Ein Wort erobert gerade das Zentrum der politischen
Bühne, eines, von dem man nicht gedacht hätte, dass es in der Bundesrepublik
jemals über eine Nebenrolle hinauskommt. Das Wort heißt: radikal. Nicht, dass es
in der Vergangenheit völlig gefehlt hätte, allerdings hatte dieses Adjektiv eine
ganz spezielle Funktion: Menschen, Ideen oder Forderungen, denen man im
öffentlichen Diskurs das Etikett "radikal" anheften konnte, waren augenblicklich
verloren. "Radikal" war ein politisches Todesurteil.
Das hat sich geändert.
Alle Versuche, der Fridays-For-Future-Bewegung
das Etikett "radikal" anzuheften, haben weder dazu geführt, dass die jungen
Leute irgendwie erschrocken wären, noch ließen sich damit ihre Positionen marginalisieren.
Im Gegenteil, nichts ist in der politischen Debatte derzeit präsenter. Die
ausgewiesene Realpolitikerin Angela Merkel forderte kürzlich eine "radikale
Verkehrswende", um die eigenen Klimaschutzziele noch zu erreichen. Und nicht mal
der grüne Co-Vorsitzende Robert Habeck scheut noch das Wort; was insofern erstaunlich
ist, da die Grünen ihre Parteigeschichte ja als die Geschichte einer mühsamen
und schmerzhaften Entradikalisierung ansehen und gerade darauf besonders stolz
sind.
Ein eindrucksvolles Beispiel für die neue Salonfähigkeit des Radikalen stellt Carola Rackete dar. Obwohl die junge Sea-Watch-Kapitänin, Menschenrechtlerin und Klimaschützerin sich in einem Akt des zivilen Ungehorsams über die Anweisungen einer demokratisch gewählten Regierung hinwegsetzte und obwohl sie eine – vorsichtig gesprochen – radikal-liberale Flüchtlingspolitik vertritt und eben auch praktiziert, rief sie mit ihrer Seenotrettungsaktion eine Koalition der Willigen in der EU auf den Plan, die nun mit den Flüchtlingen im Mittelmeer humaner umgehen will als zuvor. Was vielleicht noch mehr verblüfft: Als Rackete jüngst in Bremen beim 55. Kapitänstag auftrat, erhielt die junge Frau mit den Dreadlocks nach ihrer 13-minütigen Rede von den versammelten Kapitänen Standing Ovations.
Wie kann das sein?
Dass "radikal" offenbar politikfähig
geworden ist, womöglich sogar chic, ist ein Vorgang, dessen Bedeutung für die
Kultur der Bundesrepublik kaum überschätzt werden kann. Denn die beruhte bislang
in ihrem innersten Wirkmechanismus auf dem Ausschluss des Radikalen, auf der
Hegemonie von Realpolitik und auf der Zentrierung um eine meist nicht
sonderlich weit gefasste Mitte.
Was ist da bloß passiert?
Tatsächlich wäre die überraschende
Karriere des Wortes "radikal" ohne die fundamentalen Veränderungen in der realen
Welt, außerdem ohne einen tiefgreifenden Bedeutungswandel der politischen Radikalität
selbst und schließlich ohne die Hegemonie-Krise ihres Gegenbegriffs "Realismus"
undenkbar.
Zahl der unlösbaren Probleme nimmt rapide zu
Die Veränderungen in der Wirklichkeit sind
offensichtlich: Die Zahl der Probleme, die sich mit moderater oder gradueller,
also nicht radikaler, Politik kaum noch lösen lassen, nimmt rapide zu. Wir alle
spüren das. Dazu gehören die Folgen der Digitalisierung, die
Flüchtlingspolitik, der Pflegenotstand, die Explosion der Mieten, das
Artensterben, überhaupt alles, was mit Ökologie zu tun hat, allem voran die
Klimakrise, nicht zu vergessen auch die internationale Politik, wo Deutschland
unsanft aus der wohligen Patronage der
USA geschubst wurde.
Durch diese Veränderungen in der
wirklichen Wirklichkeit hat sich auch der Wesenskern politischer Radikalität
gewandelt. (Jedenfalls soweit es um linke und grüne Radikalität geht, zu den
Rechten später.)
Der
Linksradikalismus der Siebziger- und Achtzigerjahre war noch tief geprägt von den
deutschen Verbrechen aus der ersten Hälfte des Jahrhunderts. In gewisser Weise
sollte der Faschismus rückwärts doch noch besiegt werden durch möglichst
radikales Dagegensein, durch einen scharfen Ton und einen – oft penetranten – Gestus
des Entlarvens. Gegen die Mehrheit der – anderen – Deutschen hegte dieser
Linksradikalismus eine tiefe Skepsis, man hielt das Volk kurzerhand für
faschistoid, was in einer Demokratie selbstredend ein beträchtliches Problem
mit sich bringt, oder aber die Verführung, sich selbst als eine von der
Geschichte ermächtigte Elite anzusehen, die zu garantieren hatte, dass
Deutschland nie wieder – und so weiter.
Ein Wort erobert gerade das Zentrum der politischen
Bühne, eines, von dem man nicht gedacht hätte, dass es in der Bundesrepublik
jemals über eine Nebenrolle hinauskommt. Das Wort heißt: radikal. Nicht, dass es
in der Vergangenheit völlig gefehlt hätte, allerdings hatte dieses Adjektiv eine
ganz spezielle Funktion: Menschen, Ideen oder Forderungen, denen man im
öffentlichen Diskurs das Etikett "radikal" anheften konnte, waren augenblicklich
verloren. "Radikal" war ein politisches Todesurteil.
Das hat sich geändert.
Alle Versuche, der Fridays-For-Future-Bewegung
das Etikett "radikal" anzuheften, haben weder dazu geführt, dass die jungen
Leute irgendwie erschrocken wären, noch ließen sich damit ihre Positionen marginalisieren.
Im Gegenteil, nichts ist in der politischen Debatte derzeit präsenter. Die
ausgewiesene Realpolitikerin Angela Merkel forderte kürzlich eine "radikale
Verkehrswende", um die eigenen Klimaschutzziele noch zu erreichen. Und nicht mal
der grüne Co-Vorsitzende Robert Habeck scheut noch das Wort; was insofern erstaunlich
ist, da die Grünen ihre Parteigeschichte ja als die Geschichte einer mühsamen
und schmerzhaften Entradikalisierung ansehen und gerade darauf besonders stolz
sind.