, wo und wie <strong>die</strong><br />

Waren hergestellt wurden, hatten <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s freilich ke<strong>in</strong>e Ahnung. Sie kannten<br />

nur den Wunsch, <strong>die</strong> Güter des weilien Mannes zu besitzen, <strong>die</strong> sie sich anfangs<br />

durch Magie und, als das nichts nützte, durch Gewalt anzueignen trachteten.<br />

Cargo-Kulte traten ausnahmslos <strong>in</strong> Gebieten auf, <strong>die</strong> schon lange Schwerpunkte<br />

der Missionstatigkeit waren. An ihrem Zusammenhang mit christlichem Missionsgebaren<br />

und Kolonialismus ist nicht zu zweifeln.<br />

Die Verantwortlichen standen dem Problem hilflos gegenüber. Die e<strong>in</strong>en ignorierten<br />

es e<strong>in</strong>fach, wie zum Beispiel Stephen Neill, der dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e „spektakulare Massenbewegung"<br />

sah; für andere, vornehmlich für <strong>die</strong> Kolonialbeamten, waren <strong>die</strong><br />

Kulte standige Quelle von Arger, <strong>die</strong> es zu beseitigen galt. Die Missionare betrachteten<br />

<strong>die</strong> Heilserwartungen der E<strong>in</strong>geborenen als bedauerliche Fehlentwicklung,<br />

der sie Kirchenzuchtmaflnahmen entgegensetzen. Zu e<strong>in</strong>em tieferen Verstandnis<br />

für <strong>die</strong> psychischen Nöte der <strong>Papua</strong>s kam es nicht.<br />

Als <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen erkannten, dafi auch der E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> <strong>die</strong> christliche Glaubensgeme<strong>in</strong>schaft<br />

ihnen ke<strong>in</strong>en Anteil am GüterfluB der Weiflen bescherte, mufiten<br />

zwangslaufig Reaktionen folgen. Viele kehrten zu ihrer alten Religion zurück, na-<br />

30


Komisches und Tragisches<br />

türlich nicht, ohne von gewissen christlichen Ideen bee<strong>in</strong>fluBt zu se<strong>in</strong>. Unverstandenes<br />

christliches Gedankengut vermischte sich mit mythisch-magischen Vorstellungen<br />

und bildete e<strong>in</strong>en idealen Nahrboden für neue Kulte und Irrglauben mit tragischen<br />

Handlungen. Das spektakularste Geschehnis <strong>die</strong>ser Art, abgesehen von<br />

den Cargo-Kuiten, das im Christentum wurzelte, aber stark antichristliche Tendenzen<br />

zeigt, ereignete sich im Mai 1961 (!) an der Nordostküste <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>eas.<br />

lm AnschluJJ an e<strong>in</strong>e Kapellenweihe luden <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen den katholischen Bischof<br />

Noser zu e<strong>in</strong>er Opferhandlung e<strong>in</strong>. Der Bischof, der auf gute Beziehungen zu<br />

den <strong>Papua</strong>s Wert legte, nahm ahnungslos an. Er wurde <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Raum geführt, wo<br />

bereits <strong>die</strong> versammelte Menge <strong>in</strong> gespannter Atmosphare der D<strong>in</strong>ge harrte, <strong>die</strong> da<br />

kommen würden. E<strong>in</strong>ige E<strong>in</strong>geweihte liefen aufgeregt h<strong>in</strong> und her und s<strong>in</strong>nierten<br />

darüber, ob man mit der E<strong>in</strong>ladung des Bischofs wohl richtig gehandelt habe. Bald<br />

darauf wurde e<strong>in</strong> Hahn <strong>in</strong> den Raum getragen. E<strong>in</strong> Mann stand nun auf und hielt<br />

für alle sichtbar e<strong>in</strong> groBes, blankes Buschmesser <strong>in</strong> der Hand. Die meisten der<br />

Versammelten erwarteten nun e<strong>in</strong> Tieropfer, wie es bei solchen Anlassen üblicherweise<br />

dargebracht wird. Stattdessen erhob sich e<strong>in</strong> anderer Mann von se<strong>in</strong>em Sitz<br />

und kniete nieder. Bevor überhaupt jemand begriff, was sich hier anbahnte, schlug<br />

der Mann mit dem Buschmesser dem davor Knieenden das Haupt ab. Der Bischof<br />

und se<strong>in</strong>e Begleiter waren entsetzt. Ihr Entsetzen steigerte sich noch, als sie erfuhren,<br />

da/3 <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen mit <strong>die</strong>ser Handlung me<strong>in</strong>ten, e<strong>in</strong> zweites Opfer Christi<br />

vollzogen zu haben!<br />

Die Reihe ebenso tragischer wie bisweilen komischer Beispiele könnte man fortsetzen.<br />

Dennoch sche<strong>in</strong>en den Missionaren niemals Zweifel über den S<strong>in</strong>n oder gar<br />

über <strong>die</strong> Berechtigung ihrer Tatigkeit gekommen zu se<strong>in</strong>. Im Gegenteil, ihr Sendungsauftrag<br />

stand für sie nie <strong>in</strong> Frage.<br />

E<strong>in</strong> Papst war es auch (Alexander VI.), der <strong>in</strong> der Bulle „Inter cetera" den ersten<br />

Kolonialmachten, Spanien und Portugal, Herrschaftsrechte über <strong>die</strong> neuentdeckten<br />

Gebiete legitimierte und damit <strong>in</strong> weiterer Folge <strong>die</strong> europaischen Waffen zur<br />

Eroberung der Welt segnete. Im W<strong>in</strong>dschatten der Eroberer und Kolonialbehörden<br />

kamen <strong>die</strong> Missionare. Ihre Methoden zur Bekehrung e<strong>in</strong>geborener Völkerschaften<br />

entsprachen dem Geist der Zeit und s<strong>in</strong>d, nach heutigem Empf<strong>in</strong>den,<br />

wohl kaum mit e<strong>in</strong>er der biblischen Lehren <strong>in</strong> E<strong>in</strong>klang zu br<strong>in</strong>gen. Weit davon<br />

entfernt, dem braunen Bruder im S<strong>in</strong>ne christlicher Nachstenliebe zu begegnen,<br />

hat man ihnen <strong>die</strong> fremde Religion förmlich aufgezwungen. Wo es Widerstand<br />

gab, wurde dem Kreuz mit Waffengewalt Gehör verschafft. E<strong>in</strong>geborene, <strong>die</strong> ihre<br />

althergebrachten Traditionen verteidigten und sich gegen <strong>die</strong> ungebetenen E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>ge<br />

erhoben, bezeichnete man als Heiden, wahrend <strong>die</strong> E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>ge, wenn<br />

sie als Opfer zurückblieben, zu Martyrern wurden.<br />

Ganz anders stellt sich der Sachverhalt aus missionarischer Sicht dar. Man muB<br />

schon e<strong>in</strong>iges verdauen können, wenn man <strong>die</strong> Missionsgeschichte verfolgt. Was<br />

hier an Glorifizierung missionarischen Tuns dargestellt wird, halt <strong>in</strong> den meisten<br />

Fallen e<strong>in</strong>er kritischen Prüfung nicht stand. „Wir wollen dauernde Missionsstationen<br />

<strong>in</strong> unseren Dörfern. Wir wollen alle katholisch werden!" Mit <strong>die</strong>sen Worten<br />

seien ihm <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen entgegengeeilt, berichtet uns e<strong>in</strong> Pater. Glaubt man<br />

31


Traum und Wirklichkeit<br />

se<strong>in</strong>en Worten, so schlug ihm, überall wo er h<strong>in</strong>kam, nur wahre Begeisterung entgegen.<br />

„In der Ortschaft Moagendo trugen <strong>die</strong> Heiden zum Beweis ihres ernsthaften und<br />

guten Willens aus den Geisterhausern e<strong>in</strong>e Menge aberglaubischer D<strong>in</strong>ge zusammen;<br />

sie errichten förmlich Scheiterhaufen daraus, weil sie ,nicht mehr zweck<strong>die</strong>nlich<br />

seien'. Mit Rücksicht auf den kulturgeschichtlichen Wert <strong>die</strong>ser Götzen<strong>die</strong>nstgegenstande<br />

und ihrer Bedeutung für <strong>die</strong> Missionsstu<strong>die</strong>n empfahl ich aber, von<br />

der Zerstörung abzusehen. Von den Ortschaften <strong>in</strong> der Nahe von Moagendo und<br />

von den am FluBufer entlang liegenden Dörfern kamen nun zahlreiche Abordnungen<br />

fragend, was sie mit den Kultsachen anfangen sollten. ,Wenn ihr euch ernsthaft<br />

ihrer entledigen wollt, so gebt sie mir. Ich werde sie nach Europa schaffen und<br />

dem Papst schenken.'"<br />

Noch im Jahre 1955 fordert Stephen Neill: „Es versteht sich von selbst, dafi <strong>die</strong><br />

Kirchen christlicher Lander e<strong>in</strong>en Auftrag an der Welt haben, <strong>die</strong> Sendung eben,<br />

ihre weniger glücklichen Brüder zu missionieren." Nun, <strong>in</strong> Wirklichkeit waren <strong>die</strong><br />

„Wilden" nicht so unglücklich, wie man glauben wollte. Sie waren gar nicht so erpicht<br />

darauf, aus ihrer „Unwissenheit" und ihrem „f<strong>in</strong>steren Heidentum" erlöst zu<br />

werden, sondern waren <strong>in</strong> ihrer eigenen Vorstellungswelt fest verwurzelt und bedurften<br />

fremden Zuspruchs nicht. Die Missionare spurten den Widerstand, <strong>die</strong><br />

„Gegenwehr des Teufels", wie sie es nannten, und versuchten ihn mit allen zu Gebote<br />

stehenden Mitteln zu brechen. Deshalb richteten sie ihr Hauptaugenmerk<br />

nicht so sehr auf <strong>die</strong> Erwachsenen, sondern widmeten sich den Jugendlichen, <strong>die</strong><br />

noch nicht <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kultgeheimnisse e<strong>in</strong>geweiht waren. Die K<strong>in</strong>der, <strong>die</strong> sich dem Zugriff<br />

entziehen wollten, wurden ausgeforscht und zum Besuch der Missionsschule<br />

angehalten. Der <strong>Papua</strong>-Politiker Albert Maori Kiki berichtet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Memoiren<br />

recht anschaulich von den Praktiken der Londoner Missionsgesellschaft. „Ich wurde<br />

entdeckt und <strong>in</strong> <strong>die</strong> Schule geschleppt - schreiend und um mich schlagend. Sofort<br />

nach me<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>treffen verpaBte mir der Lehrer e<strong>in</strong>e tüchtige Tracht Prügel...<br />

Man lehrte uns e<strong>in</strong>faches Englisch und Rechnen, doch als ich <strong>die</strong> Schule<br />

verliefi, konnte ich kaum Englisch sprechen aufier ,komm' und ,geh' und solche<br />

e<strong>in</strong>fachen, elementaren D<strong>in</strong>ge. E<strong>in</strong> gut Teil unserer Zeit g<strong>in</strong>g dabei drauf, den Missionshof<br />

zu saubern, Zaune zu ziehen und auf <strong>die</strong> Kühe des Missionars aufzupassen.<br />

Weder me<strong>in</strong> Vater noch me<strong>in</strong>e Mutter wurden je Christen. Ich sollte sie sonntags<br />

zu dem groBen Abendgottes<strong>die</strong>nst mitbr<strong>in</strong>gen, und ich versuchte es wirklich<br />

sehr ernsthaft, weil ich geschlagen wurde, wenn sie nicht kamen. SchlieBlich g<strong>in</strong>g<br />

me<strong>in</strong> Vater mir zuliebe h<strong>in</strong>, aber me<strong>in</strong>e Mutter kam ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal. Gewöhnlich<br />

bekam ich fünfzehn Schlage, wenn ke<strong>in</strong>er von beiden kam, und siebene<strong>in</strong>halb,<br />

wenn nur e<strong>in</strong>er nicht teilnahm."<br />

Bis zum Beg<strong>in</strong>n unseres Jahrhunderts hatten es <strong>die</strong> Missionen, von neutraler Sicht<br />

aus betrachtet, nicht allzu weit gebracht. Der Keim zum Untergang der <strong>Papua</strong>kulturen<br />

war bereits gelegt. Aber immer noch hielten <strong>die</strong> e<strong>in</strong>fluBreichen Alten am<br />

Weltbild ihrer Vater fest. Zentrum der angestammten Kulte und Symbol für <strong>die</strong><br />

Macht der Götter und Ahnen waren <strong>die</strong> Geisterhauser, <strong>die</strong> <strong>in</strong> manchen Regionen<br />

riesige AusmaBe hatten. Als Mittelpunkt „heidnischer" Zeremonien und mythischer<br />

Ahnenverehrung waren sie den Gottesmannern natürlich e<strong>in</strong> Dorn im Auge.<br />

32


Die Villa des Missionars<br />

Das dürfte e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>faltigen Missionar dazu bewogen haben, e<strong>in</strong>es <strong>die</strong>ser Tambarans,<br />

wie <strong>die</strong> kunstvollen Geisterhauser genannt werden, anzuzünden. Der Schock<br />

über <strong>die</strong>se Gewaltaktion war so groB, daB sich <strong>die</strong> Dorfbewohner gleich danach<br />

taufen lieBen. Aber <strong>die</strong> Untat sollte sich spater rachen. E<strong>in</strong>ige Jahre nach Abzug<br />

des Missionars kehrte der Stamm wieder zum Weltbild der Vater zurück.<br />

Es liegt e<strong>in</strong> seltsamer Widerspruch dar<strong>in</strong>, daB e<strong>in</strong>erseits <strong>die</strong> Missionare alles daran<br />

setzten, um <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen zu überreden, ihr „Teufelswerk" zu zerstören, wahrend<br />

andere WeiBe es mit allen möglichen Tricks zu erwerben trachteten. Richard<br />

Semon berichtet unverblümt, wie er sich Schadel im Gebiet der Milne-Bay aneignete.<br />

E<strong>in</strong> Missionar erzahlte ihm von se<strong>in</strong>en ausgezeichneten Erfolgen, und daB Kannibalismus<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>fluBgebiet kaum noch vorkame; auch habe er <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen<br />

überredet, den Hauptschmuck ihrer Hauser, <strong>die</strong> Menschenschadel, an<br />

e<strong>in</strong>er besonderen Stelle vor dem Missionshaus zu vergraben. „Ich sprach dem<br />

wackeren Manne me<strong>in</strong>e aufrichtige Anerkennung und Bewunderung für <strong>die</strong>se Erfolge<br />

aus und schlug vor, se<strong>in</strong> Werk noch zu kronen und <strong>die</strong> anstöBigen Schmuckgegenstande,<br />

<strong>die</strong> er glücklich aus den Hausern entfernt hatte, der Wissenschaft zuganglich<br />

zu machen, <strong>in</strong>dem er mir half, sie auszugraben und mitzunehmen. Zuerst<br />

wollte ihm das nicht richtig e<strong>in</strong>leuchten. Endlich aber willigte er e<strong>in</strong>, und <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er<br />

sternhellen Nacht machten wir uns wie zwei heimliche Schatzgraber ans Werk,<br />

nachdem wir uns überzeugt hatten, daB alles um uns herum <strong>in</strong> tiefem Schlummer<br />

lag. Es ware im Interesse der Missionsarbeit nicht gut gewesen, wenn <strong>die</strong> Leute erfahren<br />

hatten, daB wir <strong>die</strong> der Erde übergebenen Schadel herausgenommen und<br />

me<strong>in</strong>en Sammlungen e<strong>in</strong>verleibt hatten."<br />

Aber auch <strong>die</strong> Diener Gottes haben im Laufe der Zeit den Wert der E<strong>in</strong>geborenenkunst<br />

erkannt, und es gibt heute e<strong>in</strong>zelne Versuche, vergangenes Kunstschaffen<br />

neu zu beleben; nur der Reichtum und <strong>die</strong> Qualitat früherer Kult- und Gebrauchsgegenstande<br />

werden nicht mehr erreicht. DaB sich mit dem Ausverkauf der holzgeschnitzten<br />

Götter sogar <strong>die</strong> Missionsarbeit f<strong>in</strong>anzieren laBt, zeigt <strong>die</strong> traurige<br />

Amtspraxis des australischen baptistischen Missionars, Reverend B. Beaver, <strong>in</strong> Telefom<strong>in</strong>.<br />

Dazu muB man wissen, daB das Gebiet um Telefom<strong>in</strong> im westlichen Bergland<br />

von <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea bis vor kurzem noch zu den unberührtesten Regionen<br />

der Insel zahlte, also e<strong>in</strong>es der letzten Refugien traditioneller Kultur war.<br />

Machtige Tambarans waren <strong>die</strong> Zentren vielfaltigen kultischen Lebens. Hier<strong>in</strong><br />

hielt man <strong>die</strong> geheimen Knaben<strong>in</strong>itiationen ab und hier versammelten sich <strong>die</strong><br />

Mannerbünde. Zu den hervorstechendsten Merkmalen ihrer Kultur gehörten riesige<br />

Schilde, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em für <strong>die</strong> Gegend charakteristischen Stil, und kunstvolle Hauszierbretter.<br />

Erstere wurden von mehreren Mannern geme<strong>in</strong>sam geschnitzt und<br />

<strong>die</strong>nten <strong>die</strong>sen im Kampf als geme<strong>in</strong>samer Schutz. Jeder der kunstvollen Schilde<br />

hatte e<strong>in</strong>en eigenen Namen, galt als beseelt und war mit stilisierten Pflanzen und<br />

Ahnenfiguren geschmückt.<br />

Was aus der Telefom<strong>in</strong>-Kultur unter Anleitung des erwahnten Missionars geworden<br />

ist, laBt sich heute an Ort und Stelle ermessen. Aus der uniformen Wellblechwelt<br />

ragt nur das Domizil des Missionars heraus. Wahrend <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen r<strong>in</strong>gsum<br />

<strong>in</strong> verrosteten Wellblechhütten hausen und <strong>in</strong> Lumpen herumlaufen, resi<strong>die</strong>rt<br />

ihr Bekehrer <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Villa, <strong>die</strong> jedem Kolonialverwalter vergangener Zeiten alle<br />

41


Traum und Wirklichkeit<br />

Ehre gemacht hatte. lm Souterra<strong>in</strong> se<strong>in</strong>es Wohnhauses bef<strong>in</strong>det sich e<strong>in</strong>e Art Museumsmagaz<strong>in</strong>.<br />

Es ist gefüllt mit jenen berühmten geschnitzten Zierbrettern, <strong>die</strong> als<br />

Sitz der Ahnengeister galten und früher den E<strong>in</strong>gang jedes Hauses zierten. Mit<br />

e<strong>in</strong>em Teil <strong>die</strong>ser Schatze, von denen der Missionar <strong>die</strong> werdenden Christen befreite,<br />

plant der geschaftstüchtige Gottesmann e<strong>in</strong> Museum. Der gröfiere, dabei künstlerisch<br />

weniger bedeutende Teil <strong>die</strong>nt dem Verkauf. Der Erlös kommt natürlich<br />

den „armen Heiden" zugute. Mit anderen Worten: <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s bezahlen ihre Umerziehung<br />

zum Christentum mit den Schatzen ihrer alten Kultur! Um <strong>die</strong>se Entwicklung<br />

zu bedauern, braucht man wahrlich ke<strong>in</strong> weltfremder Romantiker zu<br />

se<strong>in</strong>. Auch fallt es schwer, angesichts solcher Beispiele, an den Segen der Mission<br />

zu glauben. Dieser E<strong>in</strong>druck verstarkt sich noch, je mehr man der Rivalitaten unter<br />

den verschiedenen Missionen gewahr wird. Nicht weniger als zwölf kirchliche<br />

und neununddreiBig freie Missionen raufen um <strong>die</strong> zwei Millionen <strong>Papua</strong>seelen.<br />

Von kooperativer Arbeit kann bis heute ke<strong>in</strong>e Rede se<strong>in</strong>. Es war mehr als befremdend,<br />

als ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em entlegenen Hochtal Irian Jayas plötzlich erfuhr, dafl der Pilot<br />

<strong>die</strong>sen oder jenen Air-Strip nicht anfliegen darf, weil er der konkurrenzierenden<br />

Mission gehort. Was sollen blofi <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s denken, denen man <strong>die</strong> Stammesfehden<br />

verbietet, wenn sie erkennen, daB <strong>die</strong> Christen untere<strong>in</strong>ander genauso verfe<strong>in</strong>det<br />

und zerstritten s<strong>in</strong>d wie sie selbst?<br />

„H<strong>in</strong>ter welcher Maske verbirgt sich denn nun euer Gott?" f ragt e<strong>in</strong> <strong>Papua</strong> zu<br />

Recht den Kulturhistoriker Helmut Uhlig und Peter Baumann. „Wie sollten wir<br />

dem jungen <strong>Papua</strong>, der kaum lesen und schreiben konnte, <strong>die</strong> verschiedenen Auslegungen<br />

der Bibel erklaren, wie ihm den Streit der Christen untere<strong>in</strong>ander begreiflich<br />

machen?"<br />

Der Kirchenkampf ist aber nicht zuletzt dar<strong>in</strong> begründet, dafi vor allem <strong>die</strong> freien<br />

Missionen auf private Unterstützung angewiesen s<strong>in</strong>d und daher von Statistiken leben.<br />

Sie stehen unter dem Druck, <strong>die</strong> Zahl der Getauften standig vergrölïern zu<br />

mussen. Die E<strong>in</strong>geborenen s<strong>in</strong>d schlau genug, <strong>die</strong>s auszunützen; sie verkaufen ihre<br />

Seele dem Bestbietenden. Derjenige Missionar, der <strong>die</strong> meisten Kokosnüsse abkaufen<br />

kann oder e<strong>in</strong>e neue Hose anzubieten hat, dem fallen <strong>in</strong> der Regel auch <strong>die</strong> Seelen<br />

zu. Das hat schon manchen <strong>Papua</strong> dazu verleitet, mehr als e<strong>in</strong> Glaubensbekenntnis<br />

abzulegen.<br />

Bei aller Kritik am Missionsgebaren und me<strong>in</strong>en grundsatzlichen Vorbehalten gegenüber<br />

der Missionsidee bleiben <strong>die</strong> groflen Ver<strong>die</strong>nste im humanitaren Bereich<br />

unbestritten, der aufopfernde Kampf e<strong>in</strong>zelner gegen Krankheiten oder Alkohol.<br />

Auch ihre Leistungen <strong>in</strong> schulischer Grundausbildung s<strong>in</strong>d hervorzuheben, sofern<br />

sie darüber h<strong>in</strong>ausg<strong>in</strong>gen, fromme Bibelsprüche und christliche Lieder zu vermitteln.<br />

Den katholischen Missionaren ist es weit mehr gelungen, sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Geisteswelt<br />

der E<strong>in</strong>geborenen h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zuversetzen, da sie alle<strong>in</strong> <strong>in</strong>s Land kamen und deshalb<br />

gezwungen waren, aus ihrer angestammten Kultur herauszutreten, wahrend<br />

Verkünder anderer Missionen haufig ihre ganze Familie mitbrachten und dadurch<br />

isoliert blieben.<br />

lm allgeme<strong>in</strong>en kann man davon ausgehen, dal} alle Missionare mit der Absicht <strong>in</strong>s<br />

Land gekommen s<strong>in</strong>d, Gutes zu tun und zu helfen, wie eng auch immer ihre dogmatische<br />

Haltung ist. Das unterscheidet sie grundsatzlich von Kolonialbeamten,<br />

42


E<strong>in</strong> typisches Beispiel: Lanuk<br />

Handlern, Glücksrittern und Vertretern anderer Spezialberufe, bei denen man das<br />

nicht ohne weiteres voraussetzen kann.<br />

Offenkundig aber ist, daB <strong>die</strong> Missionen heute, vor allem im Ostteil der Insel, vor<br />

groBen Problemen stehen. Sie haben Mühe, den Glauben an <strong>die</strong> jüngere Generation<br />

heranzutragen. Die heute Zwanzig- bis Vierzigjahrigen verb<strong>in</strong>det zwar nichts<br />

mehr mit dem Geisterglauben ihrer Vorfahren, aber sie s<strong>in</strong>d auch nicht mehr für<br />

das Christentum zu gew<strong>in</strong>nen. Sie s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>em anderen Wesenszug unserer Zivilisation<br />

erlegen, dem materialistischen. Ihr Weltbild besteht aus Konsumwünschen;<br />

europaische Kleidung, Radio, Motorrad und e<strong>in</strong> Leben <strong>in</strong> der Stadt. lm Dorf Ko~<br />

rogo am mittleren Sepik, das ich im Jahre 1980 besuchte, hat man mir zum Abschied<br />

feierlich e<strong>in</strong>e komplette Wunschliste überreicht.<br />

Ich traute me<strong>in</strong>en Augen nicht, als ich darunter D<strong>in</strong>ge wie Cassettenrecorder,<br />

Schuhe und Lippenstift für <strong>die</strong> Madchen fand; sogar e<strong>in</strong> Auto mit genauer Typenangabe<br />

fehlte nicht. Die Wünsche s<strong>in</strong>d geweckt. Wer wird sie erfüllen? Die gegenwartige<br />

Entwicklung deutet an, daB <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen, wenn nicht anders möglich,<br />

es mit Gewalt versuchen wollen. Die bedrohlich wachsende Krim<strong>in</strong>alitat <strong>in</strong> den<br />

Stadten <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>eas s<strong>in</strong>d ernstzunehmende Anzeichen dafür.<br />

Die E<strong>in</strong>sicht der Missionen über mögliche vergangene Fehler kommt hier wahrsche<strong>in</strong>lich<br />

zu spat. Im Westteil der Insel, wo <strong>die</strong> missionarischen Fronten eben vorrücken,<br />

sche<strong>in</strong>t man aus der <strong>Vergangenheit</strong> gelernt zu haben. Hier verzichtet man<br />

im allgeme<strong>in</strong>en auf e<strong>in</strong>e Blechhütten- und Lumpenkultur und belaBt <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s <strong>in</strong><br />

ihren traditionellen Hausern und Kleidungen. Auch haben sich <strong>die</strong> Methoden wesentlich<br />

verfe<strong>in</strong>ert, man geht behutsamer vor; doch das Ziel ist das gleiche geblieben;<br />

es heiBt Veranderung und Anpassung an e<strong>in</strong>e ihrer Me<strong>in</strong>ung nach überlegene<br />

Lebensform.<br />

Wie schnell jahrtausendealte Kuituren vernichtet werden, zeigt das Beispiel e<strong>in</strong>es<br />

<strong>Papua</strong>-Dorfes im Hochland von Irian Jaya, das ich <strong>in</strong>nerhalb weniger Jahre zweimal<br />

besuchte.<br />

Das Dorf Lanuk liegt im zentralen Bergland, vier bis fünf Tagesmarsche entfernt<br />

von Mulia, dem letzten Vorposten der Zivilisation. Der Weg dorth<strong>in</strong> ist schwierig<br />

und gefahrlich. Ohne <strong>die</strong> Hilfe e<strong>in</strong>geborener, urwalderfahrener <strong>Papua</strong>s hatte ich<br />

weder von der Existenz des Dorfes erfahren, noch ware ich imstande gewesen, es<br />

zu f<strong>in</strong>den. Bis zu dreitausendfünfhundert Meter hohe Bergrücken und machtige<br />

Flüsse trennen Lanuk von Mulia. Tropische Regengüsse machen e<strong>in</strong>en Teil des<br />

Terra<strong>in</strong>s unpassierbar; unsche<strong>in</strong>bare R<strong>in</strong>nsale verwande<strong>in</strong> sich plötzlich <strong>in</strong> reiBende<br />

Flüsse oder stürzen <strong>in</strong> machtigen Wasser f allen zu Tal. Ke<strong>in</strong> Sonnenstrahl vermag<br />

den Urwald zu durchdr<strong>in</strong>gen. Tagelang marschierten wir durch wegloses Gelande,<br />

im steten Halbdunkel vermodernder Gewachse, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en süBlichen Geruch<br />

von Faulnis verbreiten.<br />

Die Bewohner von Lanuk gehören dem Stamm der Wano an. Sie s<strong>in</strong>d Verwandte<br />

der benachbarten Dani, deren geme<strong>in</strong>same Heimat e<strong>in</strong>st das „GroBe Baliem-Tal"<br />

war. Re<strong>in</strong> auBerlich gibt es kaum Unterschiede; auch <strong>die</strong> Wanomanner tragen als<br />

e<strong>in</strong>ziges Kleidungsstück e<strong>in</strong>e Art Penisfutteral aus e<strong>in</strong>er ausgehöhlten, getrockneten<br />

Kürbisfrucht. Die Madchen s<strong>in</strong>d bis zum Zeitpunkt der Heirat mit e<strong>in</strong>em Bast-<br />

43


Traum und Wirklichkeit<br />

rock bekleidet. Danach erhalten sie von ihren Ehemannern e<strong>in</strong>en Rock aus lose zusammengefügten<br />

Faserschnüren.<br />

Die Bearbeitung von Metall ist ihnen unbekannt, ebenso <strong>die</strong> Töpferei. Sie haben<br />

ke<strong>in</strong>e Schrift, um ihre Sprache aufzuzeichnen, und alle ihre Werkzeuge und Gerate<br />

waren bis vor wenigen Jahren nur aus Ste<strong>in</strong>, Holz oder Knochen gefertigt. Auf<br />

Grund ihres isolierten Lebensraumes blieben auflere E<strong>in</strong>flüsse lange Zeit beschrankt<br />

und bewirkten kaum nennenswerte Veranderungen <strong>in</strong> ihren kulturellen<br />

Traditionen. Noch gab es kaum Unterschiede <strong>in</strong> den Besitzverhaltnissen; <strong>die</strong> Natur<br />

bot ihnen alles, was sie zum Leben benötigten, und ke<strong>in</strong>er besaB mehr als der andere.<br />

Nur Kaurimuscheln und Schwe<strong>in</strong>e bildeten e<strong>in</strong>e Ausnahme. Dabei ist bemerkenswert,<br />

daB <strong>in</strong> ihrer Gesellschaft nicht der als reich angesehen wurde, der viel besaB,<br />

sondern derjenige, der am meisten verschenkte. Gelegenheiten zum Austausch<br />

von Geschenken gab es reichlich: z. B. bei Hochzeiten, Totenfeiern, Schwe<strong>in</strong>efesten...<br />

Muscheln und Schwe<strong>in</strong>e hatten aber auch magische Bedeutung. Das Schwe<strong>in</strong> war<br />

zentrales Opfertier und durfte nur zu besonderen Anlassen geschlachtet werden.<br />

Ke<strong>in</strong> Fest, ke<strong>in</strong>e Zeremonie oder magische Kulthandlung war ohne Schwe<strong>in</strong>eopfer<br />

denkbar. Hoden und Schwanze der getöteten Tiere <strong>die</strong>nten als Fetische, <strong>die</strong> man<br />

im Mannerhaus aufbewahrte.<br />

Das hat sich <strong>in</strong> den letzten Jahren grundlegend geandert. Seit dem Zeitpunkt namlich,<br />

seit dem Missionare aus Mulia - mittels Helikopter - das Dorf regelmaBig<br />

aufsuchen. Schon vom ersten Besuch an verteilten sie Geschenke an ausgewahlte<br />

Personen. Frauen erhalten Glasperlenschmuck und Kleider, junge Münner kurz<br />

vor der Initiation werden mit Stahlaxten und Messern beschenkt. Das Ziel ist offenkundig:<br />

das allgeme<strong>in</strong>e Verlangen nach Zivilisationsgütern zu wecken, anderseits<br />

<strong>die</strong> Macht der traditionellen Führer zu brechen, <strong>die</strong> ihrer Me<strong>in</strong>ung nach nur<br />

auf heidnischem Aberglauben beruht.<br />

In der Wano-Gesellschaft gibt es ke<strong>in</strong>en absolut anerkannten Hauptl<strong>in</strong>g, sondern<br />

nur Manner („Big Men"), <strong>die</strong> auf Grund ihrer Fahigkeiten für bestimmte Bereiche<br />

kompetent s<strong>in</strong>d: etwa e<strong>in</strong> Mann, der Krankheiten heilt; e<strong>in</strong>er, der bei der Jagd <strong>die</strong><br />

Führung übernimmt; e<strong>in</strong> anderer ist für kultische Belange zustandig. Die Autoritat<br />

<strong>die</strong>ser Manner ist begrenzt und schw<strong>in</strong>det mit dem Verlust der Fahigkeiten, auf denen<br />

ihre Autoritat beruht.<br />

Die Veranderungen im Dorf <strong>in</strong>folge missionarischer E<strong>in</strong>flüsse waren bald deutlich<br />

spürbar. Der Wert importierter Zivilisationsgüter steigt zusehends und wird so beherrschend,<br />

daB vor allem <strong>die</strong> heranwachsenden jungen Manner dem Verlangen<br />

danach nicht widerstehen können. E<strong>in</strong>ige folgen bereitwillig dem Ruf der Missionare,<br />

nach Mulia zu kommen. Dort werden sie im Schnellverfahren „missioniert"<br />

und mit dem Auftrag, ihre Brüder zum neuen Glauben zu überreden, <strong>in</strong>s Dorf zurückgeschickt.<br />

Der gesamten Dorfbevölkerung werden Geschenke <strong>in</strong> Aussicht gestellt,<br />

unter der Voraussetzung, daB sie ihre Fetische verbrennen und sich taufen<br />

lassen. Die Berichte der zurückgekehrten „Missionierten" von der machtigen Religion<br />

der WeiBen, <strong>die</strong> ihnen sche<strong>in</strong>bar unbegrenzten materiellen Reichtum beschert,<br />

gepaart mit der Hoffnung, daran zu partizipieren, verfehlen nicht <strong>die</strong> beabsichtigte<br />

Wirkung. Schon nach kurzer Zeit ist <strong>die</strong> überwiegende Mehrheit bereit, sich taufen<br />

44


Der „Güterkult"<br />

zu lassen. In e<strong>in</strong>er groBen Zeremonie werden alle Fetische verbrannt, <strong>die</strong> Waffen<br />

vernichtet und <strong>die</strong> heiligen „jao"-Ste<strong>in</strong>e <strong>in</strong> den Flufi geworfen. Anfangs herrscht<br />

allgeme<strong>in</strong> <strong>die</strong> Me<strong>in</strong>ung vor, sie würden sich nach der Taufe selbst <strong>in</strong> WeiBe verwandeln.<br />

Da sich <strong>die</strong>s nicht erfüllt, bleibt <strong>die</strong> Hoffnung, am Reichtum der WeiBen<br />

teilzuhaben. Das hat sich bis heute nicht verandert. Hier hat der Cargo-Kult se<strong>in</strong>e<br />

Wurzeln.<br />

E<strong>in</strong>st geheiligte Brauche wie Initiationsfeiern und Schwe<strong>in</strong>efeste mussen unter dem<br />

Druck der Mission aufgegeben werden. Am scharfsten wenden sie sich gegen <strong>die</strong><br />

Vielweiberei. Dabei wurde ich e<strong>in</strong>mal Zeuge e<strong>in</strong>er Ause<strong>in</strong>andersetzung zwischen<br />

dem Dorfführer Ugimban und e<strong>in</strong>em Missionar aus Ilu. Der Missionar verlangte<br />

vom E<strong>in</strong>geborenen, daB er sich von zwei se<strong>in</strong>er drei Frauen trennen solle. Ugimban<br />

bedauerte <strong>die</strong>s sehr, da er auf jeden Fall <strong>die</strong> Jüngste behalten werde. Aber: „Warum<br />

soll ich <strong>die</strong> zwei alteren Frauen verstoBen, mit denen ich viele Jahre zusammenlebte<br />

und <strong>die</strong> mir gute Frauen waren?"<br />

Die „neue Religion" - oder, sollen wir besser sagen: der „Güterkult" - bee<strong>in</strong>fluBt<br />

<strong>in</strong> zunehmendem MaBe auch alle anderen Bereiche des Lebens. So hat sich der<br />

Brautpreis <strong>in</strong>nerhalb weniger Jahre vervielfacht. An Stelle der früher verwendeten<br />

Gegenstande wie Ste<strong>in</strong>e, Muscheln und Schwe<strong>in</strong>e s<strong>in</strong>d langst Stahlaxte, Glasperlen,<br />

ja sogar Radios getreten. Die jungen Manner s<strong>in</strong>d deshalb gezwungen, sofern sie<br />

heiraten wollen, ihr Dorf zu verlassen, um <strong>in</strong> Missionsstationen und Handelsniederlassungen<br />

Geld zu ver<strong>die</strong>nen. E<strong>in</strong>e weitere Entfremdung zu ihrer angestammten<br />

Lebensform ist <strong>die</strong> logische Folge. Das gesamte überkommene Sozialgefüge gerat<br />

<strong>in</strong>s Wanken. Ihre Verantwortung gegenüber der Geme<strong>in</strong>schaft und ihr E<strong>in</strong>gebettetse<strong>in</strong><br />

<strong>in</strong> Familie und Dorfgeme<strong>in</strong>schaft geht zwangslaufig verloren.<br />

Die Veranderungen im Dorf Lanuk, das stellvertretend für viele ist, haben aber<br />

noch e<strong>in</strong>e ganz andere Dimension; namlich e<strong>in</strong>e ökologische.<br />

Absolute Nahrungsgrundlage der Berg-<strong>Papua</strong>s s<strong>in</strong>d nach wie vor SüBkartoffeln.<br />

Durch Brandrodung wird der Urwald vernichtet und werden Anbauflachen geschaffen.<br />

Die Felder werden von den Frauen bestellt. Dazu <strong>die</strong>nt ihnen als e<strong>in</strong>ziges<br />

Gerat e<strong>in</strong> Grabstock aus Holz. Diese Technik mag zwar <strong>in</strong> unseren Augen auBerst<br />

primitiv se<strong>in</strong>, aber sie ist dennoch viel besser geeignet, <strong>die</strong> dunne Nahrstoffschicht<br />

im tropischen Urwaldboden für langere Zeit zu erhalten.<br />

Der Brandrodungsfeldbau ist aber nur so lange ökologisch tragbar, solange <strong>die</strong> Bevölkerungsdichte<br />

nicht zu groB ist. Durch das Vordr<strong>in</strong>gen der Zivilisation und <strong>die</strong><br />

damit verbundene bessere mediz<strong>in</strong>ische Versorgung steigen <strong>die</strong> Bevölkerungszahlen<br />

rasch. H<strong>in</strong>zu kommt, daB <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s mit dem Zusammenbruch ihrer alten<br />

Kultur auch geburtenregelnde Praktiken aufgeben. So übten <strong>die</strong> Wano beispielsweise<br />

e<strong>in</strong>e vier- bis sechsjahrige sexuelle Abst<strong>in</strong>enz nach der Geburt jedes K<strong>in</strong>des.<br />

Steigende Bevölkerungszahlen s<strong>in</strong>d deshalb e<strong>in</strong> Problem, da e<strong>in</strong> Brandrodungsfeld<br />

nur wenige Jahre bestellt werden kann. Danach muB es m<strong>in</strong>destens zehn Jahre<br />

lang brach liegen, damit sich der Boden erholen kann. Nach e<strong>in</strong>er zweiten Nutzungsperiode<br />

ist der Boden so ausgelaugt, daB nur mehr hohes Gras nachwachst.<br />

Diese Grasflachen, gleichsam „Krebsgeschwüre" im tropischen Urwald, werden<br />

heute immer gröBer und beschleunigen den erschreckenden Rückgang der Regenwalder.<br />

Das Verschw<strong>in</strong>den der tropischen Regenwalder, nicht alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea,<br />

45


Traum und Wirklichkeit<br />

sondern <strong>in</strong> vielen Teilen der Welt, ist sicherlich e<strong>in</strong> viel gröBeres Problem als das<br />

Waldsterben <strong>in</strong> unseren Breiten.<br />

Die Ergebnisse der Zivilisierung s<strong>in</strong>d natürlich nicht pauschal negativ. Ich bestreite<br />

nicht, daB moderne Technik <strong>in</strong> vielen Fallen bessere Lebensbed<strong>in</strong>gungen schafft.<br />

Das Christentum verdrangt e<strong>in</strong>en Glauben, der auf Angst beruht, und pragt Achtung<br />

vor dem Menschenleben e<strong>in</strong>. Moderne Mediz<strong>in</strong> heilt sie von Krankheiten, <strong>die</strong><br />

sie vorher nie kannten. Nur s<strong>in</strong>d sie damit nicht glücklich! Denn früher hatten sie<br />

wenige Bedürfnisse, und es gelang ihnen deshalb haufig, jedenfalls viel öfter als<br />

uns konsumorientierten Abendlandern, sie alle zu befriedigen.<br />

46


Flufifahrt am Sepik<br />

An <strong>die</strong>sem Tag herrscht e<strong>in</strong> heiUoses Gedrange und Geschiebe am Flughafen von<br />

Port Moresby, der Hauptstadt <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>eas. Nur mit Mühe und e<strong>in</strong>igem<br />

Verhandlungsgeschick gel<strong>in</strong>gt es mir, noch e<strong>in</strong> Ticket für den Flug nach Wewak zu<br />

ergattern. Dementsprechend vollgestopft ist <strong>die</strong> Kab<strong>in</strong>e der modernen Fokker<br />

F-27, <strong>die</strong> überraschend pünklich vom Rollfeld abhebt. Es sche<strong>in</strong>t paradox, daB e<strong>in</strong><br />

Land wie <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea, dessen Bewohner zum Teil noch im Lendenschurz<br />

herumlaufen und Geister und Ahnen verehren, e<strong>in</strong>e Flugl<strong>in</strong>ie besitzt, <strong>die</strong> <strong>in</strong> bezug<br />

auf Sicherheit und Pünktlichkeit denen sogenannter zivilisierter Lander <strong>in</strong> nichts<br />

nachsteht. Alle wichtigen Punkte des Landes werden von Masch<strong>in</strong>en der nationalen<br />

Fluggesellschaft Air Niug<strong>in</strong>i angeflogen. Dazu kommen <strong>in</strong>ternationale Flüge,<br />

<strong>die</strong> Port Moresby mit den Hauptstadten wichtiger Nachbarstaaten verb<strong>in</strong>den, z. B.<br />

Sydney, Jakarta, Manila...<br />

Zwar rekrutieren sich <strong>die</strong> Piloten und das technische Personal noch überwiegend<br />

aus Weifien, aber schon sitzt der erste E<strong>in</strong>geborene h<strong>in</strong>ter dem Steuerknüppel e<strong>in</strong>es<br />

modernen Düsenjets. E<strong>in</strong>en <strong>in</strong>ternationalen Vergleich halt <strong>die</strong> Air Niug<strong>in</strong>i auch<br />

stand, was <strong>die</strong> Preise betrifft; sie s<strong>in</strong>d sogar unverschamt hoch, vor allem <strong>in</strong> Anbetracht<br />

der relativ kurzen Flugstrecken. Daher versetzt es mich nicht wenig <strong>in</strong> Erstaunen,<br />

daJ3 neunzig Prozent der Passagiere <strong>Papua</strong>s s<strong>in</strong>d, von denen man annimmt,<br />

sie würden kaum so viel Geld besitzen, um überhaupt <strong>die</strong> Fahrt zum Flughafen<br />

bezahlen zu können. Noch erstaunlicher ist es, wie schnell sie sich den veranderten<br />

Lebensbed<strong>in</strong>gungen anpassen. Wer erwartet, E<strong>in</strong>geborene anzutreffen, <strong>die</strong><br />

sich <strong>in</strong> der „Neuen Welt" nicht zurechtf<strong>in</strong>den können, wird überrascht se<strong>in</strong>. Es ist<br />

bemerkenswert, mit welcher Selbstverstandlichkeit sie sich beispielsweise des Flugzeugs<br />

be<strong>die</strong>nen, gerade so, als ware es seit eh und je ihr ureigenstes Fortbewegungsmittel.<br />

Nichts unterscheidet reisende <strong>Papua</strong>s von anderen Reisenden. Wirklich<br />

nichts? Doch. E<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Unterschied gibt es; <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s pflegen mit ihren<br />

Kopfkissen unterm Arm zu verreisen!<br />

Mittlerweile überfliegen wir bereits <strong>die</strong> Owen Stanley Range. Mit Kunaigras bewachsene<br />

Hügel wechseln mit grünen, von Urwaldern bedeckten Berghangen.<br />

Dazwischen bahnen machtige Flüsse sich ihren Weg zum Meer. Geschickt steuert<br />

der Pilot durch das wildzerklüftete Bergland. Das Tal wird wieder breiter, und <strong>in</strong><br />

der Ferne, nicht viel gröBer als e<strong>in</strong>e Briefmarke, wird e<strong>in</strong> Flugfeld erkennbar. Kurze<br />

Zeit spater landet <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e auf der holprigen Piste von Mt. Hagen. E<strong>in</strong><br />

GroBteil der Passagiere verlaBt das Flugzeug; es ist e<strong>in</strong> lustiges Bild, wie e<strong>in</strong>er nach<br />

dem anderen, das Kopfkissen unter den Arm geklemmt, quer über das Rollfeld<br />

zum Flughafengebaude schreitet. Auch e<strong>in</strong>ige neue Fluggaste steigen zu. Nichts<br />

AuBergewöhnliches. E<strong>in</strong> paar <strong>Papua</strong>-Frauen mit prall gefüllten Tragnetzen, e<strong>in</strong><br />

Mann, der sichtlich mit Stolz e<strong>in</strong>en glitzernden japanischen Cassettenrecorder mit<br />

sich schleppt, und e<strong>in</strong> ch<strong>in</strong>esischer Handler. Aber dann taucht e<strong>in</strong>e Gestalt auf, bei<br />

deren Anblick es mir <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Umgebung <strong>die</strong> Sprache verschlagt. E<strong>in</strong> Passagier im<br />

47


Flufifahrt am Sepik<br />

Urwald-Look, von der Grasschürze abgesehen splitternackt, mit e<strong>in</strong>er Feder im<br />

Haar und e<strong>in</strong>er geflochtenen Tasche um den Hals. Die Stewardefi führt ihn an se<strong>in</strong>en<br />

Platz und gibt sich sichtlich Mühe, ihn von der Notwendigkeit der Anschnallpflicht<br />

zu überzeugen.<br />

Wir fliegen nun <strong>in</strong> nordöstlicher Richtung. Langsam treten <strong>die</strong> Berge zurück, das<br />

zentrale Hochland mit den viertausend Meter hohen Gipfeln liegt bald h<strong>in</strong>ter uns,<br />

und <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e steuert allmahlich der Kilste zu.<br />

Unmittelbar vor der Landung <strong>in</strong> Wewak überfliegen wir das Mündungsgebiet e<strong>in</strong>es<br />

gewaltigen Flusses, dessen dunkelbraune, schlammige Wassermassen noch im Umkreis<br />

vieler Kilometer das Meer trüben. Ke<strong>in</strong> Zweifel, es ist der Sepik, der machtigste<br />

FluB der Insel, der drittgröBte der Welt, der Wassermenge nach gemessen. Was<br />

der Amazonas für Brasilien, das ist der Sepik, wenngleich auch <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>erem Mafistab,<br />

für Neugu<strong>in</strong>ea. Er ersetzt <strong>die</strong> StraBen <strong>in</strong>s H<strong>in</strong>terland. Er bildet mit se<strong>in</strong>en vielen<br />

Nebenflüssen, Seitenarmen und Überschwemmungsgebieten e<strong>in</strong> riesiges<br />

Sumpftiefland und ist e<strong>in</strong> fast unberührtes Reservat für Reptilien, Insekten und<br />

Vogel. Kaum vorstellbar für e<strong>in</strong>en Menschen, der aus e<strong>in</strong>er Welt kommt, wo <strong>die</strong><br />

Natur gezahmt, kaum e<strong>in</strong> FluB noch naturbelassen dah<strong>in</strong>flieBt und nahezu jedes<br />

Feuchtbiotop trockengelegt oder unter e<strong>in</strong>em Stausee begraben ist. Der Sepik hat<br />

e<strong>in</strong>e ganze Landschaft geformt. Mit unzahligen W<strong>in</strong>dungen strebt er „ungenutzt"<br />

dem Meer zu. Zurück bleiben abgetrennte Arme, Tümpel und riesige Überschwemmungsgürtel<br />

zu beiden Seiten.<br />

Wewak liegt auf e<strong>in</strong>er Halb<strong>in</strong>sel. Aus der Luft erkennt man am besten <strong>die</strong> ganze<br />

symmetrische Anlage des Stadtkerns. Die meisten Hauser haben Wellblechdacher,<br />

nur am Stadtrand stehen noch e<strong>in</strong> paar Strohhütten, aber schon unmittelbar dah<strong>in</strong>ter<br />

fangt der Urwald an.<br />

Nach e<strong>in</strong>er langgezogenen Schleife setzt der Pilot se<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e sicher auf. In <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea<br />

gibt es noch ke<strong>in</strong>e Taxis oder Autobusse. Wozu auch, es s<strong>in</strong>d ja<br />

kaum StraBen dafür vorhanden. Auf den wenigen befahrbaren Verkehrswegen erfolgt<br />

der Personen- und auch der Gütertransport mit sogenannten PMW (= Public<br />

Motor Vehicles), das s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Stadten Kle<strong>in</strong>busse und auf dem Land Lastkraftwagen<br />

mit groBer Ladeflache. Am Steuer jedes Wagens sitzt e<strong>in</strong> tollkühner<br />

Fahrer, für den jedes andere Fahrzeug auf der StraBe e<strong>in</strong>e Herausforderung an<br />

se<strong>in</strong> fahrerisches Können bedeutet. Die haarstraubenden Überholmanöver gleichen<br />

Duellen vergangener Stammesfehden, das Gehupe nach vollbrachter Aktion kl<strong>in</strong>gt<br />

wie Hohngelachter. Es sterben heute bereits mehr <strong>Papua</strong>s bei Autounfallen als bei<br />

Stammeskriegen.<br />

Die drückende Hitze <strong>in</strong> Wewak macht mix schwer zu schaffen. Ke<strong>in</strong> Wunder,<br />

schlieBlich bewegte ich mich noch vor knapp drei Tagen im w<strong>in</strong>terlichen Südosten<br />

Australiens.<br />

SchweiBgebadet stehe ich vor der Pforte der katholischen Mission und bitte um<br />

E<strong>in</strong>lafi. Hier habe ich schon bei me<strong>in</strong>er letzten Reise e<strong>in</strong> paar Tage zugebracht und<br />

hoffe auch <strong>die</strong>smal wieder aufgenommen zu werden. Ich sollte mich irren. „So, so,<br />

Sie wollen also hier übernachten", wiederholt der Pater me<strong>in</strong>e Frage mürrisch und<br />

mustert mich dabei unverhohlen. „Das ist ausgeschlossen, wissen Sie denn nicht,<br />

wie gefahrlich es <strong>in</strong> letzter Zeit hier geworden ist; <strong>die</strong> Krim<strong>in</strong>alitat hat so zugenom-<br />

48


Begegnungen beim Gottesmann<br />

men, daB nicht e<strong>in</strong>mal <strong>die</strong> Mission mehr e<strong>in</strong> sicherer Ort ist. Vor gar nicht langer<br />

Zeit wurde sogar <strong>in</strong> der Kirche e<strong>in</strong>gebrochen!"<br />

Ich gebe mich noch nicht geschlagen und frage, ob er mir nicht wenigstens erlauben<br />

könne, me<strong>in</strong> Zelt im Missionsareal aufzustellen.<br />

„Ne<strong>in</strong> ne<strong>in</strong>, das ware Wahns<strong>in</strong>n", ereifert sich der Gottesmann. „Sie können überall<br />

campieren, wenn Sie schon so verrückt s<strong>in</strong>d, nur nicht <strong>in</strong>nerhalb der Mission.<br />

Denn wir können für Ihre Sicherheit nicht garantieren."<br />

So weit hat es wohl kommen mussen, denke ich. Die <strong>Papua</strong>s sche<strong>in</strong>en nun e<strong>in</strong>en<br />

„direkten" Weg e<strong>in</strong>zuschlagen, um an <strong>die</strong> begehrten Güter der WeiBen zu gelangen,<br />

ohne den „Umweg" über das Christentum.<br />

In der Tat lassen sich starke Abgange <strong>in</strong> den Kirchen verzeichnen. Bereits totgesagte<br />

Kulte leben wieder auf, und Bewegungen entstehen, <strong>die</strong> stark antichristliche<br />

Tendenzen zeigen.<br />

Auf der Suche nach e<strong>in</strong>em geeigneten Nachtquartier stoBe ich bald auf <strong>die</strong> Adresse<br />

e<strong>in</strong>es Deutschen, der <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Haus Reisenden Asyl gewahrt und damit e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es<br />

Zubrot ver<strong>die</strong>nt. Zu me<strong>in</strong>er gröBten Überraschung b<strong>in</strong> ich ke<strong>in</strong>eswegs der e<strong>in</strong>zige<br />

Gast des Hauses; zwei Amerikaner<strong>in</strong>nen und e<strong>in</strong> junger Deutscher s<strong>in</strong>d schon lange<br />

vor mir angekommen, und mit ihnen teile ich das e<strong>in</strong>zig verfügbare Zimmer.<br />

Carol und Betty s<strong>in</strong>d von bürgerlichem Beruf Krankenschwestern; gleichzeitig beseelt<br />

sie e<strong>in</strong>e ungeheure Reiselust, der sie von Zeit zu Zeit nachgeben. Ihnen gel<strong>in</strong>gt<br />

es, zu verwirklichen, wovon viele junge Menschen traumen; sie s<strong>in</strong>d Aussteiger mit<br />

Sicherheitsnetz, oder, anders ausgedrückt, sie haben <strong>die</strong> Möglichkeit, nach e<strong>in</strong>jahriger<br />

Unterbrechung wieder <strong>in</strong> den Beruf e<strong>in</strong>zusteigen. Norbert dagegen ist e<strong>in</strong> echter<br />

Aussteiger, e<strong>in</strong> moderner Nomade, seit gut e<strong>in</strong>em Jahrzehnt zieht er von Land<br />

zu Land und von Kont<strong>in</strong>ent zu Kont<strong>in</strong>ent, versucht, so bescheiden wie möglich zu<br />

leben. Das nötige Geld für se<strong>in</strong> Wanderleben ver<strong>die</strong>nt er sich durch diverse Jobs.<br />

Beim üblichen Erfahrungsaustausch lerne ich ihn besser kennen. Se<strong>in</strong>e ruhige und<br />

ausgeglichene Wesensart gefallt mir. Wir verstehen uns auf Anhieb, und als das<br />

Stichwort Sepik fallt, stellen wir fest, dafi wir eigentlich beide dah<strong>in</strong> wollen. Es ist<br />

e<strong>in</strong> langgehegter Wunsch von mir, e<strong>in</strong>mal den gröBten Flufi Neugu<strong>in</strong>eas auf der<br />

kulturell <strong>in</strong>teressantesten Strecke zwischen Pagwi und Angoram mit e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>baum<br />

zu befahren. Da Norbert von <strong>die</strong>ser Idee genauso begeistert ist wie ich, steht<br />

dem geme<strong>in</strong>samen Unternehmen nichts mehr im Wege, und zu zweit paddelt es<br />

sich allemal leichter als alle<strong>in</strong>.<br />

Schon früh am nachsten Morgen stehen wir an der Schotterstrafie nach Pagwi.<br />

DaB wir an <strong>die</strong>sem Tag machtig Staub schlucken werden, ist uns schon nach den<br />

ersten vorbeirasenden Fahrzeugen klar. Wir s<strong>in</strong>d auf e<strong>in</strong>e langere Wartezeit e<strong>in</strong>gestellt,<br />

aber wie so oft auf Reisen nehmen <strong>die</strong> D<strong>in</strong>ge e<strong>in</strong>e andere Wendung, als man<br />

vorher dachte. Anstelle des erwarteten, hoffnungslos überfüllten PMVs halt e<strong>in</strong><br />

leerer, klappriger Lastkraftwagen. Der Fahrer, e<strong>in</strong> junger <strong>Papua</strong>, deutet uns, auf<br />

der Ladeflache Platz zu nehmen. In e<strong>in</strong>em Höllentempo, als wolle er <strong>die</strong> e<strong>in</strong>hundertvierzig<br />

Kilometer nach Maprik <strong>in</strong> Rekordzeit bewaltigen, braust er los. Wir haben<br />

alle Hande voll zu tun, um nicht von der ungesicherten Ladeflache zu rutschen.<br />

Die StraBe führt nun steil bergauf. Urwaldbewachsene Hange ziehen l<strong>in</strong>ks und<br />

49


Flujifahrt am Sepik<br />

rechts vorbei. Die machtigen Baume neigen ihre Kronen so weit über <strong>die</strong> StraBe,<br />

daB wir wie durch e<strong>in</strong>en Tunnel fahren. Nach ungefahr zwei Stunden s<strong>in</strong>d wir mitten<br />

im Pr<strong>in</strong>z-Alexander-Gebirge. Die ersten Dörfer tauchen auf, an e<strong>in</strong>er Weggabelung<br />

ist <strong>die</strong> Autofahrt zu Ende. Die letzten paar Kilometer des Weges nach<br />

Maprik legen wir zu FuB zurück.<br />

Der Dorfmittelpunkt bef<strong>in</strong>det sich auf e<strong>in</strong>er weit ausladenden Hügelkuppe. Die<br />

e<strong>in</strong>zelnen Wohnhauser stehen im Kreis angeordnet um e<strong>in</strong>en groBen Platz. Das<br />

Zentrum bilden drei gigantische Bauwerke, wie Hochhauser im Busch überragen<br />

sie alles andere, was Menschenhande errichteten. Es s<strong>in</strong>d Tambarans, Kult- und<br />

Geisterhauser, wie es sie <strong>in</strong> den meisten Dörfern am mittleren Sepik gibt. Diese hier<br />

s<strong>in</strong>d mit Abstand <strong>die</strong> höchsten. Ihr Anblick ist überwaltigend, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>drucksvollste<br />

Manifestation e<strong>in</strong>es magisch-religiös durchtrankten Weltbildes. Alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> architektonische<br />

Leistung ist bewundernswert. Die bis zu zwanzig Meter hohen Tambarans<br />

s<strong>in</strong>d nur aus Bambusstangen errichtet, ke<strong>in</strong> Stück Metall und ke<strong>in</strong> Nagel halt<br />

den Riesenbau zusammen. Das <strong>in</strong>teressanteste daran ist <strong>die</strong> Vorderfront. Ganz<br />

oben am First thront e<strong>in</strong>e holzgeschnitzte Figur. Den gröBten Teil der Riesenflache<br />

bedecken ane<strong>in</strong>andergeheftete, flachgedrückte Sagoblattscheiben. Sie s<strong>in</strong>d alle bemalt<br />

mit riesenhaften Gesichtern, deren hervorstechendstes Merkmal <strong>die</strong> überdimensionalen<br />

Augen s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> langer Querbalken, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Schnitzwerk,<br />

schlieBt <strong>die</strong> bemalte Front ab. Über <strong>die</strong> gesamte Lange s<strong>in</strong>d stilisierte Gesichter<br />

herausgeschnitzt, sogenannte „nggwalndu", mythische Stammahnen, <strong>die</strong> früher<br />

bei den Initiationsfeiern der heranwachsenden jungen Manner e<strong>in</strong>e wichtige Rolle<br />

spielten.<br />

Das ganze Gebaude basiert sowohl im GrundriB wie auch im Giebel auf dem alten,<br />

heiligen Zeichen des Dreiecks. Auch <strong>die</strong> meterhohen geflochtenen Masken, <strong>die</strong> zur<br />

E<strong>in</strong>weihung e<strong>in</strong>es neuen Tambaran von ausgewahlten Mannern durchs Dorf getragen<br />

wurden, s<strong>in</strong>d mit magischen Dreiecken bemalt.<br />

Wir stehen voll Staunen und Bewunderung davor und ratseln über <strong>die</strong> geheimnisvollen,<br />

für uns Rationalisten nicht nachvollziehbaren Krafte, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Menschen<br />

e<strong>in</strong>st im Kult vere<strong>in</strong>ten und sie veranlaBten, zur Verehrung ihrer Ahnen und Geister<br />

<strong>die</strong> machtigen Tambarans zu bauen.<br />

Man mufi es wohl als besondere Ironie des Schicksals betrachten, daB von der hohen<br />

Kultur der Abelam ausgerechnet der kultische Mittelpunkt, das Geisterhaus,<br />

übrig blieb.<br />

Sie werden zwar auch noch heute gelegentlich errichtet und <strong>die</strong> Malereien bei Bedarf<br />

erneuert, aber ihre e<strong>in</strong>stige Bedeutung, <strong>die</strong> vielen Geheimnisse, <strong>die</strong> sich um sie<br />

rankten, s<strong>in</strong>d verschwunden. Der ursprüngliche S<strong>in</strong>n der Schnitzwerke ist niemandem<br />

mehr bekannt. Wie wenig <strong>die</strong> heutige Generation mit den Geisterhausern ihrer<br />

Vater verb<strong>in</strong>det, wird mir an Ort und Stelle drastisch vor Augen geführt. Wir mussen<br />

schon e<strong>in</strong>ige Zeit <strong>in</strong> stiller Betrachtung verbracht haben, wagen es aber nicht,<br />

als Fremde und Une<strong>in</strong>geweihte das Innere zu betreten, da nahern sich uns e<strong>in</strong>ige<br />

halbwüchsige <strong>Papua</strong>s. Vielleicht hat unser seltsames Verhalten ihre Aufmerksamkeit<br />

erregt. Jedenfalls mustern sie uns e<strong>in</strong>e Zeitlang neugierig. Plötzlich lost sich<br />

e<strong>in</strong>er aus der Gruppe und betritt, ohne zu zögern, das Tambaran, um Augenblicke<br />

spater mit e<strong>in</strong>er holzgeschnitzten Ahnenfigur <strong>in</strong> der Hand wieder zu ersche<strong>in</strong>en,<br />

50


Erbarmliche Dokumente<br />

<strong>die</strong> er uns selbstbewuBt zum Kauf anbietet. Ich b<strong>in</strong> fassungslos über <strong>die</strong> Mifiachtung<br />

und Ger<strong>in</strong>gschStzung der alten Kultur, <strong>die</strong> sich im Verhalten <strong>die</strong>ser jungen<br />

Menschen offenbart. Was e<strong>in</strong>faltige Missionare nicht zerstört haben und im Auftrag<br />

groBer Museen nicht abtransportiert wurde, wird heute Stück für Stück verkauft.<br />

Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> den Völkerkundemuseen der Bundesrepublik und der Schweiz gew<strong>in</strong>nt<br />

man e<strong>in</strong>en weit besseren E<strong>in</strong>druck von der Kunst am Sepik als an Ort und<br />

Stelle.<br />

Für <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s ist sie verloren, auch wenn man hier und da versucht, ehemaliges<br />

Kunstschaffen als „Kunsthandwerk" unter merkantilem Gesichtspunkt neu zu beleben.<br />

So bleibt das Niveau stets bescheiden, denn es fehlen nicht nur <strong>die</strong> alten<br />

Vorbilder, sondern auch, was noch schwerer wiegt, der e<strong>in</strong>stige religiöse H<strong>in</strong>tergrund.<br />

Kurze Zeit spater betreten wir das Innere des Kulthauses. Der E<strong>in</strong>gang ist e<strong>in</strong> tunnelartiger<br />

Vorbau, so niedrig, dafi man h<strong>in</strong>durchkriechen mufl, als natten <strong>die</strong> Menschen<br />

nochmals <strong>die</strong> GröBe und Erhabenheit unterstreichen wollen. Das Innere ist<br />

e<strong>in</strong> gewaltig hoher Raum. Das standige Dammerlicht vermittelt e<strong>in</strong>e mystische Atmosphare.<br />

Ich kann mir gut vorstellen, welch erregende Stimmung jeden e<strong>in</strong>zelnen<br />

ergriff, wenn sich <strong>die</strong> e<strong>in</strong>geweihten Manner versammelten, um hier <strong>in</strong> der Abgeschiedenheit<br />

des Zeremonialhauses magische Verb<strong>in</strong>dung mit Geistern und Ahnen<br />

aufzunehmen. Von allen Seiten und aus allen Ecken glotzen Gesichter mit riesengroBen<br />

Augen; sie sche<strong>in</strong>en alles zu sehen, es gibt ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, ihnen zu entr<strong>in</strong>nen.<br />

Das gespensterhafte Augenpaar folgt jeder Bewegung.<br />

Niemand konnte und wollte sich der magischen Kraft der Masken entziehen. Es<br />

waren ke<strong>in</strong>e Masken mehr, es waren <strong>die</strong> „nggwalndu" und „wap<strong>in</strong>yan", <strong>die</strong> Klanahnen<br />

und Yamsgeister selbst...<br />

Was heute davon übrig ist: nicht mehr als erbarmliche Dokumente unaufhaltsamen<br />

Verschw<strong>in</strong>dens. Vier holzgeschnitzte Figuren bef<strong>in</strong>den sich noch im gröflten<br />

Tambaran von Maprik. In den umliegenden Dörfern - <strong>in</strong> Ulupu, <strong>in</strong> Numbungai<br />

-, <strong>die</strong> wir <strong>in</strong> den nachsten Tagen besuchen, ist es nicht viel besser.<br />

Der kulturelle Niedergang drückt sich nicht zuletzt <strong>in</strong> der Architektur der Wohnhauser<br />

aus. Die zweckmaBigen, grasbedeckten Holzbauten von früher werden<br />

durch „ungesunde" Wellblechhütten ersetzt. Aus der Silhouette uniformer Blechhauser<br />

ragen <strong>die</strong> Geisterhauser wie Riesenzahne empor. Der Zeremonialplatz <strong>die</strong>nt<br />

höchstens e<strong>in</strong>igen K<strong>in</strong>dern zum Spielen. Neuer Treffpunkt der Manner ist e<strong>in</strong>e<br />

Stehkneipe, <strong>in</strong> der Bier ausgeschenkt wird. Die Bemühungen der katholischen Mission<br />

<strong>in</strong> Maprik, den vollstandigen Verfall alter Sitten und Brauche aufzuhalten,<br />

s<strong>in</strong>d lobenswert, aber sie erreichen nicht viel mehr, als daB immer weitere Bereiche<br />

des traditionellen Lebens verschw<strong>in</strong>den.<br />

Die Fahrt von Maprik zum Sepik ist kurz. Wir bewaltigen sie, e<strong>in</strong>gekeilt zwischen<br />

<strong>Papua</strong>frauen, <strong>die</strong> Knollenfrüchte und Obst zum Markt br<strong>in</strong>gen, wie gewohnt auf<br />

der Ladeflache e<strong>in</strong>es Lastkraftwagens. Kurz vor Pagwi, e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Marktflecken,<br />

beg<strong>in</strong>nt sich der Dschungel allmahlich zu lichten, und e<strong>in</strong> riesiger, breiter<br />

FluB rückt <strong>in</strong> unser Blickfeld. Am Bootsanlegeplatz herrscht Hochbetrieb; aus allen<br />

Richtungen treffen Kanus e<strong>in</strong>. Die meisten der schmalen E<strong>in</strong>bSume werden<br />

schon mit Auflenbordmotoren betrieben. Sie kommen von weit entfernten Dör-<br />

51


Flufifahrt am Sepik<br />

fern, aus Ambunti fluBaufwarts oder fluBabwarts, von den Wohnplatzen der zentralen<br />

Jatmul. Alle haben sie e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>: sie s<strong>in</strong>d hoffnungslos überladen! In<br />

dichtgedrangter Reihe sitzen <strong>die</strong> Frauen, dazwischen, davor und dah<strong>in</strong>ter stapeln<br />

sich Waren aller Art.<br />

Pagwi ist wichtiger Umschlag- und Marktplatz, angeboten werden fast ausschlieBlich<br />

traditionelle Güter wie Sago, Fisch, Yams, Kokosnüsse, Taro und <strong>die</strong> unentbehrlichen<br />

Betelnüsse.<br />

Unsere Sorge ist im Moment unser Fortbewegungsmittel. Wir begeben uns schleunigst<br />

auf <strong>die</strong> Suche nach e<strong>in</strong>em geeigneten E<strong>in</strong>baum. An e<strong>in</strong>em besonderen Platz<br />

am FluBufer entdecken wir <strong>die</strong> Boote der Bewohner von Pagwi; es s<strong>in</strong>d durchwegs<br />

flache schmale E<strong>in</strong>baume <strong>in</strong> verschiedenen Langen mit kunstvoll geschnitzten Spitzen<br />

<strong>in</strong> Form von Krokodilköpfen.<br />

Jedes von ihnen ware uns recht. Aber wo s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Besitzer, und welchen Preis werden<br />

sie für e<strong>in</strong> Kanu verlangen? Nach den Bootseigentümern brauchen wir nicht<br />

lange Ausschau zu halten, denn <strong>die</strong> Nachricht von den zwei Weifien, <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Boot<br />

kaufen wollen, verbreitet sich <strong>in</strong> W<strong>in</strong>deseile. In kurzer Zeit s<strong>in</strong>d wir von Mannern<br />

umr<strong>in</strong>gt. Sie fordern uns auf, das gewünschte Kanu auszuwahlen. Erst dann gibt<br />

sich der Besitzer zu erkennen, <strong>in</strong>dem er aus der Gruppe heraustritt und se<strong>in</strong>en<br />

Kaufpreis nennt. Mich bee<strong>in</strong>druckt vor allem ihre Diszipl<strong>in</strong> und Solidaritat; ke<strong>in</strong>er<br />

versucht, den anderen zu konkurrenzieren oder se<strong>in</strong> „Produkt" besonders herauszustreichen.<br />

Jeder setzt den Preis nach eigenem Ermessen fest. Er richtet sich, soweit<br />

ich feststellen kann, nach der GröBe des E<strong>in</strong>baums und daher auch nach dem<br />

Arbeitsaufwand. NaturgemaB ist <strong>die</strong>ser <strong>in</strong>dividuell verschieden; auch unter den<br />

<strong>Papua</strong>s gibt es geschickte und weniger geschickte Handwerker. Genaugenommen<br />

gibt es immer zwei Preise: E<strong>in</strong> erster, dem, wenn man damit nicht e<strong>in</strong>verstanden<br />

ist, e<strong>in</strong> zweiter, ger<strong>in</strong>gfügig reduzierter Preis folgt. Jedes weitere Feilschen ist<br />

zwecklos; der E<strong>in</strong>geborene würde lieber auf das Geschaft verzichten, als das Angebot<br />

noch e<strong>in</strong> zweites Mal zu korrigieren.<br />

Wir s<strong>in</strong>d bald handelse<strong>in</strong>ig. Der Preis e<strong>in</strong>es Kanus ist viel ger<strong>in</strong>ger, als wir erwartet<br />

haben, was wohl an der kürzeren Bauzeit liegt, <strong>die</strong> sich aus der Verwendung von<br />

Metallwerkzeugen ergibt. Arbeitete früher e<strong>in</strong> Mann bis zu e<strong>in</strong>em Monat an der<br />

Fertigstellung e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>zigen Bootes, so dürften es heute lediglich e<strong>in</strong> paar Tage<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Wir beauftragen den ehemaligen Besitzer, das Boot startklar zu machen, wahrend<br />

wir, im H<strong>in</strong>blick auf unsere Speisekarte für <strong>die</strong> nachsten Tage, e<strong>in</strong>en letzten Gang<br />

zum Markt unternehmen. Als wir wenig spater mit prall gefüllten Taschen zum<br />

FluB zurückkehren, erwartet uns e<strong>in</strong>e Überraschung besonderer Art. E<strong>in</strong>ige <strong>Papua</strong>s<br />

s<strong>in</strong>d emsig damit beschaftigt, unser Kanu mit Blattern zu verpacken. Sie<br />

dachten, wir wollten das Boot als Souvenir mitnehmen, und es bedurfte aller Redekunst,<br />

ihnen klarzumachen, dafi wir damit den Sepik h<strong>in</strong>unterfahren werden. Die<br />

Nachricht schlagt wie e<strong>in</strong>e Bombe e<strong>in</strong>. Samtliche Dorfbewohner s<strong>in</strong>d anwesend,<br />

als wir mit umstandlichen Manövern den E<strong>in</strong>baum <strong>in</strong>s Wasser setzen und <strong>die</strong> letzten<br />

