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Leseprobe - schmidtsche verlagsbuchhandlung

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KULTUR<br />

UND<br />

INGENIUM<br />

EINE FRAKTALE GEOMETRIE<br />

DER WELTGESCHICHTE<br />

VON<br />

THOMAS WANGENHEIM<br />

LESEPROBE UND INHALTSVERZEICHNIS<br />

WWW.SCHMIDTSCHE-VBH.DE<br />

SCHMIDTSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG . THOMAS SCHMIDT . 2012


SCHMIDTSCHE VERLAGSBUCHHANDLUNG . THOMAS SCHMIDT<br />

Alle Rechte an Bild und Wort, insbesondere der Übersetzung, vorbehalten.


INHALT


KAPITEL I<br />

EINLEITUNG


*<br />

In diesem Buch offenbart sich zum ersten Mal der Entschluß der<br />

Zeit, ihre Richtung umzukehren. Er stellt dem ewigen Altern die Verjüngung<br />

entgegen, dem Verfallsgedanken das Erwachen. Es ist der Wi ll<br />

e z u r B e h e r r s c h u n g d e r Z e i t , der sich in dieser neuen Schau<br />

seine Form verschafft.<br />

Die Zeit ist als Ausdruck des Werdens der Urstoff alles Geschichtlichen,<br />

alles Zukünftigen, des Lebens selbst. Das unmittelbare Erlebnis<br />

des Lebendigen lehrt uns ihren Wesenszug. Und doch sind wir darin einer<br />

großartigen Täuschung erlegen. Der absonderliche Charakter der<br />

Zeit – entgegen dem Körper im Raume – immerzu in ein und derselben<br />

Richtung dahinzuströmen, hat über Jahrtausende die Auffassung dieses<br />

merkwürdigen Fluidums bestimmt und uns damit seine eigenartige Natur<br />

des Unumkehrbaren aufgezwungen. Diese Philosophie hat zum letzten<br />

Ziele, die Zeit nun unter die Herrschaft des Denkens zu zwingen.<br />

So wie die mechanische Kraft den Körper im Raum aus der Bewegungslosigkeit<br />

befreit und ihm den Willen einer Richtung verleiht, so wird<br />

nun erstmals eine geistige Kraft erhoben, die Zeit umzukehren, die Richtung<br />

ihres Laufes in einem willentlichen Akt zu brechen. Ich diktiere<br />

mit dieser Schrift der Z e i t nach rückwärts zu gehen. Sie wird es widerstandslos<br />

hinnehmen, denn sie ist eine Schöpfung des Geistes erst.<br />

Es ist dieses freche Unterfangen bloß noch nie in Erwägung gezogen<br />

worden.<br />

In jenem Akte der Überwindung der Zeit wird es zugleich das Wesen<br />

des Jetzt sein, welches aus dem Strome des Daseins gerissen plötzlich<br />

nackt und in Scham, uns ewiglich getäuscht zu haben, darniederblickt.<br />

Wi r s i n d e s s e l b s t , die sich darin entkleiden, uns ehrlich<br />

gegenüberstehen, aus dem Flug durch Zeit und Raum endlich ruhig und<br />

reuevoll in die Beichte vor uns selbst treten. Denn Geschichte begreifen,<br />

verstehen was die Abfolge der Ereignisse, der Willensbekundungen<br />

jedes Zeitalters bedeutet, das wird erst möglich, wenn wir aus dem Jetzt,<br />

3


4<br />

EINLEITUNG<br />

dem sich verdunkelnden Gewordenen und dem geahnten Werden heraustreten<br />

und damit Zeit ansich schauen. Weil die Möglichkeit hierzu<br />

nie überhaupt nur in Betracht kam, ist auch noch keine von der Zeit losgelöste<br />

Anschauung des Historischen ausgesprochen worden. Man hat<br />

so niemals eine unpolitische, ohne Absichten und parteiische Gesinnungen<br />

durchtränkte Geschichtsphilosophie zu schreiben vermocht, sondern<br />

ohne Ausnahme die Anweisung, den Rat einer Zeit, ja eines gesellschaftlichen<br />

Willens aussprechen wollen. Die Vorstellung von einem Hohen<br />

und einem Niederen, von Gut und Böse mußte es bis in die letzten großen<br />

Entwürfe unseres Denkens tragen. In allen Äußerungen der Vergangenheit<br />

haben wir deshalb nichts als Vergangenes gesehen, manchmal im<br />

Schicksal der Kulturen etwas Zukünftiges für uns, sofern es die Zukunft<br />

der Alten war. D a ß a b e r u n s s e l b s t d i e Z u k u n f t Ve r g a ng<br />

e n h e i t i s t , daß es ein inhärentes Gebaren der Zeit ist, n i c h t f o r tz<br />

u s c h r e i t e n , sondern immer und immer wieder u m z u k e h r e n , das<br />

haben wir in unserem stetigen Eindruck vom Jetzt und der rein äußerlichen<br />

Täuschung des Alterns immer übersehen.<br />

Jenen Wechsel des Zeitlaufs in den Epochen, den Ständen, den<br />

Geschlechtern, den politischen Herrschaftsverhältnissen und ästhetischen<br />

Formensprachen, am Ende zwischen Realismus und Idealismus,<br />

Determiniertheit und Zufall – nämlich der vorliegenden Weltkonstruktion<br />

selbst – als Ausdrücke e i n e s Prinzips zu verstehen und damit uns<br />

selbst, ist diese G e o m e t r i e d e r G e s c h i c h t e geschrieben. Das<br />

Moment der Fraktalität, der Selbstähnlichkeit, die aus ihrer Systematik<br />

heraus doch zum Zufälligen gelangt, wird das Mittel sein, die bisherige<br />

Unvereinbarkeit des größten philosophischen Dualismus aufzuheben:<br />

Gesetz und Zufall, Schicksal und Wille. In dieser Vereinigung der<br />

schärfsten Widersätze eröffnet sich zugleich eine völlig neue Form der<br />

Toleranz des Blicks, welche vom Gang der Zeit losgelöst eine Geschichte<br />

des Menschengeschlechts ermöglicht, die bisher noch kaum<br />

geahnt werden konnte.<br />

Es ist ein Bild, das im Ganzen erst jetzt – die großen Kämpfe des<br />

Geistes und der Waffen unserer abendländischen Geschichte hinter uns<br />

– in reichlicher Beklemmung und doch zugleich gespannter Entschlossenheit<br />

zu Papier gebracht werden konnte, da wir jene Kämpfe bereits<br />

wieder herannahen sehen.<br />

*


EINLEITUNG<br />

Dem Licht stellt sich die Nacht entgegen, dem Schauen das Begreifen.<br />

Das Werden ahnungslos erblicken, heißt ihm dienstbar zu sein. In<br />

ihm den Ausdruck eines Gesetzes erkennen, heißt es beherrschen. Deshalb<br />

ist alle Geschichtsphilosophie verfehlte Beschaulichkeit, wenn nicht<br />

die Werkstatt der Geschichte aufgestoßen, dem Werden bei der Fertigung<br />

seines Meisterstücks – der Weltgeschichte – zugesehen, das Werkzeug<br />

selbst erschaut wird.<br />

Bereits die bloße Scheidung der historischen Gebilde, der Antike,<br />

Ägyptens oder des Abendlandes, des Barock oder der Romanik, hat uns<br />

überzeugt, daß Geschichte nicht beliebig verläuft, keine Ansammlung<br />

zufälliger Erscheinungen ist, sondern eine Struktur besitzt. Doch es heißt<br />

etwas Verschiedenes, eine Gestalt zu erkennen, und begreifen, wie sie<br />

zustande kommt. Was also bedeutet die Form der Kultur? Weshalb stehen<br />

das ägyptische, antike und das abendländische Wesen so deutlich<br />

voneinander geschieden vor uns? Warum erkennen wir zwischen ihnen<br />

Übergänge? Ist ihr Aufkommen zufällig? Gehorcht die Bildung der Kulturen<br />

einem Gesetz?<br />

Ist es eine Laune der abendländischen Geschichte, daß die Gotik<br />

auf die Romanik folgt? Hätte auch der Barock an die Gotik anschließen<br />

können? Wäre eine römische Geschichte unter Ausschluß der Republik<br />

möglich gewesen? Hätte die attische Tragödie oder der Armanastil des<br />

Neuen Reiches übergangen werden können? Unterliegen diese Formen<br />

des Daseins einer inneren Notwendigkeit ihrer Abfolge? Waren sie in<br />

einer strengen Beziehung zueinander unumgänglich? – Die Bedingtheit<br />

der Geschichte ist immer mit kurzgreifenden Kausalitäten der Fachwissenschaft<br />

