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Tristan da Cunha - Besuch auf der abgelegensten ... - Andreas Hilmer

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Wolkenkratzer: <strong>Tristan</strong> <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong> ist<br />

die Spitze eines mächtigen untermeerischen<br />

Vulkans im Sü<strong>da</strong>tlantik. 263 Insulaner<br />

leben seemeilenweit von <strong>der</strong> Welt entfernt<br />

bis zum<br />

t r i s t a n d a C u n h a<br />

★<br />

V o n a n d r e a s h i l m e r ( T e x T )<br />

H RIzonT<br />

und immer weiter ...<br />

<strong>Tristan</strong> <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong> heißt ein Fels voll Menschen am Ende <strong>der</strong> Welt. Wer es schafft, <strong>auf</strong> dieser<br />

<strong>abgelegensten</strong> bewohnten Insel zu landen, trifft, etwa in <strong>der</strong> „Albatross Bar“, Insulaner in<br />

Rollkragenpullovern, die gern feiern, fischen und schweigen, außer wenn es um Kartoffeln geht.<br />

Von hier braucht eine Postkarte eine halbe Ewigkeit. Und wenn man Pech hat, eine ganze<br />

4 . 2 0 1 1 | g e o s a i s o n 87


ob man an LAnd gehT,<br />

enTscheideT <strong>der</strong> WInd<br />

› 22.10 Uhr,<br />

an Bord <strong>der</strong> „MS Europa“<br />

Der Wind fegt über <strong>da</strong>s Meer<br />

und peitscht die Wellen hoch.<br />

Ver<strong>da</strong>mmt! Wenn <strong>da</strong>s Wetter<br />

so bleibt, werden wir nicht an<br />

Land gehen können. Ich stehe neben Kapitän Hagen Damaschke<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Brücke <strong>der</strong> „MS Europa“, <strong>der</strong> ist ganz die Ruhe selbst. Ich<br />

flehe und hoffe. Denn morgen will ich Sarah besuchen. Bläst <strong>der</strong><br />

Wind <strong>da</strong>nn noch immer mit Stärke sechs von Nordwest, wird es<br />

nichts aus dem Halt <strong>auf</strong> <strong>Tristan</strong> <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong>, dem entlegensten Eiland<br />

<strong>der</strong> Welt. Weil <strong>der</strong> Hafen zu klein ist für unser Schiff, müssen<br />

wir in Schlauchbooten übersetzen. Bei hohem Seegang ist <strong>da</strong>s<br />

Umsteigen zu riskant, Kapitän Damaschke wird <strong>da</strong>s Ausfieren <strong>der</strong><br />

Zodiacs abblasen, die Europa nimmt Kurs <strong>auf</strong> Sü<strong>da</strong>merika, und<br />

die Chance ist vertan. In diese Gegend kommt man kaum ein<br />

zweites Mal.<br />

Kein Ort liegt so weit entfernt von den Verkehrsströmen dieses<br />

Planeten wie diese Inselgruppe im Sü<strong>da</strong>tlantik, 2800 Kilometer<br />

sind es bis zum Kap <strong>der</strong> Guten Hoffnung, 3350 Kilometer<br />

bis nach Rio de Janeiro. Tagelang ist unser Kreuzfahrtschiff, die<br />

„MS Europa“, durch Wellentäler gestampft. Morgen sollen wir die<br />

Insel aller Inseln erreichen. Ein winziger Vulkankegel im Meer.<br />

Land, <strong>da</strong>s keiner kennt. Dort lebt sie, Sarah Glass, Journalistin.<br />

Ich hatte ihr gemailt, <strong>da</strong>ss ich komme. Geantwortet hat Sarah<br />

nicht. Vielleicht hat sich schon öfter jemand bei ihr angekündigt<br />

– und ist nicht gekommen. Ob ich an Land gehen werde, entscheidet<br />

<strong>der</strong> Wind.<br />

› 23.45 Uhr, in meiner Kabine<br />

Selbst Google weiß nicht viel über die Insel im Nirgendwo. Die<br />

Recherche hat mich <strong>auf</strong> Sarah <strong>auf</strong>merksam gemacht. Sie ist<br />

