Vier Justizmorde auf Führerbefehl - Unitas Ruhrania
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<strong>Vier</strong> <strong>Justizmorde</strong> <strong>auf</strong> <strong>Führerbefehl</strong><br />
DIE TODESURTEILE GEGEN BBR. PRASSEK, BBR. MÜLLER, HERMANN LANGE UND DIE NS-JUSTIZ<br />
VON BBR. JÜRGEN BECKER<br />
1. Justiz <strong>auf</strong> Weisung – ein<br />
Merkmal des NS-Führerstaates<br />
Den nationalsozialistischen Führerstaat<br />
prägte die Doktrin, dass der bloße Wille der<br />
Inhaber staatlicher Macht Recht schaffen<br />
konnte. In vorauseilendem Gehorsam hatten<br />
seit der Machtergreifung überall im<br />
Reich dem Führer zujubelnde organisierte<br />
Massen flehentlich gewünscht: „Führer<br />
befiehl, wie folgen Dir.“ Das war realisiert<br />
worden. Eine Hinterfragung des Befehls<br />
oder gar dessen Überprüfung war nicht<br />
vorgesehen. Ein Beispiel des Kadavergehorsams<br />
war das Schlusswort Adolf Eichmanns,<br />
ehemals SS-Obersturmbandführer<br />
und von 1941 an Leiter des Judenreferats im<br />
Reichsicherheitshauptamt, vor dem israelischen<br />
Staatsgerichtshof in Jerusalem: „Die<br />
Führerschicht, zu der ich nicht gehörte, hat<br />
die BefehIe gegeben, sie hat m. E. mit Recht<br />
Strafe verdient für die Gräuel, die <strong>auf</strong> ihren<br />
Befehl an den Opfern begangen wurden.<br />
Aber auch die Untergebenen sind jetzt Opfer.<br />
Ich bin ein solches Opfer.“<br />
So ist auch die Verurteilung der vier<br />
Lübecker Märtyrer von dem „Größten<br />
Führer aller Zeiten“ (GrÖFaZ) befohlen worden.<br />
Das beweist der Erlass des Reichsministers<br />
der Justiz vom 19. März 1943, IVg<br />
10a.4551/43g, an den Oberreichsanwalt<br />
beim Volksgerichtshof Dr. Ernst Lautz (13.<br />
November 1887 bis 22. Januar 1977): „Der<br />
Inhalt der Anklageentwürfe gegen Prassek u.<br />
And. und gegen Stellbrink ist dem Führer vorgetragen<br />
worden. Der Führer hat angeordnet,<br />
dass das Verfahren wegen der hochverräterischen<br />
Betätigung der Beschuldigten<br />
durchgeführt wird, aus der Anklage aber<br />
jene Teile herausgenommen werden, die <strong>auf</strong><br />
der Verbreitung der Predigt des Bischof von<br />
Galen basieren. ...“ 1<br />
2. Lappalien als Grundlage<br />
von Martyrium und Enthauptung<br />
der Lübecker Märtyrer<br />
1942 bis 1943<br />
Im Kern – teilweise auch im Wortlaut –<br />
übereinstimmend waren die beiden Volksgerichtshofurteile.<br />
So warf der Volksgerichtshof<br />
Johannes Prassek dessen Standpunkt<br />
vor, „daß erst die Entwicklung zeigen<br />
müsse, ob der Nationalsozialismus für das<br />
Deutsche Volk von Vorteil oder nachteilig<br />
sei ... Er stehe z. B. <strong>auf</strong> Seiten der Kirche in<br />
104<br />
unitas 2/2011<br />
der/Ablehnung des Sterilisationsgesetzes.“<br />
Anklagepunkte gegen ihn und die anderen<br />
Lübecker Märtyrer waren das wiederholte<br />
Abhören von deutschsprachigen „Nachrichten<br />
des ausländischen Rundfunks“ und<br />
das Verbreiten der Sendungen <strong>auf</strong> Gruppenabenden,<br />
die der religiösen Vertiefung der<br />
Teilnehmer dienen sollten, die Erzählung von<br />
„Gräuellügen“ und die „Hetze gegen den<br />
nationalsozialistischen Staat, und zwar<br />
durch Verteilung von Schriften“. 2<br />
Indes war das Abhören des ausländischen,<br />
meist englischen Rundfunks seinerzeit<br />
nichts Ungewöhnliches. Ähnlich wie<br />
später in der DDR war es lediglich angebracht,<br />
Informationen hierüber <strong>auf</strong> Ver-<br />
Bbr. Dr. Jürgen Becker<br />
Unser Autor, Jahrgang 1927, Rechtsanwalt<br />