beantwortet worden, manchmal mit großzügigen Stufen- und<br />

Alterstheorien. Nie hat man bemerkt, daß grundlegendere Gesetzmäßigkeiten<br />

bestehen, die jene Bedingungen des Historischen erst bestimmen.<br />

Die Versuche, Kultur als Organismus aufzufassen und unser Leben<br />

mit dem Werden der Kultur in eins zu setzen, hat dabei nur wenig mehr<br />

eröffnet, als eine allgemeine Analogie der Lebensalter jener Kulturen,<br />

und statt neuer Klarheit schließlich lediglich die gleichartige Frage aufgeworfen,<br />

welche Kräfte denn dieses Leben selbst, und damit eben auch<br />

den Verlauf der Geschichte zu begründen vermögen. Wir hatten eine<br />

Analogie entdeckt, welche jedoch keine Antwort auf unsere Frage nach<br />

dem P r i n z i p der Geschichte geben konnte, sondern uns das historische<br />

Rätsel mit dem des Lebens gleichsetzte. Wir waren keinen Schritt<br />

vorangekommen.<br />

5


6<br />

EINLEITUNG<br />

Ganz im Gegenteil! Im Glauben an biographische Stringenz mußte<br />

Spengler in seiner „Morphologie der Weltgeschichte“ gar ganz absonderliche<br />

Verfehlungen jenes lebendigen Organismus übertünchen.<br />

Da Antike und Abendland Ausdrücke verschiedener Biographien waren,<br />

verschiedenen „Ursymbolen“ entsprungen sein mußten, konnte jede antike<br />

Äußerung im Abendland, wie ebenso jede abendländische Äußerung<br />

in der Antike nur „Verirrung“ 1 sein. Aber im Leben gibt es keinen<br />

Irrtum, sondern nur Ausdrücke unserer Gemütsverfassung. Können wir<br />

sie nicht erklären, so ist dies kein Übel des Lebens, sondern der Theorie,<br />

die der Begründung des Lebens offenbar unfähig ist. Man hat bis<br />

heute nicht begriffen, wie eng diese strenge Festlegung auf das Ursymbol<br />

nichts weiter war, als der noch immer vorherrschende Glaube an das<br />

Gute, die Kultur, der Ekel aber vor dem Bösen und dem Untergang.<br />

Und bei Lichte betrachtet hat in dieser Einseitigkeit verharrend die<br />

Geschichtswissenschaft aus einem tiefen Mangel an wirklichen Begründungen<br />

zu a l l e n historischen Erscheinungen, allen Stilen und Epochen<br />

einen ebensolchen Ausspruch der Verirrung getan. Durch unzählige<br />

Kleinstabhängigkeiten übergeht sie dieses Problem bis heute in einem<br />

naiven Kausalitätsglauben und hat damit jeden historischen Blick, jedes<br />

geschichtliche Gespür verloren und unser innerstes Verlangen nach dem<br />

Verstehen schlichtweg unbefriedigt zurückgelassen. Deshalb bedeutet<br />

sie heute nichts mehr, ist seit 100 Jahren im Niedergang begriffen und<br />

zu einem Spiel unter Akademikern geworden, deren Geschichteleien<br />

keinem Mann fern des Faches zu lesen in den Sinn käme, sofern nicht<br />

wieder einmal ein Jubiläum die schon tausendfach geschriebenen Bücher<br />

wiederkäut. 2 Die Geschichtswissenschaft war aus dieser Froschperspektive<br />

nie in der Lage, das Aufkommen eines neuen Zeitalters tatsächlich<br />

zu m o t i v i e r e n – ganz wie Spengler auch, der die Wurzel<br />

1 so die Renaissance als eine Verirrung der abendländischen, der „faustischen“ Seele<br />

– ein Gedanke, der bereits in Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts“<br />

(1899) hervortritt: „Die angebliche Renaissance“, „der verderbliche Begriff der<br />

Renaissance“. Beide sprechen damit lediglich eine subjektive Abneigung gegenüber<br />

dem Antipoden des Mittelalters aus, welche noch aus der Romantik des frühen 19.<br />

Jahrhunderts herrührt. Eine weitere Verirrung hätte Spengler darin behaupten müssen,<br />

daß nach seiner Beobachtung der Höhepunkt abendländischer Architektur in die<br />

Gotik, derjenige der Literatur aber ins Jahr 1800 fällt – eine um 400 Jahre<br />

merkwürdig verfehlte Inzidenz.<br />

2 Einen Mann von Weitblick, der es wagen würde eine Weltgeschichte zu verfassen,<br />

einen Ranke oder Meyer, suchen wir heute vergebens.


EINLEITUNG<br />

jeder Kultur in einen unerklärlichen, göttlichen Funken, den Keim der<br />

Kultur, jenes „Ursymbol“ legen mußte. Wo aber keine Begründung ist,<br />

keine notwendige Folge, dort kann nur Zufall sein, Verirrung. So ist denn<br />

das Aufkommen eines jeden Ereignisses und jeder Struktur in der Geschichte<br />

am Ende doch nichts weiter als eine Ansammlung von faktischen<br />

Wissensbeständen, von Tatsachen geblieben.<br />

Man hat deshalb die Erscheinungen der Geschichte immer bloß enzyklopädisch<br />

diktieren können und geschichtliches Wissen für die Kenntnis<br />

von Fakten gehalten: Jeder mußte auswendig lernen, daß Aischylos,<br />

der erste weithin überlieferte Dichter altgriechischer Tragödien, in einer<br />

Revolution des Dramas im 5. Jh. v. Chr. einen zweiten Schauspieler auf<br />

die Bühne stellte. Doch hat bis heute jemand begriffen, warum es so unbedingt<br />

nötig war, ja d a ß es unbedingt nötig war, daß dies geschah? Es<br />

ist eben nicht bloß eine Tatsache der Geschichte, von der man Jahreszahl<br />

und Dichternamen auswendig lernt, ist nicht bloß die Geburt der<br />

klassischen Tragödie, ein Fortkommen der Literatur seit Homer, sondern<br />

ward aus einem P r i n z i p heraus geboren und mußte deshalb so<br />

notwendig erstehen, wie die Polis der Griechenwelt als neue politische<br />

Form nicht zu verhindern war. Nicht ihr paralleles Einsetzen als eine<br />

süffisante Analogie meine ich, sondern die Tatsache, daß sie überhaupt<br />

aus der archaischen Kultur des frühen Griechenland entkommen. Sie<br />

sind so folgerichtig, wie Vorzeichenwechsel in einer alternierenden mathematischen<br />

Reihe.<br />

Die kopernikanische Wende sollte eine Renaissanceidee der gerade<br />

erwachten Neuzeit sein, sollte als Befreiung aus der christlichen Naivität<br />

gelten dürfen. Und doch hat sich jene Idee des Thorner Astronomen<br />

Ende des 15. Jh. schließlich für fast 100 Jahre in Luft aufgelöst, um<br />

erst mit Galilei wieder diskutiert zu werden. Zugleich ist es das Jahr<br />

1500, mit welchem die Malerei der Renaissance jene Form erhält, die<br />

man immer so gern als den endgültigen Beweis für die hohe Meisterschaft<br />

dieser Epoche herangezogen hat, obgleich sich doch hier mit einem<br />

Schlage die eigentliche, nämlich die Renaissancemalerei des 15.<br />

Jahrhunderts, völlig umkehrt. Nicht nur, daß diese beiden deckungsgleichen<br />

Phänomene durchweg schlicht übergangen werden – wo eigentlich<br />

ein neuer Stilbegriff not täte – man hat gar, indem die Malerei seit 1500<br />

eben „venezianisch“, statt „florentinisch“ genannt wurde, ganz recht eine<br />

neue Wesensart der Malerei empfunden und doch keine Ahnung von<br />

7


8<br />

EINLEITUNG<br />

der eigentlichen Bedeutung dieses Wechsels verspürt. 1 Denn auch hier<br />

ist es nicht die bloße Parallelität der Erscheinungen, sondern die Tatsache,<br />

daß sie aus einem gemeinsamen Weltgefühl heraus entstehen – eines,<br />

das weder abendländisch noch antik ist, sondern wesentlich feineren,<br />

subtileren und zugleich brachial elementaren Gesetzen gehorcht.<br />

Das Interregnum des 13. Jh., jene Ausnahmeerscheinung im Römisch-Deutschen<br />

Reich des Mittelalters, in welchem die Königswürde<br />

nicht mehr aus dem deutschen Adel gestellt, sondern von fremden Titularkönigen<br />