24 Jahre alt und die einzige Journalistin des Ortes, sie schreibt für<br />

die „<strong>Tristan</strong> Times“. Das ist ein großer Name für eine Zeitung mit<br />

so wenigen Lesern. 263 Menschen leben <strong>auf</strong> dem fernen Planeten<br />

mit dem prägnanten Vulkan, quasi mitten im Meer – sie sind ein<br />

Volk für sich.<br />

Nur wenige Schiffe steuern in diese Weltenferne, außer dem<br />

monatlichen Versorgungsschiff, <strong>da</strong>s bei Sturm aber abdrehen<br />

muss. Einen Flugplatz gibt es auch nicht am Fuße des rund 2000<br />

Meter hohen Vulkans, <strong>der</strong> die 98 Quadratkilometer Insel prägt.<br />

Nicht einmal ein wetterfester Hafen existiert am Ende <strong>der</strong> Welt.<br />

Und so bleibt <strong>Tristan</strong> <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong>, umtost von berüchtigten Stürmen,<br />

ein kaum erreichbarer Fels voll Menschen.<br />

› 0.30 Uhr, in meiner Koje<br />

<strong>Tristan</strong> <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong> ist so groß wie Sylt, allerdings leben <strong>da</strong> <strong>auf</strong><br />

jedem Quadratkilometer fast so viele Menschen, wie <strong>Tristan</strong> Einwohner<br />

hat. Sie haben ihre Häuser <strong>auf</strong> <strong>der</strong> einzigen grünen Landzunge<br />

im Windschatten eines mächtigen Schildvulkans errichtet.<br />

Sie sind britische Staatsbürger mit wenig Kontakt zum Königreich.<br />

„Die See gab uns einen Felsen“, hat Sarah in einem Artikel<br />

geschrieben. Die See, die keine Herrschaft anerkennt, die Unberechenbare,<br />

die See als einzige wirklich Unabhängige. „The<br />

outer world“ nennen die <strong>Tristan</strong>er alle Gebiete jenseits ihres Felsens.<br />

Von dort kommt aber aller Luxus aus dem Katalog: Jeans,<br />

Schulbücher, Fußbälle, Kühlschränke, Bobbycars für die Kin<strong>der</strong>.<br />

› 1.30 Uhr,<br />

<strong>auf</strong> dem Außenbalkon<br />

Noch immer Wind. Und noch<br />

immer kein Vulkankegel<br />

sichtbar in <strong>der</strong> mondklaren<br />

Nacht. Als 1506 ein portugiesischer<br />

Seefahrer den Berg im<br />

ewig weiten Meer entdeckte,<br />

benannte er ihn kurzerhand nach sich selbst, Tristão <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong>.<br />

Und segelte weiter. 1810 gründete ein wirrer Amerikaner eine<br />

Republik und nannte die Felsen „Erfrischungsinseln“. Wenig später<br />

versank er betrunken im Meer. 1816 wurde hier eine britische<br />

Garnison stationiert, seither gehören die Inseln zum Empire. Und<br />

weil die ersten Briten <strong>auf</strong> <strong>Tristan</strong> Schotten waren, heißt <strong>der</strong> einzige<br />

Ort Edinburgh of the Seven Seas, aber man sagt nur „the<br />

Settlement“ – die Siedlung. Von all dem wird mir Sarah mehr<br />

erzählen können, denn sie ist eine Nachfahrin des ersten Siedlers<br />

William Glass, eines Freimaurers aus Schottland.<br />

› 6.10 Uhr, am Kabinenfenster<br />

Ich schrecke <strong>auf</strong>. Etwas hat sich verän<strong>der</strong>t. Ja, <strong>da</strong>s Schiff scheint<br />

ruhiger im Wasser zu liegen. Ich springe ans Fenster. Ein perfekt<br />

geformter Vulkan erhebt sich aus den Wellen. Ein unwirklicher<br />

Weiße Häuschen am<br />

Lavahang: die Insel‑<br />

hauptstadt Edinburgh<br />

of the Seven Seas<br />

Anblick. 37,06 Grad südlicher Breite. 12,17 Grad westlicher Länge.<br />

Groß und dennoch winzig, wie ein einsames, mit Pastete belegtes<br />

Stückchen Toastbrot <strong>auf</strong> einem abgeräumten Buffet. Ein Happen<br />