aus Bocholt, schloss sich im Juni 1950 der<br />
UNITAS <strong>Ruhrania</strong> in Münster an und<br />
wurde 1956 philistriert. Im Namen des<br />
UNITAS-Verbandes, des Vororts und in<br />
eigenem Namen stellte er am 20. März<br />
des Jahres an die Staatsanwaltschaft<br />
Berlin Antrag <strong>auf</strong> förmliche Rehabilitierung<br />
der „Lübecker Kapläne“ Bbr.<br />
Johannes Prassek, Hermann Lange und<br />
Bbr. Eduard Müller. Sie wurden nach Urteilen<br />
des Volksgerichtshofs vom 22./23.<br />
Juni 1943 gemeinsam mit dem evangelischen<br />
Pastor Karl Friedrich Stellbrink am<br />
10. November 1943 durch das Fallbeil im<br />
Untersuchungsgefängnis Hamburg-<br />
Holstenglacis hingerichtet. Stellbrink<br />
war bereits im November 1933 voll rehabilitiert<br />
worden. Dies wird nach Bbr.<br />
Beckers Antrag auch für die Lübecker<br />
Kapläne noch im April erwartet.<br />
trauenspersonen zu beschranken. Die sog.<br />
Gräuellügen betrafen neben unbestrittenen<br />
Tatsachen Gerüchte vom Hören-Sagen,<br />
die in den letzten Jahren zuh<strong>auf</strong> verbreitet<br />
wurden. Streng angepasst an die o.a. Führeranordnung<br />
vom 19. März 1943 fehlten<br />
freilich in dem Urteil die in dem Entwurf<br />
der Anklageschrift enthaltenen Galen-Passagen<br />
gänzlich 3 .<br />
Jedoch war der gravierendste genannte<br />
Rechtsverstoß die „Hetze gegen den nationalsozialistischen<br />
Staat, und zwar auch<br />
durch Verteilung von Schriften...“. Ob diese<br />
„Hetze“ objektiv nachgewiesen wurde<br />
oder auch nur in einem beschränkten Umfang<br />
erkennbare Auswirkungen gehabt<br />
hatte, ist ebenso wenig festgestellt worden,<br />
wie die Frage ob und auch welche<br />
Weise dadurch „dem Kriegsfeind Vorschub<br />
geleistet und Vorbereitung zum Hochverrat<br />
begangen“ wurde oder werden konnte.<br />
Obwohl die Masse der in dem Entwurf der<br />
Anklageschrift <strong>auf</strong>geführten Hetzschriften<br />
durch Eliminierung der Galen-Predigten<br />
ersatzlos weggefallen ist, folgte der 2. Senat<br />
des Volksgerichtshofs dem <strong>Führerbefehl</strong><br />
blindlings. Dementsprechend heißt es im<br />
Urteil:<br />
„Die Angeklagten sind hartnäckige, fanatisierte<br />
und auch gänzlich unbelehrbare<br />
Hasser des nationalsozialistischen Staates. In<br />
ihrer Verblendung haben sie geglaubt, eine<br />
Kluft zwischen Staat und Volksgemeinschaft,<br />
zwischen Führung und Volk <strong>auf</strong>reißen zu<br />
können, um das Volk für ihren Kampf gegen<br />
die nationalsozialistische Führung und Regierung<br />
zu gewinnen. Der Staat ist aber<br />
heute im nationalsozialistischen Volksreich<br />
nichts mehr vom Volke Verschiedenes und<br />
wird auch vorn Volke selbst als kein besonderes<br />
Wesen, sondern als eine Form der Zusammenfassung<br />
aller Deutschen und als<br />
sichtbarer und repräsentativer Ausdruck der<br />
Gemeinschaft aller Volksgenossen empfunden.<br />
Wer den Staat angreift, kämpft damit<br />
also unmittelbar gegen die geschlossene und<br />
einige Gemeinschaft der Deutschen … Für<br />
solche Verbrecher am Volksganzen, wie die<br />
Angeklagten Prassek, Lange und Müller es<br />
sind, kann es … nur die härteste Strafe geben,<br />
die das Gesetz zum Schutze des Volkes<br />
zuläßt, die Todesstrafe. Persönliche Gründe,<br />
die eine mildere Bestrafung rechtfertigen<br />
sollen, wie zum Beispiel mannhaftes Auftreten<br />
bei dem Bombenabwurf in Lübeck,<br />
müssen da, wo es, wie hier, um den Schutz<br />
der Volksgemeinschaft geht, zurücktreten. Es<br />