Vorbereitungen für <strong>die</strong> Abfahrt treffen. Der E<strong>in</strong>stieg wird zum Balanceakt ohnegleichen:<br />

mehr als nur e<strong>in</strong>mal rettet uns <strong>die</strong> hilfreiche Hand e<strong>in</strong>es E<strong>in</strong>geborenen<br />

vor e<strong>in</strong>em schlammigen Bad im FluB.<br />

52


Die Enkel des Krokodils<br />

Endlich sitzen wir beide dr<strong>in</strong>nen, das Gepack ist gut verstaut, und ab geht's. E<strong>in</strong><br />

kraftiger AbstoB br<strong>in</strong>gt das Kanu <strong>in</strong> <strong>die</strong> Strömung, und schon gleitet es langsam<br />

flufiabwarts. Die Fahrt mit dem E<strong>in</strong>baum ist e<strong>in</strong>e auBerst wackelige Angelegenheit,<br />

bei jeder unvorsichtigen Bewegung neigt sich das Boot bedenklich zur Seite<br />

und droht zu kippen. Daher lassen wir uns vorerst nur mit der Strömung treiben.<br />

Ich sitze vorne und versuche, das Gleichgewicht zu halten, wahrend Norbert<br />

steuert. Erst spater, als wir uns schon e<strong>in</strong>igermaBen an das labile Fortbewegungsmittel<br />

gewöhnt haben, setzen wir <strong>die</strong> Stechpaddel kraftig e<strong>in</strong>.<br />

Es ist e<strong>in</strong> herrliches Gefühl, auf <strong>die</strong>se Art FluB zu wandern. Wir haben viel Zeit, irgende<strong>in</strong>es<br />

der nachsten Dörfer am FluB ist unser Ziel. Wo es uns gefallt, da wollen<br />

wir bleiben.<br />

Machtig walzt sich der dunkelbraune, mehrere hundert Meter breite Strom duren<br />

<strong>die</strong> Urwaldlandschaft, Baume, Buschwerk, sogar kle<strong>in</strong>e Inse<strong>in</strong> mit sich treibend.<br />

Zu beiden Seiten reihen sich riesenhafte Baume, alle s<strong>in</strong>d mite<strong>in</strong>ander verbunden<br />

und verschlungen durch e<strong>in</strong> Gewirr von Kletterpflanzen. Nur zuweilen schiebt sich<br />

e<strong>in</strong> schmaler Schilfstreifen zwischen Strom und Urwaldmauer. An den Biegungen<br />

haben sich im Laufe der Zeit kle<strong>in</strong>e Sandbanke abgesetzt, <strong>in</strong> deren Nahe gelegentlich<br />

Silberreiher im Wasser stehen und nach Fischen Ausschau halten.<br />

Um <strong>die</strong> Mittagszeit fahren wir an schön angelegten Garten entlang. Immer haufiger<br />

begegnen uns Frauen, <strong>die</strong> mit ihren kle<strong>in</strong>en Kanus unterwegs s<strong>in</strong>d, um im FluB<br />

zu angeln, <strong>die</strong> Fischreusen zu kontrollieren oder um auf entlegenen Feldern zu arbeiten.<br />

Kaum e<strong>in</strong> Kanu, das an uns vorbeifahrt, dessen Spitze nicht kunstvoll geschnitzt<br />

ist. Fast immer ist e<strong>in</strong> Krokodilkopf dargestellt, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Augen s<strong>in</strong>d Muscheln<br />

e<strong>in</strong>gesetzt, und <strong>die</strong> durchbrochene Zahnreihe zeigt auBerst realistisch das<br />

entsetzliche GebiB. Nach der Vorstellung der Sepikleute stammen sie selbst von<br />

e<strong>in</strong>em Krokodil ab. Die geschnitzten Kanuspitzen drücken wohl den Wunsch der<br />

Menschen aus, sich <strong>die</strong> Geschicklichkeit des Krokodils im nassen Element anzueignen.<br />

Das h<strong>in</strong>dert sie aber nicht daran, es zu jagen, wenn sich <strong>die</strong> Gelegenheit bietet.<br />

Erst mit dem Beg<strong>in</strong>n der organisierten „Feldzüge", um den ungeheuren Bedarf an<br />

Hauten <strong>in</strong> den zivilisierten Landern zu decken, ist es am FluB selbst verschwunden<br />

und hat sich <strong>in</strong> <strong>die</strong> schwer zuganglichen Sümpfe zurückgezogen.<br />

Im Sepik-Gebiet kommen zwei Arten vor: das Leisten- und das Neugu<strong>in</strong>ea-Krokodil.<br />

Ersterem, das bis zu sieben Meter lang werden kann, geht man besser aus dem<br />

Wege; es greift auch Menschen an. Das Neugu<strong>in</strong>ea-Krokodil wird seiten langer als<br />

vier Meter. Beide Arten ernahren sich hauptsachlich von Fischen und kle<strong>in</strong>en Tieren,<br />

<strong>die</strong> <strong>in</strong> ihre Reichweite kommen.<br />

Wir bewegen uns nun im Gebiet der Jatmul; e<strong>in</strong> Volk mit groBen künstlerischen<br />

Fahigkeiten, das e<strong>in</strong>e Kultur hervorbrachte, an <strong>die</strong> nur wenige andere Stammesvölker<br />

herankommen. Ihr Kunstschaffen bezog sich nicht alle<strong>in</strong> auf Gegenstande des<br />

Kultes, sondern auch <strong>die</strong> profansten D<strong>in</strong>ge ihrer Umgebung wurden aufwendig gestaltet.<br />

Zum Überleben und zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse genügte e<strong>in</strong> relativ ger<strong>in</strong>ger<br />

Aufwand. Die Hauptnahrung, das starkehaltige Mehl der Sagopalme, war reichlich<br />

vorhanden oder konnte leicht e<strong>in</strong>getauscht werden. In der Trockenzeit verstanden<br />

sie es, auf gut angelegten Garten reiche Ertrage an Knollenfrüchten zu erzie-<br />

53


Flufifahrt am Sepik<br />

len. Dadurch blieb ihnen viel Zeit, <strong>die</strong> sie duren mannigfache Zeremonien und kultische<br />

Feste nutzten.<br />

Vor der Ankunft der WeiBen war ihr Leben ausgefüllt und abwechslungsreich; <strong>die</strong><br />

Manner bevorzugten <strong>die</strong> exklusive „Klubatmosphare" im Geisterhaus, den Frauen<br />

blieben <strong>die</strong> Beschaftigung mit den K<strong>in</strong>dern und allerlei hauswirtschaftliche Tatigkeiten.<br />

Welch erstaunliche Parallele zu unserer Kultur!<br />

Unter bestimmten Dörfern bestanden <strong>in</strong>stitutionalisierte Kopfjagdbeziehungen.<br />

Die Jagdzüge wurden auf langen Kanus unternommen, bis zu zwanzig Manner<br />

desselben Klans saBen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Boot, jeder von ihnen hatte dar<strong>in</strong> se<strong>in</strong>en bestimmten<br />

Platz. E<strong>in</strong> Kopfjagdüberfall muBte gut vorbereitet se<strong>in</strong>, und jeder Erfolg wurde<br />

mit e<strong>in</strong>em groBen Fest gefeiert. Die erbeuteten Köpfe praparierte man und stellte<br />

sie im betreffenden Mannerhaus auf.<br />

Heute ist <strong>die</strong> Kultur der Sepik-Leute tot. Wir brauchen nicht mehr um unsere Köpfe<br />

zu fürchten: <strong>die</strong> Zeiten der Kopfjagerei s<strong>in</strong>d vorbei, aber auch <strong>die</strong> der fröhlichen<br />

Feste, der Geheimbünde und Kulte. Eckpfeiler um Eckpfeiler ihrer Kultur ist<br />

durch auBere E<strong>in</strong>flüsse zerbrochen, bis das gesamte Gebaude zusammenstürzte.<br />

Das Volk der Jatmul war zu kle<strong>in</strong> und zu schwach, um <strong>die</strong> Veranderungen aufzuhalten.<br />

Der Kontakt mit unserer völlig anders gearteten, materiell überlegenen Zivilisation<br />

hat alle Traditionen h<strong>in</strong>weggefegt oder unterm<strong>in</strong>iert.<br />

Geblieben s<strong>in</strong>d verschlafene kle<strong>in</strong>e Pfahlbaudörfer, <strong>die</strong> unseren Weg fluBabwarts<br />

saumen. Sie s<strong>in</strong>d schon von weitem auszumachen. Bereits aus der Ferne erkennt<br />

man <strong>die</strong> hohen Stamme der Kokospalmen, <strong>in</strong> deren Schatten für gewöhnlich <strong>die</strong><br />

Hutten stehen. Das Dorf heiBt Korogo, dessen Bootsplatz wir an <strong>die</strong>sem Nachmittag<br />

unter den neugierigen Blieken der Bewohner ansteuern.<br />

E<strong>in</strong> „Big Man", e<strong>in</strong>er der Dorfaltesten, begrüBt uns freundlich. Mit knappen Gesten<br />

deutet er e<strong>in</strong> paar Jungen, das Gepack aus dem Kanu zu holen, wahrend er<br />

uns zu e<strong>in</strong>er leerstehenden Hütte geleitet. Unser Heim ist von bester Sepik-Tradition.<br />

Es ist auf Pfahle gebaut und besteht aus e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Raum mit e<strong>in</strong> paar<br />

Feuerstellen. In e<strong>in</strong>er Ecke stehen e<strong>in</strong>ige Tonkrüge, wor<strong>in</strong> Sago aufbewahrt ist. Da<br />

man auf dem Bretterboden ke<strong>in</strong> Feuer anzünden darf, verwenden <strong>die</strong> Menschen etwas<br />

geneigt aufgestellte Tonschüsseln. Sie stammen alle, wie man mir sagt, aus<br />

dem Töpferdorf Aibom, das hierfür das Monopol zu besitzen sche<strong>in</strong>t.<br />

Die Pfahlbauweise ist am Sepik <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zig s<strong>in</strong>nvolle. Sie ist absolut notwendig, um<br />

sich gegen <strong>die</strong> alljahrlichen Hochwasser zu schützen. In der Regel s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Pfahle<br />

so hoch, daB man aufrecht unter dem Wohnraum stehen kann. Sehr oft bef<strong>in</strong>den<br />

sich <strong>die</strong> Arbeitsplatze unter den Hausern. Dort, im kühlen Schatten, sieht man <strong>die</strong><br />

Frauen Körbe und Netze flechten und Manner beim Schnitzen oder bei der Herstellung<br />

von Gebrauchsgegenstanden.<br />

Wir haben kaum unsere „sieben Sachen" <strong>in</strong> besagter Hütte untergebracht und wollen<br />

gerade unseren müden Körpern, nach den Strapazen der ungewohnten Paddeltour,<br />

e<strong>in</strong>e kurze Rast gewahren, als wir feststellen, daB sich der Raum immer mehr<br />

mit „Gasten" füllt. Alle unsere Ausrüstungsgegenstande werden sorgfaltig untersucht<br />

und anschlieBend aufgeregt diskutiert. Das Interesse an den Gütern aus der<br />

fremden Welt ist enorm. Jede Beobachtung und neue Erkenntnis wird freudig bejubelt.<br />

Die Ergebnisse geben <strong>die</strong> anwesenden Manner gleich an <strong>die</strong> Frauen weiter,<br />

54


Die Sprache der wenigen Worte<br />

<strong>die</strong> drauBen vor der Hütte warten; worauf meist lautes Kichern erschallt. Jeder neu<br />

h<strong>in</strong>zukommende Mann wird freudig begrüBt und genauestens über den Stand der<br />

D<strong>in</strong>ge <strong>in</strong>formiert. Schon ist e<strong>in</strong> Feuer angemacht, der aufsteigende Rauch breitet<br />

sich im ganzen Raum aus und huilt alles <strong>in</strong> fahles Dammerlicht.<br />

Solch angestrengtes Palaver macht natürlich hungrig, aber für das Abendessen ist<br />

langst gesorgt. Die Frauen br<strong>in</strong>gen e<strong>in</strong>e der zwei Hauptspeisen am Sepik: Fisch mit<br />

Sago (<strong>die</strong> zweite ist namlich Sago mit Fisch).<br />

Die Unterhaltung wird <strong>in</strong> Pidg<strong>in</strong> geführt, e<strong>in</strong>er sehr e<strong>in</strong>fachen Mischsprache, <strong>die</strong><br />

auf dem englischen Sprachschatz und der melanesischen Grammatik basiert. Zur<br />

Kolonialzeit s<strong>in</strong>d noch e<strong>in</strong>ige deutsche Wörter e<strong>in</strong>geflossen. Der Ausdruck<br />

„raus'em", was soviel heiBt wie: man moge „raus" gehen, hangt sicherlich mit dem<br />

Kommandoton der alten Deutschen zusammen.<br />

Da Pidg<strong>in</strong> kaum mehr als 1300 Wörter umfaBt, ist es natürlich weit davon entfernt,<br />

e<strong>in</strong>e ausdrucksvolle Sprache zu se<strong>in</strong>. So mussen immer wieder neue Begriffe<br />

umstandlich umschrieben werden, weil e<strong>in</strong>fach ke<strong>in</strong> Wort dafür vorhanden ist. Die<br />

Resultate s<strong>in</strong>d bisweilen mehr als komisch.<br />

Waschen heiBt zum Beispiel was-was; e<strong>in</strong> Tuch oder Stoff ist e<strong>in</strong> lap-lap; e<strong>in</strong> Badetuch<br />

ist demnach e<strong>in</strong> lap-lap bilong was-was! „Büong" kommt natürlich von „belong"<br />

und ist <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Praposition. Bei Gegenstanden, <strong>die</strong> ursprünglich nicht<br />

ihrer Welt entstammen, wird es noch e<strong>in</strong> wenig komplizierter. „Bogis" kommt von<br />

box und heiBt also Kiste. Was ist e<strong>in</strong>e „bogis em yu fight him teeth (Zahne = Tasten)<br />

he cry"? E<strong>in</strong>e Kiste, <strong>die</strong> schreit, wenn man sie schlagt. E<strong>in</strong> Klavier natürlich!<br />

Manche Wörter haben doppelte Bedeutung. DaB <strong>die</strong>s zu pe<strong>in</strong>lichen MiBverstandnissen<br />

führen kann, zeigt <strong>die</strong> folgende Anekdote aus der Kolonialzeit. „Susu heiBt<br />

Milch und gleichzeitig auch <strong>die</strong> Mutterbrust. Das ist e<strong>in</strong>e durchaus logische Komb<strong>in</strong>ation.<br />

Die Frau e<strong>in</strong>es Distriktsbeamten hatte e<strong>in</strong>e grofie E<strong>in</strong>ladung, und als das<br />

Fest bis zum schwarzen Kaffee ge<strong>die</strong>hen war, brachte der Boy auch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en<br />

Künnchen <strong>die</strong> notwendige Milch dazu, aber er hatte das Tüchle<strong>in</strong> vergessen,<br />

das man gegen <strong>die</strong> Fliegen und Mücken darüberlegt. Die Frau des Hauses mahnte<br />

ihn, das Tüchle<strong>in</strong> zu br<strong>in</strong>gen, das „liklik laplap Tuch bilong susu"; er g<strong>in</strong>g und<br />

brachte, allen Gasten sichtbar, <strong>in</strong> gespreizten F<strong>in</strong>gern e<strong>in</strong>en netten, kle<strong>in</strong>en, rosaroten<br />

Büstenhalter.<br />

Auch langere Satze kommen <strong>in</strong> Pidg<strong>in</strong> vor. E<strong>in</strong>e Neuigkeit, wie sie <strong>in</strong> der wöchentlich<br />

ersche<strong>in</strong>enden Lokalzeitung verarbeitet wird, kl<strong>in</strong>gt etwa folgendermaBen:<br />

„Wan pik<strong>in</strong><strong>in</strong>i i f uil dound long wan coconas long Wewak long 12 September naw<br />

em i ded. Em i git 8 years."<br />

Das verstehen Sie nicht? Ist doch ganz e<strong>in</strong>fach. E<strong>in</strong> achtjahriges K<strong>in</strong>d ist am genannten<br />

Tag, von e<strong>in</strong>er KokosnuB erschlagen, unter dem Baum gefunden worden.<br />

Pidg<strong>in</strong>-Englisch wird im gesamten melanesischen Raum gesprochen und ist heute<br />

<strong>die</strong> offizielle Landessprache <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>eas.<br />

Als allmahlich <strong>die</strong> Dunkelheit here<strong>in</strong>bricht, wird es leise <strong>in</strong> unserer Hütte. Mit auffallender<br />

Eile verlaBt e<strong>in</strong>er nach dem anderen den Raum. Das Dorf liegt plötzlich<br />

wie ausgestorben da. Anfangs ratseln wir noch über den Grund ihres ungewöhnlichen<br />

Verhaltens, aber als ich aus der Hütte trete, pralle ich entsetzt zurück. In kürzester<br />

Zeit b<strong>in</strong> ich von Moskitos so belagert, daB mir nur mehr <strong>die</strong> Flucht <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

55


Flujifahrt am Sepik<br />

verrauchte Hütte bleibt. Die Dammerung, jene Zeit des Tages, <strong>die</strong> ich so liebe, ist<br />

am Sepik <strong>die</strong> schrecklichste. Da schlagt <strong>die</strong> Stunde der Moskitos! Alles Leben hort<br />

auf, wenn <strong>die</strong>se bis dah<strong>in</strong> verborgene Kolonie aus den riesigen Sümpfen auftaucht,<br />

um vorübergehend <strong>die</strong> Herrschaft zu übernehmen. Wie Wolken ziehen sie dah<strong>in</strong><br />

und stürzen sich auf jedes warmblütige Wesen, <strong>in</strong> dessen Blut <strong>die</strong> Weibchen <strong>die</strong><br />

Eier legen können. Nur <strong>die</strong> Schwarzen Moskitos übertragen <strong>die</strong> Malaria.<br />

Manner, Frauen, K<strong>in</strong>der und Hunde s<strong>in</strong>d schon langst unter den Moskitonetzen<br />

verschwunden. Früher verkrochen sich <strong>die</strong> Menschen <strong>in</strong> Schilffutteralen, e<strong>in</strong>e Art<br />

„Moskitonetz", das man schon kannte, bevor der erste WeiBe se<strong>in</strong>en Fuft <strong>in</strong>s Land<br />

setzte, wo sie <strong>in</strong> betaubender Hitze <strong>die</strong> Nacht zubrachten. Wir gelangen zum EntschluB,<br />

daB der Plage am besten dadurch beizukommen sei, <strong>in</strong>dem wir <strong>die</strong> Nacht<br />

im Zelt zubr<strong>in</strong>gen. Welch fataler Irrtum, wie sich bald herausstellte. Es ist uns<strong>in</strong>nig,<br />

<strong>die</strong> papuanischen Sumpfmoskitos etwa mit den nordeuropaischen oder e<strong>in</strong>heimischen<br />

Mücken zu vergleichen. Will man es dennoch tun, entsprachen <strong>die</strong> unseren<br />

e<strong>in</strong>em langsamen Segelflugzeug, wahrend ihre Verwandten <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea<br />

e<strong>in</strong>em blitzschnellen Düsenjet gleichkamen.<br />

Es gel<strong>in</strong>gt uns zwar, <strong>in</strong> Rekordzeit das Zelt aufzustellen, und da wir uns dabei standig<br />

bewegen, könnte man me<strong>in</strong>en, wie seien e<strong>in</strong>igermaBen ungeschoren davongekommen.<br />

Weit gefehlt! Wohl haben wir <strong>die</strong> Stiche nicht bemerkt, aber das Jucken<br />

und <strong>die</strong> wachsenden Schwellungen am Körper sprechen e<strong>in</strong>e andere Sprache.<br />

Selbst der starke Jeans-Stoff war ihnen nicht zu dick.<br />

lm Zeit f<strong>in</strong>det der Kampf Mensch gegen Malariamücke se<strong>in</strong>e Fortsetzung; erwartungsgema'B<br />

haben e<strong>in</strong>ige es geschafft, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>zukommen; nun beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong>e mörderische<br />

Jagd nach den verme<strong>in</strong>tlichen letzten H<strong>in</strong>dernissen vor e<strong>in</strong>em guten Schlaf.<br />

Nach e<strong>in</strong>er weiteren halben Stunde ist auch das erledigt, aber an Schlaf ist nicht zu<br />

denken.<br />

In me<strong>in</strong>em hochgebirgserprobten Zelt sehen wir uns bald e<strong>in</strong>er mittleren Grilltemperatur<br />

ausgesetzt, <strong>die</strong> so unertraglich wïrd, daB wir endlich <strong>die</strong> Dummheit, im<br />

Freien zu campieren, e<strong>in</strong>sehen, es den <strong>Papua</strong>s gleichtun und ebenfalls unter das<br />

Moskitonetz im Inneren der Hütte kriechen. Jetzt erkennen wir auch, wie vorteilhaft<br />

<strong>die</strong> luftdurchlüssigen Wande aus Palmblattern s<strong>in</strong>d; sie halten den Raum wahrend<br />

der ganzen Nacht angenehm kühl. Spat, aber doch, f<strong>in</strong>den wir den ersehnten<br />

Schlaf.<br />

Rechte Seite Lani-Mann aus Tiom.<br />

F o l gen de Doppelse i te Der erste Kontakt wird durch ihre Neugierde geschmiedet.<br />

„ Titans" s<strong>in</strong>d im Süden der Baliem-Schlucht noch vielbestaunte Wesen.<br />

Srt


Schnitzkunst<br />

Am nachsten Morgen ist der allabendliche Spuk vorbei, <strong>die</strong> Moskitos s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den<br />

Sümpfen verschwunden, dem Menschen <strong>die</strong> Natur e<strong>in</strong>en halben Tag lang überlassend.<br />

Wir begleiten unseren Gastgeber <strong>in</strong>s Geisterhaus. Der Kultbau steht etwas abseits<br />

des Dorfzentrums, umgeben von Palmen und blühenden Strauchern, <strong>in</strong> der Mitte<br />

e<strong>in</strong>es rechteckigen Platzes. lm Unterschied zu den Tambarans der Maprikregion ist<br />

es hier e<strong>in</strong> langes, breites Bauwerk; das Dach er<strong>in</strong>nert an den bauchigen Rumpf<br />

e<strong>in</strong>es Wik<strong>in</strong>gerschiffes, elegant geschwungen, vorne und h<strong>in</strong>ten weit hochgezogen.<br />

Wie alle anderen Hutten im Dorf steht auch das Geisterhaus auf Pfahlen. Das<br />

Schilfdach reicht fast bis zum Boden, es zw<strong>in</strong>gt e<strong>in</strong>en, sich zu bücken, wenn man<br />

e<strong>in</strong>treten will.<br />

Bei unserer Ankunft s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> meisten Manner bereits versammelt; man erwartet an<br />

<strong>die</strong>sem Tag <strong>die</strong> Ankunft e<strong>in</strong>es Regierungsbeamten, der regelmafiig den FIuB h<strong>in</strong>auffahrt,<br />

bestimmte Dörfer besucht und <strong>die</strong> vorhandenen Schnitzereien aufkauft.<br />

Betelkauend diskutïeren <strong>die</strong> Manner <strong>die</strong> Preise, <strong>die</strong> sie verlangen werden. Sie wissen<br />

bereits vorher: gekauft wird alles und jeder Preis bezahlt. Denn Korogo gehort<br />

zu jenen Dörfern, <strong>in</strong> denen durch staatliche Initiative <strong>die</strong> Schnitzkunst gefördert<br />

und somit künstlich am Leben erhalten wird. Das Geisterhaus ist deshalb auch, im<br />

Gegensatz zu vielen anderen, <strong>die</strong> ich sah, bis zum Bersten voll mit Schnitzwerken.<br />

Hier hangen Mwai-Masken <strong>in</strong> allen GröBen, riesige Schlitztrommeln, Zeremonialstühle<br />

und kunstvoll gestaltete Aufhangehaken, wie es sie früher <strong>in</strong> jedem Haus<br />

gab. Dafür hangen <strong>die</strong> Leute ihre Habseligkeiten heute nur mehr auf rohe Astgabeln<br />

oder Haken aus billigem Kunststoff.<br />

Die Qualitat der zum Verkauf bestimmten „Kunstwerke" ist allgeme<strong>in</strong> erstaunlich<br />

gut; nach wie vor orientieren sich <strong>die</strong> Schnitzer an traditionellen Vorbildern. Daneben<br />

gibt es auch „Neuschöpfungen", deren Qualitat gegenuber den „traditionellen"<br />

Stücken stark abfüllt und deutlich e<strong>in</strong> Abs<strong>in</strong>ken der „Kunst" zur Massenware<br />

erwarten lafit.<br />

Mir gegenuber sitzt e<strong>in</strong> alter Mann und streckt mir e<strong>in</strong>e Figur mit überdimensionalem<br />

Geschlechtsteil entgegen. Vor gar nicht langer Zeit hat er e<strong>in</strong>e solche zum erstenmal<br />

geschnitzt, bald darauf besuchten weifle Souvenirhandler das Dorf; sie<br />

waren von dem neuen Motiv so angetan, daB sie ihm versprachen, alle weiteren<br />

Exemplare zu kaufen. Seitdem schnitzt er nur mehr Figuren mit überlangem Penis.<br />

Was tun <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s mit dem Geld? Nun, im Pr<strong>in</strong>zip das gleiche wie wir; sie geben<br />

L<strong>in</strong>ke Seite Dani-K<strong>in</strong>der spielen „ Töte e<strong>in</strong>en Reifen", wobei hölzerne Speere durch<br />

e<strong>in</strong>en geflochtenen Reifen geschleudert werden.<br />

65


Die Sago-Herstetlung<br />

es aus. In der Stadt kaufen sie damit Kleider, Uhren, Radios oder setzen es <strong>in</strong> Alkohol<br />

und Zigaretten um. E<strong>in</strong>er von ihnen hat e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Laden im Dorf aufgemacht,<br />

auf den paar verstaubten Regalen stehen zwei Produkte zur Auswahl: e<strong>in</strong>e<br />

Sorte Fischkonserven und Tomatenketchup. Auf <strong>die</strong>se Weise hat e<strong>in</strong> gerissener<br />

Handler auch se<strong>in</strong>e Ladenhüter an den Mann gebracht. Die Ankunft des „Götterkaufmanns"<br />

haben wir nicht mehr miterlebt, auch nicht das Fest der Dorfbewohner<br />

nach getatigtem „bisnis" (bus<strong>in</strong>ess); denn wir s<strong>in</strong>d langst wieder unterwegs,<br />

flutöabwarts, im gleichbleibenden Rhythmus der Paddelschlage gleitet das Kanu<br />

pfeilschnell dah<strong>in</strong>.<br />

Überall im Sumpf gedeihen Sagopalmen verschiedenster Art. Ihre dicken Stamme<br />

stehen so nahe ane<strong>in</strong>ander, daJJ sich <strong>die</strong> langen, dornigen Blatter verflechten und<br />

e<strong>in</strong> fast undurchdr<strong>in</strong>gliches Gestrüpp bilden.<br />

Für <strong>die</strong> Menschen am Sepik ist der Sagobaum absolute Lebensgrundlage, wichtigstes<br />

Nahrungsmittel, Symbol für Fruchtbarkeit und Mittelpunkt zahlreicher<br />

Mythen. Die gröBten Sagobestande liegen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gürtel tropischen Regenwaldes<br />

etwas nördlich des Hauptstroms.<br />

Das ganze sagotrachtige Waldgebiet wird vom Volk der Sawos, <strong>die</strong> mit den Jatmul<br />

eng verwandt s<strong>in</strong>d, bewohnt und ausgebaut. Sie leben praktisch vom Tauschhandel<br />

mit Dörfern, <strong>in</strong> deren Umgebung ke<strong>in</strong>e Sagopalmen wachsen. In kle<strong>in</strong>en Waldlichtungen,<br />

<strong>die</strong> auf halbem Weg zwischen den Sawos und dem Sepik liegen, f<strong>in</strong>den<br />

wöchentlich Markte statt. Hierher kommen <strong>die</strong> Jatmulfrauen aus weit entfernten<br />

Dörfern, um den lebensnotwendigen Sago gegen Fische e<strong>in</strong>zutauschen. Diese<br />

Tauschbeziehungen s<strong>in</strong>d uralt und werden noch heute, trotz wachsenden E<strong>in</strong>flusses<br />

der Geldwirtschaft, aufrechterhalten.<br />

Die Sawos gew<strong>in</strong>nen das Sagomehl aus dem starkehaltigen Mark der Palme. In<br />

e<strong>in</strong>em ersten Arbeitsgang wird der Baum gefallt, von der R<strong>in</strong>de befreit und das<br />

Mark mit e<strong>in</strong>em Hammer herausgeschlagen. Damit ist <strong>die</strong> Arbeit für den Mann erledigt;<br />

der eigentliche ProzeB der Sagogew<strong>in</strong>nung ist Sache der Frau. Das zerkle<strong>in</strong>erte<br />

Mark wird <strong>in</strong> geflochtenen Körben an e<strong>in</strong>en FluB oder Tümpel gebracht. Auf<br />

e<strong>in</strong> merkwürdiges Holzgerüst, das entweder im Wasser oder auf zwei zusammengebundenen<br />

E<strong>in</strong>baumen steht, wird e<strong>in</strong> halbierter, ausgehöhlter Baumstamm gelegt,<br />

und zwar nicht waagrecht, sondern so, daB e<strong>in</strong> leichtes Gefalle entsteht. Nun füllt<br />

<strong>die</strong> Frau den Vorderteil der „Holzwanne" mit Sagomark, und <strong>in</strong>dem sie abwechselnd<br />

Wasser darübergieBt und <strong>die</strong> Masse knetet, wird <strong>die</strong> StSrke herausgewaschen<br />

und im aufgelösten Zustand <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Trog gesammelt. Nach geraumer Zeit setzt<br />

sich <strong>die</strong> Starke am Boden ab, das überschüssige Wasser wird abgeschöpft, und zurück<br />

bleibt e<strong>in</strong>e Art Sagomehl, das zuerst am Feuer getrocknet und spater zu Fladen<br />

verbacken wird.<br />

Auf unserem Weg fluBabwarts kommen wir an vielen „Sagowaschereien" vorbei,<br />

selten wird hier langer als bis zu Mittag gearbeitet. Wenn <strong>die</strong> Sonne senkrecht am<br />

Himmel steht und ihre Strahlen unerbittlich herunterfallen, ziehen es <strong>die</strong> Menschen<br />

vor, sich im Schatten ihrer Hauser aufzuhalten.<br />

Nur wir Fremden s<strong>in</strong>d dumm genug, <strong>in</strong> der gröBten Hitze zu paddeln. Doch an <strong>die</strong>sem<br />

Tag s<strong>in</strong>d wir beileibe nicht <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zigen; es ist Markt am mittleren Sepik, und<br />

é7


Flufifahrt am Sepik<br />

am FluB geht es deshalb hoch her. Schnittige, motorbetriebene E<strong>in</strong>baume rauschen<br />

vorbei, ganze Familien s<strong>in</strong>d mit ihren Kanus unterwegs, meistens aber treffen wir<br />

Frauen <strong>in</strong> ihren typischen kle<strong>in</strong>en Booten. Sie sitzen mit geradem Rücken im Heek,<br />

vorne hoekt oft e<strong>in</strong> nacktes, kle<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>d, dazwischen liegen aufgeschichtet e<strong>in</strong>ige<br />

Sagomehlbrocken.<br />

Bald s<strong>in</strong>d wir mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Gruppe heimkehrender Sepik-Leute. An ihren erstaunten<br />

Gesichtern ist abzulesen, welche Seltenheit der Anblick zweier WeiBer<br />

se<strong>in</strong> muB, <strong>die</strong>, wie sie selbst, ihr Kanu selbst be<strong>die</strong>nen.<br />

Wir haben groBe Mühe, mit dem Tempo der E<strong>in</strong>geborenen Schritt zu halten, und<br />

das, obwohl <strong>in</strong> ihren Booten zumeist nur e<strong>in</strong>e Person, noch dazu e<strong>in</strong>e Frau, paddelt.<br />

Zu unserer Verwunderung steuern sie e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>samen Anlegeplatz an, befestigen<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>baume am Uferdamm und machen sich daran, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>gehandelten Waren<br />

zu entladen. Mit Sicherheit waren wir hier vorbeigefahren, natten <strong>die</strong> Leute<br />

uns nicht aufgefordert, an <strong>die</strong>ser Stelle <strong>die</strong> Fahrt zu unterbrechen und ihr Dorf zu<br />

besuchen. Palimbei, so heiBt das Dorf, liegt namlich nicht am Sepik-Ufer, sondern<br />

f ast zwei Kilometer entfernt, mitten im Sumpfgebiet. Der Weg führt durch e<strong>in</strong>e<br />

ebene, offene Landschaft; nur an manchen Stellen ragen abgegrenzte trockene<br />

Flecken aus den Sümpfen, das s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zigen bewohnbaren Stellen weit und<br />

breit. Auf e<strong>in</strong>igen s<strong>in</strong>d Felder angelegt, auf ihnen werden SüBkartoffeln und Taro<br />

gezogen; dazwischen stehen vere<strong>in</strong>zelt Baumgruppen. Das Dorf selbst saumt e<strong>in</strong><br />

dichter Wald, dah<strong>in</strong>ter heben sich <strong>die</strong> Hauser markant vom monotonen Grün der<br />

Umgebung ab.<br />

E<strong>in</strong>e zweihundert Meter lange und ziemlich breite Allee ist der Mittelpunkt des<br />

Dorfes - der Zeremonialplatz -, an dessen oberem wie auch unterem Ende e<strong>in</strong><br />

Geisterhaus steht. Zu beiden Seiten schlieBen Hauserreihen an, <strong>die</strong> je e<strong>in</strong>e Verwandtengruppe<br />

beherbergen. Wie allerorts am Sepik s<strong>in</strong>d auch hier <strong>die</strong> Hutten auf<br />

Pfahlen gebaut; bis zu drei Meter liegt der Wohnboden über der Erde. E<strong>in</strong>ige Hauser<br />

haben e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Terrasse, sie <strong>die</strong>nen den Hausbewohnern als Aufenthaltsort<br />

im Freien wahrend der langen Monate des Hochwassers. Zu der Zeit können ke<strong>in</strong>e<br />

Felder bewirtschaftet werden, <strong>die</strong> Menschen s<strong>in</strong>d vorwiegend auf ihre Sagovorrate<br />

angewiesen. Alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> Kokospalmen, <strong>die</strong> auf künstlichen Erdhügeln gepflanzt<br />

werden, können <strong>die</strong> jahrlichen Überschwemmungen unbeschadet überstehen.<br />

Palimbei ist e<strong>in</strong> sterbendes Dorf; an allen Ecken und Enden sieht man verfallene<br />

Hutten, immer mehr Menschen wandern ab, verlassen ihr Dorf wie e<strong>in</strong> s<strong>in</strong>kendes<br />

Schiff. Fragt man, woh<strong>in</strong> sie gehen, dann heiBt es: nach Wewak oder Port Moresby;<br />

und das ist <strong>die</strong> groBe weite Welt. Es gibt natürlich auch welche, <strong>die</strong> wieder<br />

zurückkommen, aber das s<strong>in</strong>d eher <strong>die</strong> Ausnahmen.<br />

E<strong>in</strong>es Morgens, wir wollen gerade das Nachbardorf Mal<strong>in</strong>gei besuchen, sehen wir<br />

ihn zum ersten Mal. Er muB wohl schon langere Zeit gewartet haben, denn als wir<br />

aus der Hütte treten, überschüttet er uns mit e<strong>in</strong>em Wortschwall, woraus wir entnehmen,<br />

daB er mit uns <strong>in</strong>s Geschaft kommen will. Paul, so heiBt unser neuer Bekannter,<br />

überredet uns tatsachlich, anstatt nach Mal<strong>in</strong>gei zu gehen, ihm <strong>in</strong> se<strong>in</strong><br />

Dorf Abusatngei zu folgen. Es ist, wie wir spater erfahren, e<strong>in</strong>e Splittersiedlung<br />

von Palimbei und liegt e<strong>in</strong> Stück fluBaufwarts, direkt am Ufer des Sepik.<br />

68


Was e<strong>in</strong>e gute Sepik-Frau ist<br />

Den e<strong>in</strong>stündigen FuBmarsch benutzt er gleich, um uns mit se<strong>in</strong>er Lebensgeschichte<br />

vertraut zu machen. Wir erfahren von der Zeit, als er, noch e<strong>in</strong> halbes K<strong>in</strong>d, se<strong>in</strong>e<br />

Familie verlieB, um nach Wewak, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Stadt, zu ziehen, wie es damals viele andere<br />

Dorfjungen se<strong>in</strong>es Alters taten. Am Anfang war es schwierig, <strong>in</strong> der Stadt zu<br />

leben; vieles war so ganz anders als <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Dorf; <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Zeit hielt er sich mit<br />

schlechtbezahlten Gelegenheitsjobs über Wasser. Die „Durststrecke" nahm e<strong>in</strong> jahes<br />

Ende, als das Land se<strong>in</strong>e Unabhangigkeit erhielt. Plötzlich ergaben sich ungeahnte<br />

Möglichkeiten, denn der junge Staat brauchte zur Bewaltigung neuer Aufgaben<br />

e<strong>in</strong>e Vielzahl fahiger Menschen. Paul nützte <strong>die</strong> Gunst der Stunde und trat<br />

<strong>in</strong> den Dienst der Verwaltung e<strong>in</strong>. So verg<strong>in</strong>g Jahr um Jahr, mit fortschreitender<br />

Zeit wurde er der Arbeit überdrüssig und sehnte sich immer mehr nach dem Leben<br />

<strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Heimatdorf am Sepik.<br />

H<strong>in</strong> und hergerissen zwischen den zwei Weiten entschloB er sich, <strong>die</strong> gute Stellung<br />

aufzugeben und mit dem gesparten Geld zu se<strong>in</strong>er Sippe zurückzukehren. Es war<br />

auch an der Zeit, zu heiraten, e<strong>in</strong>e Familie zu gründen, um se<strong>in</strong>en vorgesehenen<br />

Platz <strong>in</strong> der Geme<strong>in</strong>schaft e<strong>in</strong>nehmen zu können. Von Anfang an war es beschlossene<br />

Sache, daB er sich se<strong>in</strong> Madchen am Sepik suchen würde, denn <strong>in</strong> der Stadt<br />

war der Brautpreis <strong>in</strong> astronomische Höhen geklettert, so daB er all se<strong>in</strong>e Ersparnisse<br />

hatte aufwenden mussen. Noch dazu für e<strong>in</strong> Madchen, wie er betont, das ihn<br />

nicht e<strong>in</strong>mal ernahren könnte. „In den Dörfern am Sepik dagegen gibt es gute<br />

Frauen; hier verstehen es <strong>die</strong> Madchen noch, wie man Sago gew<strong>in</strong>nt, Taro und<br />

Yams pflanzt oder mit Erfolg im FluB angelt." Der ungebrochenen Tradition se<strong>in</strong>er<br />

Vater folgend, wahlte er den Ehepartner auBerhalb se<strong>in</strong>es eigenen Klans. Bei<br />

den Jatmul ist es nicht üblich, e<strong>in</strong>e Frau zu kaufen; es gibt ke<strong>in</strong>en Brautpreis, der<br />

<strong>in</strong> irgende<strong>in</strong>er Form e<strong>in</strong>e aquivalente Gegenleistung darstellt; der zukünftige Ehemann<br />

überreicht der Familie des Madchens lediglich e<strong>in</strong> paar symbolische Geschenke,<br />

<strong>die</strong> jedoch ihrer bargeldlosen Tauschwirtschaft entsprechen. Schmuck<br />

und Gebrauchsgegenstande s<strong>in</strong>d solche traditionellen Heiratsgaben, <strong>die</strong> der Brautigam<br />

mit Hilfe se<strong>in</strong>er Verwandten aufbr<strong>in</strong>gt.<br />

Unserem Paul blieb also se<strong>in</strong> Geld übrig, und das gedachte er nicht, wie <strong>die</strong> anderen<br />

es taten, als rituelles Tauschmittel anstelle der früher verwendeten Muscheln<br />

„unproduktiv" zirkulieren zu lassen, sondern er beschloB, es <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Unternehmen<br />

zu <strong>in</strong>vestieren. Bald darauf betrieb er den ersten Kaufladen se<strong>in</strong>er Umgebung. DaB<br />

davon heute nur noch e<strong>in</strong>e verfallene Hütte zeugt, lag sicher nicht an Pauls kaufmannischen<br />

Fahigkeiten, auch nicht an mangelndem Kunden<strong>in</strong>teresse, sondern<br />

e<strong>in</strong>fach an dem Umstand, daB se<strong>in</strong>e Stammesbrüder zwar bereit waren, <strong>die</strong> fremden<br />

Güter zu erwerben, aber nur im Tausch gegen herkömmliche Gebrauchsgüter.<br />

Se<strong>in</strong>e Klanangehörigen be<strong>die</strong>nten sich gleich selbst aus den vollen Regalen, als „Bezahlung"<br />

erhielt er Fisch oder Sago!<br />

Man kann sich unschwer vorstellen, wie lange es dauerte, bis der gute Mann vor<br />

den leeren Regalen und, was noch schwerer wog, h<strong>in</strong>ter der leeren Kasse stand.<br />

Doch Pauls Tatendrang blieb ungebrochen. In kürzester Zeit stampfte er e<strong>in</strong> neues<br />

Unternehmen aus dem Boden, nur mit dem e<strong>in</strong>en Unterschied: er bemühte sich<br />

<strong>die</strong>smal, so viele Verwandte wie möglich daran zu beteiligen.<br />

Nun stehen wir davor; es ersche<strong>in</strong>t wie e<strong>in</strong> „schwarzes Schaf" <strong>in</strong>mitten schmaler,<br />

m


Flufifahrt am Sepik<br />

mit Krokodilköpfen verzierter E<strong>in</strong>baume: se<strong>in</strong> funkelnagelneues Alum<strong>in</strong>iumboot<br />

mit AuBenbordmotor, e<strong>in</strong>zige und unabd<strong>in</strong>gbare Voraussetzung für Pauls Transportunternehmen.<br />

Der Motor ist Eigentum des Vaters, das Boot gehort der Sippe<br />

se<strong>in</strong>er Mutter, Ruder und Benz<strong>in</strong>kanister hat er selbst beigesteuert. Beim Anblick<br />

des glitzernden Bootes gerat Paul unweigerlich <strong>in</strong>s Schwarmen, mit ausladenden<br />

Gesten schildert er uns dessen Vorzüge den alten Kanus gegenüber. Zum Beweis<br />

würde er ja nur zu gerne e<strong>in</strong>e Probefahrt mit uns machen, wenn es nur <strong>die</strong>ses kle<strong>in</strong>e<br />

Problem nicht gabe. Das kle<strong>in</strong>e Problem, wie er es nennt, ist schlicht und e<strong>in</strong>fach<br />

<strong>die</strong> Tatsache, dafl sich <strong>in</strong> den Tanks ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Tropfen Benz<strong>in</strong> bef<strong>in</strong>det. Es<br />

lafit den Wert se<strong>in</strong>es Motorbootes weit unter jenen geschnitzter E<strong>in</strong>baume s<strong>in</strong>ken.<br />

Wegen <strong>die</strong>ses kle<strong>in</strong>en Problems s<strong>in</strong>d wir hier. Ke<strong>in</strong> Zweifel, wem <strong>die</strong> Rolle zugedacht<br />

ist, das erforderliche Benz<strong>in</strong> zu kaufen; wir s<strong>in</strong>d auserkoren, <strong>die</strong> ersten zahlenden<br />

Fahrgaste zu se<strong>in</strong>. Unsere Argumente, wir besaBen ohneh<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Kanu, mit<br />

dem wir auch ohne Motor gut vorankamen, wischt er e<strong>in</strong>fach mit dem Satz weg:<br />

„E<strong>in</strong>baume s<strong>in</strong>d etwas für Frauen; e<strong>in</strong> Mann dagegen fahrt heutzutage mit dem<br />

Motorboot."<br />

Er sieht dar<strong>in</strong> auch ke<strong>in</strong>en Widerspruch, als er kurze Zeit spater selbst <strong>in</strong> den geschmahten<br />

E<strong>in</strong>baum steigt, um <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Nachbardorf Benz<strong>in</strong> zu holen. Schon bald<br />

nach se<strong>in</strong>er Rückkehr geht <strong>die</strong> Fahrt los. Um es gleich vorwegzunehmen, wir haben<br />

sie nicht bereut! Ganz beilaufig erfahren wir auch das Ziel der FluBtour:<br />

Aibom am Tor zum Chambri-See.<br />

Davor besuchen wir noch e<strong>in</strong>en Wohnplatz der Sawos. Pauls Geschaftstüchtigkeit<br />

ist wirklich phanomenal, denn damit will er unseren Aufenthalt <strong>in</strong> Aibom bezahlen<br />

und Töpferwaren e<strong>in</strong>handeln. Mit e<strong>in</strong>igen Sagomehlbrocken an Bord geht's wieder<br />

fluBabwarts, bis rechter Hand e<strong>in</strong> schmaler, von mannshohem Schilf verdeckter<br />

Kanal auftaucht, <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung zwischen Sepik und dem Chambri-See. Der Wasserlauf<br />

heifit Kumalio, e<strong>in</strong> kohlschwarzes, kaum zehn Meter breites R<strong>in</strong>nsal, das<br />

auf se<strong>in</strong>em Weg vom Chambri-See zum mittleren Sepik direkt am südlichen Dorfteil<br />

von Aibom vorbei führt. Die Fahrt ist aufierst reizvoll, zu beiden Seiten verneigen<br />

sich <strong>die</strong> Schilfhalme, wenn sie <strong>in</strong> unsere Wellen geraten. Fischadler sitzen auf<br />

dürren Baumen, weiBe Silberreiher, <strong>die</strong> vom Ufer aus nach Fischen augen, ergreifen<br />

<strong>die</strong> Flucht und fliegen vor uns her. Zur Regenzeit kehrt sich <strong>die</strong> Strömung um,<br />

dann treten <strong>die</strong> Wassermassen des Sepik über <strong>die</strong> Ufer und füllen Sümpfe und Kanale.<br />

lm ersten Augenblick unterscheidet sich Aibom kaum von anderen Sepik-<br />

Dörfern; auch hier stehen <strong>die</strong> Hauser auf Pfahlen, nur <strong>die</strong> flachen Sümpfe rundherum<br />

fehlen; Aibom liegt am FuBe e<strong>in</strong>es Berges.<br />

Bei unserer Ankunft ist <strong>die</strong> mannliche Dorfbevölkerung gerade am Fufiballplatz,<br />

wo unter groBer Begeisterung das Spiel zweier Klans gegene<strong>in</strong>ander <strong>in</strong> Szene geht.<br />

Die Frauen sche<strong>in</strong>t <strong>die</strong> neu importierte Sportart wenig zu bee<strong>in</strong>drucken, <strong>die</strong> meisten<br />

sitzen im Schatten ihrer Hutten und gehen dem wichtigsten Handwerk des<br />

Dorfes nach: der Töpferei. Hier stehen wir am Ursprung all der Tonwaren, <strong>die</strong> wir<br />

auf unserer FluBfahrt <strong>in</strong> allen Dörfern <strong>in</strong> Gebrauch sahen. Den Ton dazu f<strong>in</strong>det<br />

man an vielen Stellen am Abhang des Aibomberges; zur Erzielung des bestmöglichen<br />

Ausgangsmaterials werden verschiedene Tonarten mite<strong>in</strong>ander vermischt.<br />

Die Herstellung erfolgt mit e<strong>in</strong>fachsten Hilfsmitteln, ohne Töpferscheibe; dabei<br />

70


Im E<strong>in</strong>baum unterwegs<br />

bee<strong>in</strong>druckt immer wieder das sichere Formgefühl der Frauen beim Modellieren.<br />

Alle Gegenstande werden mit plastischen Gesichtern verziert und anschlieBend bemalt.<br />

Sie stellen Buschgeister, Schwe<strong>in</strong>e- und Vogelgesichter dar. Das eigentümlichste<br />

Erzeugnis ist <strong>die</strong> Feuerschale, <strong>in</strong> ihrer Funktion als Herd fehlt sie <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>em<br />

Haushalt.<br />

Infolge der Monopolstellung Aiboms als e<strong>in</strong>ziges Töpferdorf am Sepik f<strong>in</strong>det man<br />

se<strong>in</strong>e Erzeugnisse am ganzen Mittel-Sepik von Tambunum bis Ambunti. Die Existenz<br />

des Dorfes ist weitgehend von der Tonwarenproduktion abhangig; der gröBte<br />

Teil des zur Ernahrung wichtigen Sago wird duren den Handel mit Töpf ereierzeugnissen<br />

beschafft. Daher ist es für e<strong>in</strong>e Frau aus Aibom <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie notwendig,<br />

gut töpfern zu können. Die Tauschmarkte f<strong>in</strong>den wöchentlich statt. E<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

Splittersiedlung namens Mal<strong>in</strong>sawa, <strong>die</strong> im Grassumpf zwischen Sepik und Chambri-See<br />

liegt, ist der Markplatz. Hierher br<strong>in</strong>gen <strong>die</strong> Aibom-Frauen ihre Tonwaren<br />

und Betelfrüchte, ihre Tauschpartner<strong>in</strong>nen aus Mal<strong>in</strong>gei und Palimbei ersche<strong>in</strong>en<br />

mit Sagomehlbrocken, <strong>die</strong> sie zuvor im nördlichen Wald gegen Fisch e<strong>in</strong>getauscht<br />

haben. Nur zur Hochwasserzeit, wenn <strong>die</strong> Grassümpfe völlig überflutet s<strong>in</strong>d, wird<br />

der Markt <strong>in</strong> Aibom selbst abgehalten.<br />

Paul, unser Goldstück, br<strong>in</strong>gt uns für <strong>die</strong> kommende Nacht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em leerstehenden<br />

Pfahlbau unter. Zum Abendessen gibt es zum x-ten Mal geraucherten Fisch, dazu<br />

gönnen wir uns noch den letzten Rest des mitgebrachten Brotes, das mittlerweile<br />

schon von e<strong>in</strong>er ganzen Ameisenkolonie bewohnt wird. Es schmeckt uns trotzdem.<br />

Am nachsten Morgen geht Paul se<strong>in</strong>en Geschaften nach. Uns kann es nur recht<br />

se<strong>in</strong>, denn wir wollen den Tag für e<strong>in</strong>en Ausflug zum Chambri-See nutzen. E<strong>in</strong> geeignetes<br />

Fortbewegungsmittel ist bald organisiert, nur sche<strong>in</strong>t man im Dorf ke<strong>in</strong><br />

groBes Vertrauen zu unseren Fahrkünsten zu haben. Sie leihen uns den E<strong>in</strong>baum<br />

nur unter der Bed<strong>in</strong>gung, daB zwei E<strong>in</strong>geborene ihn be<strong>die</strong>nen. Widerwillig s<strong>in</strong>d wir<br />

damit eiriverstanden. Als wir zum Ufer des Kumalio kommen, werden wir bereits<br />

von zwei Burschen im startbereiten Kanu erwartet. Jetzt verstehen wir auch <strong>die</strong><br />

MaBnahme des Bootsbesitzers, uns nicht alle<strong>in</strong> fahren zu lassen, denn hier ist es<br />

nicht üblich, sitzend zu padde<strong>in</strong>, sondern der E<strong>in</strong>baum wird im Stehen mittels langer<br />

Stangen vorangetrieben. Diese Technik erfordert ungefahr das Balancevermögen<br />

e<strong>in</strong>es Seiltanzers und hatte <strong>in</strong> unserem Fall mit Sicherheit zu e<strong>in</strong>em unfreiwilligen<br />

Bad und aus der Sicht der E<strong>in</strong>geborenen zu e<strong>in</strong>em Verlust des E<strong>in</strong>baums geführt.<br />

Mit den beiden haben wir das groBe Los gezogen. Wie von Geisterhand geleitet,<br />

schwebt das Kanu dah<strong>in</strong>. Endlich f<strong>in</strong>den wir wieder genügend Zeit zum stillen Betrachten,<br />

ke<strong>in</strong> lautes Motorengerausch stort <strong>die</strong> Ruhe, nur e<strong>in</strong> leises Platschern<br />

beim E<strong>in</strong>tauchen der Stangen ist zu horen.<br />

E<strong>in</strong>er der Jungen flüstert mir zu, daB wir nun <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gewasser seien, wo es viele<br />

Krokodile gebe, und wenn wir welche sehen wollten, dann sollten wir uns ruhig<br />

verhalten. Ich messe dem ke<strong>in</strong>e groBe Bedeutung bei. Wie oft habe ich E<strong>in</strong>geborene<br />

<strong>in</strong> den Dörfern über abenteuerliche Krokodiljagden erzahlen gehort! Auch sah<br />

ich hier und da e<strong>in</strong> paar Haute liegen und muBte deshalb wohl annehmen, daB es<br />

am Sepik Krokodile gibt; aber gesehen hatte ich bislang noch ke<strong>in</strong>es. Daher kümmerte<br />

ich mich auch wenig um <strong>die</strong> warnenden Worte der E<strong>in</strong>geborenen, ke<strong>in</strong>esfalls<br />

?1


Flufifahrt am Sepik<br />

im FluB zu baden. Nur gestern abend war es anders. Als ich zum FluB g<strong>in</strong>g, um <strong>die</strong><br />

gewohnte allabendliche Runde zu schwimmen, versuchten mich <strong>die</strong> Dorfbewohner<br />

mit geradezu beschwörenden Worten davon abzubr<strong>in</strong>gen. Ich wollte es zwar nicht<br />

e<strong>in</strong>sehen, und mehr aus Höflichkeit den Gastgebern gegenüber als um me<strong>in</strong>e Sicherheit<br />

besorgt, verzichtete ich auf das liebgewordene Vergnügen. Wie begründet<br />

<strong>die</strong> Sorge wirklich war, sollte ich erst an <strong>die</strong>sem Tag erkennen.<br />

Aibom ist kaum unseren Blieken entschwunden; wir folgen gerade e<strong>in</strong>er scharfen<br />

FluBw<strong>in</strong>dung, als e<strong>in</strong>er der Jungen aufgeregt „Puk-puk", Krokodil, schreit. Vorderhand<br />

sehe ich natürlich nichts, erst als wir gefahrlich nahe herankommen und<br />

<strong>die</strong> <strong>Papua</strong>-Jungen unentwegt darauf h<strong>in</strong>zeigen, erkenne ich es.<br />

Man könnte es für e<strong>in</strong> Stück Treibholz halten, nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Teil des Kopfes, <strong>die</strong><br />

Nasenlöcher und Augen ragen aus dem Wasser. Wahrend wir uns vorsichtig nahern,<br />

denn der Wasserlauf ist zu schmal, um ausweichen zu können, beobachtet es<br />

uns unbeweglich. Aber sobald wir nur noch zehn Meter entfernt s<strong>in</strong>d, taucht es hastig<br />

unter. E<strong>in</strong>e rasche Schwanzbewegung - aufspritzendes Wasser -, und schon<br />

ist es verschwunden. Gespannt warten wir, bis es wieder auftaucht. Uns <strong>in</strong>teressiert<br />

vor allem, wo es an <strong>die</strong> Oberflache kommt, denn es ist alles andere als ermutigend,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em drei Meter langen wackeligen E<strong>in</strong>baum zu sitzen, wahrend <strong>in</strong> unmittelbarer<br />

Nahe vielleicht e<strong>in</strong> fünf Meter langes Krokodil auf Tauchstation lauert. Wir<br />

warten vergebens. Wahrsche<strong>in</strong>lich ist es irgendwo am verwachsenen Ufer aufgetaucht,<br />

wo es für uns nicht sichtbar ist. Trotzdem beschleicht mich e<strong>in</strong> mulmiges<br />

Gefühl. „Puk-puk Pikan<strong>in</strong>ni", es ist nur e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Krokodil, beruhigt mich e<strong>in</strong>er<br />

der Jungen, der me<strong>in</strong>e Gedanken zu erraten sche<strong>in</strong>t. Die E<strong>in</strong>geborenen s<strong>in</strong>d namlich<br />

imstande, <strong>die</strong> GröBe e<strong>in</strong>es Krokodils an den Augen abzuschatzen.<br />

Das bleibt auch <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Begegnung mit e<strong>in</strong>em relativ kle<strong>in</strong>en Krokodil. Alle anderen<br />

Vertreter ihrer Art, <strong>die</strong> wir im Laufe des Tages noch zu Gesicht bekommen,<br />

s<strong>in</strong>d um e<strong>in</strong>iges gröBer. Das erkennen sogar wir als Laien, zwar nicht an den Augen<br />

des Krokodils, aber an den angsterfüllten Gesichtern der beiden <strong>Papua</strong>s und<br />

ihren verzweifelten Anstrengungen, <strong>die</strong> Fahrt des Kanus zu beschleunigen. Es ist<br />

ke<strong>in</strong> Zufall, daB wir zumeist groBen Krokodilen begegnen, denn <strong>die</strong>se s<strong>in</strong>d heute<br />

geschützt. Exemplare von über zwei Meter Lange dürfen nicht gejagt werden. Die<br />

Betreffenden sche<strong>in</strong>en sich dessen bewuBt zu se<strong>in</strong>, sie wagen sich immer naher an<br />

<strong>die</strong> Dörfer heran und be<strong>die</strong>nen sich mit Vorliebe an den ausgelegten Fischreusen.<br />

Der Krokodilfang ist dennoch e<strong>in</strong>e groBe E<strong>in</strong>nahmequelle für <strong>die</strong> Sepik-Leute. Gefangen<br />

werden nur Puk-Puk Pikan<strong>in</strong>nis. Pikan<strong>in</strong>ni ist <strong>die</strong> Pidg<strong>in</strong>bezeichnung für<br />

K<strong>in</strong>der. Das E<strong>in</strong>fangen der jungen Krokodile ist undramatisch, wenn auch gefahrlich.<br />

Es geschieht vom Boot aus, das man so weit wie möglich <strong>in</strong> <strong>die</strong> Sümpfe und<br />

Mangroven h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> manövriert, oder zu FuB. Die E<strong>in</strong>geborenen behaupten namlich,<br />

e<strong>in</strong> Krokodil würde nicht zubeiBen, wenn man im Sumpf watet, aber für <strong>die</strong><br />

Richtigkeit <strong>die</strong>ser Theorie würde ich nicht <strong>die</strong> Hand <strong>in</strong>s Feuer legen. Der Fanger<br />

begibt sich mit Stock und Taschenlampe bewaffnet auf <strong>die</strong> Suche nach Puk-Puks.<br />

Den Stock braucht er, um eventuell gröBere Krokodile zu verscheuchen, und <strong>die</strong><br />

Lampe ist se<strong>in</strong> wichtigstes Fanggerat. Mit dem starken Lichtkegel sucht er <strong>die</strong> Umgebung<br />

ab. Trifft er auf e<strong>in</strong> Krokodil, dann reflektiert dessen Auge das Licht hellrot.<br />

Das Tier ist durch den Lichtstrahl geblendet und verharrt regungslos, bis der<br />

72


Das Schicksal der Puk-Puk-Pikan<strong>in</strong>nis<br />

Fanger es ohne Mühe aufliest. Die nur wenige Monate alten Puk-Puks werden<br />

dann an Krokodilfarmen verkauft, wo sie <strong>in</strong> fürchterlicher Enge, <strong>in</strong> Bass<strong>in</strong>s, gehalten<br />

werden, bis sie e<strong>in</strong>e passende GröBe erreicht haben und es sich lohnt, ihnen <strong>die</strong><br />

Haut abzuziehen. Bei lebendigem Leib zieht man dem Krokodil <strong>die</strong> Haut ab, e<strong>in</strong>e<br />

Tierqualerei, <strong>die</strong> mit dem haarstraubenden Argument begründet wird, daB <strong>die</strong><br />

Haut e<strong>in</strong>es toten Krokodils matt und farblos wirke!<br />

Das Endprodukt kennen wir alle: „Krokodile" <strong>in</strong> Form von Taschen, Schuhen und<br />

Geldbörsen als begehrte Luxusartikel <strong>in</strong> den Schaufenstern der Geschafte unserer<br />

mondanen Welt. Vielleicht würde so mancher auf das kokodillederne Prestigeobjekt<br />

verzichten, würde er den Weg der Krokodiljungen von dem Augenblick an,<br />

wo sie gefangen werden, bis dorth<strong>in</strong>, wo ihr Leder e<strong>in</strong>e Damenhandtasche ziert,<br />

kennen.<br />

Wahrend ich den trüben Gedanken über das traurige Schicksal der Puk-Puk-Pikan<strong>in</strong>nis<br />

nachhange, ist es mir entgangen, daB wir bereits den engen Kanal verlassen<br />

haben und e<strong>in</strong>em offenen See zusteuern. Norberts Ausrufe der Begeisterung br<strong>in</strong>gen<br />

mich wieder <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gegenwart zurück. Der Chambri-See liegt vor uns. „See" ist<br />

nicht der richtige Ausdruck; es müBte vielmehr Chambri-Wiese heiBen. Denn<br />

überall stöBt Gras und Schilf durch <strong>die</strong> kaum zwei Meter tiefe Wasserflache, so<br />

daB wahrhaftig der E<strong>in</strong>druck entsteht, man würde über e<strong>in</strong>e Wiese fahren. Aber<br />

<strong>die</strong> Wiese blüht; hunderttausende Seerosen mit schneeweiBen und roten Blüten bilden<br />

e<strong>in</strong>en bunten Teppich, und unser E<strong>in</strong>baum mit dem Krokodilkopf vorne dran<br />

gleitet über <strong>die</strong> schirmgrofien Blatter und schiebt <strong>die</strong> Blüten zur Seite. An <strong>die</strong>sem<br />

Wunder liegt Chambri!<br />

E<strong>in</strong> kurzer Spaziergang durchs Dorf endet im Geisterhaus. Es gleicht jenen, <strong>die</strong> wir<br />

schon <strong>in</strong> anderen Dörfern gesehen haben. Nur der Innenraum zeigt Eigenheiten; er<br />

ist <strong>in</strong> zwei Etagen unterteilt, und zu beiden Seiten s<strong>in</strong>d erhöhte Boden angebracht.<br />

Sie ermöglichen es, daB man sich auch zur Hochwasserzeit trockenen FuBes im Zeremonialhaus<br />

aufhalten kann. Jetzt, wahrend der Trockenzeit, s<strong>in</strong>d sie voll beladen<br />

mit Schnitzereien, <strong>die</strong> wie auf Regalen zum Kauf angeboten werden. Chambri<br />

hat e<strong>in</strong>en ganz eigenwilligen Kunststil. Masken, Zierbretter und Aufhangehaken<br />

s<strong>in</strong>d allesamt mit schwarzer Grundfarbe bemalt, schwarz wie das Wasser des<br />

Chambri-Sees; nur <strong>die</strong> Verzierungen und Ornamente s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> den Konturen weiB.<br />

Auch <strong>die</strong> Sprache ist hier e<strong>in</strong>e andere, nicht mehr der Sprache der Jatmul zugehörig,<br />

<strong>die</strong> am gesamten mittleren Sepik gesprochen wird.<br />

Unser Aufenthalt <strong>in</strong> Chambri ist für me<strong>in</strong>e Begriffe viel zu kurz, aber unsere beiden<br />

Begleiter drangen vehement zum Aufbruch, denn sie wollen unter allen Umstanden<br />

noch vor Anbruch der Dunkelheit wieder <strong>in</strong> Aibom se<strong>in</strong>. Dementsprechend<br />

legen sich <strong>die</strong> beiden <strong>in</strong>s Zeug, und tatsachlich erreichen wir noch vor Beg<strong>in</strong>n<br />

der Dammerung, noch vor dem allabendlichen Moskitoüberfall, das Dorf.<br />

Am nachsten Morgen heiBt es auch von Aibom Abschied nehmen, mit Feuerschalen<br />

und Töpfen beladen treten wir <strong>die</strong> Rückfahrt nach Palimbei an.<br />

Wir haben bereits den gröBten Teil des Weges zurückgelegt und s<strong>in</strong>d nicht mehr<br />

weit vom Hauptstrom entfernt, als es passiert. Das Motorengerausch wird plötzlich<br />

unrhythmisch, e<strong>in</strong> letztes Tuckern und dann ist es vollends still. Paul schimpft<br />

wie e<strong>in</strong> Rohrspatz und f<strong>in</strong>gert fieberhaft am Motor herum, um ihn wieder <strong>in</strong> Gang<br />

71


Flufifahrt am Sepik<br />

zu br<strong>in</strong>gen. Ohne Erfolg. Der Motor gibt ke<strong>in</strong>en Laut mehr von sich. E<strong>in</strong> rout<strong>in</strong>emaBiger<br />

Bliek <strong>in</strong> den Tank macht alle weiteren Bemühungen s<strong>in</strong>nlos; wir haben<br />

ke<strong>in</strong>en Tropfen Benz<strong>in</strong> mehr. E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er Fehler <strong>in</strong> Pauls Berechnungen vom voraussichtlichen<br />

Treibstoffverbrauch ist <strong>die</strong> Ursache.<br />

Das Boot paBt sich der FlieBgeschw<strong>in</strong>digkeit des Wassers an, und wir treiben<br />

langsam flufiabwarts. Nur unser Ziel, Palimbei, liegt e<strong>in</strong> gutes Stück fluBaufwarts<br />

und damit <strong>in</strong> unerreichbarer Ferne. Denn das breite, bauchige Alum<strong>in</strong>iumboot mit<br />

AuBenbordmotor gegen <strong>die</strong> Strömung voranzubr<strong>in</strong>gen, versuchen wir erst gar<br />

nicht, das ist schon fluBabwarts e<strong>in</strong>e Sysiphosarbeit. Das schweiBtreibende Vergnügen<br />

teilen wir uns brüderlich, wahrend zwei <strong>die</strong> Stechpaddel be<strong>die</strong>nen, kann<br />

sich e<strong>in</strong>er ausrasten. Auf <strong>die</strong>se Weise kommen wir doch noch zu unserer geplanten<br />

Paddeltour.<br />

Das nachstgelegene Dorf fluBabwarts, das wir gegen Abend erreichen, ist Kam<strong>in</strong>abit.<br />

Hier gibt es alles, sogar e<strong>in</strong>e Bierkneipe, nur ke<strong>in</strong> Benz<strong>in</strong>. Die Leute zeigen uns<br />

<strong>die</strong> leeren Fasser. So bleibt uns nichts anderes übrig, als am nachsten Morgen <strong>die</strong><br />

unfreiwillige Fahrt fortzusetzen. Zu Mittag kommen wir nach M<strong>in</strong>dibit. Schon<br />

von weitem deutet man uns: auch hier gibt es ke<strong>in</strong>en Treibstoff. Erschöpft legen<br />

wir <strong>die</strong> Paddel nieder und lassen uns langsam abwarts treiben.<br />

Der Sepik ist hier unheimlich breit, der FluB des Wassers dementsprechend langsam.<br />

Dazu kommt noch, daB er Unmengen von Wassergras mit sich führt, das sich<br />

<strong>in</strong>folge der ger<strong>in</strong>gen Fliefigeschw<strong>in</strong>digkeit verdichtet und stellenweise e<strong>in</strong>en geschlossenen<br />

Teppich bildet, der <strong>die</strong> Fahrt des Bootes hemmt. SchlieBlich wird unsere<br />

Ausdauer belohnt. An e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Wohnplatz <strong>in</strong> der Nahe der E<strong>in</strong>mündung<br />

des Karawari <strong>in</strong> den Sepik erstehen wir aus e<strong>in</strong>em halb verrosteten FaB gerade so<br />

viel Benz<strong>in</strong>, um noch an <strong>die</strong>sem Tag nach Timbunke zu gelangen.<br />

Für uns ist hier <strong>die</strong> FluBfahrt zu Ende. Wir beschlieBen, auf <strong>die</strong> letzte Teilstrecke<br />

nach Angoram zu verzichten und stattdessen von hier aus <strong>die</strong> StraBe zurück nach<br />

Wewak zu benutzen. Die „StraBe", übrigens e<strong>in</strong>e letzter Ordnung, soll es erst seit<br />

kurzer Zeit geben. Als wir erfahren, daB <strong>die</strong> Dorfbewohner <strong>in</strong> den nachsten Tagen<br />

e<strong>in</strong>en Fischtransport nach Wewak organisieren wollen, hangt der Himmel für uns<br />

voller Geigen, denn damit ist das Problem des Fortbewegungsmittels auch gelost.<br />

Noch an <strong>die</strong>sem Nachmittag mussen wir uns schweren Herzens von Paul trennen,<br />

der es bereits eilig hat, um se<strong>in</strong>e weiteren geschaftlichen Term<strong>in</strong>e nicht zu versaumen.<br />

Geme<strong>in</strong>sam besorgen wir noch den notwendigen Treibstoff für <strong>die</strong> Heimfahrt,<br />

<strong>die</strong> Menge hat Paul selbst bestimmt. Ich hoffe nur, er hat bedacht, daB <strong>die</strong><br />

Fahrt fluBaufwarts, also gegen <strong>die</strong> Strömung, führt. Ob <strong>die</strong>s der Fall war, entzieht<br />

sich allerd<strong>in</strong>gs me<strong>in</strong>er Kenntnis.<br />

Die Moskitoplage ist <strong>in</strong> Timbunke viel ger<strong>in</strong>ger, als wir sie bisher erlebten, daher<br />

wagen wir es, zur Abwechslung wieder e<strong>in</strong>mal im Zelt zu schlafen. Es ist sogar<br />

möglich, <strong>die</strong> Zeit der Dammerung im Freien zu verbr<strong>in</strong>gen. Ich sitze am FluBufer<br />

und genieBe zum erstenmal das Schauspiel des Sonnenunterganges am Sepik. Als<br />

groBe rote Scheibe spiegelt sich <strong>die</strong> Sonne <strong>in</strong> den braunen Fluten, bevor sie vollends<br />

h<strong>in</strong>ter den Kokospalmen verschw<strong>in</strong>det. Der Abendhimmel farbt sich für kurze<br />

Zeit dunkelrot, aber wie überall <strong>in</strong> den Tropen zieht <strong>die</strong> Nacht rasch herauf und<br />

legt sich über <strong>die</strong> Dammerung. Ich bleibe noch lange sitzen und lasse <strong>die</strong> Ereignisse<br />

74


Mugang-Poesie<br />

und E<strong>in</strong>drücke der letzten Wochen noch e<strong>in</strong>mal vorbeiziehen. Es waren Momentaufnahmen<br />

aus e<strong>in</strong>er sich rasch wandelnden Welt. Augenblicke im gegenwartigen<br />

Leben der Sepik-Leute, <strong>die</strong> sich von den Traditionen der Vater gelost haben, um <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>e neue, wie sie me<strong>in</strong>en, bessere Welt aufzubrechen. „Mit Vollgas aus der Ste<strong>in</strong>zeit",<br />

könnte ihr Motto se<strong>in</strong>.<br />

Dieser Weg aber birgt auch Gefahren und kostet se<strong>in</strong>en Preis. Sie begeben sich auf<br />

unbekanntes Terra<strong>in</strong>, <strong>in</strong> das ihre althergebrachten Verhaltensmuster und Wertvorstellungen<br />

nicht mehr passen und <strong>die</strong> Ratschlage ihrer Mythen nicht mehr funktionieren.<br />

Das neue Leben br<strong>in</strong>gt vor allem e<strong>in</strong>e Objektivierung des Dase<strong>in</strong>s mit sich,<br />

e<strong>in</strong>e Auflösung der strengen Sippen- und Dorfgeme<strong>in</strong>schaften und noch nie gekannte<br />

Bedürfnisse, <strong>die</strong> es zu befriedigen gilt.<br />

Vielen jungen Intellektuellen des Landes ist <strong>die</strong>se Entwicklung bewufit. In se<strong>in</strong>em<br />

Gedicht „Para<strong>die</strong>s im Wandel" artikuliert der <strong>Papua</strong>-Dichter Mugareo Mugang<br />

