17.01.2013 Aufrufe

PDF-Version - Williams-Beuren-Syndrom-Deutschland e.V.

PDF-Version - Williams-Beuren-Syndrom-Deutschland e.V.

PDF-Version - Williams-Beuren-Syndrom-Deutschland e.V.

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Die Autoren/innen:<br />

Das <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> - Eine Einführung<br />

2. Auflage, Oktober 1999<br />

Luise, 2 Jahre<br />

Dr. Klaus Sarimski, Dipl. Psychologe am Kinderzentrum München, Mitglied des Wissenschaftlichen<br />

Beirats des WBS-Bundesverbandes<br />

Elisabeth und Peter Haller (Beamtin / EDV - Organisator), Eltern von drei Töchtern, die jüngste (6<br />

Jahre) weist das WBS auf<br />

Benedita Frericks (Dipl. Sozialarbeiterin) und Horst Romm (Dipl. Biologe), Eltern von zwei<br />

Töchtern, die jüngere (2,5 Jahre) weist das WBS auf; Ansprechpartner der WBS - Regionalgruppe<br />

Bayern-Süd.<br />

Wir danken Herrn Dr. Rainer Pankau, St. Bernward Krankenhaus, Hildesheim, Mitglied des Wissenschaftlichen<br />

Beirats des WBS - Bundesverbandes, für seine Mitwirkung.<br />

Bedanken möchten wir uns auch bei den Familien, die uns bei der Erstellung dieser Broschüre<br />

unterstützt und Fotos der Kinder zur Verfügung gestellt haben.<br />

Der Druck der Broschüre wurde mit Zuschüssen der Bayerischen Stiftung für Kriegsopfer und<br />

Behinderte finanziert und von der Ulenspiegel Druck und Verlag GmbH, Andechs, auf 100 %<br />

Recycling Papier hergestellt.<br />

© 2000 bei Regionalgruppe Bayern-Süd, alle Rechte vorbehalten<br />

Titelbild: Gesa, 2 Jahre<br />

1


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

INHALTSVERZEICHNIS: Seite<br />

1. Diagnose „<strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong>“ 2<br />

2. Besonderheiten in der Entwicklung 3<br />

• Essen, Schlafen und andere praktische Dinge ... 3<br />

• Spielen, Lernen und Sprechen 4<br />

• Soziale Integration - Stärken der Kinder und Risiken 6<br />

3. Hilfen und Ansprechpartner 7<br />

• Bundesverband <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> 7<br />

• Pflegeversicherung 7<br />

• Leistungen nach dem Schwerbehindertengesetz 8<br />

• Frühförderung 8<br />

• Logopädie 9<br />

• Ergotherapie 9<br />

• Montessori - Einzeltherapie 9<br />

• Musikalische Förderung 10<br />

• Familienentlastende Dienste 10<br />

• Kindergarten 10<br />

• Situation der Geschwisterkinder 11<br />

4. Das <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> 11<br />

• Erforschung des <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong>s 11<br />

• Körperliche Merkmale 12<br />

5. WBS im Internet 15<br />

6. Schlußwort 15<br />

7. Glossar 16<br />

1


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

1. Diagnose "<strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong>"<br />

Vielleicht haben auch Sie als Eltern eines Kindes mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> nach der Mitteilung<br />

der Diagnose nach einem medizinischen Lehrbuch gegriffen, um nach der Erklärung, die Ihnen Ihr/-e<br />

Kinderarzt/-ärztin oder Humangenetiker/-in gegeben hat, noch einmal nachzulesen, worum es sich<br />

eigentlich handelt.<br />

Wahrscheinlich haben Sie eine Beschreibung etwa der folgenden Art gefunden: typische<br />

Gesichtsdysmorphien ("Elfengesicht"), supravalvuläre Aortenstenose oder Pulmonalstenose, oft<br />

infantile Hyperkalzämie in den ersten Lebensjahren, verlangsamtes Körperwachstum, auditive<br />

Hypersensibilität, auffällig tiefe und rauhe Stimme, Hypotonie, mentale Entwicklung verlangsamt, in<br />

der Regel im Bereich der Lernbehinderung oder geistigen Behinderung.<br />

Die Mitteilung, daß das eigene Kind keine vorübergehende Entwicklungsverzögerung, sondern eine<br />

dauerhafte, genetisch bedingte und mit einem <strong>Syndrom</strong>namen benannte Entwicklungsbesonderheit<br />

hat, verändert die Lebensperspektive betroffener Eltern schlagartig und unumkehrbar. Sie löst eine<br />

Flut von aufwühlenden Gefühlen aus: Enttäuschung, daß die mit der Freude auf das Kind<br />

verbundenen Hoffnungen auf eine unbeschwerte Entwicklung sich nicht erfüllen werden, Trauer,<br />

Zorn, warum die Diagnose gerade sie und niemand anderen trifft, Zweifel, ob sie der<br />

Herausforderung der Erziehung eines Kindes mit besonderen Bedürfnissen werden gerecht werden<br />

können, Sorgen, welche Veränderungen das für die Partnerschaft und die Beziehungen zu<br />

Verwandten und Freunden bedeuten wird ...<br />

Je nach eigener Entwicklung und der individuellen Erfahrung, wie sie mit belastenden Situationen im<br />

Leben fertig werden, werden Mütter und Väter, die mit dieser Situation konfrontiert sind, sich in<br />

ihren Reaktionen auf diese Gefühle unterscheiden. Der eine wird zunächst Zeit und Raum brauchen,<br />

um alle diese übermächtigen Emotionen zulassen zu können, der andere wird sich dem Partner oder<br />

Freunden anvertrauen können, der dritte wird rasch nach Wegen suchen, wie er die Entwicklung des<br />

Kindes fördern und damit die gemeinsame Zukunft wieder "in die eigene Hand nehmen" kann. Jede<br />

dieser Reaktionen kann für den einen oder anderen ganz passend sein - es gibt keinen "richtigen"<br />

Weg, eine Situation zu bewältigen, die so vieles in der eigenen Lebensperspektive verändert. Wichtig<br />

ist, daß Sie beide voneinander wissen, was im anderen vorgeht, und respektieren können, daß Sie in<br />

dieser besonderen Situationen unterschiedliche Wege zum gleichen Ziel gehen können - wieder ein<br />

Gleichgewicht für sich und Ihre Familie zu finden, das Sie mit Ihrer Lebenssituation zufrieden sein<br />

läßt.<br />

Ein Schritt der Auseinandersetzung mit der Realität der Diagnose ist es, ein realistisches Bild über<br />

die Entwicklungsbesonderheiten des Kindes zu gewinnen und um die Möglichkeiten zu wissen, wie<br />

Eltern ihr Kind auf dem Weg zu seiner individuellen Persönlichkeit mit Stärken und Schwächen und<br />

harmonischen sozialen Beziehungen unterstützen können. Als Grundlage für diesen Prozeß möchten<br />

wir einige Erfahrungen über die Besonderheiten der Entwicklung von Kindern und Jugendlichen mit<br />

<strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> zusammenstellen, die Eltern dabei helfen können, die besonderen<br />

Bedürfnisse ihres Kindes zu verstehen.<br />

Das Wissen um die Gemeinsamkeiten von Kindern mit "<strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong>" kann somit für<br />

Eltern wichtig sein. Es darf und soll aber nicht den Blick für die individuellen Besonderheiten des<br />

jeweils eigenen Kindes verstellen; jedes Kind hat seine eigene Persönlichkeit, die von vielen<br />

Einflüssen geprägt wird, unter der die chromosomale Besonderheit, die zum "<strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<br />

<strong>Syndrom</strong>" führt, nur einer ist. Zudem darf und soll es nicht das Zutrauen in die eigenen intuitiven<br />

Fähigkeiten beeinträchtigen, das in vielen Situationen den angemessenen Weg - nicht anders als bei<br />

Kindern mit sogenannter "normaler genetischer Ausstattung" - weisen wird.<br />

2


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

2. Besonderheiten in der Entwicklung<br />

Essen, Schlafen und andere praktische Dinge ...<br />

Viele Eltern von kleinen Kindern mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> berichten, daß ihre Kinder sehr<br />

schwierig zu füttern seien. Es esse oder trinke nicht genug und erbreche häufig die Nahrung. Bei<br />

einer Teilgruppe kann diese Phase mit einem erhöhten Kalziumgehalt im Blut (Hyperkalzämie)<br />

einhergehen. Wenn eine Blutuntersuchung dies bestätigt, sollte Ihr Kind evtl. für einige Zeit eine<br />

kalziumarme Diät halten. Dies und weitere Behandlungsmöglichkeiten sollten Sie mit Ihrem<br />

