Seit Wochen belagern russische Einheiten Mariupol. Sie haben unzählige Raketen und Granaten auf die Stadt geschossen, Luftangriffe geflogen und sind schließlich mit Infanterie vorgerückt – aber noch immer halten die Verteidiger dagegen. Hat Russland deswegen nun zu einer schrecklichen Waffe gegriffen, die international geächtet ist?

Das behauptete zumindest ein Anführer der Verteidiger am Montagabend im Messengerdienst Telegram. Er wirft den russischen Angreifern vor, eine Drohne eingesetzt zu haben, die eine chemische Substanz in Mariupol versprüht habe. Betroffene Zivilisten und Kämpfer hätten danach unter Atemschwierigkeiten und neurologischen Problemen gelitten. Beweise oder Indizien für diesen Angriff mit einer Massenvernichtungswaffe legten die Ukrainer nicht vor.

Und die Quelle für diese Angabe ist denkbar belastet. Der Hinweis auf die Chemiewaffe kommt vom ukrainischen Asow-Bataillon, das mit dem Zeigen rechtsradikaler Symbole und Kontakten zu Neonazis in Westeuropa aufgefallen ist, von UN-Organisationen mit Kriegsverbrechen in Verbindung gebracht wird und durch besonders heftige Vorwürfe gegen den Gegner aufgefallen ist.

Der Vorwurf sorgte dennoch international für Aufsehen. In Großbritannien erklärte die Regierung, man versuche, die Angaben über den Einsatz von chemischen Waffen zu verifizieren. Der Sprecher des US-Verteidigungsministeriums gab zwar an, er könne den Bericht aus Mariupol nicht bestätigen. John Kirby sagte aber auch, dass die US-Militärs über "Russlands Potenzial, eine Reihe von Reizstoffen einzusetzen, einschließlich Tränengas gemischt mit chemischen Mitteln", andauernd besorgt seien.

Morde mit Gift und Gas im Geheimen

Die Sorge vor Russlands Umgang mit solchen schrecklichen Mitteln kommt nicht von ungefähr. Zur Zeit des Kalten Kriegs spielten Chemiewaffen zunächst in der Militärdoktrin der Roten Armee eine deutlich größere Rolle als bei westlichen Streitkräften. Während im Ersten Weltkrieg vor allem Deutschland, Frankreich und Großbritannien verschiedene Gase und giftige Substanzen verwendeten und davon mehr als 124.000 Tonnen einsetzten, mit 90.000 Toten und 100.000 Verletzten, nutzte Russland solche Kampfstoffe nicht. Im Zweiten Weltkrieg spielten Massenvernichtungswaffen auf dem europäischen Kriegsschauplatz keine Rolle. Im Kalten Krieg dienten sie dann wie die Atombomben der Abschreckung. Die Sowjetunion setzte Gifte und Gas allerdings bei ihren Geheimdiensten für Mordkommandos ein.

In Russland beendeten die Sicherheitsbehörden 2002 eine Geiselnahme in einem Theater in Moskau mit dem Einsatz eines bis heute unbekannten Gases. Terroristen hatten sich in dem Gebäude verschanzt, hatten Bomben gelegt und Sprengstoffwesten angezogen. Bei der Befreiungsaktion starben 167 Menschen, darunter viele auch an dem verwendeten Gas.

Und Russland setzte chemische Kampfstoffe auch weiterhin im Geheimen ein. Am 4. März 2018 wurden der ehemalige russische Doppelagent Sergei Skripal und seine Tochter Julia im britischen Salisbury vergiftet. Die Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) aus Berlin, ein Thinktank, der die Bundesregierung und verschiedene Ministerien berät, gibt an, dass dabei eine "Substanz aus der Familie der Nowitschok-Agenzien" verwendet wurde. "Russische Agenten" töteten "einen Menschen und verletzten drei weitere durch den Einsatz des Nervengifts Nowitschok schwer", heißt es in einer von Julia Berghofer und Oliver Meier verfassten Studie für die SWP. Auch die britische Regierung beschuldigte Russland, für das Attentat verantwortlich zu sein. Die Bundesregierung in Berlin nannte die russische Urheberschaft der Morde sehr wahrscheinlich. Dabei hatte im September 2017 Russland erklärt, seine letzten Bestände an Chemiewaffen unter internationaler Kontrolle abgerüstet zu haben.

Geholfen hatte dabei auch die Bundesrepublik. 1992 unterzeichneten Deutschland und Russland ein Abrüstungshilfeabkommen, zehn Jahre später kamen weitere internationale Partner dazu, die sich auf dem G8-Gipfel in Kanada verpflichteten, Russland beim Vernichten des Chemiearsenals zu unterstützen.

Die Bundesregierung stellte 50 Millionen Euro für den Bau der ersten russischen Vernichtungsanlage bereit. Dort wurden 1.250 Tonnen Lewisit und Senfgas zerstört. Eine weitere solche Anlage finanzierte Deutschland zudem noch teilweise. Immerhin 6.350 Tonnen Chemiewaffen vernichtete Russland dort seit dem März 2006. Bis 2012 hatten sich die Vereinigten Staaten und Russland verpflichtet, sämtliche Chemiewaffenvorräte aufzugeben. Es dauerte dann noch einige Jahre, bis die beiden Kontrahenten aus dem Zeitalter des Kalten Kriegs, die gegenseitig mit immer weiteren ABC-Substanzen aufgerüstet hatten, also atomaren, biologischen und chemischen Waffen, sich zumindest von einem Teil der Massenvernichtungswaffen verabschiedeten.