ist daher gegen die genannten drei Angeklagten<br />
<strong>auf</strong> die Todesstrafe erkannt worden<br />
(§ 5 Abs. 1 KSStVO., § 73 StGB). Diesen Angeklagten<br />
sind ferner wegen der Ehrlosigkeit,
Die Urteilsschrift vom 23. Juni 1943, aus: Wer sterben kann, wer will den zwingen?, Werkheft zur Seligsprechung<br />
der Lübecker Märtyrer, hg. vom Erzbistum Hamburg, Bistum Osnabrück, Redaktion: Propst<br />
Franz Mecklenfeld, Prof. Dr. Dr. Helmuth Rolfes, Hamburg 2011, 112 Seiten.<br />
die sie bewiesen haben, die bürgerlichen<br />
Ehrenrechte <strong>auf</strong> Lebenszeit abgesprochen<br />
worden (§ 32 StGB).“ 4<br />
Damit hatte er 2. Senat des Volksgerichtshofs<br />
den Erwartungen des Führers<br />
vollends Entsprochen. Zutreffend stellt der<br />
BGH in einer vergleichbaren Verurteilung<br />
durch den Volksgerichtshof fest: „Eine besonders<br />
kritische Überprüfung von Todesurteilen<br />
ist namentlich vor dem Hintergrund<br />
der Erfahrungen mit der NS-Diktatur notwendig.<br />
Das menschenverachtende nationalsozialistische<br />
Regime wurde durch willfährige<br />
Richter und Staatsanwälte gestützt<br />
die das Recht pervertierten. Die Grausamkeit,<br />
die das Bild der Justiz in der NS-Zeit prägt,<br />
gipfelte in einem beispiellosen Mißbrauch<br />
der Todesstrafe.“ 5<br />
Auch die weiteren Ausführungen des<br />
BGH-Urteils treffen passgenau <strong>auf</strong> die<br />
Volksgerichtshofurteile gegen die Lübecker<br />
Märtyrer zu: „Hier wird das angesichts des<br />
festgestellten tatsächlichen Sachverhalts<br />
fehlende Gewicht des von einem Angeklagten<br />
verschuldeten Unrechts durch übersteigerte,<br />
nur noch propagandistisch zu verstehende<br />
Formulierungen überspielt. In<br />
einem so begründeten Todesurteil kommen<br />
schon in der Wortwahl unmissverständlich<br />
der unbedingte Wille zur physischen Vernich-<br />
tung eines politischen Gegners ohne Rücksicht<br />
<strong>auf</strong> dessen persönliche Schuld und der<br />
Wunsch nach genereller Abschreckung auch<br />
um den Preis eines Menschenlebens zum<br />
Ausdruck. Dies ist willkürliches Töten unter<br />
dem Vorwand eines justizförmigen Verfahrens.“<br />
6<br />
Dementsprechend lassen sich die<br />
Todesurteile in dem Volksgerichtshof-Urteil<br />
gegen die Lübecker Kapläne nur als willkürliche<br />
Gewaltakte gegenüber angeblichen<br />
„Volksschädlingen“ – wie die damals übliche<br />
Bezeichnung lautete – und als gewollte<br />
Schreckensherrschaft zur Unterstützung<br />
der staatlichen Machthaber durch massive<br />
Abschreckung deuten. Nicht anders beurteilt<br />
das Landgericht Berlin das weitgehend<br />
übereinstimmend begründete Urteil des<br />
Volksgerichtshofs gegen den Pastor Karl<br />
Friedrich Stellbrink eingehend, dass „es vielmehr<br />
dem Volksgerichtshof dar<strong>auf</strong> ankam,<br />
einen politisch unliebsamen, weil nicht<br />
gleich geschalteten Geistlichen unbedingt<br />
der Todesstrafe zuzuführen. Zum andern hat<br />
sich der Senat mit der Frage, ob ein minderschwerer<br />
Fall gemäß § 5 Abs. 2 KSStVO zu<br />
bejahen sei, nur insoweit beschäftigt, als er<br />
dessen Vorliegen apodiktisch verneint.“ 7<br />
3. Der faktische Stellvertreterprozess<br />
gegen Clemens August<br />
von Galen (1878 bis 1946,<br />
damals Bischof von Münster)<br />
Die „im Namen des Deutschen Volkes“<br />
ergangenen und sofort rechtskräftigen Urteile<br />
gegen die Lübecker Märtyrer zählen zu<br />
den NS-Blutjustiz-Entscheidungen, die<br />
„Schandurteile für Rechtsprechung erklärt“<br />
haben. 8 Der Prozess war ein nach 68 Jahren<br />