Kinderarzt besprechen. Eine Hyperkalzämie nach dem zweiten Lebensjahr wird kaum beobachtet.<br />

Die Ursache der erhöhten Werte im Blut ist unbekannt.<br />

Bei anderen Kindern findet sich keine eindeutige Ursache. Vielleicht ist es dann tröstlich zu wissen,<br />

daß die Eßprobleme in den allermeisten Fällen mit der Zeit nachlassen. Schwierigkeiten bereitet oft<br />

noch der Übergang zum Kauen fester Nahrung. Hier ist oft sehr viel Geduld nötig. Es braucht viele,<br />

für das Kind möglichst kaum wahrnehmbare Zwischenschritte, damit es sich an festere Konsistenzen<br />

gewöhnen kann. So haben viele Eltern die Hürde überwunden, indem sie in den Brei immer mehr<br />

kleine Bröckchen untergemengt haben. Oft kann eine Krankengymnastin oder Logopädin dabei<br />

helfen, die Erfahrungen hat mit der Mundtherapie nach Bobath oder Castillo-Morales.<br />

Auf jeden Fall ist es sehr wichtig, nicht durch vermehrten Druck (forciertes Füttern) eine größere<br />

Nahrungsaufnahme oder das Schlucken festerer Kost zu erzwingen, denn dadurch kann es zu einer<br />

sehr ungünstigen Verkopplung der Essenssituation mit unangenehmen Erfahrungen für das Kind<br />

kommen, die das Problem langfristig eher verfestigt als löst.<br />

Bei einigen Kindern führt die heikle Essenssituation in den ersten beiden Lebensjahren und die<br />

Schwierigkeit des Übergangs zu fester Nahrung dazu, daß sie auch im späteren Kindesalter sehr<br />

wählerisch beim Essen sind und nur wenige Lieblingsgerichte zu sich nehmen. Dies ist ein Problem,<br />

das auch viele Eltern anderer Kinder kennen. Ob Sie es verändern möchten, hängt u.a. davon ab,<br />

wieviel Gewicht Sie ihm beimessen. Wenn Sie möchten, daß Ihr Kind sich auf eine breitere Auswahl<br />

von Gerichten einläßt, bedarf es klarer Absprachen mit ihm und konsequentes Einhalten von Regeln.<br />

Wenn Sie darauf bestehen, daß es immer zunächst eine kleine Portion von dem akzeptiert, was es<br />

eigentlich ablehnt, bevor es etwas von dem bekommt, was es gern mag, wird es sich allmählich an die<br />

anderen Geschmacksrichtungen gewöhnen lernen.<br />

Ähnlich gilt es, konsequent zu sein im Umgang mit Schlafschwierigkeiten. Auch dies ist vielen<br />

anderen Eltern ebenso vertraut. Der Anteil der Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong>, die Ein- und<br />

Durchschlafschwierigkeiten haben, scheint jedoch noch etwas größer zu sein als üblich, ohne daß der<br />

Grund dafür bisher klar ist. Wie bei anderen Kindern auch, ist zu empfehlen, daß die Eltern einen<br />

festen Schlafrhythmus für ihre Kinder festlegen und abendliche Zu-Bett-Geh-Rituale (z.B. eine<br />

Geschichte vorzulesen oder ein Lied zu singen) einführen. Wenn dann Zeit zum Schlafen ist, sollten<br />

Sie dem Kind dies eindeutig sagen und das Zimmer verlassen. Wenn es danach wieder aus dem Bett<br />

zu Ihnen kommt, bringen Sie es strikt und ohne viel Worte zurück in sein Bett und verlassen Sie den<br />

Raum sofort wieder.<br />

Wenn es in der Nacht aufwacht und weint oder nach Ihnen ruft, dann vergewissern Sie sich, daß alles<br />

in Ordnung ist, sagen ihm dann, daß es weiter schlafen solle und verlassen den Raum wieder. Wenn<br />

Sie unsicher sind, wie Sie mit Schlafschwierigkeiten umgehen können, empfiehlt es sich, sich bei<br />

Fachleuten zu informieren. Vielleicht finden Sie das kleine Buch "Mein Kind will nicht schlafen"<br />

(Douglas & Richman, Fischer, Stuttgart 1989) ebenso nützlich wie viele andere Eltern.<br />

Eß- und Schlafprobleme sind Beispiele dafür, daß die gleichen erzieherischen Vorgehensweisen bei<br />

Kindern mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> wirken, die sich auch bei anderen - behinderten und nichtbehinderten<br />

- Kindern bewährt haben. Ihr Kind lernt aus Ihrer Klarheit und Eindeutigkeit, was Sie<br />

von ihm möchten. Das gilt auch für viele andere Beispiele der praktischen Erziehung - die<br />

Sauberkeitsförderung, das selbständige Essen oder An- und Ausziehen. Jedes dieser Ziele ist zu<br />

3


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

erreichen, ohne daß es spezialisierter Trainingsprogramme bedarf. Statt dessen braucht es eine<br />

Entscheidung, was Ihnen zunächst wichtiger ist und was noch Zeit hat - damit Sie sich nicht mit<br />

vielen Anforderungen auf einmal verzetteln und sich und Ihr Kind unter Druck setzen -,<br />

systematisches Vorgehen, eine gute Portion Geduld, bis Ihr Kind die entsprechende Fertigkeit<br />

beherrschen wird. Wahrscheinlich ist es dann schon ein Stück älter als andere Kinder, entscheidend<br />

ist aber, daß es schließlich das gelernt hat, was es selbständig und unabhängig vom Erwachsenen sein<br />

läßt - und daß Sie es Ihrem Kind beigebracht haben.<br />

Manchmal kann es gut tun, sich bei einem/r erfahrenen Heilpädagogen/in, Ergotherapeuten/in oder<br />

Psychologen/in Rat zu holen, wie eine praktische Fertigkeit am besten geübt werden kann; manchmal<br />

können diese auch spezielle Vorschläge zu Übungsmaterialien (z.B. Übungsrahmen zum Knöpfen<br />

oder Schleifen binden aus dem Montessori-Material) machen.<br />

Spielen, Lernen und Sprechen<br />

Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> sind nicht einfach Kinder mit einem verlangsamten Lern- und<br />

Entwicklungstempo. Vielen von ihnen sind spezielle Stärken und Schwächen und<br />

Verhaltensbesonderheiten gemeinsam. Um sie im Alltag zu Hause und später in Kindergarten und<br />

Schule angemessen fördern zu können, ist es wichtig, um diese Besonderheiten zu wissen. Fachleute<br />

nennen das den "Verhaltensphänotyp".<br />

Viele Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> sind sehr neugierig und daran interessiert, Dinge<br />

auszuprobieren. So können sie sich Spielfähigkeiten und praktische Fähigkeiten oft gut aneignen,<br />

haben aber Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren und ihre große Aktivität zu steuern. Das hat auch<br />

zur Folge, daß ihnen die Organisation von komplexeren Handlungen, bei denen sie einen Schritt nach<br />

dem anderen machen müssen, oft schwer fällt. Dazu kommt, daß sie überempfindlich sind für ganz<br />

alltägliche Geräusche. So werden sie leicht abgelenkt, z.B. wenn draußen ein Flugzeug vorbei fliegt<br />

oder irgendwo ein Telefon klingelt oder ein Staubsauger angestellt wird; dies ist manchmal so<br />

irritierend für sie, daß sie in Panik geraten können; auf jeden Fall stört es sie dabei, aufmerksam<br />

zuzuhören oder sich auf eine Aufgabe zu konzentrieren.<br />

Für diese Lernschwierigkeiten gibt es keine einfache Lösung. Pädagogen haben gute Erfahrungen<br />

damit gemacht, wenn sie Tätigkeiten, die das Kind sich aneignen soll, sehr überschaubar, mit immer<br />

dem gleichen Ablauf vormachen; die Umgebung so vorbereiten, daß sich das Kind in einer festen<br />

Ordnung zurechtfinden kann; das Kind merkt, daß es dort - aber auch nur dort - die Hilfe des<br />