<strong>die</strong> Gefühle vieler se<strong>in</strong>er Brüder. Es spiegelt <strong>die</strong> Zerrissenheit des Menschen wider<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Zeit des Umbruchs und e<strong>in</strong>er sich rasch andernden Umwelt, ihre vagen<br />

Vorstellungen vom zukünftigen Fortschritt und ihre tauschenden Traume.<br />

Niug<strong>in</strong>i ist das Para<strong>die</strong>s,<br />

Das Para<strong>die</strong>s ist Niug<strong>in</strong>i,<br />

Niug<strong>in</strong>i war der Himmel<br />

Und ist das Ja und das Ne<strong>in</strong>.<br />

Morgens. Niug<strong>in</strong>i war para<strong>die</strong>sisch,<br />

Und wanderte ich im frühen Dammern,<br />

GrüBten mich süBe Engelslieder<br />

Aus den Wipfeln der Baume.<br />

„Ob <strong>die</strong>s wohl Engel s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> dort s<strong>in</strong>gen?"<br />

Man hörte <strong>die</strong> Christnachtglocken kl<strong>in</strong>gen<br />

Und <strong>in</strong> der Ferne das Echo.<br />

Ja, es waren <strong>die</strong> Engel Niug<strong>in</strong>is, <strong>die</strong> ihren Jubel<br />

Immer wieder erschallen lieBen.<br />

Das alte Para<strong>die</strong>s. Unser Gott hatte dich<br />

Uns zum Geschenk gemacht.<br />

Unser Gott gab uns das alte Para<strong>die</strong>s:<br />

Die Heimat der Tolai, Chimbu, Kerema<br />

Und der Sileman;<br />

Die Heimat der Baumwipfelengel,<br />

Die Heimat aller Verlorenen.<br />

Es war süB, es war jung und es war grün.<br />

75


Flufifahrt am Sepik<br />

Heute. Niug<strong>in</strong>i ist ke<strong>in</strong> Para<strong>die</strong>s mehr.<br />

Niug<strong>in</strong>i ist braun. Verloren ist all se<strong>in</strong>e Schönheit,<br />

Niug<strong>in</strong>i verlor alle jungen Manner,<br />

Denn brauner Boden kann sie nicht halten.<br />

Die Chimbu, <strong>Papua</strong>, Niug<strong>in</strong>i und Tolai,<br />

Die Kerema, Kuku-kuku, Sileman,<br />

Man sieht ke<strong>in</strong>en mehr <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Para<strong>die</strong>s.<br />

Ke<strong>in</strong>er genieBt mehr das alte Para<strong>die</strong>s.<br />

Warum habt ihr eure Mutter alle verlassen?<br />

Bewahrt euer Para<strong>die</strong>s,<br />

Denn Gott hat es euch e<strong>in</strong>st geschenkt.<br />

Die „Mastas" kamen und haben das Para<strong>die</strong>s verandert,<br />

Die „Manki mastas" und „Kago bois".<br />

Das Para<strong>die</strong>s ist verschwunden.<br />

„Haus Lotus" hat unsere Götter verjagt.<br />

„Mastas" und „Haus Lotus" haben<br />

Das Para<strong>die</strong>s gemordet und se<strong>in</strong>e Schönheit vernichtet.<br />

Ich bitte <strong>die</strong> „Mastas", vorsichtig zu se<strong>in</strong>,<br />

Ich bitte <strong>die</strong> Missionare, etwas für me<strong>in</strong> Para<strong>die</strong>s zu tun;<br />

Ich kann jetzt ke<strong>in</strong> Chimbu, <strong>Papua</strong>,<br />

Ke<strong>in</strong> P<strong>in</strong>du, Sepik und Tolai mehr se<strong>in</strong>.<br />

Es we<strong>in</strong>t me<strong>in</strong>e Mutter,<br />

Hort ihr nicht, wie ihre Tranen fallen:<br />

Me<strong>in</strong>e verlorenen Söhne und Töchter,<br />

Kommt <strong>in</strong> euer Para<strong>die</strong>s zurück.<br />

Doch ich b<strong>in</strong> nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>facher Niug<strong>in</strong>i-Mann,<br />

E<strong>in</strong> Niug<strong>in</strong>i-Mann, der sich verandert.<br />

Ich b<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Niemand,<br />

Ich b<strong>in</strong> verloren im Para<strong>die</strong>s, das sich wandelt.<br />

Dah<strong>in</strong> ist das Para<strong>die</strong>s von gestern,<br />

Und das Morgen lafit nicht auf sich warten.<br />

Ihr werdet bedrangt, Blumenengel von e<strong>in</strong>st, und auch ich<br />

Kann nicht dem Wandel entgehen;<br />

Doch ich will immer e<strong>in</strong> alter<br />

Para<strong>die</strong>s-Niug<strong>in</strong>i-Mann se<strong>in</strong>.<br />

(Übersetzt aus dem Englischen von Dr. F. Weidner)<br />

76


Shangri-La<br />

Es ist e<strong>in</strong> klarer, wundervoller Morgen. Wir können mit unserer kle<strong>in</strong>en Cessna-<br />

Masch<strong>in</strong>e leicht von der Landungspiste des Flugplatzes Sentani hochkommen,<br />

denn aufier dem Piloten, Ed Rob<strong>in</strong>son, me<strong>in</strong>em Kameraden Fritz und mir s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e<br />

Personen an Bord, und unser Gepack ist kaum mehr als vierzig Kilogramm<br />

schwer. In e<strong>in</strong>er langgezogenen Schleife schraubt sich das Flugzeug hoch. Wir fliegen<br />

über den Sentani-See h<strong>in</strong>weg. E<strong>in</strong> paar <strong>Papua</strong>s s<strong>in</strong>d mit ihren E<strong>in</strong>baumen<br />

schon <strong>in</strong> aller Hergottsfrüh zum Fischen h<strong>in</strong>ausgefahren, und sie liegen ruhig auf<br />

der spiegelglatten Oberflache des riesigen B<strong>in</strong>nensees. Traurige Wellblechhütten<br />

saumen überall <strong>die</strong> Buchten, und dah<strong>in</strong>ter erstrecken sich sanfte, kahle Hügel.<br />

Nun dreht Ed <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e ab, er halt geradewegs auf e<strong>in</strong>e Bergkette zu, <strong>die</strong> wie<br />

e<strong>in</strong>e unüberw<strong>in</strong>dliche Mauer unseren Weg versperrt. Fast senkrecht f allen <strong>die</strong> letzten<br />

Auslaufer des Zentralgebirges zur Küstenebene ab, dah<strong>in</strong>ter türmen sich noch<br />

höhere Gipfel auf, an denen sich hartnackig e<strong>in</strong>zelne Nebelschwaden halten. Unsere<br />

Masch<strong>in</strong>e sche<strong>in</strong>t unvermeidlich mit der Barrière kolli<strong>die</strong>ren zu mussen; mir<br />

stockt der Atem, aber im letzten Augenblick zieht der Pilot <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e hoch und<br />

laBt sie gefahrlich niedrig über <strong>die</strong> Baumwipfel streichen. E<strong>in</strong> Schwarm weilier Kakadus<br />

fliegt erschreckt auf, um im nachsten Augenblick wieder <strong>in</strong> den Baumkronen<br />

zu verschw<strong>in</strong>den. Soweit das Auge reicht, ist e<strong>in</strong> Gewirr von schroffen, steilen<br />

Gebirgskammen zu sehen, zerfurcht und zerrissen von gewundenen Talern, <strong>in</strong> deren<br />

tiefsten Stellen sich Flüsse h<strong>in</strong>durchzwangen. Nur ab und zu s<strong>in</strong>d an den Berghangen<br />

kle<strong>in</strong>e Rodungen auszumachen, sie bleiben <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zigen Anzeichen menschlicher<br />

Aktivitat, <strong>die</strong> aus der Luft erkennbar s<strong>in</strong>d. Aber genauso abrupt wie sich das<br />

Gebirge aus der Küstenebene erhob, bricht es völlig unerwartet wieder ab und<br />

macht e<strong>in</strong>er unermeölich weiten, grünen Ebene Platz. Wir überfliegen nun den östlichen<br />

Teil der grolten Seenplatte, e<strong>in</strong> Sumpftiefland, das r<strong>in</strong>gsum von 3000 m hohen<br />

Bergen umgeben ist. Machtige Flüsse, allen voran der Idenburg und Memberamo,<br />

maandern durch <strong>die</strong> Sümpfe, zu beiden Seiten abgetrennte Arme und kle<strong>in</strong>e<br />

Tümpel zurücklassend. Unzahlige kle<strong>in</strong>e Seen blitzen silbern auf, als wir mit unserer<br />

Cessna darüber h<strong>in</strong>wegfliegen.<br />

Ich b<strong>in</strong> jedesmal wieder von neuem überrascht, wieviel Urwald es hier gibt. Alles<br />

sche<strong>in</strong>t mit e<strong>in</strong>em Teppich aus verschiedenen Grüntönen bedeckt zu se<strong>in</strong>, <strong>in</strong> dem<br />

<strong>die</strong> vorherrschende Schattierung e<strong>in</strong> Dunkelgrün ist, das <strong>die</strong> Ausdehnung des Urwaldes<br />

deutlich macht. Wie sich e<strong>in</strong> Seemann auf dem Meer nur von Wasser umgeben<br />

sieht, zeigt der Bliek über <strong>die</strong> Berge und Ebenen Neugu<strong>in</strong>eas nichts als Wald:<br />

das ununterbrochene, bis zum Horizont reichende Grün des Regenwaldes.<br />

Hier gibt es nur zwei Fortbewegungsmittel: mit dem Flugzeug oder zu FuJi auf E<strong>in</strong>geborenenpfaden<br />

durch den Dschungel. Es ist schon erstaunlich, wie schnell man<br />

heute e<strong>in</strong> Gebiet überfliegt, für dessen Durchquerung man zu FuG Tage benötigen<br />

würde. Wer nur von Airstrip zu Airstrip fliegt, wird zwar e<strong>in</strong>en allgeme<strong>in</strong>en Überblick<br />

über <strong>die</strong> Landschaften gew<strong>in</strong>nen, aber er wird das Land nicht wirklich ken-<br />

77


Shangri-La<br />

nenlernen, denn dazu muB man <strong>die</strong>se grandiose Wildnis hautnah erleben und mit<br />

eigener Muskelkraft erkunden. Die Seenplatte ist so e<strong>in</strong> Gebiet, das zu durchforschen<br />

me<strong>in</strong> gröflter Wunsch ware. Die trage dah<strong>in</strong>fliefienden Flüsse und <strong>die</strong> enormen<br />

Sümpfe lassen den E<strong>in</strong>satz von Booten angeraten ersche<strong>in</strong>en. Erst am südlichen<br />

Rand wird das Gelande wieder bergiger. Das Zentralgebirge mit se<strong>in</strong>en eisbedeckten<br />

Gipfeln tritt an <strong>die</strong> Stelle des Tieflandes. Hier ist wieder mit gut begangenen<br />

E<strong>in</strong>geborenenpfaden zu rechnen, denn dort liegt auch das sagenhafte Jalime,<br />

e<strong>in</strong>e Art Ste<strong>in</strong>bruch, der den Berg-<strong>Papua</strong>s seit Menschengedenken als Ste<strong>in</strong>quelle<br />

<strong>die</strong>nt.<br />

Aus der Luft macht <strong>die</strong> Seenplatte den E<strong>in</strong>druck e<strong>in</strong>es menschenfe<strong>in</strong>dlichen und<br />

weglosen Landes. Das tauscht, denn zwischen der Kuste und dem zentralen Bergland<br />

gibt es etliche E<strong>in</strong>geborenenpfade. Trotz der sche<strong>in</strong>bar so abweisenden Landesnatur<br />

ist es der Lebensraum zahlreicher Stamme. Nur s<strong>in</strong>d ihre Wohnplatze<br />

vom Flugzeug nicht zu erkennen; sie liegen unter dem Urwalddach, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Tunnel verborgen. Die Abhangigkeit von der Sagopalme als Nahrungspflanze<br />

zw<strong>in</strong>gt ihnen e<strong>in</strong> nomadenhaftes Dase<strong>in</strong> auf. Die Menschen können nur so lange<br />

an e<strong>in</strong>em Wohnplatz bleiben, solange <strong>in</strong> dessen Nahe noch genügend Sagopalmen<br />

s<strong>in</strong>d; haben sie alle ausgebeutet, mussen sie ihr Dorf auflassen, weiterziehen, und<br />

neue Sagogründe suchen.<br />

Gewisse Stammesgruppen fungieren als „Handler". Sie br<strong>in</strong>gen von der Kuste Salz<br />

und Muschelschalen <strong>in</strong> das Bergland südlich des Idenburg und nehmen von dort<br />

Para<strong>die</strong>svogelfedern mit zurück. Diese Muschelschalen galten noch bis vor wenigen<br />

Jahren als e<strong>in</strong>e Art von Wahrung und erfuhren erst unter zivilisatorischem<br />

E<strong>in</strong>fluB e<strong>in</strong>e gewisse Entwertung. In früheren Zeiten wurden <strong>die</strong> Muscheln von<br />

Dorf zu Dorf gehandelt; niemand kann sagen, wie lange e<strong>in</strong>e solche Sendung Muschelschalen<br />

vom Meer bis zu den entlegenen Wohnplatzen im Landes<strong>in</strong>neren unterwegs<br />

war. E<strong>in</strong> Jahr vielleicht. Oder vielleicht zehn Jahre! Über <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen<br />

im Gebiet der Seenplatte ist noch recht wenig bekannt. Ihre ger<strong>in</strong>ge Zahl, das<br />

Wanderleben, das sie führen und <strong>die</strong> Unwirtlichkeit ihres Lebensraumes hat sie vor<br />

E<strong>in</strong>flüssen von auBen abgeschirmt. Zwei oder drei Airstrips und e<strong>in</strong> paar vorgeschobene<br />

Missionsbasen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>gerichtet, sie sollen <strong>die</strong> umherziehenden <strong>Papua</strong>s<br />

an feste Siedlungen b<strong>in</strong>den und sie möglichst bald mit den Segnungen unserer Zivilisation<br />

bekannt machen. Zur Verkündigung des christlichen Glaubens setzen <strong>die</strong><br />

Missionen E<strong>in</strong>geborene des Hochlandes e<strong>in</strong>, <strong>die</strong> sich <strong>in</strong> Missionsschulen durch besonderen<br />

Eifer hervorgetan haben und deshalb für <strong>die</strong> Pionierarbeit am geeignetsten<br />

ersche<strong>in</strong>en. Doch <strong>die</strong> Praxis zeigt, daB sie das mörderische, feuchtheiBe Klima<br />

der Niederungen nur schwer ertragen und von Zeit zu Zeit ausgetauscht werden<br />

mussen. Daher bleibt ihr Wirkungsradius beschrankt und geht kaum über <strong>die</strong> unrnittelbare<br />

Umgebung h<strong>in</strong>aus. Die meisten der kle<strong>in</strong>en, <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem riesigen Terra<strong>in</strong><br />

umherstreunenden Sippengeme<strong>in</strong>schaften s<strong>in</strong>d bislang nicht erfaBt.<br />

E<strong>in</strong>er der ersten Stammesgruppen, <strong>die</strong> man hier entdeckte, waren <strong>die</strong> sogenannten<br />

Nogullo-Pygmaen. Die hollandische Forschungsexpedition unter Leitung von Sir<br />

Matthew Stirl<strong>in</strong>g traf im Jahre 1926 auf <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>wüchsigen Ure<strong>in</strong>wohner. Zum<br />

gröBten Erstaunen der WeiBen zeigten <strong>die</strong>se ke<strong>in</strong>erlei Scheu oder Furcht, sondern<br />

empf<strong>in</strong>gen <strong>die</strong> Fremden mit gröBter Zuvorkommenheit <strong>in</strong> ihren w<strong>in</strong>dschirmartigen<br />

78


Teure Braute<br />

Unterkünften. Neugierig betrachten sie <strong>die</strong> seltsamen Gegenstande und Apparate<br />

im Lager der WeiBen. Die Marnier drücken ihr Erstaunen dadurch aus, daB sie mit<br />

den F<strong>in</strong>gernageln gegen <strong>die</strong> Penisfutterale klopfen. Die Frauen jedoch zeigen ihre<br />

Verwunderung auf andere Art. Sie stecken den Mittelf<strong>in</strong>ger ihrer L<strong>in</strong>ken <strong>in</strong> den<br />

Mund, wahrend sie mit der anderen Hand ihre Brüste auf- und abwippen lassen.<br />

Da es <strong>in</strong> ihrem Stamm nicht genügend Frauen gibt, ist es für e<strong>in</strong>en Nogullo-Manti<br />

nicht leicht, e<strong>in</strong>e Ehepartner<strong>in</strong> zu f<strong>in</strong>den. Angebot und Nachfrage bestimmen den<br />

Brautpreis, der <strong>in</strong> Anbetracht des Frauenmangels betrachtlich ist.<br />

Hat e<strong>in</strong> Mann den Brautpeis e<strong>in</strong>mal entrichtet, so darf er sich noch lange nicht als<br />

Brautigam fühlen, denn nun s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Verwandten der Frau dazu berechtigt, aus<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten Abstand mit Pfeilen auf ihn zu schieBen. Dann heiBt es möglichst<br />

rasch zur Seite spr<strong>in</strong>gen, um zu überleben, sonst ist <strong>die</strong> Braut auf dem Heiratsmarkt<br />

wieder frei, und e<strong>in</strong> neuer Brautpreis kann kassiert werden.<br />

Das Wetter bleibt an <strong>die</strong>sem Tag gut, für Neugu<strong>in</strong>ea-Verhaltnisse geradezu prachtig,<br />

der Flug ist abwechslungsreich und bietet uns immer neue Tiefblicke. Es ist<br />

e<strong>in</strong>mal etwas ganz anderes, das Land aus der Vogelperspektive zu betrachten. Am<br />

Boden versperren e<strong>in</strong>em <strong>die</strong> Baume nach allen Richtungen h<strong>in</strong> den Ausblick, selbst<br />

auf hohen Bergrücken bleibt das Blickfeld stets begrenzt, denn auch dort wachst<br />

der Urwald bis <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Höhe von dreitausendfünhundert Metern. Nur aus der Luft<br />

ist e<strong>in</strong> guter Überblick möglich. Hier bekommt man auch e<strong>in</strong>en Begriff davon, wie<br />

das gebirgige Rückgrat der Insel entstanden ist. Als vor vielen Millionen Jahren <strong>die</strong><br />

Insel nach Norden driftete und mit dem Inselbogen zusammenstieB, der ihr den<br />

Weg versperrte, wurden groBe Blöcke der Erdkruste kilometerhoch aufgefaltet.<br />

Steile, schmale Gebirgskamme und tiefe Taler, <strong>die</strong> heute e<strong>in</strong>en FuBmarsch so erschweren,<br />

s<strong>in</strong>d das Ergebnis <strong>die</strong>ses Zusammenpralls.<br />

Vom Flugzeug aus entdecke ich auch immer wieder Landschaften, <strong>die</strong> ich gerne zu<br />

FuB erforschen würde, und ich merke sie mir, um sie spater <strong>in</strong> me<strong>in</strong>e Plane e<strong>in</strong>zubeziehen.<br />

Wir mussen wohl schon e<strong>in</strong>e gute Stunde unterwegs se<strong>in</strong>, und me<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit<br />

ist von der unter uns vorüberziehenden Wildnis so gefangen, daB ich nicht bemerke,<br />

wie wir uns den Bergen nahern. Erst als starke Turbulenzen <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>e Masch<strong>in</strong>e<br />

erfassen und wir dr<strong>in</strong>nen h<strong>in</strong> und her geschüttelt werden, richte ich <strong>die</strong><br />

Blicke wieder auf das Geschehen vor uns. Wir fliegen durch e<strong>in</strong> schmales, von viertausend<br />

Meter hohen Bergen e<strong>in</strong>geschlossenes Tal, das, zu me<strong>in</strong>em Entsetzen, an<br />

e<strong>in</strong>er bewachsenen Felswand endet.<br />

„LaB uns umkehren", schreie ich durch den Motorenlarm nach vorne und sehe<br />

gleich im nachsten Augenblick e<strong>in</strong>, wie uns<strong>in</strong>nig me<strong>in</strong>e Forderung ist.<br />

„Das Tal ist für e<strong>in</strong> Wendemanöver zu eng", bestatigt der Pilot seelenruhig, was<br />

ich ohneh<strong>in</strong> schon ahnte. „Aber warum regst du dich auf, wir bef<strong>in</strong>den uns doch<br />

auf dem richtigen Weg." Tatsachlich hat das Tal auch e<strong>in</strong>en Ausgang, der allerd<strong>in</strong>gs<br />

aus der Ferne nicht zu erkennen ist. Unmittelbar vor der Felswand biegt es<br />

scharf nach Osten h<strong>in</strong> ab. Wir fliegen nun entlang e<strong>in</strong>er Kalkste<strong>in</strong>barriere, bis sich<br />

plötzlich und für mich vöUig unerwartet e<strong>in</strong>e Öffnung, so etwas wie e<strong>in</strong> PaB, auftut.<br />

Der Pilot ist gerade dabei, <strong>die</strong> Lücke anzusteuern, als er sich umdreht und zu<br />

uns nach h<strong>in</strong>ten ruft: „Dort ist das Pass Valley." Der e<strong>in</strong>zige Zugang von Norden<br />

w


Shangri-La<br />

<strong>in</strong> das Tal, das heute „The Grand Valley of the Baliem", das GroBe Baliem-Tal<br />

heiBt.<br />

Dieser PaB hat schlieBlich zur Entdeckung des bis dah<strong>in</strong> verborgenen Tales und<br />

se<strong>in</strong>er Bewohner, der Dani, geführt. Unsere Absicht ist es, dem Pionierflug des<br />

Amerikaners Myron J. Grimes zu folgen, der wahrend des Zweiten Weltkrieges,<br />

auf der Suche nach möglichen Landeplatzen im Landes<strong>in</strong>neren, den engen Durchschlupf<br />

entdeckte und <strong>in</strong> das „unbekannte" Tal flog.<br />

Vielleicht war es e<strong>in</strong> Tag wie <strong>die</strong>ser, als Grimes se<strong>in</strong> Flugzeug <strong>in</strong> <strong>die</strong> Schlucht lenkte.<br />

Er hatte zwar den Auftrag, nur <strong>die</strong> Gegend nördlich der Kalkste<strong>in</strong>barriere zu erkunden;<br />

doch es laBt ihm ke<strong>in</strong>e Ruhe, er muB auch untersuchen, wie es am anderen<br />

Ende der Schlucht aussieht. Geschickt manövriert er <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e zwischen<br />

den lotrechten Felswanden h<strong>in</strong>durch, <strong>die</strong> zu beiden Seiten himmelhoch aufragen.<br />

Nach e<strong>in</strong>er guten Viertelstunde treten <strong>die</strong> Wande etwas zurück und geben den Bliek<br />

frei auf e<strong>in</strong> weites, grünes Tal. Se<strong>in</strong>e Neugier drangt ihn, h<strong>in</strong>unterzufliegen. Anderseits<br />

beunruhigt ihn der Gedanke, wie er durch <strong>die</strong> Schlucht zurückf<strong>in</strong>den soll,<br />

wenn Regen oder Nebel e<strong>in</strong>setzt. Aus Erfahrung weiB er, daB sich im Bergland jeden<br />

Nachmittag <strong>die</strong> Schleusen des Himmels öffnen, sich aber schon Stunden vorher<br />

<strong>die</strong> Wolken und Nebelbanke an den Gipfeln und <strong>in</strong> den Talern verdichten.<br />

Trotzdem nimmt er das Risiko auf sich und steuert <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e h<strong>in</strong>unter <strong>in</strong> das<br />

geheimnisvolle Tal. Wahrend er <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Höhe entlang e<strong>in</strong>es machtigen Flusses<br />

fliegt, sieht Grimes bewaffnete Krieger auf hohen Wachtürmen stehen, <strong>die</strong> drohende<br />

Gebarden zu ihm h<strong>in</strong>auf machen; manche schieBen sogar ihre Pfeile <strong>in</strong> Richtung<br />

des Flugzeuges ab. Kle<strong>in</strong>e Dörfer tauchen auf, deren runde Hutten wie Riesenpilze<br />

<strong>in</strong>mitten gepflegter Felder aufragen. Die Muster der weitlaufigen Gartenkulturen,<br />

<strong>die</strong> von Ste<strong>in</strong>wallen begrenzt und durch Kanale bewassert s<strong>in</strong>d, er<strong>in</strong>nern<br />

Major Grimes an das Snake-River-Tal se<strong>in</strong>er Heimat Idaho. Im letzten Augenblick,<br />

ehe der Nebel kommt, f<strong>in</strong>det er <strong>die</strong> Schlucht wieder und landet kurze Zeit<br />

spater <strong>in</strong> Sentani an der Kuste.<br />

Se<strong>in</strong> Bericht f<strong>in</strong>det grofien Widerhall, und <strong>die</strong> Nachricht von der Entdeckung des<br />

isolierten Tales mit den nackten Menschen geht rund um <strong>die</strong> Welt. Um e<strong>in</strong>e Welt,<br />

<strong>in</strong> der Krieg herrscht. Und vielleicht liegt gerade dar<strong>in</strong> der Grund für das grofie Interesse<br />

<strong>die</strong>ser Welt. Man sehnt sich nach e<strong>in</strong>em friedlichen Ort. Das Baliem-Tal<br />

sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> solcher zu se<strong>in</strong>, und man beneidet <strong>die</strong> Bewohner, <strong>die</strong> offensichtlich von<br />

all den Schrecken des Weltkrieges nichts wissen. Das neuentdeckte Tal wird bald<br />

zum vieldiskutierten Objekt, und man beg<strong>in</strong>nt es als vergessenes Shangri-La zu<br />

feiern. Zwei amerikanische Kriegskorrespondenten lassen sich <strong>in</strong> jenes Tal fliegen<br />

und machen aus ger<strong>in</strong>ger Höhe hunderte Fotos. Ihre Reportagen von Neugu<strong>in</strong>eas<br />

„Shangri-La", wo tausende Menschen leben, <strong>die</strong> offenbar noch nie Kontakt mit<br />

der AuBenwelt gehabt haben, beschaftigen <strong>die</strong> Phantasie der Amerikaner. E<strong>in</strong> solches<br />

Gebiet muB das Para<strong>die</strong>s se<strong>in</strong>!<br />

Die amerikanische Militarführung wird bomba<strong>die</strong>rt mit Anfragen und Bitten von<br />

Leuten, <strong>die</strong> dorth<strong>in</strong> auswandern wollen. Aber noch hat ke<strong>in</strong> WeiBer das Tal betreten,<br />

geschweige denn Kontakt mit den Shangri-La-Bewohnern aufgenommen. Es<br />

könnte ja se<strong>in</strong>, daB sie Kopfjager s<strong>in</strong>d, wie ihre südlichen Nachbarn, <strong>die</strong> Asmat<br />

oder <strong>die</strong> Mar<strong>in</strong>d-Anim im Südosten. Vielleicht ahneln sie den kriegerischen Kapau-<br />

80


Der Absturz<br />

kas im Westen, was sogar wahrsche<strong>in</strong>lich ist. Aber ne<strong>in</strong>, von solchen Gedanken<br />

will man nichts wissen; sie mussen <strong>die</strong> „edlen Wilden" se<strong>in</strong>. Jene, <strong>die</strong> Jean-Jacques<br />

Rousseau im 18. Jahrhundert beschrieben hat. E<strong>in</strong>e Shangri-La-Gesellschaft wird<br />

<strong>in</strong> Hollandia <strong>in</strong>s Leben gerufen, und jeder, der über das berühmte Tal geflogen ist,<br />

erhalt e<strong>in</strong> Zertifikat.<br />

„Hier s<strong>in</strong>d sie abgestürzt", sagt Ed und zeigt auf e<strong>in</strong>en steilen, bewachsenen Berghang.<br />

Er zieht nun <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e tief <strong>in</strong>s Tal h<strong>in</strong>unter, so daB wir <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Höhe<br />

über <strong>die</strong> Baumwipfel schweben.<br />

„Und dort kam man zur E<strong>in</strong>sicht, daB das Baliem-Tal ke<strong>in</strong> Shangri-La ist." Dabei<br />

deutet er mit der freien Hand auf e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e, unsche<strong>in</strong>bare Rodung. Denn nach<br />

der Gründung der erwahnten Shangri-La-Gesellschaft wurden regelrecht Besichtigungsflüge<br />

von Hollandia aus veranstaltet, an denen Offiziere und Journalisten<br />

teilnahmen. E<strong>in</strong> solcher Flug startet am 13. Mai 1945 vom Flughafen Sentani. An<br />

Bord e<strong>in</strong>er Dakota 47 bef<strong>in</strong>den sich acht Frauen und fünfzehn Manner. Sie fliegen<br />

nur dreihundert Meter über dem Boden, um <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>en Dörfer der E<strong>in</strong>geborenen<br />

besser sehen zu können. Das Gelande aber steigt stetig an.<br />

Als sie glauben, über den letzten Berggrat des Pass Valley zu fliegen - jener<br />

2900 m hohe Bergrücken, der das Baliem-Tal im Norden umschlieBt -, wird <strong>die</strong><br />

Masch<strong>in</strong>e durch massive Luftbewegungen nach unten gedrückt. Zuerst berührt sie<br />

nur <strong>die</strong> Baumwipfel, dann reiBt sie e<strong>in</strong>e tiefe Schneise <strong>in</strong> <strong>die</strong> dichte Vegetation und<br />

kolli<strong>die</strong>rt schlieBlich mit dem Bergrücken <strong>in</strong> 2200 m Höhe. Für <strong>die</strong> meisten der Insassen<br />

s<strong>in</strong>d damit <strong>die</strong> Sekunden der Angst vorüber - sie s<strong>in</strong>d tot. Aber dreien<br />

- zwei Mannern und e<strong>in</strong>er Frau - gel<strong>in</strong>gt es, aus dem h<strong>in</strong>teren Teil des Flugzeuges<br />

herauszukriechen, der sich beim Aufprall vom brennenden Hauptteil loste. Es<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>s John S. McCollom, Kenneth Decker und Margaret J. Hast<strong>in</strong>gs. Mit letzter<br />

Mühe schaffen sie es, noch zwei Insassen lebend aus dem brennenden Wrack zu<br />

bergen: zwei Frauen, <strong>die</strong> lebensgefahrlich verletzte Eleanor Hanna und Laura Besley,<br />

<strong>die</strong> unter schwerem Schock steht. Als der im Hochland übliche Nachmittagsregen<br />

e<strong>in</strong>setzt, beg<strong>in</strong>nt McCollom nach brauchbarer Ausrüstung im ausgebrannten<br />

Wrack zu suchen. Er f<strong>in</strong>det mehrere Kanister Wasser, SüBigkeiten und Signallampen.<br />

Dann bricht e<strong>in</strong>e kühle und unangenehme Nacht über <strong>die</strong> fünf Überlebenden here<strong>in</strong>.<br />

Es sollte <strong>die</strong> letzte für Eleanor Hanna se<strong>in</strong>, <strong>die</strong> noch wahrend der Nacht ihren<br />

schweren Verletzungen erliegt. Am darauffolgenden Morgen sehen <strong>die</strong> vier das erste<br />

Suchflugzeug am Himmel kreisen, aber sie selbst können nicht gesehen werden.<br />

Trotzdem schöpfen sie neuen Mut, aber Hoffnung alle<strong>in</strong> ist für Laura Besley zu<br />

wenig; sie stirbt noch am selben Tag. Am nachsten Morgen kampfen sich <strong>die</strong> verbliebenen<br />

drei <strong>die</strong> urwaldbewachsenen Berghange h<strong>in</strong>unter, auf der Suche nach<br />

e<strong>in</strong>er gröBeren Lichtung, wo sie überhaupt e<strong>in</strong>e Chance haben, aus der Luft gesehen<br />

zu werden. Mühsam mussen sie sich den Weg bahnen, entlang reiBender Flüsse<br />

und über donnernde Wasserfalle h<strong>in</strong>weg. Völlig erschöpft erreichen sie gegen<br />

Abend e<strong>in</strong>e Lichtung. Mit letzter Kraft gel<strong>in</strong>gt es ihnen, gelbe Persenn<strong>in</strong>gs auszulegen,<br />

um den möglichen Rettern ihre Position anzuzeigen. Aber es vergeht noch e<strong>in</strong><br />

weiterer Tag, ehe e<strong>in</strong> Suchflugzeug über ihnen auftaucht, der Pilot e<strong>in</strong>ige Male<br />

kreist und durch das Wackeln der Flügel zu erkennen gibt, daB er <strong>die</strong> Unglückli-<br />

89


Shangri-La<br />

chen gesehen hat. Wahrend sich <strong>die</strong> drei Überlebenden vor Freude über <strong>die</strong> baldige<br />

Rettung <strong>in</strong> den Armen liegen, halt Decker plötzlich <strong>in</strong>ne und sagt: „Was ist das für<br />

e<strong>in</strong> seltsames Gerausch?" Und nun horen es auch <strong>die</strong> anderen. Es kl<strong>in</strong>gt so, als ob<br />

Hunde klafften. lm nachsten Augenblick s<strong>in</strong>d sie von e<strong>in</strong>er Schar e<strong>in</strong>geborener<br />

Krieger umz<strong>in</strong>gelt.<br />

Sie starren <strong>die</strong> Fremden mit offenem Mund an. Sie br<strong>in</strong>gen <strong>die</strong>ses eigenartige Gerausch<br />

hervor, <strong>in</strong>dem sie <strong>die</strong> Zungenspitze im schnellen Wechsel bewegen. Heute<br />

weifi man, daB <strong>die</strong>s ihre gewohnte BegrüBungsform ist und unter ihnen als Ausdruck<br />

auBerster Höflichkeit gilt. So, als wolle man sagen: „Ich komme <strong>in</strong> Freundschaft,<br />

will mich aber nicht aufdrangen." McCollom reagiert schnell. Er geht mit<br />

ausgestreckten Handen auf e<strong>in</strong>en der Krieger zu, den er für den Anführer halt, und<br />

fragt <strong>in</strong> englischer Sprache: „Wie geht's, Peter? Nett, dich zu treffen!" Die <strong>Papua</strong>s<br />

s<strong>in</strong>d mehr als erstaunt über das seltsame Verhalten des hellhautigen Fremden, noch<br />

nie ist ihnen jemand waffenlos und mit leeren Handen entgegengetreten. Aber sie<br />

reagieren freundlich. E<strong>in</strong>ige von ihnen helfen den WeiBen bei der Errichtung des<br />

Nachtlagers, andere steigen <strong>in</strong>s Dorf ab und kommen tags darauf mit gebratenen<br />

SüBkartoffeln wieder, <strong>die</strong> sie den WeiBen anbieten. Die nun folgenden Ereignisse<br />

dürften bei den Dani ahnliche Empf<strong>in</strong>dungen hervorgerufen haben, wie wir sie<br />

natten, wenn uns plötzlich e<strong>in</strong>e Gruppe „grüner Marsmannchen" mit seltsamen<br />

Flugobjekten besuchen würden. Die E<strong>in</strong>geborenen mussen <strong>die</strong> Fremden für Götter,<br />

Abgesandte aus dem Totenreich oder ahnliches gehalten haben; wie sonst sollten<br />

sie es erklaren, daB <strong>in</strong> den nachsten Tagen sich der Himmel öffnete, larmerzeugende,<br />

grofie „Vogel" auftauchten, über ihnen kreisten und eigenartige Gegenstande<br />

herunterschwebten. Die Hilfeleistenden werfen namlich aus der Luft e<strong>in</strong>en Radiosender,<br />

Medikamente und Verpflegung ab. Bald darauf setzt <strong>die</strong> Rettungsaktion<br />

voll e<strong>in</strong>. Philipp<strong>in</strong>ische Fallschirmspr<strong>in</strong>ger landen fünfzig Kilometer entfernt<br />

im Baliem-Tal und arbeiteten sich <strong>in</strong> wenigen Tagen zu den drei Amerikanen! vor.<br />

Erst dreizehn Jahre spater werden <strong>die</strong> Uberreste der Toten aus dem Flugzeugwrack<br />

geborgen und <strong>in</strong> <strong>die</strong> USA überstellt.<br />

Der Mann, den McCollom mit Peter angesprochen hatte, hieB <strong>in</strong> Wirklichkeit Satohok.<br />

Freilich brachte ihm der Kontakt mit der fremden Zivilisation wenig Glück,<br />

er starb e<strong>in</strong>ige Jahre spater an Masern, e<strong>in</strong>er Krankheit, <strong>die</strong> ihm der weiBe Mann<br />

vererbte.<br />

Doch der romantische Traum vom Shangri-La entpuppt sich wieder e<strong>in</strong>mal als IIlusion.<br />

Das friedliche Bild mit den „naiven, nackten Wilden" tauscht. Die Dani<br />

s<strong>in</strong>d mit denselben menschlichen Schwachen und Unzulanglichkeiten ausgestattet<br />

wie wir; wie sollte es anders se<strong>in</strong>! HaB, Aggression und Krieg s<strong>in</strong>d auch dort nicht<br />

unbekannt, wenngleich ihre Stammeskriege ritualisiert, d. h. im Kult begründet<br />

s<strong>in</strong>d und nicht Eroberung oder Unterdrückung als Grundmotiv haben.<br />

Se<strong>in</strong>e 50.000 Bewohner s<strong>in</strong>d aufgespalten <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>ere, oft mite<strong>in</strong>ander verfe<strong>in</strong>dete<br />

Gruppen, bedroht durch rituelle Stammeskriege und unerwartete H<strong>in</strong>terhalte. Die<br />

K<strong>in</strong>der spielen „Töte e<strong>in</strong>en Reifen", e<strong>in</strong> Spiel, bei dem Speere durch geflochtene<br />

Reifen geschleudert werden, und niemand arbeitet auf dem Feld, ohne den nachstgelegenen<br />

Wachtturm im Auge zu behalten. Dieses Shangri-La ist e<strong>in</strong>e Welt, <strong>in</strong> der<br />

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Flugbootlandung <strong>in</strong> 3000 Metern Höhe<br />

<strong>die</strong> Starke e<strong>in</strong>er Geme<strong>in</strong>schaft nur an der Starke und Schlauheit ihrer „Ka<strong>in</strong>s" (Anführer)<br />

gemessen wird. Es ist mit Sicherheit ke<strong>in</strong> Para<strong>die</strong>s!<br />

Noch war es total unbekannt, als Major Grimes über das Pass Valley flog. Obwohl<br />

<strong>die</strong> US Air Force es anfangs nicht erkannte und obwohl Kriegsberichterstatter, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> dramatische Rettungsaktion kommentierten, es nicht erwahnten: Dieses Tal ist<br />

identisch mit dem „GroBen Baliem-Tal", das schon e<strong>in</strong>ige Jahre zuvor vom Amerikaner<br />

Richard Archbold entdeckt worden war. Archbolds Unternehmen gehort zu<br />

den seltsamsten Expeditionen <strong>in</strong> der Geschichte Neugu<strong>in</strong>eas. 1938 kam er auf <strong>die</strong><br />

grandiose Idee, mit dem Flugboot „Guba", das e<strong>in</strong>e so groBe tragfahige Flügelweite<br />

hat, dafi fünfzig Personen auf e<strong>in</strong>em Flügel sitzen können, ohne daB es zusammenbricht,<br />

entlang des Aquators um <strong>die</strong> Erde zu fliegen. E<strong>in</strong>es der Ziele <strong>die</strong>ser Reise<br />

war es, im unbekannten Inneren von Hollandisch-Westneugu<strong>in</strong>ea zu landen.<br />

Am 2. Juli 1938 startete Archbold mit se<strong>in</strong>er „Guba" zum Flug von San Diego<br />

nach Hollandia, der damaligen Hauptstadt der hollandischen Kolonie. Dort wurde<br />

<strong>die</strong> Mannschaft mit niederlandischen Wissenschaftern, Offizieren und Soldaten<br />

der Armee, Strafgefangenen und vor allem mit den unentbehrlichen, im Urwalcl<br />

erfahrenen Dajaks aus Borneo erganzt. Der erste Flug führte <strong>in</strong>s Sumpftiefland<br />

des Idenburg-Flusses, <strong>in</strong>mitten der groBen Seenplatte. „Umgeben von tausenden<br />

Krokodilen, geplagt von Moskitos und Blutegeln" errichteten sie ihr erstes Lager.<br />

Bei e<strong>in</strong>em der folgenden Erkundungsflüge <strong>in</strong>s südlich gelegene Zentralgebirge entdeckten<br />

sie das dichtbevölkerte Baliem-Tal, das sie <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Höhe überflogen.<br />

„Als <strong>die</strong> ,Guba' über das Tal h<strong>in</strong>wegflog, sahen wir gut angelegte Felder, durchzogen<br />

von Bewasserungsanlagen und umgeben von Ste<strong>in</strong>mauern. Alles sah aus wie<br />

Ackerland <strong>in</strong> Mitteleuropa!"<br />

Auf der Suche nach e<strong>in</strong>em möglichen Landeplatz sehen sie von Bord aus, unweit<br />

der Wilhelm<strong>in</strong>aspitze, e<strong>in</strong>en grofien See, den Lake Habbema, der <strong>in</strong> 3200 m liegt.<br />

Ob man hier landen könnte?<br />

Zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt hatte noch niemand versucht, mit e<strong>in</strong>em schweren Flugboot<br />

<strong>in</strong> der dunnen Luft, mehr als 3000 m über dem Meeresspiegel, zu landen. Sie wissen,<br />

daB der See m<strong>in</strong>destens fünf FuB tief se<strong>in</strong> muB, damit e<strong>in</strong>e Landung möglich<br />

ist. Um zu untersuchen, ob <strong>die</strong>s der Fall ist, fliegen sie <strong>in</strong> ger<strong>in</strong>ger Höhe über den<br />

fast vier Kilometer langen See und werfen dabei Stricke <strong>in</strong>s Wasser. Am Ende jedes<br />

Strickes s<strong>in</strong>d Ste<strong>in</strong>e befestigt, und <strong>in</strong> exakt fünf FuB Abstand bef<strong>in</strong>den sich<br />

Korken. Bleiben <strong>die</strong> Korken auf dem Wasser sichtbar, darm ist es nicht möglich zu<br />

landen; werden sie aber von den Ste<strong>in</strong>en unter Wasser gezogen, dann ist der unbekannte<br />

See tief genug, daB <strong>die</strong> schwere Masch<strong>in</strong>e hier wassern kann.<br />

Alle Stricke vers<strong>in</strong>ken. Die „Guba" gleitet herab und landet im blauen Wasser des<br />

Bergsees. „Als der Motorenlarm verstummt, breitet sich e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>drucksvolle Stille<br />

aus", schreibt Archbold. „Ich öffnete <strong>die</strong> h<strong>in</strong>tere Luke und schaute herum. Dunne<br />

Föhren, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Hange r<strong>in</strong>gsum bedeckten, schienen unseren seltsamen Vogel mit<br />

Unbehagen zu betrachten. Wir befanden uns im Herzen des unerforschten Neugu<strong>in</strong>ea<br />

und waren völlig abhangig von den zwei Motoren unseres Flugschiffes. Sollten<br />

sie nicht wieder <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen se<strong>in</strong>, oder e<strong>in</strong> Start miBl<strong>in</strong>gen, würden wir<br />

kaum lebend <strong>die</strong> Kuste erreichen..." Sie probieren den Start aufs Exempel. Die<br />

Motoren heulen auf, <strong>die</strong> Propeller hallen wider <strong>in</strong> der dunnen Bergluft, und e<strong>in</strong>e<br />

91


Shangri-La<br />

M<strong>in</strong>ute spater hebt <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e problemlos vom Wasser ab. In den darauffolgenden<br />

Tagen werden alle 105 Mann Besatzung und 72 Tonnen Ausrüstung zum Habbema-See<br />

geflogen. Am Tag des allerletzten Transportfluges ersche<strong>in</strong>en zwei E<strong>in</strong>geborene<br />

im Lager der WeiBen. Nackt, auBer den Penisfutteralen und ihren geflochtenen<br />

Haarnetzen, jedoch mit Schwe<strong>in</strong>efett und RuB beschmiert, gehen sie im<br />

Lager der Fremden umher und betrachten ohne Furcht, aber mit gröBtem Erstaunen<br />

alles, wobei sie unentwegt mit dem Daumen gegen ihre Futterale klopfen. Es<br />

ist klar, dafi sie von weit her gekommen se<strong>in</strong> mussen, denn das Gebiet um den See<br />

bietet ke<strong>in</strong>erlei Möglichkeiten zur Ernahrung.<br />

Selbstverstandlich war <strong>die</strong> Existenz der Hochlandbewohner zum damaligen Zeitpunkt<br />

nicht ganzlich unbekannt. Schon lange vor ihrer Entdeckung kursierten bei<br />

den Küsten-<strong>Papua</strong>s <strong>die</strong> abenteuerlichsten Geschichten über <strong>die</strong> wilden Stamme im<br />

Inneren der Insel. Sie erzahlten von Völkern, deren Manner mit so furchtbar langen,<br />

beweglichen Geschlechtsorganen ausgerüstet waren, daB sie mit den Frauen<br />

zu verkehren vermochten, <strong>in</strong>dem sie neben ihnen auf dem Boden sitzen - ja, sie<br />

brauchten nicht e<strong>in</strong>mal dicht neben ihnen zu sitzen.<br />

Natürlich hat noch niemand <strong>die</strong>se beneidenswerten Manner wirklich zu Gesicht bekommen.<br />

Der Ursprung des Gerüchts s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Dani oder ihre Verwandten, und <strong>die</strong><br />

überdimensionalen Geschlechtsorgane s<strong>in</strong>d zusammengeschrumpft auf <strong>die</strong> Gröfie<br />

ihrer eigentümlichen Penisfutterale, <strong>die</strong> manchmal lang und gerade, manchmal<br />

aber auch auf verschiedene Weise gekrümmt s<strong>in</strong>d.<br />

Mehrere Expeditionsteilnehmer, e<strong>in</strong>e Abteilung Soldaten und Trager begleiten <strong>die</strong><br />

zwei Dani h<strong>in</strong>ab <strong>in</strong>s Baliem-Tal. Hier treffen sie auf Wohnplatze, deren Manner<br />

über den Besuch so erfreut s<strong>in</strong>d, daB sie <strong>die</strong> Fremden an der Rückkehr zu h<strong>in</strong>dern<br />

trachten. Beim Abmarsch bilden sie e<strong>in</strong> dicht gestaffeltes Spalier und versuchen<br />

durch Lachen und hysterisches Geschrei, <strong>die</strong> WeiBen zum Bleiben zu bewegen. Als<br />

sie jedoch begreifen, daB <strong>die</strong>s nicht gel<strong>in</strong>gt, geben sie den Weg frei und helfen sogar<br />

der Expedition beim E<strong>in</strong>sammeln von Para<strong>die</strong>svögeln und verschiedenen<br />

Pflanzen.<br />

Die Expedition ist aufierordentlich erfolgreich. Botaniker entdecken 25 neue Rhododendronarten,<br />

seltsame Orchideen und Farnbaume <strong>in</strong> der Vegetationszone zwischen<br />

drei- und viertausend Metern Höhe. Ornithologen f<strong>in</strong>den seltene Para<strong>die</strong>svogelarten,<br />

Nashornvögel und Kasuare. Am 12. Mai 1939 verlafit Archbold Hollandia,<br />

um se<strong>in</strong>e geplante Umrundung der Erde erfolgreich fortzusetzen.<br />

Wahrend ich all <strong>die</strong>se Betrachtungen anstelle, mag vielleicht e<strong>in</strong>e gute Viertelstunde<br />

vergangen se<strong>in</strong>. Die enge Schlucht des Pass Valley, <strong>die</strong> schon so manchen Piloten<br />

zum Verhangnis wurde, liegt bereits h<strong>in</strong>ter uns. Das Tal, <strong>in</strong> das wir h<strong>in</strong>abgleiten,<br />

wird zusehends breiter, und <strong>in</strong> der Ferne tauchen <strong>die</strong> ersten Dörfer auf, aber<br />

<strong>die</strong> Gefahren s<strong>in</strong>d damit noch nicht endgültig vorbei. Noch steht uns <strong>die</strong> Landung<br />

bevor. DaB <strong>die</strong> Flugplatze im gebirgigen Inneren der Insel nicht <strong>die</strong> allerbesten<br />

s<strong>in</strong>d, war mir schon vorher klar, nur <strong>die</strong> Wirklichkeit übertrifft noch me<strong>in</strong>e kühnsten<br />

Vorstellungen. Ich ware nie auf <strong>die</strong> Idee gekommen, den hellen grünen Fleck<br />

vor uns für e<strong>in</strong>e Landepiste zu halten, trotzdem muB es e<strong>in</strong>e se<strong>in</strong>, denn wir steuern<br />

geradewegs auf sie zu. Der Airstrip von Landikma, übrigens e<strong>in</strong>er der letzten Ord-<br />

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Mission und Askese<br />

nung, liegt ganz <strong>in</strong> der Nahe des Wohnplatzes jenes Satohok, den <strong>die</strong> drei überlebenden<br />

Amerikaner mit „Peter" ansprachen. lm allgeme<strong>in</strong>en nennen <strong>die</strong> Piloten<br />

derartige Flugplatze liebevoll „Stamps", und es ist alles andere als angenehm, auf<br />

e<strong>in</strong>er solchen „neugu<strong>in</strong>esischen Briefmarke" zu landen, aber <strong>die</strong>ser hat noch e<strong>in</strong>en<br />

anderen Namen; „wir nennen ihn e<strong>in</strong>fach den Schrammhügel", erzahlt uns der Pilot<br />

beim Landeanflug, e<strong>in</strong>e Bemerkung, <strong>die</strong> ich <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Augenblick nicht gerade<br />

für angebracht halte. „Schrammhügel heiBt er deshalb, weil es oft vorkommt, daB<br />

<strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e mit voller Last über <strong>die</strong> holprige Oberflache h<strong>in</strong>schrammt!" Zwei<br />

Missionsmasch<strong>in</strong>en s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>ser abschüssigen Graslandebahn schon zum Opfer gefallen.<br />

Die letzte Bruchlandung ist noch gar nicht lange her, dabei hatte der Pilot,<br />

Jerry Latimer, den ich e<strong>in</strong>mal bei e<strong>in</strong>em Flug <strong>in</strong>s Hochland begleitete, groBes<br />

Glück: wie durch e<strong>in</strong> Wunder entstieg er fast unverletzt der zertrümmerten Masch<strong>in</strong>e.<br />

Dementsprechend ruppig ist auch <strong>die</strong> Landung. E<strong>in</strong> heftiger StoB drückt uns <strong>in</strong><br />

den Sitzen zusammen, und noch e<strong>in</strong>er, aber darm rollen und hüpfen wir bis vor <strong>die</strong><br />

Tür der Missionsstation. E<strong>in</strong>geborene mit langen Penisköchern kommen angelaufen<br />

und schnippen vor Erregung mit den F<strong>in</strong>gern gegen ihre „Unterwasche". Der<br />

Missionar, e<strong>in</strong> blonder, hünenhafter Hollander, tritt aus se<strong>in</strong>em Haus und streckt<br />

uns freundlich <strong>die</strong> Hande entgegen. In aller Eile schleppen e<strong>in</strong> paar <strong>Papua</strong>s schwere<br />

Kisten herbei und beg<strong>in</strong>nen <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e zu beladen, wahrend Missionar und<br />

Pilot <strong>die</strong> kurze Zeit für e<strong>in</strong>en Erfahrungsaustausch nutzen. Ed hat es plötzlich<br />

machtig eilig; er drangt vehement zum Aufbruch, denn er weiB, wie schnell sich<br />

hier <strong>in</strong> den Bergen das Wetter andert, und er möchte unbed<strong>in</strong>gt noch <strong>in</strong> den relativ<br />

sicheren Vormittagsstunden jenseits des Pass Valley se<strong>in</strong>. War ich bislang der Ansicht,<br />

daB <strong>die</strong> Landung der gefahrlichste Teil e<strong>in</strong>er Flugreise <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea sei, so<br />

wurde ich jetzt e<strong>in</strong>es besseren belehrt. Kurz vor dem Start befiehlt der Missionar<br />

e<strong>in</strong>igen der herumstehenden Dani-Manner, das Flugzeug am Schwanz festzuhalten.<br />

Wahrend der Pilot Vollgas gibt, halten <strong>die</strong> Leute mit aller Kraft <strong>die</strong> Landeklappen<br />

fest. Der Motor heult auf, und im Augenblick der höchsten Touren<br />

streckt der Pilot e<strong>in</strong>e Hand aus dem Fenster und gibt das verabredete Zeichen. Wie<br />

auf Kommando lassen nun <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e los, <strong>die</strong> auf der abschüssigen<br />

Graspiste so rasch beschleunigt, daB sie schon auf halber Strecke abhebt.<br />

Hatte der e<strong>in</strong>e oder andere nicht rechtzeitig losgelassen, ware er zweifellos<br />

mit hochgerissen worden.<br />

Der hollandische Missionar ladt uns e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Haus zu wohnen. Wie bei vielen<br />

anderen Missionen, <strong>die</strong> ich wahrend me<strong>in</strong>er Reise im Bergland besuche, gew<strong>in</strong>ne<br />

ich auch hier den E<strong>in</strong>druck, daB <strong>die</strong> Missionare ke<strong>in</strong>eswegs jenes entbehrungsreiche<br />

Dase<strong>in</strong> <strong>in</strong>mitten fe<strong>in</strong>dseliger E<strong>in</strong>geborener führen, wie es vielleicht früher e<strong>in</strong>mal<br />

der Fall war, jedoch heute noch gerne dargestellt wird. Ganz im Gegenteil: e<strong>in</strong><br />

Hof staat von E<strong>in</strong>geborenen verrichtet alle Arbeiten im Haus. Jeden Morgen kommen<br />

<strong>Papua</strong>-Frauen aus benachbarten Dörfern und br<strong>in</strong>gen Früchte und Frischgemüse.<br />

Die Versorgung aus der Luft ist ebenfalls vorbildlich. Die Butter stammt aus<br />

Neuseeland, und australische Spezialnahrungsmittel werden über <strong>Papua</strong>-Neugu<strong>in</strong>ea<br />

e<strong>in</strong>geflogen.<br />

Wir genieBen es, erstmals von missionarischer Seite nicht gleich als unerwünschte<br />

91


Shangri-La<br />

E<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>gl<strong>in</strong>ge, Störenfriede oder böswillige Kritiker betrachtet zu werden. Es ist<br />

ke<strong>in</strong>e Unwahrheit, wenn ich behaupte, dafl <strong>die</strong> Zusammenarbeit mit ihnen nicht<br />

e<strong>in</strong>fach ist, und man mufl etwas von e<strong>in</strong>em Balancekünstler haben, um mit allen<br />

gut auszukommen. Bei den Lutheranern darf man ke<strong>in</strong> Bier tr<strong>in</strong>ken, bei den Siebten-Tags-Adventisten<br />

ke<strong>in</strong> Fleisch essen und bei den Katholiken nichts davon erwahnen,<br />

dafl man <strong>in</strong> „wilder" Ehe lebt.<br />

Nur hier s<strong>in</strong>d wir über jeden Zweifel erhaben. Das mag auch daran liegen, dafl wir<br />

<strong>die</strong>smal nicht zu unserem eigenen Vergnügen - und um Abenteuer zu erleben<br />

- unterwegs s<strong>in</strong>d, sondern sozusagen <strong>in</strong> offizieller Mission. Der Flug auf den Spuren<br />

von Major Grimes war mehr oder weniger nur der Auftakt; unser wahres Ziel<br />

ist es, das Wrack e<strong>in</strong>er zweimotorigen Cessna zu suchen, <strong>die</strong> vor zwei Jahren, auf<br />

dem Flug <strong>in</strong>s Baliem-Tal, bei dichtem Nebel abstürzte. Sie kolli<strong>die</strong>rte mit e<strong>in</strong>em<br />

3000 m hohen Bergrücken, knapp unterhalb des Kammes, genau <strong>in</strong> jenem Pass<br />

Valley, wo sich Jahre zuvor der tragische Unfall der Amerikaner ereignete.<br />

Unsere Auftraggeber s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Leute der MAF (Mission Aviation Fellowship), <strong>die</strong><br />

mit ihrer Flugzeugflotte <strong>die</strong> meisten Missionen betreuen. Die Fliegerei ist seit den<br />

Pioniertagen kaum ungefahrlicher geworden. Obwohl <strong>die</strong> Erfahrung der Piloten<br />

gröfier und <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>en moderner s<strong>in</strong>d, vergeht kaum e<strong>in</strong> Jahr, ohne dafl irgendwo<br />

im Hochland e<strong>in</strong> Flugzeug verschollen bleibt oder zum<strong>in</strong>dest an e<strong>in</strong>em der<br />

berüchtigten „Schrammhügel" <strong>in</strong> Brüche geht. In der MAF-eigenen Werkstatt <strong>in</strong><br />

Sentani wird standig an la<strong>die</strong>rten Masch<strong>in</strong>en gebastelt, doch Ersatzteile s<strong>in</strong>d teuer<br />

und ihr Import ist langwierig und kompliziert. Deshalb ist es ihr gröfltes Bestreben,<br />

an Wracks verunglückter Masch<strong>in</strong>en heranzukommen und entweder e<strong>in</strong>zelne Teile<br />

oder das ganze Flugzeug abzutransportieren. Genau <strong>die</strong>se Aufgabe haben wir<br />

übernommen.<br />

Wir sollen mit Hilfe E<strong>in</strong>geborener, <strong>die</strong> <strong>die</strong> ungefahre Absturzstelle kennen, e<strong>in</strong>en<br />

Pfad durch den Urwald schlagen und erkunden, ob es überhaupt verwertbare E<strong>in</strong>zelteile<br />

gibt. Wenn ja, so ist <strong>die</strong> Frage zu beantworten, ob es besser ist, <strong>die</strong> ausgeschlachteten<br />

Teile <strong>in</strong>s Tal zu schleppen oder ob es nicht s<strong>in</strong>nvoller ware, das gesamte<br />

Wrack mittels Helikopter aus dem Urwald zu heben und damit zum nachstgelegenen<br />

Airstrip zu fliegen. Noch am selben Abend werden - geme<strong>in</strong>sam mit dem<br />

Missionar - <strong>die</strong> nötigen Vorbereitungen getroffen. Es ist auch se<strong>in</strong> Ver<strong>die</strong>nst, dafl<br />

am nachsten Morgen sechs wackere Dani-Manner marschbereit auf uns warten.<br />

Verwegene Gestalten begrüflen uns mit freundlichem „Wah, Wah, Wah..." und<br />

klopfen dabei unaufhörlich auf ihre Penisfutterale. Aufler den besagten „kotekas"<br />

s<strong>in</strong>d sie völlig nackt. Zwei von ihnen haben ihre Gesichter mit e<strong>in</strong>er Mischung aus<br />

Schwe<strong>in</strong>efett und Rufl dick beschmiert. lm durchbohrten Nasenseptum stecken<br />

Vogelknochen oder gekrümmte Schwe<strong>in</strong>ehauer. Alle aber tragen kunstvoll geflochtene<br />

Haarnetze aus Grasfasern. Neben ihren traditionellen Pfeilen und Bogen,<br />

ohne <strong>die</strong>se Untensilien würde ke<strong>in</strong> Dani se<strong>in</strong> Dorf verlassen, s<strong>in</strong>d sie mit<br />

Buschmesser und Stahlaxten ausgerüstet, <strong>die</strong> sie als Belohnung behalten dürfen.<br />

Der freundliche Missionar begleitet uns noch bis zum Dorfende und wünscht uns<br />

viel Erfolg.<br />

In der ersten halben Stunde folgen wir e<strong>in</strong>em gut ausgetretenen Schwe<strong>in</strong>epfad, der<br />

darm abrupt im Urwalddickicht endet. Der Weg führt nun steil bergab. Hier legen<br />

94


Wackelige Brücken<br />

<strong>die</strong> Dani richtig los. Ihre „Gelandegangigkeit" ist erstaunlich; trotz der schweren<br />

und sperrigen Gepackstücke, <strong>die</strong> jeder von ihnen zu schleppen hat, legen sie e<strong>in</strong><br />

solches Tempo vor, da/J wir groBe Mühe haben, ihnen zu folgen. Es ist schon e<strong>in</strong>e<br />

Freude, zuzusehen, wie geschickt sie über <strong>die</strong> schlüpfrigen Baumstamme turnen.<br />

Noch e<strong>in</strong>drucksvoller ist ihre Fahigkeit, sich im Dschungel zu orientieren. Ich muli<br />

gestehen, ich hatte nicht mehr sagen können, <strong>in</strong> welcher Richtung wir uns überhaupt<br />

bewegen. Die Dani s<strong>in</strong>d unsere beste Lebensversicherung, ohne <strong>die</strong>se prachtigen<br />

Burschen natten wir nicht <strong>die</strong> ger<strong>in</strong>gste Chance, das Wrack zu f<strong>in</strong>den, noch<br />

würden wir hier wieder herauskommen.<br />

Aus der Tiefe der Schlucht ist das Rauschen e<strong>in</strong>es Flusses zu horen, das von Mimite<br />

zu M<strong>in</strong>ute anschwillt. Das verheiBt nichts Gutes. E<strong>in</strong>e FluBüberquerung steht<br />

uns bevor.<br />

Aus Erfahrung wissen wir, dafi e<strong>in</strong> derartiges Unterfangen <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea zumeist<br />

e<strong>in</strong> gefahrliches Abenteuer ist. Denn „Brücken" s<strong>in</strong>d, wenn überhaupt vorhandeci,<br />

bestenfalls quergelegte Baumstamme, <strong>die</strong>, rundherum mit feuchtem Moos bewachsen,<br />

schwer zu bewaltigende H<strong>in</strong>dernisse s<strong>in</strong>d.<br />

Erschöpft und mit fliegendem Atem kommen wir an den FluB, dessen trübe Wassermassen<br />

<strong>in</strong> Katarakten zu Tal stürzen. ErwartungsgemaB ist weit und breit ke<strong>in</strong>e<br />

Brücke zu sehen. Aufgeregt laufen <strong>die</strong> Dani h<strong>in</strong> und her, wobei sie angestrengt<br />

nach e<strong>in</strong>em mögüchen Übergang Ausschau halten.<br />

Es vergeht vielleicht e<strong>in</strong>e Viertelstunde, dann ist e<strong>in</strong> Stück flufiabwarts plötzlich<br />

lautes Jubelgeschrei zu horen. Wir folgen der Richtung, aus der <strong>die</strong> Schreie kommen,<br />

und als wir <strong>die</strong> betreffende Stelle erreichen, sehen wir, wie gerade der erste<br />

Trager, von Felsblock zu Felsblock hüpfend, den FluB überquert. Zwei weitere folgen<br />

auf <strong>die</strong>selbe Art. Kaum s<strong>in</strong>d sie am jenseitigen Ufer angekommen, beg<strong>in</strong>nen<br />

sie auf beiden Seiten Baume zu fallen und <strong>die</strong> vom Geast befreiten Stamme so zu<br />

legen, daB sie zwischen den e<strong>in</strong>zelnen Ste<strong>in</strong>brocken e<strong>in</strong>e Verb<strong>in</strong>dung herstellen.<br />

Zweifellos machen sie das nur unseretwegen, für <strong>die</strong> „Tuans" aus Europa, <strong>die</strong> sich<br />

so ungeschickt anstellen.<br />

Wahrend <strong>die</strong> Dani leichtfüfiig mit den schweren Gepackstücken h<strong>in</strong>überturnen, sehen<br />

wir uns aufierstande, es ihnen gleichzutun. Wir setzen uns rittl<strong>in</strong>gs auf <strong>die</strong> glatten<br />

Baumstamme und schieben unsere Körper Zentimeter für Zentimeter voran.<br />

Unsere Art der FluBüberquerung ist bestimmt ke<strong>in</strong> Esthetischer GenuB, aber <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem<br />

Fall heiligt der Zweck <strong>die</strong> Mittel.<br />

Am jenseitigen Ufer angekommen, bleibt uns kaum Zeit für e<strong>in</strong>e Verschnaufpause,<br />

denn nun geht es steil bergauf. Das ganze Land sche<strong>in</strong>t nach dem Berg-und-<br />

Tal-Bahn-Pr<strong>in</strong>zip konstruiert zu se<strong>in</strong>. Es gibt kaum ebene Flecken; entweder<br />

rutscht man halsbrecherische Berghange h<strong>in</strong>unter oder man klettert mit Handen<br />

und FüBen steil bergauf.<br />

E<strong>in</strong>er der Dani geht voraus und erkundet den Weg, der im Zickzackkurs zufallig<br />

umgestürzten Baumen folgt, <strong>die</strong> am feuchten Waldboden langsam vermodern.<br />

Nicht <strong>die</strong> ger<strong>in</strong>gsten Anzeichen menschlicher Anwesenheit s<strong>in</strong>d zu erkennen, ke<strong>in</strong><br />

Pfad, ke<strong>in</strong> abgedrückter Zweig und ke<strong>in</strong>e Kerbe weisen den Weg. Dennoch s<strong>in</strong>d<br />

sich <strong>die</strong> Dani ihrer Sache sicher. Inst<strong>in</strong>ktiv f<strong>in</strong>den sie immer wieder <strong>die</strong> richtige<br />

Richtung.<br />

95


Shangri-La<br />

Der Regenwald hat unsere kle<strong>in</strong>e Gruppe m<strong>in</strong> vollends aufgenommen. Wir sehen<br />

uns von tropfnassem, moosbewachsenem Dschungel umgeben. Die Baume r<strong>in</strong>gsum<br />

s<strong>in</strong>d so gewaltig <strong>in</strong> Umfang und Höhe, und ihr Geast ist so dicht mit parasitaren<br />

Pflanzen durchflochten, dafi das Sonnenlicht es nicht durchdr<strong>in</strong>gen kann.<br />

Manchmal s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Schmarotzergewachse so dicht, daB der Baum abstirbt und<br />

e<strong>in</strong>e Lücke im Kronendach h<strong>in</strong>terlaBt. Auf <strong>die</strong>sen Augenblick warten all jene<br />

Pflanzen, <strong>die</strong> bis dah<strong>in</strong> e<strong>in</strong> kümmerliches Schattendase<strong>in</strong> führten. Sie schieBen nun<br />

hoch und r<strong>in</strong>gen mite<strong>in</strong>ander um e<strong>in</strong>en Platz an der Sonne. Wem es gel<strong>in</strong>gt, durch<br />

das Blatterdach zu stoften und mit se<strong>in</strong>er Krone <strong>die</strong> Lücke zu füllen, wird überleben.<br />

Alle anderen Gewachse sterben aus Mangel an Sonnenlicht ab und bilden mit<br />

ihrer verwesenden Substanz den Dünger des Urwaldes.<br />

Der Weg durch den Regenwald ist im wahrsten S<strong>in</strong>ne des Wortes dornenreich! lm<br />

dichten Unterholz aus Gestrüpp und Lianen wachsen <strong>die</strong> langen Ranken der Rotangpalme<br />

mit ihren gefahrlichen Stacheln, an denen man sich verfangen kann. Ist<br />

man erst e<strong>in</strong>mal an ihnen hangengeblieben, was mir haufig passiert, bleibt ke<strong>in</strong> anderer<br />

Ausweg, als sich methodisch von e<strong>in</strong>em Stachel nach dem anderen zu lösen.<br />

In 2700 m Höhe geht der Regenwald <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Nebelwald über, der so heiftt, weil es<br />

e<strong>in</strong>e kalte, graue Welt ist, <strong>in</strong> der <strong>die</strong> Baume an vielen Tagen <strong>in</strong> Nebel gehüllt s<strong>in</strong>d.<br />

Fritz und ich s<strong>in</strong>d uns e<strong>in</strong>ig; es ist der wildeste, aber zugleich schönste Urwald, den<br />

wir je gesehen haben. Die Baume stehen hier nicht mehr so dicht ane<strong>in</strong>ander, aber<br />

sie s<strong>in</strong>d über und über mit Moosen, Farnen und zauberhaften Orchideen besetzt.<br />

Von der Dschungeldecke hangen dicht bemooste Lianen herunter, und ich kann<br />

der Verlockung nicht widerstehen, e<strong>in</strong> wenig Tarzan zu spielen. Aber <strong>die</strong>ser Betatigungslust<br />

wird bald e<strong>in</strong> Dampfer aufgesetzt. Sobald ich an e<strong>in</strong>er <strong>die</strong>ser langen, herabhangenden<br />

Ranken ziehe, werde ich von e<strong>in</strong>er Kaskade verrotteter Lianen, stacheliger<br />

Aste und verfilztem Laubwerk überschüttet. Und <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Laubkissen<br />

tummelt sich allerlei unangenehmes Kle<strong>in</strong>getier; Zecken und Blutegel, <strong>die</strong> sich<br />

gleich an der Haut festsaugen oder, wenn man Pech hat, trifft man gar auf e<strong>in</strong>e<br />

giftige Schlange.<br />

Der Nebelwald ist e<strong>in</strong> gefahrliches Gelande, denn an vielen Stellen verschl<strong>in</strong>gen<br />

sich <strong>die</strong> Baumwurzeln <strong>in</strong>e<strong>in</strong>ander zu höhlenartigen Gebilden, <strong>die</strong> mit e<strong>in</strong>er Moosschicht<br />

bedeckt s<strong>in</strong>d. Man mufi sich sehr vorsichtig auf <strong>die</strong>sem Wurzelgerüst bewegen,<br />

weil e<strong>in</strong> falscher Schritt unweigerlich e<strong>in</strong>en Sturz aus betrachtlicher Höhe zur<br />

Folge hatte. Obwohl ich mir <strong>die</strong> gröftte Mühe gebe, me<strong>in</strong>en Schritt an <strong>die</strong> Trittfolge<br />

des vor mir gehenden Dani anzupassen, kommt es immer wieder vor, daB ich<br />

ausrutsche und <strong>in</strong> das meterhohe Wurzelgerüst e<strong>in</strong>breche.<br />

Das Terra<strong>in</strong> wird nun zunehmend steiler. Immer hSufiger stehen wir glatten Felswanden<br />

gegenüber, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Dani mit erstaunlichem Geschick überw<strong>in</strong>den. Kurz bevor<br />

der übliche Nachmittagsregen e<strong>in</strong>setzt, entdecken wir e<strong>in</strong>en breiten, ebenen<br />

Felssockel, worüber sich e<strong>in</strong>e leicht überhangende Wand aufbaut. E<strong>in</strong>er der Dani,<br />

der vor zwei Jahren dabei war, als man <strong>die</strong> sterblichen Überreste des Piloten holte,<br />

erkennt <strong>die</strong> Stelle auf Anhieb wieder. Es ist ihr damaliger Lagerplatz. Viel ist davon<br />

nicht mehr übriggeblieben. Der notdürftige Unterstand von e<strong>in</strong>st ist zusammengebrochen<br />

und von der wild wuchernden Vegetation langst verschlungen.<br />

Fritz und ich würden am liebsten noch e<strong>in</strong> Stück weitermarschieren, aber <strong>die</strong> Dani<br />

96


Schwieriger Aufstieg<br />

s<strong>in</strong>d nicht mehr von der Stelle zu bewegen. Sie bestehen darauf, hier zu biwakieren.<br />

Wahrend wir den Lagerplatz von Gestrüpp und allerlei Astwerk befreien, beg<strong>in</strong>nen<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen mit dem Bau e<strong>in</strong>er regensicheren Hütte. Aus allen Richtungen<br />

schleppen sie geeignete Stamme und starke Aste herbei, <strong>die</strong> sie geschickt<br />

mit Rotang und Faserschnüren zu e<strong>in</strong>em stabilen Gerust verb<strong>in</strong>den. Die Seitenwande<br />

bleiben e<strong>in</strong>fach offen, nur <strong>die</strong> Arbeiten am Dach erfordern gröBere Sorgfalt.<br />

Um es wasserundurchlassig zu machen, wird es mit e<strong>in</strong>er dicken Schicht aus<br />