Großbritannien mitten im Atlantik. Das Königreich stationierte<br />

seine Sol<strong>da</strong>ten hier, um eine mögliche Befreiung von Napoleon<br />

Bonaparte zu vereiteln, <strong>der</strong> 1815 <strong>auf</strong> die etwa 1300 Seemeilen<br />

entfernte Insel St. Helena verbannt wurde.<br />

› 7.20 Uhr, <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Brücke<br />

Es ist noch immer windig, doch die Sonne scheint. In strahlendem<br />

Weiß steht <strong>der</strong> Kapitän <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Brücke, nippt an seinem Kaffee,<br />

schaut durchs Fernglas. „Hello <strong>Tristan</strong>, can you hear us?“ Ja,<br />

sie hören uns. Und <strong>der</strong> Wind hat so weit nachgelassen, <strong>da</strong>ss wir<br />

landen könnten. Der Chief-Islan<strong>der</strong> – eine Art Bürgermeister, mit<br />

nur dem Gouverneur und dem Herrgott über sich – vergewissert<br />

sich zuerst, ob die möglichen <strong>Besuch</strong>er auch gesund sind. Aber:<br />

„No infections whatsoever Sir.“ Klar zum Landgang.<br />

› 8.30 Uhr, beim Ausbooten<br />

Ich springe in <strong>da</strong>s erste Zodiac, wir surfen <strong>auf</strong> einer Riesenwelle<br />

in die enge Hafeneinfahrt. Schweigsame Insulaner warten am<br />

Kai. Grüßen wortlos. Ein paar junge Frauen bitten <strong>da</strong>rum, an Bord<br />

<strong>der</strong> „Europa“ gehen zu dürfen, „Souvenirs verk<strong>auf</strong>en“. Ich frage<br />

Leon Glass, einen jungen, unrasiert coolen Touristenführer, ob er<br />

Sarah kenne? Gelangweilt deutet er den einzigen Weg hoch ins<br />

Dorf. Knapp fünf Stunden bleiben mir. Länger will hier kein<br />

Kreuzfahrtkapitän ankern. Schlägt <strong>da</strong>s Wetter um, bleibt nur wenig<br />

Zeit, die Passagiere von <strong>der</strong> Insel zu kriegen.<br />

Auf dem Weg zum Settlement treffe ich Emeline und Leo, sie<br />

kommen aus Paris und unterrichten<br />

hier seit fünf Monaten<br />

Theater und Sprachen, ehrenamtlich.<br />

Vor einem Haus sitzt<br />

ein alter Mann im Armsessel,<br />

pafft seine Pfeife und beobachtet<br />

durch ein Fernglas beiläufig<br />

unser Schiff. Und wendet<br />

sich wie<strong>der</strong> ab.<br />

› 9.10 Uhr, <strong>auf</strong> <strong>Tristan</strong> <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong><br />

„Father Chris“ spricht mich am Wegrand an – freundlich, bärtig,<br />

kurze Hose, eine Bierdose in <strong>der</strong> Hand. Er ist <strong>der</strong> Aushilfspfarrer<br />

in <strong>der</strong> anglikanischen Kirche Saint-Mary, einem einfachen Flachbau<br />

mit schiefer Regenrinne, die winzige Kirchenglocke ist griffbereit<br />

außen angebracht. Chris erklärt, warum die Insulaner scheu<br />

88 g e o s a i s o n | 4 . 2 0 1 1 4 . 2 0 1 1 | g e o s a i s o n 89


Wenn die InSELGLoCKE<br />

läuTeT, gibT’s „HUMMERFREI“<br />

sind: „Ihre Ewigkeit ist von <strong>der</strong> Abgeschlossenheit bestimmt.“ Von<br />

sieben Urfamilien gibt es heute noch Nachfahren, sie heißen<br />

Green, Hagan, Rogers, Swain, Lavarello und Repetto – die Vorfahren<br />

letzterer waren italienische Walfänger, die hier gestrandet<br />

sind – und eben die Großfamilie Glass, zu <strong>der</strong> auch Sarah gehört.<br />

Father Chris blickt über <strong>da</strong>s Gras, <strong>da</strong>s im Wind zappelt, die<br />