Erwachsenen bekommt, wo es nicht selbst zum Ziel kommt; und es lernt, daß es wichtig ist,<br />

begonnene Handlungen auch bis zum eigentlichen Ziel zu Ende zu führen. Es handelt sich dabei um<br />

Prinzipien der Montessori - Pädagogik.<br />

Lernpsychologen haben auch gezeigt, daß Kinder lernen können, ihre Konzentrationsfähigkeit durch<br />

Selbstinstruktionen zu verbessern. Das heißt, sie lernen am Modell des Erwachsenen, wie er sich<br />

selbst "laut denkend" Aufgaben stellt, den nächsten Schritt plant, sich an sorgfältiges Arbeiten<br />

erinnert, bis sie dieses Vorgehen dann selbst übernehmen und verinnerlichen können. Diese Strategie<br />

ist für Schulkinder gut geeignet, läßt sich aber auch schon bei jüngeren Kindern anbahnen.<br />

Weil es Kindern mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> offensichtlich schwerer fällt als anderen, sich zu<br />

konzentrieren und ihre Überaktivität zu steuern - obwohl sie es möchten -, ist es wichtig, ihre<br />

Aufmerksamkeitsspanne nicht zu überfordern und die Anforderung an Stillsitzen, ruhiges Arbeiten<br />

etc. in kleinen Schritten zu steigern. Immer wenn es einige Minuten an einer Tätigkeit "gearbeitet"<br />

hat, braucht es zum Ausgleich wieder etwas Zeit für Entspannung oder seine Lieblingsbeschäftigung<br />

- und sei es, den Arbeitern auf der Baustelle vor dem Fenster zuzuschauen. Das heißt aber auch, daß<br />

Erzieher und Lehrer sich in ihrer pädagogischen Arbeit auf die Besonderheiten von Kindern mit<br />

<strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> einstellen müssen. Das geht oft leichter in kleineren Gruppen, wie sie in<br />

integrativen Kindergärten oder Schulklassen gegeben sind.<br />

4


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Natürlich zeigen auch Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> ihren Zorn, wenn ihnen etwas nicht<br />

gelingt, sie nicht die Aufmerksamkeit finden, die sie im jeweiligen Moment suchen oder ihnen etwas<br />

verwehrt wird, was sie sich wünschen. Solche Situationen treten wahrscheinlich nicht öfter und nicht<br />

seltener auf als in der Erziehung von Kindern mit sogenannten "normaler genetischer Ausstattung".<br />

Sie erfordern auch die gleiche konsequente Reaktion des Erwachsenen. Aggressives Verhalten<br />

gegenüber anderen Kindern und Erwachsenen in solchen Situationen zu tolerieren, ist bei Kindern<br />

mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> genauso wenig angebracht wie unangemessene Nachgiebigkeit.<br />

Soziale Integration heißt auch, mit solchen Situationen so fertigzuwerden lernen, daß kein Anderer in<br />

seiner Toleranz überfordert wird. Auch dem Kind mit einer Behinderung muß klarwerden, daß der<br />

Erwachsene auf seinem "Nein" besteht und es vielleicht aus dem Zimmer weist, bis es sich wieder<br />

beruhigt hat. Natürlich ist es wichtig, daß der Erwachsene jeweils herauszufinden versucht, was das<br />

Kind so in Aufregung versetzt - vielleicht kann er bei künftigen Gelegenheiten eine Situation anders<br />

gestalten oder früher helfend eingreifen, bevor es zu dem zornigen Ausbruch kommt.<br />

Die Gründe für die Überempfindlichkeit für Lärm und Geräusche sind noch nicht restlos aufgeklärt;<br />

einige Hinweise sprechen dafür, daß es sich um Besonderheiten der Reizweiterleitung im Gehirn<br />

handelt, so daß den Kindern Geräusche sehr unangenehm sein können. Damit die Kinder lernen<br />

können, mit den störenden Geräuschen besser fertigzuwerden, lassen sich Gewöhnungsprogramme<br />

einsetzen. Die Fachleute nennen das "Desensibilisierung". So sind die Geräusche z.B. für das Kind<br />

leichter auszuhalten, wenn es die Geräuschquelle kennt und u.U. selbst beeinflussen kann. Die Angst<br />

vor dem Staubsauger wird z.B. kleiner, wenn das Kind ihn viele Male selbst an- und ausgeschaltet<br />

hat. Ein anderer Weg ist, Geräusche, die das Kind ängstigen, mit einem Cassetten - Recorder<br />

aufzunehmen. Es kann dann selbst an- und ausschalten und die Lautstärke des Geräusches kann<br />

schrittweise gesteigert werden, bis das Kind sich an diesen Reiz gewöhnt hat.<br />

Bei vielen Kindern mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> wird mit der Zeit auch ein spezifisches<br />

Fähigkeitsprofil sichtbar, das sich von anderen Kindern mit Entwicklungsverlangsamungen<br />

unterscheidet. Sie haben große Schwierigkeiten, sich die räumliche Anordnung von Einzelheiten<br />

klarzumachen und etwas nachzubauen oder nachzuzeichnen; dagegen fällt es ihnen leichter, sich<br />

Einzelheiten zu merken und Dinge oder Gesichter wiederzuerkennen, die sie einmal gesehen haben.<br />

Fachleute sprechen im ersten Fall von visuell - räumlichen Wahrnehmungsschwierigkeiten. Da sie im<br />

Schulalter z.B. beim Erlernen des Schreibens ein großes Handicap darstellen, sollte die Förderung<br />

dieses Entwicklungsbereiches im Rahmen einer Ergotherapie im Kindergartenalter systematisch<br />

beginnen. Der/die Therapeut/-in kann mit ihrem Kind eine Vielzahl von Übungen machen, die seine<br />

Vorstellung für räumliche Zusammenhänge und Anordnungen schult; allerdings wird es meist nicht<br />

gelingen, diese anlagebedingte Schwäche gänzlich auszugleichen. Im späteren Alter zeigt sich<br />

deshalb oft, daß Menschen mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> oft recht gut lesen können - dies kommt<br />

ihrer Fähigkeit zur Erfassung von visuellen Einzelheiten entgegen -, aber große Schwierigkeiten beim<br />

selbständigen Schreiben haben.<br />

Ein weiteres Entwicklungsmerkmal stellt eine sich meist gut entwickelnde sprachliche<br />

Ausdrucksfähigkeit dar. Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> beginnen zwar meist später zu<br />

sprechen als andere Kinder. Wenn sie aber die ersten Worte erworben haben, vollziehen sich die<br />

weiteren Sprachentwicklungsstufen oft parallel zu dem Entwicklungsverlauf gleichaltriger Kinder.<br />

Sie entwickeln häufig einen breiten und differenzierten Wortschatz, können flüssige Sätze bilden und<br />

beeindrucken ihre Umgebung oft durch ein besonderes Talent zu farbigem Erzählen von<br />

Begebenheiten.<br />

Allerdings zeigt eine genauere Beobachtung des Kindes oft, daß es Ausdrücke und Wendungen<br />

benutzt, deren Bedeutung es nicht immer verstanden hat, und daß es ihm schwerfällt, auf Fragen<br />

oder Themen des Gesprächspartners angemessen einzugehen. Sie sind sehr am Kontakt und an der<br />

Kommunikation mit dem Erwachsenen interessiert, so daß sie unaufhörlich sprechen und Fragen<br />

oder Lieblingssätze vielfach wiederholen, ohne daß jedoch wirklich ein Gespräch zustandekommt.<br />

5


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Die Entwicklung der Verständigungs- und Sprachfähigkeit kann von Anfang an unterstützt werden,<br />

indem Sie als Eltern darauf achten, jeweils das aufzugreifen und zu benennen, was gerade das<br />

Interesse Ihres Kindes weckt. Dabei fällt es ihm leichter, die Bedeutung der Wörter zu verstehen und<br />

zu verarbeiten, wenn Sie sich auf wenige und prägnante Wörter konzentrieren statt längere<br />