Baumr<strong>in</strong>de und Blattern bedeckt. Der rechteckige Unterstand ist so grofi, dali wir<br />

sogar unser Zelt darunter aufstellen können. Bald ist e<strong>in</strong> Feuer <strong>in</strong> Gang gebracht,<br />

und als der Regen voll e<strong>in</strong>setzt, sitzen <strong>die</strong> Dani bereits gutgelaunt auf ihren trockenen<br />

Pandanusmatten, <strong>die</strong> sie immer als Schlafunterlage mitführen.<br />

Am nachsten Morgen herrscht prachtvolles Wetter, doch es ist bitterkalt. An jenen<br />

Stellen des Dschungels, wo <strong>die</strong> Sonnenstrahlen durch <strong>die</strong> Baumwipfel dr<strong>in</strong>gen, entstehen<br />

scharfe Kontraste zwischen Licht und Schatten. Der ganze Urwald dampft<br />

förmlich, ist erfüllt von Nebelfetzen, <strong>die</strong> sich im Licht der Sonne langsam auflösen.<br />

Die Dani s<strong>in</strong>d langst wach; mit klappernden Zahnen und zitternd vor Kalte<br />

hoeken sie r<strong>in</strong>gs ums Feuer. Wie bereits zum Abendessen, gibt es auch zum Frühstück<br />

Süflkartoffeln und Maiskolben. Die Bataten werden e<strong>in</strong>fach so lange <strong>in</strong>s<br />

Feuer gelegt, bis sie e<strong>in</strong>igermaBen weich s<strong>in</strong>d. Danach nimmt man sie mit Holzzangen<br />

aus der Glut, befreit sie von Asche und verbrannter Kraste, und fertig ist das<br />

Dani-Hauptgericht. Als höchster kul<strong>in</strong>arischer GenuB schwebt es ihnen vor, e<strong>in</strong>e<br />

Prise Salz darüberzustreuen.<br />

Der weitere Aufstieg ist schwierig. Obwohl wir Buschmesser e<strong>in</strong>setzen, dauert es<br />

Stunden, bis wir e<strong>in</strong> paar kümmerliche hundert Meter überwunden haben. Die<br />

Baume bieten zwar ke<strong>in</strong>e betrachtlichen H<strong>in</strong>dernisse mehr, wie zuvor im Regenwald,<br />

langst haben knorrige Nadelbaume <strong>die</strong> Eichen und Süd-Buchen der niedrigeren<br />

Regionen abgelöst. Aber das Unterholz ist auBerst dicht. Hier herrschen Straucher<br />

vor. Myrten und Rhododendren bilden an manchen Stellen e<strong>in</strong> f ast undurchdr<strong>in</strong>gliches<br />

Dickicht. Es ist e<strong>in</strong>e marchenhafte, e<strong>in</strong>e schone Welt hier oben. Das<br />

üppig leuchtende Rot, Orange und Gelb der Rhododendren belebt e<strong>in</strong>e sonst grüne<br />

Landschaft.<br />

Mir ist jedes Gefühl für Zeit und Orientierung abhanden gekommen, all me<strong>in</strong>e<br />

Aufmerksamkeit gilt dem Weg; wie e<strong>in</strong> Schatten folge ich Schritt für Schritt den<br />

E<strong>in</strong>geborenen. Wir mussen wohl schon e<strong>in</strong>ige Stunden unterwegs se<strong>in</strong>, und ich b<strong>in</strong><br />

gerade dabei, mich über e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Felsstufe h<strong>in</strong>aufzumühen, als unter den vorauseilenden<br />

Dani groBe Aufregung entsteht. E<strong>in</strong>er von ihnen hat e<strong>in</strong> Stück dünnes<br />

Blech gefunden, das zweifellos von unserem gesuchten Flugzeug stammt. Die Unglückstelle<br />

muB <strong>in</strong> allernachster Nahe se<strong>in</strong>. Aber <strong>in</strong> welcher Richtung sollen wir<br />

weitergehen? Wir beschlieBen, <strong>die</strong> ganze Umgebung systematisch abzusuchen. Der<br />

Erfolg laBt nicht lange auf sich warten. Nach und nach f<strong>in</strong>den wir weitere Flugzeugteile,<br />

<strong>die</strong> uns den Weg weisen, und kurze Zeit spater entdecken wir das Wrack<br />

selbst. Es steekt mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er abschüssigen, felsdurchsetzten Flanke. Beim Absturz<br />

hat sich <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e überschlagen, denn sie liegt nun auf dem Rücken, festgekeilt<br />

zwischen geknickten Baumriesen. Das Gelande ist an <strong>die</strong>ser Stelle so steil,<br />

97


Shangri-La<br />

dafl wir das letzte Stück h<strong>in</strong>aufklettern mussen. Schon bei der ersten Berührung<br />

mit den Baumwipfeln mussen <strong>die</strong> beiden Flügel abgebrochen se<strong>in</strong>, denn sie liegen<br />

weit vom Rumpf entfernt, wahrend der Flugzeugkörper mit voller Wucht <strong>die</strong> Vegetation<br />

durchschlug und sich <strong>in</strong> den Berghang bohrte. Das Vorderteil ist völlig<br />

zertrümmert, nur <strong>die</strong> h<strong>in</strong>tere Halfte des Rumpfs, <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>en Heckflügel und e<strong>in</strong>zelne<br />

Klappen haben <strong>die</strong> KoUision e<strong>in</strong>igermaBen unbeschadet überstanden. Insgesamt<br />

ist <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e erheblich starker demoliert, als wir annahmen.<br />

Unserer Me<strong>in</strong>ung nach ist es nicht lohnenswert, das Wrack auszuschlachten. Wir<br />

fotografieren es von allen Seiten, um den Technikern der MAF Gelegenheit zu geben,<br />

sich anhand der Bilder über den Zustand des Wracks zu <strong>in</strong>formieren. Als wir<br />

mit unserer Tatigkeit fertig s<strong>in</strong>d, stürzen sich <strong>die</strong> Dani auf das Flugzeug. Sie suchen<br />

vor allem nach bunten Elektrodrahten, <strong>die</strong> so begehrt s<strong>in</strong>d, daB sie von der<br />

Masch<strong>in</strong>e nicht eher ablassen, bis jeder von ihnen e<strong>in</strong> Stück erbeutet hat. Die<br />

Drahte werden vorzugsweise zur Befestigung ihrer Penisköcher verwendet; sie ersetzen<br />

<strong>die</strong> unangenehm scheuernden Grasfasern.<br />

Ich ware noch gerne bis zum Bergkamm hochgestiegen, aber <strong>die</strong> Dani zeigen wenig<br />

Lust auf e<strong>in</strong>en zusatzlichen Urwaldtrip und verweigern mir e<strong>in</strong>fach ihre Unterstützung.<br />

Mit e<strong>in</strong>em Buschmesser bewaffnet, versuche ich, mich alle<strong>in</strong> hochzuarbeiten.<br />

Es ist zwecklos! Ich bleibe buchstablich im Dickicht stecken. Die Oberflache<br />

des Mondes wird bestimmt öfter von Menschen betreten als <strong>die</strong>ser Urwald. Die<br />

Natur hat hier ganze Arbeit geleistet. Die Lücke, <strong>die</strong> das herabstürzende Flugzeug<br />

<strong>in</strong> das Pflanzenkleid riB, ist bereits zugewachsen. In e<strong>in</strong> paar Jahren schon wird <strong>die</strong><br />

Vegetation so weit fortgeschritten se<strong>in</strong>, daB das Wrack praktisch unauff<strong>in</strong>dbar ist.<br />

Vielleicht s<strong>in</strong>d wir <strong>die</strong> letzten, denen es gelungen ist, es zu f<strong>in</strong>den.<br />

98


Die Dani<br />

Es gibt ke<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche Stammesgeschichte Neugu<strong>in</strong>eas. Trotz annahernd gleicher<br />

Umweltbed<strong>in</strong>gungen zeichnet sich das Leben der <strong>Papua</strong>s durch enorme Vielfalt<br />

aus. Auf der Insel werden ungefahr 800 Sprachen gesprochen - das s<strong>in</strong>d<br />

45 Prozent aller Sprachen auf der Erde -, <strong>die</strong> sich so sehr vone<strong>in</strong>ander unterscheiden,<br />

dafi jeder Sprachenbegabte resignieren muB. Jeder Stamm, jedes Dorf, ja<br />

haufïg sogar jede Sippengeme<strong>in</strong>schaft hat andere Mythen, Rituale, andere Sozialformen<br />

sowie unterschiedliche Kultobjekte.<br />

Die Bevölkerung setzt sich aus e<strong>in</strong>er Vielzahl von Stammen zusammen, deren Mitglieder<br />

oft nur <strong>die</strong> geme<strong>in</strong>same Sprache verb<strong>in</strong>det. Man f<strong>in</strong>det kaum e<strong>in</strong>e gröBere<br />

politische E<strong>in</strong>heit als den ZusammenschluB e<strong>in</strong>zelner Dörfer oder verwandter<br />

Klangruppen. Die Stamme lassen sich nach rassischen Gesichtspunkten <strong>in</strong> zwei<br />

Hauptgruppen e<strong>in</strong>teilen: <strong>die</strong> melanesischen Bevölkerungsgruppen e<strong>in</strong>erseits, <strong>die</strong> an<br />

den Kusten siedeln, und <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s, <strong>die</strong> sich vorwiegend <strong>in</strong> den Hochlandern ausgebreitet<br />

haben. Letztere s<strong>in</strong>d bestimmt mehrere Hunderttausend, sie bewohnen<br />

<strong>die</strong> malariasicheren Höhenlagen zwischen 1000 und 3000 Metern. Ihre Siedlungsgebiete<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> unzuganglichen Hochtaler des Zentralgebirges, und obwohl der<br />

Dschungel dort undurchdr<strong>in</strong>glich, ja unbewohnbar ersche<strong>in</strong>t, ist der Kampf ums<br />

Überleben, aufgrund ihrer guten Anpassung, nicht harter als anderswo auf der<br />

Welt. Die e<strong>in</strong>zelnen Stamme des Hochlandes siedeln raumlich getrennt <strong>in</strong> abgeschlossenen<br />

Regionen.<br />

Mit 184.000 Seelen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Dani <strong>die</strong> gröBte ethnische Gruppe Neugu<strong>in</strong>eas. Ihr Lebensraum<br />

erstreckt sich über <strong>die</strong> oberen Regionen dreier groBer FluBsysteme. Am<br />

Hablifoeri-Flufi leben zirka 15.000 Dani. Der Rouffaer mit se<strong>in</strong>en Nebenflüssen,<br />

dem Toli, Ilaga und Yamo, ist <strong>die</strong> Heimat weiterer 69.000 Dani. Der dritte groBe<br />

FluB, der aus dem Hochland kommt, aber im Unterschied zu den vorher genannten<br />

nach Süden abflieBt, ist der Baliem. Hoch oben im Kwiyawogwi-Plateau, wo<br />

sich <strong>die</strong> Quellflüsse des Baliem zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Strom vere<strong>in</strong>igen, leben rund<br />

50.000 Dani. Der verbleibende Rest von ebenfalls 50.000 Ure<strong>in</strong>wohnern siedelt im<br />

Grund des GroBen Tales (Grand Valley of the Baliem). Sie bilden e<strong>in</strong>e eigenstandige<br />

kulturelle E<strong>in</strong>heit und unterscheiden sich von der Mehrheit der Dani-Bevölkerung,<br />

den „Westlichen Dani" oder „Lani", wie sich selbst auf Grund ihrer Sprachzugehörigkeit<br />

nennen.<br />

Die Nachbarn der Dani <strong>in</strong> westlicher Richtung s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Monis, im Süden grenzt ihr<br />

Gebiet an das Territorium der Damal, und im Osten leben <strong>die</strong> Yali. Dazwischen<br />

liegt Niemandsland, dichter Urwald. Dort f<strong>in</strong>den wir hohe Passé und tief e<strong>in</strong>geschnittene<br />

FluBtaler. Verb<strong>in</strong>dende Pfade s<strong>in</strong>d vorhanden, aufgrund seltener Benutzung<br />

s<strong>in</strong>d manche jedoch <strong>in</strong> schlechtem Zustand. E<strong>in</strong>e uralte Handelsroute verlauft<br />

vom Baliem-Tal aus <strong>in</strong> Richtung Ost - West, entlang der Hauptkette des Zentralgebirges,<br />

bis zu den Wohnplatzen der Kapaukas an den Wissel-Seen.<br />

Auf e<strong>in</strong>es se<strong>in</strong>er berühmten Gemalde hat Paul Gaugu<strong>in</strong> geschrieben: „Woher kommen<br />

wir? Wie s<strong>in</strong>d wir? Woh<strong>in</strong> gehen wir?"<br />

99


Diese Worte hatten ihm <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen Tahitis e<strong>in</strong>gegeben, aber man kann sie<br />

auch auf <strong>die</strong> Dam anwenden. Woher kommen sie?<br />

Die Frage nach der Herkunft der Dani ist gleichzeitig <strong>die</strong> Frage nach dem Ursprung<br />

der Bewohner Neugu<strong>in</strong>eas oder der Melanesier überhaupt. Auch wenn <strong>die</strong>ser<br />

heute noch nicht restlos geklürt ist, so kann doch als sicher gelten, daB <strong>die</strong> Vorfahren<br />

der Dani zu jenen Völkerschaften gehörten, <strong>die</strong> <strong>in</strong> verschiedenen Wellen<br />

vom asiatischen Festland <strong>in</strong> <strong>die</strong> west-pazifischen Inse<strong>in</strong> strömten. Als Jager und<br />

Sammler waren sie vorerst gezwungen, an den sumpfigen Küstenregionen zu verbleiben,<br />

wo sie zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes ausreichend Sagopalmen<br />

fanden. Erst mit der Ankunft der SüBkartoffel und der Erfahrung, daB <strong>die</strong>se auch<br />

<strong>in</strong> höheren Regionen ertragreich ist, war <strong>die</strong> Voraussetzung gegeben, jene Bergtaler<br />

zu besiedeln, <strong>in</strong> denen sie heute leben. Der VorstoB von den sumpfigen Niederungen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> zentralen Berggebiete brachte auch e<strong>in</strong>en Kulturwandel mit sich. Die Jager<br />

und Sammler wurden zu seBhaften Gartenbauern. Aber nicht alle Wesenszüge<br />

der alten Kultur s<strong>in</strong>d deshalb untergegangen, e<strong>in</strong>ige s<strong>in</strong>d bis heute lebendig geblieben<br />

und weisen zurück <strong>in</strong> ihre <strong>Vergangenheit</strong> als mobile Wildbeuter. Der Akt der<br />

Schwe<strong>in</strong>etötung, wobei man mit e<strong>in</strong>em Pfeil aus bestimmter Entfernung auf das<br />

Tier schieBt, er<strong>in</strong>nert beispielsweise stark an ehemah'ge Jagdgewohnheiten. Auch<br />

<strong>die</strong> Musik der Dani ahnelt viel mehr der nomadisierender Völker als etwa jener<br />

seBhafter Bauern.<br />

E<strong>in</strong>es der gröBten Probleme, dem man beim Versuch e<strong>in</strong>er Darstellung der Dani-<br />

Kultur gegenübersteht, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> lokalen Unterschiede. Genausowenig wie es e<strong>in</strong>e<br />

100


Das Ende der Vielfalt<br />

e<strong>in</strong>heitliche Stammesgeschichte Neugu<strong>in</strong>eas gibt, gibt es e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>heitliche der Dani.<br />

Es ist mir durchaus bewuBt, daB ich bei allen Aussagen, <strong>die</strong> ich hier treffe, Eigenheiten<br />

e<strong>in</strong>zelner Dörfer unberücksichtigt lasse.<br />

Die zweite groBe Schwierigkeit, der man <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zusammenhang begegnet, ergibt<br />

sich aus den Veranderungen, <strong>die</strong> das Leben der Dani allerorts erfassen. Sie<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie auf Kontakte mit westlicher Zivilisation zurückzuführen. Aber<br />

auch hier s<strong>in</strong>d wiederum regionale Unterschiede zu beobachten. Die Dani im Gro-<br />

Ben Tal widersetzen sich im allgeme<strong>in</strong>en Kulturwandlungen <strong>in</strong> starkerem MaBe als<br />

ihre Verwandten, <strong>die</strong> Lani (<strong>die</strong> westlichen Dani). NaturgemaB ist der Kulturverfall<br />

im Umkreis von Missionsstationen und Verwaltungsposten ungleich weiter fortgeschritten<br />

als <strong>in</strong> entlegenen, schwer zuganglichen Dörfern. Überall verschwunden<br />

s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> rituellen Stammeskriege, <strong>die</strong> vor allem bei den Dani im GroBen Tal wichtiger<br />

Bestandteil ihres Lebens waren. Initiationsfeiern und Schwe<strong>in</strong>efeste werden immer<br />

seltener durchgeführt, Fetischverehrung und Vielweiberei wird unter dem<br />

Druck der Missionen aufgelassen, <strong>die</strong> Mannerhauser als Zentren für Geister- und<br />

Ahnenkult haben <strong>in</strong>sbesondere bei den Lani viel von ihrer e<strong>in</strong>stigen Bedeutung verloren,<br />

der Wert der Muscheln ist geschwunden, und Ste<strong>in</strong>axte fand ich nur mehr <strong>in</strong><br />

wenigen Dörfern, unweit der geheimnisvollen Ste<strong>in</strong>quelle Jalime, <strong>in</strong> Gebrauch.<br />

Ich müBte daher, wann immer ich von verschwundenen Traditionen erzahle, <strong>in</strong> der<br />

<strong>Vergangenheit</strong>sform sprechen. Aber ich habe <strong>die</strong> Gegenwart vorgezogen. Ich<br />

brachte es e<strong>in</strong>fach nicht über mich, von me<strong>in</strong>en Danifreunden zu erzahlen, als ob<br />

sie gestorben waren. Dies ersche<strong>in</strong>t mir schon deshalb gerechtfertigt, da sich <strong>die</strong> erwahnten<br />

Veranderungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Generation vollzogen haben und <strong>die</strong><br />

meisten me<strong>in</strong>er Informanten eigentlich zwei Leben <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen vere<strong>in</strong>igen.<br />

H<strong>in</strong>e<strong>in</strong>geboren und aufgewachsen <strong>in</strong> der ste<strong>in</strong>zeitlichen Kultur ihrer Vater, s<strong>in</strong>d sie<br />

heute im Aufbruch begriffen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e „hoffentlich" bessere Welt. Das Ungeheuer<br />

„<strong>die</strong> Zeit" und <strong>die</strong> weltumspannende westliche Zivilisation haben ihre Krallen auch<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> entlegenen Schlupfw<strong>in</strong>kel der Bergregionen geschlagen. Die Nivellierungsarbeit<br />

ist voll im Gange; alles wird vere<strong>in</strong>heitlicht, missioniert und zivilisiert.<br />

E<strong>in</strong>e weitere Facette der Vielfaltigkeit unserer Erde an Kuituren wird damit verschw<strong>in</strong>den.<br />

Natürlich kann man behaupten, daB im Laufe der Geschichte viele<br />

Kuituren untergegangen s<strong>in</strong>d, aber ist deshalb das Schicksal <strong>die</strong>ser Neugu<strong>in</strong>ea-Völker<br />

weniger bedauerlich?<br />

Wahrend me<strong>in</strong>er Neugu<strong>in</strong>ea-Reisen <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es Zeitraums von fünf Jahren habe<br />

ich weite Teile des Dani-Territoriums zu FuB durchstreift. Me<strong>in</strong>e gröBten Probleme<br />

dabei waren nicht etwa <strong>die</strong> physischen Strapazen bei der Durchquerung ausgedehnter<br />

Urwalder oder bei der Überw<strong>in</strong>dung reifiender Flüsse und Wasserfalle.<br />

Auch an <strong>die</strong> Blutegelplage und <strong>die</strong> e<strong>in</strong>tönige SüBkartoffelkost konnte ich mich gewöhnen.<br />

Me<strong>in</strong> gröBter Widersacher war <strong>die</strong> Zeit. Die <strong>in</strong>donesischen Behörden gewahrten<br />

mir ke<strong>in</strong>e langere Aufenthaltsdauer als zwei Monate. Ich muBte sogar<br />

froh se<strong>in</strong>, wenn ich überhaupt bestimmte Regionen aufsuchen durfte. Wie oft ware<br />

ich gerne weitermarschiert oder <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem und jenen Dorf langer geblieben, aber<br />

als <strong>die</strong> Zeit abgelaufen war, muBte ich das Land verlassen. Me<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger Trost<br />

war, daB ich wiederkommen konnte. Doch jedesmal fielen mir <strong>die</strong> Veranderungen<br />

auf, ich war immer von neuem erstaunt, wie rasch sich hier alles wandelt.<br />

m


lm Grofien Tal<br />

Wamena liegt <strong>in</strong>mitten des malerischen Hochtales, das nur der Baliem auf se<strong>in</strong>em<br />

Weg zur Südküste durchfliefit. Es ist <strong>die</strong> Nabelschnur zur Zivilisation, der e<strong>in</strong>zige<br />

Ort im Hochland, der mit e<strong>in</strong>em regularen Flug erreichbar ist. Das soll allerd<strong>in</strong>gs<br />

nicht viel heifien, man darf sich darunter nichts GroBartiges vorstellen. Denn der<br />

Begriff „Ort" ist nur e<strong>in</strong>e freundliche Umschreibung für <strong>die</strong> wild zusammengewürfelte<br />

Wellblechsiedlung. Die e<strong>in</strong>zige „Sehenswürdigkeit" ist der Markt. Hierher<br />

kommen jeden Morgen Frauen aus den umliegenden Dörfern und bieten ihre herkömmlichen<br />

Waren zum Tausch oder Kauf an. E<strong>in</strong> paar Indonesiër betreiben kle<strong>in</strong>e<br />

Laden, wo als Alternative zum Dani-Markt landesfremde Güter angeboten werden.<br />

Das Angebot mag zwar aus der Sicht des verwöhnten Europaers bescheiden<br />

se<strong>in</strong>, aber für <strong>die</strong> Dani s<strong>in</strong>d es bestaunenswerte D<strong>in</strong>ge. Erstmals sehen sie westliche<br />

Konsumgüter, und schon so mancher richtet begehrlich se<strong>in</strong>e Blicke darauf. Wie<br />

lange wird es dauern, bis sie dem Drang nach Befriedigung ihrer Konsumwünsche<br />

genausowenig widerstehen können wie wir?<br />

Wamena ist auch e<strong>in</strong> Ort groBer Frömmigkeit. Gleich drei verschiedene Missionen<br />

kümmern sich um das Seelenheil der E<strong>in</strong>geborenen. H<strong>in</strong>zu kommen noch <strong>in</strong>donesische<br />

Verwaltungsbeamte, deren Aufgabe es ist, staatliche Autoritat und Obrigkeit<br />

zu demonstrieren. Für den nötigen Nachdruck sorgt e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>heit Soldaten, <strong>die</strong><br />

sogar über Hubschrauber verfügt, mit denen sie gelegentlich E<strong>in</strong>satze gegen <strong>die</strong><br />

„Rebellen" der OMP (Organisation für e<strong>in</strong> freies <strong>Papua</strong>) fliegt.<br />

Für mich ist Wamena der Ausgangspunkt zum Marsch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Baliem-Schlucht. Da<br />

ich <strong>die</strong> Strecke bis zum E<strong>in</strong>gang der Schlucht von vergangenen Aufenthalten her<br />

kenne, kann ich es wagen, ohne ortskundigen Führer loszuziehen. Der Weg nach<br />

Kurima ist sicherlich e<strong>in</strong>er der leichtesten, <strong>die</strong> ich im Hochland kenne, und ver<strong>die</strong>nt<br />

somit den Namen „Dani-Highway" zurecht.<br />

Der Urwald (Primarwald) von e<strong>in</strong>st ist durch den Zugriff des Menschen fast vollkommen<br />

verschwunden. Das gesamte Tal, e<strong>in</strong>schlieBlich der Hange zu beiden Seiten,<br />

ist zu e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen Garten umfunktioniert. Überall werden Süfikartoffelarten<br />

und Taro gezogen. Wahrend im Talgrund mittels künstlicher Bewasserung <strong>in</strong>tensiver<br />

Anbau möglich ist, wird an den Berghangen und <strong>in</strong> der Baliem-Schlucht<br />

Brandrodungswanderfeldbau betrieben.<br />

Bald treffe ich auf <strong>die</strong> ersten Dani, vor denen mich <strong>die</strong> Indonesiër e<strong>in</strong>dr<strong>in</strong>glich gewarnt<br />

hatten. Ganz im Gegensatz zu ihrem kraftstrotzenden, wilden Aussehen erweisen<br />

sie sich als auBerst höfliche Zeitgenossen. Die langen Penisköcher stolz vor<br />

sich her tragend, mit ruBgeschwarzten Gesichtern und langen „Muschelkrawatten",<br />

<strong>die</strong> Axte leger über <strong>die</strong> Schultern gelegt, so schreiten sie vor mir her. Ihre wiederholten<br />

Angebote, me<strong>in</strong>en Rucksack zu tragen, lehne ich entschieden ab; aber<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>ladung, <strong>in</strong> ihr Dorf zu gehen, nehme ich gerne an. Von e<strong>in</strong>em Dorf zu sprechen,<br />

heiBt der Dani-Wirklichkeit nur bed<strong>in</strong>gt nahezukommen. Denn ihre Siedlungen<br />

s<strong>in</strong>d eigentlich nur Ansammlungen von Gehöften oder Weiier, von e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen<br />

Lattenzaun umschlossen. Der e<strong>in</strong>zige Zugang ist e<strong>in</strong> schlupflochartiger<br />

102


Das Mannerhaus<br />

E<strong>in</strong>lafi, durch den wir uns e<strong>in</strong>zeln h<strong>in</strong>durchzwangen. Mit ausgesuchter Höflichkeit<br />

führen mich me<strong>in</strong>e Gastgeber gleich zum Mannerhaus, das dem E<strong>in</strong>gang gegenüberliegt.<br />

E<strong>in</strong>e Ehre, <strong>die</strong> nur zu schatzen weiB, wer <strong>in</strong>formiert ist, daJJ <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

Hütte nicht eimal alle E<strong>in</strong>geborenen Platz nehmen dürfen. Weibliche Stammesmitglieder<br />

und noch nicht e<strong>in</strong>geweihte Knaben kennen <strong>die</strong> exklusive „Klubatmosphare"<br />

des Mannerhauses nur vom Hörensagen. Durch den niedrigen E<strong>in</strong>gang kann<br />

man nur <strong>in</strong> gebückter Haltung <strong>in</strong> das Innere der Hütte gelangen. Als ich e<strong>in</strong>trete,<br />

steigt mir sofort beiBender Rauch <strong>in</strong> <strong>die</strong> Nase; der Geruch von ranzigem Schwe<strong>in</strong>efett<br />

erfüllt <strong>die</strong> Luft. Ich kauere mich <strong>in</strong> bandscheibenzermürbender Stellung auf<br />

den Boden, um dem aufsteigenden Qualm zu entkommen.<br />

In der Zwischenzeit s<strong>in</strong>d alle Honoratioren des Dorfes e<strong>in</strong>getroffen. Zitternd vor<br />

Kalte scharen sie sich rund ums warmende Feuer. Lautlos ist <strong>die</strong> Dunkelheit über<br />

<strong>die</strong> kle<strong>in</strong>e Siedlung here<strong>in</strong>gebrochen, <strong>die</strong> Nachtkalte ist empf<strong>in</strong>dlich zu spüren.<br />

Zum Abendessen gibt es <strong>die</strong> üblichen SüBkartoffeln, dazu spende ich zum allgeme<strong>in</strong>en<br />

Wohlgefallen etwas von me<strong>in</strong>em Salzvorrat. Alsbald ist e<strong>in</strong>e angeregte Unterhaltung<br />

im Gange, von der ich allerd<strong>in</strong>gs ausgeschlossen bleibe. Denn hier im<br />

Süden des Tales und <strong>in</strong> der Baliem-Schlucht wird e<strong>in</strong> anderer Dialekt gesprochen<br />

als nördlich von Wamena. Daher s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>e im Norden erworbenen Sprachkenntnisse<br />

nutzlos, ich muB mir vorerst mit Indonesisch behelfen, bis ich mir e<strong>in</strong> neues<br />

Vokabular erarbeitet habe.<br />

Wahrend sich <strong>die</strong> Dani vermutlich über <strong>die</strong> Geschehnisse des Tages unterhalten,<br />

benütze ich <strong>die</strong> Gelegenheit, das Innere des Mannerhauses zu <strong>in</strong>spizieren. In der<br />

Mitte des kreisrunden Raumes bef<strong>in</strong>det sich <strong>die</strong> Feuerstelle. Sie wird von vier Stangen<br />

e<strong>in</strong>gerahmt, <strong>die</strong> am oberen Ende kuppelförmig zusammengebunden s<strong>in</strong>d. Auf<br />

ihnen ruht das Dachgerüst. In halber Höhe zwischen Boden und Dachmittelpunkt<br />

ist e<strong>in</strong>e Zwischendecke e<strong>in</strong>gezogen. Sie markiert das eigentliche „Schlafgemach",<br />

das über e<strong>in</strong>e Leiter und e<strong>in</strong>en schmalen Durchschlupf erreichbar ist. An den Wanden<br />

des Erdgeschosses, dem Aufenthaltsraum, hangen Pfeile, Bogen, Axte und<br />

Reservepenisfutterale <strong>in</strong> allen Langen. Rituelle Gegenstande wie heilige Ste<strong>in</strong>e,<br />

Muschelbander, Schwe<strong>in</strong>ehoden und Schwanze s<strong>in</strong>d, wenn noch vorhanden, an<br />

e<strong>in</strong>em bestimmten Platz untergebracht. Meistens an dem Teil der Wand, wo sich<br />

<strong>die</strong> Sitzplatze der „Big Men", also der e<strong>in</strong>fluBreichen Klanführer, bef<strong>in</strong>den.<br />

Zu fortgeschrittener Stunde legt e<strong>in</strong>er der Dani noch e<strong>in</strong>mal trockene Holzscheite<br />

<strong>in</strong> das Feuer. Nache<strong>in</strong>ander steigen <strong>die</strong> Manner über <strong>die</strong> schmale Leiter hoch und<br />

verschw<strong>in</strong>den durch das enge Schlupfloch <strong>in</strong> der Decke. Als ich ihnen kurze Zeit<br />

spater folge, liegen sie bereits am Rücken ausgestreckt. E<strong>in</strong>e andere Schlafstellung<br />

lassen <strong>die</strong> Penisköcher nicht zu. Vom aufsteigenden Rauch gereizt, schlieBe ich <strong>die</strong><br />

Augen und versuche, den aufkommenden Husten zu unterdrücken. Tatsachlich<br />

zieht der Rauch, wie <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Raucherkammer, unablassig hoch und dr<strong>in</strong>gt durch<br />

das poröse Dach nach auBen.<br />

Es ist jedoch nicht alle<strong>in</strong> der Qualm, der <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Nacht me<strong>in</strong> Schlafvergnügen<br />

trübt; wesentlich unangenehmer s<strong>in</strong>d jene Mitbewohner, <strong>die</strong> sich im Laufe der Zeit<br />

unter den Haarnetzen der Dani e<strong>in</strong>genistet haben. In regelmaBigen Abstanden<br />

wacht e<strong>in</strong>er der E<strong>in</strong>geborenen auf, spr<strong>in</strong>gt hoch, reifit sich das Netz vom Kopf und<br />

beg<strong>in</strong>nt se<strong>in</strong>e geplagte Kopfhaut zu massieren. Die netten Tierchen fühlen sich<br />

103


Heimtückische Tierchen<br />

auch <strong>in</strong> weiBer Haut recht wohl. Bald spüre ich deutliches Kribbeln und Jucken an<br />

empf<strong>in</strong>dlichen Körperstellen und beteilige mich am frohen Spiel der Dani. Als das<br />

Morgengrauen anbricht, b<strong>in</strong> ich der erste, der <strong>in</strong> <strong>die</strong> Kalte h<strong>in</strong>aus flüchtet, um endlich<br />

wieder frische Luft zu atmen. Nach dem landesüblichen Frühstück, das sich<br />

vom Abendessen nur dar<strong>in</strong> unterscheidet, dafl <strong>die</strong> Bataten kalt gegessen werden,<br />

schultere ich rne<strong>in</strong>en Rucksack und ziehe weiter. Anfangs noch <strong>in</strong> Begleitung e<strong>in</strong>er<br />

Schar K<strong>in</strong>der, <strong>die</strong> nicht eher von mir ablassen, bis ich jedem von ihnen e<strong>in</strong> paar<br />

bunte Luftballons geschenkt habe.<br />

Me<strong>in</strong> Weg nach Süden führt <strong>in</strong> der Nahe e<strong>in</strong>er Salzquelle vorbei. Ich folge e<strong>in</strong>igen<br />

Frauen, <strong>die</strong> mit zerhackten Blattern und Stenge<strong>in</strong> gefüllte Netze mit sich schleppen,<br />

zu e<strong>in</strong>em braunen Tümpel. Die Salzmenge, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Dani ihrem Körper zuführen,<br />

ist relativ ger<strong>in</strong>g, denn Salz ist sehr kostbar und muB entweder e<strong>in</strong>getauscht<br />

oder, wie <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Fall, <strong>in</strong> den wenigen Salzquellen gewonnen werden.<br />

Der ProzeB der Salzgew<strong>in</strong>nung ist mühevoll und obliegt zur Ganze den Frauen.<br />

Zerhackte Stengel und zu saugfahigen Fasern zerkle<strong>in</strong>erte Grünpflanzen werden<br />

dafür bereits aus den Dörfern mitgeschleppt. An der Salzquelle angekommen, steigen<br />

<strong>die</strong> Frauen <strong>in</strong> <strong>die</strong> Sole und weichen dar<strong>in</strong> <strong>die</strong> Pflanzenteile so lange e<strong>in</strong>, bis sie<br />

vollgesogen s<strong>in</strong>d. Die schweren, klatschnassen Pflanzen werden dann <strong>in</strong> <strong>die</strong> Tragnetze<br />

gepackt und <strong>in</strong>s Dorf transportiert. Erst dort erfolgt <strong>die</strong> eigentliche Gew<strong>in</strong>nung.<br />

Die Pflanzenteile legt man e<strong>in</strong>fach auf <strong>die</strong> Hüttendacher zum Trocknen aus,<br />

um sie anschlieBend zu verbrennen. Die zurückbleibende Asche ist das fertige „Dani-Salz"!<br />

Nach e<strong>in</strong>iger Zeit verengt sich das Tal zu e<strong>in</strong>er Schlucht. Der Pfad führt nun wieder<br />

unmittelbar am Ufer des Baliem entlang, der sich am südlichen TalabschluB <strong>in</strong><br />

lotrechten Wanden verliert. Am E<strong>in</strong>gang zur Baliem-Schlucht liegt das Dorf Kurima.<br />

Von Kurima aus verlaufen zwei Routen südwarts. Entweder man folgt den Bergkammen<br />

im gewohnten Bergauf - Bergab, oder man wahlt den Pfad, der den<br />

FluBlauf <strong>in</strong> unmittelbarer Nahe begleitet. Ich entscheide mich aus Gründen der<br />

leichteren Orientierung für den Weg durch <strong>die</strong> Schlucht. Ganz nah treten hier <strong>die</strong><br />

Berge zusammen, der Baliem schieBt mit e<strong>in</strong>er solchen Geschw<strong>in</strong>digkeit durch <strong>die</strong><br />

80 km lange Enge, daB nicht e<strong>in</strong>mal Fische vom südlichen Flachland h<strong>in</strong>aufschwimmen<br />

können. Es gibt im gesamte Baliem-Tal ke<strong>in</strong>e Fische. Erst südlich der<br />

Schlucht, wo der Baliem aus dem Gebirge heraustritt und als breiter, trage dah<strong>in</strong>flieBender<br />

Strom dem Meer zustrebt, betreiben <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen wieder Fischfang.<br />

Bald nach dem E<strong>in</strong>gang der Schlucht schlangelt sich der Pfad zu e<strong>in</strong>er kühn geschwungenen<br />

Hangebrücke h<strong>in</strong>unter. E<strong>in</strong> wahres Kunstwerk, gefertigt aus Lianen<br />

und Rotang, ohne Verwendung von Metall, überspannt den FluB.<br />

Obwohl ich ke<strong>in</strong>en Grund habe, hier zu übersetzen, denn me<strong>in</strong> Weg führt am rechten<br />

Ufer entlang weiter, drangt mich me<strong>in</strong>e angeborene Neugier, <strong>die</strong> atemberaubende<br />

Konstruktion zu betreten. Die Brücke hangt so stark durch, daB <strong>die</strong> Erbauer<br />

zu beiden Seiten hohe Holzgerüste errichten muBten, an denen <strong>die</strong> Strangenden befestigt<br />

s<strong>in</strong>d. Erst durch <strong>die</strong>sen Kniff hat <strong>die</strong> Brücke genügend Höhe, so daB sie<br />

auch Hochwasser und Sturzfluten standhalt. Ich klettere an den Holzstangen<br />

105


Im Grofien Tal<br />

hoch, bis ich am E<strong>in</strong>stieg der Brücke stehe. Das erste Stück, bis zur Mitte, führt<br />

steil nach unten. Schw<strong>in</strong>delfreiheit und Trittsicherheit s<strong>in</strong>d hier unbed<strong>in</strong>gt erforderlich.<br />

Mit jedem Schritt gerat das ganze Gerust <strong>in</strong>s Schw<strong>in</strong>gen, und bei e<strong>in</strong>seitiger Belastung<br />

neigt es sich bedenklich zur Seite. Wahrend ich h<strong>in</strong> und her turne, dabei Banlanceübungen<br />

vollführe, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>ige Dani angekommen und beobachten mich belustigt.<br />

Sie mussen warten, bis ich wieder festen Boden unter den Füflen habe, denn<br />

es darf stets nur e<strong>in</strong>e Person <strong>die</strong> Brücke überqueren.<br />

Es ist klar, daB e<strong>in</strong>e solche Brücke nur dann gebaut wird, wenn Menschen zu beiden<br />

Seiten daran Interesse haben. Sie mussen so lange Pfeile, an denen Lianen befestigt<br />

s<strong>in</strong>d, h<strong>in</strong> und her schieBen, bis es gel<strong>in</strong>gt, e<strong>in</strong>en starken Strang daraus zu<br />

flechten und an beiden Ufern zu verankern. Ist e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong> Rotangseil gespannt,<br />

wird es mit zusatzlichen Lianen zu e<strong>in</strong>em dichten Flechtwerk verstrickt, mit e<strong>in</strong>em<br />

Gelander versehen und, wenn es sich um e<strong>in</strong>e „Luxusausführung" handelt, sogar<br />

mit dunnen Baumstammen ausgelegt.<br />

Die Benützerfrequenz ist an <strong>die</strong>ser Brücke ungewöhnlich hoch, davon konnte ich<br />

mich <strong>in</strong> der kurzen Zeit, <strong>in</strong> der ich mich dort aufhielt, überzeugen. Ke<strong>in</strong> Wunder<br />

auch, denn sie ist weit und breit <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zige Möglichkeit, den Baliem zu überqueren,<br />

und bildet nicht zuletzt e<strong>in</strong> wichtiges Glied <strong>in</strong> der Verb<strong>in</strong>dung zwischen dem<br />

Territorium der Dani und dem Land der Yali.<br />

Ich bleibe weiterh<strong>in</strong> am rechten FluBufer. Der Pfad wird zunehmend schwieriger<br />

und ahnelt bald jenen, <strong>die</strong> ich wahrend vieler Wanderungenen lieben und zugleich<br />

fürchten gelernt habe. Als ich mich e<strong>in</strong>ige Male verlaufen habe und <strong>die</strong> verme<strong>in</strong>tlichen<br />

Wegspuren sich jedesmal als Schwe<strong>in</strong>epfade entpuppen, <strong>die</strong> regelmaBig im<br />

Urwald enden, schlieBe ich mich <strong>in</strong> der Nahe von Aligat e<strong>in</strong>er Gruppe Dani an.<br />

Nachdem ich mich durch Salz- und Tabakgeschenke bestens bei ihnen e<strong>in</strong>geführt<br />

und sie überzeugt habe, daB ich mit den verhaBten Indonesiern nichts zu tun habe,<br />

nehmen sie mich freundlich <strong>in</strong> ihrer Mitte auf. Zu me<strong>in</strong>er Freude stellt sich heraus,<br />

daB wir nicht nur den gleichen Weg vor uns haben, sondern daB sie aus Passema<br />

stammen, genau jenem Dorf, das ich besuchen will. Der Kontakt mit ihnen, so<br />

hoffe ich, wird mir <strong>die</strong> Aufnahme im Dorf wesentlich erleichtern.<br />

E<strong>in</strong> gutes Stück nach Aligat, das etwas abseits des Flusses liegt, schlagen wir unser<br />

Nachtquartier <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er leerstehenden Hütte auf. Am nachsten Morgen begleitet uns<br />

wieder das gewohnte Rauschen des Baliem, das aus der Tiefe der Schlucht zu uns<br />

heraufdr<strong>in</strong>gt.<br />

Das Vorwartskommen ist hier ungeme<strong>in</strong> schwierig, um nicht zu sagen gefahrlich,<br />

denn wir queren zumeist steile Bergflanken. E<strong>in</strong> Ausrutscher oder e<strong>in</strong> falscher<br />

Schritt würde unweigerlich e<strong>in</strong>en Sturz <strong>in</strong> <strong>die</strong> Schlucht nach sich ziehen. Es ist rührend,<br />

wie sich <strong>die</strong> Dani um mich kümmern. An besonders abschüssigen Stellen zeigen<br />

sie mir genau, wo ich me<strong>in</strong>en Fufl h<strong>in</strong>zusetzen habe. Stets ist e<strong>in</strong>e hilfreiche<br />

Hand da, und me<strong>in</strong> Rucksack ist schon langst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ihrer Tragnetze verschwunden.<br />

Passema kündigt sich schon lange vorher an. Zunachst wird der Pfad immer deutlicher,<br />

dann tauchen <strong>die</strong> ersten Rodungen auf. Immer haufiger mussen wir Holzzaune<br />

überklettern, <strong>die</strong> <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Gartenparzellen abteilen und sie vor der Ver-<br />

106


Im Grofien Tal<br />

wüstung durch Schwe<strong>in</strong>e schützen. Dazwischen liegen Brachfelder, deren karger<br />

Sekundarwuchs dar<strong>in</strong> er<strong>in</strong>nert, daB hier e<strong>in</strong>st artenreicher Urwald bestand. Nun<br />

sehen wir <strong>die</strong> ersten Frauen <strong>in</strong> gebückter Haltung mit den unentbehrlichen Grabstöcken<br />

emsig auf den Feldern arbeiten. E<strong>in</strong>ige bef<strong>in</strong>den sich bereits auf dem<br />

Heimweg und ziehen sche<strong>in</strong>bar leichten Schrittes, mit prallgefüllten Netzen an uns<br />

vorbei. Da <strong>die</strong> Dani ke<strong>in</strong>e Flurbere<strong>in</strong>igung kennen, verlauft der Pfad <strong>in</strong> undurchschaubarem<br />

Zickzack zwischen den Garten h<strong>in</strong>durch. AuBerhalb der E<strong>in</strong>grenzungen<br />

streunen <strong>die</strong> Schwe<strong>in</strong>e - sie s<strong>in</strong>d dunkler Hautfarbe - sche<strong>in</strong>bar unbeaufsichtigt<br />

umher. Beim Anblick e<strong>in</strong>es besonders wohlgenahrten Tieres kann ich nicht<br />

verh<strong>in</strong>dern, es mir als fetten Schwe<strong>in</strong>ebraten vorzustellen; daran kann auch das<br />

freundliche Grunzen wenig andern. Aber ich weiB nur zu gut, daB jedes Schwe<strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>en Besitzer hat und der Gedanke an Schwe<strong>in</strong>efleisch eben nur e<strong>in</strong> Gedanke<br />

bleiben darf. Denn das Schwe<strong>in</strong> ist wichtigstes „Kulturgut" der Dani, und Schwe<strong>in</strong>e<strong>die</strong>bstahl<br />

gehort zu den schlimmsten Vergehen, <strong>die</strong> man <strong>in</strong> ihrer Gesellschaft<br />

kermt. E<strong>in</strong> Flirt mit e<strong>in</strong>em verheirateten Dani-Madchen würde ihr „Besitzer" eher<br />

tolerieren als e<strong>in</strong>en Schwe<strong>in</strong>e<strong>die</strong>bstahl.<br />

In manchen Dörfern gibt es mehr Schwe<strong>in</strong>e als menschliche Bewohner, und gewöhnlich<br />

teilen sie sogar ihre Schlafplatze mit den vierbe<strong>in</strong>igen Kameraden. Nebenbei<br />

gesagt: für e<strong>in</strong>en Dani hat e<strong>in</strong> Schwe<strong>in</strong> zwei Be<strong>in</strong>e und zwei Arme! E<strong>in</strong>em<br />

AuBenstehenden mag der Gestank und der Dreck, der durch <strong>die</strong> Schwe<strong>in</strong>e hervorgerufen<br />

wird, als scheuBliche Schwe<strong>in</strong>erei ersche<strong>in</strong>en, aber für <strong>die</strong> Dani ist es sichtbares<br />

Zeichen für Glück und Wohlstand. Schon <strong>in</strong> den Mythen kommt <strong>die</strong> besondere<br />

Beziehung der Dani zu ihren Schwe<strong>in</strong>en zum Ausdruck.<br />

„Als <strong>die</strong> ersten Menschen aus der Erde hervorkrochen, an e<strong>in</strong>em Ort, der Jalugari<br />

(Wurijala-Gebiet) genannt wird, trafen sie dort e<strong>in</strong>e groBe Sau, <strong>die</strong> zuerst e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d<br />

und dann e<strong>in</strong> Ferkel gebar. Die Sau sagte ,nggum' und gebar e<strong>in</strong>en Menschen, und<br />

sagte dann ,nggak' bei der Geburt e<strong>in</strong>es Schwe<strong>in</strong>es. E<strong>in</strong> Mensch aber tötete das<br />

Neugeborene der Sau. Er kochte das K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Erdgrube und daneben das Ferkel<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>er anderen. Danach probierte er das Fleisch und fand heraus, daB das<br />

Fleisch des K<strong>in</strong>des zu bitter war, aber das Schwe<strong>in</strong>efleisch gut schmeckte. Deshalb<br />

wurden <strong>die</strong> Dani zu Schwe<strong>in</strong>eessern, im Gegensatz zu ihren Nachbarn, den Yali,<br />

<strong>die</strong> Menschenfleisch auf <strong>die</strong>selbe Weise kochen und verzehren, wie sie es mit<br />

Schwe<strong>in</strong>efleisch tun."<br />

Die Nachricht von der Ankunft e<strong>in</strong>es „Tuan" ist uns langst vorausgeeilt, <strong>die</strong> letzten<br />

Meter zum Dorf legen wir <strong>in</strong> Begleitung e<strong>in</strong>er standig wachsenden Schar E<strong>in</strong>geborener<br />

zurück. Ich folge den Dani geradewegs zum Mannerhaus, wo sich bereits der<br />

„Geme<strong>in</strong>derat" zur BegrüBungszeremonie versammelt hat. Bei der Gelegenheit<br />

wird mir gleich e<strong>in</strong> Platz im Mannerhaus zugewiesen. Ich würde mich am liebsten<br />

sofort dorth<strong>in</strong> zurückziehen, aber ich weiB, was ich me<strong>in</strong>en Gastgebern schuldig<br />

b<strong>in</strong>. Mangels anderer Gelegenheiten, sie haben ja noch ke<strong>in</strong> Fernsehen, werde ich<br />

vorerst e<strong>in</strong>mal ausgiebig betrachtet. Geduldig lasse ich alles über mich ergehen.<br />

SchlieBlich b<strong>in</strong> ja ich es, der zu ihnen gekommen ist, ohne daB sie mich gerufen<br />

hatten, folglich habe ich mich ihren Gewohnheiten und Wertvorstellungen anzupassen,<br />

auch wenn es nicht immer leicht fallt.<br />

108


Penis mit Flagge<br />

Das Leben der Dani kermt ke<strong>in</strong>e Privatsphare, es ist so öffentlich, daB es praktisch<br />

unmöglich sche<strong>in</strong>t, etwas vor anderen geheim oder versteekt zu halten. Intimitat <strong>in</strong><br />

unserem S<strong>in</strong>ne gibt es nicht. Endlich weiB ich, wie es ist, e<strong>in</strong> berühmter Star zu<br />

se<strong>in</strong>.<br />

Wahrend der ersten Woche me<strong>in</strong>es Aufenthaltes herrscht praktisch Ausnahmezustand.<br />

Nachdem <strong>die</strong> Neugier an me<strong>in</strong>er Person geschwunden ist, verlagert sich ihr<br />

Interesse mehr und mehr auf me<strong>in</strong>e Ausrüstung. Besonders fasz<strong>in</strong>iert s<strong>in</strong>d sie von<br />

me<strong>in</strong>er Filmkamera. E<strong>in</strong> Bliek durch das Teleobjektiv, womit man weit Entferntes<br />

naher holen kann, und schon halten sie mich für e<strong>in</strong>en groBen Zauberer. Der gröBte<br />

Hit ist das Tonbandgerat. Abend für Abend sitze ich mit ihnen rund ums Feuer<br />

und nehme ihre Gesange auf. Jede Aufnahme muB ich ihnen vorspielen. Wen<br />

wundert's, daB nach wenigen Tagen <strong>die</strong> Batterien leer s<strong>in</strong>d. Unglaubig und enttauscht<br />

betrachten sie das Gerat, das fortan stumm bleibt.<br />

E<strong>in</strong>en betrachtlichen Teil des Tages verbr<strong>in</strong>ge ich mit Kranken oder solchen, <strong>die</strong><br />

vorgeben, krank zu se<strong>in</strong>. Wie bei vielen anderen Stammesvölkern herrscht auch<br />

hier der Glaube vor, jeder WeiBe sei e<strong>in</strong> Mediz<strong>in</strong>mann. Immer wieder kommen<br />

E<strong>in</strong>geborene zu mir, deren Körper mit schlimmen Geschwüren und Infektionen bedeckt<br />

s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong>ige haben e<strong>in</strong>deutig Frambösie, e<strong>in</strong>e dort weit verbreitete tropische<br />

Hautkrankheit, <strong>die</strong> mit e<strong>in</strong>em himbeerahnlichen Geschwür beg<strong>in</strong>nt, das im fortgeschrittenen<br />

Stadium ganze Hautpartien befallt. Da sie kaum Abwehrstoffe besitzen,<br />

führen bereits harmlose Verletzungen zu folgenschweren Infektionen. Bei<br />

Frauen s<strong>in</strong>d es haufig <strong>die</strong> scheuernden Röcke aus Faserschnüren, <strong>die</strong> standig<br />

eiternde Wunden im Bereich der Hüften hervorrufen.<br />

Trotzdem ware es uns<strong>in</strong>nig, den Dani europaische Kleidung aufzuzw<strong>in</strong>gen. Entsprechende<br />

Versuche wurden hier und da unternommen, nur endeten sie zumeist <strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>em Desaster. Vor e<strong>in</strong>iger Zeit erliefi <strong>die</strong> <strong>in</strong>donesische Verwaltung <strong>die</strong> Verordnung,<br />

daB Dörfer mit <strong>in</strong>donesischer Adm<strong>in</strong>istration nur mit entsprechender Kleidung<br />

betreten werden dürfen. Die Dani losten das Problem der ungeliebten „Hosenaktion"<br />

auf verbluffende Weise. E<strong>in</strong> paar Garnituren Hosen und Hemden wurden<br />

e<strong>in</strong>fach im Mannerhaus deponiert, und wer gerade zu e<strong>in</strong>em Verwaltungsposten<br />

muBte, griff sich Hemd und Hose. Man kann sich vorstellen, <strong>in</strong> welchem Zustand<br />

sich <strong>die</strong> Kleidungsstücke nach kurzer Zeit befanden.<br />

In <strong>die</strong>sem Zusammenhang mache ich noch e<strong>in</strong>e Entdeckung. Mir fallt auf, daB <strong>die</strong><br />

meisten Dani-Manner zwischen Penisköcheransatz und Haut, um das Scheuern zu<br />

verh<strong>in</strong>dern, e<strong>in</strong> Stück roten oder weifien Stoff legen. Mit denselben Stoffetzen<br />

pflegen sie auch <strong>die</strong> Futterale oben zuzustopfen. Man wird es kaum glauben, aber<br />

es s<strong>in</strong>d Reste e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>donesischen Flagge. Im Jahre 1962, als <strong>die</strong> Indonesiër West-<br />

Neugu<strong>in</strong>ea von den Hollandern übernahmen, wurden <strong>die</strong>se <strong>in</strong> ungeheuren Mengen<br />

über <strong>die</strong> Dörfer des Hochlandes abgeworfen. So erfüllen sie für <strong>die</strong> Dani e<strong>in</strong>en<br />

höchst praktischen Zweck, wenngleich nicht jenen, den <strong>die</strong> Indonesiër ihnen zudachten.<br />

Nach der ersten Woche nimmt das Interesse an mir rapide ab, der Alltag kehrt wieder<br />

im Dorf e<strong>in</strong>. Ich b<strong>in</strong> nun Gast im Mannerhaus wie jeder andere, der hier zu Besuch<br />

ist, mit dem Unterschied, daB ich <strong>in</strong> ke<strong>in</strong>erlei verwandtschaftlicher oder politischer<br />

Beziehung zu ihnen stehe. Me<strong>in</strong> Lebensrhythmus paBt sich vollkommen<br />

109


Im Grofien Tal<br />

dem ihren an. Ich stehe mit den Mannern <strong>in</strong> aller Frühe auf, begleite sie zu ihren<br />

„Arbeitsplatzen", wenn es gilt, e<strong>in</strong> Stück Urwald zu roden, Zaune auszubessern<br />

oder e<strong>in</strong>e neue Hütte zu bauen. Ich b<strong>in</strong> dabei, wenn sie ausziehen, um Vogel und<br />

Baumkanguruhs zu jagen, <strong>in</strong> benachbarten Weilern Verwandte zu besuchen und<br />

wenn sie abends ums Feuer hoeken und der aktuellste Klatsch <strong>die</strong> Runde macht.<br />

Auf Grund der starken Trennung zwischen Marnier- und Frauenwelt s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>e<br />

Kontaktpersonen vorwiegend mannlichen Geschlechts. Obwohl nach westlichen<br />

Vorstellungen gröBte Ungleichheit zwischen den Geschlechtern herrscht, <strong>in</strong>sbesondere<br />

nach der K<strong>in</strong>dheit, würde ich me<strong>in</strong>en, daB <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Dani-Frauen nicht so empf<strong>in</strong>den.<br />

Sie verrichten zwar <strong>die</strong> Hauptarbeit zur Sicherung des Lebensunterhaltes;<br />

schon frühmorgens sieht man sie auf <strong>die</strong> Felder h<strong>in</strong>ausziehen, wo sie praktisch den<br />

ganzen Tag verbr<strong>in</strong>gen. Dennoch gew<strong>in</strong>ne ich nicht den E<strong>in</strong>druck, sie seien unglücklich<br />

darüber. In den Pausen, <strong>die</strong> sie wahrend der Arbeit haufig e<strong>in</strong>legen, sieht<br />

man sie zusammen scherzen und lachen oder mit den Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dern spielen. Das bedeutet<br />

aber nicht, daB <strong>die</strong> Marnier ke<strong>in</strong>erlei nützliche oder sich wiederholende Arbeit<br />

leisten. Genau wie den Frauen ist auch ihnen MüBiggang fremd. Ihre Arbeiten<br />

erfordern physische Starke und Ausdauer. Sie s<strong>in</strong>d Holzfaller, Baumeister und<br />

nicht zuletzt <strong>die</strong> Beschützer der Familie. Ihre Hande besitzen nicht nur Kraft, sondern<br />

auch Geschicklichkeit. Kraftstrotzende Dani-Krieger sitzen stundenlang, um<br />

ihre Pfeile mit dekorativen Mustern aus geflochteten Schnüren zu verschönern<br />

oder aus Orchideenranken Frauenröcke herzustellen. Aber neben der schweren Arbeit<br />

erleben <strong>die</strong> Manner, im Gegensatz zu den Frauen, alle Dramatik des Lebens.<br />

Sie haben den rituellen Krieg förmlich zum Gesellschaftsspiel erhoben, das zum<strong>in</strong>dest<br />

genausosehr zur Sicherung ihrer mannlichen Privilegiën <strong>die</strong>nt wie dem persönlichen<br />

Prestige und zur Beschwichtigung der Geister. Die rituellen Stammeskriege<br />

s<strong>in</strong>d heute praktisch verschwunden. Ab und zu drohen bewaffnete Ause<strong>in</strong>andersetzungen,<br />

wenn Delikte wie Frauenraub oder Schwe<strong>in</strong>e<strong>die</strong>bstahl vorkommen,<br />

aber zumeist gel<strong>in</strong>gt es durch „Wiedergutmachung" <strong>in</strong> Form von Schwe<strong>in</strong>ezahlungen,<br />

e<strong>in</strong>e bewaffnete Ause<strong>in</strong>andersetzung zu verh<strong>in</strong>dern. Schon eher richten sie ihre<br />

Pfeile auf den geme<strong>in</strong>samen Fe<strong>in</strong>d: den <strong>in</strong>donesischen Soldaten.<br />

Mit dem Verbot der rituellen Kriege ist auch e<strong>in</strong>es der hervorstechendsten Merkmale<br />

der Dani-Kultur verschwunden, gewissermafien e<strong>in</strong> Eckpfeiler e<strong>in</strong>gestürzt,<br />

denn genauso wie der Ackerbau und <strong>die</strong> Schwe<strong>in</strong>ezucht bestimmte er das Leben<br />

der gesamten Gruppe. Geblieben ist <strong>die</strong> Struktur e<strong>in</strong>er Bauernkriegergesellschaft,<br />

der man den Haupts<strong>in</strong>n genommen hat, so als würde man e<strong>in</strong>em Königtum den<br />

König nehmen.<br />

E<strong>in</strong> kompliziertes System von Verwandschaftsbeziehungen und politischen Allianzen<br />

mit der Verpflichtung gegenseitiger Hilfe verb<strong>in</strong>det <strong>die</strong> Dani-Gesellschaften<br />

über <strong>die</strong> engen Siedlungsgrenzen h<strong>in</strong>weg. Die Bedeutung <strong>die</strong>ser B<strong>in</strong>dungen kann<br />

im sozialen, ökonomischen, auch im kultischen Bereich liegen. Für den Fremden<br />

ist es autöerordentlich schwierig, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zelnen Personen h<strong>in</strong>sichtlich ihrer Klan-,<br />

Sippen- und Allianzzugehörigkeit e<strong>in</strong>zuordnen. Es bedarf e<strong>in</strong>es groBen Zeitaufwandes<br />

und groBer Geduld, will man es gewissenhaft tun. Aber noch erheblich<br />

schwieriger wird <strong>die</strong> Sache bei den Tauschbeziehungen. E<strong>in</strong> standiger FluB an Geschenken<br />

zwischen den Verwandten bzw. <strong>in</strong> zu Konföderationen zusammenge-<br />

110


Diefünfzig Klans<br />

schlossenen Gruppen halt <strong>die</strong> Beziehungen lebendig, schaf ft Abhangigkeiten und<br />

Verpflichtungen. Das wichtigste Gechenk ist das Schwe<strong>in</strong>. Gelegenheiten zurn<br />

Schenken gibt es viele. Auffallend dabei ist, dafi <strong>die</strong>s ausschlieBlich <strong>in</strong> aller Öffentlichkeit<br />

geschieht, vorzugsweise bei Hochzeiten, Totenfeiern oder anlaBlich e<strong>in</strong>es<br />

groBen Schwe<strong>in</strong>efestes. Jemandem etwas heimlich zu geben oder diskret verpackt,<br />

wie es <strong>in</strong> unserer Gesellschaft üblich ist, ware für e<strong>in</strong>en Dani undenkbar. lm Gegenteil,<br />

jeder soll sehen, wer wem etwas schenkt.<br />

Jede Schenkung lauft nach e<strong>in</strong>em starren Zeremoniell ab. Zumeist überschüttet<br />

der Schenkende den anderen mit Lobeshymnen, ohne aber dabei zu vergessen, se<strong>in</strong>e<br />

GroBzügigkeit <strong>in</strong>s rechte Licht zu rücken. Angesichts e<strong>in</strong>er solchen Laudatio<br />

fallt es dem Angesprochenen schwer, das Geschenk abzulehnen. Aber er weiB nur<br />

zu gut, daB er damit <strong>in</strong> aller Öffentlichkeit e<strong>in</strong>e Verpflichtung e<strong>in</strong>geht, gewisserma-<br />

Ben e<strong>in</strong>en Vertrag unterzeichnet. Denn e<strong>in</strong> Geschenk ist bei den Dani nichts Uneigennütziges;<br />

es zieht unweigerlich e<strong>in</strong> Gegengeschenk nach sich, das den Wert der<br />

erhaltenen Gabe nicht nur egalisieren, sondern übersteigen muB.<br />

Auch <strong>in</strong> der Dani-Gesellschaft ist <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>ste soziale E<strong>in</strong>heit <strong>die</strong> Familie. lm Unterschied<br />

zu unserer Kultur lebt <strong>die</strong> Dani-Familie nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em geme<strong>in</strong>samen<br />

Haushalt. Sogar bei monogamen Ehen bewohnt <strong>die</strong> Familie m<strong>in</strong>destens zwei Hutten.<br />

Wahrend <strong>die</strong> Frau mit ihren Töchtern und Kle<strong>in</strong>k<strong>in</strong>dern im Familienhaus lebt,<br />

verbr<strong>in</strong>gt der Mann geme<strong>in</strong>sam mit den alteren Söhnen <strong>die</strong> meiste Zeit im Mannerhaus.<br />

Heiratet e<strong>in</strong> Mann mehrere Frauen, so muB er für jede e<strong>in</strong>zelne e<strong>in</strong>e runde<br />

Familienhütte bauen. Legt er Wert auf e<strong>in</strong> harmonisches Familienleben, so wird er<br />

trachten, se<strong>in</strong>e Frauen auf verschiedene Weiier zu verteilen. Von den Frauen geme<strong>in</strong>sam<br />

benützt wird das rechteckige Küchenhaus, wor<strong>in</strong> jede Frau ihre eigene<br />

Feuerstelle hat. Hier bereitet sie das Essen für alle Familienmitglieder und darüber<br />

h<strong>in</strong>aus für Waisen, Witwen, Junggesellen oder Gaste, <strong>die</strong> sich gerade im Dorf aufhalten.<br />

Wahrend <strong>in</strong>nerhalb der Kernfamilie ke<strong>in</strong>e Tauschverpflichtungen bestehen, s<strong>in</strong>d<br />

bereits <strong>in</strong> der nachstgröBeren E<strong>in</strong>heit - dem Weiier - kaum durchschaubare<br />

Transaktionen im Gange. Noch viel wichtiger und ausgepragter s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Tauschverflechtungen<br />

unter den Angehörigen des Klans. Jeder Klan ist e<strong>in</strong>e verschworene<br />

„GroBfamilie", deren Mitglieder zwar auf verschiedene Weiier verteilt s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong><br />

aber eng mite<strong>in</strong>ander kooperieren. Die Klanzugehörigkeit wird nur vom Vater vererbt.<br />

EheschlieBungen <strong>in</strong>nerhalb des eigenen Klans s<strong>in</strong>d streng verboten. E<strong>in</strong>geheiratete<br />

Frauen behalten stets <strong>die</strong> Klanzugehörigkeit und demzufolge auch den<br />

„Madchennamen" (= Klanname des Vaters) bei, nur <strong>die</strong> K<strong>in</strong>der übernehmen automatisch<br />

den NameYi des Mannes, der <strong>in</strong> den meisten Fallen auf e<strong>in</strong>en bestimmten<br />

Ahnherrn zurückgeht.<br />

Im GroBen Tal gibt es rund fünfzig Klans. Sie alle gehören zu e<strong>in</strong>er der beiden Heiratsklassen,<br />

entweder zu den wida oder den waiya, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Dani-Bevölkerung praktisch<br />

<strong>in</strong> zwei Stammeshalften unterteilen.<br />

Die Aufteilung der e<strong>in</strong>zelnen Klans auf <strong>die</strong> zwei Heiratsklassen halt sich annahernd<br />

<strong>die</strong> Waage. Jeder e<strong>in</strong>zelne Dani ist also e<strong>in</strong>gebunden <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Familienverband, <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Dorfgeme<strong>in</strong>schaft, darüber h<strong>in</strong>aus noch <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en Klan und zuletzt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gruppe<br />

der wida oder waiya.<br />

111


Im Grojien Tal<br />

Auf meme Frage nach dem Ursprung der beiden Heiratsklassen wird mir immer<br />

wieder folgende Geschichte erzahlt:<br />

Nach dem Glauben der Dani s<strong>in</strong>d ihre Ahnen zusammen mit den Tieren aus e<strong>in</strong>em<br />

Erdloch an das Licht der Welt gekrochen. Die ersten Menschen, <strong>die</strong> h<strong>in</strong>ausgelangten,<br />

waren zwei Manner und zwei Frauen. Jeder der beiden Manner nahm sich e<strong>in</strong>e<br />

von ihnen zur Frau. Aber als <strong>die</strong> Nacht kam, war ke<strong>in</strong>e der beiden Frauen zu sexueller<br />

Betatigung bereit. Am nachsten Tag beschlossen <strong>die</strong> Manner, ihre Frauen<br />

zu tauschen, und siehe da, das Sex-Life funktionierte plötzlich. Daraus schlossen<br />

sie, dafl sie zuerst wohl ihre eigenen Schwestern genommen hatten, und um <strong>die</strong>s <strong>in</strong><br />

Zukunft zu verh<strong>in</strong>dern, teilten sie den Stamm <strong>in</strong> zwei Halften und erlieflen e<strong>in</strong> Gesetz,<br />

das nur Eheschliefiungen mit Mitgliedern der anderen Heiratsklasse erlaubte.<br />

Zwischen Geburt und Tod durchlauft jeder Dani e<strong>in</strong>ige markante Lebensabschnitte.<br />

Der E<strong>in</strong>tritt <strong>in</strong> e<strong>in</strong> neues Stadium wird entsprechend gefeiert. Die wichtigsten<br />

Feierlichkeiten s<strong>in</strong>d E<strong>in</strong>weihungsriten (Initiation), Heiratszeremonien, Schwe<strong>in</strong>efeste<br />

und Totenfeiern. Schenkungen s<strong>in</strong>d unter allen Beteiligten fallig. Den Geistern<br />

br<strong>in</strong>gt man Schwe<strong>in</strong>eopfer dar.<br />

Die unbeschwerte K<strong>in</strong>dheit der Dani ist denkbar kurz. Nur <strong>die</strong> ersten Lebensjahre<br />

verbr<strong>in</strong>gen <strong>die</strong> Madchen und Knaben geme<strong>in</strong>sam und vertreiben sich <strong>die</strong> Zeit durch<br />

allerlei Spiele. Ihre wichtigste Bezugsperson <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Lebensabschnitt ist <strong>die</strong> Mutter.<br />

Aber der Ernst des Lebens oder, sagen wir, <strong>die</strong> Vorbereitung für den Ernst des<br />

Lebens beg<strong>in</strong>nt schon sehr früh. Bei den Madchen noch früher als bei den Jungen.<br />

Lange bevor sich <strong>die</strong> Knaben wie Manner verhalten mussen, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Madchen<br />

schon kle<strong>in</strong>e Frauen. Sie s<strong>in</strong>d eher erwachsen als ihre mannlichen Altersgenossen,<br />

teils von Natur aus, teils weil sie es se<strong>in</strong> mussen. Schon bald begleiten sie <strong>die</strong> Mutter<br />

zur Arbeit und lernen durch Zuhören und Beobachten alle Tatigkeiten, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

Dani-Frau verrichten mui Genauso wie <strong>die</strong> erwachsenen Frauen ziehen auch sie<br />

frühmorgens, <strong>die</strong> Tragnetze schuppenartig über den Rücken gelegt, auf <strong>die</strong> Felder<br />

h<strong>in</strong>aus. Dort sieht man sie SüBkartoffeln pflanzen, Unkraut jaten oder auf <strong>die</strong><br />

kle<strong>in</strong>en Geschwister aufpassen. Die Knaben beg<strong>in</strong>nen sich im Alter von vier bis<br />

fünf Jahren von der Mutter und den weiblichen Geschwistern abzusondern. Sie<br />

schlieBen sich mehr und mehr den alteren Jungen an. Alle tragen bereits den Penisköcher,<br />

und ihr Schlafplatz ist das Mannerhaus. Die „Spiele" lassen schon ihre<br />

spatere Rolle als Krieger erkennen.<br />

Es gibt e<strong>in</strong> Spiel, bei dem sich <strong>die</strong> Akteure <strong>in</strong> zwei Gruppen <strong>in</strong> bestimmter Entfernung<br />

vone<strong>in</strong>ander aufstellen und Graswurfspeere h<strong>in</strong> und her schleudern. Schon<br />

nach kurzer Zeit entwickeln sie erstaunliche Geschicklichkeit, den Geschossen auszuweichen.<br />

Manchmal kommt es aber vor, daB jemand von e<strong>in</strong>em ungesehenen<br />

GrasspieB an empf<strong>in</strong>dlicher Stelle getroffen wird. E<strong>in</strong>e solche Erfahrung, <strong>die</strong> recht<br />

schmerzlich se<strong>in</strong> kann, lafit <strong>die</strong> Grenze zwischen Spiel und Ernstfall verwischen.<br />

E<strong>in</strong> anderes „Kriegsspiel" heifit bezeichnenderweise sigogo was<strong>in</strong>, „Töte e<strong>in</strong>en Reifen"!<br />

Dabei werden von den Knaben, <strong>die</strong> <strong>in</strong> zwei Gruppen mehr als zwanzig Meter<br />

vone<strong>in</strong>ander entfernt stehen, abwechselnd Reifen aus geflochtenem Rohr durch <strong>die</strong><br />

Luft geschleudert. E<strong>in</strong> Reifen ist dann „getötet", wenn e<strong>in</strong> Knabe ihn mit se<strong>in</strong>em<br />

Speer im Flug durchbohrt hat.<br />

Die Jugendzeit steht im Zeichen der strengen Geschlechtertrennung. Die Kontakt-<br />

112


Ehe und Scheidung<br />

möglichkeiten s<strong>in</strong>d ger<strong>in</strong>g, daher entwickeln sich tiefe Freundschaften meist nur<br />

zwischen Gleichgeschlechtlichen. Solche Freundschaften werden offen gezeigt.<br />

Nicht selten sieht man Jungen handehaltend spazierengehen, oder Madchen sich<br />

umarmen, wahrend sie mite<strong>in</strong>ander reden. Gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen<br />

s<strong>in</strong>d jedoch aufierst selten.<br />

Sobald <strong>die</strong> Heranwachsenden das heiratsfahige Alter erreicht haben - Madchen<br />

früher als Jungen - erfolgt <strong>die</strong> Heirat beim nachsten GroBen Schwe<strong>in</strong>efest, das <strong>in</strong><br />

regelmafiigen Intervallen alle vier bis fünf Jahre stattf<strong>in</strong>det. Die Dani betrachten<br />

<strong>die</strong> Ehe als <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zig mögliche Form des Zusammenlebens. Ausnahmen gibt es nur<br />

bei schwerer körperlicher oder geistiger Abnormitat. Auch Witwen und Witwer<br />

heiraten nach e<strong>in</strong>er angemessen Trauerzeit von drei bis sechs Monaten wieder.<br />

Die Partnerwahl ist frei, nur mit der E<strong>in</strong>schrankung, dafi es e<strong>in</strong>e Person der anderen<br />

Heiratsklasse se<strong>in</strong> mufi. Eheschliefiungen <strong>in</strong>nerhalb der eigenen Heiratsklasse<br />

werden als Inzest betrachtet. Wahrhaft drakonische Strafen stehen auf blutschanderische<br />

