Innerhalb kurzer Zeit haben gleich zwei Ereignisse gezeigt, wie Aktivisten auf der Straße und ihre medialen Fürsprecher bei der Realitätsverweigerung gemeinsame Sache machen. Im Falle der Corona-Pandemie wurde die Gefährlichkeit des Virus bestritten. Der russische Angriffskrieg in der Ukraine, bei dem der Aggressor in Taten und Worten keine Zweifel an seinen ideologiegetränkten Vernichtungsabsichten lässt, wird im Diskursrahmen einer absurden Schuldumkehr als Konflikt zwischen zwei mitverantwortlichen Parteien mit jeweils berücksichtigenswerten Interessen dargestellt.

In beiden Fällen, Pandemie wie Eroberungskrieg, überschneiden sich die Akteure. Hier wie dort beklagen sie eine angebliche Cancel Culture und wähnen sich als Vertreter einer medial unterdrückten Vernunft. Und zwar selbst dann, wenn sie gerade in einem Fernsehstudio sitzen. Zum Geschäft gehört dabei das Bestreiten des Offensichtlichen, am deutlichsten präsentiert von Alice Weidel, die Ende September Sandra Maischbergers Frage, ob Putin ein Massenmörder und Diktator sei, verneinte. Ulrike Guérot und Hauke Ritz behaupten in ihrem jüngst erschienenen Buch Endspiel Europa dementsprechend, die Ukraine und der Westen hätten den Krieg gegen Russland begonnen, was über die von Putin-Apologeten oft kolportierte Präventivkriegsthese sogar noch hinausgeht. Sahra Wagenknecht empfiehlt das Buch. Im neu gegründeten Portal Kontrafunk gibt man sich distinguiert, lässt aber Interviewpartner wie den Publizisten Jacques Baud unkommentiert denselben Unsinn verbreiten.  

Unterhalb solcher Speerspitzen des Postfaktischen gibt es abgestufte Facetten dieses Schuldumkehrdiskurses, der von sogenannten Intellektuellen betrieben wird. Alternative Querfrontmedien können darauf aufsetzen. Der "Offene Brief an Kanzler Scholz", der rund zwei Monate nach dem Beginn der russischen Invasion in der Emma erschien, machte das Opfer für sein Leid mitverantwortlich, was angesichts des Publikationsorts besonders verstört. Namhafte Persönlichkeiten unterschrieben "Hochachtungsvoll" die Forderung nach "einem Kompromiss, den beide Seiten akzeptieren können", denn "das Maß an Zerstörung und menschlichem Leid unter der ukrainischen Zivilbevölkerung" habe ein Niveau erreicht, dass dem Widerstand gegen Russland die weitere Berechtigung entziehe. Der Westen und die Ukraine hätten eine "moralische Verantwortbarkeit", weshalb die Lieferung schwerer Waffen – ganz gleich ob direkt oder indirekt – einzustellen sei.

Da die Schuldumkehr allzu offensichtlich war, schoben einige Beteiligte zusammen mit anderen Intellektuellen einen zweiten, rhetorisch stark abgeschwächten offenen Brief hinterher – publiziert in der ZEIT Ende Juni. Der Westen und die Ukraine werden hier "nur" noch aufgefordert, Verhandlungen anzustreben, anstatt – ein bisschen Unterstellung von Mittäterschaft muss semantisch offenbar doch sein – die "Fortführung des Krieges" zu betreiben. Andere Personen des öffentlichen Lebens erklären ihrem Publikum wiederum, woran eine Verhandlungslösung bislang vermeintlich scheiterte. Sahra Wagenknecht etwa führt es auf den Westen zurück, der der Ukraine trotz russischen Einlenkens das Weiterkämpfen befohlen und den Krieg auch vorab nicht verhindert habe. Sekundiert wird sie unter anderem vom Ex-Bundeswehrgeneral Harald Kujat. Auch der Philosoph Julian Nida-Rümelin berichtet, Großbritanniens damaliger Premierminister Boris Johnson habe dem friedensbereiten Selenskyj, dem im April ein friedensbereites Russland gegenübergestanden habe, das Weiterkämpfen diktiert. Jeglicher Kontextbezug (die Massaker von Butscha oder Irpin) unterbleibt. Wagenknecht zitiert in ihrer "Wochenschau" auf YouTube Trump, der für sofortige Friedensverhandlungen sei. Sie hat dabei jene Wählerschaft im Blick, die am Tag der Deutschen Einheit in Gera den Putin-Apologeten Björn Höcke und Jürgen Elsässer zujubelt und dabei Höckes Hetze gegen das "Regenbogenimperium" lauscht.

Auf solchen Demonstrationen manifestieren sich die Inhalte des Schuldumkehrdiskurses, etwa wenn in einer typischen Szene am 11. September 5.500 Menschen in Plauen einem Redner applaudieren, der zwei "Kriegsführer" auf eine Stufe stellt. Auch zu Brandanschlägen ist es schon gekommen, so wie auch die unsäglichen Verbrecher-Plakate auf Corona-Demonstrationen ihre Wirkung entfaltet haben. Die Fahne der russischen Diktatur ziert angebliche Friedenskundgebungen. Was veranlasst medial tätige Personen, solchen Umtrieben mittels postfaktischer Darstellungen eine Entsprechung zu bieten?

In ihrem 1951 erschienenen Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft bietet Hannah Arendt, oft bemüht und selten gelesen, zwar kein umfassendes Erklärungsmodell, aber immerhin die Beschreibung eines ähnlichen Phänomens. Sie spricht vom "zeitweilige[n] Bündnis zwischen Mob und Elite", welches der totalitären Herrschaft vorausgehe. Arendts Analyse ist zeitgebunden, aber was sie insbesondere über die Gruppe der "Elite" zu sagen weiß, die sie neben dem radikalen und gewaltbereiten Mob sowie den bindungslosen Massen als Produkt des Zerfalls der Klassengesellschaft ausmacht, ist erstaunlich aktuell.

Arendt berichtet davon, dass Teile der "geistige[n] und künstlerische[n] Elite" ein erstaunliches Verständnis, bisweilen sogar eine Bewunderung für totalitäre Bewegungen und für den radikalen Mob aufbringen. Mob und Elite seien dabei "als erste sozial und politisch heimatlos geworden", woraus eine "merkwürdige Koinzidenz ihrer Überzeugungen und Bestrebungen" resultiere. Arendt spricht von einem "Bündnis" der "Deklassierten auf der Grundlage des Ressentiments oder der Verzweiflung" und von einer "Heldenverehrung der Gangster von Seiten der Elite". Das ruft den Anschwellenden Bocksgesang in Erinnerung, jenen 1993 erschienenen Essay, in dem der Schriftsteller Botho Strauß das rechte Denken als wahren Widerstandsgeist ("Außenseiter-Heros") beschwor, und zwar vor dem Hintergrund der fremdenfeindlichen Ausschreitungen zu Beginn der Neunzigerjahre.