Kommentare zu machen. Auch empfiehlt es sich, das Sprachverständnis immer wieder zu überprüfen<br />

und zu üben, indem Sie Ihrem Kind kleine Aufträge geben, die es ausführen soll, und dann langsam<br />

zu längeren Instruktionen übergehen. Wenn Ihr Kind in einzelnen Situationen unangemessen reagiert,<br />

kann es vielleicht daran liegen, daß es den Sinn Ihrer Äußerung doch nicht ganz verstanden hat;<br />

prüfen Sie das, indem Sie sie vereinfachen und verkürzen. Immer wiederkehrende Lieblingsfragen<br />

und -themen sollten Sie nicht noch verstärken, indem Sie jeweils auf das Kind eingehen; manchmal<br />

kann es besser sein, seine Äußerung zu ignorieren und es dann durch eine Frage oder einen Hinweis<br />

auf ein konkretes neues Thema umzulenken.<br />

Um diese Unterschiede zwischen eigenem Formulierungsvermögen und unvollständigem Verständnis<br />

bei vielen Kindern mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> zu wissen, ist auch für Erzieher und Lehrer<br />

wichtig. Allzu leicht können sie das Kind überfordern, indem sie ihre Aufgaben an seinem -<br />

anscheinend altersgemäßen - sprachlichen Ausdrucksvermögen orientieren.<br />

Soziale Integration - Stärken der Kinder und Risiken<br />

Die Beobachtungen zur Spachentwicklung zeigen, daß Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> sehr<br />

kontaktfreudig sind. Sie gehen rasch auf Erwachsene zu und sprechen sie an. Neben der sprachlichen<br />

Ausdrucksfähigkeit bringen sie noch andere Stärken für die Entwicklung sozialer Beziehungen mit.<br />

So beschreiben viele Eltern ihre Kinder als besonders teilnahmsvoll, sensibel für Stimmungen und<br />

hilfsbereit.<br />

Diese sozialen Verhaltensweisen bergen aber auch Risiken und negative Seiten. So kennen viele<br />

Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> kaum Hemmungen und Distanz und nähern sich auch fremden<br />

Personen vertrauensvoll, sprechen sie an, gehen auch unbedenklich mit, wenn sie jemand einlädt. Sie<br />

müssen von frühem Kindesalter an soziale Regeln lernen, welche Verhaltensweisen in der jeweiligen<br />

Situation angemessen sind. So müssen sie z.B. strikt angehalten werden, im Restaurant oder im Bus<br />

nicht fremden Leuten auf den Schoß zu klettern oder sie wahllos anzusprechen. Ein solches<br />

ungehemmtes Verhalten kann bei kleinen Kindern niedlich und einladend sein, wird bei einem älteren<br />

Schulkind dagegen sehr unangebracht wirken und seine soziale Integration stören. Zudem ist nicht<br />

auszuschließen, daß seine Arglosigkeit von einem Erwachsenen mißbraucht werden könnte.<br />

Die besondere Sensibilität hat ihr Gegenstück in einer oft übertriebenen Besorgtheit. Viele Eltern<br />

beschreiben, daß ihr Kind sich ängstigen läßt durch unbekannte Situationen, Sorgen anderer Leute<br />

oder mögliche Unglücke und viel Beruhigung und Trost sucht. So sehr es auch Anspruch hat, in<br />

seiner Feinfühligkeit ernstgenommen zu werden, ist es doch wichtig, es unterscheiden lernen zu<br />

lassen, wo und wieviel Sorge angebracht ist. Das kann bedeuten, daß der Erwachsene seine<br />

Aufmerksamkeit für dieses Verhalten des Kindes kontrollieren muß und ihm auch zumuten muß, daß<br />

sein Bedürfnis nach Trost nur begrenzt erfüllt und dann das Thema gewechselt wird.<br />

Kontaktfreude und Besorgtheit sind gute Voraussetzungen für die Entwicklung sozialer<br />

Beziehungen. Die dauerhafte Gestaltung einer Freundschaft mit gleichaltrigen Kindern ist jedoch eine<br />

sehr komplexe Angelegenheit und für viele Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> schwierig.<br />

Miteinander zu spielen und Freizeit zu verbringen, will auch gelernt sein. Eltern und Erzieher/-innen<br />

können schon im Kindergartenalter die sozialen Fähigkeiten des Kindes fördern, z.B. indem sie<br />

andere Kinder einladen und gemeinsam Regel- und Brettspiele spielen oder auch mit dem Kind<br />

Rollenspielszenen planen. Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> brauchen sozusagen innere<br />

"Drehbücher" für komplexe Situationen, an denen sie sich orientieren und für die konkrete Situation<br />

dann instruieren können, was zu tun ist.<br />

6


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Soziales Lernen gelingt natürlich leichter, wenn das Kind zu Hause mit Geschwisterkindern spielen<br />

kann. Darüber hinaus ist es aber von frühem Kindesalter an wichtig, das Kind in soziale Gruppen zu<br />

integrieren. An vielen Orten bestehen Spielgruppen für sehr kleine Kinder und integrative<br />

Kindergarten-Einrichtungen.<br />

Im Schulalter muß sorgfältig abgewogen werden, wo das Kind die seinen Möglichkeiten und<br />

speziellen Lernbedürfnissen angemessene schulische Förderung erhalten kann. Viele Kinder sind zu<br />

schulischen Leistungen auf Grundschulniveau fähig, brauchen aber sonderpädagogische Hilfen und<br />

lernzieldifferenten Unterricht. Andere Kinder sind aber mit integrativem Unterricht überfordert und<br />

brauchen mehr sonderpädogigsche Hilfen. In welcher Form dies angeboten wird, ist von Bundesland<br />

zu Bundesland unterschiedlich. Nicht für jedes Kind kann aber die integrative Beschulung der<br />

richtige Weg sein. Entsprechend müssen in diesem Alter alle außerschulischen Möglichkeiten<br />

aufgespürt werden, die ein Zusammenspiel behinderter und nicht-behinderter Kinder erlauben; dies<br />

können Sportvereine ebenso sein Freizeittreffs und Begegnungsstätten der sog. "offenen<br />

Behindertenhilfe". Es ist wichtig zu sehen, daß nicht alle Menschen mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

Schwierigkeiten haben, Freunde zu gewinnen und Freundschaften aufrechtzuerhalten. Ihre<br />

Warmherzigkeit und Kontaktfreude, aber auch spezielle - vor allem musikalische - Talente, über die<br />

viele Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> verfügen, öffnen ihnen viele Türen.<br />

3. Hilfen und Ansprechpartner<br />

Bundesverband <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> e.V.<br />

Der Bundesverband wurde im November 1989 von betroffenen Eltern als überregionale<br />

Selbsthilfegruppe gegründet, in der rund 350 Mitglieder eingetragen sind. Ihm ist ein Wissenschaftlicher<br />

Beirat mit Sitz in der Kinderklinik des St. Bernward Krankenhauses (Pilotprojekt der<br />

Weltgesundheitsorganisation; Treibestr. 9, 31134 Hildesheim, Tel.: 05121/901700, Fax:<br />

05121/901703) angegliedert.<br />

In unregelmäßigen Abständen (etwa drei- bis viermal jährlich) wird die Verbandszeitschrift<br />

"Umschau“ herausgegeben, in der aktuelle Themen (Pflegeversicherung, Betreuungsgesetz, aktueller<br />

Stand der Forschung) und Beiträge der Mitglieder und Regionalgruppen veröffentlicht werden.<br />

Alle drei Jahre findet ein vom Bundesverband organisierter bundesweiter mehrtägiger Kongreß statt.<br />

Die einzelnen Regionalgruppen veranstalten teilweise Jahrestagungen und bieten<br />

Kontaktmöglichkeiten für betroffene Familien.<br />

Verbandsmitglieder werden auf Wunsch durch psychologische und sozialrechtliche Beratung<br />

unterstützt.<br />

Die Adresse der Geschäftsstelle: Bornkamp 5a, 23795 Fahrenkrug<br />

Tel: 04551/6493, Fax: 04551/93967<br />

Pflegeversicherung<br />

Sie können für Ihr Kind einen Antrag auf Leistungen nach dem Pflegeversicherungsgesetz bei der<br />

Pflegekasse Ihrer Krankenkasse stellen. Innerhalb des 1. Lebensjahres wird ein Antrag in der Regel<br />

mit der Begründung abgelehnt, daß die Versorgung des betreffenden Kindes nicht aufwendiger ist als<br />

bei einem nicht behinderten, gleichaltrigen Kind. Bei älteren Kindern ist der Mehraufwand in der<br />

Betreuung deutlich erhöht, so daß Anträgen überwiegend entsprochen und die Pflegestufe 1 oder 2<br />

festgesetzt wird.<br />

Während der Begutachtung Ihres Kindes durch eine/n Mitarbeiter/in des Medizinischen Dienstes<br />