Beziehungen zwischen Geschwistern, Cous<strong>in</strong>s oder Cous<strong>in</strong>en.<br />

Die Dani behaupten zwar, dafi Madchen wie auch Jungen den Partner frei wahlen<br />

dürfen, aber es ist offensichtlich, dafi <strong>in</strong> der Praxis gesellschaftliche und wirtschaftliche<br />

Aspekte e<strong>in</strong>e grofie Rolle spielen. Die Partner werden namlich vorwiegend<br />

<strong>in</strong> den Dörfern der eigenen politischen Allianz gesucht. Solche Heiraten <strong>die</strong>nen<br />

der Friedenssicherung, b<strong>in</strong>den <strong>die</strong> befreundeten Klans f ester ane<strong>in</strong>ander und<br />

tragen wesentlich dazu bei, Fehden <strong>in</strong>nerhalb der Gruppe zu verh<strong>in</strong>dern.<br />

Daher geschieht es immer wieder, dafi Verwandte bei der Wahl des Ehepartners<br />

E<strong>in</strong>flufi zu gew<strong>in</strong>nen trachten. Die Leidtragenden s<strong>in</strong>d dann <strong>die</strong> Madchen, wenn<br />

sie von ihren Verwandten zu e<strong>in</strong>er Ehe mit e<strong>in</strong>er bestimmten Person gezwungen<br />

werden. In solchen Fallen hofft man, dafi spaterer sexueller Kontakt den Widerstand<br />

des Madchens brechen wird. Die ungewöhnlich haufigen Scheidungen widerlegen<br />

<strong>die</strong>se Hoffnung.<br />

E<strong>in</strong>e Scheidung sche<strong>in</strong>t bei den Dani, bei oberflachlicher Betrachtung, recht e<strong>in</strong>fach<br />

zu se<strong>in</strong>. Sie ist es auch, aber nur, solange sie schon nach kurzer Ehezeit erfolgt,<br />

noch ke<strong>in</strong>e sexuellen Kontakte bestehen und folglich auch ke<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der vorhanden<br />

s<strong>in</strong>d. Je langer <strong>die</strong> Ehe besteht, desto schwieriger und komplizierter ist <strong>die</strong><br />

Scheidung. Wie wir spater noch sehen werden, wird mit der Eheschliefiung e<strong>in</strong>e<br />

nicht mehr endende Kette von Tauschhandlungen ausgelöst, <strong>die</strong> bei e<strong>in</strong>er Scheidung<br />

wieder rückgangig gemacht werden mussen. Es ist also <strong>die</strong> „Gütertrennung",<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>e Scheidung nach vielen Ehejahren so erschwert. Welch erstaunliche Parallele<br />

zu unserer Gesellschaft!<br />

Unterschiede zu unserer Kultur gibt es bei der Partnersuche; auch <strong>die</strong> Liebe hat bei<br />

den Dani e<strong>in</strong>e andere Qualitat. Die Kontaktmöglichkeiten s<strong>in</strong>d ger<strong>in</strong>g, sie beschranken<br />

sich im wesentlichen auf öffentliche Ereignisse, an denen beide Geschlechter<br />

teilnehmen. Soweit ich es beobachten konnte, s<strong>in</strong>d es meistens <strong>die</strong> Madchen,<br />

<strong>die</strong> e<strong>in</strong>en Flirt beg<strong>in</strong>nen oder ihr Interesse an e<strong>in</strong>em bestimmten Mann zum<br />

Ausdruck br<strong>in</strong>gen. Dies geschieht nicht durch persönlichen E<strong>in</strong>satz, sondern mittels<br />

Dritter. Bei e<strong>in</strong>em Madchen werden <strong>die</strong> Brüder zu Vermittlern; ergreift e<strong>in</strong><br />

Junge <strong>die</strong> Initiative, so werden ihn se<strong>in</strong>e Schwestern unterstützen. Erst mit ihrer<br />

Hilfe kommt e<strong>in</strong> Rendezvous zustande, im geheimen versteht sich, e<strong>in</strong> verstecktes<br />

113


Im Grofien Tal<br />

Liebesnest wird ausgewahlt, wo man sich zu erstenmal trifft. E<strong>in</strong> persönlicher<br />

Kontakt kann auch anlafllich e<strong>in</strong>es festlichen Ereignisses, das zumeist <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

fröhlichen Zusammense<strong>in</strong> bis spat <strong>in</strong> <strong>die</strong> Nacht h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> auskl<strong>in</strong>gt, herbeigeführt<br />

werden. Solche Runden f<strong>in</strong>den im AnschluB an Hochzeiten, Totenfeiern und<br />

Schwe<strong>in</strong>efeste statt.<br />

Wahrend me<strong>in</strong>es Aufenthaltes im Dorf Passema wurde ich selbst Zeuge e<strong>in</strong>er derartigen<br />

„Party":<br />

Die Dunkelheit ist schon langst here<strong>in</strong>gebrochen, als mich <strong>die</strong> Dani-Freunde zu<br />

e<strong>in</strong>em der gröBten Familienhauser br<strong>in</strong>gen. Bei me<strong>in</strong>er Ankunft ist das Innere der<br />

Hütte bereits bis auf den letzten Platz gefüllt. Mannliche und weibliche Dorfmitglieder,<br />

<strong>die</strong> dunklen, glanzenden Körper fest ane<strong>in</strong>andergedrückt, sitzen rund um<br />

<strong>die</strong> Feuerstelle. Marnier und Frauen s<strong>in</strong>gen abwechselnd, es kl<strong>in</strong>gt, als würden sie<br />

mite<strong>in</strong>ander reden, wobei <strong>die</strong> e<strong>in</strong>en fragen, <strong>die</strong> anderen antworten. Die mannlichen<br />

Akteure klatschen im Rhythmus der Lieder oder klopfen mit ihren F<strong>in</strong>gernageln<br />

im Takt gegen <strong>die</strong> Penisfutterale. Zwei von ihnen spielen auf der Maultrommel.<br />

Die Madchen befestigen groBe Kaurimusche<strong>in</strong> am Ende e<strong>in</strong>er Rute und führen sie<br />

wie e<strong>in</strong>en Taktstock h<strong>in</strong> und her. E<strong>in</strong> Junge und e<strong>in</strong> Madchen, <strong>die</strong> Gefallen ane<strong>in</strong>ander<br />

gefunden haben, tauschen wahrend des S<strong>in</strong>gens geflochtene Armbander aus,<br />

und Madchen reichen ihren Favoriten Muschelbander.<br />

Wenn das Feuer ziemlich niedergebrannt ist, rücken <strong>die</strong> Parchen enger zusammen<br />

und beg<strong>in</strong>nen Zartlichkeiten auszutauschen. Allmahlich verlaBt e<strong>in</strong> Paar nach dem<br />

anderen den Raum und verschw<strong>in</strong>det im Dunkel der Nacht. Voreheliche Sexualitat<br />

ist <strong>in</strong> der Dani-Gesellschaft erlaubt, nur gibt es kaum Gelegenheiten dazu, denn es<br />

s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>e Partner dafür vorhanden. Die Dani-Madchen heiraten bereits im zarten<br />

Alter von zwölf bis vierzehn Jahren.<br />

Der Akt der Heirat ist <strong>in</strong> der Dani-Gesellschaft nur <strong>in</strong> zweiter L<strong>in</strong>ie <strong>die</strong> Sache von<br />

Individuen, <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie ist es <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung zweier Familien bzw. Klans. E<strong>in</strong>e<br />

Heirat vermag bestehende Streitigkeiten aus der Welt zu schaffen, noch offene<br />

Rechnungen zu begleichen und der „Wirtschaft" neue Impulse zu geben. Nur mit<br />

Hilfe se<strong>in</strong>es Klans kann der Brautigam se<strong>in</strong>e Brautpreiszahlungen entrichten, und<br />

<strong>die</strong> Braut ihrerseits benötigt wieder <strong>die</strong> Unterstützung ihrer Verwandschaft, um <strong>die</strong><br />

Zahlungsverpflichtungen zu erfüllen.<br />

Die erste Zahlung fallt dem Brautigam zu. Die Verhandlungen über <strong>die</strong> Höhe <strong>die</strong>ser<br />

ersten Transaktion, sagen wir des „Brautpreises", werden vorwiegend zwischen<br />

den Eltern des jungen Mannes und den Brüdern des Madchens geführt. Üblicher<br />

Brautpreis s<strong>in</strong>d Schwe<strong>in</strong>e, Muscheln, Waffen und Werkzeuge. Wird e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>igung<br />

erzielt und der Brautpreis entrichtet, was haufig <strong>in</strong> Raten geschieht, so ist <strong>die</strong> Braut<br />

von ihrer Familie e<strong>in</strong>mal freigekauft, der erste Schritt zur Heirat ist getan. E<strong>in</strong>e<br />

Dani-Heirat ist namlich nicht, wie bei uns, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger formeller Akt, sondern<br />

zieht sich oft über Jahre h<strong>in</strong>.<br />

Im GroBen Tal f<strong>in</strong>den Eheschliefiungen ausschlieBlich alle vier bis fünf Jahre<br />

- wahrend e<strong>in</strong>es „GroBen Schwe<strong>in</strong>efestes" - statt. E<strong>in</strong> derartig groBes Intervall<br />

br<strong>in</strong>gt mit sich, daB dabei Ehen zwischen Partnern geschlossen werden, <strong>die</strong> eigentlich<br />

noch zu jung dafür s<strong>in</strong>d. In solchen Fallen wird <strong>die</strong> Ehe erst e<strong>in</strong> bis zwei Jahre<br />

spater vollzogen.<br />

114


Die Welt der Geister<br />

Die zweite Heiratszahlung wird vom Vater des Madchens geleistet. Sie fallt zeitlich<br />

mit der Zeremonie zusammen, an der dem Madchen anstelle des Bastrockes e<strong>in</strong><br />

Kleid aus gewundenen Faserschnüren, wie es jede erwachsene Frau tragt, angelegt<br />

wird. Diese feierliche Handlung kommt der Knaben<strong>in</strong>itiation gleich und wird von<br />

den Dani als unerlaBlich im H<strong>in</strong>blick auf <strong>die</strong> künftige Fruchtbarkeit der Frau angesehen.<br />

Erst nach dem zeremoniellen Bekleiden ist der Übergang vom Madchen zur<br />

Frau besiegelt, und sie ist berechtigt, dem Mann <strong>in</strong> se<strong>in</strong> Dorf zu folgen.<br />

E<strong>in</strong>e weitere Zahlung ist für den Brautigam fallig, wenn es zum sexuellen Kontakt<br />

kommt und <strong>die</strong> Frau daraufh<strong>in</strong> schwanger wird. Diese Zahlung, <strong>die</strong> sich über<br />

e<strong>in</strong>en langeren Zeitraum h<strong>in</strong> erstreckt, sanktioniert den Anspruch des Mannes auf<br />

<strong>die</strong> K<strong>in</strong>der der Ehe.<br />

Die Scheidungsrate ist bei den Dani sehr hoch, besonders wahrend der ersten Monate<br />

der Ehe, wenn noch ke<strong>in</strong>e K<strong>in</strong>der da s<strong>in</strong>d und der Brautpreis noch nicht voll<br />

entrichtet ist. E<strong>in</strong>e Scheidung verlauft ohne groBe Zeremonie, sie ist dann vollzogen,<br />

wenn e<strong>in</strong>e Frau den Mann verlaBt oder von ihm fortgeschickt wird und zu<br />

e<strong>in</strong>em anderen zieht. Nur wenn der Brautigam bereits alle Zahlungen getatigt hat,<br />

gibt es Komplikationen. In <strong>die</strong>sem Fall erwartet er, für se<strong>in</strong>e Investitionen entschadigt<br />

zu werden. Der Brautpreis für e<strong>in</strong>e geschiedene Frau ist deshalb immer niedriger.<br />

Die Dani-Frau hat selten mehr als drei K<strong>in</strong>der. Denn nach der Geburt e<strong>in</strong>es K<strong>in</strong>des<br />

beg<strong>in</strong>nt e<strong>in</strong> Beischlaftabu, das zu bis zu fünf Jahren sexueller Abst<strong>in</strong>enz zw<strong>in</strong>gt.<br />

Diese ungewöhnlich lange Zeitspanne - wenn man unser Verhalten als das normale<br />

betrachtet - wird, soviel ich weiB, strikt e<strong>in</strong>gehalten.<br />

E<strong>in</strong> gewisser Ausgleich dafür ist <strong>die</strong> Polygamie. Anderseits ist Geburtenkontrolle<br />

unbed<strong>in</strong>gt notwendig, weil der Boden nur e<strong>in</strong>e bestimmte Anzahl von Menschen<br />

ernahren kann. Durch <strong>die</strong>ses Regulativ und auf Grund der hohen K<strong>in</strong>dersterblichkeit<br />

bleibt <strong>die</strong> Bevölkerungszahl relativ konstant.<br />

Zur Welt der Dani gehören nicht nur <strong>die</strong> Lebenden, sondern auch <strong>die</strong> Toten und<br />

<strong>die</strong> Geister. Sie s<strong>in</strong>d allgegenwartig, besitzen <strong>die</strong> Fahigkeiten der Lebenden und<br />

darüber h<strong>in</strong>aus noch e<strong>in</strong>ige mehr. Sie können gehen, Bataten essen und kampfen,<br />

s<strong>in</strong>d aber auch rachsüchtiger als <strong>die</strong> Menschen, unsichtbar und unberechenbar.<br />

Auf Grund ihrer Körperlosigkeit s<strong>in</strong>d sie machtig und gefahrlich, aber nicht so allmachtig,<br />

dafi <strong>die</strong> Lebenden ihrer Willkür ausgeliefert waren. Magie und Rituale<br />

s<strong>in</strong>d geeignete Mittel, <strong>die</strong> Geister im Zaum zu halten oder sich ihrer Hilfe zu versichern.<br />

Am besten laflt sich das Verhaltnis der Dani zu ihren Geistern so beschreiben:<br />

Sie tun alles, damit <strong>die</strong>se bleiben, wo sie h<strong>in</strong>gehören, und <strong>die</strong> Lebenden <strong>in</strong> Ruhe<br />

lassen. E<strong>in</strong> derartiger Zustand ware ideal, wird <strong>in</strong> Wirklichkeit aber nie erreicht.<br />

Wie sonst sollen sie das wiederholte Vorkommen von Krankheiten, Unglücksfallen<br />

und gewaltsamem Tod erklaren. Jede Krankheit, so glauben sie, wird durch übernatürliche<br />

E<strong>in</strong>flüsse hervorgerufen. Es gibt <strong>in</strong> ihren Augen ke<strong>in</strong>e re<strong>in</strong> physische Erkrankung,<br />

sondern immer ist <strong>die</strong> Seele - das etai-eken (Samen des S<strong>in</strong>gens), wie<br />

sie es nennen - befallen. Daher muB e<strong>in</strong>e erfolgreiche Behandlung re<strong>in</strong> magischer<br />

Natur se<strong>in</strong>. E<strong>in</strong> Experte im Umgang mit Geistern muB herangezogen werden. Bei<br />

den Dani erfüllt der Schamane <strong>die</strong>se Funktion. Er besitzt das Wissen und das<br />

Recht, mit den Geistern zu kommunizieren, sie beim Namen zu nennen oder ihren<br />

115


Im Grofien Tal<br />

Beistand zu erwirken. Wer se<strong>in</strong>en Beistand benötigt, muB vorerst e<strong>in</strong>mal tief <strong>in</strong> <strong>die</strong><br />

Tasche greifen. Haufig s<strong>in</strong>d Schwe<strong>in</strong>eopfer und aufwendige Rituale für e<strong>in</strong>e Behandlung<br />

notwendig; se<strong>in</strong>e persönliche Entlohnung erfolgt <strong>in</strong> Kaurimuscheln.<br />

Aber nicht immer muB e<strong>in</strong>e Krankheit durch das Wirken der Geister hervorgerufen<br />

se<strong>in</strong>. Auch Sterbliche stehen im Verdacht, Schwarze Magie zu betreiben. Jede Frau<br />

wird dessen für fahig gehalten. In e<strong>in</strong>em solchen Fall ist <strong>die</strong> Behandlung ungleich<br />

schwieriger, um nicht zu sagen: unmöglich. Es sei denn, man ist imstande, den<br />

oder <strong>die</strong> Übeltater ausf<strong>in</strong>dig zu machen.<br />

Zentrum der Geisterverehrung ist das Mannerhaus. Hier werden <strong>die</strong> heiligen Ste<strong>in</strong>e<br />

aufbewahrt. Das s<strong>in</strong>d besonders schön geschliffene Ste<strong>in</strong>e, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Ahnengeister<br />

des betreffenden Clans reprasentieren. Sie s<strong>in</strong>d für <strong>die</strong> rituellen Stammeskriege von<br />

groBer Bedeutung. Vor jeder Kampfhandlung werden <strong>die</strong> Ste<strong>in</strong>e verehrt, e<strong>in</strong> zu<br />

<strong>die</strong>sem Zweck bestimmtes Schwe<strong>in</strong> geschlachtet und <strong>die</strong> Ahnengeister aufgefordert,<br />

den Kriegern vorauszueilen und <strong>die</strong> Fe<strong>in</strong>de zu schwachen.<br />

Als besonders bedrohliche Situation empf<strong>in</strong>den <strong>die</strong> Dani den Tod e<strong>in</strong>es Menschen.<br />

Dementsprechend aufwendig ist das Ritual der Totenfeier; gilt es doch, <strong>die</strong> Totengeister<br />

zu beschwichtigen und sie an <strong>die</strong> ihnen bestimmten Orte auBerhalb des Dorfes<br />

zu verweisen.<br />

Ke<strong>in</strong>e Totenfeier gleicht der anderen, denn das Geschlecht des Toten, se<strong>in</strong> gesellschaftlicher<br />

Rang und vor allem <strong>die</strong> Todesart bestimmen das Ritual. Der Tod e<strong>in</strong>es<br />

Mannes ist im allgeme<strong>in</strong>en von gröBerer Wichtigkeit als das Ableben e<strong>in</strong>er Frau;<br />

der natürliche Tod e<strong>in</strong>es e<strong>in</strong>flufilosen alten Mannes wird weniger Aufregung br<strong>in</strong>gen<br />

als der e<strong>in</strong>es jungen Kriegers. Zu den folgenschwersten Ereignissen im Dorf<br />

zahlt der Tod e<strong>in</strong>es Mannes durch Fe<strong>in</strong>deshand. Wenn <strong>die</strong>s geschieht, genügt es<br />

nicht, den Totengeist alle<strong>in</strong> durch Schwe<strong>in</strong>eopfer und Magie zu besanftigen; es<br />

würde nichts nutzen: Er würde immer wieder zu den Lebenden zurückkehren und<br />

im Laufe der Zeit ihre etai-eken schwachen. Nur der Tod e<strong>in</strong>es Fe<strong>in</strong>des kann das<br />

Gleichgewicht wiederherstellen, den Geist besanftigen, so daB er <strong>die</strong> Verwandten <strong>in</strong><br />

Ruhe laBt. Da <strong>die</strong>ser Glaube bei allen Dani vorherrscht, führt <strong>die</strong>s zu e<strong>in</strong>em nicht<br />

mehr endenden Kreislauf von Blutrachekriegen.<br />

Die Rituale der Totenverbrennung beschlielien auch das letzte Stadium im Leben<br />

e<strong>in</strong>es Dani. Bei e<strong>in</strong>er Wanderung von Wamena nach Pyramid hatte ich selbst Gelegenheit,<br />

e<strong>in</strong>er Totenverbrennung beizuwohnen. Die Totenfeier bei den Dani im<br />

GroBen Tal unterscheidet sich stark von der, <strong>die</strong> ich bei den westlichen Dani erlebte:<br />

Als ich um <strong>die</strong> Mittagszeit <strong>in</strong>s Dorf Kimbim komme, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Vorbereitungen beteits<br />

voll im Gange. Der Tote, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>fluBreicher alter Mann, der <strong>in</strong> der Nacht e<strong>in</strong>es<br />

natürlichen Todes starb, wird gerade <strong>in</strong> Hockstellung, mit an <strong>die</strong> Brust angezogenen<br />

Knien, im Mannerhaus an <strong>die</strong> Wand gelehnt. Die hoekende Haltung wird<br />

durch Verschnüren erreicht und bewirkt, daB der Körper wahrend der darauffolgenden<br />

Nacht <strong>in</strong> sitzender Stellung erstarrt. Am nachsten Morgen wird <strong>in</strong> der Mitte<br />

des Dorfplatzes e<strong>in</strong> Stuhl aus Asten gefertigt, <strong>die</strong> Sitzflache mit Graskissen bedeckt<br />

und <strong>die</strong> Leiche so h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>gesetzt, daB das Gesicht dem E<strong>in</strong>gang zugewandt ist. Die<br />

Frauen umr<strong>in</strong>gen nun <strong>die</strong> Leiche, stimmen ihre Klagelieder an, <strong>die</strong> wahrend der<br />

ganzen Nacht bis zum darauffolgenden Morgen ununterbrochen erschallen. Die<br />

116


Der Tod fordert e<strong>in</strong> F<strong>in</strong>gerglied<br />

Frauen sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> Todesfall wesentlich mehr zu berühren als <strong>die</strong> Marnier. Ihr<br />

Wehklagen - besonders der engen Verwandten - sche<strong>in</strong>t ke<strong>in</strong> Ende zu nehmen.<br />

Der Tote wird nun mit Muschelbandern und Para<strong>die</strong>svogelfedern reich geschmückt,<br />

sogar das Beschmieren des Körpers mit e<strong>in</strong>er Mischung aus Schwe<strong>in</strong>efett<br />

und Rufl darf nicht fehlen. Der Tote gleicht e<strong>in</strong>em Lebenden wie e<strong>in</strong> Ei dem<br />

anderen. DaB e<strong>in</strong>e Totenfeier auch e<strong>in</strong> groBes gesellschaftliches Ereignis ist, erkennt<br />

man spatestens dann, wenn es zur Verteilung von Tauschgeschenken<br />

kommt. Muschelbander wechseln <strong>die</strong> Besitzer, und Schwe<strong>in</strong>e werden gespendet.<br />

Wie immer zahlt sich <strong>in</strong> solchen Fallen Freigebigkeit aus. E<strong>in</strong> Mann, der viel gibt,<br />

weiB, daB er bei künftigen Gelegenheiten viel zu erwarten hat.<br />

Das Schlachten der Schwe<strong>in</strong>e wird nach der üblichen Methode durchgeführt. Wahrend<br />

zwei Manner das Schwe<strong>in</strong> halten, schieBt e<strong>in</strong> dritter e<strong>in</strong>en dafür vorgesehenen<br />

Pfeil <strong>in</strong> <strong>die</strong> Lunge des Tieres. Das Tier stirbt an den Folgen des Blutverlustes. Die<br />

Ohren, Schwanze und Kieferknochen werden sofort abgetrennt und wandern <strong>in</strong>s<br />

Mannerhaus, wo sie als Fetische zur Er<strong>in</strong>nerung an den Verstorbenen aufbewahrt<br />

werden. Der Leichenschmaus f<strong>in</strong>det noch vor der Verbrennung statt. lm AnschluB<br />

daran werden, unter heftigsten Protesten der klagenden Frauen, <strong>die</strong> Muschelbander<br />

von der Leiche entfernt und nach e<strong>in</strong>em undurchschaubaren System unter den<br />

Mannern verteilt.<br />

lm letzten Akt wird der Stuhl ause<strong>in</strong>andergenommen, zu e<strong>in</strong>em Scheiterhaufen geschichtet,<br />

der e<strong>in</strong>e so groBe Plattform hat, daB der Leichnam darauf Platz f<strong>in</strong>det.<br />

Wahrend man das Feuer entzündet, schwillt der Klagegesang der Frauen noch e<strong>in</strong>mal<br />

an. Ist das Feuer kraftig genug, nehmen <strong>die</strong> engsten Verwandten den Toten<br />

und heben ihn auf den qualmenden Scheiterhaufen. Gleichzeitig treten zwei Manner<br />

heran, von denen der e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong> Grasbündel über den Leichnam halt, wahrend<br />

der andere e<strong>in</strong>en Pfeil h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>schieBt. In <strong>die</strong>sem Augenblick wird der Geist des<br />

Mannes befreit, er verlaBt den Körper an der Stelle, wo der Pfeil im Bundel steekt.<br />

Das Grasbündel wird nun mitsamt dem Pfeil aus dem Dorf gebracht, wahrend der<br />

vom Geist verlassene Körper langsam verbrennt.<br />

Am dritten Tag nach der Verbrennung des Toten gibt es noch e<strong>in</strong> anderes, eigenartiges<br />

Ritual. Dabei wird mit e<strong>in</strong>er Ste<strong>in</strong>axt dem jüngsten Madchen aus der Verwandschaft<br />

des Toten e<strong>in</strong> F<strong>in</strong>gerglied abgehackt. Das amputierte F<strong>in</strong>gerglied wird<br />

zusammen mit der Asche des Toten <strong>in</strong> der naheren Umgebung des Dorfes vergraben<br />

und soll wahrschemlich ebenfalls den Totengeist beschwichtigen und an der<br />

Rückkehr <strong>in</strong>s Dorf h<strong>in</strong>dern.<br />

117


Die ErschljeBung<br />

e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

Neugu<strong>in</strong>ea, <strong>die</strong>se riesige Tropen<strong>in</strong>sel beiderseits des Aquators, ist e<strong>in</strong> Genesisland;<br />

es sieht aus, als ob es eben erst erschaffen worden ware. Unwillkürlich denkt man<br />

an ausgedehnte Sümpfe, an menschenfe<strong>in</strong>dliche Urwalder unter dei Glut der Tropensonne.<br />

Man sieht wagemutige Forscher sich mühevoll vorwarts bewegen, umgeben<br />

von Moskitoschwarmen und bedroht von kriegerischen E<strong>in</strong>geborenen.<br />

Zwangslaufig fallen e<strong>in</strong>em alte Geschichten e<strong>in</strong>, über Kopfjagerei, Kannibalismus,<br />

über Ste<strong>in</strong>zeitmenschen, <strong>die</strong> e<strong>in</strong>e uns WeiJten fe<strong>in</strong>dliche Umwelt ihre Heimat nennen.<br />

Nur wenige werden mit Neugu<strong>in</strong>ea Assoziationen wie Gebirge, Schnee und<br />

Eis verb<strong>in</strong>den; dennoch, auch das gibt es <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem vielfaltigen Land. Tief im Inneren<br />

der Insel, im Norden wie auch im Süden von Schwemmlandern umschlossen,<br />

liegt das fünftausend Meter hohe, eisbedeckte Carstenszgebirge, das <strong>die</strong> Ure<strong>in</strong>wohner<br />

ehrfurchtsvoll „Dugundugu", d. h. „Welt des ewigen Schnees", nennen. Es ist<br />

der höchste Teil e<strong>in</strong>es gebirgigen Rückgrates, das <strong>die</strong> gesamte Insel von Osten nach<br />

Westen durchzieht. Die meiste Zeit des Jahres ist das Gebirge von dichten Wolken<br />

umhüllt, und nur an wenigen Tagen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Eisgipfel von der 70 Kilometer entfernten<br />

Südküste aus sichtbar. Es ist daher auch nicht verwunderlich, dafl man <strong>die</strong>se<br />

erst vor rund 360 Jahren entdeckte.<br />

Im 17. Jahrhundert gelangte <strong>die</strong>se Region immer mehr <strong>in</strong> <strong>die</strong> E<strong>in</strong>fluBsphare der<br />

Hollander, deren Ost-In<strong>die</strong>n-Kompanie mit fragwürdigen Praktiken e<strong>in</strong> Handelsmonopol<br />

zur Ausbeutung der Gewürz<strong>in</strong>seln errichtete. E<strong>in</strong>ige hollandische Seefahrer<br />

<strong>die</strong>ser Zeit unternahmen bedeutende Entdeckungsfahrten, <strong>die</strong> es ver<strong>die</strong>nen,<br />

hier erwahnt zu werden.<br />

Im Jahre 1605 segelte Willem Jansz von Banda nach Neugu<strong>in</strong>ea. Er erreichte sogar<br />

<strong>die</strong> Kap-York-Halb<strong>in</strong>sel <strong>in</strong> Australien, ohne aber zu erkennen, welche Entdeckung<br />

dabei gemacht wurde. Auf der Rückfahrt nach Banda verlor Jansz neun Besatzungsmitglieder<br />

durch e<strong>in</strong> unfreundliches Empfangskomitee der Küstenpapua im<br />

Verlauf e<strong>in</strong>er kurzen Exkursion an <strong>die</strong> Kuste.<br />

Jacques Ie Maire und Willem Schouten brachen im Jahre 1616 von Europa auf,<br />

umsegelten das Kap Hom und durchquerten den Pazifik mit ihrer „Eendracht".<br />

Sie entdeckten dabei Neu Irland, wo es ebenfalls zu Zwischenfallen mit E<strong>in</strong>geborenen<br />

kam.<br />

Vorbei an den Admiralitats- und Vulkan<strong>in</strong>seln erreichten sie schliefilich <strong>die</strong> Kuste<br />

Neugu<strong>in</strong>eas, wo sie <strong>die</strong> Mündung des Kaiser<strong>in</strong>-Augusta-Flusses und <strong>die</strong> Schouten-<br />

Inse<strong>in</strong> entdeckten.<br />

Die bedeutendste Reise <strong>die</strong>ser Zeit aber unternahm Jan Carstensz, der mit se<strong>in</strong>en<br />

Schiffen „Pera" und „Arnhem" zu Beg<strong>in</strong>n des Jahres 1623 von Ambo<strong>in</strong>a (heute<br />

Ambon, Molukken) aufbrach. Am 11. Februar erreichte er <strong>die</strong> Südwestküste Neu-<br />

118


Die Reise des Jan Carstensz<br />

gu<strong>in</strong>eas, wo es noch am selben Tag zu e<strong>in</strong>em folgenschweren Zwischenfall mit E<strong>in</strong>geborenen<br />

kam. Jan Carstensz berichtet darüber:<br />

„Noch am selben Tag (11. Februar 1623) geht der Kapitan des Schiffes .Arnhem',<br />

Dick Meliszoon, ohne me<strong>in</strong> Wissen und <strong>in</strong> höchst unbesonnener Weise auf e<strong>in</strong>er<br />

P<strong>in</strong>asse an Land. Fünfzehn Mann, teils Offiziere und zum Teil e<strong>in</strong>fache Soldaten,<br />

mit nur vier Musketen bewaffnet, begleiten ihn, um an der Kuste zu fischen.<br />

Plötzlich stürmt e<strong>in</strong>e Anzahl dunkelhautiger Wilder aus de<strong>in</strong> Wald, <strong>die</strong> zuerst den<br />

Assistenten Jan Willemsz van der Briel ergreifen und <strong>in</strong> Stücke reifien, da er unglücklicherweise<br />

unbewaffnet ist. Danach toten sie mit Pfeilen, Keulen und mit<br />

den Rudern, <strong>die</strong> sie sich von der P<strong>in</strong>asse schnappen, nicht weniger als neun unserer<br />

Marnier, <strong>die</strong> unfahig s<strong>in</strong>d, sich zu verteidigen. Gleichzeitig verwunden sie <strong>die</strong> restlichen<br />

sieben, unter ihnen den Kapitan, der als erster zu flüchten versucht. Diesen<br />

sieben jedoch gel<strong>in</strong>gt es, an Bord der Schiffe zu kommen, trotz der gefahrlichen<br />

Lage - <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er P<strong>in</strong>asse mit nur e<strong>in</strong>em Ruder. Der Kapitan betont immer wieder<br />

se<strong>in</strong>e Umsicht und Besonnenheit und fordert Freispruch von der Schuld, <strong>die</strong> er auf<br />

sich geladen hat."<br />

Er erlag aber se<strong>in</strong>en schweren Verletzungen bereits am nachsten Tag, und somit erlebte<br />

er nicht mehr <strong>die</strong> wichtigste Entdeckung <strong>die</strong>ser Reise.<br />

„Am Morgen des 16. Februar steht <strong>die</strong> Sonne bei Aufgang bei 5° 46', den vorangegangenen<br />

Abend bei 20° 30'. Die Differenz, geteilt durch zwei, ergibt 7° 42'. Der<br />

W<strong>in</strong>d kommt von Nordost. Wir segeln ungefahr <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Entfernung von e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb<br />

Meilen zur Kuste, der Boden ist lehmig und <strong>die</strong> Wassertiefe betragt 5 bis<br />

6 FuB. In e<strong>in</strong>er Entfernung von ungefahr zehn Meilen schatzungsweise sehen wir<br />

im Landes<strong>in</strong>neren e<strong>in</strong>e sehr hohe Gebirgskette, von deren höchstem Gipfel Schnee<br />

herunterleuchtet. Wir betrachten es als e<strong>in</strong>e ganz besondere Entdeckung, Schnee so<br />

nahe am Aquator zu f<strong>in</strong>den. Wir halten bis gegen Abend unseren Kurs — Südost<br />

- entlang e<strong>in</strong>es weiten Schwemmlandes, an das wir bis auf zwei FuB Meerestiefe<br />

herankommen. Dort ankern wir für ungefahr fünf Stunden; wahrend <strong>die</strong>ser Zeit<br />

steigt der Wasserspiegel auf fünf Fufi. Wir gelangen <strong>in</strong> tiefere Gewasser und ankern<br />

dort wahrend der ganzen Nacht."<br />

Dies ist der Bericht von Jan Carstensz über <strong>die</strong> Entdeckung der eisbedeckten Berge<br />

Neugu<strong>in</strong>eas. Se<strong>in</strong> Name ist im höchsten Gipfel <strong>die</strong>ses Gebirges (Carstensz-Pyramide)<br />

verewigt.<br />

Im Zuge derselben Entdeckungsfahrt segelte Carstensz e<strong>in</strong>e betrachtliche Strecke<br />

entlang der Kap-York-Halb<strong>in</strong>sel Australiens, im Glauben, immer noch auf Neugu<strong>in</strong>ea<br />

zu se<strong>in</strong>. Aus dem eben geschilderten Vorfall mit E<strong>in</strong>geborenen könnte man<br />

irrtümlich glauben, daB h<strong>in</strong>terlistige Aggression der <strong>Papua</strong>s den WeiBen gegenüber<br />

<strong>die</strong> Regel war und <strong>die</strong> „edlen christlichen" Seefahrer sich standigen Attacken „barbarischer<br />

Heiden" zu erwehren hatten. Dem war nicht so. Die meisten Ause<strong>in</strong>andersetzungen<br />

resultierten aus Fehlverhalten der WeiBen gegenüber den an sich<br />

scheuen und grundsatzlich freundlichen Schwarzen.<br />

E<strong>in</strong> anderer Ausschnitt aus dem Logbuch des Jan Carstensz mag <strong>die</strong> „Humanitat"<br />

e<strong>in</strong>iger <strong>die</strong>ser Entdecker <strong>in</strong>s richtige Licht rücken.<br />

„Es ist unmöglich, hier mit Booten oder P<strong>in</strong>assen an Land zu gehen, <strong>in</strong>folge des<br />

morastigen Bodens, <strong>in</strong> dem jeder Mensch bis zu den Hüften vers<strong>in</strong>ken würde. Die<br />

119


Die Erschliejiung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

schaft, wo sich alljahrlich im Frühjahr zu Beg<strong>in</strong>n der Jagd e<strong>in</strong>e illustre Gesellschaft<br />

ihr Stelldiche<strong>in</strong> gab. Ch<strong>in</strong>esische Handler lieBen sich nieder, verliehen Gewehre,<br />

Patronen und vermieteten sogar Motorboote an <strong>die</strong> Jager. Gleichzeitig wurde dafür<br />

Sorge getragen, daB den „erfolgreichen" Vogeljagern ihr Geld nicht lange<br />

blieb. Spielhöllen, Alkohol und leichte Madchen, <strong>die</strong> man eigens von Java und<br />

Makassar kommen lieB, halfen den Glücksrittern, ihr sauer ver<strong>die</strong>ntes Geld schnell<br />

wieder loszuwerden.<br />

Die hollandische Verwaltung stand anfanglich der Vogeljagd positiv gegenüber.<br />

Sie förderte den Handel; zusatzlich flossen Steuern <strong>in</strong> <strong>die</strong> Staatskassen. DaB <strong>die</strong><br />

Vogelhan<strong>die</strong>r sich ihre eigenen Gesetze machten, störte <strong>die</strong> Hollander wenig. Ohne<br />

irgende<strong>in</strong>er Kontrolle ausgesetzt zu se<strong>in</strong>, betrachteten sie sich als <strong>die</strong> eigentlichen<br />

Herren im Busch. Sie sahen nicht nur <strong>die</strong> Vogel, das Wild und <strong>die</strong> frei herumlaufenden<br />

Haustiere der E<strong>in</strong>geborenen als ihren Besitz an, auch das Leben e<strong>in</strong>es <strong>Papua</strong>s<br />

galt den ver wegenen Abenteurern wenig.<br />

Mit der rapiden Abnahme der Vogelbestande - zu Beg<strong>in</strong>n unseres Jahrhunderts<br />

wurden <strong>in</strong> fünf Jahren alle<strong>in</strong> aus dem Nordosten 50.000 Balge exportiert - begannen<br />

sich <strong>die</strong> Jager aus Konkurrenzneid regelrecht zu bekriegen. Die hollandischen<br />

Behörden waren gezwungen, e<strong>in</strong>zugreifen, und Merauke avancierte zur wichtigsten<br />

Verwaltungsbasis an der Südküste Neugu<strong>in</strong>eas. Aber schon im Sog der Kolonialbeamten<br />

kamen <strong>die</strong> Missionare und legten den Grundste<strong>in</strong> für den Untergang bedeutender<br />

E<strong>in</strong>geborenenkulturen, wie etwa jener der Mar<strong>in</strong>d-Anim.<br />

Noch lag das Bergland im Inneren tief verborgen unter e<strong>in</strong>er Wolkendecke, im<br />

Schlaf e<strong>in</strong>er e<strong>in</strong>zigen Ste<strong>in</strong>zeit. Noch ke<strong>in</strong> WeiBer hatte bis zu <strong>die</strong>sem Zeitpunkt<br />

auch nur <strong>die</strong> Auslaufer des Gebirges erreicht.<br />

Erst im Jahre 1909 startete e<strong>in</strong>e gut ausgerüstete und von den hollandischen Behörden<br />

unterstützte Expedition unter Leitung von H. A. Lorentz <strong>in</strong>s gebirgige Innere.<br />

Unter gröBten Schwierigkeiten erreichten sie das Gebiet um den Mt. Wilhelm<strong>in</strong>a,<br />

den sie auch bestiegen, ohne das nahegelegene, dicht bevölkerte Baliem-Tal zu entdecken.<br />

Nach wie vor blieben <strong>die</strong> 150 Kilometer östlich davon gelegenen höheren<br />

Gipfel der Nassau Range völlig unberührt.<br />

Doch schon e<strong>in</strong> Jahr spater begann auch hier <strong>die</strong> ErschlieBung, deren Geschichte<br />

noch nicht geschrieben ist; das ist schade, denn sie ist spannender als mancher<br />

Abenteuerroman. Wie <strong>in</strong> vielen anderen Berggebieten der Erde waren es auch hier<br />

Briten, <strong>die</strong> groBartige Pionierleistungen vollbrachten. Die ersten Expeditionen zum<br />

Carstenszgebirge s<strong>in</strong>d untrennbar mit dem Namen A. F. R. Wollaston verbunden.<br />

E<strong>in</strong> Mann, der mehrere Jahre se<strong>in</strong>es Lebens dafür aufwandte, beseelt vom Forschergeist<br />

se<strong>in</strong>er Zeit und mit groBen physischen Kraften ausgestattet; e<strong>in</strong> Mann,<br />

der ungeheure Anstrengungen unternahm und trotzdem am FuBe des südlichen<br />

Gletschers, der heute se<strong>in</strong>en Namen tragt, den ersehnten Anblick nach Norden vor<br />

Augen, aufgeben muBte.<br />

Es begann im Oktober des Jahres 1909, als Wollaston - er war arztlicher Berater<br />

und Botaniker - zur Expedition der Britischen Ornithologischen Gesellschaft <strong>in</strong><br />

das Gebirge von Hollandisch-West-Neugu<strong>in</strong>ea e<strong>in</strong>geladen wurde. Mit der Leitung<br />

des Unternehmens beauftragte man W. Goodfellow. Weitere Teilnehmer waren:<br />

W. Stalker, G. C. Shortridge, Capta<strong>in</strong> C. G. Rawl<strong>in</strong>g und Dr. Eric Marshall.<br />

130


Die Brief e Wollastons<br />

E<strong>in</strong>es der Expeditionsziele bestand dar<strong>in</strong>, das Carstenszgebirge zu erkunden und<br />

nach Möglichkeit e<strong>in</strong>en der eisbedeckten Gipfel zu besteigen. Trotz gröBtem Aufwand<br />

an Menschen und Material (es wurden gebirgserfahrene Gurkhas als Trager<br />

und Führer mitgenommen) kam <strong>die</strong> Mannschaft <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zeitraum von 15 Monaten<br />

ihrem Ziel nur um 40 Kilometer naher!<br />

Die Geschichte <strong>die</strong>ser ersten Expedition besteht aus permanenten Wiederholungen<br />

der Schilderungen über physische Strapazen und Harten beim Erkunden des unbekannten<br />

Landes. Die taglichen tropischen Regengüsse, <strong>die</strong> Sturzfluten, das höllische<br />

Klima, <strong>die</strong> Blutegel und plötzliche lahmende Schwache machten den Expeditionsteilnehmern<br />

schwer zu schaffen. Krankheit und Tod unter den Kameraden sowie<br />

erzwungene Inaktivitat sch wachten <strong>die</strong> Mor al. Dazu kam noch das Milïgeschick,<br />

den falschen FluB (Mimika) für den VorstoB <strong>in</strong>s Gebirge ausgewahlt zu haben.<br />

In den Briefen Wollastons kommen <strong>die</strong> Ereignisse <strong>die</strong>ser ersten Expedition, se<strong>in</strong>e<br />

Angste und Zweifel von der Ahnung bis zur GewiBheit des Scheiterns, aber auch<br />

der Wille zu e<strong>in</strong>em weiteren Versuch zum Ausdruck.<br />

Von Anfang an stand das Unternehmen unter ke<strong>in</strong>em günstigen Stern. Schon beim<br />

ersten Camp <strong>in</strong> Wakatimi nach wenigen Tagen ereignete sich e<strong>in</strong> tragischer Unfall.<br />

„Wir s<strong>in</strong>d erst seit e<strong>in</strong>em Tag hier, und es beg<strong>in</strong>nt langsam e<strong>in</strong>e gewisse Ordnung<br />

im Lager zu entstehen, als e<strong>in</strong>e schreckliche Tragö<strong>die</strong> ihre Schatten über <strong>die</strong> gesamte<br />

Expedition vorauswirft. Am Nachmittag des 9. Januar begibt sich Mr. Stalker,<br />

mit se<strong>in</strong>em Gewehr bewaffnet, <strong>in</strong> den Urwald, um Vogel zu jagen. Er geht alle<strong>in</strong>,<br />

was <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Land wie <strong>die</strong>sem niemand tun soll. Bis nach Sonnenuntergang bemerkt<br />

ke<strong>in</strong>er von uns se<strong>in</strong>e Abwesenheit. Mittlerweile aber beg<strong>in</strong>nt es schwer zu<br />

regnen, und es wird plötzlich stockdunkel. Bei solchen Verhaltnissen ist es uns unmöglich,<br />

noch am selben Abend im dichten Urwald und tiefen Sumpf, der das Lager<br />

umgibt, nach ihm zu suchen. Am gesamten nachsten Tag beteiligen sich mehr<br />

als hundert Personen an e<strong>in</strong>er <strong>in</strong>tensiven Suchaktion, doch <strong>die</strong>se verlauft ergebnislos.<br />

Erst zwei Tage spater wird der Tote von E<strong>in</strong>geborenen gefunden und <strong>in</strong> unser<br />

Lager gebracht. E<strong>in</strong>e derartige Erfahrung hoffe ich nie mehr erleben zu mussen."<br />

Exakt zwei Monate spater berichtet Wollaston, noch immer vom selben Standort<br />

aus, am Unterlauf des Mimika, ob des ger<strong>in</strong>gen Fortschritts der Expedition wie<br />

mir sche<strong>in</strong>t bereits e<strong>in</strong> wenig deprimiert: „Ich hoffe, wir werden es doch noch<br />

schaffen, <strong>die</strong> Berge zu erreichen, sobald Goodfellow mit neuen Tragern zurückkommt.<br />

Aber <strong>in</strong> der Zwischenzeit vergeuden wir hier wertvolle Zeit und setzen<br />

s<strong>in</strong>nlos unsere Gesundheit aufs Spiel. Zum Glück s<strong>in</strong>d wir noch alle relativ gesund.<br />

Ich trage jetzt e<strong>in</strong>en Bart, b<strong>in</strong> sehr dünn, aber <strong>in</strong> ausgezeichneter körperlicher Verfassung.<br />

Nur fürchte ich, all das Warten macht mich noch krank.<br />

Gestern besuchte uns der hollandische Forscher Lorentz, nachdem er 150 Kilometer<br />

östlich von hier den Mt. Wilhelm<strong>in</strong>a erstmals bestiegen hatte. Die Berge, <strong>die</strong><br />

wir erreichen wollen, s<strong>in</strong>d noch um e<strong>in</strong>iges höher; ich beg<strong>in</strong>ne allmahlich zu bezweifeln,<br />

daB wir e<strong>in</strong>en <strong>die</strong>ser Gipfel betreten werden."<br />

Das Verhaltnis der Expeditionsmitglieder zu den dort ansassigen MimikastSmmen<br />

war freundschaftlich. Des öfteren half en E<strong>in</strong>geborene beim Transport der Ausrüstung<br />

und bei der Errichtung der Lager. Wenn das wöchentliche Dampfschiff der<br />

131


Die Erschliefiung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

Hollander anlegte, stürzten sie <strong>in</strong> Scharen zum Bootsplatz und transportierten <strong>die</strong><br />

gesamte Ladung über das schlammige Ufer h<strong>in</strong>auf zum Lagerplatz.<br />

„Diese Aktivitat dauerte nicht lange; bald standen <strong>die</strong> Leute nichtstuend herum<br />

und beh<strong>in</strong>derten unsere Manner bei der Arbeit", berichtet Wollaston. „Ihre Neugierde<br />

im H<strong>in</strong>blick auf Zivilisationsgüter schien unstiUbar. Deshalb errichteten wir<br />

rund um das Lager e<strong>in</strong>en hölzernen Zaun. Dort standen sie gaffend von morgens<br />

bis abends, <strong>in</strong> fünf bis sechs Reihen dicht zusammengedrangt. Da auch <strong>die</strong> Leute<br />

der h<strong>in</strong>teren Reihe unbed<strong>in</strong>gt sehen wollten, was im Lager vorg<strong>in</strong>g, wurde der<br />

Druck auf <strong>die</strong> vorderen so grofi, dafi der Zaun mehrmals umfiel und mit ihm e<strong>in</strong>e<br />

r<strong>in</strong>gende Masse schwarzer Leiber."<br />

Zwei weitere Wochen verstrichen mit immer wieder erfolglosen VorstöBen fluflaufwarts.<br />

Trotz neuer Trager und besserer Ausrüstung wurde <strong>die</strong> Hoffnung auf<br />

e<strong>in</strong>en Erfolg immer kle<strong>in</strong>er. Für Wollaston gestaltete sich <strong>die</strong> Expedition zum Alptraurn:<br />

„Dieses Land ist vom Meer bis zum Gebirge h<strong>in</strong> das erdrückendste und unfreundlichste,<br />

das ich je betrat. Es hat nichts Schönes, nichts Romantisches, nichts, was<br />

<strong>die</strong> Phantasie bewegt. Es ist alles <strong>in</strong> allem e<strong>in</strong> Land, das e<strong>in</strong>em vollkommen das<br />

Gemüt zerstört. Die eisbedeckten Berge könnten e<strong>in</strong> Ausgleich dafür se<strong>in</strong>, aber das<br />

muB man erst herausf<strong>in</strong>den, und im Moment sche<strong>in</strong>en sie mir weiter entfernt zu<br />

se<strong>in</strong> als der Mond. Ich glaube, ich würde wirklich lieber mit Fieber <strong>in</strong> Afrika se<strong>in</strong>,<br />

als hier <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea ohne Fieber. Ich me<strong>in</strong>e, herausgefunden zu haben, warum<br />

<strong>die</strong>ses Land so ekelerregend und deprimierend auf mich wirkt. Der Grund dafür<br />

dürften <strong>die</strong> Baume se<strong>in</strong>. Es macht mich ziemlich traurig, das behaupten zu mussen,<br />

denn grundsatzlich liebe ich Baume. Aber hier s<strong>in</strong>d es so riesige Gewachse - verrottet<br />

und morsch, krank und tot -, nach Raum und Licht r<strong>in</strong>gend, und sie versperren<br />

nach allen Richtungen h<strong>in</strong> den Ausblick. Wenn ich nach Hause komme,<br />

werde ich geradewegs dorth<strong>in</strong> gehen, wo es ke<strong>in</strong>e Baume gibt, und mich an der offenen<br />

Aussicht erfreuen."<br />

Die gebirgserfahrenen Gurkhas erwiesen sich hier nicht als <strong>die</strong> geeignetsten Helfer.<br />

Das mörderische Klima der FluBniederungen, <strong>die</strong> Moskitos und vor allem <strong>die</strong> Blutegel<br />

setzten ihnen schwer zu. Das aber betraf nicht nur <strong>die</strong> Gurkhas. „Die ganze<br />

Zeit über werden wir von Blutegeln geplagt. Diese hafilichen kle<strong>in</strong>en Kreaturen sitzen<br />

auf Blattern oder Asten, <strong>in</strong> ihrer vollen GröBe ausgestreckt und auf standiger<br />

Lauer. Es ist nicht nötig, zu glauben, wie es manche Menschen tun, dafi sie spr<strong>in</strong>gen<br />

oder sich fallen lassen, wenn man vorbeigeht. Es s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach so viele, daB<br />

man beim Marschieren durch den Urwald unweigerlich viele <strong>die</strong>ser Köpfe berührt.<br />

Sobald man mit ihnen <strong>in</strong> Kontakt kommt, saugen sie sich sofort am Körper fest.<br />

Ihre Bewegungen s<strong>in</strong>d dabei so schnell und <strong>die</strong> Berührung so sanft, daB man sie<br />

nicht spurt, ehe sie sich mit Blut gefüllt haben. Die Be<strong>in</strong>e, sofern sie nicht durch<br />

Gamaschen geschützt s<strong>in</strong>d, s<strong>in</strong>d ihren Attacken am meisten ausgesetzt. Man f<strong>in</strong>det<br />

<strong>die</strong>se Tiere aber auch an anderen Körperstellen. Ich habe sogar welche <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en<br />

Augen gefunden, im Mund, und e<strong>in</strong>mal war gerade e<strong>in</strong>es dabei, <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Nasenloch<br />

zu kriechen. Diese Tiere s<strong>in</strong>d imstande, ungewöhnlich groBe Mengen Blut aufzunehmen.<br />

Dabei kann es vorkommen, daB sie e<strong>in</strong>e Vene öffnen. Das ist gefahrlich,<br />

denn nach Entfernen des Egels ist es schwierig, <strong>die</strong> Blutung zu stoppen. Anderseits<br />

132


Die Entdeckung der Tapiro-Pygmaen<br />

ist es nicht ratsam, so e<strong>in</strong> Tier mit Gewalt aus der Haut zu ziehen, denn dann<br />

könnte der Kopf zurückbleiben, der tropische Geschwüre verursacht.<br />

Die Schwe<strong>in</strong>e der E<strong>in</strong>geborenen sche<strong>in</strong>en nicht von Blutegeln attackiert zu werden,<br />

aber der weiche Kopfteil des Kasuars wird von ihnen befallen. Nur: Kasuare s<strong>in</strong>d<br />

relativ rar. Es mufi deshalb Millionen Egel geben, <strong>die</strong> praktisch nie an Blut gelangen."<br />

Die Verluste unter den tapferen Gurkhas waren groB, dreimal muBte Nachschub<br />

geholt werden. Denn schon nach kurzer Zeit wurden viele krank oder starben.<br />

Nach sechs Monaten hatten sie nicht mehr als zwanzig Meilen von der Kuste <strong>in</strong>s<br />

Landes<strong>in</strong>nere zurückgelegt. Die Gletscher lagen aber noch fünfzig Meilen entfernt,<br />

der schwierigste Teil des Weges noch vor ihnen. Die Chancen auf Erfolg verr<strong>in</strong>gerten<br />

sich auf e<strong>in</strong> M<strong>in</strong>imum.<br />

Noch e<strong>in</strong>mal unternahmen sie e<strong>in</strong>en Versuch, den letzten, und entschieden sich,<br />

statt des Mimika dem IwakafluB zu folgen. Doch <strong>die</strong>ser erwies sich als unbefahrbar.<br />

Nun lernten sie, daB e<strong>in</strong> Vordr<strong>in</strong>gen <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea zu FuB noch um vieles<br />

schwieriger ist, als mit dem Boot weiterzukommen.<br />

„Bewegt man sich auf e<strong>in</strong>em Flufi mit dem Boot, hat man <strong>die</strong> GewiBheit, den<br />

Rückweg zu f<strong>in</strong>den. Bei e<strong>in</strong>em VorstoB ,cross country' aber ist es nicht nur auBerst<br />

mühsam, sich durch den Urwald den Weg zu bannen, sondern es ist um vieles<br />

schwieriger und gefahrlicher, <strong>die</strong> Flüsse zu überqueren. Mit jeder gelungenen FluBüberschreitung<br />

aber wird das Risiko gröBer, vom Rückweg abgeschnitten zu se<strong>in</strong>."<br />

SchlieBlich wurde das Vorhaben, das höchste Gebirge der lnsel zu erreichen, vorlaufig<br />

abgebrochen. Versorgungsschwierigkeiten und Krankheit der Mannschaft<br />

sowie falsche Routenwahl und <strong>die</strong> Unpassierbarkeit des Terra<strong>in</strong>s lieB <strong>die</strong> Expedition<br />

buchstablich im Morast steckenbleiben - trotz fünfzehnmonatiger Anstrengung.<br />

Aber es war nicht vergebens, Wollaston hatte wertvolle Erfahrung gesammelt,<br />

aus den Fehlern gelernt. Und er sollte wiederkommen, auch wenn er unmittelbar<br />

nach se<strong>in</strong>er Rückkehr <strong>in</strong> London resignierend feststellte: „Wahrend <strong>die</strong>ser<br />

fünfzehn Monate konnten wir an mehr als hundert Morgen den leuchtenden<br />

Schnee des Mt. Idenburg und des Mt. Carstensz sehen; und jeder, der Berge liebt,<br />

kann verstehen, wie verlockend es ist, wenn man Tag für Tag <strong>die</strong>se jungfraulichen<br />

Gipfel sieht, zum Greifen nahe, und doch so unerreichbar wie der Mond."<br />

Dieses Ziel der Expedition konnte zwar nicht erreicht werden. Aber man darf nicht<br />

vergessen, daB es groBe Erfolge im Bereich der Botanik, Zoölogie und Ornithologie<br />

gab. Neue Spezies von Tieren und Pflanzen wurden entdeckt und katalogisiert.<br />

Die „bedeutendste" Leistung <strong>die</strong>ser Expedition war - aus europaischer Sicht - sicherlich<br />

<strong>die</strong> Entdeckung der sogenannten Tapiro-Pygmaen im Gebiet des Kapareflusses.<br />

Den E<strong>in</strong>geborenen brachte <strong>die</strong>ses Ereignis freilich wenig Glück, im Gegenteil,<br />

der Kontakt mit unserer materiell überlegenen Kultur leitete unabwendbar<br />

ihren Untergang e<strong>in</strong>. Als ich im August 1980 - vom Carstenszgebirge kommend<br />

- <strong>die</strong>se Region besuchte, fand ich alle Spuren <strong>die</strong>ser kle<strong>in</strong>wüchsigen Menschen<br />

verwischt.<br />

Die Entdeckung war anlafilich e<strong>in</strong>er Erkundung des Gebietes um den Kapare erfolgt.<br />

Wollaston, Rawl<strong>in</strong>g und zwei Gurkhas verlieBen das FluBbett zirka e<strong>in</strong>e<strong>in</strong>halb<br />

Meilen nördlich ihres Lagers, um <strong>in</strong> nordöstlicher Richtung zu FuB weiterzu-<br />

133


Die Erschliefiung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

marschieren. Bald stieBen sie auf e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>geborenenpfad, dem sie folgten. Nach<br />

mehreren Stunden Marsen durch schwieriges Gelande erreichten sie e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Rodung:<br />

„Ungefahr zwanzig Meter von uns entfernt steht e<strong>in</strong>e Hütte, vor der drei Manner<br />

sitzen. Wir rufen sie an, zu uns zu kommen; sie rühren sich nicht von der Stelle, bis<br />

wir uns ihnen langsam nahern. E<strong>in</strong> paar M<strong>in</strong>uten spater ersche<strong>in</strong>en weitere zwei<br />

Manner, und zwar genau aus dem Urwaldstück h<strong>in</strong>ter uns. Wir s<strong>in</strong>d sicher, daB sie<br />

uns schon lange gefolgt se<strong>in</strong> mussen.<br />

Die Hütte besteht aus e<strong>in</strong>fachen Holzstammen und ist mit Blattern gedeckt; <strong>in</strong> der<br />

Mitte brennt e<strong>in</strong> Feuer, woran e<strong>in</strong> alter Mann sitzt, dessen Körper von schrecklichen<br />

Geschwüren entstellt ist. Wahrend der folgenden Stunden, <strong>die</strong> wir dort verweilen,<br />

kommen noch acht Manner, um uns zu sehen. AuBer e<strong>in</strong>em, der offensichtlich<br />

ihr Anführer ist und sich vor uns nicht fürchtet, s<strong>in</strong>d alle anderen viel zu<br />

scheu, um sich uns zu nahern - sie verharren <strong>in</strong> e<strong>in</strong>iger Entfernung. Trotzdem ist<br />

es unschwer zu erkennen, alle<strong>in</strong> auf Grund ihrer ger<strong>in</strong>gen KörpergröBe, dafi sie<br />

e<strong>in</strong>er anderen Rasse angehören als <strong>die</strong> Küstenpapuas.<br />

Das bemerkenswerteste an ihnen ist der Umstand, daB jeder Mann als e<strong>in</strong>ziges<br />

Kleidungsstück e<strong>in</strong>en gelben Penisköcher tragt. Das dicke ausgehöhlte Ende wird<br />

über den Geschlechtsteil gestulpt und mit e<strong>in</strong>em Rotangstreifen um <strong>die</strong> Hüfte befestigt.<br />

Dieses D<strong>in</strong>g ist manchmal halb so groB wie der Trager und gibt <strong>die</strong>sem e<strong>in</strong><br />

ungewöhnliches Aussehen. Jeder Mann ist mit Pfeil und Bogen bewaffnet, zusatzlich<br />

besitzen alle Ste<strong>in</strong>axte, <strong>die</strong> jenen der Küstenbewohner gleichen. Zwei Manner<br />

s<strong>in</strong>d mit Muschelketten geschmückt, e<strong>in</strong>er hat e<strong>in</strong> Pelzband um den Kopf gewickelt,<br />

zwei tragen eigenartige Helme, <strong>die</strong> wie Hüte aus Gras aussehen und mit<br />

Federn geschmückt s<strong>in</strong>d.<br />

Beim Abschied offerieren wir ihnen Kleider und Glasperlen, damit sie uns e<strong>in</strong>en<br />

besseren Weg zeigen. Aber sie s<strong>in</strong>d entweder zu furchtsam oder zu faul, <strong>die</strong>s zu<br />

tun.<br />

Nach zehnstündigem Marsch erreichen wir schlieBlich unser Lager, durchnaBt vom<br />

Regen und mit Blutegeln bedeckt - aber zufrieden mit dem Erfolg <strong>die</strong>ses Tages."<br />

Wochen spater besuchten e<strong>in</strong>ige Tapiro, wie sie von den anderen <strong>Papua</strong>s genannt<br />

werden, das Dorf Parimau und auch das nahegelegene Lager der Briten. E<strong>in</strong>ige<br />

Expeditionsmitglieder wollten daraufh<strong>in</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>es ihrer Dörfer mitkommén. Die<br />

Tapiro waren aber nur widerwiUig geneigt, den Europaern den Weg dorth<strong>in</strong> zu zeigen.<br />

Die Handelsbeziehungen zwischen dem Zwergvolk und den Küstenpapuas gestalteten<br />

sich sehr <strong>in</strong>tensiv, sogar Mischehen waren ke<strong>in</strong>e Seltenheit. Die Tapiro brachten<br />

vor allem Tabak zum Tausch, den es bei den E<strong>in</strong>geborenen von Parimau nicht<br />

gab. Zwischen ihnen schien es auch e<strong>in</strong>e Art „Abrüstungsabkommen" gegeben zu<br />

haben, denn niernals brachten sie Pfeil und Bogen, <strong>die</strong> sie sonst immer bei sich trugen,<br />

mit <strong>in</strong>s fremde Dorf. Alle ihre Waffen legten sie auBerhalb der Wohnplatze<br />

ab oder lieBen sie im Urwald zurück. Die Hautfarbe war e<strong>in</strong> biBchen heller als jene<br />

der Küstenpapuas, zusatzlich beschmierten sie <strong>die</strong> Gesichter mit e<strong>in</strong>er Mischung<br />

von Schwe<strong>in</strong>efett und RuB. Weder <strong>die</strong> Kunst des Tatowierens noch <strong>die</strong> Dekoration<br />

durch Narben schien bei ihnen praktiziert zu werden.<br />

134


Das „ Gerat" zum Feuermachen<br />

Bei jedem mannlichen Stammesmitglied durchstieB man das Nasenseptum; durch<br />

das so entstandene Loch steckten sie gelegentlich e<strong>in</strong>en geschwungenen Eberhauer<br />

oder e<strong>in</strong> kurzes Knochenstück. Ihr Haar war kurz, buschig und schwarz. Viele verstanden<br />

es, <strong>die</strong>sem e<strong>in</strong> helleres Aussehen zu verleihen, <strong>in</strong>dem sie es mit Kalk e<strong>in</strong>schmierten.<br />

Nur wenige hatten von Natur aus e<strong>in</strong> etwas braunliches Haar. Der<br />

Schmuck, den sie trugen, war sehr e<strong>in</strong>fach und bestand meist aus geflochtenen<br />

Arm- und FuBbandern, ahnlich jenen der Küstenleute. Mehrere besaBen Halsketten<br />

aus Samenkörnern, Bambus, Wallabyzahnen, Muscheln und Knochen des<br />

Baumkanguruhs.<br />

Auch <strong>die</strong> Ohrlappchen wurden bei jedem Mann durchstochen. Daran befestigten<br />

sie Dekorationen und Fetische aus getrocknetem Kürbis, Samenkörnern, Pelzstücken<br />

und Vogelkrallen.<br />

Die dekorativsten und am sorgfaltigsten gestalteten Gegenstande ihres Besitzes waren<br />

<strong>die</strong> Tragnetze, von denen jeder Mann m<strong>in</strong>destens zwei standig mit sich trug:<br />

e<strong>in</strong> groBes Netz, das über der Schulter h<strong>in</strong>g und über den Rücken herabbaumelte,<br />

und e<strong>in</strong> sehr kle<strong>in</strong>es, das um den Nacken geschlungen <strong>die</strong> Brust bedeckte. Sie waren<br />

aus Grasern verschiedener Farben hergestellt und auBerst geschickt geflochten.<br />

In <strong>die</strong>sen Netzen fand man ihre gesamte bewegliche Habe. Das kle<strong>in</strong>e Netz be<strong>in</strong>haltete<br />

Knochen, Muschelschmuck (so man <strong>die</strong>sen nicht gerade trug) und verschiedene<br />

Messer: kle<strong>in</strong>e, scharfgeschliffene Kieselste<strong>in</strong>e, <strong>die</strong> vor allem zum Schnitzen<br />

von Bogen und Pfeilspitzen verwendet wurden. E<strong>in</strong>ige transportierten <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Tasche<br />

auch e<strong>in</strong>en kurzen „Dolch", gefertigt aus dem machtigen Unterschenkelknochen<br />

e<strong>in</strong>es Kasuars. Der Inhalt des groBen Netzes war für gewöhnlich <strong>die</strong> Schlafmatte,<br />

<strong>die</strong> „Feuersage", etwas Rotang und Tabak. Die aus Pandanusblattern hergestellte<br />

Matte konnte man sowohl als Schlafunterlage als auch als Regenschutz<br />

verwenden. Kle<strong>in</strong> zusammengefaltet, fand sie mühelos im Netz Platz. Die Herstellung<br />

solcher Matten war Sache der Frauen und erforderte groBes Geschick.<br />

Mit Abstand am <strong>in</strong>teressantesten von all den Besitztümern <strong>die</strong>ser Menschen war<br />

das Gerat zum Feuermachen. Es bestand aus drei verschiedenen Teilen: aus e<strong>in</strong>em<br />

gespaltenen Holzstück, e<strong>in</strong>em langen Rotangstreifen und etwas getrocknetem Gras<br />

oder Moos. Diese Methode ist nicht nur raff<strong>in</strong>iert, sondern auch auBerst praktisch.<br />

In das gespaltene Holzstück zwangte der „Operateur" e<strong>in</strong>en Ste<strong>in</strong>, der <strong>die</strong> Enden<br />

etwas ause<strong>in</strong>anderdrückte. Genau dazwischen plazierte man etwas getrocknetes<br />

Gras. Der Rotangstreifen muBte über den Zünder (= Gras), zwischen Ste<strong>in</strong> und<br />

nicht gespaltenem Ende des Holzstücks e<strong>in</strong>gefadelt werden. Das Ganze wurde mit<br />

beiden FüBen am Boden arretiert, wahrend man den Rotangstreifen mit groBer<br />

Geschw<strong>in</strong>digkeit, ahnlich e<strong>in</strong>er Sage, h<strong>in</strong> und her bewegte, bis er <strong>in</strong> zwei Teile<br />

brach. Sofort nahm man den Feuerstock mitsamt dem qualmenden Graszunder <strong>in</strong><br />

<strong>die</strong> Hand und versuchte, durch heftiges Blasen e<strong>in</strong>e Flamme zu entfachen. An der<br />

Stelle, an der der Rotang durch <strong>die</strong> Reibungshitze brach, blieb e<strong>in</strong>e tiefe braune<br />

Rille am Holz zurück. E<strong>in</strong>e haufig benutzte Feuersage erkennt man an der groBen<br />

Anzahl solcher verbrannter R<strong>in</strong>ge. Am haufigsten benutzten sie <strong>die</strong> Feuersage zum<br />

Tabakanzünden.<br />

Die Tapiro besaBen ke<strong>in</strong>e Speere, und weder sie noch <strong>die</strong> Küstenpapuas kannten<br />

den Gebrauch von Schleudern. Neben den bereits erwahnten Knochenmessern wa-<br />

135


Die Erschliefiung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

ren Pfeil und Bogen ihre Hauptwaffen. Die Pfeilspitzen bestanden aus schwarzem<br />

Hartholz und waren teilweise mit e<strong>in</strong>fachen Ornamenten verziert.<br />

Die Pygmaendörfer Wamberi, Merbiri und Wamberimi am Fufle des Mt. Tapiro<br />

wurden mehrmals von verschiedenen Expeditionsmitgliedern besucht. Die Siedlungen<br />

waren mit hölzernen Zaunen umgeben und bestanden im e<strong>in</strong>zelnen aus kaum<br />

mehr als zehn bis zwölf über e<strong>in</strong>e Rodung verstreuten Hutten. Zwischen den Hausern<br />

schuf man an drei verschiedenen Platzen ebene, abgegrenzte Flachen, <strong>die</strong> für<br />

Feste und andere rituelle Anlasse genutzt wurden. Die Hutten unterschieden sich<br />

stark von jenen der Tieflandbewohner, waren auf Pfahlen gebaut und mit Wanden<br />

aus gespaltenen Holzstammen versehen, deren Aufienseiten zusatzlich mit Baumr<strong>in</strong>de<br />

verkleidet wurden. Die Dachkonstruktion war ungewöhnlich steil und mit<br />

den sich überlappenden Blattern e<strong>in</strong>er Palme gedeckt. Der Boden bestand aus de<strong>in</strong><br />

gleichen Material wie <strong>die</strong> Wande; <strong>in</strong> der Mitte befand sich e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Ausnehmung,<br />

wor<strong>in</strong> standig e<strong>in</strong> Feuer unterhalten wurde. Jedes Haus verfügte nur über<br />

e<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen Raum und e<strong>in</strong>e Art Vorbalkon, der über zwei nebene<strong>in</strong>anderliegende<br />

Holzlatten erklettert werden muBte. Dieses komb<strong>in</strong>ierte Wohn-Schlafzimmer<br />

war, was se<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>fachheit und Kargheit betraf, kaum zu überbieten. Abgesehen<br />

von der lebensnotwendigen Feuerstelle gab es lediglich e<strong>in</strong> paar Pandanusmatten<br />

und e<strong>in</strong> Gerust zum Trocknen des Holzes als E<strong>in</strong>richtungsgegenstande. lm Unterschied<br />

zu den benachbarten Stammen besaBen <strong>die</strong> Tapiro so etwas wie e<strong>in</strong> Geme<strong>in</strong>schaftshaus<br />

der Manner, das sie an e<strong>in</strong>em besonderen Platz des Dorfes errichteten.<br />

WoUaston berichtet, daB sie im Mannerhaus von Wamberimi e<strong>in</strong>en uralten Mann<br />

fanden, kahl und weiBbartig, mit e<strong>in</strong>er schrecklichen Hautkrankheit behaftet, der<br />

aber mit lauter Stimme se<strong>in</strong>en Stammesbrüdern Befehle erteilte. Er war unzweifelhaft<br />

der Hauptl<strong>in</strong>g <strong>die</strong>ses Dorfes. Er war es auch, der verordnete, daB man den<br />

Fremden <strong>die</strong> Frauen nicht zeigen dürfe, obwohl <strong>die</strong>se es besonders wünschten und<br />

sogar wertvolle Belohnungen - Stahlmesser und Axte - aussetzten. E<strong>in</strong>ige Tapiro<br />

schienen zwar grundsatzlich mit den Geschenken zu kokettieren, doch immer<br />

h<strong>in</strong>derte sie der alte Mann daran. Nur <strong>in</strong> der Nacht konnten sie ihre Lagerfeuer am<br />

gegenüberliegenden Hügel sehen und manchmal ihre schrillen Stimmen horen. Da<br />

sie praktisch ke<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Wort der Tapiro-Sprache verstanden (<strong>die</strong> sich völlig von<br />

jener der Mimika unterschied), erwies sich <strong>die</strong> Barrière als unüberw<strong>in</strong>dliches H<strong>in</strong>dernis,<br />

zumal auch der E<strong>in</strong>satz e<strong>in</strong>es Mimika-„Dolmetschs" wenig fruchtbr<strong>in</strong>gend<br />

war. So blieben <strong>die</strong> Erkenntnisse über <strong>die</strong>sen Pygmaenstamm zwangslaufig oberflachlich<br />

und erschöpften sich <strong>in</strong> phanotypischen Beschreibungen, deren Essenz<br />

ich hier wiederzugeben versuchte.<br />

Schon am Ende <strong>die</strong>ser ersten Expedition traf WoUaston Vorbereitungen für se<strong>in</strong>e<br />

Wiederkehr. Er fuhr den Utakwa-FluB h<strong>in</strong>auf, wo e<strong>in</strong>e hollandische Expedition<br />

Ausschau nach e<strong>in</strong>er günstigen Route zur Durchquerung der Insel <strong>in</strong> Nord-Süd-<br />

Richtung hielt. Als er im Basislager e<strong>in</strong>traf, waren <strong>die</strong> Hollander bereits bis zu den<br />

Vorbergen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Höhe von 1500 Meter vorgestoBen.<br />