noch erschütterndes „abgekartetes Spiel“<br />
in einem gerichtlichen Scheinverfahren. Die<br />
Prozedur dürfte sich an folgenden Zielvorstellungen<br />
orientiert haben. Einmal sollte<br />
sie ein Schauprozess sein, um allgemein<br />
etwaige Regimezweifler nachhaltig abzuschrecken.<br />
Gleichzeitig sollten Einzelheiten<br />
geheim bleiben, um keine Unruhe bei kirchentreuen<br />
Volksgenossen hervorzurufen.<br />
Dies zeigt die Verfügung des Oberstaatsanwalts<br />
Schuberth als Leiter der Vollstreckungsbehörde<br />
bei dem Sondergericht<br />
Hamburg vom 12. November 1943. Hier wurden<br />
fünf Einzelmaßnahmen des Vollstreckungsvollzuges<br />
bezüglich Pastor Stellbrink<br />
jeweils für „geheim“ erklärt. 9<br />
Zum andern sollte dem Bischof von<br />
Münster, Clemens August von Galen, eine<br />
deutliche Warnung erteilt werden, ohne<br />
jedoch die als kirchentreu eingeschätzten<br />
Westfalen zu provozieren. Das ist zweifeifrei<br />
dokumentiert: Neben der Anklageschrift<br />
des Oberreichsanwalts beim Volksgerichtshof<br />
Dr. Ernst Lautz 10 befindet sich<br />
im Bundesarchiv ein undatierter und nicht<br />
unterschriebener offensichtlicher Entwurf >><br />
unitas 2/2011 105
der Anklageschritt vom 05. April 1943. Beide<br />
Anklageschriften unterscheiden sich deutlich.<br />
Das zeigt sich insbesondere <strong>auf</strong> Seite 12<br />
der beiden Anklageschriften in dem Abschnitt:<br />
„c. Die von dem angeschuldigten Prassek insbesondere<br />
<strong>auf</strong> den Gruppenabenden betriebene<br />
Hetzschriftenpropaganda.“<br />
Der Angeschuldigte Prassek unterstützte<br />
die von ihm betriebene Zersetzungspropaganda<br />
ferner durch die Verbreitung von<br />
Hetzschriften. Bei dieser Hetzschriftenpropaganda,<br />
vor allem bei der Beschaffung<br />
und Vervielfältigung der Schriften, arbeitete<br />
er eng mit den Mitangeschuldigten Lange<br />
und Müller zusammen.<br />
Bei den von dem Angeschuldigten<br />
Prassek verbreiteten Schriften handelt es sich<br />
insbesondere um die Flugblätter:<br />
1. „Programmpunkte der Nationalen<br />
Reichskirche Deutschlands“,<br />
2. „Predigt des Bischofs von Münster vom<br />
13. Juli 1941“,<br />
3. „Predigt des Bischofs von Münster vom<br />
20. Juli 1941“,<br />
4. „Predigt des Bischofs von Münster vom<br />
03. August 1941“,<br />
5. „Hirtenbrief des Bischofs von Münster<br />
vom 14. September 1941“,<br />
6. „Auszug aus der Rede des Erzbischofs von<br />
Freiburg am Dreifaltigkeitssonntag 1941“,<br />
7. „I. Priester der Erzdiozöse Posen“ sowie<br />
um<br />
8. einen Abdruck des „Erlasses des Bayerischen<br />
Staatsministeriums für Unterricht<br />
und Kultus vom 28. August 1941<br />
über die Entfernung der Kruzifixe aus<br />
den Schulen“.<br />
Die Ziffern 2. bis 5. mit ihren Bezügen<br />
zum Bischof von Münster fehlen hingegen<br />
gänzlich in der unterschriebenen Anklageschrift<br />
vom 05. April 1943. Dort heißt es vielmehr<br />
1. „Programmpunkte der Nationalen<br />
Reichskirche Deutschlands“,<br />
2. „Auszug aus der Rede des Erzbischofs von<br />
Freiburg am Dreifaftigkeitssonntag 1941“.<br />
3. „I. Priester der Erzdiozöse Posen“ sowie<br />
um<br />
4. einen Abdruck des „Erlasses des Bayerischen<br />
Staatsministeriums für Unterricht<br />
und Kultus vom 28. August 1941<br />
über die Entfernung der Kruzifixe aus<br />
den Schulen“.<br />
Damit war die Anklageschrift vom 05.<br />
April 1943 von allen detaillierten Angaben<br />
über die Galen-Predigten und deren Ver-<br />
106<br />
unitas 2/2011<br />
breitung in Lübeck und über Lübeck hinaus<br />
bereinigt. 11<br />