Europas getragen wurde, ist am Ende ein ebenso unverstandenes<br />

Gebaren der Geschichte geblieben. Dabei ist es gerade kein Zufall,<br />

daß hier die Romanik in ihrem ideellen Höhepunkt austrägt, was<br />

sie seit dem Bußfall von Canossa schon erstmals angedeutet hatte. Und<br />

ebenso notwendig kehrt sich mit dem Ende des Interregnums die gesamte<br />

Herrschaftsform der Romanik in ihr Gegenteil um, als zugleich eine<br />

ganz neue, nämlich erstmals wieder christliche Religion im Wortsinne<br />

mit der ihr angehörigen Kunstauffassung hereinbricht, wie sie der alte<br />

Stil nie erlebt hatte.<br />

Daß der Realismus des späten 19. Jh. gerade keine künstlerische<br />

Fortentwicklung der Romantik ist, sondern ein Gegenentwurf und zugleich<br />

mit ihr als Einheit gegen die Frühe Neuzeit steht, gehört ebenso<br />

dazu, wie die Tatsache, daß Napoleon ein ungeheures Symbol der Moderne<br />

sein mußte, als er das Ancien Régime überwand. Es sind dieselben<br />

Verhältnisse, welche die Demokratie des 20. Jh. und ihre diktatorischen<br />

Antipoden hervorgebracht haben. Der Wechsel der alten<br />

Pharaonenherrschaft ins feudalistische Mittlere Reich des 18. Jh. v. Chr.<br />

sowie der Aufstieg ottonischer Herrschaft fast drei Jahrtausende später<br />

bedeutet das Ebengleiche.<br />

Nie hat man begriffen, warum der römische Senat 500 Jahre lang<br />

mit Entschiedenheit das Königtum abgelehnt hat und auch gegenüber<br />

Cäsar noch ebenso scharf verneint, schließlich aber Augustus nur wenige<br />

Jahre später fast wie selbstverständlich die Amtsmacht des Monarchen<br />

verlieh. Nie hat man begriffen, warum die Republik – ganz wie die<br />

attische Polis, der deutsche Reichsverband der Frühen Neuzeit und die<br />

Fürstenherrschaften des 12. Jh. – ausschließlich Kriege der Staatsraison<br />

geführt haben, die Kaiserzeit aber nach dem unfruchtbaren Britannien<br />

1 und auch die Bezeichnungen des Cinquecento und Quattrocento geben diese sehr<br />

richtig getroffene Scheidung, doch nie geschaute A b h ä n g i g k e i t jener Malstile an


EINLEITUNG<br />

ausgriff, die Kreuzzüge in ein zweitausend Kilometer entferntes heiliges<br />

Land drängten, Alexander und die Seefahrer um 1500 die Grenzen<br />

der Welt ausspähen wollten.<br />

Tausend Beispiele könnten nicht genügen, um die Blindheit des äußeren<br />

Wissens gegenüber dem inneren Verständnis vorzuzählen. All das<br />

wurde immer bloß auswendig gelernt, in Tabellen, Zeitleisten und Faktensammlungen<br />

eingetragen, ohne je an sich herangelassen zu haben,<br />

daß es einem Prinzip gehorcht – dem Prinzip des Wechsels. Nicht irgendeines<br />

Wechsels, wie man ihn gern heranzieht, um die Wendungen<br />

der Geschichte zu erklären, und schließlich nie scharf umrissen hat, sondern<br />

zweier e n g u m g r e n z t e r Z u s t ä n d e , deren Wirkung geradezu<br />

mathematisch g e s c h l o s s e n , n ä m l i c h v o r h e r g e s a g t u n d<br />

a b g e l e i t e t werden kann, statt dies alles bloß zu glauben und zu wissen.<br />

Ich behaupte deshalb, mit diesem Werk recht eigentlich ein L e h rbuch<br />

vorzulegen, das e r s t e Lehrbuch der Geschichte – eines das nicht<br />

aufzählt, sondern ein Prinzip lehrt, aus welchem Geschichte k o n s t r ui<br />

e r t w e r d e n k a n n , ohne von den Einzelerscheinungen überhaupt<br />

Kenntnis zu besitzen. Von der „Verirrung der Renaissance“, dem „Unverständnis<br />

des Abendlandes für die Antike“, über das Epochenjahr 1800,<br />

die religiöse Revolution des Echnaton, den Untergang der frühgriechischen<br />

Basileis, den Einbruch des Portraits in die römische Plastik und<br />

sein Verschwinden werden nun all diese scheinbar unabhängigen Erscheinungen,<br />

welche man nur immer ganz farblos zusammengehäuft<br />

hat, zum Ausdruck eines abstrakten Prinzips aufgerichtet. Daraus erst<br />

kann uns bewußt werden, was den eigentlichen Antrieb für die Formensprache<br />

des Barock gegeben hat, für die Geburt der Gotik, die Idee der<br />

Quantenmechanik und des kopernikanischen Weltbildes, den Untergang<br />

der Villikationsverfassung des Frühmittelalters, die römische Wandmalerei<br />

der Bürgerkriegszeit und des Prinzipats, das Wesen der Infinitesimalrechnung,<br />

die Bewegung in den spätscholastischen Voluntarismus,<br />

den modernen Roman um 1900, die Notwendigkeit des Wagnerschen<br />

Tristan, den Drang zur jugendlichen Tat, das Bedürfnis des Greises nach<br />

dem Schlaf.<br />

Man wird aus prinzipiellen Gründen entscheiden können, welche<br />

Herrschaftsform die Zeit der Römischen Republik besitzt, welcher Art<br />

die Literatur und Malerei des 19. Jh. ist oder auch der augusteischen<br />

Zeit, aus prinzipiellen Gründen erhält damit die musikalische Form des<br />

Barock ihre Prägung, wird das Geschlechterverhältnis und dasjenige der<br />

9


10<br />

EINLEITUNG<br />

Generationen bestimmt, aus prinzipiellen Gründen wird man die Gestalt<br />

des Dramas und den Stand der Kreditwirtschaft ablesen können – allesamt<br />

ohne auch nur ein einziges Faktum der Geschichte zu kennen.<br />

So kommt es, daß in diesem Buch die Anleitung gegeben wird, das<br />

Wissen der Geschichte zu e r r e c h n e n . So wie wir einen mathematischen<br />

Satz aus den Axiomen herleiten, so werden wir aus dem Prinzip<br />

der Geschichte die Grundströmungen der Zeiten, der großen Epochen,<br />

der Stile, hinab bis in die Generationen ableiten und gerade darin ihr<br />

Verhältnis untereinander begreifen können, die F o l g e d e r S t i l e .<br />

Gar das Wesen der Kulturen, der ägyptischen, der antiken und abendländischen,<br />

dieser ganze Jahrtausende umfassenden Entitäten selbst,<br />

wird aus diesem Prinzip verstanden ein erschreckend trivialer Vorgang<br />

sein – und darin die Ursymbole, welche Spengler einst als unbegründbare,<br />

wenn auch fein beobachtete Voraussetzung der Kultur genannt hat,<br />

Ergebnis jenes g e s c h i c h t l i c h e n G r u n d g e s e t z e s werden, welches<br />

in diesem Buche zur Darstellung kommt.<br />

So scheint aus jener elementaren Gesetzmäßigkeit der Abwechslung<br />

zweier Zustände ein streng kausales Walten in der Welt postuliert.<br />

Doch unter der fraktalen Behandlung jenes Kausalgesetzes geschieht eine<br />

recht wundersame Wendung: Indem der Wechsel nicht einem Pendel<br />

gleich in stetiger Einfalt eins zum andern tauscht, sondern – um bei jenem<br />

Bilde zu bleiben – zur Bewegung eines kleineren Pendels an einem<br />

größeren gerät, ja erst die Bewegung mehrerer, ja unendlich vieler aneinander<br />

aufgehängter Pendel bedeutet, welche allesamt für sich und<br />

unter der Bewegung der anderen durcheinanderschwingen, so ist, ohne<br />

doch von der strengen Berechenbarkeit des Pendels abgerückt zu sein,<br />

schließlich ein chaotisches, ja zufälliges Motiv in jene Maschine geraten,<br />

die wir doch so mechanisch entworfen hatten.<br />

Über das Moment der Vielheit für sich kausaler Vorgänge tritt immer<br />

mehr das Unüberschaubare in die Welt. In der unendlich fortgesetzten<br />

Konstruktion aber ist bereits der Zufall aufgerufen, und die Emergenz,<br />

das rauschende Chaos – unbeherrschbar mit dem Kausalgesetz –<br />

Tatsache geworden. Das Denkmoment des Fraktalen, welches uns in<br />

seiner vielleicht anschaulichsten Form – dem Geschichtlichen – noch<br />

gegenübertreten wird, ist so zum Mittler zweier bisher unvereinbarer<br />

Gegensätze erwachsen.<br />

So kommt es, daß an diesem Phänomen nun ganz unvermittelt die<br />

höchsten Fragen des menschlichen Denkens in Auflösung geraten. Denn


EINLEITUNG<br />

die Freiheit, der menschliche Wille, die potentia dei absoluta, all jenes,<br />

was immer schon gegen Kausalität und Gesetzhaftigkeit in der Geschichte<br />

gestanden hat und dagegen den Zufall und das Unvorhersehbare des<br />

Lebens setzte, ist im Fraktalbegriff ganz ebenso enthalten, wie der Glaube<br />

an strengsten Determinismus, an Vorbestimmung allen Tuns, an die<br />

potentia dei ordinata, wie Duns Scotus es nannte, der Glaube an die unumstößliche<br />