Der Leiter der Expedition, Capta<strong>in</strong> van der Brie, vertrat <strong>die</strong> Ansicht, daB man<br />

auch über <strong>die</strong>se Route <strong>die</strong> eisbedeckten Gipfel erreichen könne. So entschied sich<br />

WoUaston schon damals, beim zweiten Anlauf den Utakwa als Zugang zu wahlen.<br />

Als er im September 1912 wiederkam, hatten <strong>die</strong> Hollander ihr Vorhaben langst<br />

136


Endlich ke<strong>in</strong>e Blutegel<br />

aufgegeben und waren abgezogen - <strong>die</strong> Eisgipfel hatten sie unberührt zurückgelassen.<br />

Zwar gelang es <strong>in</strong> der Zwischenzeit, e<strong>in</strong>ige Teile des Memberamo-Flusses,<br />

der an der Nordküste <strong>in</strong>s Meer mündet, mit Booten zu erkunden. Aber nach wie<br />

vor war nichts über <strong>die</strong> Nordabstürze des Carstensz-Gebirges bekannt. Hiervon<br />

Kenntnis zu gew<strong>in</strong>nen, war der sehnlichste Wunsch Wollastons.<br />

Die Mannschaft - zwei WeiBe, Wollaston und C. Boden Kloss, sowie 74 Dayaks<br />

aus Borneo - erreichten am 18. September 1912 das Mündungsgebiet des Utakwa.<br />

Auf e<strong>in</strong>er Stecke von 15 Meilen fuhren sie mit dem Dampfboot, errichteten<br />

dann e<strong>in</strong> Lager, wo sie vorerst <strong>die</strong> Ausrüstung deponierten.<br />

Diese Expedition war kle<strong>in</strong>er als <strong>die</strong> vorangegangene, kle<strong>in</strong>er, was <strong>die</strong> Teilnehmerzahl<br />

anbelangt. Der Umfang der Ausrüstung war nach wie vor gigantisch geblieben<br />

und verh<strong>in</strong>derte e<strong>in</strong> schnelleres Vorankommen: 17 Tonnen Reis, 1600 Pfund getrocknetes<br />

Fleisch, 1000 Pfund getrockneten Fisch, 2000 Pfund Tee, 1200 Pfund<br />

Zucker: e<strong>in</strong> beachtlicher Trofi. Dazu kamen: e<strong>in</strong> Motorboot, 360 Gallonen Benz<strong>in</strong>,<br />

24 Zelte, Seile, Axte und anderes Gerat; Messer und Glasperlen für den<br />

Tauschhandel, letztlich 12 Gewehre und 25.000 SchuB Munition.<br />

In der Region um den Utakwa gab es ke<strong>in</strong>e permanenten Wohnplatze der <strong>Papua</strong>s;<br />

nur gelegentlich durchstreiften kle<strong>in</strong>ere Gruppen <strong>die</strong>ses Gebiet, jagend oder auf<br />

der Suche nach Pandanus. Deshalb hatte Wollaston ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, wie etwa<br />

bei der Mimika-Expedition, <strong>in</strong> den Besitz von E<strong>in</strong>geborenenkanus zu gelangen.<br />

Hier aber zeigte sich der Vorteil, Dayaks dabei zu haben, <strong>die</strong> <strong>in</strong> ahnlichen Umweltbed<strong>in</strong>gungen<br />

<strong>in</strong> ihrer Heimat leben und deshalb im Kanubau ebenso tüchtig s<strong>in</strong>d<br />

wie <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s.<br />

Ihre Boote brachten weiters den Vorteil, daB sie bei unruhigem Wasser besser zu<br />

manövrieren waren. Doch nur noch zwei Tagesetappen aufwarts konnte der Utakwa<br />

mit Booten befahren werden. Ab dort erwies es sich als unumganglich, den<br />

Weiterweg zu FuB anzutreten. E<strong>in</strong> „Kanudepot" wurde errichtet und vom Hauptlager<br />

mit allem notwendigen Material versorgt, wahrend <strong>die</strong> Spitzengruppe <strong>in</strong><br />

nordwestlicher Richtung - dem Weg der hollandischen Expedition, der noch gut<br />

zu erkennen war - folgte.<br />

Man beschloB, jeweils nach drei Tagesetappen e<strong>in</strong> Versorgungsdepot e<strong>in</strong>zurichten.<br />

Das erste stand am Beg<strong>in</strong>n der südlichen Auslaufer des Gebirges, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Höhe<br />

von 800 Metern. Es war, wie Wollaston berichtete, „der erste Lagerplatz, wo es <strong>in</strong><br />

der Nacht angenehm abkühlte und wir uns auBerhalb der Reichweite von Blutegeln<br />

und anderen Plagegeistern der FluBniederungen befanden".<br />

In der unmittelbaren Nahe entdeckten sie e<strong>in</strong>en idealen Aussichtsplatz, den sie<br />

„Observation Po<strong>in</strong>t" nannten. Dieser gestattete es, sich e<strong>in</strong>en guten Überblick über<br />

den weiteren Weg zu verschaffen.<br />

Die nachste Tagesetappe führte sie <strong>in</strong> das Haupttal des Utakwa. Dem FluB stets<br />

am l<strong>in</strong>ken Ufer folgend, erreichten sie schlieBlich nach zwei weiteren Tagen den<br />

Standort für das zweite Depot. Um 100 Höhenmeter tiefer als das erste gelegen,<br />

hatte man mehrere tausend Meter mühevollen Auf- und Abstiegs h<strong>in</strong>ter sich zu<br />

br<strong>in</strong>gen gehabt. Hier war es nicht mehr möglich, weiterh<strong>in</strong> am l<strong>in</strong>ken FluBufer zu<br />

bleiben; das Gelande zwang zu e<strong>in</strong>er Überquerung. „Die Dayaks bewerkstelligten<br />

das auf ihre Weise. Sie s<strong>in</strong>d gewöhnt, e<strong>in</strong> gedrehtes Rotangseil hoch über das Was-<br />

137


Die Erschliefiung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

ser von Ufer zu Ufer zu spannen. Diese Art der FluBüberquerung ist schwierig und<br />

gefahrlich. Mit Handen und FüBen am Rotangstrang festgeklammert, muB man<br />

bis zur Mitte herabgleiten und sich mit aller Kraft auf der anderen Seite wieder<br />

hochziehen."<br />

Nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Mal war ihnen <strong>die</strong> Urgewalt Wasser gnadig, der Wasserspiegel so<br />

auBergewöhnlich niedrig, daB sie von Ste<strong>in</strong> zu Ste<strong>in</strong> Baumstamme legen konnten.<br />

Doch solche Art Luxus war nur von kurzer Dauer, denn <strong>die</strong> nachste Sturzflut rifl<br />

<strong>die</strong> mühsam errichtete „Briicke" wieder fort.<br />

Die meiste Zeit verg<strong>in</strong>g mit dem Nachschub und der Versorgung der Lager. Erst im<br />

Dezember konnte <strong>die</strong> erste Erkundung für den besten Zugang zum Gebirge unternommen<br />

werden. Das Gelande stieg nun stetig an, so daB sie bald e<strong>in</strong>e Höhe von<br />

1700 Metern erreichten, von der sie nicht mehr wesentlich tiefer absteigen muBten.<br />

Schon nach e<strong>in</strong>em Tag stieBen sie auf das erste E<strong>in</strong>geborenendorf - Ts<strong>in</strong>ga, wie<br />

wir heute wissen. Wollaston stand damals, ohne es zu ahnen, erstmals Verwandten<br />

der Dani- und Uhundunistamme gegenüber. Es besteht für mich ke<strong>in</strong> Zweifel, daB<br />

<strong>die</strong> Bergpapuas südlich des Carstenszgebirges nahe Verwandte der Damal und damit<br />

auch der „Grand Valley"-Dani s<strong>in</strong>d. Genauso kann es als gesichert gelten, dafi<br />

<strong>die</strong> Besiedlung von Norden her erfolgte. Doch über welche Route, und wann?<br />

Die ersten Anzeichen menschlicher Aktivitat, <strong>die</strong> man dort fand, s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Spuren<br />

e<strong>in</strong>er Gruppe von Jagern, <strong>die</strong> sich vor mehr als 5000 Jahren am Ufer des Kemabu,<br />

nördlich der Gletscher, aufhielt. Leider gibt es bis heute ke<strong>in</strong>erlei Funde, <strong>die</strong> uns<br />

Aufschlufl über <strong>die</strong> Siedlungsgeschichte auf der Südseite des Gebirges geben könnten.<br />

Bei der Frage nach dem E<strong>in</strong>wanderungsweg muB der heute so wichtige Zugang<br />

von Norden über den NeuseelandpaB als mögliche Route ausgeschlossen werden.<br />

Wie amerikanische Luftaufnahmen beweisen, wurde <strong>die</strong>ser PaB erst vor wenigen<br />

Jahren vom Eis freigegeben. Auch der Übergang über den westlich davon gelegenen<br />

Bakoa-PaB dürfte aus demselben Grund nicht relevant se<strong>in</strong>. Doch viel weiter<br />

östlich (beziehungsweise westlich) gibt es zwei auch heute noch vielbegangene E<strong>in</strong>geborenenpfade,<br />

gleichsam uralte Handelsrouten zwischen Nord und Süd, <strong>die</strong> viel<br />

wahrsche<strong>in</strong>licher an den Weg der ersten Siedler denken lassen.<br />

Die östliche verb<strong>in</strong>det das Dorf Ilaga im Norden mit Jila im Süden, <strong>die</strong> westliche<br />

stellt <strong>die</strong> Verb<strong>in</strong>dung zwischen den Dörfern Bidai und Dumandora her. Trotz der<br />

trennenden Barrière e<strong>in</strong>es 5000 Meter hohen, eisbedeckten Gebirges ist der Kontakt<br />

zwischen den Amume-Damal im Süden und ihren Verwandten im Norden niemals<br />

abgebrochen. Auch im kulturellen Bereich kam es zu ke<strong>in</strong>em Bruch, im Gegenteil,<br />

es herrscht grofle Übere<strong>in</strong>stimmung <strong>in</strong> Sprache und Lebensform, bis <strong>in</strong><br />

kle<strong>in</strong>ste Details, wie ich bei me<strong>in</strong>em Aufenthalt im Dorf Waa, südlich von Tempagapura,<br />

feststellte. Ware Wollaston vom Dorf Ts<strong>in</strong>ga nicht direkt <strong>in</strong> Richtung der<br />

Gletscher weitergezogen, sondern nach Westen abgebogen, hatte er dem „guten"<br />

Pfad bis Waa folgen können, und e<strong>in</strong> Erfolg ware ihm sicher gewesen. Von Waa<br />

führt nicht nur e<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>geborenenroute über den Bakoa-PaB, vorbei am Mt. Idenburg,<br />

zum Kemabu-Plateau und schlieBt an <strong>die</strong> wichtigste Ost-West-Verb<strong>in</strong>dung<br />

an, sondern es ist auch nicht schwierig, durch leichtes Gelande das Meren-Tal zu<br />

erreichen. Doch Wollaston wahlte den „direkten" Weg; das bedeutete vorerst wieder<br />

Abstieg zum „Observation Po<strong>in</strong>t", um Wochen spater mit neuer Ausrüstung<br />

138


Lager <strong>in</strong> 4000 Metern Höhe<br />

und neuen Tragern zu starten. In sieben Tagen erreichten sie <strong>die</strong> letzte <strong>Papua</strong>-Siedlung<br />

<strong>in</strong> 2000 Meter Höhe, etwa zwei Meilen nördlich des Umkehrpunktes ihrer<br />

Kundtour. Hier verengte sich das Tal, und <strong>die</strong> Hange wurden so steil, dafi selbst<br />

für <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s e<strong>in</strong>e Kultivierung des Bodens und damit e<strong>in</strong>e Besiedlung nicht mehr<br />

möglich war. Ke<strong>in</strong> Pfad lieB sich mehr erkennen, nur ab und zu fanden sie Feuerstellen,<br />

an denen e<strong>in</strong>st E<strong>in</strong>geborene gelagert hatten. Langst war es zu beschwerlich,<br />

dem FluB zu folgen, aber es schien auch gefahrlich, <strong>die</strong> Hange entlang zu queren:<br />

„Unser Weg war deshalb e<strong>in</strong>e Folge mühsamer Aufstiege, um halsbrecherische Abstiege<br />

zum FluBufer zu vermeiden. So bescherte uns <strong>die</strong> erste Tagesetappe mehrere<br />

tausend Meter Kletterei, ohne uns mehr als 200 Höhenmeter voranzubr<strong>in</strong>gen."<br />

In 2300 Meter vollzog sich e<strong>in</strong>e wesentliche Wandlung der Vegetation. Das Unterholz,<br />

das bis dah<strong>in</strong> undurchdr<strong>in</strong>glich schien, lichtete sich, <strong>die</strong> hohen Baume verschwanden<br />

und wurden durch Pandanus und Farne ersetzt.<br />

„Die Region zwischen 2600 Meter und 3000 Meter ist bei weitem <strong>die</strong> angenehmste,<br />

<strong>die</strong> wir je <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Land durchquerten.<br />

Unser Weg führt das ste<strong>in</strong>ige FluBbett des Utakwa aufwarts. Die Ufer s<strong>in</strong>d mit<br />

blühenden Strauchern bedeckt, es gibt blauen Enzian und zahlreiche wilde Orchideen.<br />

Vor uns liegen <strong>die</strong> leuchtenden Gletscher des Mt. Carstensz, h<strong>in</strong>ter uns, tief<br />

unten, das Tal des Utakwa mit den urwaldbewachsenen Hangen, <strong>die</strong> wir so mühevoll<br />

bezwungen haben. Doch hier oben wahrt <strong>die</strong> gute Sicht nicht lange, denn<br />

schon ab neun Uhr vormittag hullen uns Wolken e<strong>in</strong>, und bald beg<strong>in</strong>nt es zu regnen.<br />

Seit Tagen schon tasten wir uns durch dichten Nebel, durchnaBt bis auf <strong>die</strong><br />

Haut. In unserem Lager am FuB der Südabstürze erkenne ich, daB es ke<strong>in</strong>en S<strong>in</strong>n<br />

hat, mit e<strong>in</strong>er derartig groBen Gruppe weiterzumarschieren: Die Dayaks beg<strong>in</strong>nen<br />

langsam an der herrschenden Külte zu leiden, und es ist schwierig genug, e<strong>in</strong>en Lagerplatz<br />

für nur e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Gruppe zu f<strong>in</strong>den."<br />

Am 30. Januar machten sich schlieBlich zwei WeiBe <strong>in</strong> Begleitung von drei <strong>Papua</strong>s<br />

auf den Weg, den Zustieg zu den Gletschern zu f<strong>in</strong>den: „Glücklicherweise ist <strong>die</strong><br />

Südflanke ke<strong>in</strong>e geschlossene Wand, sondern durch mafiig geneigte Pfeiler und<br />

Bander stark gegliedert. Trotzdem stoBen wir bald auf e<strong>in</strong>e steile Barrière aus<br />

Kalkste<strong>in</strong>, <strong>die</strong> uns im ersten Augenblick unbegehbar ersche<strong>in</strong>t. E<strong>in</strong>em der <strong>Papua</strong>s<br />

- <strong>die</strong> wie Affen klettern können - gel<strong>in</strong>gt es, sie zu erklimmen. E<strong>in</strong>e kurze Kletterei<br />

<strong>in</strong> solidem Fels br<strong>in</strong>gt uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Höhe von 4700 Meter an <strong>die</strong> Schneegrenze<br />

heran. E<strong>in</strong> steiles Schneecouloir leitet h<strong>in</strong>auf zu e<strong>in</strong>er Eiswand, deren meterhohe<br />

Serracs bedrohlich über unseren Köpfe hangen. E<strong>in</strong>zelne abgebrochene Eisstücke<br />

liegen über <strong>die</strong> ganze Schneeflache verstreut. Da es schon zu spat ist, um nach e<strong>in</strong>er<br />

anderen Aufstiegsmöglichkeit zu suchefl, kehren wir <strong>in</strong>s Lager zurück."<br />

Am nachsten Morgen herrschte Schlechtwetter. Daher nutzten sie den Tag, um <strong>in</strong><br />

4000 Meter Höhe e<strong>in</strong> vorgeschobenes Lager zu errichten. Obwohl sich auch am<br />

darauffolgenden Tag das Wetter kaum besserte, unternahmen Wollaston und<br />

Kloss e<strong>in</strong>en weiteren Versuch:<br />

„Als wir am Morgen des 1. Februar <strong>die</strong> Schneegrenze erreichen, s<strong>in</strong>d wir von Wolken<br />

völlig e<strong>in</strong>gehüllt. Wir traversieren entlang der Südflanke des Berges <strong>in</strong> westlicher<br />

Richtung, mehr oder weniger horizontalen Terrassen folgend. Nach ungefahr<br />

139


Die Erschliejiung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

e<strong>in</strong>er halben Meile stehen wir erneut vor e<strong>in</strong>em Schneefeld, das nur maBig geneigt<br />

nach oben führt.<br />

In knapp 4900 Meter (?) wird unserem Besteigungsversuch e<strong>in</strong> jahes Ende gesetzt.<br />

E<strong>in</strong>e abschüssige Felswand auf der e<strong>in</strong>en Seite, e<strong>in</strong>e steile Eisflanke auf der anderen,<br />

zw<strong>in</strong>gen uns zur Umkehr."<br />

Jedes <strong>die</strong>ser H<strong>in</strong>dernisse hatte von e<strong>in</strong>er Gruppe gutausgerüsteter Bergsteiger überwunden<br />

werden können. Doch nur zu zweit und bei schlechtem Wetter, entschied<br />

sich Wollaston für den Rückzug. Hatten sie genügend Zeit gehabt, <strong>die</strong> Wand westlich<br />

zu umgehen, sie hatten e<strong>in</strong>e leichtere Route gefunden.<br />

Der höchste Punkt, den sie erreichten, muB nur knapp unterhalb der Mulde zwischen<br />

Carstensz-Pyramide und Ost-Carstensz-Spitze gelegen haben. E<strong>in</strong> Rekord ist<br />

Wollaston wohl bis heute geblieben; er war der erste und bislang e<strong>in</strong>zige, der<br />

- von Süden kommend - <strong>die</strong> Pyramide zu besteigen versuchte. Wahrend <strong>die</strong><br />

Nordwand schon mehrere Routen aufweist, auch <strong>die</strong> zwei höchsten Gipfel des<br />

Nordwalls bereits über <strong>die</strong> Wande erstiegen s<strong>in</strong>d (Messner bzw. Isherwood), gibt es<br />

erst e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige Besteigung durch <strong>die</strong> Südwand der Carstensz-Pyramide (Boadman,<br />

jedoch von Norden kommend). E<strong>in</strong> Aufstieg durch den zentralen Teil der<br />

Südflanke ware durchaus e<strong>in</strong> lohnendes Ziel, man müBte aber beim Zugang zum<br />

WandfuB mit erheblichen Schwierigkeiten rechnen.<br />

Wollaston schreibt nichts über se<strong>in</strong>e Gefühle beim Rückmarsch, über se<strong>in</strong>e Enttauschung,<br />

se<strong>in</strong>en Arger. Er hat wohl <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen drei Jahren <strong>die</strong> Südseite bestens kennengelernt,<br />

oft davon getraumt, <strong>die</strong> jungfraulichen Gipfel zu erreichen und e<strong>in</strong>en<br />

Bliek aufs unbekannte Land im Norden zu erhaschen. Nichts von alldem g<strong>in</strong>g <strong>in</strong><br />

Erfüllung. Wie oft mag er sich <strong>die</strong> Frage gestellt haben, ob sich auch im Norden<br />

Bergrücken an Bergrücken reiht, mit noch höheren Gipfeln vielleicht - wer weifl<br />

es?<br />

Mehr als zwanzig Jahre sollten vergehen, bis andere, „erfolgreichere" <strong>die</strong>se Fragen<br />

beantworten konnten.<br />

Im Jahre 1936 führte Dr. A. H. Colijn, Manager e<strong>in</strong>er hollandischen Ölgesellschaft,<br />

e<strong>in</strong>e Expedition zum Carstensz-Gebirge. Verglichen mit dem riesigen und<br />

schwerfalligen Unternehmen der Briten war <strong>die</strong>ses relativ kle<strong>in</strong>. Colijn wurde begleitet<br />

von J. J. Dozy, e<strong>in</strong>em jungen Geologen, Leutnant Wissel, der e<strong>in</strong> Amphibienflugzeug<br />

zur Unterstützung pilotierte, und 38 Dayaks. Ausgangspunkt war Aira,<br />

e<strong>in</strong> hollandischer Stützpunkt an der Südküste. Beim Anmarsch hat Wissel<br />

mehrmals Verpflegung und Ausrüstung aus der Luft abgeworfen und damit e<strong>in</strong><br />

zügiges Vorankommen der Expedition gewahrleistet. Nach 56 Tagen erreichten<br />

Colijn, Dozy, Wissel und 12 Dayaks <strong>die</strong> Gletscher über dem Meren-Tal von Westen<br />

her und bestiegen den 4862 Meter hohen Ngga Pulu zum ersten Mal. Zwei Tage<br />

zuvor entdeckte Dozy an der Ostwand e<strong>in</strong>es Hangetales e<strong>in</strong>e ausgedehnte,<br />

schwarze Geste<strong>in</strong>smasse. Er brach e<strong>in</strong> Stück davon ab und fand dar<strong>in</strong> Kupfer.<br />

Daraufh<strong>in</strong> nannte er <strong>die</strong> Fundstelle „Ertsbergm<strong>in</strong>e".<br />

Die Kupfervorkommen s<strong>in</strong>d auBerst ergiebig und werden heute von der Freeport<br />

Indonesia Inc. ausgebeutet.<br />

Mit gigantischem Aufwand hat man e<strong>in</strong>e 40 Kilometer lange StraBe von Timika bis<br />

zur M<strong>in</strong>e <strong>in</strong> 4000 Meter Höhe gebaut. E<strong>in</strong>e permanente Luftbrücke zwischen<br />

140


Freude am „Neuseelandpaji"<br />

Cairns (Australien) und Timika sichert <strong>die</strong> Versorgung der dort e<strong>in</strong>gesetzten Spezialisten<br />

aus vielen Landern. Der Abbau erfolgt Tag und Nacht im Schichtbetrieb.<br />

Zwei Helikopter s<strong>in</strong>d permanent stationiert und befördern wöchentlich Frischgemüse<br />

von Mulia oder Beoga nach Tempagapura. E<strong>in</strong> gut ausgerüstetes Hospital,<br />

für Neugu<strong>in</strong>ea-Verhaltnisse geradezu luxuriöse Unterkünfte und e<strong>in</strong>e Kant<strong>in</strong>e mit<br />

allem erdenklichen Angebot, selbstverstandlich gratis und rund um <strong>die</strong> Uhr geöffnet,<br />

soll mithelfen, das höllische Klima - jeden Tag acht Stunden Regen - und<br />

<strong>die</strong> furchtbare Isolation besser zu ertragen.<br />

AnlaBlich e<strong>in</strong>es Erkundungsfluges entdeckte Wissel im Gebiet der Seen westlich<br />

des Gebirges e<strong>in</strong>e groBe Population Ure<strong>in</strong>wohner, <strong>die</strong> man heute Ekagi oder - wie<br />

es ihre südlichen Nachbarn tun - Kapaukas nennt. Colijn legte e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Wörterbuch<br />

über <strong>die</strong> Sprache der E<strong>in</strong>geborenen auf der Südseite des Gebirges an, wodurch<br />

es offenkundig wurde, daB sie zur Sprachgruppe der Uhundunis (Damal) gehörten.<br />

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden mehrere mit „Airstrips" versehene Missionsstationen<br />

<strong>in</strong>nerhalb von 100 Kilometer Distanz zu den Gletschern eröffnet: Ilaga<br />

im Osten, Beoga und Hitalipa im Norden und schlieBlich Bilae im Nordwesten.<br />

Diese Entwicklung erneuerte das Interesse der Bergsteiger an den unberührten Gipfeln.<br />

Im Jahre 1961 gelang es e<strong>in</strong>er neuseelandischen Expedition, vom 70 Kilometer<br />

entfernten Ilaga aus, den E<strong>in</strong>geborenenpfaden folgend, e<strong>in</strong>e Route zum Gebirge<br />

zu f<strong>in</strong>den. E<strong>in</strong> MiBgeschick beim Verpflegungsabwurf verh<strong>in</strong>derte e<strong>in</strong>e Besteigung<br />

der Gipfel. Phil Temple, e<strong>in</strong> Mitglied der Expedition, kehrte noch zweimal<br />

zurück. Er führte im Jahre 1962 <strong>die</strong> Expedition von He<strong>in</strong>rich Harrer auf der von<br />

ihm e<strong>in</strong> Jahr zuvor erkundeten Route bis zum Kemabu-Plateau. Mit 120 Tragern<br />

und Unterstützung aus der Luft (Lebensmittelabwurf) brachen sie <strong>in</strong> Ilaga auf und<br />

erreichten nach fünftagigem Marsch ihr Basislager im Ijomba-Becken. E<strong>in</strong>en<br />

GroBteil der Trager schickten sie von dort <strong>in</strong> ihre Dörfer. So blieben für den entscheidenden<br />

VorstoB noch <strong>die</strong> vier „Tuans", He<strong>in</strong>rich Harrer, der Leiter des Unternehmens,<br />

Phil Temple, Russel Kippax, e<strong>in</strong> junger australischer Mediz<strong>in</strong>student,<br />

der Hollander Bert Huizenga und 17 <strong>Papua</strong>s übrig.<br />

Zuerst g<strong>in</strong>g es entlang des Lake Discovery. Es folgte e<strong>in</strong> kurzer Anstieg, der sie<br />

über <strong>die</strong> Baumgrenze h<strong>in</strong>ausführte, immer <strong>in</strong> direkter L<strong>in</strong>ie auf den westlichen Teil<br />

der Nordwandmauer zu. Auf Grund der Aufzeichnungen und Bilder der hollandischen<br />

Expedition des Jahres 1936 muBten sie annehmen, entlang des Nordwalls<br />

e<strong>in</strong>e geschlossene Gletscherdecke vorzuf<strong>in</strong>den. Bei der Suche nach der günstigsten<br />

Aufstiegsroute entdeckte Harrer, als er über e<strong>in</strong> Band h<strong>in</strong>ausquerte, weiter östlich<br />

e<strong>in</strong>en eisfreien PaB. Die Überraschung und <strong>die</strong> Freude darüber waren groB, denn<br />

der „NeuseelandpaB", wie sie ihn nannten, erwies sich auch für <strong>die</strong> gebirgsunerfahrenen<br />

„Dani" als begehbar. Damit war der Weg <strong>in</strong> das hufeisenförmige Innere des<br />

Gebirges f rei. Sie hatten den Durchbruch von Norden geschafft und konnten ihr<br />

nachstes Lager an e<strong>in</strong>em der türkisfarbenen Seen des Meren-Tales aufschlagen.<br />

Die folgenden Tage verbrachten sie mit der Erkundung der Gletscher. Dabei stellten<br />

sie mit Staunen deren enormen Rückgang <strong>in</strong> den letzten 25 Jahren fest. Die Expedition<br />

hielt sich mehrere Wochen im Carstensz-Gebirge auf - mit groBem Erfolg.<br />

Es gelang ihnen, alle wesentlichen Gipfel zu ersteigen - bis auf e<strong>in</strong>en sogar<br />

141


Die Erschliefiung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

alle erstmals. Der Höhepunkt war sicherlich <strong>die</strong> erfolgreiche Bezw<strong>in</strong>gung der Pyramide,<br />

<strong>die</strong> auch <strong>in</strong> bergsteigerischer H<strong>in</strong>sicht Ansprüche erfüllte. E<strong>in</strong> Berg, der <strong>in</strong><br />

se<strong>in</strong>er bizarren Schönheit den Erstbegeher der Eigernordwand zum Schwarmen<br />

verführte: „Als wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong> moosiges Tal kamen, stand schmal, elegant und majestatisch<br />

schön <strong>die</strong> Carstensz-Pyramide im Osten vor uns <strong>in</strong> der Sonne. Morgennebel<br />

umspielten Fels und Eis. Ohne Zögern würde ich <strong>die</strong>sen wunderbaren Berg zu den<br />

schönsten der Welt zahlen, und nun, da wir ihn von Westen sahen, begriff ich<br />

auch, warum man ihn Pyramide genannt hat. Er ist e<strong>in</strong>e Pyramide von makelloser<br />

Schönheit."<br />

Die Besteigung über den Ostgrat war „gefahrlich wie e<strong>in</strong>e W<strong>in</strong>terbegehung <strong>in</strong> den<br />

Alpen". Mehrmals muflten sie, Pfeiler umgehend, <strong>in</strong> <strong>die</strong> Nord- und Südwande ausweichen,<br />

ehe sie nach acht Stunden den breken Schneegipfel betraten.<br />

Die Besteigung war schön, schreibt Harrer: „Aber der Berg hat uns nichts erspart.<br />

Der Schwierigkeitsgrad lag etwa bei IV und, alles zusammengefaBt, hatte <strong>die</strong> Tour<br />

<strong>die</strong> typischen Merkmale e<strong>in</strong>er klassischen Erstbesteigung, wie es sie <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Art<br />

auf der Welt kaum noch gibt."<br />

Wahrend ihres langen Aufenthaltes f<strong>in</strong>den Harrer wie auch Temple ke<strong>in</strong>erlei Spuren,<br />

<strong>die</strong> auf e<strong>in</strong>e frühere Anwesenheit von Menschen <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Region h<strong>in</strong>weisen.<br />

Es ist auch e<strong>in</strong>igermaBen verwirrend, daB beide ihre Trager immer als Dani bezeichnen,<br />

obwohl sie augensche<strong>in</strong>lich den Uhundunis zuzuordnen s<strong>in</strong>d. Die Bewohner<br />

Ilagas, aus denen Harrer se<strong>in</strong>e Trager rekrutierte, sche<strong>in</strong>en lediglich gute<br />

Ortskenntnisse im Bereich des östlichen Teils des Plateaus zu besitzen. Dort gibt es<br />

auch verschiedentlich Pfade, <strong>die</strong> kle<strong>in</strong>ere Jagdtrupps benutzen. Die „Dani" der<br />

Harrer-Expedition besaBen offensichtlich weder Kenntnis von der Mapala-Felshöhle,<br />

noch wuBten sie von der Route zu den Larson-Seen. Viel besser sche<strong>in</strong>en <strong>die</strong><br />

Damal mit der Gegend nördlich der Gletscher vertraut zu se<strong>in</strong>. Relativ haufig brechen<br />

kle<strong>in</strong>e Grappen aus Beoga auf, um am Kemabu-Plateau zu jagen oder ihre<br />

Verwandten, <strong>die</strong> Amume Damal <strong>in</strong> Waa, zu besuchen. Besitzanspruch aufs Plateau<br />

wird, soviel ich weiB, aber von ihnen nicht erhoben. Es sche<strong>in</strong>t frei zu se<strong>in</strong>.<br />

Nur <strong>die</strong> Gletscherregionen selbst und das Gebiet südlich davon wird von den Bewohnern<br />

des Dorfes Ts<strong>in</strong>ga als ihr traditionell verbürgter Besitz betrachtet. Damal<br />

waren es auch, <strong>die</strong> im Jahre 1964 <strong>die</strong> sogenannte Cendrawasih-(Para<strong>die</strong>svogel-)<br />

Expedition, e<strong>in</strong> <strong>in</strong>donesisches Militarteam mit japanischen Teilnehmern, auf ihnen<br />

bekannten Pfaden zu den Gletschern führten. Sie folgten dabei alten Handelsrouten<br />

zwischen Enarotali und Beoga. Beim Überqueren des Kemabu-Plateaus führten<br />

<strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen sie zu e<strong>in</strong>er Felshöhle <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Höhe von 3420 Meter am Ufer<br />

des Hogayuku-Sees, <strong>die</strong>, wie sie versicherten, schon von ihren Ahnen als Lagerplatz<br />

benutzt wurde.<br />

AnschlieBend traversierten sie, von Westen kommend, den Nordwall bis zum NeuseelandpaB<br />

und erstiegen auf bereits bekannter Route über den Meren-Gletscher<br />

den Gipfel des Ngga Pulu (4862 Meter).<br />

Alle hohen Gipfel waren seit der Harrer-Expedition zum<strong>in</strong>dest e<strong>in</strong>mal bestiegen<br />

- mit Ausnahme der Pyramide -, auf leichten Routen ohne klettertechnische<br />

Schwierigkeiten und zumeist über <strong>die</strong> Gletscher. Es war nur mehr e<strong>in</strong>e Frage der<br />

Zeit, bis man auch hier darang<strong>in</strong>g, <strong>die</strong> Wande zu versuchen.<br />

142


Gipfelsiege<br />

Re<strong>in</strong>hold Messner, <strong>die</strong>ser geniale Alp<strong>in</strong>ist, leitete duren se<strong>in</strong>e Initiative im Carstensz-Gebirge<br />

auch <strong>die</strong>se Phase e<strong>in</strong>. Vom Ausgangspunkt Ilaga erreichte er, zusammen<br />

mit Sergio Bigarella und e<strong>in</strong>er Handvoll Trager, nach wenigen Tagen<br />

Marsch den Lagerplatz am FuBe des Meren-Gletschers. Ohne Zeit zu verlieren,<br />

wandten sie sich ihrem ersten Ziel, der Pyramide, zu, <strong>die</strong> sie über den zerrissenen<br />

Ostgrat zum zweitenmal erstiegen. Schon wahrend des Anmarsches konnte Messner<br />

vom Plateau aus <strong>die</strong> unerstiegenen Wande der Nordwandmauer stu<strong>die</strong>ren, <strong>die</strong><br />

ihn stark an <strong>die</strong> Nordabstürze der Marmolata er<strong>in</strong>nerten. Doch nicht den höheren<br />

östlichsten Eckpfeiler des Nordwalls erwahlte er sich zum Ziel, sondern <strong>die</strong> Nordostwand<br />

des Puncak Sumantri (4810 Meter), den er irrtümlich für den Ngga Pulu<br />

hielt. Knappe sieben Stunden benötigte er für <strong>die</strong> Solo-Erstbegehung <strong>die</strong>ser 1000<br />

Meter hohen Kalkmauer, <strong>die</strong> er <strong>in</strong> der Schwierigkeit mit der Civetta-Nordwestwand<br />

verglich.<br />

lm Februar 1972 hielt sich e<strong>in</strong>e Indonesische Gruppe im Gebirge auf, das sie von<br />

Tempagapura aus über <strong>die</strong> Carstensz-Wiese erreichten. Sie bestiegen den Ngga Pulu,<br />

doch e<strong>in</strong> Versuch, auch <strong>die</strong> Pyramide zu erklettern, scheiterte.<br />

Neue bergsteigerische Impulse setzte D. Isherwood im Zuge der Hongkong-Expedition<br />

- noch im September desselben Jahres. Er erkletterte <strong>die</strong> Nordwand des<br />

Ngga Pulu erstmals und gleich im Alle<strong>in</strong>gang. Geme<strong>in</strong>sam mit se<strong>in</strong>en Kameraden<br />

Jack Ba<strong>in</strong>es und Leo Murray bestieg er auch <strong>die</strong> Pyramide über e<strong>in</strong>e neue Route <strong>in</strong><br />

direkter Gipfelfall<strong>in</strong>ie.<br />

Alle Gipfel im Bereich des Meren- und Carstensz-Gletschers konnten ebenfalls erstiegen<br />

werden.<br />

Der kalifornische Kletterer Bruce Carson eröffnete im November 1973 e<strong>in</strong>e neue<br />

Route durch den westlichen Teil der Nordwand und dem Westgrat zum Hauptgipfel<br />

der Pyramide.<br />

In den Jahren 1971 bis 1973 hielt sich e<strong>in</strong>e wissenschaftliche Expedition der Monash<br />

University Melbourne im Carstensz-Gebirge auf. Neben verschiedenen wissenschaftlichen<br />

Untersuchungen erfolgte auch e<strong>in</strong>e Neuvermessung der Gletscher<br />

und Gipfel. Demnach ist <strong>die</strong> Höhe der Carstensz-Pyramide nicht mehr 5030 Meter,<br />

sondern 4884 Meter, der Ngga Pulu 4862 Meter und der Puncak Sumantri 4808<br />

Meter.<br />

E<strong>in</strong> Jahr spater erreichte <strong>die</strong> deutsche Neugu<strong>in</strong>ea-Expedition vom bewahrten Ausgangspunkt<br />

Ilaga aus <strong>die</strong> Eisregionen. Dabei gelang es der Seilschaft Huber/Karasek,<br />

e<strong>in</strong>e neue Führe durch <strong>die</strong> Nordwand der Pyramide zu legen - östlich der<br />

Hongkongroute. Zwei weitere Teilnehmer, Kirner und Schreckenbach, wiederholten<br />

<strong>die</strong> Westgrat-Route des Amerikaners Carson. Geme<strong>in</strong>sam gelang ihnen <strong>die</strong> erste<br />

Überschreitung der vier Gipfel östlich des Neuseelandpasses (Wollaston Peak<br />

bis Puncak Sumantri) <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Zug.<br />

E<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es österreichisches Team, Wilhelm Rossi und Ludwig Hansen, versuchten<br />

im August 1976 erstmals e<strong>in</strong>e Annaherung von Nordwesten. Ausgangpunkt war<br />

das Dorf Bidogai. Nach drei Tagen erreichten sie das Tal des Kemabu, wo sich <strong>die</strong><br />

Pfade aus Ilaga und Beoga treffen. Der bereits bekannte weitere Weg führte entlang<br />

des Lake Discovery, dann über e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Pafi, h<strong>in</strong>unter zu den Larson-<br />

Seen am FuBe der Nordwandmauer. Rossi bestieg erstmals <strong>die</strong> Wand des Merion,<br />

143


Die Erschliefiung e<strong>in</strong>es Gebirges<br />

e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en Pfeiler westlich vom NeuseelandpaB. Beim Versuch, <strong>die</strong> Pyramide<br />

im Alle<strong>in</strong>gang zu bezw<strong>in</strong>gen, scheiterte er knapp unterhalb des Gipfels.<br />

E<strong>in</strong>e Besteigung des Ngga Pulu und der Ost-Carstensz-Spitze (4810 Meter) bei traditionell<br />

schlechtem Wetter bildete den AbschluB der Kle<strong>in</strong>expedition.<br />

E<strong>in</strong>e <strong>in</strong>teressante Alternative bot ihr Rückweg, der teilweise der alten Nord-Süd-<br />

Verb<strong>in</strong>dung Erzbergm<strong>in</strong>e (Waa) - Bakopa-PaB - Ugimba folgte. Mehrmals fanden<br />

sie nach Moni-Art aufgebahrte Leichen. Das lieB auf e<strong>in</strong>e relativ groBe Frequentierung<br />

<strong>die</strong>ses Pfades schlieBen. Die guten Ortskenntnisse ihrer Trager deuten<br />

darauf h<strong>in</strong>, daB <strong>die</strong> Moni den westlichen Teil des Plateaus als ihr Jagdrevier beanspruchen.<br />

Zwei Jahre spater gelang es dem erfahrenen britischen Alp<strong>in</strong>isten Peter Boardman,<br />

geme<strong>in</strong>sam mit se<strong>in</strong>er Frau Hilary, nach groBen Schwierigkeiten mit den <strong>in</strong>donesischen<br />

Behörden illegal von Bilorai aus das Carstensz-Gebirge zu erreichen. Nach<br />

Überschreiten des Bakopa-Passes wurden sie zwar von <strong>in</strong>donesischen Polizisten<br />

der nahegelegenen Erzbergm<strong>in</strong>e entdeckt und angehalten, aber trotz fehlender Genehmigung<br />

nicht am Weitermarsch geh<strong>in</strong>dert. Ihre e<strong>in</strong>geborenen Moni-Trager<br />

durften sie sogar von Tempagapura aus mit Nahrungsmitteln versorgen. Auf<br />

Grund der von Bruce Carson geauBerten Vermutung, daB <strong>die</strong> Scharte zwischen<br />

Wollaston Peak und Pyramide-Ostgrat e<strong>in</strong>en möglichen Zustieg zur Südflanke biete,<br />

wandten sie sich, ohne Zeit zu verlieren, dem groBen Ziel zu. An e<strong>in</strong>em e<strong>in</strong>zigen<br />

Tag und bei üblichem Schlechtwetter (Boardman konnte e<strong>in</strong> paar Sekunden lang<br />

<strong>die</strong> Arafura-See sehen) gelang ihnen <strong>die</strong> erste Süd-Nord-Überschreitung der Pyramide.<br />

Die Abstiegsroute folgte im wesentlichen e<strong>in</strong>em Felsband, das sich vom Grat<br />

bis unmittelbar zum Wandfufi über dem Meren-Tal zieht.<br />

E<strong>in</strong> zweites Mal betraten Peter und Hilary Boardman alp<strong>in</strong>es Neuland, als sie den<br />

ersten markanten Felspfeiler westlich des Neuseelandpasses zu e<strong>in</strong>em der Dugundugugipfel<br />

erkletterten.<br />

In den ersten Jannertagen des Jahres 1979 gesellten sich <strong>die</strong> beiden französischen<br />

Bergsteiger Jean Fabre und Bernard Domenech zu ihnen. Geme<strong>in</strong>sam erstiegen sie<br />

<strong>die</strong> Gipfel des Ngga Pulu und Puncak Sumantri über den Meren-Gletscher.<br />

Nach rund siebzig Jahren bergsteigerischer Aktivitat im Carstensz-Gebirge s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

Möglichkeiten, „Neuland" zu betreten, noch lange nicht erschöpft. Alle<strong>in</strong> <strong>in</strong> der<br />

Nordwand der Pyramide waren noch e<strong>in</strong>ige Führen <strong>in</strong> den oberen Schwierigkeitsgraden<br />

zu legen, auch der untere Teil des Westgrates ist noch nicht begangen. Vor<br />

allem e<strong>in</strong>e direkte Route durch <strong>die</strong> erst e<strong>in</strong>mal bezwungene Südflanke müBte e<strong>in</strong><br />

lohnendes Ziel se<strong>in</strong>. Fast alle Wande westlich des Neuseelandpasses, mit Ausnahme<br />

des ersten Pfeilers (Boardman) und des Merion (Rossi), s<strong>in</strong>d noch unerstiegen.<br />

Die östlichen zwei Eckpfeiler - <strong>die</strong> Nordwande des Ngga Pulu und Puncak Sumantri<br />

- s<strong>in</strong>d zwar e<strong>in</strong>mal erklettert (Messner bzw. Isherwood), aber auch hier<br />

warten noch schwierige Touren, vor allem der geschlossene westliche Teil der Ngga<br />

Pulu Nordwand dürfte e<strong>in</strong> groBes Problem darstellen. Zuletzt sei noch der Mt.<br />

Idenburg erwahnt, dessen Besteigung nach Harrers Erstbegehung bis heute ke<strong>in</strong>e<br />

Wiederholung f and!<br />

144


Carstensz-Tagebuch<br />

/. September 1980 Letzte Vorbereitungen <strong>in</strong> Sentani<br />

SchweifldurchnaBt und der Verzweiflung nahe sitze ich im Polizeibüro von Jayapura.<br />

Morgen soll ich mit e<strong>in</strong>er Masch<strong>in</strong>e der Mission Aviation Fellowship (MAF)<br />

nach Ilaga geflogen werden, um von dort aus den Marsen <strong>in</strong>s Carstensz-Gebirge <strong>in</strong><br />

Angriff zu nehmen. Doch was mich daran h<strong>in</strong>dert, ist das unüberhörbare „No" jenes<br />

kle<strong>in</strong>en, stets freundlich lachelnden Mannes <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er braunen Uniform.<br />

„Ilaga is closed - Puncak Jaya (<strong>in</strong>donesischer Name für das Carstensz-Gebirge) is<br />

closed", höre ich immer wieder an <strong>die</strong>sem Tag. Die <strong>in</strong>donesischen Behörden sche<strong>in</strong>en<br />

Bergsteiger wohl für so etwas Ahnliches wie Spione zu halten. Gegen <strong>die</strong> Bürokratie<br />

ist nicht anzukommen. Resigniert ziehe ich wieder ab. Ich kann es nicht<br />

glauben; sollte ich zum zweitenmal <strong>die</strong> weite Reise nach Neugu<strong>in</strong>ea unternommen<br />

haben und nun so nahe am Ziel wieder umkehren mussen? Nun ist guter Rat teuer.<br />

Durch e<strong>in</strong>en glücklichen Zufall lerne ich Mei Richter kennen, der als Techniker bei<br />

der MAF beschaftigt ist und dabei e<strong>in</strong>em nicht alMglichen Hobby nachgeht. Er<br />

verbr<strong>in</strong>gt se<strong>in</strong>e Freizeit damit, abgestürzte Flugzeuge ausf<strong>in</strong>dig zu machen, an sie<br />

heranzukommen und sie eventuell auszuschlachten. Daher ist er mit der Gegend<br />

rund ums Carstensz-Gebirge gut vertraut. Als ich ihm von me<strong>in</strong>en Absichten und<br />

den Schwierigkeiten bei der Durchführung erzahle, rat er mir, ich solle es doch von<br />

Beoga aus versuchen. Beoga? frage ich erstaunt - noch nie gehort! Auf Grund<br />

der Berichte me<strong>in</strong>er Vorganger weiB ich, daB noch niemals e<strong>in</strong>e Annaherung von<br />

Beoga aus versucht worden ist. E<strong>in</strong> Bliek auf <strong>die</strong> Karte enthüllt auch den Grund:<br />

Beoga liegt zweifelsohne von den Eisgipfeln weiter entfernt als etwa Ilaga oder Bilorai,<br />

ja sogar weiter als Enarotali. Wahrend man von den genannten Dörfern aus<br />

schon <strong>in</strong> e<strong>in</strong> bis zwei Tagen das 3500 Meter hohe Hochplateau erreichen kann, liegen<br />

zwischen Beoga und dem Plateau mehrere hohe Bergrücken. AuBerdem führt<br />

der Anmarsch durch unbewohntes Gebiet. Das bedeutet: es gibt ke<strong>in</strong>e Pfade, ke<strong>in</strong>e<br />

Brücken über <strong>die</strong> Flüsse und ke<strong>in</strong>e Möglichkeit, sich aus dem Land zu verpflegen.<br />

Aber es ist immerh<strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Chance, vielleicht me<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige und letzte. Ich glaube<br />

mich sogar zu er<strong>in</strong>nern, daB es nicht zu jenen Orten gehort, <strong>die</strong> mir <strong>die</strong> <strong>in</strong>donesische<br />

Polizei als gesperrt nannte. Aber wie um alles <strong>in</strong> der Welt sollte ich dorth<strong>in</strong><br />

kommen? Von Mei erfahre ich, daB Beoga e<strong>in</strong>en kle<strong>in</strong>en, von den Piloten gefürchteten<br />

Airstrip besitzt, der nur selten angeflogen wird.<br />

„Ich kann versuchen, Jerry Latimer <strong>in</strong> Mulia anzufunken und zu fragen, ob er<br />

dich nach Beoga fliegt. Der nachste Flug von Sentani nach Mulia ist <strong>in</strong> zwei Tagen."<br />

Das alles kl<strong>in</strong>gt wie Musik <strong>in</strong> me<strong>in</strong>en Ohren. Nun b<strong>in</strong> ich wieder im Guest<br />

House, aber me<strong>in</strong>e Gedanken kreisen um das Carstensz-Gebirge - sollte das<br />

Schicksal es doch noch gut mit mir me<strong>in</strong>en?<br />

2. September<br />

An <strong>die</strong>sem Morgen b<strong>in</strong> ich schon früh unterwegs. Mit Mei Richters Puch-Motorrad,<br />

das <strong>die</strong> Hollander zurückliefien, fahre ich das 35 Kilometer lange StraBen-<br />

145


Carstensz- Tagebuch<br />

stück von Sentani nach Jayapura. Die Wachtposten am E<strong>in</strong>gang zur Polizeistation<br />

begrüBen mich wie e<strong>in</strong>en alten Bekannten, Sie f<strong>in</strong>den es nicht e<strong>in</strong>mal mehr der Mühe<br />

wert, me<strong>in</strong>en Besuch <strong>in</strong>s Gastebuch e<strong>in</strong>zutragen. lm Zimmer des <strong>die</strong>nsthabenden<br />

Offiziers erwartet mich e<strong>in</strong>e Überraschung. Am Schreibtisch von Leutnant<br />

Bambang sitzt e<strong>in</strong> WeiBer, Fritz Lasser, e<strong>in</strong> österreichischer Landsmann, wie sich<br />

bald herausstellt. Die Freude über das ungewöhnliche Zusammentreffen ist groB.<br />

Als ich ihm von me<strong>in</strong>en Absichten erzahle, das Carstensz-Gebirge von Beoga aus<br />

anzugehen, ist er Feuer und Flamme. Spontan frage ich ihn, ob er nicht mitkommen<br />

wolle, und genauso spontan entscheidet er sich, mich zu begleiten. Spat, aber<br />

doch habe ich e<strong>in</strong>en Kameraden gefunden.<br />

Leutnant Bambang, der unsere <strong>in</strong> deutscher Sprache geführte Unterhaltung nicht<br />

verstehen konnte, ist nicht m<strong>in</strong>der erstaunt, als ich ihm erklare, daB wir beide nach<br />

Beoga wollen.<br />

„Nur nach Beoga?", fragt er mifitrauisch, wahrend se<strong>in</strong> Bliek prüfend über <strong>die</strong> Liste<br />

der gesperrten Dörfer gleitet.<br />

„Nur nach Beoga", stelle ich fest und bemühe mich, dabei e<strong>in</strong>e möglichst gleichgültige<br />

Miene aufzusetzen. Plötzlich erhebt er sich von se<strong>in</strong>em Stuhl und betritt das<br />

H<strong>in</strong>terzimmer. M<strong>in</strong>uten vergehen, M<strong>in</strong>uten der knisternden Spannung, <strong>die</strong> für uns<br />

zu e<strong>in</strong>er Ewigkeit werden. Doch dann ersche<strong>in</strong>t er mit zwei Schriftstücken <strong>in</strong> der<br />

Hand, mit der für uns so wichtigen „Surat Jalan".<br />

Halb im Weggehen horen wir noch se<strong>in</strong>e deutliche Warnung, wir sollten uns ja<br />

nicht e<strong>in</strong>fallen lassen, zum Carstensz-Gebirge oder <strong>in</strong> e<strong>in</strong>es der verbotenen Dörfer<br />

zu marschieren. E<strong>in</strong>e Aufforderung, der ich freilich nicht zu entsprechen gedenke.<br />

Denn würden wir e<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Beoga se<strong>in</strong>, könnte uns nichts mehr aufhalten. Dort<br />

endet <strong>die</strong> Macht der <strong>in</strong>donesischen Verwaltung, ist es endlich vorbei mit der verdammten<br />

Bürokratie. lm Urwald gelten andere Gesetze, hier herrschen <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s,<br />

und mit ihnen würden wir schon zurechtkommen. Das Tor zum Carstensz-<br />

Gebirge ist of f en! Gutgelaunt treten wir aus der Polizeistation h<strong>in</strong>aus auf <strong>die</strong> be<strong>in</strong>ahe<br />

javanisch bevölkerte HauptstraBe von Jayapura. Fritz freut sich, daB er nun<br />

se<strong>in</strong> schmutzig-schwüles Zimmer mit dem sauberen MAF Guest-House im klimatisch<br />

etwas angenehmeren Sentani vertauschen kann. E<strong>in</strong> Komfort, den ich schon<br />

im Vorjahr zu schatzen gelernt habe. Damals fand ich ke<strong>in</strong> anderes Mittel, um der<br />

feuchten Hitze und den Moskitos zu entkommen, als <strong>die</strong> Nachte anstatt im Bett im<br />

wassergefüllten Betonbecken des Waschraumes zuzubr<strong>in</strong>gen.<br />

Die Organisation klappt weiterh<strong>in</strong> vorzüglich. Dank Mels Hilfe kommen wir morgen<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e nach Mulia, dort wird uns Jerry Latimer erwarten und nach<br />

Beoga weiterfliegen.<br />

Aber bis dah<strong>in</strong> gibt es noch viel zu tun. Unser gröfites Sorgenk<strong>in</strong>d ist <strong>die</strong> Ausrüstung.<br />

Da Fritz eigentlich <strong>in</strong>s Baliem Tal wollte, hat er praktisch ke<strong>in</strong>e alp<strong>in</strong>e Ausrüstung<br />

dabei. Me<strong>in</strong>e umfaBt nur das Allernotwendigste, nur das, was ich auf me<strong>in</strong>er<br />

monatelangen Reise durch <strong>die</strong> Südsee mitschleppen konnte. Wieder steht uns<br />

Mei hilfreich zur Seite. Wahrend wir <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em ch<strong>in</strong>esischen Laden Verpflegung besorgen,<br />

fertigt er <strong>in</strong> der MAF-eigenen Werkstatt e<strong>in</strong>en „Eispickel". E<strong>in</strong> Hanfseil<br />

wird im Lager gefunden, zwei Rucksacke für <strong>die</strong> Trager und und e<strong>in</strong> Paar Motorradhandschuhe<br />

können von Bekannten organisiert werden. Alles <strong>in</strong> allem ist unse-<br />

146


In vier Wochen komme ich wieder...<br />

re „Bergausrüstung" mehr als primitiv, den ste<strong>in</strong>zeitlichen VerhSltnissen der Insel<br />

vollkommen angepaBt.<br />

Unser Gepack kann sich sehen lassen, trotz groBer Mühe br<strong>in</strong>gen wir nicht mehr<br />

als <strong>in</strong>sgesamt sechzig Kilogramm zustande. Damit ist uns schon jetzt e<strong>in</strong> Rekord sicher;<br />

wir haben im Vergleich zu allen bisherigen Expeditionen bestimmt das leichteste<br />

Gepack. Obwohl ich ahne, da!3 mir das gröBte Abenteuer me<strong>in</strong>es Lebens unmittelbar<br />

bevorsteht, schlafe ich <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Nacht tief und fest.<br />

3. September Flug von Sentani nach Beoga<br />

Um sechs Uhr früh - <strong>die</strong> Pünktlichkeit <strong>in</strong> Re<strong>in</strong>kultur - hebt <strong>die</strong> Air Commander<br />

vom Flughafen Sentani ab und steuert kühleren Regionen entgegen. Die Route<br />

führt über den westlichen Teil der Seenplatte, wo sich <strong>die</strong> machtigen Wasserströme<br />

des Idenburg, Rouffaer und Memberamo treffen. Die vielen kle<strong>in</strong>en Seen und versteckten<br />

Tümpel ersche<strong>in</strong>en wie <strong>die</strong> Inse<strong>in</strong> im unendlichen Meer des Dschungels.<br />

Das Wetter ist prachtig, und <strong>die</strong> relativ ger<strong>in</strong>ge Flughöhe gewahrt atemberaubende<br />

Tiefblicke. Aber sobald wir uns den Bergen nahern, tauchen massive Wolkenbanke<br />

auf, <strong>die</strong> sich zunehmend am Horizont verdichten. Geschickt weicht der Pilot<br />

der Gefahr aus, überfliegt e<strong>in</strong>ige Bergrücken mit tief e<strong>in</strong>geschnittenen Talern und<br />

lenkt <strong>die</strong> Masch<strong>in</strong>e sicher <strong>in</strong> das Tal von Mulia.<br />

Dort erwartet uns Jerry Latimer schon voller Ungeduld. Er befürchtet Schlechtwetter.<br />

In W<strong>in</strong>deseile wird unser Gepack umgeladen. M<strong>in</strong>uten spater rollt <strong>die</strong> Cessna<br />

den Hang h<strong>in</strong>unter, wird schneller und schneller, bis sie sich leicht wie e<strong>in</strong> Vogel<br />

aus dem Tal hochschw<strong>in</strong>gt. Der Flug ist groBartig!<br />

Wir folgen engen Talkomb<strong>in</strong>ationen, an deren steilen Hangen w<strong>in</strong>zige Dörfer kleben;<br />

etwas spater gleiten wir wieder über Bergrücken h<strong>in</strong>weg, <strong>in</strong> so ger<strong>in</strong>ger Höhe,<br />

dafl ich fürchte, wir würden <strong>die</strong> Baumwipfel streifen. Von den Eisgipfeln ist nichts<br />

zu sehen, sie s<strong>in</strong>d wie gewöhnlich h<strong>in</strong>ter e<strong>in</strong>er dicken Wolkenbank verborgen. Als<br />

wir über dem Airstrip von Beoga kreisen, sehen wir, daB sich e<strong>in</strong>e grofle Menschenmenge<br />

zu unserem Empfang versammelt hat. Scharenweise umr<strong>in</strong>gen uns <strong>die</strong><br />

Damal, E<strong>in</strong>geborene <strong>die</strong>ser Gegend, und bilden e<strong>in</strong> dichtes Spalier, als wir unsere<br />

Rucksacke zum Rand des Flugfeldes schleppen.<br />

„In drei bis vier Wochen komme ich wieder e<strong>in</strong>mal vorbei, bis dah<strong>in</strong> viel Glück",<br />

s<strong>in</strong>d Jerrys Worte, bevor er endgültig davonschwebt. Wir blieken ihm noch lange<br />

nach, bis er mit se<strong>in</strong>er Cessna h<strong>in</strong>ter den urwaldbedeckten Bergen verschw<strong>in</strong>det.<br />

Die Damal haben unseren Lagerplatz e<strong>in</strong>gekreist und gehen ihrer Hauptbeschaftigung<br />

nach, dem Schauen. Zurückhaltung ist ihnen, Mannern wie Frauen, fremd.<br />

Ob wir drauBen herumlaufen, kochen, im Zelt sitzen oder liegen, sie stehen scharenweise<br />

herum. Wenngleich ich mich manchmal wie e<strong>in</strong> seltenes Tier im Zoo fühle,<br />

kann ich ihnen ihr Verhalten nicht verübeln. Im Pr<strong>in</strong>zip tun wir auch nichts anderes.<br />

Auch wir <strong>in</strong>teressieren uns für ihre Lebensgewohnheiten, ihre Riten und<br />

Brauche. Je fremdartiger <strong>die</strong>se s<strong>in</strong>d, um so neugieriger s<strong>in</strong>d wir. BloB mit dem Unterschied,<br />

daB wir <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Fall <strong>in</strong> der M<strong>in</strong>derzahl s<strong>in</strong>d. Aber wie oft habe ich <strong>in</strong><br />

anderen Landern beobachtet, wie weiBe Touristen <strong>in</strong> Scharen über E<strong>in</strong>geborenendörfer<br />

herfielen, um ihre Neugier und Fotografierlust zu befriedigen und dabei viel<br />

gröBere Respektlosigkeit zeigten als <strong>die</strong>se sogenannten „Wilden".<br />

147


Carstensz- Tagebuch<br />

Die Damal s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Stammesgruppe. Ihr Kernland ist das Gebiet um das<br />

Beoga-Tal, ihre westlichen Nachbarn s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Moni, und im Südosten grenzt ihr<br />

Territorium an das Stammesgebiet der Dani, <strong>die</strong> im Kessel von Ilaga leben. Wie alle<br />

Bergvölker Irian Jayas haben auch sie ihre eigene Spracbe. Da ke<strong>in</strong>er von uns<br />

<strong>die</strong>sen Dialekt beherrscht, gibt es zwangslaufig Miliverstandnisse. Sie s<strong>in</strong>d aber<br />

eher heiterer als ernster Natur.<br />

Ihr besonderes Interesse erweckt unser Zelt. Als ich <strong>die</strong>s bemerke, kann ich es mir<br />

nicht verkneifen, ihnen zu erklaren, dafi es sich dabei um e<strong>in</strong> „Mannerhaus für<br />

WeiBe" handle, das ich ihnen nur darm zeigen könne, wenn ke<strong>in</strong>e Frau <strong>in</strong> der Nahe<br />

ist. Doch schon im nachsten Augenblick bereue ich <strong>die</strong>se AuBerung. Zwar mussen<br />

Frauen das Feld zahneknirschend raumen, aber bei den Mannern ist der letzte Rest<br />

von Zurückhaltung verschwunden. Sie s<strong>in</strong>d nicht mehr zur Ruhe zu br<strong>in</strong>gen, der<br />

Kreis um unser Zelt zieht sich immer enger zusammen, so daB wir fürchten, von<br />

den dunklen Menschenleibern erdrückt zu werden. Mir bleibt nur mehr <strong>die</strong> Flucht<br />

nach vorne. Ich öffne <strong>die</strong> Zelte<strong>in</strong>gange, packe <strong>die</strong> Rucksacke aus und verstreue e<strong>in</strong><br />

paar Gegenstande <strong>in</strong> der Umgebung. Zuletzt lade ich noch zwei der Dorfhonoratioren<br />

e<strong>in</strong>, <strong>in</strong> unserem „Mannerhaus" Platz zu nehmen.<br />

Nachdem wir uns durch derlei Spafie und diverse Gastgeschenke bestens e<strong>in</strong>geführt<br />

haben, sehe ich den Augenblick gekommen, unsere Absichten kundzutun. „Dugundugu,<br />

Puncak Jaya, Tembagapura dimana?" frage ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Gemisch aus<br />

Dani und Indonesisch. Wie auf e<strong>in</strong> Kommando deuten sie mit ausgestreckten Armen<br />

über dschungelbewachsene Berge tale<strong>in</strong>warts. Dort also ist Südwesten. Dort<br />

liegt das Carstensz-Gebirge.<br />

Als ich daraufh<strong>in</strong> versuche, e<strong>in</strong> paar der kraftigsten Manner als Trager anzuheuern,<br />

herrscht betretenes Schweigen. Ihre Gesichter werden ernst und verschlossen.<br />

Wie überall auf der Welt ist es auch <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea nicht e<strong>in</strong>fach, Trager zu f<strong>in</strong>den.<br />

Stundenlang gehe ich von Hütte zu Hütte, bis ich endlich vier Trager verpflichtet<br />

habe. Was von ihrer VerlaBlichkeit zu halten ist, werden wir morgen wissen,<br />

denn dann soll es losgehen. Aber <strong>in</strong> Neugu<strong>in</strong>ea laufen <strong>die</strong> Uhren langsamer,<br />

herrscht e<strong>in</strong> anderes Tempo, hier ïaflt sich nichts erzw<strong>in</strong>gen. Wer se<strong>in</strong> Ziel erreichen<br />

will, ist gut beraten, sich <strong>in</strong> Geduld zu wappnen.<br />

4. September Beoga<br />

Schon <strong>in</strong> aller Frühe herrscht groBe Aufregung unter den <strong>Papua</strong>s. Sie umlagern<br />

unser Zelt, schnattern und machen entsetzlichen Larm. Tatsadilich treffen sie<br />

ernstlich Marschvorbereitungen. Frauen schleppen prallgefüllte Netze voll Bataten,<br />

Maiskolben, Gurken und Tomaten herbei. Zwei unserer Trager s<strong>in</strong>d damit beschaftigt,<br />

<strong>die</strong> Verpflegung an vier grimmig aussehende Krieger zu verteilen. Alle<br />

haben ihre Pfeile und Bogen aus den Hutten hervorgeholt, ohne <strong>die</strong> sich ke<strong>in</strong> Damal<br />

auBerhalb se<strong>in</strong>er Stammesgrenzen wagen würde. Es sei zwar im Moment ke<strong>in</strong>e<br />

Fehde im Gange, wie sie mir versichern, aber so ganz sche<strong>in</strong>en sie dem Frieden<br />

doch nicht zu trauen. E<strong>in</strong>e Stahlaxt, e<strong>in</strong> Knochenmesser und <strong>die</strong> notwendige<br />

Feuersage komplettieren ihr „Reisegepack".<br />

Als sich unsere Kolonne <strong>in</strong> Bewegung setzt, haben wir nicht vier, sondern zwanzig<br />

Trager. Die e<strong>in</strong>zigen, <strong>die</strong> ke<strong>in</strong>e Lasten tragen, s<strong>in</strong>d jene vier Manner, <strong>die</strong> ich ge-<br />

148


Schwerarbeiter im Dschungel<br />

stern abend angeworben habe. Jeder von ihnen hat sich se<strong>in</strong>en eigenen Batatentrager<br />

organisiert, und <strong>die</strong> Rucksacke, <strong>die</strong> wir ihnen auf den Rücken schnallen, wandern<br />

nun von e<strong>in</strong>em Verwandten zum anderen. Sogar e<strong>in</strong>ige Frauen folgen am Ende<br />

des Zuges.<br />

Wir bewegen uns <strong>in</strong> südwestlicher Richtung, entlang des Beu-Flusses, der nach etwa<br />

e<strong>in</strong>er Marschstunde scharf nach Süden abbiegt. Der kaum erkennbare Pfad nahert<br />

sich immer mehr dem FluBbett und damit auch der tiefen Schlucht, <strong>die</strong> er sich<br />

im Laufe der Zeit gegraben hat. Die E<strong>in</strong>geborenen schlagen trotz der schweren Lasten<br />

e<strong>in</strong> solches Tempo an, dafi wir nicht nur wegen des morastigen Terra<strong>in</strong>s bald<br />

klatschnafi s<strong>in</strong>d. Über e<strong>in</strong>e steile Böschung führen sie uns zum Beu h<strong>in</strong>unter. Wahrend<br />

<strong>die</strong> Damal leichtfüöig und elegant über schlüpfrig gewordene, bemooste<br />

Kalkabbrüche <strong>in</strong> <strong>die</strong> Tiefe turnen, folgen wir ihnen buchstablich auf allen vieren.<br />

Kaum s<strong>in</strong>d wir atemr<strong>in</strong>gend am FluBufer angekommen, zeigen sie uns lachend <strong>die</strong><br />

Überreste der weggespülten Lianenbrücke. E<strong>in</strong>e neue zu bauen ist zu zeitraubend,<br />

auch ist das Bett an <strong>die</strong>ser Stelle zu breit, um e<strong>in</strong>en Baumstamm h<strong>in</strong>überzuschlagen.<br />

Was bleibt uns also anderes übrig, als <strong>die</strong> steile Böschung wieder hochzuklettern<br />

und es an e<strong>in</strong>er anderen Stelle zu probieren. Nach e<strong>in</strong>er guten Stunde Kletterei<br />

entlang des Uferdickichts f<strong>in</strong>den wir e<strong>in</strong>e „schwache" Stelle. Schon beim ersten<br />

Versuch gel<strong>in</strong>gt es den E<strong>in</strong>geborenen, e<strong>in</strong>en machtigen Baum zu fallen, dessen<br />

Krone unter Jubelgeschrei am gegenüberliegenden Ufer aufschlagt. Zwei Lianenstrange<br />

bilden das Gelander und machen <strong>die</strong> „Brücke" auch für uns begehbar.<br />

Der Weiterweg laBt sich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Satz zusammenfassen: Entweder wir mussen<br />

durch <strong>die</strong> hüfttiefen, schlammigbraunen Fluten des Beu waten, oder wir hacken<br />

uns den Weg entlang der abschüssigen Uferböschung frei. Manchmal haben wir<br />

sogar beide Gelandeformen zugleich. Namlich dann, wenn der Urwald weit über<br />

das Ufer greift und e<strong>in</strong> Ausweichen zur Fluflmitte h<strong>in</strong> wegen der starken Strömung<br />

nicht möglich ist. Zwei Stunden geht das so. Aber dann ist es geschafft.<br />

Wir haben den Flufi verlassen, s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>en Bergrücken hochgestiegen und f<strong>in</strong>den <strong>in</strong><br />

2000 Meter Höhe e<strong>in</strong>en idealen Lagerplatz. Die halbverfallene Hütte <strong>in</strong>mitten der<br />

kle<strong>in</strong>en Rodung zeugt davon, daJJ hier e<strong>in</strong>st Menschen lagerten. Wo immer sich<br />

Bergpapuas niederlassen, bauen sie solche Hutten, und sei es auch nur für e<strong>in</strong>e<br />

kurze Rast.<br />

Eigentlich wollen wir hier nur rasten, es ist noch früh am Nachmittag, aber <strong>die</strong><br />

fünf Stunden „Schwerarbeit" im Dschungel haben unsere Krafte aufgebraucht. Erschöpft<br />

lassen wir uns <strong>in</strong>s Gras fallen.<br />

Ganz anders <strong>die</strong> Damal. Blitzschnell entledigen sich sich der Lasten, ergreifen Pfeile,<br />

Bogen, Axte, und schon laufen sie wieder schreiend <strong>in</strong> den Urwald h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>.<br />

Dumpfe Axthiebe und das Krachen f allender Baume dr<strong>in</strong>gt aus dem Wald. E<strong>in</strong>ige<br />

s<strong>in</strong>d bald zurück, sie br<strong>in</strong>gen allerlei EBbares mit, verschiedene Früchte, Vogeleier,<br />

Riesenheuschrecken, sogar Ratten. Andere schaffen Baume und Astwerk herbei.<br />

In kürzester Zeit ist der brüchige Unterstand zu e<strong>in</strong>er bewohnbaren Hütte umgebaut.<br />

Aus Stammen und Asten entstehen Gerust und Wande, Rotang ist der „Mortel",<br />

der alles zusammenhalt, und <strong>die</strong> Baumr<strong>in</strong>de ermöglicht e<strong>in</strong> regensicheres<br />

Dach.<br />

149


Carstensz- Tagebuch<br />

Am spateren Nachmittag setzt Regen e<strong>in</strong>. Nur mit Mühe gel<strong>in</strong>gt es, e<strong>in</strong> Feuer zu<br />

entfachen. Aber nicht mit Hilfe unserer modernen Zündhölzer, denn <strong>die</strong>se funktionieren<br />

nur, solange sie trocken s<strong>in</strong>d, sondern mit der uralten Feuersage der <strong>Papua</strong>s.<br />

Heute bedarf es mehrerer Versuche, bis es gel<strong>in</strong>gt, weil der Zunder, den sie<br />

wahrend des Marsches <strong>in</strong> ihren Penisfutteralen aufbewahren, beim Durchwaten<br />

des Beu-Flusses feucht geworden ist.<br />

Obwohl <strong>die</strong> Hütte uns allen Platz bietet, beschlielien Fritz und ich, so lange wie<br />

möglich unser Zelt zu benutzen. Dafür eraten wir nur verwundertes Kopfschütteln.<br />

Sie können es nicht fassen, dali jemand so dumm se<strong>in</strong> kann, e<strong>in</strong> kaltes Zelt<br />

der wohligen Warme ihrer „Raucherkammer" vorzuziehen. Das monotone Gerausch<br />

der herabfallenden Regentropfen ist an <strong>die</strong>sem Abend unser Schlummerlied.<br />

5. September<br />

Volle acht Stunden Urwaldmarsch liegen h<strong>in</strong>ter uns. Das Lager steht am e<strong>in</strong>zigen<br />

ebenen Platz weit und breit, unmittelbar am Ufer des Beu, dessen trübe Wassermassen<br />

uns heute so manches unfreiwillige Bad bescherten. Glaubten wir noch gestern,<br />

das Gelande könne kaum mehr schwieriger werden, so lernten wir heute e<strong>in</strong>e<br />

neue Dimension kennen. Da war der gestrige Marsch e<strong>in</strong> Spaziergang.<br />

Dabei begann alles so gut. Schon am frühen Morgen besuchen uns E<strong>in</strong>geborene<br />

aus tieferliegenden Dörfern und br<strong>in</strong>gen Bataten, Bananen und Maiskolben. Wir<br />

kochen im Freien und beobachten das e<strong>in</strong>drucksvolle Schauspiel, wie sich <strong>die</strong> Nebelfetzen<br />

von den dampfenden Regenwaldern lösen, <strong>die</strong> Berghange hochsteigen<br />

und am blauen Himmel verschw<strong>in</strong>den. Die Trager der Trager und <strong>die</strong> vielen Begleiter<br />

kehren heute nach Beoga zurück. Bei uns bleiben lediglich vier Trager für<br />

<strong>die</strong> Ausrüstung, ferner zwei SüBkartoffeltrager.<br />

Der Abschied von den Menschen fallt uns <strong>die</strong>smal nicht schwer. Der Pfeil e<strong>in</strong>es<br />