Ihrer Krankenkasse kann es hilfreich sein, wenn eine außenstehende Person (z.B. Fachkräfte von der<br />

7


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Frühförderung) anwesend ist. Sie kann die Probleme Ihres Kindes oft unparteiischer und somit<br />

deutlicher darstellen.<br />

Sie können die Leistungen entweder als finanzielle Unterstützung, als Sachleistung (d.h. in Form von<br />

Betreuungs- bzw. Pflegeperson) oder als Mischform (anteilig Geld- + Sachleistung in einem vorher<br />

festzulegenden Verhältnis) in Anspruch nehmen. Zusätzlich übernimmt die Pflegeversicherung auf<br />

Antrag unter bestimmten Voraussetzungen die Zahlung von Rentenversicherungsbeiträgen.<br />

Weiterführende Informationen hierzu erhalten Sie durch Ihre Krankenkasse.<br />

Wird Ihrem Antrag nicht stattgegeben, können Sie innerhalb der gesetzten Frist einen Widerspruch<br />

einlegen. Der Bundesverband <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> e.V. bietet Rechtsberatung an.<br />

Leistungen nach dem Schwerbehindertengesetz<br />

Die staatliche Förderung erfolgt im Rahmen des Gesetzes zum Nachteilsausgleich für<br />

Schwerbehinderte. Alle Leistungen und Erleichterungen werden nur auf Antrag gewährt und sind<br />

abhängig vom Grad der Behinderung, der durch das Versorgungsamt festgestellt wird. Einen Antrag<br />

auf Feststellung von Behinderungen und des Grades der Behinderung nach dem<br />

Schwerbehindertengesetz können Sie beim Amt für Versorgung und Familienförderung<br />

(Versorgungsamt) für Ihr Kind stellen.<br />

Grundlagen für die Bewertung sind in der Regel die bereits erstellten Anamnesen und Untersuchungsergebnisse<br />

der behandelnden Ärzte. Eine Untersuchung bei einem Arzt mit guter Kenntnis<br />

des <strong>Syndrom</strong>s ist empfehlenswert. Abschließend werden Sie mit Ihrem Kind vermutlich zu einer<br />

amtsärztlichen Untersuchung ins Gesundheitsamt einbestellt. Da WBS recht selten auftritt und auch<br />

in Fachkreisen nur begrenzt bekannt ist, kann es sinnvoll sein, zu dieser Untersuchung<br />

Informationsmaterial mitzubringen.<br />

Wird Ihrem Antrag entsprochen, erhält Ihr Kind einen Schwerbehindertenausweis und Sie können in<br />

folgenden Bereichen eine entsprechende Berücksichtigung erwarten:<br />

1. Einkommens- und Lohnsteuerermäßigung durch Pauschbeträge und Anerkennung von<br />

außergewöhnlichen Belastungen bei der Kinderbetreuung, des Kindertransportes, der<br />

Haushaltshilfe oder Heimunterbringung.<br />

2. Kraftfahrzeugsteuerbefreiung für ausschließlich für/durch den Behinderten genutzten Fahrzeuge.<br />

3. Freifahrten im öffentlichen Nahverkehr<br />

4. Preisermäßigung in verschiedenen Einrichtungen (Zoo, Kino etc.).<br />

Die genannten Leistungen können zum Teil rückwirkend bis zum Eintreten der Behinderung (d.h. bei<br />

Kindern, die das <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> aufweisen, bis zum Geburtsjahr) beantragt werden.<br />

Für Rückfragen und detailliertere Auskünfte wenden Sie sich an die jeweiligen Ämter oder an den<br />

Bundesverband für Körper- und Mehrfachbehinderte e.V., Brehmstr. 5 -7, 40239 Düsseldorf,<br />

Stichwort Steuermerkblatt, der Ihnen zum Selbstkostenpreis von 3,- DM (in Briefmarken beifügen)<br />

das „Steuermerkblatt für Eltern mit behinderten Kindern“ zuschickt.<br />

Frühförderung<br />

Um gute Förderungsmöglichkeiten für Ihr Kind zu erreichen ist es sinnvoll, sich möglichst früh an<br />

eine Frühförderstelle in Ihrem Wohnumfeld oder an das nächstliegende sozialpädiatrische Zentrum zu<br />

wenden, da die Wartezeiten zwischen 3 und 6 Monaten betragen können. Die zuständige Stelle<br />

erfahren Sie über die betreuende Kinderklinik, den/die Kinderarzt/ärztin, das zuständige<br />

Landratsamt, die Wohlfahrtsverbände (Caritas, Diakonie), die Lebenshilfe e.V. oder über den<br />

bundesweit geltenden Frühförderstellenführer (kostenlos zu beziehen beim Bundesministerium für<br />

Arbeit und Sozialordnung, Rochusstr. 1, 53123 Bonn, Tel.:0228/527 - 0).<br />

8


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Dort können Krankengymnastik, Heilpädagogik, Ergotherapie und/oder Montessoritherapie sowie<br />

Logopädie durchgeführt werden. Die Art der Behandlung, die für Ihr Kind angemessen ist, wird<br />

beim Erstbesuch durch das betreuende Team in Zusammenarbeit mit dem/r betreuenden<br />

Kinderarzt/ärztin empfohlen. Je nach den speziellen Erfordernissen kann auch an niedergelassene<br />

Therapeuten überwiesen werden.<br />

Wenn Ihr Kind schon einen Kindergarten besucht, kann ggfs. dort die Frühförderung durchgeführt<br />

werden.<br />

Die Kosten der Frühförderung werden - je nach Maßnahme - von der Krankenkasse bzw. vom<br />

Sozialhilfeamt nach dem Bundessozialhilfegesetz (§ 39 Abs.1, 2 sowie § 40 Abs.1 Nr. 2a BSHG)<br />

übernommen. Die Kosten für die Behandlung in einem sozialpädiatrischen Zentrum erstattet die<br />

Krankenkasse.<br />

Logopädie<br />

Bei vielen Kindern treten Trink- und Eßprobleme im Zusammenhang mit Schluckschwierigkeiten auf.<br />

Außerdem wird häufig ein leicht geöffneter Mund beobachtet. Durch eine logopädische Behandlung<br />

(z.B. Orofaciale - Therapie nach Castillo Morales) kann die Mundmotorik verbessert und die<br />

genannten Probleme vermindert bzw. behoben werden.<br />

Die späteren sprachlichen Fähigkeiten werden als relativ gut bezeichnet. Die Sprachentwicklung ist<br />

jedoch in der Regel verzögert und kann durch Logopädie positiv beeinflußt werden.<br />

Beziehen Sie auch hier längere Wartezeiten auf einen Behandlungsplatz (je nach Problematik bis zu 1<br />

Jahr) in Ihre Überlegungen und Planungen ein.<br />

Ergotherapie<br />

Ergotherapie ist eine medizinisch - pädagogische Behandlung. Sie kann wirksam eingesetzt werden,<br />

um durch spielerische Übungen<br />

• die Grob- und Feinmotorik zu fördern<br />

• die Wahrnehmungs-, Konzentrations- sowie Koordinationsfähigkeit zu schulen<br />

• die zielgerichtete Durchführung von Handlungsabläufen zu trainieren.<br />

Ergotherapie kann ein Bestandteil der Frühförderung sein (abhängig von der personellen Ausstattung<br />

der Frühförderstelle). Sie wird aber auch von niedergelassenen Ergotherapeuten/innen durchgeführt.<br />

Die Kostenübernahme erfolgt (über Rezept) durch die Krankenkasse.<br />

Montessori - Einzeltherapie<br />

In den vorbereiteten Spielsituationen nach Montessori gelingt es, die kindliche Aufmerksamkeit auf<br />

eine bestimmte Tätigkeit zu lenken und gemeinsam mit dem Kind gezielt die verschiedenen Abläufe<br />

einer Handlung (Vorbereitung, Durchführung, Aufräumen) in einem überschaubaren Rahmen zu<br />

üben. Innerhalb dieser Lernsituation erhält das Kind Orientierung durch bestimmte<br />

Ordnungsprinzipien und erfährt Sicherheit durch die Gewißheit, daß es die Hilfe, die es tatsächlich<br />

benötigt, durch den Erwachsenen erhält.<br />

Diese Förderung ist insbesondere für unruhige, leicht ablenkbare Kinder geeignet.<br />