Wellen tragen weiße Kronen. „Die <strong>Tristan</strong>er sind raue Menschen<br />

in dicken Rollkragenpullovern. Sie achten und fürchten die See,<br />

aber sie können ohne sie nicht leben. Als die Einwohner 1961<br />

nach einem Vulkanausbruch nach England evakuiert wurden,<br />

ging es ihnen seelisch schlecht. Die gesamte Inselgemeinschaft<br />

hatte Heimweh nach ihrem einsamen Felsen.“<br />

Kaum ein <strong>Tristan</strong>er verlässt die Insel für längere Zeit, Einwan<strong>der</strong>er<br />

gibt es so gut wie nie. Und so entstand eine Gemeinschaft,<br />

die in einem fast märchenhaften Halbsozialismus lebt:<br />

Sie pflanzen gemeinsam Kartoffeln, fischen gemeinsam, feiern<br />

gemeinsam. Und wer hier streitet, verträgt sich besser schnell<br />

wie<strong>der</strong>. Auf dieser Insel leben heißt sorgsam sein mit wichtigen<br />

Dingen. Je<strong>der</strong>, <strong>der</strong> hier die Schule verlässt, geht erstmal ein<br />

Jahr als Fischer in die Lehre.<br />

In den wenigen sturmfreien Tagen holt man Hummer aus<br />

dem Meer vor <strong>der</strong> Steilküste.<br />

Der <strong>Tristan</strong> rock lobster ist eine<br />

Delikatesse. Am Fangtag müssen<br />

alle kräftig mit anpacken.<br />

Dann bleibt die Schule geschlossen,<br />

die Kneipe auch.<br />

Man schlägt <strong>da</strong>nn laut hör-<br />

bar die Inselglocke: <strong>Tristan</strong><br />

hat „hummerfrei“.<br />

› 10.20 Uhr, an <strong>der</strong> Dorfstraße<br />

Brian Rogers – breitbeinig, tätowiert, um die 45 Jahre alt – steht<br />

wie ein Fels vor seinem Haus aus Lavamauern und kämmt sein<br />

drahtiges Haar. Je<strong>der</strong> Mann hier ist Fischer, Schafzüchter, Klempner,<br />

Monteur, Arbeiter und Gemüsebauer in einem, sagt er. „Den<br />

Rest, den wir zum Überleben brauchen, erhalten wir aus England.“<br />

Früher kam <strong>da</strong>s Postschiff aus dem fernen Portsmouth.<br />

Heute kommen die Versorgungsschiffe aus Kapstadt. Meist werden<br />

sie sehnsüchtig erwartet. Doch manchmal muss ein Schiff<br />

umkehren, einmal versank beim Ausladen ein Container im Meer.<br />

Die <strong>Tristan</strong>er haben gelernt, genügsam zu sein. Ein Wissenschaft-<br />

90 g e o s a i s o n | 4 . 2 0 1 1<br />

ler beschrieb <strong>da</strong>s so: Die Menschen erleben ihre Insel als kreisförmige<br />

geometrische Figur, die den größtmöglichen Reichtum<br />

in kleinstmöglicher Form mit einschließt. Und Sarah, so brummelt<br />

Brian, findest du in <strong>der</strong> Inselkneipe. Sie arbeitet dort.<br />

› 11.05 Uhr,<br />

entlang <strong>der</strong> Straße<br />

Die Schule ist geschlossen, 27<br />

Schüler hat sie in diesem Jahr.<br />

Das öffentliche Schwimmbad<br />

ist leer. Es gibt verblüffend viele<br />

Autos. Und zwei Kirchen,<br />

die katholische ist größer, hat<br />

bunte Glasfenster mit Booten und Möwen dr<strong>auf</strong>. Der Polizist<br />

heißt Connie Glass, er beobachtet <strong>da</strong>s Treiben vor dem Postamt.<br />

Die Kreuzfahrer in ihren Burberry-Jacken und Bu<strong>da</strong>pester Schuhen<br />

flanieren durch <strong>da</strong>s Settlement und drängen ins Postamt. Ein<br />

Brief von hier ist meist viele Monate unterwegs, doch die Marken<br />

sind berühmt. „Wünsche schöne Weihnachten“, schreibe ich <strong>auf</strong><br />

eine Postkarte an mich selbst – wer weiß, wann die ankommt …<br />

› 11.50 Uhr, bei <strong>der</strong> Wäscheleine<br />

Joan Repetto – drei erwachsene Kin<strong>der</strong>, winziges Haus am Hang<br />