Ordnung in der Welt. Das Fraktal ist logisch-kausal erzeugt.<br />

Doch in der Masse dessen gibt es sich dem Zufall hin.<br />

Was über zweieinhalbtausend Jahre philosophischen Streit hervorrief,<br />

das vereinigt sich hier in e i n e m Begriff. Dieser wäre konturlos<br />

und nichtssagend, wenn er nicht i n s i c h eine neue Dimension eröffnen<br />

würde: Denn Fraktalität, Selbstähnlichkeit heißt sich selbst zu bespiegeln,<br />

heißt das Bild des Bildes schauen, heißt nach der Bedingung<br />

der Möglichkeit fragen, heißt reflektieren. Dies ein Vorgang, der beliebig<br />

oft auf sich selbst anwendbar ist, ohne aus der gegebenen Menge –<br />

denn sie bespiegelt sich selbst – herauszuführen. Der Begriff des Fraktalen<br />

ersetzt so die Spaltung in Determinismus und Zufall, in Ordnung<br />

und Wille, in Gesetz und Urteil, in System und Emergenz, in Wahrheit<br />

und Unbestimmtheit. Das ist es, was das Fraktale zu einer Denkgröße<br />

macht, welche das Ganze zu beherrschen in der Lage ist. Wir wollen<br />

diese Herrschaft nun antreten.<br />

Doch ehe die Fraktalität zum Prinzip erhoben werden kann, gilt es<br />

jene Zustände zu bestimmen, welche ihm unterliegen sollen. Diese allererst<br />

zu erschauen, treten wir nun in die Geschichte ein.<br />

*<br />

Dessen wir zu lang entbehren mußten, hegen wir einen heißen Durst.<br />

Was uns ununterbrochen begleitet, lernen wir tief zu verachten. Darin<br />

hassen wir schließlich uns selbst und kehren uns in das Vergangene, ernennen<br />

es zu unserer Zukunft. Das ist der tiefere Grund für alle Renaissancen<br />

und romantischen Bewegungen der Geschichte. Das Abendland<br />

hatte sich mit dem Ausklingen der Gotik erstmals satt 1 und ersann<br />

schließlich in den letzten beiden Jahrhunderten aus ebendiesem Gefühl<br />

neuerstanden d a s P r o b l e m d e r A n t i k e .<br />

Aus einer merkwürdigen Sicherheit heraus ist seitdem das bedeutendste<br />

Problem der Geschichtsphilosophie unser Verhältnis zu den Al-<br />

1 Es ist die Tragweite dieses Vorgangs jetzt noch ganz unverständlich.<br />

11


12<br />

EINLEITUNG<br />

ten geworden. Die Renaissance und der Klassizismus waren noch unreflektiert<br />

antikenbegeistert. Seit der Romantik, welche erstmals auch<br />

künstlerisch einen Hauch der Überzeugung in sich trug, dem klassischen<br />

Altertum nun eine ähnlich bedeutende Kunst entgegenzusetzen, ist der<br />

Widersatz aus Antike und Abendland zum führenden Problem des Geschichtsverständnisses<br />

geworden. Selbst Spengler, der ursprünglich sieben<br />

Kulturen gleichwertig nebeneinanderzustellen versprach, verliert<br />

sich letztlich nur in wenigen Andeutungen, was Ägypten, Mesoamerika<br />

oder China betrifft – dafür sprudelt es unaufhörlich zum Verhältnis<br />

der abendländischen zur antiken Seelenverfassung.<br />

Wir sind heute erstmals fähig, das Problem der Antike überhaupt<br />

als das ranghöchste Problem unseres historischen Sinns wahrzunehmen,<br />

es als unseren inneren Drang zu verstehen – und zwar, w e i l e r i n<br />

u n s a b g e s t o r b e n i s t . All die ferne Grandesse und fantasiegeschwängerte<br />

Idealgeschichte vom Weltreich Rom und den etwas einfältigeren,<br />

aber geistig um so höheren Griechen, ist uns mittlerweile fad<br />

geworden. Wir können die Begeisterung des 19. Jahrhunderts für diese<br />

Frage kaum noch nachempfinden. Und das ist keine zufällige Erscheinung,<br />

sondern liegt in einem schweren Verlust begründet. Wir haben<br />

verloren, was auch der Antike fehlte: unsere Religion. So wie wir dem<br />

Atheismus nicht mehr zustreben, sondern ihn e r r e i c h t haben, 1 und<br />

deshalb der unchristlichen Antike keine Träne mehr nachtrauern, so haben<br />

wir die Antikenbegeisterung als Vorbild ganz folgerichtig abgewählt<br />

und an ihre Stelle bereits seit 200 Jahren die Romantik gesetzt.<br />

Jene hehren Statuen aus der Hand Polyklets, Myrons oder des Lysippos<br />

ließen uns in sprachloser Andacht zurück, der Speerträger, der<br />

Augustus von Primaporta, der Diadumenos und die Nike von Samothrake<br />

konnten uns lediglich in schweigendes Staunen versetzen und<br />

schamvoll den Blick zu Boden sinken lassen; die feinen Proportionen<br />

des Parthenon, das erhabene Geleit des Zeus-Altars von Pergamon, die<br />

gemessene Sprache des dorischen Ornaments, die Klarheit der Formgebung<br />

griechischer Stadien und Theater, der römischen Rundtempel, der<br />

zum Initialproblem der Baukunst erhobene Triglyphen-Konflikt und die<br />

unscheinbare Bewegung vom ionischen zum korinthischen Kapitell über-<br />

1 Und das ist eben kein Ausdruck der Moderne und Aufklärung, sondern ein ganz<br />

natürlicher Gang der Kultur, wie ihn die Geschichte auch mit der Renaissance<br />

bereits erlebt hatte.


EINLEITUNG<br />

ragten das ewige architektonische Suchen des Abendlandes, als wolle<br />

es uns in stiller Weihe durch unser bloßes Betrachten an dieser Akkuratesse<br />

des Lebens teilhaben lassen; so wie wir seit dem 12. Jh. eifrig Aristoteles<br />

studierten, später Platon, die Neuplatoniker und dabei nicht anders<br />

konnten, als sie für „die Philosophen“ schlechthin zu erklären; wir<br />

waren uns immer bewußt, unsere gesamte Rechtsgelehrsamkeit den Römern<br />

zu verdanken; noch die Offiziersschulen des 19. Jh. lasen eifrig<br />

die Feldherrenkapriolen bei Leuktra, am Granikos und bei Cannae, um<br />

für ihre eigenen Heldenstücke zu lernen; kein abendländischer Dichter<br />

hatte es vermocht eine Ilias zu schreiben, kein Vergil war abzusehen,<br />

allerhöchstens ein paar Romanciers, die dem hellenistischen Verfallsbild<br />

nahekamen; ja, das schiere Format des Römischen Weltreiches, der<br />

gigantische Feldzug Alexanders: All dem hatten hunderte Jahre abendländischer<br />

Geschichte – im 19. Jh. war es ein Jahrtausend geworden –<br />

nichts Würdiges entgegenzusetzen. Es schien die Perfektion des zivilisierten<br />

Daseins gewesen zu sein, allein anschaulich zu machen in einer<br />

Flut fantastischer Historienmalerei, die jene Sehnsucht ins Unermeßliche<br />

entgleiten ließ. Träumer waren wir in ihrem Antlitz geworden.<br />

Und doch strotzte ein so offensichtlicher Makel aus der antiken<br />

Welt, frech lachend und unverhohlen hell, nichtssagend, geistlos, primitiv,<br />

barbarisch, ja unverständlich für unsere so treu schmachtenden Seelen,<br />

daß es in uns erst jene Ambivalenz erschuf, welche die alte Welt<br />

schließlich unbegreiflich machte – in Zuneigung, wie in Abscheu. Denn<br />

alle haben wir diesen Bruch der Begeisterung gespürt, nie aber ward er<br />

klar ausgesprochen und zugleich mußte er uns ständig schmerzlich begleiten:<br />

Niemand hatte sich ernstlich gefragt, wie die höchste Kultur,<br />

welche wir zu schauen in Dank so lang herniedersanken, nur eine d e ra<br />

r t p r i m i t i v e R e l i g i o n hervorbringen konnte! D a s war – heute<br />

erst ist der Blick darauf freigegeben – das eigentliche Problem der Antike.<br />