Es gibt jedoch nur wenige Montessori - Einzeltherapeuten/innen. Weitere Informationen können Sie<br />

über die Montessori - Abteilung im Kinderzentrum München erhalten.<br />

Die Kostenübernahme erfolgt bei niedergelassenen Therapeuten/innen über das Sozialhilfeamt nach<br />

dem BSHG. Hierzu ist jedoch eine besondere Begründung erforderlich.<br />

9


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Musikalische Förderung<br />

Kinder, die WBS aufweisen, sind in der Regel sehr musikalisch und lernen Lieder und Instrumente<br />

sehr gut nach Gehör, ohne Noten lesen zu können. Daher bietet es sich an, diese Fähigkeiten<br />

möglichst frühzeitig zu fördern, gerade auch unter dem Gesichtspunkt, daß das Musizieren mit<br />

anderen die Integration erleichtern kann. Die Musikschulen bieten z.B. den sogenannten<br />

„Musikgarten“ an, der für Kinder ab 18 Monate gedacht ist. Hier wird das Interesse der Kinder an<br />

Musik durch gemeinsames singen und spielen aufgegriffen und gefördert.<br />

Ebenso werden mit der Orff - Musiktherapie, die z.B. in sozialpädiatrischen Zentren angeboten wird,<br />

gute Erfolge erzielt.<br />

In Amerika hat man sehr positive Erfahrungen mit der Suzuki - Methode und Karaoke - Tonbändern<br />

gemacht.<br />

Es ist ratsam, ein Musikinstrument für das Kind auszuwählen, das vorwiegend als Soloinstrument<br />

geeignet ist (z.B. alle Tasteninstrumente).<br />

Familienentlastende Dienste<br />

Für Ihre eigene Entlastung bzw. Erholung und/oder die Ihrer Familie, können Sie unterschiedliche<br />

Angebote nutzen:<br />

• Zivildienstleistende (z.B. über Kirchengemeinde), die stundenweise zu Ihnen nach Hausekommen.<br />

• Stundenweise Betreuung in Kleinkindergruppen, die von den Kirchen, Gemeinden und<br />

Nachbarschaftshilfen organisiert werden.<br />

• Mutter - Kind - Kuren (falls erforderlich kann hier der Wissenschaftlichen Beirat, Kinder-klinik St.<br />

Bernward, Hildesheim Unterstützung bieten)<br />

• Erholungsaufenthalte für Familien (mit stundenweiser Kinderbetreuung), die auch speziell für<br />

Familien mit behinderten Kindern angeboten werden.<br />

In Bayern führt z.B. die Bildungs- und Erholungsstätte Langau (86989 Steingaden, Tel.:<br />

08862/9102-0, FAX: 08862/9102-28) derartige Freizeiten durch.<br />

• Kurzzeitpflege: Möchten Sie ohne Ihr Kind in Urlaub fahren, wird es dort für die Dauer Ihres<br />

Urlaubes betreut. Zur Klärung der etwaigen Übernahme anfallender Kosten setzen Sie sich mit<br />

Ihrer Krankenkasse (Pflegekasse) in Verbindung.<br />

Eine Übersicht über familienentlastende Dienste bietet die Bundesvereinigung Lebenshilfe e.V. an<br />

(Referat Familie und Fachfragen, Raiffeisenstr.18, 35043 Marburg Tel.: 06421/491 -186), die auch<br />

für weiterführende Fragen zur Verfügung steht.<br />

Kindergarten<br />

Bei der Wahl des Kindergartens sollten Sie u.a. folgende Kriterien berücksichtigen:<br />

• Wohnortnähe (Vermeidung weiter Fahrwege; Förderung der Freundschaften, die im Kindergarten<br />

entstehen)<br />

• angemessene Gruppengröße (Integrationsgruppen in Kindergärten sind deutlich kleiner als<br />

Regelgruppen, z.B. 15 statt 25 Plätze)<br />

• unterschiedliche Ausrichtungen, z.B. Montessori-, Waldorfpädagogik, heilpädagogische<br />

Tagesstätte, schulvorbereitende Einrichtungen<br />

In integrativen Einrichtungen und heilpädagogischen Tagesstätten werden die erforderlichen<br />

Therapien in der Regel während der Anwesenheit des Kindes durch die entsprechenden Fachkräfte<br />

abgedeckt.<br />

Die Kostenübernahme erfolgt in der Regel durch das Sozialhilfeamt nach § 39 BSHG.<br />

10


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Situation der Geschwisterkinder<br />

Die Behinderung Ihres Kindes stellt an Ihre Zeit und Energie (z.B. durch viele Arzt- und Therapietermine)<br />

erhöhte Anforderungen. Ihr Kind erhält von Ihnen, auch wenn Sie es nicht beabsichtigen,<br />

intensivere Zuwendung. Gleichzeitig sind Sie durch die vermehrten Sorgen oft angespannt.<br />

Diese Veränderungen registrieren und spüren Ihre anderen Kinder sehr genau.<br />

Um Ihre Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, werden sie - je nach Alter - unterschiedliche Strategien<br />

entwickeln, die Sie u.U. als unangemessen und störend empfinden.<br />

Sie können die Belastung der Geschwisterkinder mindern, indem Sie z.B.<br />

• ihnen möglichst frühzeitig kindgerecht einige Besonderheiten der Behinderung erklären,<br />

• mit ihnen besondere Aktivitäten unternehmen, während Ihr behindertes Kind parallel durch eine<br />

andere Person betreut wird (s. auch „Familienentlastende Dienste“).<br />

Befragte Kinder, deren Geschwister das <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> aufweisen, geben an, daß sich für<br />

sie eine Belastung ergibt durch<br />

• die Bevorzugung des behinderten Kindes durch Eltern und Großeltern,<br />

• eine zeitlich deutlich längere Phase der Unordnung/Spielstörung als bei nichtbehinderten<br />

(jüngeren) Geschwistern,<br />

• die hin und wieder vorkommende Isolation (z.B. durch Hänseln), die durch andere Kinder u. a.<br />

am Spielplatz entsteht.<br />

Sie weisen aber auch darauf hin, daß die genannten Negativwirkungen oft durch das liebevolle und<br />

einfühlsame Verhalten der Geschwister kompensiert werden.<br />

Die Thematik der Geschwisterkindersituation wird u.a. in dem Buch „`.... und um mich kümmert sich<br />

keiner´ - Die Situation der Geschwister behinderter Kinder“ von Ilse Achilles aufgegriffen<br />

(erschienen in der Serie Piper, 1995).<br />

In den letzten Jahren haben verschiedene Einrichtungen die Problematik erkannt und führen spezielle<br />

Veranstaltungen für Geschwisterkinder durch, in denen ihnen Unterstützung angeboten und eine<br />

tabufreie Kommunikation über diese Thematik ermöglicht wird (z. B. die Bildungs- und<br />

Erholungsstätte Langau in Oberbayern und das Nils-Stensen-Haus in Lilienthal bei Bremen).<br />

4. Das <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong><br />

Erforschung des <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong>s<br />

Unabhängig voneinander beschreiben Anfang der 60er Jahre der neuseeländische Kardiologe Dr.<br />

<strong>Williams</strong> und der deutsche Herzspezialist Prof. <strong>Beuren</strong> ein <strong>Syndrom</strong> aus supravalvulärer<br />

Aortenstenose, mentaler Retardierung und besonderen Gesichtszügen.<br />

Seit 1990 wird international davon ausgegangen, daß das WBS spontan mit einer Häufigkeit von<br />

1:10.000 bis 50.000 auftritt. In <strong>Deutschland</strong> kann man demnach die Anzahl der Betroffenen auf rund<br />

1600 bis 8200 Personen schätzen. Hiervon sind derzeit etwa 350 - überwiegend Kinder und<br />

Jugendliche - im WBS - Bundesverband organisiert. Insgesamt sind verhältnismäßig wenig<br />

Erwachsene mit WBS bekannt, was aber nicht heißt, daß es sie nicht gibt. Die Lebenserwartung von<br />

Personen mit WBS erscheint derzeit in der Regel als normal. Eine Ursache für die geringe Anzahl an<br />

bekannten Erwachsenen mit WBS ist vermutlich, daß sie als Kinder vor 20 und mehr Jahren häufig<br />

noch nicht spezifisch diagnostiziert wurden. Bei einer Geburtenrate von jährlich rund 765.000<br />