Heckenschützen bohrt sich <strong>in</strong> me<strong>in</strong> Zelt und versetzt uns e<strong>in</strong>en gehörigen<br />

Schrecken. Wollte er wirklich e<strong>in</strong>en von uns treffen? Oder ist das bloli e<strong>in</strong>e Warm<strong>in</strong>g,<br />

e<strong>in</strong>fach e<strong>in</strong> rauher SpaB der Dschungelbewohner? Unsere Begleiter sche<strong>in</strong>en<br />

dem Vorfall ke<strong>in</strong>e gröflere Bedeutung beizumessen. Sie ergreifen zwar ihre Waffen<br />

und schwarmen aus, um den Schützen ausf<strong>in</strong>dig zu machen, aber sie kehren<br />

erfolglos zurück. Dann ist <strong>die</strong> Sache für sie erledigt. Mit trockenen Kleidern und<br />

Schuhen, <strong>die</strong> wahrend der Nacht über dem Feuer h<strong>in</strong>gen, verlassen wir den Lagerplatz.<br />

Jah hörte <strong>die</strong> Rodung auf, und wir stehen mitten im Urwald. lm undurchschaubaren<br />

Zickzack führen uns <strong>die</strong> Damal durch das Dickicht steil bergauf. Wir turnen<br />

über schlüpfrige Prügel, balancieren auf schmalen Baumstammen über dunkle Abgründe<br />

und bewachsene Kalkfelsen. Ke<strong>in</strong> Sonnenstrahl vermag das Blatterdach zu<br />

durchdr<strong>in</strong>gen. Der tropfnasse Urwald und der vom nachtlichen Regen aufgeweichte<br />

Boden sorgen dafür, dafi unsere Kleider nicht lange trocken bleiben. Ich bewundere<br />

<strong>die</strong> traumwandlerische Sicherheit, mit der <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s das schwierige Gelande<br />

meistern. Ihnen gegenüber komme ich mir so schwerfallig und unbeholfen wie e<strong>in</strong><br />

Elefant vor. Obwohl jeder von ihnen fast 20 Kilogramm Gepack schleppt, darunter<br />

<strong>die</strong> sperrigen Fotokisten, wahrend ich kaum <strong>in</strong> der Lage b<strong>in</strong>, me<strong>in</strong>en eigenen<br />

150


Fotoapparat selbst zu tragen. Noch vor Mittag erreichen wir e<strong>in</strong>en PaJ3. Der Urwald<br />

tritt zurück und gibt den Bliek nach Süden frei.<br />

Weit drauBen ara Horizont zeichnet sich markant das Hochplateau ab. Knapp unterhalb<br />

endet der Urwald. Könnten wir <strong>die</strong> Höhe des Aussichtspunktes beibehalten,<br />

würden wir das Plateau <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Tag erreichen. Aber das Gelande zw<strong>in</strong>gt<br />

neuerlich zum Abstieg <strong>in</strong> das nachste Tal, h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> <strong>in</strong> den dampfenden Urwald.<br />

Der Abstieg wird zu e<strong>in</strong>er Rutschpartie ohnegleichen. Immer wieder mussen senkrechte<br />

Felsabbrüche überwunden werden. An e<strong>in</strong>er besonders heikien Stelle weist<br />

e<strong>in</strong> glatter Baumstamm schrag nach unten und endet an e<strong>in</strong>em schmalen Felsabsatz<br />

oberhalb des Beu-FIusses. Behende gleiten <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen h<strong>in</strong>unter. Zuletzt s<strong>in</strong>d<br />

Fritz und ich an der Reihe. In der Absicht, es den <strong>Papua</strong>s gleichzutun, nahere ich<br />

mich, rückwarts kriechend, dem Baumstamm. Mit den Be<strong>in</strong>en voraus und dabei<br />

das glitschige Holz umklammernd, will ich h<strong>in</strong>unterrutschen. Aber sobald sich<br />

me<strong>in</strong>e Hande von der Gelandekante lösen, nimmt das Unheil se<strong>in</strong>en Lauf. lm Gegensatz<br />

zu den E<strong>in</strong>geborenen, <strong>die</strong> mit ihren FuBsohlen <strong>die</strong> Talfahrt bremsten, f<strong>in</strong>den<br />

me<strong>in</strong>e Schuhe ke<strong>in</strong>en Halt. Das Rutschen gerat auBer Kontrolle, ich stürze,<br />

verfehie den Felssockel und bleibe <strong>in</strong> letzter Sekunde im Uferdickicht hangen, das<br />

gurgelnde Wasser vor Augen. E<strong>in</strong> Sturz <strong>in</strong> den reiBenden Flufi ware das Ende gewesen.<br />

E<strong>in</strong>en Augenblick bleibe ich benommen liegen, aber darm s<strong>in</strong>d schon <strong>die</strong><br />

<strong>Papua</strong>s da, befreien mich aus dem domigen Gestrüpp, betasten me<strong>in</strong>en Körper<br />

und umsorgen mich rührend. Beruhigt stelle ich fest, daB me<strong>in</strong>e Knochen heil geblieben<br />

s<strong>in</strong>d. Die Prellungen und Schürfwunden s<strong>in</strong>d zwar unangenehm, aber <strong>in</strong><br />

151


Carstensz- Tagebuch<br />

Anbetracht dessen, was mir alles passieren hatte können, wohl das ger<strong>in</strong>gste Übel.<br />

Auch me<strong>in</strong>e Leica hat den Sturz unbeschadet überstanden, nur <strong>die</strong> Sonnenbrille ist<br />

verlorengegangen. E<strong>in</strong> Umstand, dem ich zunachst wenig Bedeutung beimesse, der<br />

sich aber spater noch als verhangnisvoll erweisen sollte.<br />

Seither habe ich e<strong>in</strong>en „Leibwachter". Er heiBt Mekailame und wurde von unserem<br />

Tragerführer abkomman<strong>die</strong>rt, um auf mich aufzupassen. Offensichtlich wollen sie<br />

ke<strong>in</strong>en „Krankentransport" riskieren. Mekailame folgt mir nun auf Schritt und<br />

Tritt; er führt mich über Baumstamme, zeigt mir, wo ich me<strong>in</strong>en FuB h<strong>in</strong>zusetzen<br />

habe, warnt mich vor Dornen und schreit jedesmal angstvoll auf, wenn ich dennoch<br />

auszurutschen drohe. Ich glaube, er leidet richtig mit mir mit. Seit dem Sturz<br />

sehe ich aus wie e<strong>in</strong> Waldgeist. Die Kleider hangen mir <strong>in</strong> Fetzen vom Leib, und<br />

me<strong>in</strong> Gesicht ist dick mit Lehm beschmiert. Die widrigen Bed<strong>in</strong>gungen können<br />

mich jetzt nicht mehr erschüttern. Ganz im Gegenteil, sie bereiten mir sogar Vergnügen.<br />

Ke<strong>in</strong>e Pfütze ist mir zu tief und ke<strong>in</strong> Schlammloch zu schmutzig. Nach e<strong>in</strong>iger<br />

Zeit verlassen wir wieder das FluBbett des Beu. Sofort wird das Terra<strong>in</strong><br />

schwieriger, so daB e<strong>in</strong> Fortkommen nur mehr mit Hilfe von Buschmessern und<br />

Axten möglich ist. Deshalb verr<strong>in</strong>gert sich unsere Marschgeschw<strong>in</strong>digkeit erheblich.<br />

Bald steht <strong>die</strong> nachste FluBüberquerung auf dem Programm. Zur Abwechslung<br />

bieten uns <strong>die</strong> Damal <strong>die</strong>smal e<strong>in</strong>e komb<strong>in</strong>ierte Variante. Der erste Teil, bis zu e<strong>in</strong>em<br />

Ste<strong>in</strong>, der aus der FluBmitte ragt, ist <strong>die</strong> übliche Version e<strong>in</strong>er Brücke <strong>in</strong> Form<br />

von zwei nebene<strong>in</strong>andergelegten Baumstammen. Die zweite Halfte muB durchwatet<br />

werden. Nicht ganz ohne Schadenfreude beobachte ich Fritz, wie er fluchend<br />

das unbequeme H<strong>in</strong>dernis überw<strong>in</strong>det. Er hat sich namlich fest vorgenommen,<br />

heute mit trockenem Schuhwerk ans Ziel zu kommen.<br />

Gegen Abend kommen wir wieder an den Beu und schlagen unser Lager unmittelbar<br />

am Ufer auf. Selbst das Badevergnügen bleibt an <strong>die</strong>sem Tag im wahrsten S<strong>in</strong>ne<br />

des Wortes getrübt. Wir tauchen <strong>in</strong> <strong>die</strong> schmutzigen Fluten des Beu.<br />

6. September<br />

Der heutige Tag beg<strong>in</strong>nt mit e<strong>in</strong>em Schock. Als ich me<strong>in</strong>e Schuhe anziehen will,<br />

stelle ich entsetzt fest, daB sich <strong>die</strong> Sohle zu lösen beg<strong>in</strong>nt. Vorerst nur an e<strong>in</strong>em<br />

Schuh und bloB am h<strong>in</strong>teren Ende, aber das ist schlimm genug. Me<strong>in</strong> gestriger<br />

Übermut, durch <strong>die</strong> Pfützen zu spr<strong>in</strong>gen, ist nicht ohne Folgen geblieben. Es ist<br />

nicht auszudenken, was passieren würde, wenn me<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziges Paar Schuhe kaputtg<strong>in</strong>ge.<br />

Obwohl wir mit unserem festen Schuhwerk gegenüber den barfuö laufenden<br />

<strong>Papua</strong>s klar im Nachteil s<strong>in</strong>d, ist es paradoxerweise unsere Lebensversicherung.<br />

Ohne sie würde man als WeiBer kaum mehr lebend herauskommen. Alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen<br />

s<strong>in</strong>d imstande, barfuB durch den dornenbewehrten Dschungel zu gehen.<br />

Wir mit unseren an Schuhe gewöhnten FüBen waren hier verloren. Mit e<strong>in</strong>er<br />

Schnur gel<strong>in</strong>gt es, <strong>die</strong> Sohle notdürftig festzub<strong>in</strong>den, nur ist es mehr als ungewiB,<br />

ob sie halten wird. Jedenfalls werde ich alles tun, um <strong>die</strong> Schuhe, so gut es geht, zu<br />

schonen. Aber das ist leichter gesagt als getan, denn das Terra<strong>in</strong> wird ke<strong>in</strong> biBchen<br />

besser.<br />

152


Flufiüberquerungen<br />

Es geht nun stetig bergauf, nur noch selten s<strong>in</strong>d kle<strong>in</strong>e Abstiege zu bewaltigen.<br />

S<strong>in</strong>d wir vielleicht schon am letzten Aufschwung zum Plateau?<br />

Auch der Urwald verandert sich nach und nach. Die Gewachse - Zedern, Rhododendren<br />

und Nadelbaume - werden mit zunehmender Höhe immer kle<strong>in</strong>er. Der<br />

Regenwald geht <strong>in</strong> den Nebelwald über. lm Grau des Regens und Nebels sieht <strong>die</strong><br />

Landschaft bedrohlich aus. Laublose, mit Moosfetzen behangene Baume stehen<br />

da wie Gespenster. Aber immer dann, wenn sich der Nebel lichtet und <strong>die</strong> Sonne<br />

für Augenblicke durchbricht, erstrahlt alles <strong>in</strong> zauberhaftem Licht. Das tropische<br />

Pflanzengewirr ist von unglaublicher Schönheit, überall wachsen herrliche Orchideen<br />

<strong>in</strong> vielen Farben. Es ist e<strong>in</strong> Marchenwald, wie ich ihn mir als K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> me<strong>in</strong>er<br />

Phantasie immer vorgestellt habe. Nur zum Begehen ist er alles andere als marchenhaft;<br />

alles ist naB und glitschig, das meterhohe Wurzelgerüst bildet e<strong>in</strong> eigenes<br />

Stockwerk zwischen Erde und Baumkronen, auf dem man wie e<strong>in</strong> Seiltanzer balancieren<br />

mui Alle Gewachse s<strong>in</strong>d dicht mit Moos und Flechten bewachsen, und<br />

dar<strong>in</strong> tummeln sich kle<strong>in</strong>e Tierchen, <strong>die</strong> uns das Leben sauer machen. Wo man<br />

auch h<strong>in</strong>greift, um sich festzuhalten, selbst wenn man mit dem Urwald nur <strong>in</strong> Berührung<br />

kommt, überall lauern Blutegel. Blitzschnell lassen sie sich fallen und f<strong>in</strong>den<br />

mit Sicherheit den Weg zur Haut. Hat sich e<strong>in</strong> Blutegel e<strong>in</strong>mal festgesaugt, ist<br />

es schwierig, das Tier zu entfernen, ohne <strong>die</strong> Haut aufzuritzen. Aber schon aus den<br />

kle<strong>in</strong>sten Wunden entstehen tropische Geschwüre, <strong>die</strong> nur schwer und langsam abheilen.<br />

Um der Plage e<strong>in</strong>igermaBen Herr zu werden, mussen Fritz und ich haufig<br />

stehenbleiben und unsere Körper von den ekelhaften Parasiten befreien. Dabei<br />

verlieren wir den Anschlufl an unsere Trager, denen <strong>die</strong> Blutegel viel weniger zusetzen.<br />

Zum Glück ist <strong>die</strong> Orientierung nicht mehr so schwierig wie zuvor im Regenwald,<br />

so daB wir ihren Spuren mühelos folgen können.<br />

Bald führt der Weg wieder entlang des tobenden Beu-Flusses. Se<strong>in</strong> Oberlauf ist das<br />

wildeste Gewasser, das ich je sah. Mit elementarer Wucht stürzen <strong>die</strong> Wassermassen<br />

vom Plateau h<strong>in</strong>unter. Es gibt nur e<strong>in</strong>en Gedanken: Hoffentlich mussen wir<br />

hier nicht übersetzen! Aber <strong>die</strong> schlimmsten Befüchtungen treffen e<strong>in</strong>. Unerbittlich<br />

drangt uns der Pfad nach unten. Als wir am FluBufer ankommen, s<strong>in</strong>d alle unsere<br />

Trager schon auf der anderen Seite drüben. Wir mussen erst e<strong>in</strong> paarmal h<strong>in</strong>schauen,<br />

um überhaupt so etwas wie e<strong>in</strong>e „Brücke" entdecken zu können. Ihr Anblick<br />

verschlagt uns den Atem. Vom l<strong>in</strong>ken FluBufer ragt e<strong>in</strong> machtiger, vermodernder<br />

Baum weit über <strong>die</strong> Flufimitte h<strong>in</strong>über. Se<strong>in</strong>e Krone trifft sich, zehn Meter<br />

über dem Wasserspiegel, mit e<strong>in</strong>em zweiten, allerd<strong>in</strong>gs sehr dunnen, fast senkrecht<br />

stehenden Baumstamm, der <strong>in</strong> der rechten Uferböschung wurzelt. Hier s<strong>in</strong>d <strong>die</strong><br />

Damal auf der e<strong>in</strong>en Seite h<strong>in</strong>aufgeklettert und auf der anderen h<strong>in</strong>untergerutscht.<br />

Auf <strong>die</strong>ser Verkettung unglücklicher Zufalle sollen auch wir den FluB überqueren.<br />

Wir versuchen es, aber es bleibt beim Versuch. Wir mussen e<strong>in</strong>sehen, daB wir hier<br />

chancenlos s<strong>in</strong>d, <strong>die</strong> „Brücke" ist für uns unbegehbar.<br />

E<strong>in</strong>e Zeitlang schauen <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s unseren Bemühungen amüsiert zu. Als sie erkennen,<br />

daB wir nicht h<strong>in</strong>überkommen werden, beg<strong>in</strong>nen sie Baume zu fallen, Lianen<br />

zu spannen und <strong>die</strong> ganze Konstruktion so auszubauen, daB wir sie mit ihrer Hilfe<br />

überw<strong>in</strong>den. Für <strong>die</strong>se FluBüberquerung benötigen wir mehr als drei Stunden.<br />

Aber kaum ist das H<strong>in</strong>dernis überwunden, folgt bereits das nachste. E<strong>in</strong> kurzes<br />

153


Carstensz- Tagebuch<br />

Stück fluBaufwarts mussen wir denselben FluB abermals überqueren. E<strong>in</strong> quergelegter<br />

Baumstamm überspannt das höhnisch gurgelnde Wasser. „Überspannt" ist<br />

etwas übertrieben, denn e<strong>in</strong> Teil des Stammes wird vom Wasser umspült. Unsere<br />

bewahrte Technik, den Körper rittl<strong>in</strong>gs über den Baumstamm zu schieben, versagt<br />

hier, da <strong>die</strong> Strömung so stark ist, dafi <strong>die</strong> im Wasser hangenden FüBe genügen<br />

würden, um uns mitzureifien.<br />

Ich beg<strong>in</strong>ne, mit den E<strong>in</strong>geborenen zu schimpfen und fordere, wir sollten möglichst<br />

an e<strong>in</strong>em FluBufer entlangmarschieren, statt immer h<strong>in</strong> und her zu wechseln.<br />

Sie blieken mich verstandnislos an; für sie ist e<strong>in</strong>e solche Flufiüberquerung e<strong>in</strong>e<br />

Gaudi, e<strong>in</strong>e willkommene Abwechslung, für uns jedoch stets e<strong>in</strong> lebensgefahrliches<br />

Unternehmen. Aber es steht aufier Zweifel, wer <strong>die</strong> Herren im Dschungel s<strong>in</strong>d,<br />

namlich <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s. Sie bestimmen eigentlich alles, das Marschtempo, <strong>die</strong> Routenwahl,<br />

den Lagerplatz, und wir mussen froh se<strong>in</strong>, von ihnen nicht im Stich gelassen<br />

zu werden, denn ohne sie würden wir wohl nie mehr zurückf<strong>in</strong>den. An e<strong>in</strong>em<br />

Strick abgesichert, führen uns <strong>die</strong> Trager schlieBlich über <strong>die</strong> tückische „Brücke".<br />

Voll Staunen blieken wir <strong>in</strong> das tobende Wasser. E<strong>in</strong> Sturz würde den sicheren Tod<br />

bedeuten.<br />

Die zwei FluBüberschreitungen haben viel Zeit gekostet, und nun mussen wir nach<br />

e<strong>in</strong>em geigneten Lagerplatz Ausschau halten. Nirgendwo ist e<strong>in</strong> ebener Fleck zu<br />

entdecken, daher bleibt uns nichts anderes übrig, als mitten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em steilen, bewachsenen<br />

Hang e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e Plattform herauszuhacken. Bald ist e<strong>in</strong> Unterstand errichtet,<br />

<strong>in</strong> dem ich jetzt sitze und me<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>drücke auf e<strong>in</strong> Tonband spreche. Das<br />

Schreiben ist mir langst zu mühevoll. Trotz der triefenden Nasse gel<strong>in</strong>gt es den Damal<br />

erstaunlich schnell, e<strong>in</strong> Feuer <strong>in</strong> Gang zu br<strong>in</strong>gen. Hier hoeken sie <strong>in</strong> ihrer typischen<br />

Haltung, mit über der Brust verschrankten Armen, und rosten SüBkartoffeln.<br />

Die Stimmung ist gut - es gibt ke<strong>in</strong>en Regen!<br />

7. September<br />

An <strong>die</strong>sem Morgen verlassen wir schon früh unseren „Adlerhorst". Es herrscht<br />

prachtiges Wetter, und <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen hüpfen durch den Dschungel, daB es e<strong>in</strong>e<br />

wahre Freude ist, ihnen zuzusehen.<br />

Ich habe mich auf e<strong>in</strong>en weiteren Tag im Urwald e<strong>in</strong>gestellt und b<strong>in</strong> auf gefahrliche<br />

FluBübergange vorbereitet. Aber wie so oft kommt alles anders, als man erwartet.<br />

Wir s<strong>in</strong>d kaum e<strong>in</strong>e Stunde unterwegs, da lichtet sich der Wald plötzlich, und wir<br />

treten übergangslos <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e vollkommen anders geartete Landschaft e<strong>in</strong>. Die Vegetationsgrenze<br />

ist e<strong>in</strong>e messerscharf gezogene L<strong>in</strong>ie. Es ist e<strong>in</strong>e zauberhafte Landschaft,<br />

<strong>die</strong> wir nun durchqueren. Überall stehen Farnbaume, der Boden ist mit<br />

braunen Grasbüscheln und niedrigen Strauchern bedeckt, dazwischen blühen Rhododendren.<br />

Ke<strong>in</strong>e Baume versperren mehr <strong>die</strong> Sicht. Das Gelande ist leicht zu begehen<br />

und er<strong>in</strong>nert vielfach an e<strong>in</strong>e herbstliche Wanderung <strong>in</strong> den Alpen.<br />

Sollte es wirklich vorbei se<strong>in</strong> mit dem Urwald, dem Balancieren über schlüpfrige<br />

Wurzeln, vorbei mit den FluBüberquerungen, den Dornen und Blutegeln? Steht<br />

uns nicht wieder e<strong>in</strong> Abstieg <strong>in</strong> den Dschungel bevor? Wir wagen es kaum zu hoffen.<br />

Nach e<strong>in</strong>er weiteren Stunde erreichen wir e<strong>in</strong>en 3700 Meter hohen PaB und se-<br />

154


„Dugundugu"<br />

hen erstmals unser Ziel, <strong>die</strong> Nordabstürze des Carstensz-Gebirges, vor uns liegen.<br />

In majestatischer Schönheit stehen <strong>die</strong> firngekrönten Gipfel der Tropen<strong>in</strong>sel Neugu<strong>in</strong>ea<br />

wie an e<strong>in</strong>er Kette aufgereiht. S<strong>in</strong>d sie Wirklichkeit oder bloB e<strong>in</strong>e optische<br />

Tauschung? Das Bild ist so irreal, daB man daran zweifelt. So ahnlich muJ3 es auch<br />

dem Seefahrer Jan Carstensz ergangen se<strong>in</strong>, der vor rund 350 Jahren das Gebirge<br />

erstmals sah, von der anderen Seite, vom Meer, vom Schiff aus.<br />

Der Kontrast ist kaum mehr zu überbieten; noch vor e<strong>in</strong>er guten Stunde s<strong>in</strong>d wir<br />

durch den feucht-nassen Dschungel gekrochen, und nun stehen wir <strong>die</strong>sem Klotz<br />

aus Fels und Eis gegenüber. Alle<strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Anblick entschadigt für alle Mühsal des<br />

Weges.<br />

„Dugundugu", rufen nun auch <strong>die</strong> Damal, wobei sie zum weiBen Schneeband am<br />

Horizont weisen. „Dugundugu, Dugundugu" schallt es immer wieder, als ob sie<br />

sich selbst Mut zusprechen wollten. Aber es ist nur e<strong>in</strong> schwacher Abglanz ihrer<br />

elementaren Furcht vor dem Gebirge. Jedesmal, wenn sie auf <strong>die</strong> Gletscher deuten,<br />

beg<strong>in</strong>nen sie aufgeregt zu zittern und mit den Zahnen zu klappern. Noch ist <strong>die</strong><br />

Temperatur angenehm warm, und das Wetter bleibt den ganzen Tag unerwartet<br />

schön. Das Ziel vor Augen beflügelt mich. Weit laufe ich der Gruppe voraus, verschwunden<br />

ist <strong>die</strong> Müdigkeit, vergessen s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> eiternden Wunden.<br />

Als Kette sanft geschwungener Hügel breitet sich <strong>die</strong> Hochflache nach allen Richtungen<br />

h<strong>in</strong> aus. Nur im Süden bildet der Nordwall des Gebirges e<strong>in</strong>e markante Abgrenzung.<br />

Das Gelande ist leicht und ermöglicht e<strong>in</strong> zügiges Vorankommen. Am<br />

spaten Nachmittag steigen wir zum Kemabu h<strong>in</strong>unter, den wir an e<strong>in</strong>er seichten<br />

Stelle durchwaten können.<br />

Nach vollen acht Stunden Marsch und knapp vor E<strong>in</strong>bruch der Dunkelheit erreichen<br />

wir <strong>die</strong> Hamid-Felshöhle, genau an jener Stelle, wo <strong>die</strong> Pfade aus Ilaga und<br />

Beoga zusammentreffen. Unsere Trager hegten schon <strong>die</strong> Befürchtung, <strong>die</strong> Höhle<br />

würde von Dani aus Ilaga besetzt se<strong>in</strong>, aber zum Glück s<strong>in</strong>d wir <strong>die</strong> e<strong>in</strong>zigen<br />

Nachtgaste.<br />

8. September<br />

Am Morgen ist es bitterkalt. Wir kratzen den Rauhreif von den Zeltwanden, kochen<br />

Tee und Porridge. Die Damal hoeken mit düsteren Mienen ums Feuer, bisweilen<br />

legt e<strong>in</strong>er Holzscheite nach und schiebt e<strong>in</strong>ige SüBkartoffeln <strong>in</strong> <strong>die</strong> Glut.<br />

Erst als <strong>die</strong> Sonnenstrahlen den Lagerplatz treffen, gerat Bewegung <strong>in</strong> <strong>die</strong> Gruppe.<br />

Gegen acht Uhr ist Aufbruch.<br />

Wir marschieren <strong>in</strong> westlicher Richtung entlang des Nordwalls, dessen Firn immer<br />

wieder sichtbar wird, traversieren endlose Moranenrücken und kle<strong>in</strong>e Bache. Am<br />

frühen Nachmittag gelangen wir an den Discovery-See, an dessen morastigem Ufer<br />

wir e<strong>in</strong>e langere Rast e<strong>in</strong>legen.<br />

Die E<strong>in</strong>geborenen nutzen jede sich bietende Gelegenheit zur Jagd. Jedoch nur e<strong>in</strong><br />

e<strong>in</strong>ziges Mal gel<strong>in</strong>gt es ihnen, e<strong>in</strong>en Vogel zu schieBen. Geschickt dagegen s<strong>in</strong>d sie<br />

im Fangen von Ratten. Bis zum Abend ist <strong>die</strong> Beute zumeist betrachtlich. Die toten<br />

Ratten werden dann für kurze Zeit <strong>in</strong>s Feuer gelegt und anschlieBend verschlungen.<br />

Nach e<strong>in</strong>em steilen Auf stieg stehen wir auf e<strong>in</strong>er PaBhöhe und blieken h<strong>in</strong>unter auf<br />

155


Carstensz- Tagebuch<br />

<strong>die</strong> Larson-Seen unmittelbar am FuBe der Nordwandmauer. E<strong>in</strong> tiefer E<strong>in</strong>schnitt<br />

zwischen den Eisgipfeln markiert den NeuseelandpaB, den so wichtigen schneefreien<br />

Zugang von Norden her. Das Plateau rund um <strong>die</strong> Seen ist auf Grund der<br />

relativ ger<strong>in</strong>gen Niederschlage der letzten Tage trocken. Deshalb bleibt uns das<br />

übliche Schlammbad erspart. Trockenen FuBes erreichen wir unser Tagesziel: <strong>die</strong><br />

Mapala-Höhle.<br />

Sofort beg<strong>in</strong>nen <strong>die</strong> Damal mit den Vorbereitungen für das Nachtlager. Ihr Hauptaugenmerk<br />

gilt der Beschaffung von Brennholz, denn <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser Höhe ist das Feuer<br />

lebenswichtig. Aber <strong>die</strong> Vegetation rund um <strong>die</strong> Höhle ist so karg, daB sie weit laufen<br />

mussen, um genügend Brennmaterial zu f<strong>in</strong>den. Gegen Abend schiebt sich e<strong>in</strong>e<br />

dicke Wolkenbank von Westen her gegen das Gebirge und huilt nach und nach alle<br />

Gipfel e<strong>in</strong>.<br />

9. September<br />

Schon am Morgen herrscht groBe Aufregung unter den Tragern. Der Grund: Fritz<br />

und ich haben beschlossen, trotz des relativ schlechten Wetters über den NeuseelandpaB<br />

<strong>in</strong>s Meren-Tal h<strong>in</strong>überzuwechseln und dort unser Lager aufzuschlagen.<br />

Die E<strong>in</strong>geborenen j edoch sollen nach unserem Plan hier im Schutze der Höhle bleiben.<br />

Es ersche<strong>in</strong>t uns e<strong>in</strong>fach zu mühsam und riskant, <strong>die</strong> Manner barfuB und<br />

nackt auf den 4500 Meter hohen PaB mitzunehmen. Darüber s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Damal erzürnt.<br />

Sie wollen unbed<strong>in</strong>gt mit uns <strong>in</strong>s Meren-Tal gehen und von dort aus über <strong>die</strong><br />

Carstensz-Wiese zur Kupferm<strong>in</strong>e Tembagapura absteigen. Genau das aber wollen<br />

wir vermeiden. Wir wissen nur zu gut, daB es dort e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>donesische Polizeistation<br />

gibt und können uns ausrechnen, was passiert, wenn <strong>die</strong>se von unserer Anwesenheit<br />

erfahren würden.<br />

Tembagapura muB für sie e<strong>in</strong>e magische Anziehungskraft besitzen. Mir ist schon<br />

<strong>in</strong> vielen andern Dörfern aufgefallen, daB der Ort mit den seltsamen Masch<strong>in</strong>en<br />

überall bekannt ist und <strong>die</strong> Phantasie der E<strong>in</strong>geborenen beschaftigt. Man erzahlt<br />

sich <strong>die</strong> unglaublichsten Geschichten darüber, und viele halten es für so etwas wie<br />

e<strong>in</strong> „Schlaraffenland", so daB sie weder Mühe noch Gefahr scheuen, das Wunderwerk<br />

der WeiBen mit eigenen Augen zu schauen. Sogar neue Gütererwartungskulte<br />

s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> Zusammenhang mit Tembagapura im Entstehen. So verkündet zum Beispiel<br />

e<strong>in</strong> Mann se<strong>in</strong>er Dorfgeme<strong>in</strong>schaft, daB sie <strong>die</strong> Kultivierung des Bodens e<strong>in</strong>stellen<br />

sollen und stattdessen e<strong>in</strong>en Schlüssel suchen, mit dessen Hilfe man e<strong>in</strong>e<br />

Felswand aufsperren und <strong>die</strong> dah<strong>in</strong>ter liegenden Reichtümer sich aneignen könne.<br />

Die Bewohner e<strong>in</strong>es Dorfes südlich der Gebirgskette bauen riesige hölzerne Helikopter-Rotorblatter,<br />

um damit <strong>die</strong> seltsamen fliegenden Masch<strong>in</strong>en zu animieren,<br />

ausgerechnet bei ihnen zu landen und ihre Ladung, gleichsam goldene Eier, auszuschütten.<br />

Nur allzu verstandlich, daB auch unsere Damal den sagenhaften Ort besuchen wollen.<br />

Letzlich kommt es doch noch zu e<strong>in</strong>em für beide Seiten befriedigenden KompromiB.<br />

Zwei von ihnen werden <strong>in</strong> der Mapala-Höhle mit e<strong>in</strong>em Teil unserer Ausrüstung<br />

zurückbleiben, wahrend <strong>die</strong> restlichen vier nach Tembagapura h<strong>in</strong>untermarschieren.<br />

Ihnen scharfen wir e<strong>in</strong>, daB sie nichts von der Anwesenheit der<br />

„Tuans" verraten dürfen und so bald als möglich wieder zurückkehren sollen. E<strong>in</strong>-<br />

156


Carstensz- Tagebuch<br />

kleiden können wir sie nicht, da wir nicht genug dabei haben und weil ihre Penisköcher<br />

ohne<strong>die</strong>s nicht <strong>in</strong> unsere Hosen passen würden. Mit Schuhen ist es ahnlich;<br />

ihre überdimensionalen BreitfüBe passen nicht <strong>in</strong> unsere SchuhgröBen, und mit<br />

Schuhen würden sie sich so bewegen wie wir ohne Schuhe. Sie würden wie Betrunkene<br />

herumtorkeln.<br />

Von der Höhle führt der Weg zuerst <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em weiten Bogen nach rechts. Vorbei an<br />

der prachtigen Kulisse des Nordwalls gelangen wir auf e<strong>in</strong>en Sattel oberhalb der<br />

Dugundugu-Seen. Nun wenden wir uns nach Süden und erreichen über e<strong>in</strong>e kle<strong>in</strong>e<br />

Felsstufe e<strong>in</strong>e Schutthalde, auf der wir zum PaB h<strong>in</strong>überqueren. Es herrscht e<strong>in</strong>e<br />

gespenstische Stimmung. Der W<strong>in</strong>d peitscht <strong>die</strong> Nebel über <strong>die</strong> Gipfel, von allen<br />

Seiten ziehen <strong>die</strong> Gletscher <strong>in</strong> riesigen Kaskaden <strong>in</strong> <strong>die</strong> R<strong>in</strong>nen und Schluchten<br />

herab.<br />

Was für e<strong>in</strong> seltsames Bild: Vier <strong>Papua</strong>s, nackt, auBer ihren Penisfutteralen, und<br />

unmittelbar daneben funkelnde Eisbrüche. Die Damal haben natürlich Angst vor<br />

der Kalte und dem Schnee, aber ihre Angst wird noch gröBer, als sie oben auf der<br />

PaBhöhe e<strong>in</strong>ige ihrer Stammesbrüder antreffen - aber <strong>in</strong> sehr veranderter Form.<br />

Auf e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en Areal liegen verstreut mehrere Menschenschadel und Gebe<strong>in</strong>e.<br />

Das beweist, wie gefahrlich der Übergang für <strong>die</strong> <strong>Papua</strong>s ist. Wer ihn nicht <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em<br />

Tag bewaltigt, hat kaum Überlebenschancen.<br />

Nach Überqueren des Passes stehen wir der Nordwand der majestatischen Carstensz-Pyramide<br />

gegenüber. Tief unter uns erkennen wir auch den Lagerplatz an<br />

e<strong>in</strong>em der Seen des Meren-Tales.<br />

Zu unserer Überraschung bieten der Lagerplatz und <strong>die</strong> Auslaufer des Meren-Gletschers<br />

das Bild e<strong>in</strong>er Müllhalde, trotz der ger<strong>in</strong>gen Zahl der Expeditionen dorth<strong>in</strong>!<br />

Hauptverschmutzer dürften <strong>die</strong> Leute der australischen Forschungsexpedition gewesen<br />

se<strong>in</strong>. Sie genossen <strong>die</strong> Unterstützung der Freeport M<strong>in</strong><strong>in</strong>g Company und<br />

würden regelmaBig mittels Helikopter versorgt. Leider vergaBen sie, <strong>die</strong> übriggebliebenen<br />

Abfalle wieder auszufliegen. Ihre <strong>die</strong>sbezügliche Sorglosigkeit steht <strong>in</strong><br />

seltsamem Gegensatz zu ihren seriösen wissenschaftlichen Forschungen. AuBerdem<br />

sche<strong>in</strong>t das gesamte Tal e<strong>in</strong>e Art „Ausflugsziel" für <strong>die</strong> M<strong>in</strong>enarbeiter zu se<strong>in</strong>.<br />

Rundherum liegen gelbe Plastikregenhüllen und Farbsprühdosen, deren Inhalt auf<br />

Ste<strong>in</strong>e und Felsen versprüht wurde.<br />

Wir versuchen, so gut es geht, aufzuraumen und schamen uns vor den E<strong>in</strong>geborenen<br />

für das Verhalten unserer „zivilisierten" Brüder.<br />

Wahrend <strong>die</strong> Damal durch das Tal nach Südwesten h<strong>in</strong>aus marschieren und sich<br />

dem Ziel ihrer Wünsche - Tembagapura - nahern, bauen wir unser Zelt zwischen<br />

verrosteten Metallfassern auf. E<strong>in</strong> umgelegtes FaB <strong>die</strong>nt uns als regen- und<br />

w<strong>in</strong>dgeschützte Kochstelle.<br />

Bald setzt heftiger Regen e<strong>in</strong>. DrauBen vor dem Zelt sucht e<strong>in</strong>e Ratte <strong>in</strong> den Abfallen<br />

nach Nahrung.<br />

10. September<br />

Das Wetter ist schlecht, aber nicht schlecht genug, um uns zur Untatigkeit zu zw<strong>in</strong>gen.<br />

Wir beschlieBen, das e<strong>in</strong>fachere unserer beiden Ziele, den Ngga Pulu und<br />

Puncak Sumantri, anzugehen.<br />

158


E<strong>in</strong>e anstrengende Kletterpartie<br />

Beim Packen des Rucksackes bermerke ich, daB mir <strong>die</strong> Schneebrille fehlt. Aber<br />

ich muB gestehen, daB ich ke<strong>in</strong>en Augenblick daran dachte, deshalb auf <strong>die</strong> geplante<br />

Tour zu verzichten. Ich ware auf allen vieren h<strong>in</strong>aufgekrochen, wenn es<br />

nicht anders gegangen ware.<br />

Bei diffusem Licht steigen wir über den wüdzerklüfteten Meren-Gletscher auf. Nur<br />

am Gletscherrand f<strong>in</strong>den wir blankes, griffiges Eis vor, gröfitenteils ist der Schnee<br />

aufgeweicht und e<strong>in</strong> Begehen daher mit anstrengender Spurenarbeit verbunden.<br />

Nach dem Überqueren e<strong>in</strong>es Felsrückens führt der Weg an e<strong>in</strong>em steilen Firnhang<br />

nach oben. Es s<strong>in</strong>d kaum mehr als zwei Stunden vergangen, als wir <strong>die</strong> ausladende<br />

Schneekuppe des Ngga-Pulu-Gipfels betreten. Unser Bliek schweift nach Süden,<br />

wo <strong>die</strong> Wolkendecke aufreiBt und <strong>die</strong> Südküste sichtbar wird. Rasch wechseln <strong>die</strong><br />

Wetterbed<strong>in</strong>gungen. lm dichten Nebel stapfen wir <strong>in</strong> <strong>die</strong> Mulde zwischen Ngga Pulu<br />

und se<strong>in</strong>en südwestlichen Nachbarn. E<strong>in</strong> schmaler Schneegrat führt h<strong>in</strong>aus zum<br />

Felsgipfel des Puncak Sumantri (4808 Meter).<br />

Zu unserer Freude klart es wieder auf, und wir genieBen den Ausblick nach allen<br />

Richtungen. Nach Westen h<strong>in</strong>über reihen sich <strong>die</strong> Dugundugu-Gipfel ane<strong>in</strong>ander,<br />

im Süden, fast zum Greifen nahe, liegt <strong>die</strong> Ost-Carstensz-Spitze, der Wollaston-<br />

Gipfel und <strong>die</strong> Pyramide, und unmittelbar davor, aber schon merklich tiefer, der<br />

Middenspitz mit Middenkamm, der das Meren-Tal vom Gelben Tal trennt. Nach<br />

Norden h<strong>in</strong> fallt <strong>die</strong> Wand senkrecht <strong>in</strong> das Ijomba-Becken ab. Als Abstieg wahlen<br />

wir e<strong>in</strong>en direkten Weg. lm e<strong>in</strong>fallenden Nebel tasten wir uns durch e<strong>in</strong> Spaltengewirr<br />

<strong>in</strong>s Tal.<br />

Nur, <strong>die</strong> Freunde über den Gipfelerfolg wahrt nicht lange. Kaum s<strong>in</strong>d wir im Zelt<br />

angekommen, beg<strong>in</strong>nen me<strong>in</strong>e Augen heftig zu schmerzen. Von M<strong>in</strong>ute zu M<strong>in</strong>ute<br />

wird es schlimmer, bald kann ich nichts mehr sehen. Für me<strong>in</strong>e Unvorsichtigkeit,<br />

ohne Schneebrille aufzusteigen, bekomme ich nun <strong>die</strong> Rechnung prasentiert.<br />

Ich b<strong>in</strong> schneebl<strong>in</strong>d! Zu allem ÜberfluB stellt Fritz f est, daB sich unsere Medikamente<br />

<strong>in</strong> jenen Gepackstücken bef<strong>in</strong>den, <strong>die</strong> wir jenseits des Passes zurückgelassen<br />

haben. Ich weiB zwar, dafl <strong>die</strong> Schneebl<strong>in</strong>dheit nach unbestimmter Zeit wieder vergeht,<br />

aber das vermag mich wenig zu trosten. Die Schmerzen s<strong>in</strong>d so groB, daB ich<br />

am liebsten h<strong>in</strong>auslaufen würde, um me<strong>in</strong>en Kopf <strong>in</strong> den Schnee oder <strong>in</strong> das kühlende<br />

Wasser e<strong>in</strong>es See zu stecken. Die Nacht ist schlimm. Nach E<strong>in</strong>bruch der<br />

Dunkelheit kommen zwei unserer Trager von Tembagapura herauf. Halberfroren<br />

und klatschnaB, denn es hat <strong>in</strong> der Zwischenzeit heftig zu regnen begonnen, drangen<br />

sie sich <strong>in</strong>s enge Zelt. E<strong>in</strong>fach unfaBbar; sie haben ihr Leben riskiert, um uns<br />

e<strong>in</strong> paar Nahrungsmittel h<strong>in</strong>aufzubr<strong>in</strong>gen. Nun sitzen wir im Zelt, zitternd vor<br />

Kalte, und warten auf das Morgengrauen.<br />

11. September<br />

Traume ich, oder ist es Wirklichkeit? Ich liege <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em warmen Bett, <strong>die</strong> rasenden<br />

Schmerzen <strong>in</strong> den Augen s<strong>in</strong>d verschwunden, zarte Hande streichen mir über <strong>die</strong><br />

Stirn, und dann höre ich weibliche Stimmen, <strong>die</strong> mir <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Augenblick wie Engelsgesang<br />

vorkommen. Statt im kalten Zelt liege ich nun im Hospital von Tembagapura.<br />

Nur der niederprasselnde Regen er<strong>in</strong>nert mich an <strong>die</strong> vergangene Nacht.<br />

Was war passiert? Am Morgen gab es mit den zwei Damal e<strong>in</strong>e heftige Diskussion.<br />

159


Carstensz-Gebirge<br />

Sie wollten, daB ich mit ihnen zur M<strong>in</strong>e absteige, wo es, wie sie erklarten, e<strong>in</strong>en<br />

„Tuan-Doktor" gabe. Ich aber hoffte immer noch, daB sich me<strong>in</strong>e Schneebl<strong>in</strong>dheit<br />

bald bessere, und wollte deshalb noch e<strong>in</strong>en Tag zuwarten. Als <strong>die</strong> Schmerzen im<br />

Laufe des Tages zunahmen, begann ich langsam urn me<strong>in</strong> Augenlicht zu fürchten<br />

und gab ihrem Drangen nach. Wir beschlossen jedoch, das Lager stehen zu lassen,<br />

da wir nach me<strong>in</strong>er Genesung noch unbed<strong>in</strong>gt <strong>die</strong> Pyramide ersteigen wollten.<br />

Schritt für Schritt führten mich <strong>die</strong> E<strong>in</strong>geborenen das Meren-Tal h<strong>in</strong>aus zur sumpfigen<br />

Carstensz-Wiese. Hier trafen wir den extremsten Gegensatz, den es auf der<br />

Welt gibt. Bislang hatten wir das Gefühl, <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em der unzuganglichsten Berggebiete<br />

der Erde zu se<strong>in</strong>, aber plötzlich vernahmen wir das Brummen von Generatoren,<br />

den Knall gezündeter Sprengladungen und den Larm riesiger Bagger. Wir<br />

standen an der Drahtumzaunung der Freeport-Kupferm<strong>in</strong>e - dem Ertsberg. Ich<br />

hörte <strong>die</strong> Stimmen weiBer Manner verschiedenster Sprachzugehörigkeit; sie sprachen<br />

aufmunternde Worte und streckten uns freundlich <strong>die</strong> Hande entgegen. E<strong>in</strong>e<br />

Seilbahn beförderte uns zum FuBe des Ertsberges, und anschlieBend fuhren wir<br />

mit e<strong>in</strong>em Auto nach Tembagapura h<strong>in</strong>unter. Mit dabei waren auch unsere zwei<br />

Damal; sie fuhren zum erstenmal <strong>in</strong> ihrem Leben mit dem Auto. Leider konnte ich<br />

ihre Gesichter nicht beobachten, aber ich hörte, wie sie vor Erregung ununterbrochen<br />

mit den Zahnen knirschten.<br />

Nun liege ich im Hospital der „M<strong>in</strong>enstadt" und werde vom australischen Arzt und<br />

<strong>in</strong>donesischen Krankenschwestern als deren e<strong>in</strong>ziger Patiënt bestens versorgt. Ich<br />

lüge nicht, wenn ich behaupte: Es ist das erste Krankenhaus, <strong>in</strong> dem ich mich<br />

wohlfühle! Seit me<strong>in</strong>e Augen mit e<strong>in</strong>er heilenden Salbe behandelt werden, haben<br />

<strong>die</strong> Schmerzen stark nachgelassen.<br />

12. September Tembagapura<br />

Der Zustand me<strong>in</strong>er Augen bessert sich zusehends. Ab und zu kann ich sie schon<br />

für Augenblicke öffnen, wenngleich ich dann noch alles verschwommen sehe.<br />

Natürlich ist unsere Anwesenheit auch der <strong>in</strong>donesischen Polizei nicht verborgen<br />

geblieben. Fritz wird zum Kommandanten zitiert und muB unsere „Surat Jalan"<br />

vorweisen. Die erwarteten Schwierigkeiten bleiben nicht aus. Unser Aufenthalt<br />

wird als illegal betrachtet, e<strong>in</strong> seitenlages Protokoll aufgenommen und an <strong>die</strong> vorgesetzte<br />

Behörde weitergeleitet. Nach Rücksprache mit dem Polizeikommando <strong>in</strong><br />

Jayapura wird uns mitgeteilt, daB wir zwar solange hier bleiben dürfen, bis ich wieder<br />

gesund b<strong>in</strong>, danach sei uns aber nicht erlaubt, nach Beoga zurückzumarschieren.<br />

Statt dessen sollen wir an <strong>die</strong> Südküste gebracht und ausgeflogen werden. Unser<br />

Gepack, das noch <strong>in</strong> der Mapala-Höhle deponiert ist, werden <strong>die</strong> Damal wieder<br />

nach Beoga mitnehmen und an e<strong>in</strong>en der MAF-Piloten übergeben. Der Traum von<br />

der Carstensz-Pyramide ist damit endgültig ausgetraumt.<br />

13. September<br />

Heute ist Fritz mit zwei E<strong>in</strong>geborenen zum Meren-Tal aufgestiegen, um unser Lager<br />

abzubauen. Wir haben zwar erwogen, uns bei Nacht und Nebel aus dem Staub<br />

zu machen, aber den Plan nach reiflicher Überlegung wieder fallengelassen. Die<br />

Erfolgschancen s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fach zu ger<strong>in</strong>g. Selbst wenn wir hier unbemerkt entwisch-<br />

160


Der Weg war das Ziel<br />

ten, würden wir spatestens <strong>in</strong> Jayapura gefaBt. Bei e<strong>in</strong>er neuerlichen strafbaren<br />

Handlung würden wir wohl nicht mehr so glimpflich davonkommen. Auch e<strong>in</strong>e<br />

gute Nachricht ist heute dabei. Sie betrifft allerd<strong>in</strong>gs nur mich; ich kann morgen<br />

das Spital verlassen!<br />

14. September<br />

Der Tag me<strong>in</strong>er Genesung ist gleichzeitig der Tag des Abschieds von unseren liebgewordenen<br />

Tragern. Sie machen sich heute auf den beschwerlichen Weg nach<br />

Beoga.<br />

Wir nutzen den Tag für e<strong>in</strong>en Ausflug <strong>in</strong>s südöstlich gelegene <strong>Papua</strong>-Dorf Waa.<br />

Leider wird uns nicht erlaubt, <strong>die</strong> Fotoapparate mitzunehmen, genauso wie es uns<br />

untersagt bleibt, im Gebiet von Tambagapura zu fotografieren.<br />

Das Dorf muB erst vor kurzer Zeit zerstört und <strong>die</strong> Bewohner vertrieben worden<br />

se<strong>in</strong>. Nur e<strong>in</strong> paar Alte s<strong>in</strong>d zurückgeblieben und haben e<strong>in</strong>zelne Hutten notdürftig<br />

repariert. Immer wieder wird mir von Übergriffen <strong>in</strong>donesischer Soldaten auf <strong>die</strong><br />

Ure<strong>in</strong>wohner berichtet. Schwere ZusammenstöBe soll es <strong>in</strong> der Nahe des Dorf es<br />

Akimuga gegeben haben.<br />

Den Nachmittag verbr<strong>in</strong>gen wir <strong>in</strong> der Kant<strong>in</strong>e, von deren Vorzügen mir Fritz<br />

schon e<strong>in</strong>iges berichtet hat. Und er hat nicht übertrieben. Es ist e<strong>in</strong> Schlaraffenland<br />

schlechth<strong>in</strong>! Infolge des Schichtbetriebes ist sie rund um <strong>die</strong> Uhr geöffnet, <strong>die</strong><br />

Nahrungsmittel werden von Australien e<strong>in</strong>geflogen, und alles ist gratis.<br />

Tembagapura ist <strong>die</strong> scharfste kulturelle Konfrontation, <strong>die</strong> ich je sah. Es gibt Restaurants,<br />

Tennisplatze, Supermarkt, K<strong>in</strong>o, und aus Lautsprechern dröhnt Popmusik.<br />

Aber auf der Strafie begegenen sich Menschen zweier Zeitalter; der WeiBe,<br />

der gekommen ist, um mit allen technischen Mitteln unseres Jahrhunderts <strong>die</strong> Bodenschatze<br />

auszubeuten, und der <strong>Papua</strong>, der mit se<strong>in</strong>er Ste<strong>in</strong>axt den Urwald rodet,<br />

um <strong>die</strong> zum Überleben notwendigen SüBkartoffeln anzupflanzen.<br />

75. September<br />

Heute geht unser Aufenthalt <strong>in</strong> Tembagapura dem Ende zu. Noch am Vormittag<br />

steigen wir <strong>in</strong> den Kle<strong>in</strong>bus der M<strong>in</strong>engesellschaft, der uns nach Timika br<strong>in</strong>gen<br />

soll.<br />

Wie e<strong>in</strong>e Riesenschlange w<strong>in</strong>det sich das braune Band der SchotterstraBe durch<br />

den immergrünen Regenwald. Obwohl <strong>die</strong> Landschaft wie im Fluge vorbeizieht,<br />

kann ich e<strong>in</strong>en E<strong>in</strong>druck vom Gelande gew<strong>in</strong>nen, das Wollaston e<strong>in</strong>st solche<br />

Schwierigkeiten bereitete. Vor uns taucht das weite Schwemmland der Südküste<br />

auf. Bald spüren wir <strong>die</strong> feuchte Hitze der Niederungen unangenehm am Körper.<br />

Me<strong>in</strong>e Gedanken aber s<strong>in</strong>d bei den Tragern, <strong>die</strong> weniger mit der Hitze als vielmehr<br />

mit der Kalte zu kampfen haben werden. Ich kann sie zwar im Augenblick nicht<br />

beneiden, aber e<strong>in</strong>es wird mir auf der ereignislosen Autofahrt vom Carstensz-Gebirge<br />

zum Flughafen Timika klar: Der groBe Reiz der Eisgipfel Neugu<strong>in</strong>eas liegt im<br />

Anmarsch durch <strong>die</strong> Urwalder und <strong>in</strong> der Begegnung mit deren Bewohnern. In besonderem<br />

MaBe ist hier der Weg das Ziel. E<strong>in</strong>e Annaherung von Süden her ware<br />

zwar mühelos, sofern man e<strong>in</strong>e Erlaubnis dazu hatte, aber man würde sich um e<strong>in</strong><br />

groBes Erlebnis br<strong>in</strong>gen.<br />

161


Die Insel der<br />

Drachen<br />

Es ist wie e<strong>in</strong>e mittelalterliche Sage, <strong>die</strong> plötzlich lebendig wird und auf mich zukommt:<br />

mit gepanzertem Schadel, drohenden Augen und weit vorgestreckter gespaltener<br />

Zunge. Die breken Pfoten, mit scharfen Krallen ausgestattet, bewegen<br />

den massigen, drei Meter langen Körper. Der Schwanz nimmt überhaupt ke<strong>in</strong> Ende.<br />

Nur <strong>die</strong> feuerspeienden Nüstern fehlen.<br />

Es ist ausgeschlossen, dafi <strong>die</strong>ses machtige, gepanzerte Reptil nicht an jenes versunkene<br />

Zeitalter er<strong>in</strong>nert, wo es auf unserer erstehenden Welt von Sauriern wimmelte.<br />

Die meisten <strong>die</strong>ser Tiere waren viel gröfler als <strong>die</strong>ses, das jetzt vor mir steht. Alle<br />

Saurier s<strong>in</strong>d verschwunden, s<strong>in</strong>d Umwalzungen zum Opfer gefallen, oder e<strong>in</strong>fach<br />

dem unerbittlichen Gesetz der Evolution. Nur der Komodo-Waran hat überlebt,<br />

ragt als lebendes Fossil bis <strong>in</strong> unsere Zeit h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>, auf drei w<strong>in</strong>zigen Inselchen,<br />

<strong>die</strong> verloren zwischen dem Indischen und dem Pazifischen Ozean liegen.<br />

Langsam nahert sich das Reptil me<strong>in</strong>em Versteek, lafit e<strong>in</strong>en riesigen Hals sehen,<br />

gefurcht und faltig wie <strong>die</strong> Haut e<strong>in</strong>es Elefanten. Deutlich kann ich erkennea, wie<br />

<strong>die</strong> machtigen Muskeln unter se<strong>in</strong>er Haut spielen. Die Zunge schnellt vor und untersucht<br />

sorgsam jeden Zentimeter me<strong>in</strong>es Unterstandes. Dabei starrt das runde<br />

Auge so <strong>in</strong>tensiv auf das Guckloch, daB ich sicher b<strong>in</strong>, gesehen zu werden. Langst<br />

habe ich zu fotografieren aufgehört, wie zu Ste<strong>in</strong> erstarrt, verharre ich <strong>in</strong> geduckter<br />

Haltung, <strong>in</strong> der Erwartung, me<strong>in</strong> eigenes Versteek bald mit dem Drachen teilen zu<br />

mussen. Aber zum Glück s<strong>in</strong>d me<strong>in</strong>e Befürchtungen grundlos, der Waran ist mit<br />

se<strong>in</strong>er Erkundung zufrieden, setzt sich wieder <strong>in</strong> Bewegung und wendet sich dem<br />

Köder zu.<br />

Endlich hat er den Ziegenkörper entdeckt, umkreist ihn vorsichtig und betastet<br />

se<strong>in</strong> „Mahl" von allen Seiten mit gespaltener Zungenspitze. Dann stemmt er sich<br />

auf <strong>die</strong> Vorderbe<strong>in</strong>e, und mit e<strong>in</strong>er Schnelligkeit, <strong>die</strong> man dem grofien Reptil nicht<br />

zutrauen würde, schnellt der Hals vor, das Gebifi dr<strong>in</strong>gt <strong>in</strong> <strong>die</strong> Flanke des Tieres.<br />

Mit den sagemesserartigen Zahnen se<strong>in</strong>es furchtbaren Kiefers schneidet er den Ziegenkörper<br />

auf, <strong>die</strong> Knochen krachen und zerreifien, als waren sie aus Papier. Besondere<br />

Leckerbissen sche<strong>in</strong>en für ihn <strong>die</strong> <strong>in</strong>neren Organe zu se<strong>in</strong>. Der ganze Kopf<br />

verschw<strong>in</strong>det im Brustkorb der Ziege, taucht aus den E<strong>in</strong>geweiden wieder auf,<br />

zerrt Leber, Lunge und Gedarme heraus und verschluckt alles auf e<strong>in</strong>mal.<br />

Der Drache hat nun se<strong>in</strong>e Umgebung völlig vergessen. Weder das Surren der Kamera<br />

noch das Klieken des Fotoapparates kümmert ihn. All se<strong>in</strong>e Aufmerksamkeit<br />

gilt dem „Festmahl". Er beiflt den Kopf ab und macht sich daran, ihn mit Haut<br />

und Haaren zu verschl<strong>in</strong>gen, wie es Reptilien tun, weil ihre Kiefer nicht zu kauen<br />

vermogen. Es ist enorm, welche „Bissen" auf e<strong>in</strong>mal im Rachen <strong>die</strong>ses Ungetüms<br />

verschw<strong>in</strong>den. Dabei w<strong>in</strong>det es sich wie e<strong>in</strong> Fisch an der Angel. Die Anstrengung<br />

162


Drachen spazieren am Strand<br />

bei sol<strong>die</strong>r Art der Nahrungsaufnahme ist so grolï, da/3 das Tier mehrmals Pausen<br />

e<strong>in</strong>legen muB. Trotzdem ist nach 15 M<strong>in</strong>uten kaum mehr etwas von der Ziege<br />

übrig. Befriedigt und ohne Hast verschw<strong>in</strong>det das Reptil so leise, wie es gekommeri<br />

ist, im dichten Urwald Komodos. Es war me<strong>in</strong>e erste Begegnung mit der gröBten<br />

Echse der Welt, der noch weitere folgen sollten. Fossilienfunde beweisen, daB <strong>die</strong><br />

Vorfahren <strong>die</strong>ser Warane sich vor 50 oder 60 Millionen Jahren <strong>in</strong> Australien entwickelten<br />

- also schon lange, bevor ihre jetzige Heimat, <strong>die</strong> Inse<strong>in</strong> Komodo, R<strong>in</strong>ca<br />

und Padar, dem Meer entstiegen. Aber wie konnten <strong>die</strong> Warane <strong>die</strong>se Inse<strong>in</strong><br />

überhaupt erreichen, <strong>die</strong> mehr als 700 Kilometer vom Nordwesten Australiens entfernt<br />

liegen? Das ist nur e<strong>in</strong>es der Ratsel, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Existenz <strong>die</strong>ser Tiere uns heute<br />

noch aufzulösen geben.<br />

Die Weltöffentlichkeit erfuhr erstmals von der Existenz <strong>die</strong>ser Urwelttiere im Jahre<br />

1911, als e<strong>in</strong> hollandischer Pilot vor Komodo notlanden mufite. Vom Westw<strong>in</strong>cl<br />

abgetrieben, gelang es dem kühnen Flieger, auf e<strong>in</strong>er der zahlreichen Inse<strong>in</strong> der<br />

Sundasee zu landen. Fischer konnten ihn retten und aufs Festland br<strong>in</strong>gen, von wo<br />

er, nach e<strong>in</strong>er wahren „Odyssee", schliefilich Java erreichte.<br />

In dem Bericht an se<strong>in</strong>e Vorgesetzten beschrieb der Gerettete auch <strong>die</strong> Insel, auf<br />

der er Zuflucht fand, und erklarte, sie sei von riesigen Reptilien bewohnt, richtigen<br />

Drachen, <strong>die</strong> Hirsche und Wildschwe<strong>in</strong>e verschlangen, welche man dort <strong>in</strong> grofler<br />

Zahl f<strong>in</strong>de.<br />

Man erklarte ihn daraufh<strong>in</strong> freiweg für verrückt. Der Armste müsse bei dem Unfall<br />

e<strong>in</strong>e Gehimerschütterung erlitten haben und gehore schnellstens <strong>in</strong> Behandlung,<br />

war <strong>die</strong> e<strong>in</strong>hellige Me<strong>in</strong>ung se<strong>in</strong>er Mitmenschen. Es fehlte nicht viel, und er<br />

ware e<strong>in</strong>gesperrt worden. Nur e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>ziger von jenen, <strong>die</strong> se<strong>in</strong>en Bericht lesen,<br />

schenkte ihm Glauben, Major Ouwens, der Direktor des berühmten Buitenzorg-<br />

Museums <strong>in</strong> Java. Er beauftragte e<strong>in</strong>en hollandischen Offizier, der <strong>in</strong> Flores stationiert<br />

war, <strong>die</strong>sbezüglich Nachforschungen anzustellen. Doch erst e<strong>in</strong> Jahr spater<br />

fand <strong>die</strong>ser Zeit, sich nach Komodo zu begeben. Sobald er aber se<strong>in</strong>en Fufi an<br />

Land setzte, mufite er erkennen, dafl der Pilot weder wahns<strong>in</strong>nig war noch Opfer<br />

e<strong>in</strong>er optischen Tauschung.<br />

Riesige Drachen spazierten munter über <strong>die</strong> Strande und <strong>die</strong> hügeligen Savannen<br />

der Insel. Er zweifelte selbst daran, ob er se<strong>in</strong>en Augen trauen könne und nicht<br />

Halluz<strong>in</strong>ationen unterliege. Er fühlte sich plötzlich um 160 Millionen Jahre zurückversetzt,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong> Zeitalter, <strong>in</strong> dem solche Riesenreptilien <strong>die</strong> ganze Erde bevölkerten.<br />

Niemand konnte es ihm verdenken, dafi er alles untemahm, um <strong>die</strong>sem<br />

„Alptraum" so schnell als möglich h<strong>in</strong>ter sich zu lassen.<br />

Aber er war geistesgegenwartig genug, zwei der kle<strong>in</strong>sten Tiere zu erlegen, um<br />

nicht Gefahr zu laufen, ebenfalls für verrückt erklart zu werden. Er lieB <strong>die</strong> Balge<br />

abziehen und schickte sie zusammen mit e<strong>in</strong>em genauen Bericht als Beweisstück zu<br />

Ouwens nach Java. Als der hollandische Gelehrte <strong>die</strong> Balge erhielt, erkannte er sofort,<br />

daB sie nicht von Meeresechsen stammten, sondern von Waranen, also<br />

fleischfressenden Echsen, <strong>die</strong> <strong>in</strong> allen tropischen Gebieten der Alten Welt leben. Er<br />

nannte <strong>die</strong>se gröBten überlebenden Nachfahren der Saurier folgerichtig „Varanus<br />

Komodoensis". Damit war <strong>die</strong> Sensation perfekt und <strong>die</strong> Naturwissenschaften um<br />

e<strong>in</strong>e Raritat reicher.<br />

163


Die Insel der Drachen<br />

Die Nachricht g<strong>in</strong>g durch <strong>die</strong> Presse der ganzen Welt, und <strong>die</strong> w<strong>in</strong>zige Insel Komodo<br />

wurde von heute auf morgen berühmt.<br />

Die darauffolgenden Kriegsjahre verh<strong>in</strong>derten bereits geplante wissenschaftliche<br />

Forschungsexpeditionen. Die Drachen von Komodo gerieten, eben erst entdeckt,<br />

wieder <strong>in</strong> Vergessenheit. Erst viel spater sollte wieder von ihnen <strong>die</strong> Rede se<strong>in</strong>, aber<br />

aus Gründen, <strong>die</strong> nichts mit der Wissenschaft zu tun hatten. Denn <strong>die</strong> Nachricht<br />

von der Entdeckung der Riesenechse hatte auch bei der Zunft der Gerber starken<br />

E<strong>in</strong>druck h<strong>in</strong>terlassen. Schon wurde berechnet, wie viele Schuhe und Handtaschen<br />

sich aus dem Balg des Drachen machen lieBen. Ch<strong>in</strong>esische Jager witterten e<strong>in</strong> gutes<br />

Geschaft und begaben sich <strong>in</strong> Scharen nach Komodo. Sie erlegten gut 100 Warane<br />

und glaubten, damit das Glück ihres Lebens gemacht zu haben. Zu ihrem<br />

Pech, aber zum Glück für <strong>die</strong>se seltenen Tiere, erwies sich <strong>die</strong> Haut als völlig unbrauchbar,<br />

sie widersetzt sich jeglicher Bearbeitung, da sie voller kle<strong>in</strong>er Knochenblattchen<br />

steekt. Die Handler und Jager zogen wieder ab. Doch <strong>die</strong> Öffentlichkeit<br />

war alarmiert, <strong>die</strong> wissenschaftliche Welt um <strong>die</strong> Zukunft des Warans besorgt und<br />

forderte Schutzmaf<strong>in</strong>ahmen.<br />

Noch im selben Jahr erlieB der Sultan von Ostsumbawa, dem <strong>die</strong> Insel Komodo<br />

unterstand, das Verbot, <strong>die</strong>ses erstaunliche Reptil zu jagen.<br />

In den darauffolgenden Jahren gab es zahlreiche Expeditionen nach Komodo, um<br />

den Drachen aufzuspüren. Man stellte dabei fest, daB der Lebensraum <strong>die</strong>ser Riesenechsen<br />

viel kle<strong>in</strong>er ist, als man vermutete. AuBer auf Komodo f<strong>in</strong>det man Warane<br />

nur mehr auf den Nachbar<strong>in</strong>seln R<strong>in</strong>ca und Padar und noch wenige Exemplare<br />

an der Westküste von Flores.<br />

lm Jahre 1964 schiffen sich vier junge Franzosen von Flores e<strong>in</strong>, um langere Zeit<br />

das Leben der Warane zu teilen, sie zu dokumentieren und erstmals echte Beobachtungen<br />

über Verhalten und Lebensweise anzustellen. Ihr Ziel ist <strong>die</strong> Insel R<strong>in</strong>ca,<br />

wo sie <strong>in</strong> Loho Buaya, „Bucht der Krokodile", an Land gehen. Schon <strong>die</strong> Überfahrt<br />

von der Westküste von Flores dorth<strong>in</strong> ist e<strong>in</strong> Abenteuer. Tückische Meeresströmungen<br />

umgeben <strong>die</strong> Drachen<strong>in</strong>seln und br<strong>in</strong>gen <strong>die</strong> w<strong>in</strong>zigen Fischerboote<br />

immer wieder <strong>in</strong> gefahrliche Situationen. An den den Kusten vorgelagerten Korallenriffen<br />

wimmelt es von Seeschlangen, deren Gift wesentlich wirkungsvoller ist als<br />

das aller Landschlangen. Das warme Meer ist bevölkert von Haien und riesigen<br />

Seekrokodilen.<br />

Ke<strong>in</strong> Wunder also, daB es bis heute schwierig ist, e<strong>in</strong>en Fischer von Sape oder Labuhan<br />

Bajo als Fahrmann anzuheuern. Denn auch <strong>die</strong> Inse<strong>in</strong> selbst zeigen sich alles<br />

andere als e<strong>in</strong>ladend. Die niedrigen Hügel s<strong>in</strong>d von hohem, braunem Gras bedeckt;<br />

<strong>in</strong> den Talern und an den Hangen der Berge wuchert dichter Urwald. Abgesehen<br />

von den rund zweitausend Waranen gibt es Kobras, Vipern und giftige Sp<strong>in</strong>nen.<br />

Komodo, R<strong>in</strong>ca und Padar s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs <strong>die</strong> lieblichen Tropen<strong>in</strong>seln, wie<br />

es etwa ihre geographische Lage vermuten lieBe. Das erfahren auch <strong>die</strong> vier französischen<br />

Forscher, spatestens dann, als sie <strong>in</strong> der „Bucht der Krokodile" an Land gehen.<br />

Die Frage, warum es <strong>die</strong> e<strong>in</strong>geborenen Fischer so eilig haben, nach Flores zurückzukommen,<br />

f<strong>in</strong>det bei der Gelegenheit ebenfalls e<strong>in</strong>e Antwort, „als wir den<br />

FuB an Land setzen. Land ist übrigens e<strong>in</strong> übertriebenes Wort, denn wir bef<strong>in</strong>den<br />

164


Waran-Beobachtung <strong>in</strong> der Krokodilsbucht<br />

uns <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er schlammigen kle<strong>in</strong>en Bucht, wo wir uns auf den spitzen Wurzeln der<br />

Mangroven vorkommen wie e<strong>in</strong> Fakir auf se<strong>in</strong>ern Nagelbrett.<br />

Zu unserem Glück folgt dem Schlamm e<strong>in</strong>e lehmige Landzunge; wir suchen uns<br />

e<strong>in</strong>e Stelle aus, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Flut nicht zu erreichen sche<strong>in</strong>t, und machen uns daran, unser<br />

Material dorth<strong>in</strong> zu tragen. Doch da geschieht etwas Seltsames: Ich sehe, wie<br />

me<strong>in</strong>e Kameraden e<strong>in</strong>en Kosakentanz aufführen und sich auf <strong>die</strong> Be<strong>in</strong>e klatschen,<br />

und im gleichen Augenblick ist mir, als würde ich von allen Seiten von Nadeln<br />

durchbohrt. - Hier ist alles voller Mücken! In Wirklichkeit s<strong>in</strong>d es nicht bloB <strong>die</strong><br />

üblichen Mücken, wie wir feststellen, sondern ganze Schwarme von Zuckmücken,<br />

<strong>die</strong> zwar nicht gröfler s<strong>in</strong>d als e<strong>in</strong> Stecknadelkopf, aber ebenso schmerzhaft stechen<br />

wie <strong>die</strong> Bremsen. Ganz offenbar haben <strong>die</strong>se armen Tiere seiten Gelegenheit<br />

zum Fressen und legen sich eilends e<strong>in</strong>en frischen Blutvorrat für schlechte Tage an.<br />

Jedenfalls haben wir sie seiten <strong>in</strong> solchen Mengen auf so kle<strong>in</strong>em Raum erlebt, und<br />

nun gerade dort, wo wir vielleicht lange Zeit bleiben wollen! Die ekligen Biester<br />

drohen uns das Leben unmöglich zu machen, und zu allem ÜberfluB übertragen<br />

sie noch e<strong>in</strong>e Menge Krankheiten: Denguefieber, Fadenwürmer und andere Freuden!<br />

Aber dabei bleibt es nicht e<strong>in</strong>mal! Peter hatte sich e<strong>in</strong>en Augenblick entfernt und<br />

ruft plötzlich beklommen nach mir: - Pierre! Komm rasch her! Da neben mir<br />

s<strong>in</strong>d zwei Schlangen, und ich wage nicht, mich zu rühren!<br />

lm Taschenlampensche<strong>in</strong> sehe ich ihn genau über zwei armlangen Seeschlangen<br />

hoeken. Ich beruhige ihn:<br />

- Wenn du sie nicht anrührst, hast du nichts zu befürchten. Aber er sieht nicht<br />

sehr überzeugt aus und leuchtet weiter r<strong>in</strong>gsherum den Schlamm ab:<br />

- Da, noch e<strong>in</strong>e! Und noch e<strong>in</strong>e!<br />

Wir suchen systematisch <strong>die</strong> Umgebung ab und entdecken sie zu Dutzenden, e<strong>in</strong>zeln<br />

oder <strong>in</strong> Klumpen, zusammengerollt auf dem Boden oder im seichten Wasser.<br />

Es s<strong>in</strong>d Enhydr<strong>in</strong>a, e<strong>in</strong>e Seeschlangenart, deren Gift zweimal so stark ist wie das<br />

Gift der Kobra; e<strong>in</strong> Serum dagegen gibt es nicht. Glücklicherweise s<strong>in</strong>d <strong>die</strong>se Reptilien<br />

sehr trage und greifen nie von selbst an. Es ist jedoch nicht ratsam, sie zu berühren,<br />

geschweige denn darauf zu treten. Und an der Stelle, wo wir an Land gegangen<br />

s<strong>in</strong>d, wimmelt es von <strong>in</strong>nen!"<br />

Aber <strong>die</strong> „Bucht der Krokodile" erweist sich dennoch als gunstiger Ort, um Warane<br />

zu beobachten. Schon am allerersten Abend stattet e<strong>in</strong> ansehnliches Exemplar<br />

e<strong>in</strong>en Höflichkeitsbesuch ab und frifit bei <strong>die</strong>ser Gelegenheit gleich se<strong>in</strong> Abendessen<br />

auf. Mehrere Versuche, <strong>die</strong> Drachen <strong>die</strong>ses bestimmten Revieres zu fangen, zu<br />

markieren, um <strong>die</strong> Wechsel besser verfolgen zu können, miBl<strong>in</strong>gen. Entweder sie<br />

rühren den Köder <strong>in</strong> der Falle überhaupt nicht an. Gel<strong>in</strong>gt es den beiden jedoch,<br />

e<strong>in</strong>mal e<strong>in</strong>en zu fangen, dann halt der Bambuskafig se<strong>in</strong>en Ausbruchsversuchen<br />

nicht stand und zerreiBt wie e<strong>in</strong>e Streichholzschachtel. E<strong>in</strong>e andere Fangtechnik,<br />

