Wühltische so weit das Auge reicht © Sean Gallup/​Getty Images

In der Steglitzer Filiale ist an diesem Nachmittag Hochsaison. Es sieht aus wie in dem überdimensionalen begehbaren Kleiderschrank eines pubertierenden Teenagers, der in einem Kreischanfall alles durcheinandergeworfen hat. Die meisten Mitarbeiterinnen sammeln unermüdlich auf dem Boden liegende Kleidung, Schuhe, Tücher, Schmuck und Taschen ein. In ihrer Emsigkeit wirken sie wie kinderreiche Mütter, die dazu verdammt sind, jedem hinterherzuräumen. Bei Karstadt gegenüber herrscht zur selben Zeit gähnende Leere, die Verkäuferinnen stehen als herausgeputzte Wachposten vor Schlagbäumen, die längst keiner mehr passiert. Bei Primark hingegen ist die Schlange vor den Umkleidekabinen so lang, dass die ersten Mädchen und Frauen vor den wenigen Spiegeln im Laden ihre Sachen anprobieren. Auch Schamgefühl muss man sich leisten können. Was nicht passt, wird irgendwo hin geworfen; Mutti hebt auf. Trotzdem verfangen sich Blusen und Shirts zwischen den Rädern der Einkaufswagen und werden mitgeschleift, bis sie irgendwo liegenbleiben wie vergessene Putzlappen. Oder die Kunden treten achtlos darauf herum. Manchmal dringt der Satz "Ich möchte nicht wissen, wo das alles herkommt" durch die Textilberge.

Das kommt vor allem aus China, Indien, Pakistan und Bangladesch. Dort beschäftigen 5.600 Discount-Textilfabriken Millionen von Arbeitern. Für 30 bis 70 Euro im Monat sitzen zumeist Frauen an den Nähmaschinen und arbeiten sechs Tage in der Woche elf Stunden. Überstunden werden nicht bezahlt; auch im Krankheitsfall muss gearbeitet werden. Primark will Masse. Ein Kleid, das in der Herstellung vier Euro kostet, wird hierzulande für 17 Euro verkauft. Indes wohnen viele Arbeiter hinter den Fabriken in Wellblechhütten, die keine 20 Quadratmeter messen und deren einziger Luxus ein Fernseher ist. Dass dort unmenschlich geschuftet werden muss, liegt daran, dass hier unmenschlich viel gekauft wird. Auch in der Fabrik Rana Plaza, die im April des vergangenen Jahres einstürzte, arbeiteten die meisten für Primark. Damals kamen mehr als 1.130 Menschen ums Leben. Der Hilfsfond enthält 15 Millionen Dollar. Das ist weniger als die Hälfte der zur Versorgung der Hinterbliebenen benötigten Summe. Im Vergleich zu anderen Textilunternehmen wie H&M oder Zara zahlte Primark sofort ein, nämlich sieben Millionen Dollar. Gemessen am immensen Umsatz ist das eine geheuchelte Großzügigkeit.

Primark als Müllproduzent

Wer in seinem Discounter-Schlafanzug ruhige Nächte verbringen will, sollte also besser ignorieren, woher das alles kommt. Primark lässt mittlerweile so viel produzieren, dass die Masse an Textilmüll rasant wächst. Waren es 2004 noch 82.400 Tonnen, verzeichnete man vor drei Jahren schon 103.400 Tonnen. In Großbritannien spricht man bereits vom Primark-Effekt. 

In Steglitz wird derweil eingekauft, als gäbe es kein Morgen mehr. Georg Büchners Frage: "Was ist es, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?", möchte man heute ergänzen: "Was ist es, was in uns kauft?" Kein anderes Unternehmen zerrt das Verhalten des modernen Konsumenten so erbarmungslos ans Licht wie Primark. Es macht Textilien zu einem täglichen Konsumartikel. Berge von Kleidung landen im Einkaufskorb wie Lebensmittel. Manche Klamotten werden nicht einmal anprobiert. Zu Hause stellt man dann fest, dass man das eine oder andere Stück gar nicht will. Was soll's, weg damit! Man könnte auch eine Tasse Kaffee verschütten. Primark produziert Wegwerfmode. Man steigt nicht mehr zweimal in dieselbe Hose. Das Unternehmen führt uns einen neuen Kunden-Typus vor: Es ist der Konsument des Internetzeitalters. Er wirft die Ware in seinen Korb, als würde er Informationen speichern, von denen er noch nicht weiß, ob er sie brauchen könnte.   

In diesem Gewimmel und Kaufrausch, in dieser aldehydbedampften Luft bekommt man plötzlich eine Ahnung davon, wie schnell Menschen in humanitären Ausnahmesituationen Geschäfte plündern. Vielleicht ist das ganze Leben eine Ausnahmesituation. Vielleicht gibt es tatsächlich kein morgen mehr, kein bisschen Sicherheit. Vielleicht sucht man die billig und schnell erworbene Gesellschaft von Blusen und Schals und Schuhen, um sich nicht so allein zu fühlen. Vielleicht ist jede neu erworbene Tasche wie eine gute Freundin, an der man sich festhalten kann, wenn die digitale einen auf Facebook gelöscht hat. Vielleicht kann man dem Mantel mit dem sich auflösenden Saum immer noch mehr Vertrauen entgegenbringen als jedem Politiker. Und kommt die Zukunft nicht auch schlecht vernäht daher? Ohne Innenfutter und Doppelnaht? Knittrig und ohne Ersatzknopf?        

Primark ist das große Spiegelbild unserer Gesellschaft. Der Konsument kann sich alles leisten, weil die Würde Schulden macht. "Puppen sind wir", heißt es bei Büchner weiter, "von unbekannten Gewalten am Draht gezogen; nichts, nichts wir selbst."