1. Sprache und Sprachverarbeitung
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Einführung in die <strong>Sprachverarbeitung</strong><br />
Skript zur Vorlesung<br />
T. Hüttner
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>1.</strong> <strong>Sprache</strong> <strong>und</strong> <strong>Sprachverarbeitung</strong> 5<br />
• <strong>1.</strong>1 Was ist <strong>Sprache</strong><br />
• <strong>1.</strong>2 Was bedeutet <strong>Sprachverarbeitung</strong><br />
2. Sprachproduktion 12<br />
2.2 Modelle zur Sprachproduktion 13<br />
• 2.2.1 Allgemeines zu Modellen 13<br />
• 2.2.2 Sprachproduktionsmodell von Garrett 15<br />
• 2.2.3 <strong>Sprachverarbeitung</strong>smodell von Levelt 17<br />
2.1 Versprecher 20<br />
• 2.<strong>1.</strong>1 Allgemeines zu Versprechern 20<br />
• 2.<strong>1.</strong>2 Versprecherdaten 22<br />
• 2.<strong>1.</strong>3 Versprecher als Fenster zur Sprachproduktion 23<br />
• 2.<strong>1.</strong>4 Analyse von Versprechern 25<br />
• 2.<strong>1.</strong>5 Versprecher <strong>und</strong> die Organisation des mentalen Lexikons 28<br />
3. Sprachperzeption 31<br />
3.1 Lexikalische Verarbeitung 32<br />
• 3.<strong>1.</strong>1 Lexikonmodelle 35<br />
• 3.<strong>1.</strong>2 Experimente <strong>und</strong> lexikalische Effekte 41<br />
• 3.<strong>1.</strong>3 Prälexikalische Inputrepräsentation 50<br />
• 3.<strong>1.</strong>4 Das Problem der Morphologie 56<br />
3.2 Syntaktische Verarbeitung 62<br />
• 3.2.1 Ambiguitäten<br />
• 3.2.2 Modelle zur syntaktischen Verarbeitung (Parsing) 70<br />
• 3.2.3 Experimente zur syntaktischen Verarbeitung 80<br />
• 3.2.4 EKP (ereigniskorrelierte Hirnpotentiale) 89<br />
4. Literaturverzeichnis<br />
4
<strong>1.</strong> <strong>Sprache</strong> <strong>und</strong> <strong>Sprachverarbeitung</strong><br />
<strong>1.</strong>1 Was ist <strong>Sprache</strong>?<br />
Obwohl wir <strong>Sprache</strong> täglich nutzen, indem wir mit anderen Menschen<br />
sprechen <strong>und</strong> zuhören, fällt es uns schwer zu definieren, was <strong>Sprache</strong> eigentlich ist.<br />
In Bussmanns Lexikon der Sprachwissenschaft wird der Begriff SPRACHE<br />
folgendermaßen definiert (1):<br />
(1) Auf kognitiven Prozessen basierendes, gesellschaftlich bedingtes, historischer<br />
Entwicklung unterworfenes Mittel zum Ausdruck bzw. (zum) Austausch von Gedanken,<br />
Vorstellungen, Erkenntnissen <strong>und</strong> Informationen sowie zur Fixierung <strong>und</strong> Tradierung von<br />
Erfahrung <strong>und</strong> Wissen. In diesem Sinn bezeichnet S. eine artspezifische, dem Menschen<br />
eigene Ausdrucksform, die sich durch … Kreativität, die Fähigkeit zu begrifflicher Abstraktion<br />
<strong>und</strong> die Möglichkeit zu metasprachlicher Reflexion von anderen Kommunikationssystemen<br />
unterscheidet.<br />
In der Sprachwissenschaft werden bei der Beschreibung von <strong>Sprache</strong> vor<br />
allem die Eigenschaften der Kreativität <strong>und</strong> der Produktivität hervorgehoben.<br />
Kreativität <strong>und</strong> Produktivität ermöglichen es dem Sprecher einer <strong>Sprache</strong> nicht nur<br />
eine begrenzte Menge von Äußerungen zu verstehen <strong>und</strong> zu produzieren, sonder<br />
eine unendliche Anzahl von Äußerungen zu kreieren. Ein Beispiel für die Kreativität<br />
von <strong>Sprache</strong> sind situativ gebildete Komposita. Ein Wort wie Keilriementütchen<br />
erscheint zunächst etwas merkwürdig. In einem Kontext, in dem gerade ein winziger<br />
neuer Keilriemen für einen Plattenspieler gekauft wurde, erscheint die Frage Wo ist<br />
denn das Keilriementütchen? aber völlig normal.<br />
Da der Begriff <strong>Sprache</strong> in vielen verschiedenen Zusammenhängen gebraucht<br />
wird, unterscheidet man zur besseren Verständlichkeit zunächst die folgenden<br />
Begriffe<br />
5
Sprachsystem<br />
Sprechen<br />
<strong>und</strong><br />
Sprachfähigkeit.<br />
Der Schweizer Sprachforscher Ferdinand de Saussure leitete Anfang des 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts mit dieser Einteilung ein neues Zeitalter der Sprachtheorie ein, das seit<br />
den 60iger Jahren vor allem von den Arbeiten des Amerikaners Noam Chomsky<br />
beeinflusst wird.<br />
Das Sprachsystem (nach de Saussure: Langue) besteht aus frei<br />
geschaffenen, aber konventionell überlieferten Zeichen bzw. Symbolen <strong>und</strong> einer<br />
endlichen Anzahl von Kombinationsregeln.<br />
Dass ein weicher, gefüllter Gegenstand aus Stoff im Deutschen KISSEN <strong>und</strong> nicht<br />
LUSCHUM heißt, ist frei geschaffen, da der Gegenstand an sich (außer der<br />
Konvention, ihn so zu bezeichnen) keinerlei Bezug zu seiner Bezeichnung hat.<br />
Die Kombinationsregeln sind Regeln, die uns anzeigen, wie wir die einzelnen<br />
Elemente der <strong>Sprache</strong> (Phoneme, Morpheme, Wörter) kombinieren können. Die<br />
phonotaktischen Regeln des Deutschen erlauben es z.Bsp. nur, bestimmte<br />
Konsonanten am Silbenanfang zu kombinieren (∫tra./*tr∫a). Morphologische Regeln<br />
wie N + lich → Adj. ermöglichen es ein Nomen wie HAUS mit einem Affix -lich zu<br />
verbinden <strong>und</strong> daraus das Adjektiv häuslich zu bilden. Und syntaktische Regeln wie<br />
S -> NP + VP ermöglichen uns Kombinationen wie [[Der H<strong>und</strong>]NP[ bellt]VP]S<br />
Die strukturalistische Forschung von de Saussures versuchte vor allem diese<br />
Regeln für jede <strong>Sprache</strong>n einzeln zu erfassen. Später wurde dann in generativen<br />
Ansätzen, wie z.Bsp. der Generative Grammatik von Chomsky (1965), eher<br />
versuchen, ein “universell” zugr<strong>und</strong>eliegendes Sprachsystem zu beschreiben.<br />
Sprechen (nach de Saussure: Parole) bezeichnet den konkreten<br />
Sprechvorgang, der mit Hilfe des Sprachsystems vollzogen wird. Ein Sprechvorgang<br />
reflektiert aber nie das Sprachsystems an sich, da man für eine konkrete Äußerung<br />
immer nur auf einen Teil des Sprachsystems zurückgreifen kann. Wenn ich also<br />
einen objektinitialen Satz wie „ Dieses Skript finde ich hervorragend.“ bilde, heisst<br />
dies nicht, dass ich nur eine einzige syntaktische Regel in meinem Sprachsystem<br />
6
habe, die es mir ermöglicht objektinitiale Sätze zu bilden. Im Gegensatz zum<br />
Vorgang des Sprechens ist das Sprachsystem also nicht direkt beobachtbar.<br />
In Aspects of the theory of Syntax (Chomsky, 1965) 1 bezeichnet Chomsky das<br />
Sprachsystem als Competence <strong>und</strong> den Sprechakt als Performance eines<br />
Sprechers. Die Frage, inwiefern die Performance eines Sprechers die empirische<br />
Basis für die Beschreibung des zugr<strong>und</strong>eliegenden grammatischen Systems, also<br />