Es ist zugleich der Augpunkt, von welchem aus das Wesen der Weltgeschichte<br />

sich ganz ins Licht ergießt. Es ist ein schmerzlicher Blick, eine<br />

Wunde im Bild der Alten, die wir nun endgültig zu schließen fähig<br />

sind – denn es ist recht eigentlich die unsere. Wir haben es immer geahnt,<br />

nie hatten wir den Mut es auszusprechen, den Mut uns jene Frage<br />

zu stellen, welche so eng an unser Empfinden griff, daß wir die Zerstörung<br />

eines Ideals befürchten mußten – edle Einfalt, stille Größe.<br />

Es stand so ganz frei und unbetrübt, so klar und lebensbejahend vor<br />

uns, wie wir uns selbst gern erhoben hätten aus der ewig dunklen See-<br />

13


14<br />

EINLEITUNG<br />

lenwelt des Abendlandes. Unsere Religion – jene, welche die Antike nie<br />

ganz zu fassen vermochte, das Christentum – war der Kern der abendländischen<br />

Gefühlswelt geworden. 1 Sie stand nicht der Tat, sondern dem<br />

Gedanken nahe, nicht der Feier, sondern der Trauer, nicht dem Leben,<br />

sondern dem Tode, sie war nicht denkbar in der aufrecht die Arme gen<br />

Himmel reckenden Anrufung, sondern allein im Niederknien, im gedankenversunkenen<br />

Gebet. Wir hatten nie etwas Tieferes ersonnen, als diese<br />

eigentlich ausschließlich gotische Wesensform seelischen Leidensdranges.<br />

In der Selbstkasteiung wollten wir unseren sphärischen<br />

Übergang in den Tod vordenken, in einem fahlen Büßergemüt, in der<br />

Sehnsucht nach Schuld und Sühne für nie begangene Taten, nach<br />

Schmerzen schmachtend, in der Trauer den höchsten, in der Beweinung<br />

den edelsten Akt vor Gott erblicken, dem Gebot des reinsten Gewissens<br />

genügen. Das Ahnen des Himmelreiches, des Himmelreiches, das inwendig<br />

in uns war, jene seelische Entrückung äußerster Raumerfahrung<br />

i n u n s , konnte ein antiker Götterglaube nicht in den ungefährsten Umrissen<br />

ermessen. Die Gewalt des Inneren kannte der antike Mensch ebensowenig,<br />

wie der abendländische die äußerliche, die Gewalt des zivilisierten<br />

Lebens, die Erhabenheit einer Herrenklasse durch die Tat, eine<br />

Herrschaft der Tüchtigen nie recht empfunden hat – denn das mußte Verrat<br />

an Christus sein, der Sünden schwerste Sünde.<br />

Als die Römer 396 v. Chr. an einem Scheidepunkt ihrer italischen<br />

Machtausdehnung stehen und den Sturm auf die bereits seit Jahrhunderten<br />

blühende Stadt Veji vorbereiten, da bricht in einem schreienden Kontrast<br />

die ganze Primitivität der antiken Religion in ihrer absurden Einfältigkeit<br />

durch. Der römische Heerführer Camillus ist es, der vom<br />

Feldherrenhügel aus das Gebet nicht an die eigenen Götter, sondern die<br />

Juno Regina, die Stadtgöttin Vejis, richtet. Ihrer Gunst will man sicher<br />

sein, wenn zum Angriff geblasen wird. Dazu stellen sich die römischen<br />

Priester allen Ernstes vor die Mauern der Stadt, um die Juno herauszurufen.<br />

Und wie tut man das? Indem ihr ewige Verehrung und ein herrlicher<br />

Tempel in Rom versprochen wird. Dort soll sie einziehen dürfen,<br />

wenn sie den Eroberern beisteht. D a s ist antiker Götterglaube. 2 Man<br />

1 Es hat eine tiefe Bedeutung, daß das Christentum nur der Spätantike überhaupt<br />

etwas sagen konnte, zuvor aber unmöglich sein mußte.<br />

2 so Livius V, 21 – Alle Abweichungen davon in der vorsokratischen Philosophie und<br />

auch bei Aristoteles und in der Stoa unterliegen einem ebenso klaren Prinzip, wie auch<br />

das abendländische Verständnis über die Jahrhunderte schwankt. Es wird uns ein<br />

wesentliches Merkmal der Stilfolge werden.


EINLEITUNG<br />

mache sich das klar: eine Götterwerbung, Bestechung! Die Götter wenden<br />

sich tatsächlich dem Meistbietenden zu! Wer könnte nur ernstlich<br />

im Christentum auf eine solch abstruse Idee gekommen sein! Noch der<br />

erste christliche Kaiser des Römischen Reiches, Konstantin, der sich<br />

auch erst auf dem Sterbebett wird taufen lassen – gewissermaßen um<br />

bei allen Göttern versichert zu sein –, hat sein Bekenntnis zu Sol invictus<br />

nie abgelegt und Christus nur als weiteren Gott aufgenommen, welcher<br />

den Sieg an der Milvischen Brücke verleihen sollte. Und tatsächlich!<br />

Die Römer siegen 312 n. Chr. und auch 396 v. Chr.! Juno bekommt<br />

auf dem Kapitol ihren eigenen Tempel und das Christensymbol wird ab<br />

sofort auf die Legionärsschilde gepinselt. Und wenn ein paar Jahrhunderte<br />

nach Veji in den verstärkten Handelsbeziehungen zu Ägypten die<br />

Gottesmutter Isis zu verehren ist, so kommt auch das. Und wenn übermorgen<br />

der Kaiser anzubeten ist, dann kommt auch das. Die Römer hätten<br />

nicht einmal davor zurückgeschreckt einen Sesterz anzubeten. Für<br />

sie war das eine Frage von Erfolg und Niederlage, von Leistung und Gegenleistung,<br />

eine Frage des Handels.<br />

Deswegen haben die überlieferten Wunder der antiken Götterbilder,<br />

das Nicken oder Tropfen der Götterstatuen, nicht das geringste mit<br />

den blutenden Marien und Hostien seit dem 13. Jh. zu tun. Dem gotischen<br />

Menschen ist es die Offenbarung des Leides, ein Fanal des wiedergeborenen<br />

Schmerzes Christi, die griechischen Priester aber lesen<br />

daraus die Zustimmung des Götterrats zu einer Volksversammlung.<br />

Überhaupt wird mit den antiken Götterbildern wie mit Puppen umgegangen.<br />

Den Asklepios führte Sophokles, der große Dramatiker, in seinem<br />

Amt als Priester (sic!) persönlich nach Athen – und das hieß nichts<br />

anderes, als das lächerliche Bild eines hölzernen Karrens, den der Dichter<br />

der Antigone klappernd durch die Stadttore fuhr, um erstaunt festzustellen,<br />

daß seine Mitbürger es nicht vermochten, fristgerecht den Tempel<br />

des neuen Gottes fertigzustellen, woraufhin er die Statue bis zum<br />

Einzug in ihr neues Haus kurzerhand bei sich daheim aufnimmt. Was<br />

das Mittelalter vielleicht mit Reliquien, also faßlichen, wenn auch heilsgeschichtlichen<br />