Hitler selbst hatte die Regie geführt.<br />
Nachvollziehbar kommentiert Peter Voswinckel<br />
diesen Vorgang folgendermaßen:<br />
„Und so wurden rund 150 Zeilen aus den Entwürfen<br />
eliminiert und die Leerstellen ohne<br />
Rücksicht <strong>auf</strong> Syntax und Grammatik verklammert<br />
... Nichts fürchtete offenbar Hitler,<br />
der nach dem Stalingrad-Desaster jeden<br />
inneren Aufruhr vermeiden mußte, mehr, als<br />
daß der „Löwe von Münster“ sich öffentlich<br />
<strong>auf</strong>opfern konnte, etwa nach dem Motto<br />
„Nehmt mich für die vier Lübecker!“ ... Eine<br />
Brüskierung mit unabsehbaren Folgen!“ 12<br />
4. Immer wieder der lrrglaube<br />
des juristischen Positivismus<br />
Naturgemäß drängt sich die Frage <strong>auf</strong>,<br />
wie die Pervertierung des Rechtsdenkens<br />
und der Rechtssprechung nach 1933 so<br />
schnell und so leicht möglich war. 13 Indes<br />
beherrschte der juristische Positivismus das<br />
Denken der Juristen vom 1933 weitgehend. 14<br />
Nach der NS-Machtergreifung gehörte die<br />
Obrigkeitshörigkeit zur Staatsdoktrin. Im<br />
Urteil gegen die drei katholischen Seelsorger<br />
wird das <strong>auf</strong> folgende Weise verdeutlicht:<br />
„Wer den Staat angreift, kämpft damit<br />
also unmittelbar gegen die geschlossene und<br />
einige Gemeinschaft der Deutschen.“ Hinzu<br />
kamen Fanatismus und Karrierestreben.<br />
Das Ausschlaggebende aber war auch<br />
in der Rechtswissenschaft die „Verengung<br />
der Vernunft <strong>auf</strong> die Wahrnehmung des<br />
Quantitativen“, so Joseph Ratzinger in einem<br />
Vortrag an der Katholischen Universität<br />
Eichstätt 1987, wiedergegeben in einem<br />
Aufsatz von Prof. Dr. Lothar Roos aus dem<br />
Jahr 2000. 15 Bbr. Roos fragt, was aber dem<br />
entgegenzusetzen sei. Zur Antwort verweist<br />
er <strong>auf</strong> anthropologische Grundlagen<br />
des moralischen Naturgesetzes, konkret <strong>auf</strong><br />
die Enzyklika „Deus caritas est“. Dort bekräftigt<br />
Benedikt XVI. als erste Grundlage<br />
des natürlichen Sittengesetzes „... dass der<br />
Imperativ der Nächstenliebe vom Schöpfer in<br />
die Natur des Menschen selbst eingeschrieben<br />
ist.“<br />
Die beiden zugrunde liegenden Volksgerichtshofurteile<br />
haben keine auch nur<br />
ansatzweise Verbindung zu diesem natürlichen<br />
Sittengesetz. Aber nicht ohne Anlass<br />
verweist Bbr. Lothar Roos in seinem Beitrag<br />
<strong>auf</strong> den Vortrag von Kardinal Joseph Ratzinger,<br />
wenige Wochen vor seiner Wahl zum<br />
Papst, über „Europa in der Krise der Kulturen“.<br />
Danach besteht der Kern dieser Krise<br />
dann, dass den „wachsenden Möglichkeiten“<br />
der Herrschaft des Menschen über<br />
sich selbst „keine entsprechende Entwicklung<br />
unserer moralischen Kraft“ gegenüberstehe.<br />
Von einer gegenwärtigen Bedeutungslosigkeit<br />
des juristischen Positivismus<br />
kann deshalb nicht die Rede sein.<br />
5. Versagen der bundesrepublikanischen<br />
Gesetzgebung und<br />
Strafrechtsprechung gegenüber<br />
der NS-Unrechtsjustiz<br />
Durften Deutsche und Siegermächte<br />
nach dem militärischen, politischen, wirtschaftlichen<br />
und geistigen Zusammenbruch<br />
des NS-Regimes erwarten, dass<br />
Gesetzgebung und Rechtssprechung der<br />
Bundesrepublik Deutschland eine Selbstreinigung<br />
auch der NS-Justizverbrechen<br />
vornehmen würden, so blieb eine solche<br />
jahrzehntelang aus. 16 Offensichtlich erst,<br />
nachdem die Kollegen der NS-Richter aus<br />
ihren demokratischen Richterämtern sowie<br />
