Manche Menschen träumen wohl davon, der Welt abhanden zu kommen. Doch Träume gehen selten in Erfüllung, und viele sind bei näherer Betrachtung nicht sehr verlockend. Und manche Träume lassen sich als solche nicht einmal eindeutig identifizieren, wenn man direkt mit ihnen konfrontiert wird. "Ist es ein Traum", fragt der Filmemacher Werner Herzog am Anfang seines neuen Buches, seines ersten nach zwölf Jahren Veröffentlichungspause als Autor. Herzog fragt noch einmal "Ist es ein Traum" und setzt dahinter beide Male aber kein Fragezeichen, sondern einen Punkt. So als ob keine klare Antwort möglich oder jede Frage falsch sei angesichts der Geschichte, die er dann erzählt: Vom japanischen Soldaten Hiroo Onoda, der drei Jahrzehnte im Urwald der kleinen philippinischen Insel Lubang verharrte und am Ende als Einziger und Letzter den Zweiten Weltkrieg weiterkämpfte, bis 1974. Es klingt dann wie ein Alptraum: Onoda ist eher die Welt abhanden gekommen als Onoda der Welt.

Aber was für eine Geschichte! Sie ist wahr, und doch stellt Werner Herzog seinem Bericht in Das Dämmern der Welt eine Bemerkung voraus: "Viele Details stimmen, viele stimmen nicht. Dem Autor kam es auf etwas anderes an, auf etwas Wesentliches, wie er es bei seiner Begegnung mit dem Protagonisten dieser Erzählung zu erkennen glaubte." Eine Erzählung soll das also sein, deren Form ist am ehesten die einer literarischen Langreportage auf kurzen 127 Seiten. Literarisch (und nicht journalistisch) ist dieser Text schon insofern, als der Autor die Geschehnisse offenkundig weniger rekonstruiert denn fiktionalisiert; mit einer Erzählerfigur, die mal allwissend in den Kopf seines Protagonisten schaut, um dann die meiste Zeit wie ein unsichtbarer Zeuge neben diesem Geist Onoda auf dem feuchten Boden des Urwalds zu kauern, um bestens getarnt die reine Handlung von außen zu schildern: Nichts passiert und doch unglaublich viel.

Das Buch beginnt mit einer dieser typischen Herzog-Storys, die diesen wohl unverwechselbarsten aller lebenden Traumwandler und Weltenbegegner eben so unverwechselbar machen, und auch so urkomisch: Herzog inszeniert Ende der Neunzigerjahre in Tokio die Welturaufführung einer Oper des Komponisten Shigeaki Saegusa, als ihn die Kunde erreicht, der japanische Kaiser wolle ihm eine Privataudienz gewähren, "falls die Anspannung so kurz vor der Premiere nicht zu groß sei". Doch was denkt und spricht Werner Herzog laut aus? "Um Himmels willen, ich weiß überhaupt nicht, was ich mit dem Kaiser anfangen könnte." Noch im selben Moment offenbar wird ihm klar, dass er den Monarchen beleidigt hat. Ein nicht identifizierter Begleiter rettet Herzog aus dieser Situation durch die einfache Frage, wen er denn sonst sprechen wolle in Japan, und Herzog antwortet ohne Zögern: Hiroo Onoda. Und so war es geschehen.

Onoda, geboren 1922, ist als Leutnant der Kaiserlich Japanischen Armee im Dezember 1944 auf die damals von Japan besetzte philippinische Insel Lubang entsandt worden, doch kaum zwei Monate später wurde diese von US-Truppen erobert. Onodas Auftrag lautete, ein Flugfeld und einen Landungssteg zu zerstören, damit die Amerikaner die Insel nicht militärisch nutzen könnten, an beiden Aufgaben scheiterte er. Doch die Amerikaner waren offenbar nicht weiter interessiert an der 25 Kilometer langen, kaum bewohnten Insel Lubang unweit der Bucht von Manila. So blieben nur die wenigen philippinischen Bewohner. Und Onoda, gemeinsam mit zunächst drei Kameraden.

Dem Leutnant war von seinem Vorgesetzten eingeschärft worden, er müsse die Insel um jeden Preis halten und dürfe sich seiner Aufgabe selbst bei einer Gefangennahme nicht durch Suizid entziehen. Also versteckten sich er und die ihm unterstellten japanischen Soldaten im Urwald der Insel. Sie warteten ab diesem Zeitpunkt darauf, dass etwas passiert. Und dass die japanischen Streitkräfte kämen, die Onoda ablösen sollten.

Monate, Jahre, Jahrzehnte vergingen. Zwischenzeitlich kapitulierte Japan im September 1945, 1950 begann der Koreakrieg, Mitte der Fünfzigerjahre langsam der Krieg in Vietnam. Die halbe Welt verfolgte das irgendwann am Fernseher, nur Onoda und seine Kameraden saßen abgeschnitten von allen Nachrichtenströmen im Urwald, sie sahen am Himmel weiterhin US-Bomber nach Westen fliegen und konnten sich keinen anderen Reim darauf machen, als dass der Krieg, in den sie einst gezogen waren, noch immer anhielt. "Von jetzt an ist alles, was einfach nur ist, die Wahrheit, auch wenn sie sich wandeln wird, ein Eigenleben entwickeln wird", schreibt Herzog im Präsenz des unmittelbaren Miterlebens, das er dieser dennoch epischen Geschichte gibt.

Es war nicht so, als wären diese japanischen Soldaten vergessen worden. Doch alle Versuche von außen, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, schlugen fehl. So gut versteckten sich die Soldaten, so völlig wurden sie eins mit dem Urwald, als Guerillakrieger des blanken Überlebens in der Wildnis. Was Onoda in all der Zeit auch an Informationssplittern fand, abgeworfene Flugblätter oder liegen gebliebene Zeitungen nahe der einzigen Siedlung auf der Insel: Alles schien dem ausgebildeten Nachrichtenoffizier ein Versuch der Täuschung des Feindes, eine Kriegslist, eine einzige große Verschwörung. Sein Auftrag endete für ihn nicht, seine Ablösung war ja nie eingetroffen.