Gegenständen hätte tun können, das besorgen die antiken<br />

Priester mit den Göttern selbst – denn die Statue, das i s t der Gott.<br />

An eine transzendente Form Gottes hat der antike Mensch nie gedacht.<br />

Und so wie die Statue – einmal im Tempel aufgestellt – die Jahrhunderte<br />

als materielle Form überdauerte, so ist die gesamte antike Religion<br />

ein derart Greifbares und in seiner Geistlosigkeit ewig Starres,<br />

15


16<br />

EINLEITUNG<br />

daß der pagane Glaube über tausend Jahre nicht die geringste Wandlung<br />

erfahren hat. Es hat deshalb noch niemand eine echte Religionsgeschichte<br />

der Antike geschrieben. Nicht weil das Thema übersehen wurde, sondern<br />

eben w e i l e s k e i n e g i b t . Von Hesiod an, der die Genealogie<br />

des Götterapparats niederschreibt, bis in den Hellenismus hinein, kann<br />

im Grunde nichts zu einer Entwicklung des Glaubens berichtet werden.<br />

Keine Laienbewegung, keine Priesterbewegung, keine Reformationen,<br />

kein einziger Konflikt um die Frage des Glaubens. Es ist ein ewiges<br />

Schweigen des Metaphysischen. Die ägyptische Geschichte ist von den<br />

frühen Dynastien bis über Echnaton hin voll davon, die abendländische<br />

Geschichte sucht seit den Ottonen bis Voltaire und Nietzsche hinauf gar<br />

überhaupt nach a-religiösen Bewegungen. Die Griechen und Römer haben<br />

sich darum nie gekümmert.<br />

Und damit hängt tief verbunden zusammen, daß es keine griechische<br />

Geschichte der Baukunst gibt. Es verhält sich mit der Religion der<br />

Griechen wie mit ihrer Architektur, die immer durch das Gotteshaus, an<br />

Grabstätten oder Tempeln ihren Ausdruck fand und deshalb über die<br />

Jahrhunderte ebenso unbeweglich bleibt, wie ihr Glaube selbst. Seit der<br />

dorische Tempel um 700 v. Chr. erstmals errichtet war, mußte sich seine<br />

Form im Wesentlichen bis in den Untergang der griechischen Kultur<br />

erhalten. Von der Baukunst weiß die Antike deswegen nichts zu berichten,<br />

was von weltgeschichtlichem Rang wäre, nichts, was nicht mit gleichem<br />

Recht schon den Ägyptern zugeschrieben werden könnte. 1 Und<br />

so wie es keine Revolution der Baukunst in Hellas oder Rom gegeben<br />

hat, so nie auch nur die geringste Reformation des paganen Glaubens. 2<br />

Eine einzige ketzerische Bewegung kennt die Geschichte Roms: den<br />

Bacchanalienskandal von 186 vor Christus. Doch der Aufruhr gegen die<br />

alten Dionysosrituale, die hier durch den Senat verboten wurden, war<br />

keineswegs fragwürdigen Anrufungen an die Götter geschuldet. Nein,<br />

es hatte sich unter dem Deckmantel des Mysterienkultes viel mehr eine<br />

Clique im Stile der Protagonisten de Sades oder wenigstens eine Art<br />

1 Technisch freilich haben die Römer Gewaltiges geschaffen. Bereits die griechischen<br />

Kanalisierungen zeugen von bautechnischem Genius, die römische Weltstadt mit<br />

ihren gewaltig aus dem einstigen Ackerboden aufragenden, in alle Himmelsrichtungen<br />

ausgreifenden Fangarmen der Aquädukte ist eine statisch-technische Meisterleistung.<br />

Aber den Formideen nach bieten sie nichts Neues – denn sie hatten keine.<br />

2 Die Restauration alter Kulte unter Augustus und freilich das Aufkommen des<br />

Christentums bis hin zum Streit um die Arianer im 4. Jh. n. Chr. ist von gänzlich<br />

anderer Art.


EINLEITUNG<br />

Zwangsbordell entwickelt, das allein dem senatorischen Ordnungswillen<br />

widersprach, nicht aber religiösen Frevel bedeutete. In ganz gleicher<br />

Weise ist Sokrates behandelt worden, dem schließlich der Schierlingsbecher<br />

gereicht wurde, als der Vorwurf der Blasphemie aus rein politisch-bürgerlichen<br />

Erwägungen erhoben wurde.<br />

In ähnlicher Verkennung der Tatsachen nennen wir vier Kriege der<br />

griechischen Poleis um die Kultstätte der Pythia, jener Priesterin im<br />

Apollontempel zu Delphi, „heilige Kriege“. Wollen wir davon absehen,<br />

daß sie getrost als für die Geschichte Griechenlands wohl unbedeutendste<br />

Kriege überhaupt bezeichnet werden können, so handelt es sich zudem<br />

durchweg um Fragen des Wegzolls und des Tempelschatzes. Selbst<br />

die deutlich weltlich bestimmten Glaubenskonflikte vom Thesenanschlag<br />

bis zum Augsburger Religionsfrieden oder – noch vehementer – des<br />

30jährigen Krieges hatten immerhin neben den rein äußerlichen Beweggründen,<br />

dem Ablaßhandel, der Frage der Bilder und etlicher reichspolitischer<br />

und dynastischer Differenzen doch immer auch ein wahrhaft<br />

religiöses Moment in sich, nämlich das Problem der Deutung der Schrift,<br />

der Reinheit des Gewissens vor Gott. In dieser Hinsicht ist der Hellene<br />

keinen Moment über die Frage hinausgelangt, ob denn genügend Dämpfe<br />

vom Opfertisch zu den Göttern aufgestiegen seien.<br />

Und so wundert es denn auch nicht, daß der Gottesdienst der antiken<br />

Welt ganz dem Wortlaut nach verstanden werden muß: Wir denken<br />

an eine Gefälligkeit, eine ganz weltliche Dienerschaft, ein Tieropfer für<br />

die Götter. Sprechen wir vom christlichen Gottesdienst, so ist der Begriff<br />

aller greifbaren Tätigkeit enthoben. Denn hier wird Gott nicht g ed<br />

i e n t . Es handelt sich nie um ein Vertragsverhältnis, wie es der antike<br />

Mensch in seiner Beziehung zu den Göttern allein zu denken fähig war.<br />

Seit dem Mittelalter wird der Gottesdienst immer mehr zu einer Weihe<br />

des Gewissens, einer gemeinschaftlichen Einkehr der Seelen – ineinander<br />

und in sich. Alle Christusbewegungen der mittelalterlichen Ketzer<br />

haben sie gar noch allen festlichen Pomps entkleidet, sodaß ein Niedersinken<br />

im Eselstall zum Gebet werden konnte. Der Grieche hat dagegen<br />

vom dionysischen Kult an alle religiösen Feiern eher mit Wein, Weib<br />

und Gesang verbunden.<br />

Deshalb ist auch die Pietà-Szene den Griechen ganz unbekannt. Das<br />

Bild der Rollenumkehr, nicht des körperlichen, sondern geistigen, nämlich<br />

beweinenden Schirms der Mutter über den Sohn – welche mit Isis<br />

und dem Horuskinde in Ägypten, mit Maria und dem Jesusknaben im<br />

17


18<br />

EINLEITUNG<br />

Abendland so wirkmächtig ins Gedächtnis der Kulturen eingebrannt ist<br />

– Spengler hat diese bedeutende Beobachtung mehrfach erwähnt –, war<br />

in der antiken Auffassung des Lebens als männlichem Tatendrang unmöglich.<br />

Der einzige Moment, in welchem eine griechische Frau ihren<br />

Mann zu beweinen hatte, ist weithin derjenige geblieben, den Sturzbetrunkenen<br />

aus dem Symposion heimzutragen. Selbst dieses Besäufnis<br />

war dem Griechen ein religiöses Ereignis, so wie das Theater ein religiöser<br />

Bezirk sein sollte – obgleich die Komödie auch vor der Blasphemie<br />

nicht haltmachte.<br />

Tiefes Schauen, Ahnen, seelische Entrückung, Transzendenz – das<br />

ist Religion u n s immer gewesen. Was dagegen hat noch Aristoteles mit<br />

„Seele“ gemeint! Wieviel tiefer hallte es im abendländischen Menschen<br />

nach, wenn dieses Wort bei den Mystikern, und wieder im 19. Jh. den<br />

vor solcher Nähe kraftlos niedersinkenden Menschen romantischer Prägung<br />

ergreift! — Eben dieses Gefühl war dem antiken Geist von den<br />

Sophisten an noch bis über Aristoteles hinaus ganz fremd. Die Äußerlichkeit<br />

ihrer Kunst, ihrer Dramen, ihrer politischen Staatsauffassung<br />

war es, die dem inneren Empfinden nur wieder jene Reflexion der Oberfläche<br />

zu entgegnen vermochte und damit eigentlich nichts hinzuzufügen<br />

hatte. Der gotische Mensch, die romantische Seelenverfassung, das<br />

Gemüt der Einkehr und innerlichen Schau steht jener Lebenswelt des<br />

Greifbaren so fern, daß es den abendländischen Menschen zur höchsten<br />

Sehnsucht nach dieser hellscheinenden Welt ziehen mußte. Er war nie<br />

recht bemüht sie zu erreichen. Er sah sie im Traum. Die Römer dagegen<br />

haben bis zur Zeitenwende kein auch nur ähnliches Gefühl verspürt,<br />

und nie recht eigentlich die ganze Umfassung jener Weltschau des Christentums<br />

in sich wahrgenommen, nicht einmal dumpf erahnt. Sie waren<br />

immer blind geblieben vor diesem inneren Schauspiel.<br />

Es ist erst eine kolossale Sattheit der senatorischen, klassischen<br />

Epoche, wenn um die Geburt Christi gegen diese äußerliche und geradezu<br />

technische Form antiker Götterverehrung die hellenistische Philosophie,<br />

der Vorbote des Christentums, als erstmalig verinnerlichte Religion<br />

ins Leben des antiken Menschen tritt. Dieselbe Umkehrung der<br />

Weltauffassung ergreift die mittelalterliche Zeit, als die Gotik hereinbricht,<br />

die untergehende Frühe Neuzeit mit dem Einbruch der Romantik,<br />

so wie es schon im 14. Jh. v. Chr. in Ägypten geschehen war, als der<br />

monotheistische Sonnenkult wiederkehrt.