die NS-Beamten aus ihren leitenden Staatsämtern<br />
altershalber ausgeschieden waren,<br />
wendete sich das Blatt: Der BGH, das höchste<br />
deutsche Strafgericht, überprüfte<br />
Todesurteile vor dem Hintergrund der Erfahrungen<br />
mit der NS-Diktatur besonders<br />
kritisch. „Die Grausamkeit, die das Bild der<br />
Justiz in der NS-Zeit prägt, gipfelte in einem<br />
beispiellosen Missbrauch der Todesstrafe ...<br />
Die Erkenntnis, dass eine Todesstrafe nur<br />
dann als nicht rechtsbeugerisch anzusehen<br />
ist, wenn sie der Bestrafung schwersten<br />
Unrechts dienen sollte, hätte in einer Vielzahl<br />
von Fällen zur Verurteilung von Richtern und<br />
Staatsanwälten des nationalsozialistischen<br />
Gewaltregimes führen müssen. Derartige<br />
Verurteilungen gibt es trotz des tausendfachen<br />
Missbrauchs der Todesstrafe, namentlich<br />
in den Jahren 1939 bis 1945, nur in sehr<br />
geringer Zahl. Die vom Volksgerichtshof<br />
gefällten Todesurteile sind ungesühnt geblieben,<br />
keiner der am Volksgerichtshof tätigen<br />
Berufsrichter und Staatsanwälte wurde<br />
wegen Rechtsbeugung verurteilt; ebensowenig<br />
Richter der Sondergerichte und der<br />
Kriegsgerichte. Einen wesentlichen Anteil an<br />
dieser Entwicklung hatte nicht zuletzt die<br />
Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs.“ 17<br />
Bereits im Herbst 1945 forderte der alliierte<br />
Kontrollrat, Unrechtsurteile des Hitler-<br />
Regimes <strong>auf</strong>zuheben, die aus politischen,<br />
rassischen oder religiösen Gründen erfolgt<br />
waren (Proklamation Nr. 3 vom 20. Oktober<br />
1945). Voraussetzung eines Rehabilitationsverfahrens<br />
war jedoch auch hier schon<br />
immer eine Einzelfallprüfung. Eine solche<br />
erwies sich häufig als unmöglich, weil<br />
Akten der Gerichtsverfahren vernichtet<br />
waren, In anderen Fallen versäumten die<br />
Opfer oder deren Anverwandte einen Antrag<br />
weil sie nichts von der Möglichkeit<br />
eines Rehabilitationsverfahrens wussten<br />
oder keinen Sinn dann sahen. Letzteres war<br />
offensichtlich auch bei den Verwandten der<br />
drei katholischen Geistlichen der Fall.<br />
Erst das am 01. September 1998 in Kraft<br />
getretene Gesetz zur Aufhebung nationalsozialistischer<br />
Unrechtsurteile in der Strafrechtspflege<br />
vom 25. August 1998 (BGBl. I S.<br />
2501), geändert durch das Gesetz vom 24.<br />
September 2009 (BGBI. I S. 3150), hob gene-
ell und pauschal verurteilende strafgerichtliche<br />
Entscheidungen <strong>auf</strong>, „die unter<br />
Verstoß gegen elementare Gedanken der<br />
Gerechtigkeit nach dem 30. Januar 1933 zur<br />
Durchsetzung oder Aufrechterhaltung des<br />
nationalsozialistischen Unrechtsregimes aus<br />
politischen, militärischen, rassischen, religiösen<br />
oder weltanschaulichen Gründen ergangen<br />
sind (§ 1 NS-AufhG)“.<br />
Nicht rehabilitiert waren damit die<br />
Politiker, die diese überfällige Entscheidung<br />
64 Jahre hinausgezögert hatten. Zur ergänzen<br />
bleibt, dass die Hinterbliebenen der<br />
Täter staatlicherseits komfortabel beamtenmäßig<br />
versorgt wurden. Eine vergleichbare<br />
staatliche Fürsorge für die Hinterbliebenen<br />
von Opfern der NS-Unrechtsjustiz<br />
fehlte hingegen. Gleichwohl ist die<br />
Bundesrepublik Deutschland ein sowohl<br />
vitaler als auch zukunftsträchtiger demokratischer<br />
und sozialer Bundesstaat (Art. 20<br />
Abs. 1 GG) geworden. Aber Wachsamkeit ist<br />
ein Preis der Freiheit. Denn „jus est vigilantibus“<br />
– Das Recht gehört den Wachsamen,<br />
sagten schon die Römer. Das Gedenken an<br />