der Competence sein kann, wird bis heute stark theorieabhängig beantwortet. Die<br />
Theorien von Chomsky haben bis heute einen gravierenden Einfluss, auch auf die<br />
Forschung <strong>und</strong> Modellbildung in der <strong>Sprachverarbeitung</strong>.<br />
Egal welche Bezeichnungen sie in Zukunft verwenden; um den Prozess der<br />
<strong>Sprachverarbeitung</strong> zu verstehen, müssen sie sowohl Einblicke in die Kompetenz als<br />
auch in die Performanz bekommen. Und sie müssen in der Lage sein eine Beziehung<br />
zwischen diesen Aspekten der <strong>Sprache</strong> herzustellen.<br />
Ein weiterer Aspekt bei der Definition von <strong>Sprache</strong> ist die sog. Faculty of<br />
Language (Faculté de Langage). Mit diesem Begriff wird die genetisch vorgegebene,<br />
auf neurophysiologischen Prozessen basierende Sprachfähigkeit des Menschen<br />
bezeichnet. Die Frage danach, wie diese Faculty of Language aussieht, wird vor<br />
allem in Diskussionen über Daten aus dem <strong>Sprache</strong>rwerb gestellt <strong>und</strong> diskutiert.<br />
<strong>1.</strong>2 Was bedeutet <strong>Sprachverarbeitung</strong>?<br />
Die Verarbeitung von <strong>Sprache</strong> erfolgt in zwei Richtungen. Bei der<br />
Sprachproduktion wird ein Gedanke mit Hilfe von Wörtern <strong>und</strong> grammatischen<br />
Regeln in einen artikulatorischen (Sprechen) bzw. graphomotorischen (Schreiben)<br />
Mechanismus umgesetzt. Das Ergebnis dieses Prozesses, der sog. Output, ist dann<br />
entweder eine Abfolge von graphematischen oder von akustischen Zeichen.<br />
Bei der Sprachperzeption wird ein Input in Form von akustischen oder visuellen<br />
Signalen wahrgenommen, mit bereits gespeicherten Informationen (Phonem- /<br />
Grapheminventar, Wörter) verglichen <strong>und</strong> mit Hilfe von grammatischen Regeln einer<br />
1 Diese Werk wird unter Profi-Linguisten häufig einfach als “Aspects” bezeichnet.<br />
7
Bedeutung zugeordnet. Das Ergebnis dieses Prozesses ist dann wiederum ein<br />
Konzept (Gedanke).<br />
Sprachproduktion <strong>und</strong> Sprachperzetion<br />
Produktion<br />
Gedanken Konzepte graphemat. o.<br />
Perzeption<br />
Abb.1<br />
PROZESSOR<br />
zur<br />
Sprachverbarbeitung<br />
akustische<br />
Zeichen/Signale<br />
Das Modul, dass diesen Prozess ausführt wird als Prozessor bezeichnet. Der<br />
Prozessor für die <strong>Sprachverarbeitung</strong> greift auf bereits vorhandenes sprachliches<br />
Wissen zurück. Dieses Sprachliche Wissen besteht zum einen aus lexikalischem<br />
Wissen, d.h. aus den im Lexikon gespeicherten Wörter <strong>und</strong> zum anderen aus der<br />
Grammatik, die man sich als eine Art Regelsammlung vorstellen kann. In wie weit<br />
man davon ausgeht, dass dieser Prozessor auch Weltwissen nutzt, um <strong>Sprache</strong> zu<br />
verarbeiten ist theorieabhängig. 2<br />
Abb.2<br />
Der Prozessor zur <strong>Sprachverarbeitung</strong><br />
Nicht-sprachliches<br />
Wissen:<br />
- Weltwissen<br />
PROZESSOR<br />
Sprachliches<br />
Wissen:<br />
- Grammatik<br />
- Lexikon<br />
Der Forschungszweig der <strong>Sprachverarbeitung</strong> (Language Processing) befasst sich<br />
sowohl mit der Sprachproduktion, als auch mit der Sprachperzeption.<br />
2 Diese Frage wird in der Linguistik immer wieder heiß diskutiert. Wir werden später noch mal darauf<br />
eingehen.<br />
8
Bei der Perzeption unterscheidet man zum einen die Worterkennung (Word<br />
Recognition), also das Erkennen gehörter oder gelesener Wörter, <strong>und</strong> zum anderen<br />
die Satzverarbeitung (Sentence Processing, Parsing).<br />
Bei der Satzverarbeitung wird dem gehörten oder gelesenen Satz eine<br />
syntaktische Struktur zugeordnet, die es ermöglicht, die Bedeutung des Satzes zu<br />
berechnen. An einem mehrdeutigen Satz wie (2a) wird deutlich, wie wichtig die<br />
syntaktische Analyse für die Interpretation einer Äußerung ist, da (2a) sowohl als (2b)<br />
als auch als (2c) interpretiert werden kann.<br />
(2) a. Der Professor bedrohte die Studentin mit der Kettensäge.<br />
b. Der Professor [bedrohte mit der Kettensäge] die Studentin.<br />
c. Der Professor bedrohte [die Studentin mit der Kettensäge] .<br />
Wenn man sich mit der Verarbeitung von <strong>Sprache</strong> befasst, sollte man sich<br />
anfangs immer über folgende Aspekte Gedanken machen: Es ist in jedem Fall<br />
notwendig zu wissen, ob man sich grade mit der Produktion oder Perzeption von<br />
<strong>Sprache</strong> beschäftigt. Außerdem muss man unterscheiden, auf welcher<br />
linguistischen Ebene man sich eigentlich gerade befindet. Schließlich macht es<br />
keinen Sinn über Syntaktische Verarbeitungsstrategien zu sprechen, wenn ich die<br />
Lesezeiten von Wörtern <strong>und</strong> Neologismen vergleiche. Im folgenden sind deshalb die<br />
linguistischen Ebenen noch einmal aufgeführt.<br />
Linguistische Ebenen:<br />
- Phonologie System von Lauten innerhalb einer <strong>Sprache</strong><br />
- Prosodie Betonung von Wörtern <strong>und</strong> Sätzen<br />
- Semantik Bedeutung von Wörtern <strong>und</strong> Sätzen<br />
- Pragmatik Verwendung von Sätzen im sozialen Kontext<br />
- Syntax grammatische Regeln<br />
- Morphologie Regeln, die die Wortstruktur spezifizieren<br />
Außer den Fragen nach der untersuchten linguistischen Ebene wird bei<br />
Untersuchungen der <strong>Sprachverarbeitung</strong> methodisch auch nach dem Zeitpunkt der<br />
Datenerhebung unterschieden. Findet die Messung während der Verarbeitung statt<br />
spricht man von on-line Experimenten. Dies gilt z. Bsp. für EKP- Experimente<br />
9
(Ereignis korrelierte Potentiale), bei denen die Hirnströme des Probanden gemessen<br />
werden, während er <strong>Sprache</strong> verarbeitet. Untersuchungen die nach der Verarbeitung<br />
stattfinden werden als off-line Experimente bezeichnet. Ein typisches off-line<br />
Experiment ist das Abgeben von Grammatikalitätsurteilen auf Fragebögen.<br />
Bei Eye-tracking <strong>und</strong> Self-paste-reading Experimenten ist die Zuordnung zu on- bzw.<br />
off-line nicht eindeutig. Da die Einteilung in on- <strong>und</strong> off-line Experimenten zeitlich vor<br />
der häufigen Anwendung von bildgebenden Verfahren gemacht wurde, werden diese<br />
Experimente häufig noch zu den on-line Experimenten gezählt, obwohl der Zeitpunkt<br />
der Messung eigentlich nach der Verarbeitung liegt.<br />
Dieses Kapitel sollte ihnen einen groben Überblick über das weite Gebiet der<br />
<strong>Sprachverarbeitung</strong> geben. Wenn sie in Zukunft Artikel zu diesem Thema lesen oder<br />
Ergebnisse einer Untersuchung betrachten, wissen sie, dass sie sich immer die<br />