– nickt mir freundlich zu, ein kurzer Schnack. Auffällig sind ihre<br />

muskulösen Arme. „Vom Arbeiten im Wind“, lacht sie. Sie war<br />

auch schon mal in Portugal. War schön, aber zu voll dort und<br />

ver<strong>da</strong>mmt weit weg. „Wenn ich dort verloren gehe, wer wird mich<br />

suchen, wer wird mich finden?“ Joan streichelt ihren Hund. Dann<br />

hängt sie grob gestrickte Pullover in den harten Wind. Ich freue<br />

mich über den sonnigen Tag, Joan sagt, ihr wäre Regen lieber –<br />

<strong>der</strong> sei gut für die Kartoffeln.<br />

Windgeschützt hinter Lavasteinen hocken zwei Mädchen<br />

und starren ins Nichts: „Einsam ist es hier nicht, es ist eher zu<br />

eng“, sagt eine. „Wenn es wenigstens noch eine zweite Siedlung<br />

gäbe, <strong>da</strong>nn könnte man mal jemanden besuchen.“ Eine Lavawand<br />

weiter hebt ein Halbstarker sein Bier in den Himmel, Jimmy Rogers<br />

ist <strong>der</strong> Inselkünstler. Seine große Ausstellung war 2002, er<br />

malt vor allem die für <strong>Tristan</strong> typischen Gelbnasenalbatrosse.<br />

Jetzt grinst er mich mit großen Zähnen an, Sarah arbeitet in <strong>der</strong><br />

„Albatross Bar“ hinterm Tresen. Jimmy kaut <strong>da</strong>s kaum verständliche<br />

Englisch hervor, <strong>da</strong>s sich in <strong>der</strong> Abgeschiedenheit erhalten<br />

hat, ein Mischdialekt aus Schottisch und amerikanischem Oststaaten-Slang.<br />

Um den zu erforschen, kam vor einigen Jahren <strong>der</strong><br />

Sprachforscher Daniel Schreier nach <strong>Tristan</strong>. Als er abreiste, begleitete<br />

ihn die schönste Frau <strong>der</strong> Insel nach Europa, beide veröffentlichten<br />

später ein wissenschaftliches Buch über <strong>Tristan</strong>.<br />

› 12.10 Uhr, in <strong>der</strong> Kneipe<br />

Im „Albatross“ zapft Sarah Bier. Die 24-Jährige trägt Brille, an den<br />

Rockzipfeln hängt ihr kleiner Sohn. Erwartet hat sie mich nicht.<br />

„<strong>Besuch</strong> ist immer toll“, erklärt sie un<strong>auf</strong>geregt, „aber für uns hier<br />

sind Tagesgäste eigentlich unwichtig.“ Doch jetzt, <strong>da</strong> ich nun mal<br />

<strong>da</strong> sei, würde sie sich gern mit mir unterhalten. Journalistin sei<br />

sie geworden, weil so viel Falsches über ihre Insel geschrieben<br />

werde. „Vor allem wird aber immer wie<strong>der</strong> über Inzucht <strong>auf</strong> <strong>Tristan</strong><br />

spekuliert.“ Verstehen kann sie <strong>da</strong>s nicht.<br />

Ihre Ausbildung hat Sarah „ganz in <strong>der</strong> Nähe“ gemacht, <strong>auf</strong><br />

den Falkland-Inseln. Ein Stipendium führte sie auch <strong>auf</strong> die Shetland-Inseln.<br />

Jetzt ist sie Mitglied bei „SARTMA“, <strong>der</strong> „South Atlantic<br />

Remote Territories Media Association“ – alle wichtigen<br />

abgelegenen Medien seien Mitglied. Sarahs größte Story handelte<br />

von <strong>der</strong> Rettung des bulgarischen Seemanns Nicolay, den die<br />

Inselbewohner 2006 an Land holten und gesund pflegten. Dann<br />

entschuldigt sie sich, sie müsse weiter zapfen.<br />

Ein wenig verloren stehe ich in <strong>der</strong> Insel-Schankstube – 15<br />

