Im heiß genähten Koalitionsvertrag wurde vereinbart, die Dauer der Wehrpflicht von neun auf sechs Monate zu kürzen, wie es auch das in diesen Tagen zur Verabschiedung anstehende Gesetz vorsieht. Nicht als Ergebnis eingehender Analyse, sondern um des bloßen Koalitionskonsenses willen. Damit aber wird in Wahrheit die Axt an die Wurzel der Institution gelegt. Sechs Monate sind nun einmal viel zu kurz, um ungelernte Zivilisten zu halbwegs geschulten Soldaten zu machen, und die Koalitionäre wissen es oder müssten es wissen. Die Wehrpflicht verkommt zur ineffektiven und kostspieligen Formsache, zum Streichkandidaten.

Dennoch wird so getan, als lebe weiter, was längst nur noch vegetiert. Der Verteidigungsminister erklärt im März vollmundig, mit ihm sei "eine Abschaffung der Wehrpflicht nicht zu machen". Die Kanzlerin gibt sich noch vor einer Woche als " überzeugte Anhängerin der Wehrpflicht" aus. Und als Verteidigungsminister zu Guttenberg, an sich ganz folgerichtig, die Kabinettsrunde dazu überrumpeln will, ihm die Bestattungsorder rasch auszustellen, lässt die ihn abblitzen. Vorerst soll die Wehrpflicht wenigstens als Mythos fortbestehen.

Ich gestehe, dass ich selbst in der Frage, ob sie erhalten oder beendet werden sollte, immer wieder geschwankt habe. Als mit dem Kalten Krieg auch die traditionellen militärischen Bedrohungsszenarien hinfällig geworden waren, hielt ich die Wehrpflicht für überholt und forderte in der ZEIT ihr schnelles Ende.

Ein Jahrzehnt später als Mitglied der Weizsäcker-Kommission zur Zukunft der Bundeswehr kam ich dagegen zum Schluss, dass die Streitkräfte auch unter den neuen Bedingungen unserer Sicherheit den Zugriff auf qualifizierte Wehrpflichtige brauchen. Und ich engagierte mich mit der Mehrheit der Kommission für einen Auswahlwehrdienst: einberufen, "gezogen", sollten nicht etwa alle jungen Männer eines Jahrgangs, sondern nur die, welche die Bundeswehr für ihre Aufgaben tatsächlich benötige. Sie sollten zehn Monate dienen und zugleich angemessen besoldet werden.

Der Vorschlag fand damals leider wenig Gegenliebe. Die FDP sah die Wehrpflicht als alten Zopf, den man schnell und wählerwirksam abschneiden solle. Union und SPD wollten vom Auswahlwehrdienst nichts wissen, weil er angeblich der Wehrgerechtigkeit nicht genüge. Dabei war die Forderung nach Wehrgerechtigkeit stets Selbsttäuschung: als sei die mit dem Wehrdienst für den einzelnen verbundene Grundrechtsbeschränkung nur dann zulässig, wenn alle sie ertragen müssen, auch die, für welche die Bundeswehr gar keine Verwendung hat.

Nur das Verteidigungsministerium erkannte die Chance, die das Weizsäcker-Konzept bot. Fortan berief es nur noch nach Bedarf ein, war aber so bauernschlau, sich die gebotene Vergütung zu sparen. Damit aber war die Institution Wehrpflicht bereits angeschlagen: Immer mehr junge Männer brauchen heute weder Wehr- und Zivildienst zu leisten, und wer dennoch herangezogen wird, muss dies als ungerechtes Sonderopfer empfinden.