<strong>die</strong> mittels e<strong>in</strong>er Schl<strong>in</strong>ge das Tier an der Gurgel faBt, wurde bei e<strong>in</strong>er amerikanischen<br />

Expedition angewandt. Dieses System erweist sich als völlig unbrauchbar<br />

und für <strong>die</strong> armen Tiere verhangnisvoll, denn von den <strong>in</strong>sgesamt siebenundzwanzig<br />

gefangenen Drachen werden dabei zweiundzwanzig erdrosselt.<br />

Es ist deshalb heute besonders erfreulich, daJJ <strong>die</strong> <strong>in</strong>donesische Regierung <strong>die</strong> Not-<br />

165


wendigkeit von Schutzmaf<strong>in</strong>ahmen zum Uberleben der Tiere erkannt hat, <strong>die</strong> Insel<br />

zum Schutzgebiet erklarte und selbstverstandlich e<strong>in</strong> strenges AbschuBverbot erlieB.<br />

Früher, <strong>in</strong>sbesondere nach ihrer sensationellen Entdeckung, wurden viele Exemplare<br />

um riesige Summen an <strong>die</strong> Zoos der Welt verkauft. Bald lehrte <strong>die</strong> Erfahn<strong>in</strong>g,<br />

daB der Komodo-Waran e<strong>in</strong> sehr sensibles Geschöpf ist. Er überlebt e<strong>in</strong>e<br />

Umsiedlung nur sehr schwer. Dabei kann es vorkommen, daB er, e<strong>in</strong>mal fortgerissen<br />

von se<strong>in</strong>er sonnigen Insel, <strong>die</strong> Nahrungsaufnahme verweigert und regelrecht<br />

verhungert. Andere wiederum sterben bereits nach wenigen Jahren an Amöbenund<br />

Parasitenbefall. So f<strong>in</strong>det man Warane auBerhalb ihrer isolierten Heimat heute<br />

nur noch <strong>in</strong> den Zoos von Jakarta und Surabaya.<br />

Da es immer noch schwierig ist, mit den wenigen zur Verfügung stehenden Booten<br />

von Flores oder Sumbawa aus <strong>die</strong> Inse<strong>in</strong> zu erreichen und zusatzlich e<strong>in</strong>e Genehmigung<br />

erforderlich ist, halt sich <strong>die</strong> Besucherzahl noch <strong>in</strong> Grenzen. So besteht <strong>die</strong><br />

Hoffnung, daft e<strong>in</strong>es der merkwürdigsten Relikte grauer Vorzeit auch unser Jahrhundert<br />

überleben wird.<br />

E<strong>in</strong>e Fahrt nach Komodo ist e<strong>in</strong>e Reise besonderer Art. Dazu benötigt man allerd<strong>in</strong>gs<br />

viel Zeit und e<strong>in</strong>e gehörige Portion Beharrlichkeit. Aber sie bietet unendlich<br />

viele Berührungspunkte mit den verschiedensten Facetten des Vielvölkerstaates.<br />

Me<strong>in</strong> Ausgangspunkt ist Bali, <strong>die</strong> westlichste der kle<strong>in</strong>en Sunda<strong>in</strong>seln, getrennt von<br />

der Heimat des Drachen durch Lombok und Sumbawa. Schon bei der Überfahrt<br />

von Bali zur Nachbar<strong>in</strong>sel Lombok überschreiten wir e<strong>in</strong>e Grenze, e<strong>in</strong>e politische<br />

166


Sassaks und Bal<strong>in</strong>esen<br />

und zugleich auch e<strong>in</strong>e Vegetationsgrenze. Denn zwischen den beiden Inse<strong>in</strong> verlauft<br />

<strong>die</strong> fiktive Wallace-L<strong>in</strong>ie, <strong>die</strong> Bali noch als e<strong>in</strong>e Region der asiatischen Flora<br />

und Fauna identifiziert, wahrend Lombok bereits der australischen zuzuordnen<br />

ist. Auch wenn man heute <strong>die</strong>se L<strong>in</strong>ie nicht mehr so prazise sieht — jedenfalls<br />

spricht man von e<strong>in</strong>em Übergangsfeld, wo sich beide Weiten begegnen —, so kann<br />

man doch feststellen, daB sich asiatische GroBtiere nur bis Bali ausbreiten konnten,<br />

etwa der Tiger, das Nashorn usw. Auf Lombok dagegen f<strong>in</strong>det man bereits<br />

Beuteltiere, deren bekanntestes das Kanguruh als Symbol für se<strong>in</strong>e Heimat Australien<br />

gilt. Zwischen Bali und Lombok liegt also mehr als nur e<strong>in</strong>e schmale Wasser -<br />

straBe. Abgesehen von der trennenden Wallace-L<strong>in</strong>ie ist Lombok <strong>die</strong> erste Insel<br />

der neugegründeten Prov<strong>in</strong>z Nusa Tenggara mit dem Gouverneurssitz Mataram.<br />

Wer mit dem Schiff von Padang Pai (Bali) nach Lembar (Lombok) übersetzt, wird<br />

vorerst zum<strong>in</strong>dest <strong>in</strong> landschaftlicher H<strong>in</strong>sicht groBe Ubere<strong>in</strong>stimmung mit Bali<br />

vorf<strong>in</strong>den. Der E<strong>in</strong>druck wird noch verstarkt, da <strong>die</strong> meisten auf Lombok ansassigen<br />

Bal<strong>in</strong>esen im Westteil der Insel wohnen und dort ihre kulturelle Eigenheit entfalten.<br />

Bal<strong>in</strong>esische Tempel, wenngleich viel armseliger als auf der „Mutter<strong>in</strong>sel",<br />

und Reisterrassen s<strong>in</strong>d auBere Zeichen des historisch bed<strong>in</strong>gten E<strong>in</strong>flusses Balis auf<br />

<strong>die</strong> kle<strong>in</strong>ere Nachbar<strong>in</strong>sel. Aber damit s<strong>in</strong>d auch alle Geme<strong>in</strong>samkeiten erschöpft,<br />

denn Lombok ist völlig anders, der erste Vorposten der „Inse<strong>in</strong> des Ostens", und<br />

ke<strong>in</strong>esfalls, wie es clevere Reiseveranstalter wollen, e<strong>in</strong> bisher unentdecktes zweites<br />

Bali.<br />

Der bedeutendste Unterschied liegt <strong>in</strong> den Menschen. Der gröBte Teil der Bewohner<br />

s<strong>in</strong>d Sassaks: das ist e<strong>in</strong> hochgewachsener, dunkelhautiger Bergstamm mit<br />

leicht kaukasischem E<strong>in</strong>schlag. Der Ursprung <strong>die</strong>ser Rasse muB wohl <strong>in</strong> Nordwest-<br />

In<strong>die</strong>n oder Burma gelegen haben. Auch <strong>die</strong> Tracht er<strong>in</strong>nert an Bergvölker <strong>die</strong>ser<br />

Gegend. Frauen tragen auch heute noch das traditionelle, selbstgewebte Gewand<br />

der Sassaks. Es besteht aus e<strong>in</strong>em gestreiften Sarong, der mit e<strong>in</strong>em langen, bunten<br />

Schal um <strong>die</strong> Hüften geschlungen wird, und e<strong>in</strong>er schwarzen Bluse. Doch der ganze<br />

Stolz der Frauen ist ihr prachtiger Silberschmuck, den sie an Armen und Be<strong>in</strong>en<br />

anbr<strong>in</strong>gen.<br />

Die Manner dagegen s<strong>in</strong>d sehr e<strong>in</strong>fach gekleidet; meist reicht e<strong>in</strong> grobes, um <strong>die</strong><br />

Hüfte gewickeltes Tuch. Der Oberkörper bleibt unbedeckt. Dieses Bergvolk war<br />

nie <strong>in</strong> der Lage, e<strong>in</strong> e<strong>in</strong>iges Königreich auf se<strong>in</strong>er Insel zu errichten. Immer wieder<br />

standen sie sich im „Bruderkampf" gegenüber. So war es auch Anfang des<br />

17. Jahrhundert, als der Sassakkönig Datu Bejangi den bal<strong>in</strong>esischen Fürsten von<br />

Karangasem um Hilfe gegen se<strong>in</strong>en Mitregenten Datu Selaparang bat. In der entscheidenden<br />

Schlacht wurde Datu Selaparang getötet. Doch den Bal<strong>in</strong>esen gelang<br />

es, sich auf Lombok festzusetzen und bald <strong>die</strong> gesamte Insel unter Kontrolle zu<br />

br<strong>in</strong>gen. Sie gründeten vier Fürstentümer und regierten <strong>die</strong>se als Feudalherren.<br />

Ihrer Herrschaft wurde erst im Jahre 1894 durch <strong>die</strong> Hollander e<strong>in</strong> Ende gesetzt,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> „mohammedanischen" Sassaks gegen <strong>die</strong> verhaBten Bal<strong>in</strong>esen <strong>in</strong>s Land riefen.<br />

Heute leben Bal<strong>in</strong>esen und Sassaks friedlich nebene<strong>in</strong>ander und respektieren<br />

jeweils <strong>die</strong> andere Religion.<br />

Die Sassaks hangen „offiziell" dem Islam an, trotzdem s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>e Reihe von Riten<br />

und Brauchen animistischen Ursprungs lebendig geblieben. Etwa das Nyale-Fest <strong>in</strong><br />

167


Die Insel der Drachen<br />

Kuta, wo sich alljahrlich tausende Sassaks treffen, um den sogenannten Nyale-<br />

Wurm im Meer zu fangen.<br />

E<strong>in</strong> anderer uralter Brauch dürfte das „Brautreiten" se<strong>in</strong>, bei dem Braut und Brautigam<br />

auf hölzernen, but bemalten Pferden durchs Dorf getragen werden. Das<br />

ganze nimmt zunehmend karnevalsahnlichen Charakter an; als Dekorationen werden<br />

Utensilien wie Sonnenbrillen, Armbanduhren und Zigarren verwendet, <strong>die</strong><br />

ke<strong>in</strong>erlei Rückschlüsse mehr auf überkommene Formen <strong>die</strong>ser Heiratszeremonie<br />

zulassen. Die Ure<strong>in</strong>wohner s<strong>in</strong>d e<strong>in</strong>fache Bauern geblieben, <strong>die</strong> weitgehend autonom<br />

<strong>in</strong> ihren Bergdörfern leben. Ihre kargen Lehm- und Holzbauten s<strong>in</strong>d mit Gras<br />

gedeckt; nur der Reisspeicher bildet, architektonisch gesehen, e<strong>in</strong>e Ausnahme. Das<br />

typische Reishaus ist e<strong>in</strong> auf Pfahlen gebautes, quadratisches Gebaude mit hohem,<br />

halbrundem Dach. Der Reisanbau auf Lombok erreicht nie <strong>die</strong> Qualitat jenes auf<br />

Bali; dafür ist das Land zu trocken und der Boden zu karg. Wahrend auf Bali drei<br />

Ernten im Jahr möglich s<strong>in</strong>d, gibt es hier nur e<strong>in</strong>e e<strong>in</strong>zige.<br />

Lombok bildet e<strong>in</strong> Sammelsurium verschiedenster Glaubensbekenntnisse. Der<br />

gröBte Teil der Bewohner bekennt sich zum Islam; animistische Traditionen werden<br />

meist im geheimen gepflegt. Die zweitstarkste Gruppe im Lande s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Anhanger<br />

von „Wetu Telu", e<strong>in</strong>er synkretistischen Religion, <strong>die</strong> es nur auf Lombok<br />

gibt. Dar<strong>in</strong> verb<strong>in</strong>den sich islamische, h<strong>in</strong>duistisch-bal<strong>in</strong>esische und animistische<br />

Elemente. Die Grundlage <strong>die</strong>ser Religion ist <strong>die</strong> Vorstellung von der Tr<strong>in</strong>itat aller<br />

D<strong>in</strong>ge. Das beg<strong>in</strong>nt mit der göttlichen Dreifaltigkeit; Allah - Mohammed<br />

- Adam, und führt über den Makrokosmos Sonne - Mond - Sterne bis h<strong>in</strong><br />

zum Mikrokosmos: Kopf - Rumpf - GliedmaBen. E<strong>in</strong> besonders gutes Beispiel<br />

für <strong>die</strong> Vermischung verschiedenster Glaubensrichtungen bietet <strong>die</strong> Bestattungsform<br />

der Wetu Telu: Der Verstorbene wird zuerst gewaschen, <strong>in</strong> weiBe Tücher gewickelt<br />

und auf e<strong>in</strong>em Bambusgestell aufgebahrt, wie es bei H<strong>in</strong>duisten Sitte ist.<br />

Dabei werden Koran-Suren zitiert, dazwischen wird zu den Ahnen gebetet. Dann<br />

br<strong>in</strong>gt man den Leichnam zum Friedhof und legt ihn mit dem Kopf <strong>in</strong> Richtung<br />

Mekka <strong>in</strong>s Grab, wahrenddessen der Priester zuerst <strong>in</strong> Sanskrit und dann <strong>in</strong> Arabisch<br />

Koran-Suren rezitiert. Auf den Grabhügel wird, wenn es sich um Verstorbene<br />

mannlichen Geschlechts handelt, e<strong>in</strong> symbolischer Holzpfahl gesteckt, bei<br />

Frauen e<strong>in</strong> geschnitzter Kamm. Nach den heiligen Handlungen auf dem Friedhof<br />

werden im Dorf von den Angehörigen Opfergaben auf e<strong>in</strong>em dafür vorgesehenen<br />

Gerust deponiert. Es handelt sich dabei vor allem um Gebrauchsgegenstande, etwa<br />

Stoffe, Seife, Streichhölzer usw. Dieses Ritual ist unzweifelhaft e<strong>in</strong> Relikt uralter<br />

Totenbrauche.<br />

Die letzte religiöse Gruppe <strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Schmelztiegel Lombok s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Bal<strong>in</strong>esen, <strong>die</strong><br />

rund zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmachen. Sie leben vor allem im Nordwesten<br />

der Insel <strong>in</strong> kultureller wie auch religiöser Verbundenheit mit der Mutter<strong>in</strong>sel<br />

Bali. Dies zeigt sich unter anderm im L<strong>in</strong>gsar, dem gröflten Heiligtum der bal<strong>in</strong>esischen<br />

Lombok-Bewohner. In e<strong>in</strong>em machtigen Doppelschre<strong>in</strong> wird ganz deutlich<br />

der Zusammenhang Lomboks und Balis symbolisiert. Selbstverstandlich fehlt<br />

auch nicht der Schre<strong>in</strong> für „Bhatara Gunung Agung", den als Sitz der Götter verehrten,<br />

höchsten Vulkan Balis. Nur steht er hier nicht, wie auf Bali üblich, im<br />

Nordosten des Tempelkomplexes, sondern im Nordwesten.<br />

168


Der See im Krater<br />

Doch trotz der vielen Unterschiede haben Bal<strong>in</strong>esen, Sassaks und Anhanger der<br />

Wetu-Telu-Religion e<strong>in</strong>es geme<strong>in</strong>sam: den Kult um den höchsten Vulkan Lomboks,<br />

den als Göttersitz verehrten Gunung R<strong>in</strong>jani.<br />

Die Bal<strong>in</strong>esen pilgern alljahrlich e<strong>in</strong>mal zum Kratersee. „Pekelan" heiBt <strong>die</strong> Zeremonie,<br />

bei der goldene Gegenstande <strong>in</strong> den See geworfen werden, um „Bhatata",<br />

dem Herrscher des Berges, zu huldigen.<br />

Auch <strong>die</strong> Sassaks glauben an <strong>die</strong> übernatürlichen Krafte des Vulkans. Hunderte<br />

besteigen den Berg, vor allem <strong>in</strong> Vollmondnachten, um <strong>in</strong> den heiBen Quellen im<br />

groBen Krater zu baden.<br />

Der R<strong>in</strong>jani (3726 Meter) gehort zu den höchsten Bergen Indonesiens. Er ist von<br />

jeder Stelle der Insel aus sichtbar, allerd<strong>in</strong>gs nur frühmorgens, denn schon <strong>in</strong> den<br />

ersten Vormittagsstunden hullen Wolken den Gipfel e<strong>in</strong>. Dieses Vulkanmassiv bedeckt<br />

mehr als <strong>die</strong> Halfte Lomboks. Die Auslaufer ziehen sich im Norden, Westen<br />

und Osten bis an <strong>die</strong> Kuste h<strong>in</strong>. Es gibt ke<strong>in</strong>e Strafie, <strong>die</strong> <strong>die</strong>se gewaltige Bergregion<br />

überquert.<br />

Beim Aufstieg, der sehr reizvoll ist, durchwandert man mehrere Vegetationsstufen.<br />

Bis auf e<strong>in</strong>e Höhe von 2000 Meter s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Hange mit dichten Waldern bewachsen,<br />

<strong>in</strong> denen Wildschwe<strong>in</strong>e, Affen und groBe Schlangen leben. Es folgt e<strong>in</strong>e schmale<br />

Nebelwaldzone, <strong>die</strong> dann allmahlich <strong>in</strong> niederen Busch übergeht, der bis unmittelbar<br />

an den Rand des Kraters reicht. Im Krater e<strong>in</strong>gebettet liegt e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er See, der<br />

sich halbmondförmig um den „Baru", e<strong>in</strong>en noch aktiven Nebenkrater, zieht. Das<br />

Gebiet rund um den See ist e<strong>in</strong> eigenes Biotop. Entlang der Ufer breitet sich e<strong>in</strong><br />

Nadelwald aus, der von verschiedenen Tierarten bewohnt wird. Darunter f<strong>in</strong>den<br />

sich auch GroBtiere wie Wildschwe<strong>in</strong>e und Affen. Den See selbst bevölkern<br />

Schwarme von Wasservögeln; lediglich Fische gibt es dar<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>e.<br />

Die Süd- und Ostseite des R<strong>in</strong>jani bietet dagegen e<strong>in</strong> völlig anderes Bild. Auf dem<br />

Weg dorth<strong>in</strong> überschreitet man e<strong>in</strong>e deutliche Grenze. Ausgetrocknete Reisfelder,<br />

woh<strong>in</strong> man blickt, <strong>die</strong>, je weiter man nach Süden kommt, <strong>in</strong> trockene, unfruchtbare<br />

Buschsteppe übergehen. Die Landschaft er<strong>in</strong>nert <strong>in</strong> vielem an das Innere Australiens,<br />

nicht an e<strong>in</strong>e Tropen<strong>in</strong>sel <strong>in</strong> Aquatornahe. Tatsachlich s<strong>in</strong>d es auch <strong>die</strong><br />

heiBen W<strong>in</strong>de aus dem Fünften Kont<strong>in</strong>ent, <strong>die</strong> das Klima Südlomboks nachhaltig<br />

bestimmen und e<strong>in</strong>e Vegetation schaffen, <strong>die</strong> Wallaces Theorie e<strong>in</strong>drucksvoll illustriert.<br />

Reisanbau ist nur mehr zur Regenzeit möglich. Die Menschen ernahren sich von<br />

Maniok und von den Früchten ihrer Kokospalmenplantagen. Immer haufiger f<strong>in</strong>det<br />

man <strong>die</strong> Lontarpalme, <strong>die</strong> durch ihre Genügsamkeit für e<strong>in</strong>e Existenz <strong>in</strong> <strong>die</strong>ser<br />

kargen Region pradest<strong>in</strong>iert ist. Hier im Süden w<strong>in</strong>det sich <strong>die</strong> StraBe Mataram<br />

- Labuan Lombok immer am FuBe des heiligen Berges entlang. Ihr Endpunkt,<br />

gleichzeitig der Fahrhafen nach Sumbawa, ist e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>es Pfahlbaudorf an e<strong>in</strong>er<br />

malerischen Bucht. E<strong>in</strong> schmaler Streifen grüner Palmen zieht sich an der Kuste<br />

entlang und bildet den e<strong>in</strong>zigen Kontrast zum monotonen Braun der Umgebung.<br />

Wer schon <strong>in</strong> aller Frühe <strong>in</strong> Labuan Lombok ankommt, um <strong>die</strong> Fahre nach Alas<br />

zu erreichen, der kann den R<strong>in</strong>jani <strong>in</strong> voller Pracht im Lichte der Morgensonne bestaunen,<br />

noch ehe das sich taglich wiederholende Schauspiel beg<strong>in</strong>nt, wenn <strong>die</strong> er-<br />

169


Die Insel der Drachen<br />

sten Wolken <strong>die</strong> Hange des Vulkans umspielen und bald darauf den Gipfel für den<br />

Rest des Tages e<strong>in</strong>hüllen.<br />

E<strong>in</strong>mal am Tag verkehrt <strong>die</strong> Fahre zwischen Labuan Lombok und Alas (Sumbawa),<br />

aber sie ist, wie alle öffentlichen Verkehrsmittel Indonesiens, hoffnungslos<br />

überlastet. Bereits Stunden vor der Abfahrt drangen sich <strong>die</strong> Menschen um <strong>die</strong><br />

Kartenverkaufsstelle, denn nur <strong>die</strong> ersten kommen <strong>in</strong> den GenuB der wenigen Sitzplatze,<br />

wahrend der Rest sich mit Stehplatzen an Deck oder im Laderaum des<br />

klapprigen Bootes begnügen mufl. Dabei kommt es zu regelrechten Positionskampfen,<br />

<strong>die</strong> nicht selten <strong>in</strong> Tatlichkeiten ausarten. Obwohl man als Tourist, und<br />

damit wichtiger Devisenbr<strong>in</strong>ger, zumeist Privilegiën genieBt, kommt man hier<br />

nicht darum herum, se<strong>in</strong> Schiffsticket auf <strong>die</strong> eben geschilderte Weise zu erwerben.<br />

Dabei habe ich e<strong>in</strong>mal erlebt, wie zwei Englander<strong>in</strong>nen allen Ernstes versuchten,<br />

<strong>die</strong> Leute e<strong>in</strong> „gesittetes und geordnetes" Benehmen beim Anstellen zu lehren. E<strong>in</strong><br />

recht komisches, um nicht zu sagen lacherliches Unterfangen.<br />

Auch sonst bescheren <strong>in</strong>donesische Massenverkehrsmittel dem Fremden, der das<br />

Land auf <strong>die</strong>se Art und Weise bereist, gewisse Eigenheiten und so manche Überraschung.<br />

Das billigste und deshalb auch am weitesten verbreitete Verkehrsmittel Indonesiens<br />

ist das Bemo, e<strong>in</strong> Kastenwagen mit e<strong>in</strong>er Fahrerkab<strong>in</strong>e und zwei Sitzreihen im h<strong>in</strong>teren,<br />

halboffenen Teil, <strong>die</strong> nach Bedarf hochgeklappt werden können. Es ist, wie<br />

gesagt, spottbillig. Nur für Fremde gilt <strong>die</strong> Grundregel: Wer viel fragt, zahlt auch<br />

viel. Und das kann bis zum Zwanzigfachen des Fahrpreises für E<strong>in</strong>heimische ausmachen,<br />

je nachdem, wie dumm man sich anstellt und mit wie vielen Kameras man<br />

behangt ist.<br />

E<strong>in</strong> Bemo ist niemals voll. Dafür sorgt schon der „Bemo-Boy", dessen Aufgabe es<br />

ist, nicht nur Passagiere zur Mitfahrt zu animieren und das Fahrgeld zu kassieren,<br />

sondern vor allem Menschen und Gepack so zusammenzupferchen, daB noch immer<br />

jemand h<strong>in</strong>e<strong>in</strong>paBt. Wer also gröBere Strecken mit e<strong>in</strong>em derartigen Gefahrt<br />

zurücklegen muB, ist gut beraten, sofern er e<strong>in</strong>igermaBen gesund ans Ziel kommen<br />

will, sich e<strong>in</strong>en Platz am Beifahrersitz zu ergattern. Allerd<strong>in</strong>gs tragt man vorne erhöhtes<br />

Unfallrisiko, denn so „unnötige" Fahrzeugteile wie Sche<strong>in</strong>werfer, Federung,<br />

Scheibenwischer und Tacho funktionieren niemals, dafür aber immer <strong>die</strong><br />

Hupe, <strong>die</strong> der Fahrer auch unentwegt betatigt. Bemos fahren ke<strong>in</strong>e festen Routen,<br />

daher gibt es auch ke<strong>in</strong>e fixen Haltestellen; wer mitfahren will, stellt sich e<strong>in</strong>fach<br />

an den Stralienrand und gibt <strong>die</strong>s durch Handzeichen zu erkennen. Wenn man es<br />

besonders eilig hat, sollte man e<strong>in</strong> relativ volles Bemo wahlen, um nicht Gefahr zu<br />

laufen, noch stundenlang durch <strong>die</strong> Stadt zu kurven, bis das Vehikel endlich voll<br />

ist. Wer das zweifelhafte „Glück" hat, h<strong>in</strong>ten zu sitzen, der denke an jene aufmunternden<br />

Worte, <strong>die</strong> ich <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Indonesienführer gelesen habe: „Es gibt drei Möglichkeiten,<br />

<strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Bemo zu sterben: als Folge e<strong>in</strong>es Unfalls, an Erstickung oder<br />

aus Angst!" Da kann man nur gute Fahrt wünschen.<br />

Für Überlandfahrten stehen Busse zur Verfügung, <strong>die</strong> aber, speziell auf Sumbawa<br />

und den Nachbar<strong>in</strong>seln, oftmals vors<strong>in</strong>tflutlichen Charakter haben. Auch Busse<br />

haben ke<strong>in</strong>e festen Haltestellen und fahren frühestens darm ab, wenn sie voll s<strong>in</strong>d.<br />

Ich er<strong>in</strong>nere mich noch genau an jenen Augenblick, als ich <strong>in</strong> Alas ankam; kaum<br />

170


Verstandlicher Geschaftss<strong>in</strong>n<br />

hatte ich das Fahrschiff verlassen, sah ich mich von „Schleppern" umz<strong>in</strong>gelt; das<br />

s<strong>in</strong>d von Buslenkern angeheuerte Personen, deren Aufgabe es ist, nach potentiellen<br />

Fahrgasten Ausschau zu halten und <strong>die</strong>se mit allen zu Gebote stehenden Mitteln zu<br />

überreden, ausgerechnet <strong>in</strong> <strong>die</strong>sen Bus zu steigen. Doch als ich endlich me<strong>in</strong>e Wahl<br />

getroffen hatte und den Sitzplatz e<strong>in</strong>nahm, dauerte es noch mehr als e<strong>in</strong>e Stunde,<br />

bis <strong>die</strong> Anzahl der Passagiere dem Fahrer ausreichend erschien, das Gefahrt <strong>in</strong><br />

Gang zu setzen. E<strong>in</strong> anderes Mal, auf der Fahrt von Bima nach Sape, kam ich <strong>in</strong><br />

den GenuB e<strong>in</strong>es Privilegs besonderer Art. Der Fahrer erklarte freudestrahlend,<br />

da/3 er ausnahmsweise und zu me<strong>in</strong>er Ehre <strong>die</strong> Strecke <strong>in</strong> neuer Rekordzeit bewaltigen<br />

wolle. Zu me<strong>in</strong>em Glück setzte <strong>die</strong> obligate Reifenpanne se<strong>in</strong>en Rennfahrerambitionen<br />

vorzeitig e<strong>in</strong>en Dampfer auf. Aber <strong>die</strong> wenigen Kilometer kurvenreicher<br />

Schlaglochstrecke haben mir trotzdem genügt; <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em solchen Fall kann<br />

man nur heil davonkommen, wenn man neben dem Fahrer oder zum<strong>in</strong>dest knapp<br />

dah<strong>in</strong>ter sitzt. Wer e<strong>in</strong>en Sitzplatz über der H<strong>in</strong>terachse oder noch weiter h<strong>in</strong>ten<br />

hat, braucht e<strong>in</strong>e gute Wirbelsaule und e<strong>in</strong>en noch viel harteren Schadel, denn bei<br />

gröBeren Schlaglöchern wird man bis an <strong>die</strong> Decke katapultiert.<br />

Den letzten Teil des Weges, h<strong>in</strong>aus an <strong>die</strong> Ostküste Sumbawas, nach Labuan Sape,<br />

bewaltige ich mit e<strong>in</strong>em sehr typischen <strong>in</strong>donesischen Verkehrsmittel: dem Donkar.<br />

Das ist e<strong>in</strong> kle<strong>in</strong>er, zweiradriger Pferdewagen, bunt bemalt und mit Spiege<strong>in</strong>,<br />

Fransen und Glöckchen verziert. Damit wird alles transportiert, was man sich nur<br />

vorstellen kann: Menschen, Tiere, Ste<strong>in</strong>e, Holz usw. In der Regel f<strong>in</strong>den im Donkar<br />

vier bis sechs Personen Platz, aber man hat bei zwei Passagieren schon das Gefühl,<br />

da!3 das Pferd bald zusammenbricht. E<strong>in</strong>mal <strong>in</strong> Labuan Sape angekommen,<br />

beg<strong>in</strong>nen erst so recht <strong>die</strong> Schwierigkeiten, denn nun gilt es, e<strong>in</strong>en Fischer für <strong>die</strong><br />

Überfahrt nach Komodo zu gew<strong>in</strong>nen. Das ist deshalb e<strong>in</strong> Problem, weil <strong>die</strong> „Kapitane"<br />

mit ihren kle<strong>in</strong>en Booten für gewöhnlich um <strong>die</strong> Drachen<strong>in</strong>seln e<strong>in</strong>en gro-<br />

Ben Bogen schlagen. Ihre Furcht vor den tückischen Meeresströmungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Inse<strong>in</strong><br />

umgeben, ist echt. AuBerdem ist das „Buaja Darat" (Landkrokodil), wie sie<br />

den Drachen nennen, schon langst <strong>in</strong> ihre Mythologie als Fabelwesen und Ungeheuer<br />

e<strong>in</strong>gegangen, das noch immer ihre Phantasie zu beschaftigen vermag.<br />

Die anfangliche Abneigung, nach Komodo zu fahren, wird kle<strong>in</strong>er, je mehr Geldsche<strong>in</strong>e<br />

den Besitzer wechseln. E<strong>in</strong>en derartigen Geschaftss<strong>in</strong>n habe ich zwar nicht<br />

erwartet, aber ich kann es ihnen nicht verübeln: SchlieBlich ist es ihre e<strong>in</strong>zige Möglichkeit,<br />

zusatzlich an Geld zu kommen. Warum sollten sie nicht versuchen, aus<br />

der Drachen<strong>in</strong>sel Kapital zu schlagen, wenn andere ihre Naturwunder, Tempel und<br />

Feste mit Erfolg verkaufen. Es s<strong>in</strong>d ohneh<strong>in</strong> pro Jahr nur wenige Fremde, <strong>die</strong> den<br />

mühevollen Weg nach Komodo nicht scheuen.<br />

Nach der rituellen Geldübergabe steht der Überfahrt nichts mehr im Weg. Mit<br />

reichlich Proviant versorgt und e<strong>in</strong>er zu überhöhtem Preis erstandenen Ziege verlassen<br />

wir Labuan Sape. Es empfiehlt sich, <strong>die</strong> Verpflegung mitzunehmen, um<br />

nicht wertvolle Zeit mit Nahrungssuche aufwenden zu mussen, oder gar den wenigen<br />

Bewohnern Komodos zur Last zu fallen, <strong>die</strong> ohne<strong>die</strong>s e<strong>in</strong> karges Dase<strong>in</strong> fristen.<br />

Langsam gleitet das Boot durch e<strong>in</strong> Gewirr von Inselchen, <strong>die</strong> wie h<strong>in</strong>gestreut zwischen<br />

Sumbawa und Flores liegen. Die meisten s<strong>in</strong>d unbewohnt, manche nur so<br />

171


Die Insel der Drachen<br />

groB, daB man gerade darauf sitzen könnte, aber alle machen denselben kargen<br />

E<strong>in</strong>druck. Wie weit ist man hier von der Lieblichkeit Balis entfernt, das wohl den<br />

Inbegriff e<strong>in</strong>er Tropen<strong>in</strong>sel verkörpert. Mit bewundernswertem Geschick steuert<br />

der Fischer se<strong>in</strong> Boot um <strong>die</strong> Riffe, weicht gefahrlichen Meeresströmungen aus; all<br />

das kann nicht verh<strong>in</strong>dern, daB <strong>die</strong> Wellen mit unserer „NuBschale" e<strong>in</strong> verwegenes<br />

Spiel treiben. Schon seit mehreren Stunden segeln wir an der Kuste Komodos<br />

entlang. Kahlgefressene braune Hügel tauchen übergangslos <strong>in</strong>s Meer e<strong>in</strong>, wie grüne<br />

Oasen ersche<strong>in</strong>en <strong>die</strong> Urwalder entlang der FluBlaufe und Wasserstellen. Rechter<br />

Hand taucht das w<strong>in</strong>zige Eiland Padar auf. Aus der Ferne unterscheidet es sich<br />

<strong>in</strong> ke<strong>in</strong>er Weise von den benachbarten Inse<strong>in</strong>, nichts deutet auf <strong>die</strong> Anwesenheit<br />

des Drachen h<strong>in</strong>. Trotzdem zahlt Padar bereits zum engen Lebensraum des Komodo-Warans.<br />

Kurze Zeit spater öffnet sich be<strong>in</strong>ahe unvermittelt e<strong>in</strong>e weite Bucht, blau und friedlich<br />

liegt das Meer da. Nur selten huscht e<strong>in</strong>e Brise über das spiegelglatte Wasser,<br />

für Sekunden <strong>die</strong> Oberflache krauselnd. Die Stille ist gespenstisch, als wir uns dem<br />

e<strong>in</strong>zigen Dorf der Insel - Kampong Komodo - nahern. Wie zum Aufbruch bereit<br />

liegen <strong>die</strong> Boote vor den armseligen Hutten ihrer Erbauer. E<strong>in</strong> Aufbruch, der<br />

freilich nie stattf<strong>in</strong>den wird, denn <strong>die</strong> rund vierhundert Bewohner Komodos,<br />

Nachkommen von Strafl<strong>in</strong>gen, <strong>die</strong> man dort zwangsweise aussetzte, haben sich<br />

sche<strong>in</strong>bar damit abgefunden, ihr Leben mit zweitausend Waranen zu teilen. Beim<br />

ersten Anblick des Dorfes habe ich den E<strong>in</strong>druck, daB hier groBer Wert darauf gelegt<br />

wird, <strong>die</strong> Hutten so weit wie möglich ans Meer zu setzen, gerade so, als wollte<br />

man mit dem Land nichts zu tun haben - es une<strong>in</strong>geschrankt dem Drachen überlassen.<br />

Das Dorf selbst - e<strong>in</strong> wild zusammengewürfelter Haufen verrosteter, hafilicher<br />

Blechhütten, <strong>die</strong> auch sonstwo stehen könnten - zieht sich der gesamten<br />

Bucht entlang. Nichts deutet darauf h<strong>in</strong>, daB sich seit der Gründung der Siedlung<br />

Wesentliches verandert hatte, sieht man von der grell funkelnden Kuppel e<strong>in</strong>er<br />

Moschee ab, <strong>die</strong> sich wie e<strong>in</strong> Fremdkörper ausnimmt. Aber davon zeugt, daB <strong>die</strong><br />

„Lehre des Propheten" mittlerweile auch <strong>die</strong> entlegensten Inse<strong>in</strong> Indonesiens erreicht<br />

hat.<br />

Es ist gerade Trockenzeit auf Komodo, was für <strong>die</strong> Menschen e<strong>in</strong>e zusatzliche Verscharfung<br />

ihrer ohneh<strong>in</strong> harten Lebensumstande zur Folge hat. Die Lebensfrage<br />

ist das Wasser. Die e<strong>in</strong>zige Quelle im Dorf ist nur mehr e<strong>in</strong> st<strong>in</strong>kender, schwarzer<br />

Tümpel, der zum Waschewaschen, zum Baden und als Tr<strong>in</strong>kwasserquelle <strong>die</strong>nt.<br />

E<strong>in</strong> Krankheitsherd ersten Ranges, mit dem man als Fremder besser nicht <strong>in</strong> Berührung<br />

kommt. Ich setze alles daran, möglichst schnell wieder fortzukommen. Es<br />

ist mir ziemlich gleichgültig, woh<strong>in</strong>. Am liebsten <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e andere Bucht, an e<strong>in</strong>en<br />

FluBlauf oder e<strong>in</strong>e Wasserstelle.<br />

Bald bietet sich <strong>die</strong> Gelegenheit, <strong>die</strong> Bucht Loho Liang zu besuchen, e<strong>in</strong> bevorzugter<br />

Fischfangplatz der Dorfbewohner. Unter den neugierigen Blieken der Bevölkerung,<br />

für <strong>die</strong> e<strong>in</strong> Fremder noch immer e<strong>in</strong>e seltene und deshalb bestaunenswerte<br />

Abwechslung ist, gleiten wir mit e<strong>in</strong>em schlanken Auslegerboot davon. Es ist nur<br />

e<strong>in</strong>e kurze und ungefahrliche Fahrt dorth<strong>in</strong>, denn Loho Liang liegt nur wenig östlich<br />

des e<strong>in</strong>zigen Dorfes. E<strong>in</strong> idyllischer Flecken Erde, der makellose weiBe Sandstrand<br />

und das warme ruhige Meer laden zum Baden e<strong>in</strong>. Dah<strong>in</strong>ter breitet sich<br />

172


E<strong>in</strong> neuer Freund<br />

dichter Urwald aus, der sich bis an <strong>die</strong> Hange des Gunung Arab hochzieht. Unter<br />

weit ausladenden, schattenspendenden Palmyrapalmen, <strong>die</strong> den Strand saumen,<br />

bieten sich ideale Lagerplatze. Die Schönheit <strong>die</strong>ser exotischen Bucht ist nicht ganz<br />

unbemerkt geblieben, e<strong>in</strong>e Handvoll Menschen hat sich hier niedergelassen. Ihre<br />

Pfahlbauten stehen verborgen im Inneren des Urwaldes und s<strong>in</strong>d vom Meer aus<br />

nicht sichtbar.<br />

Die Abgeschiedenheit <strong>die</strong>ser kle<strong>in</strong>en Gruppe ist nicht zufallig. lm Gegenteil, sie hat<br />

ihren besonderen Grund: Die Manner s<strong>in</strong>d Beamte des <strong>in</strong>donesischen Staates und<br />

mussen hier auf Komodo ihren Dienst tun.<br />

Ihre Aufgabe hier „am Ende der Welt" mag zwar nicht sehr abwechslungsreich<br />

se<strong>in</strong>, aber um so wichtiger. Sie mussen „<strong>die</strong> Drachen bewachen", das heiBt, dafür<br />

Sorge tragen, daB <strong>die</strong> strengen Bestimmungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Regierung erlassen hat, um<br />

das Überleben der seltenen Echsen zu sichern, auch e<strong>in</strong>gehalten werden. Es freut<br />

mich besonders, dafi <strong>die</strong>s weitgehend gewahrleistet ist. lm Gegensatz zu den Tierreservaten<br />

Afrikas gibt es hier kaum Probleme mit Wilderern. Natürlich ist es e<strong>in</strong>facher,<br />

e<strong>in</strong> so kle<strong>in</strong>es, entlegenes Biotop zu schützen, als riesige Landstriche, <strong>die</strong><br />

vom Menschen als Lebensraum beansprucht werden. Auch hat der Komodo-Waran<br />

das besondere Glück, daB sich se<strong>in</strong>e Haut nicht zu Modeartikeln verarbeiten<br />

laBt. Er besitzt weder Elfenbe<strong>in</strong> noch e<strong>in</strong> Hom, aus dem sich e<strong>in</strong> „potenzförderndes"<br />

Mittel gew<strong>in</strong>nen lieBe. Alles „gute" Gründe, um Tierarten erbarmungslos auszurotten.<br />

E<strong>in</strong>er der Wildschützer von Loho Liang ist Djunius, e<strong>in</strong> auffallend gut aussehender<br />

junger Mann aus Timor. Ich lerne ihn gleich nach me<strong>in</strong>er Ankunft kennen. Er<br />

ist mir behilflich, <strong>die</strong> Ausrüstung durch das seichte Wasser an Land zu transportieren.<br />

Wahrend er sich befleiBigt, me<strong>in</strong> Gepack zu e<strong>in</strong>em leerstehenden Pfahlbau zu<br />

tragen, erklare ich ihm, daB ich beabsichtige, <strong>die</strong> kommende Nacht am Strand zu<br />

verbr<strong>in</strong>gen. Ich hatte gehort, daB Warane ausgezeichnete Schwimmer seien - sie<br />

haben sich auch aus dem Meer entwickelt -, <strong>die</strong> abends oder wahrend der Nacht<br />

ans Meer kommen - auf Nahrungssuche, oder e<strong>in</strong>fach, um zu schwimmen. Und<br />

e<strong>in</strong> derartiges Ereignis will ich mir nicht entgehen lassen. Hatte ich nur geahnt,<br />

welche Reaktionen <strong>die</strong>se Absicht bei me<strong>in</strong>em neuen Freund auslösten, ich hatte<br />

me<strong>in</strong> Vorhaben geheimgehalten und ware wahrend der Nacht unbemerkt an den<br />

Strand geschlichen. Nun habe ich <strong>die</strong>se Chance vertan, Djunius weicht mir nicht<br />

mehr von der Seite.<br />

Mit wild gestikulierenden Bewegungen malt er mir plastisch alle möglichen Gefahren<br />

der Nacht im Freien aus. Zusatzlich sei er für me<strong>in</strong>e Sicherheit verantwortlich,<br />

betont er immer wieder, und er würde es ke<strong>in</strong>esfalls erlauben, daB ich <strong>die</strong> Nacht alle<strong>in</strong><br />

am Strand verbr<strong>in</strong>ge. Was bleibt mir anderes übrig als se<strong>in</strong>em Wunsch nachzukommen.<br />

Aber ich sehe mich um me<strong>in</strong> Abenteuer betrogen und b<strong>in</strong> im ersten Augenblick<br />

verargert. Unbegründet, wie mir spater bewuBt wird, denn ich sollte me<strong>in</strong>e<br />

Entscheidung nie bereuen. Djunius wird me<strong>in</strong> standiger Begleiter, wobei mir<br />

se<strong>in</strong>e Erfahrung und se<strong>in</strong> Wissen beim Aufspüren und Beobachten der Drachen<br />

unschatzbare Dienste leisten. Die Abenteuer und Erlebnisse auf Komodo verdanke<br />

ich zu e<strong>in</strong>em betrachtlichen Teil ihm. Noch am selben Nachmittag brechen wir zu<br />

e<strong>in</strong>er kle<strong>in</strong>en Erkundungstour auf. Wir folgen zuerst dem Küstenverlauf <strong>in</strong> Rich-<br />

173


Die Insel der Drachen<br />

tung Osten. In e<strong>in</strong>iger Entfernung bricht plötzlich e<strong>in</strong> Rudel Wildschwe<strong>in</strong>e aus<br />

dem Dickicht. Als <strong>die</strong> Tiere unsere Anwesenheit merken, laufen sie noch e<strong>in</strong> Stück<br />

den Strand entlang und verschw<strong>in</strong>den so plötzlich, wie sie aufgetaucht s<strong>in</strong>d.<br />

Als wir <strong>die</strong> Stelle erreichen, wo <strong>die</strong> Wildschwe<strong>in</strong>e heraustraten, folgen wir dem gut<br />

erkennbaren Tierpfad <strong>in</strong>s Insel<strong>in</strong>nere.<br />

Komodo ist e<strong>in</strong> Wildlife-Para<strong>die</strong>s. Ich muB den ersten E<strong>in</strong>druck, der mir <strong>die</strong> Insel<br />

karg und unfruchtbar ersche<strong>in</strong>en lieB, revi<strong>die</strong>ren. Überall bezeugen Spuren, daB es<br />

Wildschwe<strong>in</strong>e, Hirsche und wilde Buffel <strong>in</strong> groBer Zahl gibt. Die Drachen s<strong>in</strong>d ke<strong>in</strong>eswegs<br />

vom Hungertod bedroht. Das Dickicht hallt wider vom Surren Tausender<br />

Perlhalstauben und Sperbertaubchen. Schwarme weiBer Kakadus - mit ihrem<br />

schmucken gelben Schopf - fliegen von Baumwipfel zu Baumwipfel und machen<br />

dabei ohrenbetaubenden Larm. Bunte Schmetterl<strong>in</strong>ge umschwirren <strong>die</strong> Blüten wilder<br />

Orchideen... Vogelarten zweier Weiten - der asiatischen sowie der australischen<br />

- existieren hier nebene<strong>in</strong>ander. So s<strong>in</strong>d <strong>die</strong> Perlhalstauben eher auf Java<br />

heimisch, wahrend <strong>die</strong> ursprüngliche Heimat der Sperbertaubchen und Kakadus<br />

Australien ist. E<strong>in</strong>es der wunderlichsten Tiere der hiesigen Fauna ist der Wallnister.<br />

Er ist eigentlich der Erf<strong>in</strong>der des künstlichen Brutofens, und das schon vor<br />

Millionen Jahren, bevor es überhaupt Menschen gab.<br />

Die Eier werden auf <strong>die</strong> Spitze e<strong>in</strong>es selbstgebauten Humushügels gelegt und zugedeckt.<br />

Das Bruten besorgt alle<strong>in</strong> <strong>die</strong> Natur. Es dauert etwa vierzig Tage und geschieht<br />

e<strong>in</strong>zig und alle<strong>in</strong> durch <strong>die</strong> Warme, <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Garung des Humus entsteht.<br />

Auf Neugu<strong>in</strong>ea konnte ich beobachten, wie begehrt <strong>die</strong>se Eier bei den E<strong>in</strong>geborenen<br />

s<strong>in</strong>d, es ist auch relativ leicht, an sie heranzukommen, da <strong>die</strong> Weibchen<br />

<strong>die</strong> Gewohnheit haben, jedes Jahr an derselben Stelle ihre Eier zu legen.<br />

Mittlerweile haben wir e<strong>in</strong> ausgetrocknetes FluBbett erreicht, dem wir <strong>in</strong> nordwestlicher<br />

Richtung folgen. Plötzlich bleibt Djunius stehen und blickt angestrengt zu<br />

Boden. Da schlangelt sich e<strong>in</strong>e lange, tiefe Furche durch den fe<strong>in</strong>en FluBsand. Zu<br />

beiden Seiten f<strong>in</strong>den sich <strong>in</strong> regelmaBigen Abstanden Abdrücke wie von e<strong>in</strong>er gro-<br />

Ben, krallenbewehrten Menschenhand. „Buaja Darat", stellt me<strong>in</strong> Begleiter leidenschaftslos<br />

fest. Es steht auBer Zweifel: Das kann nur <strong>die</strong> Spur des Komodo-Warans<br />

se<strong>in</strong>, den zu suchen ich <strong>die</strong>se weite Reise unternommen habe. Aufgeregt wie<br />

e<strong>in</strong> K<strong>in</strong>d am ersten Schultag folge ich behutsam der Spur - <strong>in</strong> der geheimen Hoffnung,<br />

den Drachen selbst zu entdecken. Auf e<strong>in</strong>mal packt mich Djunius am Arm<br />

und halt mich zurück. Mit unmiBverstandlicher Geste deutet er auf vor uns liegendes<br />

Unterholz. Erst jetzt sehe auch ich ihn, halb verdeckt und vollkommen regungslos<br />

liegt der Drache dah<strong>in</strong>ter auf der Lauer. Schwer auszumachen, da nur<br />

Kopf und Schwanz über das Gebüsch herausragen. Ware Djunius nicht dabeigewesen,<br />

ware ich mit Sicherheit ahnungslos auf ihn zugegangen. M<strong>in</strong>utenlang wage<br />

ich micht nicht zu bewegen, alle<strong>in</strong> damit beschaftigt, <strong>die</strong>ses Urwelttier zu bestaunen.<br />

Was für e<strong>in</strong> machtiges Reptil es doch ist. Noch nie begegnete ich e<strong>in</strong>em Geschöpf,<br />

das dem Phantasiebild des Drachen ahnlicher ist. Er laBt mich bis auf wenige<br />

Meter herankommen, dann erst setzt er sich <strong>in</strong> Bewegung und verschw<strong>in</strong>det<br />

mit erstaunlicher Gewandtheit im Busch, wo se<strong>in</strong> Rascheln noch lange Zeit zu horen<br />

ist.<br />

174


Der Kampf zwischen Drache und Buffel<br />

Warane hausen <strong>in</strong> Höhlen, <strong>die</strong> sie, am Rücken liegend, mit ihren scharfen, groBen<br />

Krallen auskratzen. Es ist durchaus möglich, daB e<strong>in</strong>er mehrere derartige Wohnplatze<br />

besitzt, <strong>die</strong> er <strong>in</strong> sehr unregelmafiigen AbstSnden aufsucht. RegelmaBigkeiten<br />

im Leben des Drachen gibt es nur im H<strong>in</strong>blick auf se<strong>in</strong> Revier.<br />

Jeder Waran hat e<strong>in</strong>e besondere Strecke, <strong>die</strong> er, abgesehen von ger<strong>in</strong>gen Abweichungen,<br />

bei se<strong>in</strong>en Rundgangen auf Nahrungssuche konsequent abschreitet. Will<br />

man demnach das Leben der Echsen beobachten, ist es unumganglich, erst <strong>die</strong><br />

Routen ihrer Wanderungen ausf<strong>in</strong>dig zu machen. Es hat wenig S<strong>in</strong>n, etwaige Köder<br />

abseits der jeweiligen Reviere auszulegen. Deponiert man den Köder aber im<br />

Bereich e<strong>in</strong>er solchen „Gehstrecke", wird er ihn mit Sicherheit f<strong>in</strong>den und verzehren;<br />

dabei spielt es überhaupt ke<strong>in</strong>e Rolle, ob es sich um frisches oder verwesendes<br />

Fleisch handelt.<br />

Der Komodo-Waran ernahrt sich <strong>in</strong> erster L<strong>in</strong>ie von Aas. Das bedeutet aber ke<strong>in</strong>eswegs,<br />

dafi er sich scheut, kranke oder auch gesunde Tiere anzugreifen, wenn<br />

sich Gelegenheit dazu bietet. E<strong>in</strong> reglos im Gras liegender Drache, der kaum vom<br />

Boden zu unterscheiden ist, kann asenden Hirschen oder sogar den schlauen Makaken<br />

gefahrlich werden.<br />

Hirsche, Buffel, Wildschwe<strong>in</strong>e und Affen geben genügend Nahrung ab. Jungtiere<br />

fressen Ratten und Wallnisteier. Die Furcht aller Tiere der Insel beim Anblick der<br />

Riesenechse beweist, daB sie ihn für e<strong>in</strong>en Fe<strong>in</strong>d ihrer Gattung halten. So berichtet<br />

der Hollander A. Hoogerwerf, der 1953 <strong>in</strong> Begleitung anderer Wissenschafter <strong>in</strong><br />

R<strong>in</strong>ca weilte, von e<strong>in</strong>em Zwischenfall, der beweist, daB der Waran fahig ist, e<strong>in</strong>en<br />

Affen zu reiBen: „Ke<strong>in</strong>er von uns war bei dem Angriff auf den Affen zugegen,<br />

aber wir s<strong>in</strong>d sicher, daB er unmittelbar vor unserer Ankunft stattgefunden hatte<br />

und der AnlaB zu dem lauten Tumult unter den Affen gewesen war, der uns aufmerksam<br />

gemacht hatte. Dieser offensichtlich sehr starke Affe h<strong>in</strong>g noch lebend<br />

im Rachen der Echse, als <strong>die</strong>se vor uns ausriB. Unsere Nahe und <strong>die</strong> Befreiungsversuche<br />

des Opfers vermochten das Reptil nicht zum Loslassen se<strong>in</strong>er Beute zu bewegen.<br />

Unserer Anwesenheit zum Trotz begann es, den Affen zu fressen, der noch<br />

zappelte, als er schon halb verschluckt war. Die mittelgrofie Echse (etwa zwei Meter)<br />

brauchte ungefahr zwanzig M<strong>in</strong>uten, um den Affen - mit dem Kopf zuerst<br />

- zu verschl<strong>in</strong>gen."<br />

E<strong>in</strong>geborene Komodos erzahlen, wie es der Waran anstellt, sogar e<strong>in</strong>en Buffel zu<br />

toten. „Wenn der Drache e<strong>in</strong>en Buffel ausgemacht hat, pirscht er sich heimtückisch<br />

durch das hohe Gras an und schlagt ihm das GebiB <strong>in</strong> den Schenkel. Der<br />

Buffel galoppiert davon, aber der ,Buaja Darat' verfolgt ihn nicht e<strong>in</strong>mal; er vertraut<br />

auf se<strong>in</strong>en Bifi, der mit Sicherheit den Wundbrand hervorruft, weil <strong>in</strong> se<strong>in</strong>en<br />

Zahnen immer verweste Fleischreste s<strong>in</strong>d. Zwei Tage spater geht es dem Buffel<br />

schon ziemlich schlecht; er kann sich nur noch mit Mühe fortbewegen. Das nutzt<br />

der Drache aus, um ihn <strong>in</strong> den anderen Schenkel zu beiBen, der sich ebenso entzündet.<br />

Nach e<strong>in</strong> paar Tagen ist das arme R<strong>in</strong>d nicht mehr bewegungsfahig und ist se<strong>in</strong>em<br />

Pe<strong>in</strong>iger bei lebendigem Leibe ausgeliefert."<br />

Obwohl <strong>die</strong>se Erzahlungen der E<strong>in</strong>geborenen mit Vorbehalt zu geniefien s<strong>in</strong>d, ist es<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Fall durchaus denkbar, daB der Komodo-Waran als Fleischfresser se<strong>in</strong>en<br />

Opfern Verletzungen beibr<strong>in</strong>gen kann, <strong>die</strong> sich gefahrlich entzünden und <strong>in</strong> kürze-<br />

175


Die Insel der Drachen<br />

ster Zeit zum Tod führen. E<strong>in</strong> e<strong>in</strong>geborener Begleiter der bereits mehrfach zitierten<br />

französischen Expedition berichtet sogar von e<strong>in</strong>em Zwischenfall, der den Tod<br />

e<strong>in</strong>es Menschen zur Folge hatte.<br />

„Das war noch vor dem Krieg, und der Dorfhauptl<strong>in</strong>g, der gleiche wie jetzt, kann<br />

euch me<strong>in</strong>e Geschichte bestatigen. Me<strong>in</strong> Bruder und ich s<strong>in</strong>d dicke Bambusstangen<br />

holen gegangen, <strong>die</strong> wir zu Wasserbehaltern verarbeiteten. Wie immer ist uns der<br />

Hund gefolgt. Als wir dabei waren, <strong>die</strong> Stangen zu schlagen, beg<strong>in</strong>nt der Hund,<br />

der sich entfernt hatte, plötzlich Laute von sich zu geben, als hatte er e<strong>in</strong>en Hirsch<br />

gestellt. Me<strong>in</strong> Bruder ergreift se<strong>in</strong>e Lanze und eilt dem Gebell nach, aber gleich<br />

darauf höre ich ihn aufschreien und um Hilfe rufen. Natürlich eilte ich zu ihm und<br />

fand ihn am Boden neben dem Kadaver e<strong>in</strong>er Hirschkuh liegen; er blutete heftig.<br />

Ich nahm ihn auf <strong>die</strong> Schultern und lief <strong>in</strong>s Dorf, aber am FuBe des Berges war er<br />

schon tot. Er hatte all se<strong>in</strong> Blut verloren. Als ich ihn trug.konnte mir me<strong>in</strong> Bruder<br />

noch alles erzahlen, was geschehen war. Als er an <strong>die</strong> Stelle gekommen war, wo der<br />

Hund bellte, sah er e<strong>in</strong>en Drachen, der <strong>die</strong> Hirschkuh gepackt hatte, und da <strong>die</strong>se<br />

Tiere gewöhnlich ausreiBen, wenn man sie iagt, war er auf ihn zugelaufen, um ihn<br />

zu vertreiben. Aber <strong>die</strong>ser Drache muB hungrig gewesen se<strong>in</strong>, er wollte se<strong>in</strong>e Beute<br />

nicht hergeben. Er sprang me<strong>in</strong>en Bruder an und rifi ihm mit e<strong>in</strong>em BiB e<strong>in</strong> riesiges<br />

Stück aus dem Schenkel; als sich me<strong>in</strong> Bruder wehrte, bekam er plötzlich Angst<br />

und verschwand im Bambusdschungel."<br />

Der Mann berichtete noch von anderen Fallen, wo Menschen von Drachen angefallen<br />

worden s<strong>in</strong>d. E<strong>in</strong> Junge aus dem Dorf Kampong Komodo wurde <strong>in</strong> den Arm<br />

gebissen, als er unter e<strong>in</strong>em Baum se<strong>in</strong>en Mittagsschlaf hielt, aber er ist davongekommen.<br />

E<strong>in</strong> Amerikaner ist e<strong>in</strong>mal trotz der Warnungen der E<strong>in</strong>geborenen e<strong>in</strong>em<br />

kle<strong>in</strong>en Drachen etwas zu nahe gekommen; er hat ihm <strong>die</strong> Hand abgebissen. Aber<br />

auch er hat überlebt.<br />

Trotz der eben geschilderten Vorfalle möchte ich behaupten, daB der Komodo-<br />

Waran grundsatzlich ke<strong>in</strong> aggressives Verhalten dem Menschen gegenüber zeigt.<br />

Es ist aber nicht verwunderlich, wenn e<strong>in</strong> Mensch ihm se<strong>in</strong>e Beute streitig macht,<br />

daB der Drache sich daraufh<strong>in</strong> zur Wehr setzt. Oder, wie im anderen Fall, wenn<br />

menschliche Neugier und Leichtsimi e<strong>in</strong>en aggressiven Akt buchstablich herausfordern.<br />

Am nachsten Tag folgen wir dem sandigen Bett e<strong>in</strong>es ausgetrockneten Flusses, des<br />

Wae Liang, das sich zwischen riesigen Feigenbaumen und niedrigem Buschwerk<br />

dah<strong>in</strong>schlangelt. An e<strong>in</strong>er scharfen Biegung, an der der FluB se<strong>in</strong> Bett besonders<br />

tief gegraben hat, beziehen wir unser Lager. Überall <strong>in</strong> der naheren Umgebung entdecken<br />

wir Waranspuren. Es steht aufier Zweifel, daB wir e<strong>in</strong>en Ort gefunden haben,<br />

der haufig von Drachen frequentiert wird und der sich schon auf Grand se<strong>in</strong>er<br />

natürlichen Gegebenheiten für unser Vorhaben gut eignet. Wahrend Djunius<br />

<strong>die</strong> Ziege schlachtet, halte ich nach e<strong>in</strong>em günstigen Versteek Ausschau. Me<strong>in</strong><br />

Bliek fallt dabei auf e<strong>in</strong>en weitverzweigten Baum, der etwas schrag aus dem Ufer<br />

wachst und dabei e<strong>in</strong>e Art Brücke bis zur FluBmitte bildet. Nun wird der Köder am<br />

Seil befestigt und so über den Baum geschlungen, daB me<strong>in</strong> Begleiter, je nach Bedarf,<br />

den Ziegenkörper entweder zu Boden lassen oder hochziehen kann.<br />

176


Die Hiërarchie der Warane<br />

In e<strong>in</strong>er souden Astgabel unmittelbar über dem Köder gel<strong>in</strong>gt es mir, e<strong>in</strong>en Beobachtungsstand<br />

e<strong>in</strong>zurichten. Das Seil, an dem der Ziegenkörper hangt, fixiere<br />

ich so, dafi <strong>die</strong>ser knapp über dem Boden baumelt.<br />

Unsere Vorbereitungen s<strong>in</strong>d kaum abgeschlossen, als das Dickicht des gegenüberliegenden<br />

Ufers <strong>in</strong> Bewegung gerat; e<strong>in</strong>e breite Spur h<strong>in</strong>ter sich ziehend, walzt sich<br />

e<strong>in</strong> Drache aus dem Unterholz. Und was für e<strong>in</strong>er; es ist zweifellos das gröBte<br />

Exemplar, das ich jemals sah. Mit e<strong>in</strong>er Zielstrebigkeit, als hatte er unsere Vorbereitungen<br />

beobachtet und ware nun zum EntschluB gekommen, endlich e<strong>in</strong>zugreifen,<br />

peilt er den Köder an. Er beg<strong>in</strong>nt ihn zu umkreisen, dabei züngelt er unablassig<br />

mit der Zunge, tastend und prüfend; er sucht nach der schwachen Stelle, an der<br />

er se<strong>in</strong> Opfer fassen kann. Plötzlich reiBt er se<strong>in</strong> Maul auf, packt den ganzen Ziegenkörper<br />

und versucht, damit <strong>in</strong> den Urwald zu verschw<strong>in</strong>den. Unter E<strong>in</strong>wirkung<br />

se<strong>in</strong>er Kraft beg<strong>in</strong>nt sogar der Baum zu wackeln und neigt sich bedenklich nach<br />

unten, wobei ich <strong>in</strong> me<strong>in</strong>em Versteek h<strong>in</strong> und her geschüttelt werde.Aber es halt<br />

se<strong>in</strong>en Attacken stand. Die Anstrengung raubt ihm vorerst den Atem; er keucht<br />

schwer, und se<strong>in</strong> gewaltiger Leib schwillt wie e<strong>in</strong> Blasebalg an. Das zw<strong>in</strong>gt ihn, e<strong>in</strong>e<br />

kurze Pause e<strong>in</strong>zulegen. Auf <strong>die</strong>sen Augenblick sche<strong>in</strong>t e<strong>in</strong> junger Drache gewartet<br />

zu haben, der bis dah<strong>in</strong> im Busch gelauert hatte. Mit unglaublicher Schnelligkeit<br />

stürzt er sich auf den Köder. Doch er hat nicht mit der Aufmerksamheit des „gro-<br />

Ben Bruders" gerechnet, der <strong>die</strong> Ziege als se<strong>in</strong>en alle<strong>in</strong>igen Besitz betrachtet und<br />

ke<strong>in</strong>esfalls gewillt ist, etwas vom Leckerbissen abzugeben. Für kurze Zeit stehen<br />

e<strong>in</strong>ander <strong>die</strong> beiden ungleichen Kontrahenten gegenüber. Dann stürzt sich der Gro-<br />

Be brutal auf den Kle<strong>in</strong>en und packt ihn an der Gurgel. Es entwickelt sich e<strong>in</strong><br />

scheuBliches Gemenge unförmiger Leiber, <strong>die</strong> sich w<strong>in</strong>den und übere<strong>in</strong>anderrollen.<br />

Schwanzschlage hageln nieder und krachen wie Detonationen, wenn sie auf <strong>die</strong> gepanzerte<br />

Haut treffen. Das alles geschieht <strong>in</strong> wenigen Sekunden; das Jungtier muB<br />

schlieBlich <strong>die</strong> Überlegenheit des anderen erkennen und raumt das Feld. Es beg<strong>in</strong>nt,<br />

den Platz standig zu umkreisen, wahrend der groBe Drache se<strong>in</strong> Mahl unbeirrt<br />

fortsetzt. Gelegentliche Annaherungsversuche des „Kle<strong>in</strong>en" beantwortet er<br />

mit drohendem Schnauben und deutlichen Angriffsgebarden.<br />

Es gibt also e<strong>in</strong>e strenge Hiërarchie unter den Waranen, zum<strong>in</strong>dest was <strong>die</strong> Reihenfolge<br />

beim Fressen betrifft. E<strong>in</strong> groBes Mannchen friBt zum Beispiel nie mit e<strong>in</strong>em<br />

kle<strong>in</strong>eren oder e<strong>in</strong>em, das <strong>in</strong> der Rangordnung unter ihm steht. Zumeist warten <strong>die</strong><br />

kle<strong>in</strong>eren geduldig, bis sie an der Reihe s<strong>in</strong>d, oder sie machen dem höherstehenden<br />

bereitwillig Platz. Solche Kampfe wie eben geschildert s<strong>in</strong>d relativ selten; sie f<strong>in</strong>den<br />

nur dann statt, wenn ungeduldige Jungtiere ihren Fleischanteil haben wollen, ohne<br />

abzuwarten, bis sie an der Reihe s<strong>in</strong>d. Das Verhalten der Weibchen ist wesentlich<br />

toleranter, sie fressen ohne weiteres mite<strong>in</strong>ander. Ihnen gegenüber zeigen sich sogar<br />

<strong>die</strong> altesten Mannchen als „Kavaliere" und gestatten, <strong>die</strong> Mahlzeit mit ihnen<br />

zugleich e<strong>in</strong>zunehmen, ohne sich aber im ger<strong>in</strong>gsten um sie zu kümmern.<br />

Jungtiere haben es deshalb viel schwerer als altere, an genügend Nahrung zu gelangen,<br />

und dürften öfter Hungerperioden ausgesetzt se<strong>in</strong> als ihre gröBeren Artgenossen.<br />

Auch s<strong>in</strong>d Waraneltern ke<strong>in</strong>eswegs so liebevoll zu ihren Nachkommen, wie<br />

man es von vielen anderen Tierarten her kennt. Es ist sogar anzunehmen, daB Warane<br />

ihre Eier und - wenn man den Berichten der E<strong>in</strong>geborenen trauen darf<br />

177


Die Insel der Drachen<br />

- auch <strong>die</strong> ausgeschlüpften Jungen zum GroBteil selbst auffressen. So muBte beispielsweise<br />

vor Beg<strong>in</strong>n der japanischen Invasion auf Indonesien e<strong>in</strong> Waranpaar des<br />

Zoos von Surabaya getötet werden. Die beiden Reptilien hatten seit vielen Jahren<br />

<strong>in</strong> <strong>die</strong>sem Zoo gelebt, ohne je Junge gehabt zu haben. Sechs Wochen spater fand<br />

man zur allergröfiten Überraschung fünfundzwanzig junge Warane im Gehege.<br />

Die beiden Drachen mussen schon mehrmals Eier gelegt, aber bis dato ihre Nachkommenschaft<br />

immer aufgefressen haben; nur dank der Tötung ihrer „liebevollen"<br />

Eltern hatten <strong>die</strong> Drachenbabys das Glück, am Leben zu bleiben.<br />

Will man das Ausschlüpfen der Reptilien beobachten, muB man gegen Ende der<br />

Regenzeit auf Komodo weilen. In <strong>die</strong>sem Zeitabschnitt legt der Waran se<strong>in</strong>e Eier,<br />

<strong>die</strong> im Sand oder <strong>in</strong> lockerer Erde e<strong>in</strong>gegraben werden. Die Eier öffnen sich von<br />

selbst b<strong>in</strong>nen sechs bis acht Wochen. Aus den weilien elliptischen Gebilden <strong>in</strong> der<br />

GroBe e<strong>in</strong>es Ganseeies schlüpfen kle<strong>in</strong>e Drachen von zwanzig bis fünfundzwanzig<br />

Zentimetern Lange.<br />

So abstoBend und grausam <strong>die</strong> Gewohnheit der Komodo-Warane se<strong>in</strong> mag, ihre<br />

eigenen Nachkommen zu verzehren, so <strong>die</strong>nt es doch <strong>in</strong>direkt der Erhaltung der<br />

Art. Man bedenke nur: Diese Reptilien legen bis zu fünfundzwanzig Eier, und<br />

würden samtliche Jungtiere überleben, so harte <strong>die</strong>se ungehemmte Vermehrung<br />

bald e<strong>in</strong>e Nahrungsknappheit auf derartig begrenztem Lebensraum zur Folge, <strong>die</strong><br />

durchaus existenzbedrohend se<strong>in</strong> könnte. Aber von ke<strong>in</strong>em anderen Faktor hangt<br />

e<strong>in</strong> Überleben der Warane mehr ab als vom Verhalten des Menschen. Denn ihr Lebensraum<br />

ist so kle<strong>in</strong>, dafi schon ger<strong>in</strong>ge E<strong>in</strong>griffe zum Aussterben der seltenen<br />

Tiere führen können. Zwar sche<strong>in</strong>t ihr Überleben im Augenblick gesichert zu se<strong>in</strong>,<br />

zum<strong>in</strong>dest solange Ziegen nur als Opfer mitgebracht werden und nicht, um sie zu<br />

halten und damit das Gras zu zerstören, das Rehe und Wasserbüffel zum Weiden<br />

benötigen, von deren Aas wiederum das Leben der Warane abhangig ist.<br />

Hoffentlich werden Wild<strong>die</strong>be, <strong>die</strong> gelegentlich Rehe und Wildschwe<strong>in</strong>e jagen,<br />

nicht ebenso <strong>die</strong> Warane gefahrden. Letztlich ist es der Mensen, der entscheidet,<br />

ob <strong>die</strong>se lebenden Überreste aus der „GroBen Zeit der Reptilien" überleben oder<br />

nicht!<br />

178


Der Dank des<br />

Autors<br />

gilt vor allem den Menschen Neugu<strong>in</strong>eas. Den vielen e<strong>in</strong>zelnen, durch deren Entgegenkommen<br />

und Hilfsbereitschaft ich E<strong>in</strong>blicke <strong>in</strong> ihre Welt gewann; <strong>die</strong> mich<br />

über endlose Dschungelpfade führten, mich nie enttauschten oder im Stich liefien<br />

und das wenige, das sie besitzen, mit mir teilten. Ihnen alle<strong>in</strong> habe ich das grofiartige<br />

Erlebnis Neugu<strong>in</strong>ea zu verdanken.<br />

Me<strong>in</strong>en besonderen persönlichen Dank ver<strong>die</strong>nt Fritz Lasser, mit dem mich unvergeBliche<br />

Stunden am Carstensz-Gebirge verb<strong>in</strong>den und der mir groBzügigerweise<br />

e<strong>in</strong>e Auswahl se<strong>in</strong>es Bildmaterials für <strong>die</strong>ses Buch überlieB. Klaus Bernegger und<br />

Herbert Bergmüller begleiteten mich im Jahre 1979 <strong>in</strong> <strong>die</strong> Baliem-Schlucht.<br />

Mei Richter von der Mission Aviation Fellowship danke ich für se<strong>in</strong>e Gastfreundschaft<br />

<strong>in</strong> Sentani und <strong>die</strong> aufopfernde Unterstützung, <strong>die</strong> er mir bei der Organisation<br />

angedeihen lieB.<br />

Dank abstatten will ich ferner Hermann Huber, der, wie ich me<strong>in</strong>e, <strong>die</strong> groBe Liebe<br />

zu Neugu<strong>in</strong>ea mit mir teilt, und trotz se<strong>in</strong>es engen Term<strong>in</strong>kalenders mir bei den<br />

Recherchen zur Geschichte des Carstensz-Gebirges behilflich war.<br />

Im selben Atemzug danke ich den Firmen SALEWA, BIG PACK und KOFLACH<br />

für <strong>die</strong> Vervollstandigung me<strong>in</strong>er Ausrüstung.<br />

Die Fotos des Bandes wurden vom Autor mit e<strong>in</strong>er Leica R3 bzw. R4 Kamera aufgenommen,<br />

<strong>die</strong> groBzügigerweise <strong>die</strong> Firmen E. LEITZ GmbH., WETZLAR, und<br />

LEITZ-AUSTRIA zur Verfügung stellten. Als Filmmaterial für <strong>die</strong> Aufnahmen<br />

im Buch so wie für me<strong>in</strong>e Multivisions-Dia-Schau kamen Kodachrome 64-Filme<br />

zur Verwendung. Für das <strong>die</strong>sbezügliche Entgegenkommen danke ich der KODAK<br />

GmbH, Wien.<br />

Es ist nicht möglich, <strong>die</strong> Namen aller zu nennen, <strong>die</strong> am Zustandekommen des vorliegenden<br />

Buches direkt oder <strong>in</strong>direkt teilhaben. Doch der Dank gilt allen.<br />

Juni 1985 Bruno Baumann<br />

179


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63 (2), 81 (1), 82, 83, 84, 86, 87, 122, 123, 124/125, 126 (2), 128.<br />

Fritz Lasser: Seite 35 (1), 38, 39 (1), 40 (2), 64, 81 (1), 85 (2), 88 (1), 121, 127.

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