EINLEITUNG<br />

Dieser scharfe Widersatz der Religionen ist vielleicht das deutlichste<br />

Zeichen der Abwechslung tiefen Fühlens durch faßliche Tätigkeit,<br />

von Äußerem durch Inneres: Die absoluten Kontradiktionen stehen sich<br />

einander unvereinbar gegenüber. Wir haben es nicht mit zwei Religionen<br />

– von dutzend Möglichen – zu tun, sondern mit den beiden äußersten<br />

Anschlägen des Denkbaren, zwei Weltauffassungen und n u r zweien.<br />

Der Widerstreit jener beiden Gemüter hat sich hier in Form der<br />

Religion ausgesprochen. Doch er ist der ungeheuerste Gegensatz in der<br />

Geschichte überhaupt und hat sich in allen übrigen Ausdrücken des Lebens<br />

ebenfalls geäußert: in Tat und Gedanke, in Haß und Versöhnung,<br />

in Raub und Gabe, in Krieg und Friede, in Form und Zahl, in Mitleid<br />

und Herrentum, in Furcht und Drang, in Apathie und Begehren, in Lebenslust<br />

und Müdigkeit. Er ist Ausdruck des fundamentalsten Widersatzes<br />

des Lebens, welcher unteilbar am Urgrund aller Dinge liegt, der<br />

Scheidung alles Faßlichen in zwei Momente. Wir haben damit einen ersten<br />

Blick auf die Zweiheit des Daseins getan.<br />

*<br />

Das Wiederkehrende ist dem Unendlichen nahe, das Fortschreitende<br />

im Moment, der Tat gefangen. Nur in der Wiederkehr des Immergleichen<br />

kann Unendlichkeit gedacht werden, als Abfolge, als Erneuerung<br />

des Alten, das nie aus dem bereits Gekannten herauszuführen droht. Die<br />

Idee des Fortschritts dagegen kann nur momenthaft sein. Er kommt aus<br />

dem Unendlichen und weist ins Unendliche, wächst über alle Maßen<br />

und ist so über die Gänze seiner Bewegung – was wir Geschichte und<br />

Zukunft nennen – jeder menschlichen Vorstellungskraft enthoben. Die<br />

zyklische Geschichtsauffassung und der Glaube an den Fortschritt haben<br />

sich immer in diesem Widersatz befunden und deshalb einander verneint<br />

und notwendigerweise ausgeschlossen.<br />

Wir bemerken hier bereits ein Moment größter Bedeutung, wenn<br />

die Unendlichkeit der Zeit im zyklischen Denken zwar möglich ist, jedoch<br />

dem Inhalt nach begrenzt, der Fortschritt hingegen immer der zeitlichen<br />

Beschränkung unterliegt, dafür aber die Potenz zur Unendlichen<br />

Ausdehnung besitzt. Was zyklisch Zeit, ist linear verstanden Raum, was<br />

zyklisch Raum, ist linear Zeit. Wir werden in dieser Verschränkung der<br />

Verhältnisse ein allgemeines Prinzip des Daseins wiedererkennen, welches<br />

als ein innerer Wechsel – entgegen dem Glauben sowohl der zykli-<br />

19


20<br />

EINLEITUNG<br />

schen, als auch linearen Theorie – die Zeit als zweite Entität neben dem<br />

Raum überhaupt erst zu schaffen fähig ist.<br />

Im Drang nach der Unendlichkeit erringt so das Bild des Kreises,<br />

die erste und letzte Formwerdung jedes Weltbildes, die Herrschaft zurück.<br />

Doch es ist keineswegs das zyklische Geschichtsbild, welches uns<br />

seit Hegels Kreismetapher immer mehr zu befallen sucht. Denn was die<br />

letzten 200 Jahre zyklisch genannt haben, das war nie dem Kreis verwandt,<br />

sondern immer ausschließlich die Wiederholung, das Durchleben<br />

eines Immergleichen. Hegels Idee der Selbstfindung und der Freiheit<br />

spricht so, Vollgraffs Altersbild ist es, so wie die Stufentheorie<br />

Breysigs. Spenglers Philosophie der ewigen Wiederkehr – eine Idee<br />

Nietzsches – unterliegt derselben Denkungsart. Alle beginnen sie immer<br />

und immer wieder neu. Sie durchlaufen keinen Kreis, sondern einen<br />

scharf begrenzten Ausschnitt – man könnte sagen ein Stück Fortschritt<br />

– immer wieder neu. Eine Rückkehr ist dabei nur insofern gedacht, als<br />

die Kultur ihren Höhepunkt überschreitet, sobald sie ihre Formreife erst<br />

einmal erreicht hat und sodann wieder zerfällt. Daß aber der exakte Ausgangspunkt,<br />

dieselben Bedingungen des Lebens wiederkehren, ist hier<br />

immer s t r e n g v e r m i e d e n worden. 1 Dieses Wiederfinden des Alten<br />

zu verstehen, um einen Durchlauf ganz identischer Art zu durchschreiten,<br />

ist nie die nötige Abstraktion gewonnen worden. Es hat deshalb im<br />

Grunde bisher noch k e i n e w a h r h a f t z y k l i s c h e Theorie der Geschichte<br />

gegeben.<br />

Indem wir sie nun wagen wollen, sind wir im Begriff, das Wesen<br />

nicht der Geschichte, sondern der Zeit selbst – und zwar als freie Bewegung<br />

– zu verstehen. Darin ist sie als eindimensionale Größe ein Umkehrendes.<br />

Es bleibt nichts als die Abwechslung zweier Zustände: vorwärts<br />

und rückwärts. Ich denke eindimensional. Man möge über diesen<br />

Rückgang lächeln, bis man begriffen hat, daß bisher in null Dimensionen,<br />

nämlich im Punkt gedacht wurde. Die erste Dimension eröffnet die<br />

Gerade, d. i. unendlich viele Punkte und zwei Richtungen. 2 Gerade daraus<br />

werden wir erkennen, daß nun die Zyklik der Geschichte nicht etwa<br />

eine Wahrheit ist und der Fortschritt eine Tölpelei, sondern daß beide<br />

lediglich Äußerungen eines grundlegenderen Wesens der Dinge sind,<br />

welche sich ganz unter dem Antrieb des Vor- oder Zurückschreitens der<br />

Zeit unaufhörlich gegeneinander tauschen.<br />

1 daher verstehen sich die Kulturen im System Spenglers auch nicht<br />

2 Der Punkt kennt keine Richtung.


EINLEITUNG<br />

Deshalb ist nicht das eine oder das andere, das Zyklische oder der<br />

Fortschritt je fähig gewesen, die Geschichte dem Verstande faßlich zu<br />

machen, sondern nur die Vereinigung aus beiden dazu imstande. Ich<br />

spreche nun aber nicht von jenem Ansatz, der die gesamte Wissenschaft<br />

des 20. Jh. bestimmt hat – nämlich eine ganze Unmenge von Kausalursachen<br />

zusammenzuhäufen, um nur ja keine konkrete Aussage treffen<br />

zu müssen und stattdessen in der Vielzahl der „Einflußfaktoren“ ganz<br />

trivialerweise immer recht zu behalten. Indem schließlich jede Regung,<br />

die uns überliefert ist, in einem Kausalwust des heutigen Wissenschaftsbetriebes<br />

eingelagert wird, entledigt sich das moderne Geschichtsbild<br />

jeder Entscheidung: aus Feigheit, aus Angst, aus Unfähigkeit zur Analogie,<br />

aus innerer Beschränkung des Geschichtsbildes als einer Flut von<br />

Ereignissen.<br />

Nein, hier gehen nun die beiden Grundanschauungen im Wechselgang<br />

miteinander einher. Denn in mancher Zeit konnte es nichts Einleuchtenderes<br />

geben, als die Geschichte für einen Aufbruch aus der Dunkelheit<br />

zu schauen, manche Zeit mußte an den Untergang glauben, am<br />

Umkehrpunkt dachte man über das Zyklische nach. Immer gab ihnen<br />

ihre Zeit recht, nie behielten sie es für all die übrigen Epochen, welche<br />

ganz andere Erfahrungen gemacht hatten. Es ist deshalb ein Moment der<br />

Befreiung aus dem subjektiven Gefangensein durch die Zeit, wenn wir<br />

zurücktreten und all diese perspektivischen Verzerrungen nun aus dem<br />

Fluge heraus betrachten, als Ausdrücke der Zeit, statt der Kausalität. Die<br />

Errichtung des römischen Senats, der Übergang in die Dunkelmalerei<br />

des Barock, die Entdeckung der nichteuklidischen Geometrie, die Begründung<br />

der attischen Komödie oder die finanzwirtschaftliche Heraufkunft<br />

des Kolonats der Spätantike werden darin nicht Ausdrücke einer<br />

politischen, künstlerischen oder wirtschaftlichen Entwicklung, sondern<br />

des Eintritts in eine neue Form des Daseins überhaupt. Sie können so<br />

nie eine Kausalfolge begrenzter Ereignisse sein, sondern entspringen einer<br />

substantiellen Formveränderung, die all diese Äußerungen erst in<br />

Bewegung setzt.<br />

Die Offenheit gegenüber jeder dieser Einseitigkeiten der Form ist<br />

mit der Überwindung der Zeit ein ebenso notwendiger Akt, wie die Aufgabe<br />

jedes Endziels der Geschichte, eines Untergangs oder eines Erhalts<br />

des Abendlandes. Es werden nun faßlichere Elemente zu Bedeutung gelangen.<br />

Doch gerade in dieser scheinbaren Loslösung vom Willen, u n-<br />

21


22<br />

EINLEITUNG<br />

s e r e m Willen wird der eigentliche Wi l l e d e r G e s c h i c h t e in gewaltigen<br />