die vier ökumenischen Lübecker Märtyrer<br />
vermag uns immer wieder wach zu halten.<br />
Anmerkungen:<br />
1 Peter Voswinkel, Geführte Wege, Kevelaer<br />
2010, Butzon & Bercker, S. 193<br />
2 S. 2 ff d. Urteils<br />
3 vgl. S. 8 f des Urteils<br />
4 S. 16 bis 18 des Urteils<br />
5 Urteil vom 16. November 1995 – 5 StR<br />
747/94, Rd.Nr, 37<br />
6 BGH-Urteil vom 16. November 1995 – 5<br />
StR 747/94, Rd.Nr. 52<br />
7 Urteil des Volksgerichtshofs gegen den<br />
Pastor Karl Friedrich Stellbrink, 8 J 319/42<br />
g, 2 H 64/43, u.a., Beschluss wegen Rehabilitation<br />
vom 05. November 1993, 517 AR<br />
11/93 (2 P Aufh. 2/93)<br />
8 Günter Spendel, Rechtsbeugung durch<br />
Rechtsprechung, Verlag: Walter de<br />
Gruyter, 1984, S. 3<br />
9 Peter Voswinkel a.a.O., S. 139<br />
10 geb. 13. November 1887, gest. 22. Januar<br />
1977, Anklageschrift vom 05. April 1943,<br />
8 J 382/42g<br />
11 Erlass des Reichsministers der Justiz vom<br />
29. März 1943, IV g 10a.4551/43e, betreffend<br />
Strafsache gegen Prassek u. And., s.o.<br />
12 Peter Voswinckel, a.a.O., S. 129; S. 8 des<br />
Urteils, s.o.<br />
13 so auch Günter Spendel, a.a.O., S. 5<br />
14 ebd., S. 7<br />
15 Bbr. Prof. Dr. Lothar Roos: „Die Schöpfung<br />
als Gabe Gottes und Aufgabe des Menschen“,<br />
in: unitas 2/2000, S. 92 ff.<br />
16 so auch Günter Spendel, a.a.O., S. 10<br />
17 ebd., S. 3, 13, 17, 69 f; BGH, Urteil vom 16. November<br />
1995,5 StR 747/94, Rd.Nr. 37, 38, 78<br />
DOKUMENTIERT: „Wir sind Amboss!“<br />
Am 20. Juli 1941 predigte Münsters<br />
Bischof Clemens August von Galen<br />
in der Überwasserkirche in Münster.<br />
Er nannte zahlreiche Beispiele für<br />
die Terrorhandlungen der Gestapo<br />
und deutete mit dem Bild vom<br />
Amboss und Hammer an, dass er<br />
dem Naziregime keine dauerhafte<br />
Macht beschieden sah.<br />
„ …. Gewiß, wir Christen machen keine<br />
Revolution! Wir werden weiter treu unsere<br />
Pflicht tun im Gehorsam gegen Gott, aus<br />
Liebe zu unserem deutschen Volk und<br />
Vaterland. Unsere Soldaten werden kämpfen<br />
und sterben für Deutschland, aber nicht<br />
für jene Menschen, die durch ihr grausames<br />
Vorgehen gegen unsere Ordensleute, gegen<br />
ihre Brüder und Schwestern, unsere<br />
Herzen verwunden und dem deutschen<br />
Namen vor Gott und den Mitmenschen<br />
Schmach antun. Wir kämpfen tapfer weiter<br />
gegen den äußeren Feind. Gegen den Feind<br />
im Innern, der uns peinigt und schlägt, können<br />
wir nicht mit Waffen kämpfen. Es bleibt<br />
uns nur ein Kampfmittel: starkes, zähes,<br />
hartes Durchhalten!<br />
Hart werden! Fest bleiben! Wir sehen<br />
und erfahren jetzt deutlich, was hinter den<br />
neuen Lehren steht, die man uns seit einigen<br />
Jahren <strong>auf</strong>drängt, denen zuliebe man<br />
die Religion aus den Schulen verbannt hat,<br />
unsere Vereine unterdrückt hat, jetzt katholische<br />
Kindergärten zerstören will: abgrundtiefer<br />
Haß gegen das Christentum,<br />
das man ausrotten möchte. (…)<br />
Hart werden! Fest bleiben! Wir sind in<br />
diesem Augenblick nicht Hammer, sondern<br />
Amboß. Andere, meist Fremde und Abtrünnige,<br />
hämmern <strong>auf</strong> uns, wollen mit<br />
Gewaltanwendung unser Volk, uns selbst,<br />
unsere Jugend neu formen, aus der geraden<br />
Haltung zu Gott verbiegen.<br />
Wir sind Amboß und nicht Hammer!<br />
Aber seht einmal zu in der Schmiede! Fragt<br />
den Schmiedemeister und laßt es euch von<br />
ihm sagen: Was <strong>auf</strong> dem Amboß geschmiedet<br />
wird, erhält seine Form nicht nur vom<br />