Kindern in <strong>Deutschland</strong> kann angenommen werden, daß pro Jahr etwa 15 bis 75 Kinder mit WBS<br />

geboren werden.<br />

Angesichts des in den letzten Jahren langsam wachsenden Bekanntheitsgrades durch zunehmende<br />

Forschungsaktivitäten werden Neuerkrankungen jetzt besser erkannt. Das Wissen über das <strong>Syndrom</strong><br />

nimmt seit einigen Jahren deutlich zu, dies zeigt sich auch im der Anzahl aktueller<br />

Veröffentlichungen (1966 -1979: 22, 1980 -1989: 97, 1990 - 1996: >160).<br />

11


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Erst seit 1993 ist die genetische Ursache für das WBS bekannt. Zuerst konnte nachgewiesen werden,<br />

daß es zwischen der supravalvulären Aortenstenose und dem Elastin-Gen auf dem Chromosom 7<br />

einen Zusammenhang gibt. Dann wurde bei 9 WBS-Patienten der Verlust (Deletion) des Elastin-<br />

Gens auf dem Chromosom 7 festgestellt und damit die Entstehung des <strong>Syndrom</strong>s erklärt. Durch<br />

mehrere anschließende Studien konnte 1995 nachgewiesen werden, daß es mit einem<br />

molekularbiologischen Test in 95% aller Fälle möglich ist, die klinische Diagnostik zu bestätigen.<br />

Es wird heute davon ausgegangen, daß bei nahezu allen Personen mit WBS auf einem Chromosom 7<br />

genetisches Material verloren gegangen ist. Diese sogenannte Deletion im Bereich des langen Armes<br />

von Chromosom 7 (auch als 7q11.23 bezeichnet) entsteht in der Regel spontan während der Meiose<br />

bei der Bildung der Keimzellen eines Elternteils (Spermium bzw. Eizelle). Hierauf haben die Eltern in<br />

keinster Weise einen Einfluß. Grundlage für den Verlust des Chromosomenmaterials ist ein alter,<br />

evolutionär auf Zellebene gewachsener Prozeß der Paarung und Neukombination identischer<br />

Chromosomen, der hier durch eine ungleiche Neukombination zu dem Verlust mehrerer benachbarter<br />

Gene auf dem 7er Chromosom führt. Da diese Spontanmutation sehr selten vorkommt, ist es<br />

entsprechend unwahrscheinlich, daß eine Familie 2 Kinder mit WBS hat (Ausnahme: eineiige<br />

Zwillinge) oder die Geschwister ebenfalls Kinder mit WBS haben werden. Anders sieht es für die<br />

WBS-Person aus, hier beträgt bei einer Nachkommenschaft ein Wiederholungsrisiko von 50%.<br />

Zur Zeit arbeiten mehrere Arbeitsgruppen an der Frage, wie groß die Lücke auf dem Chromosom 7<br />

ist, welche und wieviele Gene betroffen sind und in welchem Maße die Deletion variieren kann.<br />

Inzwischen geht man davon aus, daß etwa 15 benachbarte Gene verloren gegangen sind. Viele<br />

Anzeichen sprechen dafür, daß das Vorhandensein von nur einer Kopie der Gene in diesem Bereich<br />

für eine normale Entwicklung nicht ausreicht. Das Fehlen dieser Gene auf einem Chromosom führt<br />

zu dem charakteristischem Aussehen und Verhalten der Kinder mit WBS. Von dem Elastin-Gen wird<br />

vermutet, daß es als Bindegewebeprotein bei den Gefäßverengungen und -veränderungen beteiligt<br />

ist, und der Mensch anscheinend auf beiden 7er Chromosomen intakte Gene benötigt, um unter<br />

anderem Elastin in ausreichender Menge zu bilden.<br />

Von einer Erklärung der anderen typischen Merkmale bei WBS ist man noch weit entfernt. Von drei<br />

Genen (LIM-Kinase1, FZD3 und WSCR1) wird angenommen, daß sie im Gehirn aktiv sind und seine<br />

Entwicklung und Funktion beeinflussen könnten. Möglicherweise übt ein Enzym (LIM-Kinase1) bei<br />

der eingeschränkten Fähigkeit des räumlichen Sehens eine bedeutende Funktion aus. Es wird<br />

vermutet, daß der Verlust von einem anderen Gen (STX IA) zu einigen Verhaltensmerkmalen wie<br />

Ängstlichkeit und Hyperaktivität beiträgt. Von einigen anderen Genen (wie z.B. RFC2, das für ein<br />

Eiweiß kodiert, das bei der Verdoppelung der DNS von Bedeutung ist) ist unklar, in welcher Weise<br />

sie zum <strong>Syndrom</strong> beitragen.<br />

Unabhängig von der erst vor kurzem begonnen genetischen Grundlagenforschung zeigen in den<br />

letzten Jahren mehrere Forschungsfachrichtungen Interesse an einer genaueren Analyse der<br />

besonderen phänotypischen Merkmale der Individuen mit WBS. Als Beispiel sei auf die Studien zur<br />

geistigen Entwicklung dieser Kinder hingewiesen, die immer wieder ein Leistungsprofil mit<br />

individuellen Leistungsstärken (z.B. Sprache, Musikalität), aber auch Leistungsschwächen (z.B.<br />

Rechnen, Zeichnen) zeigen (in diesem Zusammenhang wird auch von geistiger Asymmetrie<br />

gesprochen).<br />

Körperliche Merkmale<br />

Wenn die Diagnose <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> gestellt wird, ist es ratsam, die diagnostizierte Person<br />

gründlich medizinisch und neurologisch untersuchen zu lassen. Mediziner, die sich um Personen mit<br />

WBS kümmern, haben festgestellt, daß bestimmte medizinische Auffälligkeiten erst mit der Zeit<br />

erkannt werden können oder sich entwickeln können. Mit anderen Worten WBS ist keine statische<br />

Kondition und begleitende Untersuchungen sind erforderlich. Einige wesentliche Merkmale des<br />

12


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

<strong>Syndrom</strong>s, die aber meistens nicht alle zusammen bei einer Person auftreten müssen, werden hier<br />

kurz vorgestellt.<br />

Durch die charakteristischen Gesichtszüge haben Kinder mit <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> oft mehr<br />

Ähnlichkeiten untereinander als mit ihren Geschwistern: eine längliche Kopfform, ein großer Mund<br />

mit vollen Lippen, eine flache Nasenwurzel und im Kindesalter volle Wangen.<br />

Bei blauen Augen sind oft weißliche, radspeicherartige Einschlüsse in der Iris sichtbar. Schielen<br />

(Strabismus) und Weitsichtigkeit (Hyperopie) wird relativ häufig in Verbindung mit WBS<br />

festgestellt. Eine augenärztliche Untersuchung wird empfohlen.<br />

Die Milchzähne sind in der Regel auffallend klein. Die bleibenden Zähne sind eher normal, aber<br />

häufig unregelmäßig angeordnet und kariös. Regelmäßige Zahnarztbesuche mit später oft<br />

anschließender kieferorthopädische Behandlung scheinen gängig zu sein.<br />

Bei einigen Kindern können Mittelohrentzündungen (Otitis media) mehrfach auftreten, die dann<br />

häufig zur Einlage von Paukenröhrchen führen. Eine Untersuchung des Hörvermögens sollte bei<br />

allen WBS-Kindern vorgenommen werden, da neuere Untersuchungen dafür sprechen, daß eine<br />

Minderung des Hörvermögens beim WBS häufiger vorkommt.<br />

Die Kinder sind in der Regel kleiner als ihre Geschwister und ihr Wachstum verläuft häufig entlang<br />

der 3. Perzentile (s. Wachstumskurve im Kinderuntersuchungsheft). Wenn sie ausgewachsen sind,<br />

wird die genetische Endgröße etwa um 10 cm unterschritten. Die Höhe, das Gewicht und der<br />

Kopfumfang sollte regelmäßig gemessen werden. Individuelle Veränderungen im<br />

Wachstumsverhalten sind nicht typisch für das WBS. Genauso wie bei jedem anderen Kind sollten<br />

andere Ursachen ausgeschlossen werden. Jugendliche entwickeln häufig eine seitliche Verbiegung<br />

der Wirbelsäule (Skoliose).<br />

Häufig wird die Diagnose durch den typischen Herzfehler der Verengung der Hauptschlagader in<br />

unmittelbarer Nähe des Herzen (supravalvuläre Aortenstenose) gestellt, die isoliert oder auch in<br />