folgenden Fragen stellen sollten:<br />
Geht es hier um Sprachproduktion oder Sprachperzeption?<br />
Welche linguistische Ebene wird hier untersucht?<br />
Handelt es sich um eine off-line oder eine on-line Untersuchung?<br />
Wenn Sie sich selber diese Fragen beantworten können, haben Sie schon einmal<br />
eine gute Ausgangsposition, um die manchmal recht komplexen Inhalte von<br />
Untersuchungen <strong>und</strong> Theorien zur <strong>Sprachverarbeitung</strong> zu erfassen.<br />
10
Fragen:<br />
<strong>1.</strong> Was ist jeweils der Input <strong>und</strong> der Output der Sprachproduktion <strong>und</strong> der<br />
Sprachperzeption?<br />
2. Was bezeichnen Competence <strong>und</strong> Performance?<br />
3. Ist das Messen der Reaktionszeit, die ein Proband braucht, um ein Wort zu<br />
lesen ein on-line oder ein off-line Experiment? Diskutieren sie.<br />
4. Nennen <strong>und</strong> beschreiben sie die linguistischen Ebenen.<br />
5. Welche gr<strong>und</strong>legende Prozesse unterscheidet man bei der Sprachperzeption?<br />
11
2. Sprachproduktion<br />
Die Sprachproduktion ist ein komplexer Vorgang, dessen Output, also die<br />
konkrete Äußerung, starken intraindividuellen Einflüssen unterworfen ist. So haben<br />
z.Bsp. Größe <strong>und</strong> Beschaffenheit der Artikulationsorgane <strong>und</strong> der Kontext in dem die<br />
Äußerung produziert wird einen Einfluss auf die Produktion. Ich kann ein <strong>und</strong><br />
dasselbe Wort flüstern, rufen, oder nuscheln. Das geäußerte Wort ist immer das<br />
gleiche, obwohl der akustische Output sehr unterschiedlich aussieht.<br />
Um eine Äußerung zu produzieren muss ich eine nicht-linguistische<br />
gedankliche Repräsentation in eine artikulatorische Repräsentation umwandeln. Ich<br />
muss die geeigneten Wörter auswählen, sie nach den Regeln meiner Grammatik auf<br />
den einzelnen linguistischen Ebenen repräsentieren <strong>und</strong> sie schlussendlich<br />
motorisch umsetzen. Bei der Sprachproduktion werden also viele Teilprozesse<br />
durchlaufen. Diese Teilprozesse kann man aber leider nicht direkt beobachten.<br />
Deshalb ist bei der Sprachproduktion die Testung bestimmter Thesen durch<br />
Experimente schwieriger als bei der Sprachperzeption. Bei der Perzeption steht das<br />
Ziel, nämlich die Äußerung, die interpretiert werden soll fest. Liest oder hört man den<br />
Satz Chomsky liest ein Buch, so steht fest, dass man zu diesem Satz eine<br />
Repräsentation aufbaut, die man dem Bild in Abb.1 zuordnen kann.<br />
Chomsky liest<br />
Abb.1<br />
Chomsky liest.<br />
Der Mann trägt eine Brille.<br />
Chomsky liest eine Zeitschrift.<br />
Die Zeitschrift wird von Chomsky<br />
gelesen.<br />
Chomsky trägt eine Brille.<br />
Chomsky liest mit Brille.<br />
…<strong>und</strong> so weiter <strong>und</strong> so fort.<br />
12
Bei der Produktion dagegen kann man nie genau vorhersagen, welche Äußerung in<br />
einem Kontext korrekt ist. Zu Abb. 1 sind z.Bsp. alle im Kästchen aufgeführte<br />
Aussagen möglich <strong>und</strong> korrekt.<br />
Eine gängige Möglichkeit trotzdem einen Einblick in die Teilprozesse der<br />
Produktion von <strong>Sprache</strong> zu bekommen, sind erstaunlicherweise Daten von<br />
misslungener Sprachproduktion. Bei jedem von uns treten beim Sprechen immer<br />
wieder Versprecher auf. Bemerkenswert ist hierbei, dass offensichtlich auch bei<br />
dieser misslungenen Sprachproduktion bestimmte Regeln eingehalten werden. So ist<br />
ein Versprecher wie Mpfustr statt Strumpf eigentlich unmöglich. Dagegen ist ein<br />
Versprecher wie Grumpfströße statt Strumpfgröße durchaus möglich, obwohl in<br />
beiden Fällen jeweils zwei Konsonantencluster bestehend aus drei Konsonanten<br />
vertauscht wurden. Warum dies so ist, werden wir im folgenden Abschnitt<br />
untersuchen.<br />
Wenn sie die Äußerungen, die in ihrem Umfeld gemacht werden demnächst<br />
genauer beobachten, werden sie merken, dass Versprecher viel häufiger auftreten,<br />
als angenommen. Wenn wir uns einige Versprecher genauer zu Gemüte geführt<br />
haben, können wir vielleicht besser verstehen, wie die Produktion von <strong>Sprache</strong><br />
eigentlich funktioniert. Da die einzelnen Teilprozesse der Sprachproduktion leider<br />
nicht direkt beobachtbar sind, müssen wir dafür auf Modelle zurückgreifen.<br />
2.1 Modelle zur Sprachproduktion<br />
2.<strong>1.</strong>1 Allgemeines zu Modellen<br />
Wenn man mit Modellen arbeitet, sollte man sich immer darüber im klaren<br />
sein, was ein Modell eigentlich ist. Ein Modell bezieht sich immer auf ein “Original”,<br />
so ist z.Bsp. das Modell einer Berglandschaft einem bestimmten real existierenden<br />
Alpenabschnitt nachempf<strong>und</strong>en. Ein Modell zur Sprachproduktion wäre also der<br />
Versuch, alles das, was man zur Sprachproduktion braucht modellhaft darzustellen.<br />
Im Gegensatz zu unserem Alpenabschnitt können wir aber die Komponenten der<br />
Sprachproduktion (den Prozessor) nicht sehen. Wir wissen also bis heute nicht<br />
genau, wie das “Original” aussieht. Verschiedene Wissenschaftler haben daher<br />
versucht, sich dem “Original” anzunähern. Da die Sprachproduktion ein sehr<br />
komplexer Vorgang ist, fokussieren die meisten Modelle vor allem auf bestimmte<br />
Teilaspekte der Sprachproduktion <strong>und</strong> erklären deshalb nie alle Detailfragen der<br />
13
Sprachproduktion. Daher ist es wichtig, dass man für seine Argumentationen immer<br />
das richtige Modell auswählt.<br />
Kontextsensitive Modelle beziehen sich zum Beispiel auf die kommunikative<br />
Gesamtsituation bei der Sprachproduktion <strong>und</strong> betrachten den Einfluss von sozialen<br />
<strong>und</strong> soziologischen Faktoren. Diese Modelle eignen sich also dazu, Aussagen über<br />
die Kommunikation zwischen Menschen zu machen. Sie eignen sich aber nicht dazu,<br />
Aussagen über die Verarbeitung von einzelnen Wörtern zu machen. Im Gegensatz<br />
zu den kontextsensitiven Modellen befassen sich die autonomen Modelle nur mit<br />
dem Sprachproduktionsprozess des Individuums, wobei man davon ausgeht, dass<br />
der Prozess für alle Menschen gleich ist. Mit diesen Modellen versucht man zu<br />
erklären, wie Sprecher eine Aussage generieren <strong>und</strong> produzieren. Mit einem solchen<br />
Modell lassen sich wiederum Aussagen über die Verarbeitung von einzelnen Wörtern<br />
machen, aber keine Aussagen über die kommunikative Gesamtsituation.<br />
In diesem Kurs werden wir uns ausschließlich mit autonomen Modellen befassen.<br />
Als autonom werden diese Modell bezeichnet, weil die <strong>Sprachverarbeitung</strong> völlig<br />