Bistrotische, 27 altmodische Stoffsessel, an <strong>der</strong> Wand ein paar<br />

wilde, unbekannte Fahnen und allerlei Verbote und Hinweise:<br />

Hunde sind nicht erlaubt, Kin<strong>der</strong> von 3 bis 15 Jahren auch nicht,<br />

Anschreibenlassen sowieso nicht. Benzin gibt es an <strong>der</strong> Tankstelle<br />

nur noch bis nächste Woche, <strong>da</strong>nn ist Schluss, bis <strong>da</strong>s Versorgungsschiff<br />

kommt. Sarah ruft: Du solltest <strong>auf</strong> jeden Fall die<br />

Kartoffelfel<strong>der</strong> besuchen.<br />

› 12.30 Uhr,<br />

bei den Kartoffelfel<strong>der</strong>n<br />

Die „Patches“ sind <strong>der</strong> zweite<br />

„Ort“ <strong>auf</strong> <strong>Tristan</strong>. Dorthin<br />

zieht es die Insulaner, wann<br />

immer sie Zeit finden. Viele<br />

verbringen <strong>da</strong> ihren Urlaub,<br />

es gibt Gartenhäuser und<br />

Bänke in <strong>der</strong> Sonne – mal rauskommen, weg von <strong>der</strong> Stadt und<br />

den an<strong>der</strong>en. Fünf Kilometer liegen zwischen Kneipe und Kartoffeln.<br />

Ich komme an einer Bushaltestelle vorbei, sie heißt „Hottentot-Shelter“!<br />

Doch <strong>der</strong> Fahrplan hilft mir nicht: Ein Bus ist<br />

nicht zu erwarten, und ich wan<strong>der</strong>e weiter. Der Wind ist wie<strong>der</strong><br />

stärker geworden. Plötzlich empfinde ich <strong>Tristan</strong> als einen Ort<br />

ungeheuerlicher Freiheit. Ein Auto naht. Anthony Rogers nimmt<br />

mich mit. Und erzählt mir etwas über die Kartoffeln. In den Vierzigern<br />

sind die Insulaner einmal fast verhungert, als die Ernte<br />

ausblieb. Früher waren die Kartoffeln ihre Währung, heute gibt<br />

es Wettbewerbe, wer die besten erntet. „So, <strong>da</strong> wären wir“, sagt<br />

Anthony und lässt mich an einem Acker stehen.<br />

Zurück bringt mich <strong>da</strong>nn eine Art Minibus. Für die Insulaner<br />

ist die Fahrt umsonst. Ich, <strong>der</strong> Tourist, zahle fünf Dollar. Lei<strong>der</strong><br />

Einsames Grün im<br />

endlosen Blau: die nächsten<br />

nachbarn wohnen<br />

1300 Seemeilen weit weg


kommen wir nicht an jene Orte, <strong>der</strong>en Namen mich <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Karte<br />

so fasziniert haben: „The Hill with the hole in it“ (Hügel mit<br />

Loch drin), „Ridge where the goat jumped off“ (wo eine Ziege ins<br />

Meer sprang) o<strong>der</strong> „Down where the minister landed his things“<br />

(<strong>da</strong> unten, wo <strong>da</strong>s Gepäck des Pfarrers angelandet wurde).<br />