Kombination mit Gefäßverengungen in den Lungenarterien (peripheren Pulmonalstenosen) oder<br />

einem Loch in der Herzscheidewand (Ventrikelseptumdefekt) auftreten kann. Das <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<br />

<strong>Syndrom</strong> kann aber auch ohne diese Herzfehler vorkommen. Auf jeden Fall sollte eine umfassende<br />

kardiologische Grunduntersuchung erfolgen. Der Zustand der Herzgefäße kann sich mit der Zeit<br />

verändern. Auch wenn in jungen Jahren die Untersuchung einen eher geringen Befund ergab, kann<br />

später eine klinisch bedeutsame Erkrankung erwachsen. Aus diesem Grund sollten regelmäßig<br />

Herzuntersuchungen erfolgen. In Einzelfällen kann bei einer Narkose ein erhöhtes Risiko<br />

(Hyperthermie, Herzrythmus- und Durchblutungsstörungen) bestehen.<br />

In den ersten Lebensjahren kann möglicherweise eine Hyperkalzämie auftreten. Diese Phase kann mit<br />

Erbrechen und/oder Verstopfung einhergehen. Hier ist in Einzelfällen eine Kalzium-arme Diät<br />

angezeigt. Es wird empfohlen, den Wert für das Kalzium im Blut bei einer Diagnose bestimmen zu<br />

lassen und zusätzlich an einer Urinprobe das Verhältnis von Kalzium zu Kreatin zu ermitteln.<br />

Veränderungen der Gefäße können auch in anderen Organen, wie z.B. der Niere, auftreten. Primäre<br />

Nierenveränderungen sind bei diesem <strong>Syndrom</strong> nicht selten, eine sonografische Untersuchung der<br />

Nieren und der ableitenden Harnwege ist bei der initialen Diagnostik anzuraten. Ein arterieller<br />

Bluthochdruck ist bei Kindern und Erwachsenen mit WBS häufiger als in der allgemeinen Bevölkerung.<br />

Das Risiko für einen Bluthochdruck kann mit dem Alter zunehmen. Der Blutdruck sollte an<br />

beiden Armen jährlich kontrolliert werden.<br />

Fakultativ beobachtet man bei Kindern mit WBS eine meist einseitige Verknöcherung der Elle und<br />

Speiche in Höhe des Ellenbogengelenkes (Radioulnare Synostose). Eine Drehung des Unterarmes<br />

nach außen ist daher nicht möglich. Eine Korrektur dieser knöchernen Veränderung ist nicht sinnvoll.<br />

Bei Mädchen mit WBS werden in der Phase der Pubertät zwei Gruppen beobachtet. Eine mit<br />

zeitgerechter Pubertätsentwicklung und eine mit sehr früher oder sogar vorgezogener (vor dem 8.<br />

Lebensjahr) Pubertät. Der Pubertätswachstumsschub ist bei allen Jungen und Mädchen mit diesem<br />

13


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

<strong>Syndrom</strong> verkürzt. Ursache dieser Verkürzung ist eine Beschleunigung der Knochenreifung<br />

(Akzeleration) in dieser Phase. Die frühe bzw. vorgezogene Pubertät wirkt sich meist nicht ungünstig<br />

auf die Endgröße aus. Die vorzeitige Entwicklung sekundärer (äußerer) Geschlechtsmerkmale führt<br />

zu einer erheblichen psychischen Belastung dieser Mädchen, eine entsprechende hemmende Therapie<br />

der Pubertät ist daher immer anzuraten.<br />

14


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

5. WBS im Internet<br />

Wer sich über den aktuellen Stand der Forschung näher informieren möchte, muß sich die<br />

überwiegend in englischer Sprache erschienenen Veröffentlichungen in den unterschiedlichsten<br />

Fachzeitschriften besorgen. Zusammenfassende Bücher zu diesem Thema gibt es bisher noch nicht,<br />

sind aber angekündigt. Eine gute Übersicht über die bestehende Fachliteratur (Quellenangabe und<br />

meistens auch eine kurze Zusammenfassung) geben medizinische Datenbanken (z.B.:<br />

Medline:http://www.healthgate.com oder Online Mendelian Inheritance in Man (OMIM):<br />

http://www3.ncbi.nlm.nih.gov). Bei der Literatursuche und -beschaffung bieten einige Büchereien<br />

ihre Hilfe an. Falls Sie weitergehende Informationen zur Fachliteratur benötigen, können Sie auf<br />

Wunsch von den Verfassern Literaturhinweise zu dieser Broschüre erhalten.<br />

Wenn die Möglichkeit besteht, das Internet zu benutzen, dann empfiehlt sich ein Besuch der<br />

amerikanischen Selbsthilfegruppe (WSA: <strong>Williams</strong> <strong>Syndrom</strong>e Association), die sehr viel aktuelle und<br />

praxisorientierte Informationen kostenlos zur Verfügung stellt (http:// www.wsf.org). Von hier aus<br />

kann man über Verknüpfungen leicht Zugang zu weiteren hilfreichen Organisationen und Verbänden<br />

finden.<br />

Der WBS-Bundesverband informiert ebenfalls mit einer eigenen deutschsprachigen Seite<br />

(http://home.t-online.de/home/heinz.porta/<strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong>-<strong>Deutschland</strong>.htm).<br />

Inzwischen haben sich weltweit rund 200 Familien mit WBS-Kindern zu einem Erfahrungs- und<br />

Informationsaustausch zusammengeschlossen. Wenn Sie eine E-Mail Adresse haben und sich an der<br />

Kommunikation beteiligen möchten, lassen Sie sich auf der Liste der Eltern aufnehmen. Hierzu<br />

senden Sie einfach eine E-Mail mit dem Inhalt „SUBSCRIBE WILLIAMSSYNDROME (und Ihre<br />

E-Mailadresse)“ an MAJORDOM@NS1.WIN.NET.<br />

6. Schlußwort<br />

Vielleicht haben diese Gedanken zu den Entwicklungsmöglichkeiten von Kindern mit <strong>Williams</strong>-<br />

<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> dazu beitragen können, Ihnen etwas klarere Perspektiven für die gemeinsame<br />

Zukunft zu vermitteln - Perspektiven, die sich nicht auf das Erreichen schulischer Leistungen und<br />

Abschlüsse beschränken, sondern die Persönlichkeit Ihres Kindes und seine soziale Integration als<br />

Ganzes im Auge haben. Viele Entwicklungsschritte werden mehr Mühe und Unterstützung von<br />

Ihnen brauchen als bei anderen Kindern; das Wissen um seine Besonderheit, Beobachtung seines<br />

Verhaltens und Verständnis der Zusammenhänge und Vertrauen auf Ihre intuitiven Fähigkeiten als<br />

Eltern werden Ihnen den Weg zum Ziel weisen können.<br />

15


WBS, Eine Einführung © 2000 Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

7. Glossar<br />

Auditive Hypersensibilität: Geräuschempfindlichkeit<br />

Dysmorphie: Strukturauffälligkeiten (ohne krankhafte Bedeutung)<br />

Hyperopie: Weitsichtigkeit<br />

Hypertonie: Bluthochdruck<br />

Muskelhypotonie: niedrige Muskelspannung<br />

Pulmonalstenosen: Gefäßverengungen in den Lungenarterien<br />

Skoliose : seitliche Verbiegung der Wirbelsäule<br />

Strabismus: Schielen<br />

supravalvuläre Aortenstenose Verengung der Hauptschlagader in unmittelbarer Nähe<br />

des Herzen<br />

Ventrikelseptumdefekt: Loch in der Herzscheidewand (zwischen den beiden<br />

Herzkammern, nicht den Vorhöfen)<br />

Notizen:<br />

16


Hans-Peter, 37 Jahre<br />

Herausgegeben von<br />

der Regionalgruppe Bayern-Süd<br />

Udo, 24 Jahre<br />

im Bundesverband <strong>Williams</strong>-<strong>Beuren</strong>-<strong>Syndrom</strong> e.V.<br />

B. Frericks, H. Romm, Schillerweg 11, 85748 Garching, Tel. u. FAX: (089) 320 22 24<br />

http://www.williams-beuren-syndrom.de

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!