unabhängig vom Kontext betrachtet wird. Eine Gr<strong>und</strong>annahme dieser Modellen ist,<br />
dass der Prozess der Sprachproduktion beim Mensch ein invarianter Prozess ist, d.h.<br />
er läuft bei allen Menschen <strong>und</strong> in allen Situationen gleich ab. Es ist also egal, ob ich<br />
eine Äußerung schreie, oder flüstere der Prozess der <strong>Sprachverarbeitung</strong> bleibt der<br />
gleiche, auch wenn sich die motorische Umsetzung ändert. Außerdem geht man bei<br />
autonomen Modellen davon aus, dass die syntaktische Repräsentation völlig<br />
unabhängig vom Äußerungskontext <strong>und</strong> von der Satzbedeutung generiert wird, aber<br />
dazu später mehr.<br />
Woher weiß ich nun, wie ein Modell zur Sprachproduktion aussehen soll, wenn<br />
die einzelnen Teilprozesse nicht direkt beobachtbar sind? Es gibt zwei Wege ein<br />
solches Modell zu entwickeln.<br />
Weg 1: Ich mache eine Beobachtung wie z.Bsp folgende: Versprecher entstehen<br />
meistens durch die Vertauschung von Lauten wie - Baufaunzirma statt Bauzaunfirma.<br />
Aus dieser Beobachtung könnte ich ein Modell ableiten, in dem es eine<br />
Prozessebene gibt, auf der die Laute in eine bestimmte Abfolge gebracht werden.<br />
Dies wäre also der Weg von der Beobachtung zum Modell.<br />
14
Weg 2: Ich habe die theoretische Annahme, dass semantisch verwandte Wörter<br />
mit vielen übereinstimmenden semantischen Merkmalen im Lexikon nahe<br />
beieinander gespeichert sind. Diese Annahme soll sich nun auch in meinem Modell<br />
zur Sprachproduktion wiederspiegeln. Also gehe ich in meinem Modell davon aus,<br />
dass Wörter wie Amsel, Elster, Uhu <strong>und</strong> Ente näher beieinander gespeichert sind als<br />
Amsel <strong>und</strong> Bulldozer. Dieses Modell muss ich nun durch Experimente belegen<br />
(verifizieren) oder widerlegen (falsifizieren). Gelingt es mir, Daten in einem<br />
Experiment zu bekommen, die meine Theorie oder mein Modell unterstützen, spricht<br />
man von positiver Evidenz. Das wäre der Weg von der theoretischen Annahme<br />
zum Modell, wobei ein solches Modell durch empirische Daten gestützt werden<br />
muss.<br />
Leider kann man nicht immer gleich erkennen, wie ein Modell entwickelt wurde.<br />
Häufig hilft einem dieses Wissen aber das Modell zu verstehen.<br />
2.<strong>1.</strong>2 Sprachproduktionsmodell von Garrett<br />
Das Modell von M. F. Garrett (1980,1987) gehört zu den bedeutensten<br />
Modellen der Sprachproduktion <strong>und</strong> ist vor allem durch zwei Charakteristika<br />
gekennzeichnet - Serialität <strong>und</strong> Modularität. Mit Serialität wird die Annahme<br />
bezeichnet, dass die einzelnen Teilprozesse der Sprachproduktion nacheinander<br />
ablaufen. Genauer gesagt, ein folgender Prozess beginnt erst dann mit der<br />
Verarbeitung, wenn der vorangegangene Prozess die Informationseinheit vollständig<br />
verarbeitet hat.<br />
Die Modularitätsannahme dagegen betrifft nicht den kompletten Ablauf der<br />
Sprachproduktion, sondern die Verarbeitung innerhalb der einzelnen Teilprozesse<br />
(Module). Sie umfasst u.a. folgende Eigenschaften (Fodor, 1983):<br />
- domain specifity: Modul ist beschränkt auf spezifischen Input<br />
- mandatory processing: Modul hat keine Info über Relevanz des Inputs<br />
- informatically encapsulated: Modul arbeitet ausschließlich bottom up<br />
- speed: Modul arbeitet unbewusst, sehr schnell <strong>und</strong> quasi reflexhaft<br />
- fixed neural architecture: Modul kann einer festgelegten, umschriebenen<br />
Hirnstruktur zugeordnet werden<br />
15
Das Modell von Garrett umfasst 5 Teilprozesse, die nacheinander ablaufen.<br />
Auf jedem Level durchläuft ein genau spezifizierter Input einen genau spezifizierten<br />
Prozess. Der Output jedes Prozesses ist die jeweilige Repräsentation <strong>und</strong> dient als<br />
Input für den darauf folgenden Prozess. In Abb.2 wird das Modell von Garrett (1980)<br />
am Beispiel des Satzes He gives her some broccoli dargestellt.<br />
Das Modell von M.F.Garrett (1980,1987)<br />
Message Level = proto-grammatische Festlegung der Inhalt: x (weibl) hat y<br />
(männl) etwas gegeben y (pflanz l.)<br />
Functional Level = <strong>1.</strong> Lemma Auswahl Zugang zu codes für semantische u.<br />
grammatische Information: Subkategorisierungsrahmen für<br />
geben (x, y, z), für x <strong>und</strong> y Wortart:(+N) ;Genus; Numerus<br />
<strong>und</strong> semantische Eigenschaften<br />
2. Function assingment Festlegung von syntaktischer<br />
Relationen (Agens/Nominative) <strong>und</strong> grammatische<br />
Funktionen (Subjekt/ Objekt)<br />
Positional Level = <strong>1.</strong> Lexem Auswahl legt die Wortformen +<br />
morphologische Markierung fest<br />
2. Planning Frame legt einen Rahmen mit Slots (Lücken)<br />
fest, in den die einzelnen Morpheme eingefügt werden.<br />
Phonological Level = Auf der Basis der Morphemabfolge wird die<br />
Anordnung der Phoneme festgelegt. Auf diesem Level<br />
werden phonologische Regeln aktiv (Auslautverhärtung).<br />
Articulatory Level = Die Information über die einzelnen Phoneme wird<br />
in einen motorischer Plan umgewandelt.<br />
Abb.2<br />
Gr<strong>und</strong>sätzlich wird in diesem Modell angenommen, dass zunächst eine nicht-<br />
sprachliche präverbale Aussage repräsentiert wird. Diese Repräsentation besteht<br />
nicht aus linguistischen Einheiten. Eine präverbale Repräsentation von Pipi<br />
Langstrumpf stemmt ein Pferd ist sicherlich zunächst eine eher bildhafte<br />
Repräsentation, während die präverbale Repräsentation von Sie hatte glückliche<br />
Gedanken auf eine andere Weise repräsentiert sein wird. Diese präverbale Aussage,<br />
egal wie sie nun genau aussieht, muss zunächst in eine verbale Aussage<br />
umgewandelt werden. Dann kann mit Hilfe der lexikalischen Einträge (also der<br />
16
Bedeutung <strong>und</strong> der grammatischen Eigenschaft von Wörtern) verbbasiert, also vom<br />
Verb ausgehend eine syntaktische Repräsentation aufgebaut werden. Diese wird<br />
dann wiederum in eine phonologische <strong>und</strong> artikulatorische Repräsentation<br />
überführt. Wie diese Prozesse im einzelnen aussehen, wird in der Darstellung von<br />
Garretts Modell (Abb.2) erörtert. Am Ende eines jeden Levels steht eine<br />
Repräsentation. Die Repräsentation auf dem Functional Level müsste demnach wie<br />
folgt aussehen<br />
X (3 Pers, sing, m; Pron; Agens); y (3.Pers,sing,f;Pron; Recipient)<br />
z (Gemüse,sing,m; Nomen; Thema)<br />
geben (x (Subj.;Nom); y(Obj;Dat);z(Obj;Akk)<br />
Wie man sieht, haben wir bei dieser Repräsentationsbene noch keinerlei<br />
Informationen über die Wortform oder über morphologische Markierungen. Die<br />