› 13 Uhr, zurück am Hafen<br />

Noch 30 Minuten. Im Hafen<br />

ohne Schiffe – <strong>Tristan</strong>s kleine<br />

Boote werden an Land gezogen<br />

und mit Tauen festgezurrt<br />

– handelt <strong>der</strong> Schiffskoch <strong>der</strong><br />

„Europa“. Er bietet Schweine-<br />

speck und Alkohol gegen Langusten.<br />

Neben dem Schild „Welcome to the remotest island“ fotografieren<br />

sich die Kreuzfahrer gegenseitig. In <strong>der</strong> Gemeindehalle<br />

in f o<br />

CheCk-in<br />

d e r W e g nac h T r i s Ta n <strong>da</strong> cu n h a<br />

Weniger ist unbewohnt. die abenteuerliche<br />

anreise zur einsamen insel, eine Wan<strong>der</strong>ung<br />

zum Vulkankrater, <strong>da</strong>s legendäre Postamt<br />

telefon: Es gibt kaum Telefone,<br />

die werden offenbar nur für<br />

Notfälle genutzt. Der Autor hat<br />

jedenfalls noch nie jemanden<br />

erreicht.<br />

ZeitdifferenZ: Minus eine Stunde,<br />

Berlin 12 Uhr = Edinburgh on<br />

the Seven Seas 11 Uhr, im Sommer<br />

minus 2 Stunden<br />

Geld : Das St. Helena Pfund<br />

entspricht dem Britischen Pfund.<br />

1 € = ca. 0,86 £, 1 £ = ca. 1,16 €<br />

(Stand Januar 2011)<br />

reiseZeit: Immer und nie. Es ist<br />

<strong>auf</strong> <strong>der</strong> Insel meist windig bis<br />

stürmisch, <strong>da</strong>s Wetter än<strong>der</strong>t sich<br />

schnell. Temperaturen variieren<br />

zwischen 0 und 30 Grad.<br />

internet: www.tristandc.com<br />

anreisen<br />

<strong>Tristan</strong> <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong> liegt im Sü<strong>da</strong>tlantik,<br />

zwischen Afrika und Sü<strong>da</strong>merika.<br />

Zum Territorium gehören<br />

die unbewohnten Inseln Nigh-<br />

tingale, Inaccessible und Gough.<br />

263 Einwohner leben <strong>auf</strong> <strong>Tristan</strong>,<br />

<strong>da</strong>s seit 1816 zu Großbritannien<br />

gehört. Inzwischen gibt es sogar<br />

Internet und Satelliten-TV.<br />

92 g e o s a i s o n | 4 . 2 0 1 1<br />

Eine Reise nach <strong>Tristan</strong> lässt sich<br />

kaum planen, es gibt keinen Flugplatz,<br />

und für Helikopter ist die<br />

Entfernung vom Festland zu weit.<br />

Etwa einmal monatlich kommt<br />

ein Versorgungsschiff aus Kapstadt,<br />

allerdings muss es hin und wie-<br />

<strong>der</strong> umkehren. Selbst wer einen<br />

<strong>der</strong> wenigen Plätze bekommt,<br />

weiß nie, wann es zurückgeht. Die<br />

Schiffspassage <strong>da</strong>uert ca. fünf<br />

bis sechs Tage, ein Return-Ticket<br />

Kapstadt–<strong>Tristan</strong>–Kapstadt kostet<br />

für Touristen je nach Boot und<br />

Zeit 600 bis 1300 Euro, Einheimische<br />

und Familienmitglie<strong>der</strong><br />

reisen zu Son<strong>der</strong>konditionen. Die<br />

Rubrik „latest shipping news“<br />

<strong>der</strong> Insel-Homepage nennt alle ankommenden<br />

Schiffe, auch den<br />

seltenen <strong>Besuch</strong> eines Kreuzfahrtschiffes.<br />

Unser Autor reiste mit<br />

<strong>der</strong> „MS Europa“ nach <strong>Tristan</strong>.<br />

Das deutsche Schiff wird die Insel<br />

im Dezember 2012 wie<strong>der</strong> anl<strong>auf</strong>en,<br />

im Rahmen einer Atlantiküberquerung;<br />

14-tägige Kreuz-<br />

fahrt von Kapstadt nach Buenos<br />

Aires inkl. Flüge von und nach<br />

Deutschland, ab 3990 € p. Pers./<br />

DZ; www.hlkf.de<br />

werden letzte Souvenirs gek<strong>auf</strong>t. Sehr beliebt ist Connie Glass’<br />

Buch „Rockhopper Copper“ – die Memoiren des Inselpolizisten.<br />

Ein Stück weiter am schneeweißen Riesengrabstein des Inselgrün<strong>der</strong>s<br />

William Glass („he fell asleep in Jesus, 1853“) liegen<br />

frische Blumen.<br />

› 13.25 Uhr, zurück <strong>auf</strong>s Kreuzfahrtschiff<br />

Alle warten schon <strong>auf</strong> mich. Ich habe Beschränkung in ihrer<br />

schönsten Form gesehen. In einem Meer, <strong>da</strong>s wie Freiheit rauscht.<br />

Tschüss, Sarah. Lei<strong>der</strong> war die „<strong>Tristan</strong> Times“ ausverk<strong>auf</strong>t. Aber<br />

