Mit linker Politik Arbeiter beeindrucken, während man Arbeiter:innen sagt? Haha! Freundlich zu Flüchtlingen sein und bei der Wahl zum Bürgermeister zwei Drittel der Stimmen gewinnen? Unmöglich! Für das Klima und gegen das Kapital? So redet doch kein Mensch!

Doch.

Jetzt will erst mal jemand ein Foto mit ihm. Ausgerechnet hier, in dem Regierungsviertel-Café, wo sich die Berliner Hauptstadtgewächse zum Köpfe-Zusammenstecken treffen. Der Mann, Typ Mittelstands-Lobbyist, Polohemd, breite Schultern, holt sein Handy aus der Tasche. Andreas Babler, den in Österreich alle nur Andi nennen, lächelt in die Kamera. Dann verabschiedet er den Mann mit einem krachenden Handschlag, als hätten die beiden jahrelang gemeinsam Fußball gespielt.

Andreas Babler ist auf seiner ersten Auslandsreise als Chef der österreichischen Sozialdemokraten. Gestern Morgen ist er angekommen, heute Nachmittag reist er zurück. "Daheim ist ja gerade auch einiges zu tun", sagt er.

Vier Wochen zuvor, im Juni dieses Jahres, ist er nach einem der irrwitzigsten Kämpfe in der jüngeren Geschichte der europäischen Sozialdemokratie zum Parteichef gewählt worden. Er war der Rebell. Der Provinzpolitiker, der das Parteiestablishment herausforderte. Die Profis hielten seine Kandidatur erst für einen Witz, dann für eine Anmaßung, nun ist er SPÖ-Chef. Wohlgemerkt: Nachdem der Parteitag zuerst seinen Widersacher zum Sieger gekürt hatte, dann allerdings der Zählkommission auffiel, dass sie die Stimmen in einer Excel-Tabelle vertauscht hatte, woraufhin die Chefin dieser Kommission bei Babler anrief, um ihm zu sagen, dass, nun ja, er der neue Parteichef sei.

Jedenfalls sitzt Babler jetzt, an diesem Vormittag Anfang Juli, in diesem Berliner Regierungsviertel-Café, und noch interessanter als die Geschichte, wie er Parteichef wurde, ist die Geschichte, die er nun als Parteichef schreiben will. Denn der Mann, der noch vor einigen Wochen bloß Bürgermeister der Kleinstadt Traiskirchen war, hat einige überraschende Antworten auf grundlegende Fragen, die progressive Kräfte längst nicht nur in Österreich quälen, zum Beispiel: Wie können Linke Mehrheiten gewinnen, ohne dabei wie Rechte zu reden? Wie kommt man heraus aus dem Gegeneinander von Klima- und Klassenpolitik? Was kommt nach dem Kulturkampf? Und wenn nun sozialdemokratische Parteien in Europa mit einem Mitte-Kurs bis an die Grenzen der Selbstverleugnung trotzdem keine Wahlen mehr gewinnen, sollte es dann – Schreck, lass nach – mit einem linken Kurs möglich sein, Genosse Olaf?!

Im nächsten Jahr wird in Österreich gewählt. Wenn Bablers Projekt Erfolg hat, wird er Strategiedebatten in ganz Europa beleben. Wenn er scheitert, wird Österreich mit einiger Wahrscheinlichkeit von Rechtsradikalen regiert werden, nicht ausgeschlossen, dass die FPÖ den Kanzler stellen wird. Es steht also einiges auf dem Spiel. Was aber ist Bablers Plan?

Radikal normal

Neulich wandte sich der österreichische Bundeskanzler Karl Nehammer von der konservativen ÖVP mit einer programmatischen Ansprache an das Volk. "Was ist eigentlich normal? Darf man überhaupt noch normal sagen?", fragte er im weißen Hemd mit aufgekrempelten Ärmeln, um dann seine eigene Definition von Normalität zu präsentieren: Normal sei es, morgens zu Arbeit zu gehen und sich an die Regeln zu halten. Nicht normal seien dagegen alle, die ihre Meinungen über die anderer stellen. Normal sei es, mit dem Auto zur Arbeit zu fahren, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben. Normal sei es, Schnitzel zu essen. Nicht normal seien Klimakleber.

Auch Andreas Babler trägt gerne weiße Hemden mit aufgekrempelten Ärmeln, aber seine Ansprache funktioniert ganz anders. Er sagt: "Wir müssen eine Politik machen, die so radikal ist wie die Wirklichkeit." Es brauche eine Verteilungspolitik, die die Gerechtigkeitslücke wirklich bearbeite, statt sie bloß zu bestaunen. Die sich keine Illusionen darüber mache, dass sie gegen mächtige Interessen kämpft. Radikal wie die Wirklichkeit, das bedeutet aus Bablers Sicht allerdings auch, dass man die Nebenfolgen der Normalität benennen muss. Natürlich sei es normal, Schnitzel für 8,99 Euro zu essen. Aber sei das auch gut? Babler sagt: "Natürlich müssen wir weniger Fleisch essen."

Babler sagt das ohne jede Aufregung in der Stimme, dabei ist das ein Satz, der in Deutschland selbst bei Grünen auf dem Index steht. Wieso kann sich das ausgerechnet ein Sozi leisten?

Autorität und Authentizität

Der mächtigste Gegner, mit dem Sozialdemokraten in westlichen Demokratien konfrontiert sind, ist: der Verrat. Wenn sie ein kritisches Wort über den Verbrennungsmotor verlieren, wenn sie sich dazu etwa noch gendersensibel zeigen und irgendwie flüchtlingsfreundlich argumentieren, schallt es ihnen entgegen: Ihr habt doch keine Ahnung von den normalen Leuten! Ihr schickt eure Kinder auf Privatschulen, aber wollt den Normalen erzählen, wie sie zu leben haben!