Annahmen von Serialität <strong>und</strong> Modularität schließen es sogar explizit aus, dass<br />
Informationen einer späteren Ebene zu einer früheren Ebene “zurückgeschickt”<br />
werden. D. h., dass morphologische Informationen erst auf dem folgenden Level<br />
(Positional Level) zugänglich gemacht werden. Auf diesem Level haben wir dann<br />
wiederum keinen Zugriff mehr auf die semantischen <strong>und</strong> grammatischen<br />
Informationen des Functional Levels.<br />
2.<strong>1.</strong>3 <strong>Sprachverarbeitung</strong>smodell von Levelt<br />
Das Modell von Willem J.M. Levelt (1989) gilt als eines der detailliertesten<br />
Modelle der <strong>Sprachverarbeitung</strong> <strong>und</strong> wird auch heute noch häufig als<br />
Erklärungsmodell für empirische Daten benutzt. Es kann als Nachfolgemodell zum<br />
Modell von Garrett verstanden werden. Auch in diesem Modell werden die<br />
Annahmen der Serialität <strong>und</strong> der Modularität der einzelnen Teilprozessen gemacht.<br />
17
Message<br />
Generation<br />
Levelt´s Modell zur Sprachproduktion (1989)<br />
Formulator<br />
Suface<br />
structure<br />
Abb. 3<br />
Grammatical<br />
encoding<br />
Phonological<br />
encoding<br />
Articulator<br />
Conceptualizer<br />
LZG<br />
Grammar<br />
Lexicon<br />
Lemmas<br />
Lexeme<br />
Lexeme<br />
Syllabary<br />
Gedankenebene, auf der<br />
Wissensinhalte aktiviert <strong>und</strong><br />
linearisiert werden.<br />
LZG (Langzeitgedächtnis)<br />
Im Grammar Modul sind die<br />
grammatischen Regeln gespeichert.<br />
Im Lexikon sind die Wörter mit<br />
ihrer Bedeutung <strong>und</strong> grammatischen<br />
Eigenschaften (Lemmas) <strong>und</strong> den<br />
entsprechenden Wortformen<br />
(Lexeme) gespeichert.<br />
Im Formulator wird beim<br />
grammatical encoding mit Hilfe<br />
der Grammatik <strong>und</strong> der<br />
ausgewählten Lemmas verbbasiert<br />
die grammatische Struktur der<br />
Äußerung aufgebaut.<br />
Beim phonological encoding<br />
werden die ausgewählten<br />
lexikalischen Einheiten mit<br />
artikulierbare phonologische<br />
Einheiten (Lexemen) assoziiert.<br />
Durch den Zugriff auf das Syllabary<br />
werden die Lexikalischen Einträge in<br />
Silben umgewandelt, wobei jeder<br />
Silbenstrukturposition ein Phonem<br />
zugeordnet wird. Der Output des<br />
Formulators ist die sog. Surface<br />
structure.<br />
Im Articulator wird die abstrakte<br />
sprachliche Repräsentation in die<br />
konkrete artikulatorische Bewegung<br />
umgesetzt, die von den Muskeln<br />
ausgeführt wird.<br />
Ein zusätzlicher<br />
Kontrollmechanismus checkt, ob<br />
die Äußerung korrekt ist.<br />
Was Sie in Abb.3 nicht sehen: Levelt erweiterte das Modell von Garrett um die<br />
modellhafte Darstellung der Sprachperzeption <strong>und</strong> nimmt im Gegensatz zu Garrett<br />
einen Kontrollmechanismus an, mit dem die produzierte Äußerung automatisch<br />
überprüft wird. Mit der Annahme dieses Kontrollmechanismus wird die Annahme der<br />
Serialität aufgeweicht, da jetzt ein Rückfluss an Informationen möglich ist. Da wir uns<br />
18
in diesem Kapitel aber nur mit der Sprachproduktion befassen ist in Abb.3 auch nur<br />
der Teil der Produktion von Levelt´s Modell zur <strong>Sprachverarbeitung</strong> dargestellt.<br />
Die Gr<strong>und</strong>idee des Modells besteht wie bei Garrett darin, dass die Gedanken<br />
im Conceptualizer liniearisiert <strong>und</strong> zu einer präverbalen Aussage generiert werden.<br />
Im Formulator wird diese Aussage mit Hilfe der Lemmas (Wortbedeutung,<br />
grammatische Eigenschaften), der Lexemen (Wortform) <strong>und</strong> der grammatischen<br />
Regeln in eine sprachliche Form gebracht, die durch die Umwandlung im Articulator<br />
ausgesprochen werden kann. Ein Satz wie (2) wird also folgendermaßen generiert:<br />
(2) Maria küsst den kleinen Frosch.<br />
Für den Gedanken Maria küsst den kleinen Frosch werden zunächst die<br />
nichtsprachlichen Konzepte von Maria, küssen, klein <strong>und</strong> Frosch aktiviert <strong>und</strong> in eine<br />
lineare Abfolge gebracht. Diese konzeptuelle Abfolge muss aber noch nicht mit der<br />
Surface Structure (Oberflächenstruktur), also der späteren Wortabfolge<br />
übereinstimmen. Die so entstandene preverbale message enthält alle Informationen<br />
über Zeit, Ort <strong>und</strong> Ereignis (Event) der Äußerung.<br />
Beim grammatical encoding werden dann zunächst die Lemmas ausgewählt.<br />
Diese repräsentieren die Bedeutungen (sprachlich-semantische Konzepte) <strong>und</strong> die<br />
grammatischen Eigenschaften von Wörtern, aber nicht die Wortformen. So entseht<br />
eine Repräsentation, die für den Beispielsatz (2) wie folgt aussehen könnte 3 :<br />
[|Maria|N , |küssen|V, |klein|Adj, |Frosch|N ]<br />
|Maria| = kleines blondes Mädchen, Schwester von Bert, …;N<br />
|küssen| = mit den Lippen berühren (xagens,ypatients), Subkategorisierungsrahmen,V…;<br />
|klein| = Gegenteil von groß, Adj.,braucht N, …;<br />
|Frosch| = grünes kleines Reptil, wird vom Storch gefressen, …N<br />
Ausgehend vom Verb wird nun mit Hilfe der grammatischen Regeln aus dem<br />
GRAMMAR die grammatische Relation der Wörter generiert, die die konzeptuelle<br />
Relation der Aussage widerspiegelt.<br />
3 || Die Striche stehen in diesem Fall für eine semantische Repräsentation. |Maria| heißt also soviel<br />
wie: die Bedeutung von Maria<br />
19
|küssen|V → fordert eine Agens NP <strong>und</strong> eine Patients NP<br />
[[____ ]NP[|küssen| [ ______]NP]VP]S<br />
In die vom Verb aufgebaute Struktur werden die NPs eingefügt.<br />
[[|Maria| ]Subj/NP[|küssen| [|klein| |Frosch|]Obj/NP]VP]S<br />
Diese Wortabfolge (in syntaktischen Theorien auch Deep Structure genannt) wird<br />
nun in die sogenannte Surface Structure überführt. Jetzt werden auch den<br />
einzelnen Lemmata die passenden Lexeme mit den entsprechenden<br />
morphologischen Markierungen zugeordnet.<br />
[[Maria ]Subj/NP[ küsst [den kleinen Frosch]Obj/NP]VP]S<br />
Durch den Zugriff auf das Syllabary werden die Wörter in Silben aufgeteilt <strong>und</strong> jeder<br />
Silbenstrukturposition (Onset, Reim, Coda) werden die entsprechenden Laute<br />
zugeordnet. Die so kodierte Information wird an den Artikulator weitergeleitet, der<br />
diese Information in Bewegungspläne umgewandelt, die an die Muskeln<br />
weitergeleitet werden. Die so kodierte Einheit kann nun tatsächlich ausgesprochen<br />
werden <strong>und</strong> es entsteht eine Äußerung. Im Modell von Levelt wird dann an dieser<br />
Stelle eine Rückkopplung angenommen – der Kontrollmechanismus. Im Gegensatz<br />
zu Garrett, der keine rückläufigen Prozesse annimmt, erweitert Levelt sein Modell um<br />