Sarah und ich wollen in Kontakt bleiben.<br />

Jetzt stehe ich am Heck <strong>der</strong> „Europa“. Und langsam schrumpft<br />

<strong>der</strong> Vulkan. Ob ich je wie<strong>der</strong>kommen werde? Ich könnte Sarah<br />

noch einmal besuchen, mit mehr Zeit, denn auch die unbewohnten<br />

Nachbarinseln sollen interessant sein. Eine <strong>da</strong>von heißt<br />

„Inaccessible Island“ – unzugängliche Insel.<br />

übernaChten,<br />

essen und trinken<br />

In Edinburgh of the<br />

Seven Seas gibt es einfache<br />

Ferienhäuser,<br />

sie kosten ca. 20 Pfund<br />

(25 €) pro Person und<br />

Nacht. Auch Vollpension wird angeboten,<br />

eine gute Wahl,<br />

<strong>da</strong> es außer <strong>der</strong> „Albatross Bar“<br />

und einem Café kein Lokal<br />

gibt. Zu ähnlichen Übernachtungs-<br />

preisen können <strong>Besuch</strong>er auch<br />

privat bei einer <strong>der</strong> rund 80 Familien<br />

wohnen.<br />

unternehmen<br />

Attraktionen gibt es kaum – außer<br />

dem legendären Postamt und<br />

den Kartoffelfel<strong>der</strong>n, für die sich<br />

vor allem die Einwohner interessieren.<br />

Spannend sind die Wan<strong>der</strong>ung<br />

zum Queen Mary’s Peak<br />

mit seinem Vulkankrater und die<br />

Bootsausflüge zu den <strong>auf</strong> dem<br />

Landweg unerreichbaren wilden<br />

Stränden. Vogelkundler werden<br />

die seltenen Gelbnasenalbatrosse<br />

und die vielen Sturmvogelarten<br />

lieben. Auf <strong>der</strong> engen Landzunge<br />

gibt es noch einen Friedhof mit<br />

Gräbern <strong>der</strong> ersten Siedler zu entdecken,<br />

einen sturmumtosten<br />

Fußballplatz und einen sehr rauen<br />

Golfparcours. Zu beson<strong>der</strong>en<br />

Feierlichkeiten trifft sich <strong>da</strong>s ganze<br />

Dorf in <strong>der</strong> Gemeindeaula<br />

Prince Philip Hall. Hier wird auch<br />

– wenn ein Schiff gekommen<br />

ist – die Post verteilt.<br />

Die Insel hat zwei<br />

Kirchen: Saint-Mary<br />

und Saint-Joseph.<br />

mitbrinGen<br />

Das beliebteste Souvenir sind<br />

Briefmarken, seit September 2010<br />

werden Ausgaben mit den<br />

Namen dort leben<strong>der</strong> Familien verk<strong>auf</strong>t.<br />

Über die Insel-Homepage<br />

kann man vieles inzwischen auch<br />

online bestellen. Aber Achtung:<br />

Die Post braucht viele Monate.<br />

lesen<br />

Reiseführer über <strong>Tristan</strong> <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong><br />

gibt es nicht. Aber diese Bücher<br />

erzählen von <strong>der</strong> einsamen Insel:<br />

tristan <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong> – history, PeoPle,<br />

lanGuaGe, antiq. Der Schweizer<br />

Daniel Schreier forschte <strong>auf</strong> <strong>Tristan</strong>,<br />

verliebte sich in die Einheimische<br />

Karen Lavarello, beide<br />

heirateten in Europa und veröffentlichten<br />

gemeinsam dieses Buch.<br />

roCkhoPPer-CoPPer, antiquarisch.<br />

Die Erinnerungen des einsamen<br />

Polizisten Conrad Glass sind seit<br />

Erscheinen 2005 ein Kultbuch.<br />

tristan <strong>da</strong> <strong>Cunha</strong> : o<strong>der</strong> die hälfte<br />

<strong>der</strong> erde von Raoul Schrott,<br />

Fischer TB, 12,95 €. Der spannende<br />

700-Seiten-Roman erzählt von Inselbewohnern<br />

und einer Polarforscherin;<br />

auch als Hörbuch.

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