Zügen vor uns erstehen. — Indem wir u n s willenlos machen,<br />

erschauen wir den Wi l l e n d e r We l t .<br />

Den Willen aber ablegen, heißt dem Guten zu entsagen. Ein Akt,<br />

der bisher oft gewollt, doch nie gänzlich gelungen ist. Man konnte sich<br />

nie dazu entschließen, hat sich statt dessen doch immer wieder nur dem<br />

Positiven zugewandt, der Kultur, der Hochkultur, und nur in dichterischen<br />

Momenten einen Blick auf das Primitive, das Häßliche getan. Deshalb<br />

ist auch niemandem dieser im Grunde reinen Kulturmenschen in<br />

den Sinn gekommen, in der Analogie zwischen Kulturgeschichte und<br />

Pflanzenleben etwas anderes zu begreifen, als das Wachsen, Blühen und<br />

Welken dieses Organismus. Es war bereits ein außergewöhnlicher Akt,<br />

überhaupt das Ve r g e h e n als etwas Reales zu begreifen. Doch auch<br />

hier ist ganz instinktiv an jenem Punkte haltgemacht worden, der wirklich<br />

etwas Neues hervorzubringen gedroht hätte. Über ihn hinaus hat<br />

sich die Geschichtsphilosophie nie gewagt. Es ist dem Kulturmenschen<br />

alles fremd, das nicht zum Leben gehört. Das „Ungeschichtliche“, die<br />

tatlose Zeit, diejenige der Unterwerfung unter Natur, Herr und Gott, haben<br />

sie immer übersehen, ja wollten sie nicht sehen, haben sie seit Nietzsche<br />

für willenlos, schwach, weibisch und damit bedeutungslos erklärt.<br />

Sie war keine Geschichte. Bis heute gilt so das Bekenntnis Treitschkes<br />

„Männer machen die Geschichte“. 1 Ganz in diesem Sinne waren es in<br />

der Lebensphilosophie Pflanzen, die Geschichte repräsentiert haben.<br />

Aber auch der Pflanze als greifbarem Objekt, als Ausformung einer Lebensstrategie,<br />

stellt sich ein Ungerichtetes, ein formloser Zustand gegenüber,<br />

der schlichtweg übersehen wurde. Es ist das Ve r w e s t e .<br />

Die Analogie der Lebensphilosophie schien schlagend. Aber mit<br />

dem Sterben der Pflanze ist der Kreislauf eben nicht geschlossen. Auf<br />

das Sterben folgt nicht die Geburt des Neuen, sondern der Rückgang in<br />

den Humus. Eine Trivialität! möchte man sagen. Aber sie hatten die<br />

Sprache des ruhig Darniederliegenden, die Sprache des Leblosen nie<br />

1 Man zitiert ungern den dazugehörigen Satz, welcher dem Dogmatismus, den man<br />

Treitschke noch heute gern andichtet, nicht gerecht werden will: „Dem Historiker<br />

ist es nicht gestattet, nach der Weise der Naturforscher das Spätere aus dem Früheren<br />

einfach abzuleiten.“ Daraus erhellt sich, daß Treitschke hier nichts anderes vertritt,<br />

als es die Historiker noch immer nachpredigen: Es gibt kein System der Geschichte.<br />

Und das bloß, um damit den Mythos zu wahren, Geschichtswissenschaft sei ein<br />

kurzbündiges Zusammenflechten der Fakten, statt wirklich tiefes Blicken in die<br />

Beweggründe des Werdens.


EINLEITUNG<br />

verstanden. Daß die verwelkte Pflanze nicht in einem Schritt wieder zu<br />

keimen beginnt, daß die Geburt nicht auf das Sterben folgt, daß es eines<br />

noch wesentlich zerstörerischeren Aktes bedarf, das Leben des saftenden<br />

Kelches erneut zu entfachen, ward – obgleich es in der Natur so<br />

offen liegt – immer übergangen. Das Vermoderte, das Aufgelöste, die<br />

dunklen Kräfte der Zersetzung des komplexen Körpers in die niedersten<br />

Bestandteile evolutorischer Urzeiten, das Werk der Mikroben und<br />

Würmer, der primitivsten Bausteine des Lebens, die Rückkehr in den<br />

Urstoff, wollte, ja konnte die Lebensphilosophie nicht ernsthaft als Teil<br />

des Lebens verstehen, wo ihr doch das Hohe erst Leben, das Gute und<br />

ganz offensichtlich Kraftvolle erst der Betrachtung wert erschien. —<br />

Der Tod heißt freilich das Ende alles Lebens. Er bedeutet aber nicht, daß<br />

damit die Geschichte des Seins überhaupt erzählt sei. Vielmehr ist dies<br />

wieder der Ausgangspunkt einer andersartigen Lebendigkeit.<br />

Was eben noch höchste Ordnung war, der Körper des Lebendigen,<br />

vergeht. Dasselbe, tot, ist noch immer von gleicher Masse, nichts ist der<br />

Sache nach verloren, doch die Form der Energie ist eine gänzlich andere.<br />

Die Ur- und Schlußform jedes Organismus ist eine reduzierte, nämlich<br />

bloße Masse, Erde. Der Körper liegt nun als Nahrung da, für neue<br />

Völker, Staaten, Religionen. 1 All der zentrierte Reichtum, im Hirn zusammengezogen,<br />

all der Energieverbrauch dieser Welthauptstädte, Theben,<br />

Rom, Paris, all das Verlangen des Priesters, Königs, Kaisers, Gottes<br />

beansprucht das ganze Reich, welches er nur durch die Versklavung<br />

der Organe erzwingt. Selbst völlig unfähig sich zu ernähren, steht das<br />

geistige Auge im Raum, aber im Besitz der unbändigen Macht, die Wille<br />

genannt wird, alles Fleisch zu unterwerfen, durch Raub an Boden und<br />

Sonnenwärme, über Feldfrüchte und Tiere, geraubt einem riesigen Reich,<br />

einer ausufernden Provinz, die ganze je bekannte Welt überziehend, alles<br />

an Brot und Fleisch verdichtet zu einem unermeßlichen Wirbelstrom,<br />

zu einem alles anziehenden Kraftzentrum, an dessen Grenzen sich die<br />

Welt spiegelt. Das P o m e r i u m , jene stadtrömische Grenze, über welche<br />

keine Waffen geführt werden durften, sodaß im Innersten, dem Sturmauge<br />

der Kultur, die Ruhe des höchsten Friedens herrschte, zerfällt mit<br />

dem Verwesen. Die Häufung des Reichtums, der sich über die Stadtmauern<br />

ergießt, ist jetzt der M a s s e a n I n d i v i d u e n preisgegeben.<br />

1 Das ist etwas gänzlich Neutrales, hier darf man nicht an moralische Fragen des<br />

Nerven-Schmerzes denken.<br />

23


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EINLEITUNG<br />

Bakterien und Milben beherrschen das neue Spiel, die züngelnden Mächte<br />

des Zufalls.<br />

Noch Mommsen hat es vermieden, seine Geschichte Roms auf die<br />

nachcäsarische Zeit auszuweiten. Heute versucht die Alte Geschichte<br />

krampfhaft die Spätantike zu einer nur etwas andersgearteten Blüte, gewissermaßen<br />

einer transformierten Klassik zu erklären, um die Beschäftigung<br />

mit ihr doch noch zu rechtfertigen. So war aller Lebenskreis nie<br />

tatsächlich geschlossen, sondern das Lebendige immer herausgezögert<br />

oder alles Tote für nichtswürdig erklärt. Wir wollen nun ertmals dieses<br />

Verweste betrachten.<br />

Nicht indem wir es in aller Verzweiflung in ein Positives zu heben<br />

suchen, die Spätantike zur Transformation erklären, das 20. Jahrhundert<br />

zur Postmoderne, überwinden wir diese Haltung – auch wollen wir es<br />

nicht als Negatives, als Entfernung von der Kultur verstehen, sondern<br />

als Hinwendung zu einem anderen, dem z w e i t e n Z u s t a n d e . Wir<br />

schließen damit den Kreis des Lebens. Wir stellen der feinen Struktur<br />

des Lebendigen das tiefe Wabern der Urkräfte gegenüber, den fruchtbaren<br />

Boden der Geschichte. Er ist ein gänzlich Anderes, als es der<br />

hochorganisierte Körper war. Er ernötigt einen neuen Begriff.<br />

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