diesen Kontrollmechanismus, der die produzierten Äußerungen überprüft. Dieser<br />
Kontrollmechanismus erklärt u.a, warum wir Äußerungen abbrechen, wenn wir uns<br />
versprochen haben. In Abb.3 wurde dieser Mechanismus nicht dargestellt, da er<br />
direkt in die Prozesse der Sprachperzeption übergeht.<br />
2.2 Versprecher<br />
2.2.1 Allgemeines zu Versprechern<br />
Versprecher (oder englisch Slip of the Tongue) treten bei der<br />
Sprachproduktion auch bei sprachges<strong>und</strong>en Personen recht häufig auf. Wir<br />
produzieren in etwa 1 bis 2 Versprecher auf 1000 Wörter. Versprecher treten in allen<br />
<strong>Sprache</strong>n der Welt auf, auch in Schrift- <strong>und</strong> Zeichensprachen <strong>und</strong> scheinen somit<br />
20
eine Eigenheit des Sprachproduktionssystems zu sein. Im folgenden sind einige<br />
mehr oder weniger typische Versprecher aufgeführt:<br />
Baufaunzirna (Bauzaunfirma)<br />
Pie Zvenner (Zvi Penner)<br />
Luckerzöffel (Zuckerlöffel)<br />
Future checking (feature checking)<br />
mutsch <strong>und</strong> mörf (move <strong>und</strong> merge)<br />
Dann nimmt das Verb sein Kompliment (Komplement)<br />
Das Wischen (Wissen) über den Menschen<br />
Wer von den Phaties (Pathos) kommt denn zur Partho (Party)?<br />
Wie das Design muss – (sein muss /Design sein muss)<br />
Mir strebt vor (Ich strebe an / stelle mir vor)<br />
Ich gebe nicht locker (Ich gebe nicht auf / lasse nicht locker)<br />
Ich weiß nicht, wann jüngere Verben ihre Kinder erwerben<br />
Versprecher sind für die Sprachwissenschaft von großer Bedeutung, da man<br />
von den produzierten Fehlern Rückschlüsse auf die einzelnen Teilprozesse der<br />
Sprachproduktion ziehen kann. Ein Pionier der Versprecherforschung war Rudolf<br />
Meringer, der Versprecher bereits 1895 von einem psycholinguistischen Blickwinkel<br />
aus untersucht hat, wobei mit psycholinguistischem Blickwinkel hier ein eher<br />
kognitiver Ansatz gemeint ist. Im Rahmen dieses sog. kognitiven Ansatzes geht<br />
man davon aus, dass sich die charakteristischen Eigenschaften von Versprechern<br />
aus den Verarbeitungsprozessen, die für die Sprachproduktion notwendig sind<br />
ergeben. Fehler beim Sprechen werden ausschließlich den Fehlleistungen des<br />
Sprachmoduls zugewiesen <strong>und</strong> Einflüsse des Kontextes, der Umwelt oder des<br />
seelischen Zustands des Sprechers werden als Einflussfaktoren explizit<br />
ausgeschlossen. Für einen Versprecher wie Gib mir mal bitte die Mutter statt Gib mir<br />
mal bitte die Butter wird also nicht eine zu schwache Mutterbindung als Ursache<br />
angenommen, sondern die Tatsache, dass phonologisch ähnliche Wörter wie Mutter<br />
<strong>und</strong> Butter häufig gleichzeitig aktiviert werden. Damit steht dieser Ansatz der<br />
Annahme des sog. Freudschen Versprechers genau entgegen.<br />
Obwohl wir <strong>Sprache</strong> anscheinend mühelos produzieren, ist, wie wir gesehen<br />
haben, die Produktion einer Äußerung ein höchst komplexer Prozess. Für jeden Satz<br />
müssen unterschiedliche Repräsentationen für die unterschiedlichen linguistischen<br />
21
Ebenen aufgebaut werden. Für jedes Level gelten eigene Regeln <strong>und</strong> auf jedem<br />
Level gibt es eine große Menge gespeicherter Informationen. So muss man zum<br />
Beispiel auf dem phonologischen Level sowohl Informationen über das<br />
sprachspezifische Lautinventar haben, als auch über die phonotaktischen Regeln der<br />
<strong>Sprache</strong>. Während man auf dem syntaktischen Level auf die grammatischen Regeln<br />
der <strong>Sprache</strong> zurückgreifen können muss.<br />
Wozu all diese Regeln? Diese Regeln ermöglichen es uns kreativ mit<br />
<strong>Sprache</strong> umzugehen <strong>und</strong> nicht nur bereits gespeicherte sprachliche Informationen zu<br />
reproduzieren. Ein Sprachproduktionssystem muss also immer sowohl gespeicherte<br />
Informationen abrufen, als auch mittels Regeln neue Kombinationen generieren<br />
können. Außerdem sollte ein solches System sehr schnell <strong>und</strong> effizient arbeiten.<br />
Wenn wir durchschnittlich 3 Wörter/sec. produzieren <strong>und</strong> ca. 40.000 Einträgen im<br />
Lexikon haben, brauchen wir einen Prozessor, der in der Lage ist, sehr schnell das<br />
richtige Wort oder den richtigen Laut auszuwählen.<br />
Anscheinend entstehen Versprecher also, weil die Anforderungen an das<br />
<strong>Sprachverarbeitung</strong>ssystem sehr hoch sind.<br />
2.2.1 Versprecherdaten<br />
slips occure because talking is hard!<br />
Wenn ich aus Versprechern einen Rückschluss auf die Prozesse der<br />
Sprachproduktion ziehen will, brauche ich eine repräsentative Anzahl von<br />
Versprechern. Aber woher bekomme ich möglichst viele Versprecher, um diese<br />
analysieren zu können? Eine Möglichkeit ist es, natürliche Versprecher aus der<br />
Umgebung aufzuschreiben. So entstehen sog. Versprechersammlungen wie die<br />
von Mehringer & Mayer (1895) <strong>und</strong> Leuinger’s Danke u. Tschüß für´s Mitnehemen<br />
für die deutsche <strong>Sprache</strong> oder die UCLA- u. MIT-Sammlung (Fromkin, Garrett) für<br />
das Englische. Ein Problem bei dieser Art der Datenerhebung ist, dass wir einen<br />
großen Teil der produzierten Versprecher bei Unterhaltungen überhören, weil wir<br />
eine Erwartung über das folgende Wort <strong>und</strong> eine Art automatisches Korrektursystem<br />
bei der Sprachwahrnehmung haben. Außerdem ist diese Form der Datenerhebung<br />
enorm zeitaufwändig. Unter folgenden links finden sie weitere<br />
Versprechersammlungen für das Deutsche:<br />
22
www.joerg-gessner.de/uni/versprecher/<br />
www.uni-frankfurt.de/fb10/LSLeuninger/pl/versprec.htm<br />
www.bronline.de/franken/wuerzburg/versprecher/html<br />
Eine Alternative zur Versprechersammlung ist das Evozieren von<br />
Versprechern in Experimenten. So haben Baars, Motley & Mc Kay (1975) ein<br />
Experiment entwickelt, in dem Wortpaare wie bean-dad <strong>und</strong> deal-back gelesen<br />
werden mussten. Bei 10% der gelesenen Wortpaare kam es zu Versprechern in<br />
Form von Phonem Vertauschungen, also bean-dad wird zu dean-bad <strong>und</strong> deal-back<br />
wird zu beal-dack. Zusätzlich konnten Baars, Motley & Mc Kay mit diesem<br />
Experiment zeigen, dass Vertauschungen 3x häufiger auftreten, wenn die neuen<br />
Formen wieder Wörter bilden (wie bei dean-bad ) als wenn Neologismen entstehen<br />
(wie bei beal-dack).<br />
Ein Vorteil von Experimenten dieser Art ist, dass man Hypothesen gezielt<br />
testen kann <strong>und</strong> nicht auf das Auftreten eines bestimmten Versprechers warten<br />