Hammer, sondern auch vom Amboß. Der<br />
Amboß kann nicht und braucht auch nicht<br />
zurückzuschlagen, er muß nur fest, nur hart<br />
sein! Wenn er hinreichend zäh, fest, hart ist,<br />
dann hält meistens der Amboß länger als<br />
der Hammer. Wie heftig der Hammer auch<br />
zuschlägt, der Amboß steht in ruhiger<br />
Festigkeit da und wird noch lange dazu dienen,<br />
das zu formen, was neu geschmiedet<br />
wird. – Was jetzt geschmiedet wird, das<br />
sind die zu Unrecht Eingekerkerten, die<br />
schuldlos Ausgewiesenen und Verbannten.<br />
Gott wird ihnen beistehen, daß sie Form<br />
und Haltung christlicher Festigkeit nicht<br />
verlieren, wenn der Hammer der Verfolgung<br />
sie bitter trifft und ihnen ungerechte<br />
Wunden schlägt. (…)<br />
Wir sind Amboß nicht Hammer! Ihr<br />
könnt eure Kinder, das Edle, aber noch<br />
ungehärtete und ungestählte Rohmetall,<br />
leider den Hammerschlägen der Glaubensfeindlichkeit,<br />
der Kirchenfeindlichkeit nicht<br />
entziehen. Aber auch der Amboß formt mit.<br />
Laßt euer Elternhaus, laßt eure Elternliebe<br />
und -treue, laßt euer vorbildliches Christenleben<br />
der starke, zähe, feste und unerschütterliche<br />
Amboß sein, der die Wucht der<br />
feindlichen Schläge <strong>auf</strong>fängt, der die noch<br />
schwache Kraft der jungen Menschen<br />
immer wieder stärkt und befestigt in dem<br />
heiligen Willen, sich nicht verbiegen zu lassen<br />
aus der Richtung zu Gott. (…)<br />
Wir sind zur Zeit Amboß, nicht<br />
Hammer! Bleibt stark und fest und unerschütterlich<br />
wie der Amboß bei allen<br />
Schlägen, die <strong>auf</strong> ihn niedersausen; in treuestem<br />
Dienst für Volk und Vaterland, aber<br />
auch stets bereit, in äußerstem Opfermut<br />
nach dem Wort zu handeln:„Man muß Gott<br />
mehr gehorchen als den Menschen!“ Durch<br />
das vom Glauben geformte Gewissen<br />
spricht Gott zu jedem von uns. Gehorcht<br />
stets unweigerlich der Stimme des Gewissens.<br />
Nehmt euch zum Beispiel und Vorbild<br />
jenen preußischen Justizminister der alten<br />
Zeit – ich habe ihn früher schon einmal<br />
erwähnt – dem einst sein König Friedrich<br />
der Große das Ansinnen stellte, er solle sein<br />
gesetzmäßig gefälltes Gerichtsurteil nach<br />
dem Wunsche des Monarchen umstoßen<br />
und abändern. Da hat dieser echte Edelmann,<br />
ein Herr von Münchhausen, seinem<br />
König die prachtvolle Antwort gegeben:<br />
„Mein Kopf steht eurer Majestät zur Verfügung,<br />
aber nicht mein Gewissen!“ Er wollte<br />
damit sagen: Ich bin bereit, für meinen<br />
König zu sterben, ja ich würde im Gehorsam<br />
sogar den Tod von Henkershand annehmen.<br />
Mein Leben gehört dem König, nicht mein<br />
Gewissen; das gehört Gott! Ist das<br />
Geschlecht solcher Edelleute, die so gesinnt<br />
sind und so handeln, sind die preußischen<br />
Beamten dieser Art ausgestorben? Gibt es<br />
nicht mehr Bürger und Bauern, Handwerker<br />
und Arbeiter von gleicher Gewissenhaftigkeit<br />
und gleichem Edelmut?<br />
Das kann, das will ich nicht glauben!<br />
Und darum noch einmal: Werdet hart!<br />
Werdet fest! Bleibt standhaft, wie der<br />
Amboß unter den Hammerschlägen! Es<br />
kann sein, daß der Gehorsam gegen Gott,<br />
die Treue gegen das Gewissen mir oder<br />
euch das Leben, die Freiheit, die Heimat<br />
kostet. Aber: „Lieber sterben als sündigen!“<br />
Möge Gottes Gnade, ohne die wir nichts<br />
vermögen, euch und mir diese unerschütterliche<br />
Festigkeit geben und erhalten! …“<br />
unitas 2/2011 107<br />
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