muss. Ein Nachteil ist allerdings, dass Daten aus Experimenten keinen 1:1<br />
Rückschluss auf die Prozesse der normalen Sprachproduktion zulassen. Bei dem<br />
Experiment von Baars, Motley & Mc Kay müsste man zum Beispiel überlegen, in<br />
wieweit das Lesen von Wortpaaren mit der spontanen Produktion von Äusserungen<br />
zu vergleichen ist.<br />
2.2.3 Versprecher als Fenster zur Sprachproduktion<br />
Was können uns Versprecher über die Sprachproduktion zeigen? Versprecher<br />
geben uns Aufschluss über zwei Aspekte des Produktionsprozesses, zum einen über<br />
die Größe der Einheiten, die verarbeitet werden <strong>und</strong> zum anderen über die Art<br />
<strong>und</strong> Abfolge der Verarbeitungsprozesse. Um diese Rückschlüsse ziehen zu<br />
können, müssen wir die Versprecher zunächst einmal analysieren.<br />
Die Vielfalt der Versprecher spiegelt die Komplexität der Sprachproduktion wider.<br />
Deshalb gibt es viele verschiedene Arten von Versprechern. Andererseits sind<br />
auch Versprecher bestimmten Regeln unterworfen, sog. strong constraints. Diese<br />
“starken Beschränkungen” verhindern, dass alle theoretisch möglichen Fehler<br />
auftreten. So gibt es zum Beispiel Constraints, die besagen:<br />
23
• In vorgegebene Slots (Lücken) dürfen nur Elemente einer bestimmten<br />
Kategorie eingesetzt werden.<br />
wenn also ein Slot das Merkmal [+Silben-REIM] trägt, muss auch das Element, das<br />
in diesen Slot eingesetzt wird für dieses Merkmal gekennzeichnet sein. Ein weiterer<br />
Constraint besagt:<br />
• Werden zwei Elemente vertauscht, müssen Sie der selben Kategorie<br />
angehören.<br />
Beispiele sind die folgenden Regeln:<br />
syntactic category rule – NN; VV<br />
consonant-vowel rule – VV ;CC<br />
Diese Constraints bewirken also, dass bestimmte Versprecher nicht auftreten.<br />
Ein Versprecher wie Nauzaubfirma statt Bauzaunfirma kann nicht auftreten, da der<br />
Laut /b/ für die Kategorie [+Silben-Onset] spezifiziert ist, während der Laut /n/ für die<br />
Kategorie [+Coda] spezifiziert ist. Eine Vertauschung ist also ausgeschlossen. Das<br />
gleiche gilt für die Vertauschung von Verben [+N] <strong>und</strong> jüngere [+Adj] in dem<br />
folgenden Beispiel. Ich weiß nicht, wann jüngere ihre Verben Kinder erwerben ist<br />
kein möglicher Versprecher, da hier Elemente vertauscht würden, die<br />
unterschiedlichen Kategorien angehören, nämlich Verben [+N] <strong>und</strong> jüngere [+Adj].<br />
Die eingangs angeführten Beispiele von produzierten Versprechern zeigen,<br />
dass verschiedene Einheiten der <strong>Sprache</strong> betroffen sein können. Diese Tatsache ist<br />
ein Beleg dafür, dass diese Einheiten im Sprachproduktionsprozess<br />
Verarbeitungseinheiten darstellen. Sie sind also so etwas wie Bausteine für die<br />
Repräsentationen auf den einzelnen linguistischen Ebenen. Im Folgenden gebe ich<br />
jeweils ein Beispiel für eine betroffene Verarbeitungseinheit<br />
Merkmale wischen (wissen) [alveolar] – [postalveolar]<br />
Phoneme bauchen (tauchen) [b] – [t]<br />
Silben Koscholade (Schokolade) [scho] – [ko]<br />
Morpheme beanstalten (veranstalten) [ver] – [be]<br />
24
Wörter [Fliegen], die Blumen bestäuben [Bienen] – [Fliegen]<br />
(Biene)<br />
Phrasen lieber [die Katze im Sack] als die Taube auf dem Dach<br />
(den Spatz in der Hand)<br />
Schon bei diesen Beispielen sehen wir, dass die Einheiten von Versprechern<br />
schwer zu klassifizieren sind, da die Veränderung eines Merkmals auch zur<br />
Veränderung eines Lautes führt <strong>und</strong> die Veränderung einer Silbe auch die<br />
Veränderung eines Morphems sein kann. Die Klassifikation wird noch schwieriger,<br />
wenn man den Kontext, also die Umgebung in der der Versprecher auftritt mit<br />
berücksichtigt. Fehler, bei denen der Kontext einen Einfluss auf die Veränderung hat<br />
werden kombinatorische Versprecher genannt.<br />
2.<strong>1.</strong>4 Analyse von Versprechern<br />
Wenn man kombinatorische Versprecher betrachtet, fällt auf, dass es nur<br />
4 verschiedene Prozesse gibt, die den Produktionsprozess misslingen lassen:<br />
<strong>1.</strong> Shifts eine Einheit wird verschoben, je nach Richtung spricht<br />
man von:<br />
Antizipation eine später folgende Einheit wird vorgezogen<br />
Das Wischen (Wissen) über den Menschen<br />
Postpositionen eine bereits geäußerte Einheit wird wiederholt geäußert<br />
Das Wissen über den Menssen (Menschen)<br />
2. Exchanges zwei Einheiten werden miteinander vertauscht<br />
Baufaunzirna (Bauzaunfirma)<br />
Pie Zvenner (Zvi Penner)<br />
3. Stranding in eine bestehende grammatische Struktur werden<br />
Lexeme eingesetzt, wobei die morphologischen Markierungen an<br />
Ihrem “geplanten” Platz bestehen bleiben.<br />
25
Wer von den Phaties (Pathos, PL.s) kommt denn<br />
zur Patho (Party)?<br />
4. Blending “versehendlich” werden zwei Einheiten geplant <strong>und</strong> vermischt<br />
geäußert<br />
Wie das Design muss – sein muss (sein müssen/Design)<br />
Mir strebt vor (Ich strebe an / stelle mir vor)<br />
Ich gebe nicht locker (Ich gebe nicht auf / lasse nicht<br />
locker)<br />
Sehen wir uns einige Versprecher jetzt noch einmal genauer an <strong>und</strong> versuchen sie in<br />
Garretts Modell zur Sprachproduktion einzuordnen.<br />
<strong>1.</strong> Phonemverschiebungen (Shifts)<br />
Das Wischen (Wissen) über den Menschen<br />
Versprecher, die Phoneme betreffen, treten sehr häufig auf. Sie geben eine<br />
Evidenz für die Annahme einer phonologischen Verarbeitungsebene – dem<br />
phonological Level. Verschiebungen entstehen dadurch, dass ein Element so stark<br />
aktiviert ist, dass es nicht nur in die für ihn vorgesehene Lücke eingefügt wird,<br />
sondern auch in eine Lücke, die eigentlich für eine andere Einheit gekennzeichnet<br />
ist. So führt in unserem Beispiel die starke Aktivierung von /sch/ in Menschen dazu,<br />
dass dieses Element auch in den Slot für /s/ in dem Wort Wissen eingefügt wird.<br />
Entsprechend der consonant-vowel rule wird hier ein Konsonant durch einen<br />
anderen Konsonanten ersetzt. Auf dem phonological Level können neben<br />
Exchanges auch andere bekannten phonologische Prozesse auftreten. (ESPA –<br />
Elision, Substitution, Permutation, Addition)<br />
2. Wortvertauschungen (Exchanges)<br />
Ich weiß nicht, wann jüngere Verben ihre Kinder erwerben.<br />
Kinder Verben<br />
26
Als Wortvertauschungen werden Versprecher bezeichnet, bei denen zwei<br />
Wörter eines Satzes mit einander vertauscht werden. Fehler dieser Art gelten als<br />
Evidenz für eine syntaktische Verarbeitungseben (Functional Level). Offensichtlich<br />
tritt hier eine Vertauschung bei der Festlegung der syntaktischen Relationen<br />
(Agens/Nominative; Subjekt vs. Patients/ Akkusativ; Objekt) auf. Deshalb wird dem<br />
Lemma Kinder die Subjektsfunktion <strong>und</strong> der Nominativ zugewiesen <strong>und</strong> dem Lemma<br />
Verben der Akkusativ <strong>und</strong> die Funktion des Objekts.<br />
Wie bereits besprochen, sorgt die syntactic category rule dafür, dass immer nur<br />
Wörter der gleichen Kategorie vertauscht werden. In den Modellen von Garrett <strong>und</strong><br />
Levelt wird davon ausgegangen, dass auf der syntaktischen Ebene (dem Functional<br />
Level) Strukturen mit empty slots (Lücken) aufgebaut werden <strong>und</strong> dass diese<br />
Lücken durch Wörter aus dem Lexikon (lexikalische Auswahl) gefüllt werden. Bei<br />
diesem Prozess sorgt eigentlich das Labeling, also die Kennzeichnung der<br />
lexikalischen Einträge <strong>und</strong> der Lücken dafür, dass die richtigen Wörter in die richtigen<br />
slots kommen. Dennoch kann es offensichtlich zu Verwechslungen kommen.<br />
Versprecher treten vor allem da auf, wo units in slots gesetzt werden, d.h. da, wo ein<br />
3. Stranding<br />
kreativer Umgang mit <strong>Sprache</strong> stattfindet.<br />
(Dell, 1995)<br />
Wer von den Phatie s (PL.s ) kommt denn zur Patho?<br />
Patho Party<br />
Der hier angeführte Fehler belegt die Annahme einer<br />
Repräsentationseben, auf der die einzelnen Morpheme (nicht Wörter!!!) in die<br />
sog. Oberflächenstruktur eingesetzt werden. In Garretts Modell geschieht dies auf<br />
dem Positional Level. Dass das Pluralmorphem /s/ in unserem Beispiel an der<br />
korrekten Position eingefügt ist, zeigt uns, dass die syntaktische Repräsentation<br />
von Phato (Subj. Nom. Pl.) auf dem Functional Level bereits aufgebaut ist. Die<br />
fehlerhafte Einsetzung von Patho muss deshalb auf einer folgenden<br />
Verarbeitungsstufe aufgetreten sein. Ein Versprecher dieser Art ist nur möglich,<br />
27
da die Prozesse auf den einzelnen Ebenen modular ablaufen <strong>und</strong> blind sind für<br />
die Informationen des vorangegangenen Levels. So werden auf dem Positional<br />
Level nur die Morpheme Phato, s, <strong>und</strong> Party ohne ihre syntaktischen<br />
Repräsentationen „gesehen“.<br />
4. Blending<br />
Ich gebe nicht locker<br />
lasse nicht locker + gebe nicht auf<br />
Bei diesem Fehlertyp ist deutlich erkennbar, dass hier zwei Konzepte, die sich<br />
semantisch sehr ähnlich, sind gleich stark aktiviert wurden. Anscheinend kommt es<br />
hier zu einer Vermischung dieser beiden Konzepte auf dem message Level. Bei<br />
gleich starker Aktivierung der Lemmata lassen, geben, locker, auf <strong>und</strong> nicht versucht<br />
der Prozessor auf dem Functional Level eine grammatisch korrekte Repräsentation<br />
zu erstellen. Da der Prozessor für die Festlegung der grammatischen Relationen nur<br />
Zugang zu den grammatischen Eigenschaften der Lemmata hat, erfolgt die Auswahl<br />
der Lemmata offensichtlich zufällig. Der Versprecher Ich lasse nicht los ist also<br />
ebenso wahrscheinlich, wogegen ein ungrammatischer Versprecher wie ich auf nicht<br />
locker ausgeschlossen ist.<br />
2.2.2 Versprecher <strong>und</strong> die Organisation des mentalen Lexikons<br />
Wenn man sich mehrere Versprecher auf Wortebene anguckt, stellt man fest,<br />
dass Versprecher eine Tendenz haben, dem Zielwort phonologisch <strong>und</strong>/oder<br />
semantisch ähnlich zu sein. Diese Versprecher werden dann manchmal auch<br />
Malapropismen 4 genannt. Offensichtlich hat das Sprachproduktionssystem grade<br />
bei phonologischen Fehlern die Tendenz eher ein Wort als einen Neologismus zu<br />
produzieren. Das haben uns ja auch die Experimente von Baars, Motley & Mc Kay<br />
(1975) gezeigt. Diese Beobachtung gibt uns einen Hinweise auf die Organisation des<br />
Lexikons. Zu erklären ist ein solches Verhalten, wenn man annimmt, dass sowohl auf<br />
der lexikalischen Ebene als auch auf der phonologischen Ebene ein Netzwerk<br />
(lexical network, phonological network) existiert. Kommt es zur Aktivierung eines<br />
4 obwohl dieser Begriff eigentlich den falschen Gebrauch von Fremdwörtern bezeichnet (Gladiolen im<br />
Kampf statt Gladiatoren, Frauen sind mir ein Ministerium statt Mysterium....)<br />
28
Elementes des Netzwerks, werden alle angrenzenden Elemente mitaktiviert. Man<br />
nennt diesen Prozess Spreading Activation. Semantisch <strong>und</strong> phonologisch ähnliche<br />
Versprecher entstehen also, weil innerhalb des Netzwerks, die benachbarten<br />
Einheiten mitaktiviert werden. Aber warum resultieren phonologische Versprecher<br />
eher in Wörter als in Neologismen? Eine mögliche Erklärung ist, dass Neologismen<br />
nicht im Lexikon gespeichert sind, sie können also nicht mitaktiviert werden. Eine<br />
andere Erklärung ist, dass es eine rückläufige Verbindung zwischen dem Lexikal<br />
Network <strong>und</strong> dem phonological Network gibt. Durch die rückläufige Aktivierung vom<br />
lexikalischen zum phonologischen Netzwerk würden dann die Phoneme stärker<br />
aktiviert werden, die ein Wort bilden.<br />
Aber : Wo bleibt da die MODULARITÄT?<br />
Anscheinend kann man nur für die syntaktische Ebene annehmen, dass sie<br />
tatsächlich modular ist. Eine Evidenz für diese Annahme ist die Tatsache, dass<br />
syntaktische Regeln niemals von phonologischen Regeln abhängen. Es gibt also<br />
keine Regel, die besagt wenn ein Adjektiv mit m beginnt, dann muss es satzfinal<br />
stehen. Argumentiert man im Sinne der Modularitätshypothese, muss man<br />
Versprecher entweder als phonologische oder als semantische Fehler erklären. Geht<br />
man dagegen von der Netzwerktheorie <strong>und</strong> von Spreading activation aus, ist eine<br />
Verbindung von phonologischen <strong>und</strong> semantischen Fehler möglich.<br />
29
Fragen<br />
<strong>1.</strong> Was ist mit den Begriffen autonom , Serialität <strong>und</strong> Modularität gemeint?<br />
2. Beschreiben Sie die Modelle von Levelt <strong>und</strong> Garrett in eigenen Worten.<br />
3. Ein Versprecher wie Ich gebe nicht locker wird als blending bezeichnet. Wie ist<br />
dieser Versprecher im Modell von Levelt/Garrett zu erklären?<br />
4. An welcher Stelle im Modell tritt das Phänomen TOT (Tip of the Toungue) auf?<br />
5. Aus welchem Gr<strong>und</strong> treten Versprecher bei folgenden Worttypen seltener auf?<br />
Funktionswörter, Idiome, frequente Äußerungen, Floskeln<br />
Diskutieren sie Ihre Annahmen.<br />
6. Sammeln Sie 5 Versprecher aus Ihrer Umgebung <strong>und</strong> analysieren sie diese.<br />
Ordnen sie die Versprecher in das Modell von Garrett ein.<br />
7. Denken Sie sich selbst jeweils 2 Versprecher für die 4 typischen Prozesse aus.<br />
30