Es hätte Clive Titmuss stutzig machen müssen, dass sein neues Zimmer kein Fenster hatte. Doch vor drei Jahren, als er nach Fish Island im Londoner Bezirk Hackney Wick zog, war Olympia kaum ein Thema. Dabei wuchs das Stadion am anderen Ufer des Flusses Lea . Und manchmal hörte Titmuss Bauarbeiter die Lautsprecher testen. Titmuss, 28 Jahre, Tischler, ein Gesicht wie eine einzige Sommersprosse, ahnte nicht, dass das fehlende Fenster ein vorauseilender Gehorsam seines Vermieters war. Heute weiß er, dass die Sonne nicht in sein Zimmer schien, "damit keiner mit einer Bazooka auf das Stadion feuern kann".

Jetzt kosten ihn die Olympischen Spiele sein Zuhause. Die ausgebaute Lagerhalle am Flussufer, in der er lebt, wird zwangsgeräumt. 17 der 18 Mitbewohner müssen gehen – der Dirigent, die Hutmacherin, die Musiker und Grafikdesigner. Nur der Hauptmieter bleibt: Während der 17 Spieltage von Ende Juli bis Mitte August kann er ein Vielfaches der jetzigen Miete verlangen. Wenige hundert Meter weiter soll die BBC eine Wohnung für 12.000 Pfund pro Woche gemietet haben, erzählt Touristenführerin Laurie während des Daily Olympic Walk. Denn Olympia ist nah – sehr nah. Gäbe es keinen Zaun, wären die Kennzeichen der Baulastwagen lesbar. Vom Stadionufer puckerts, röhrts und fiepts . Nur der Fluss trennt den Alltag in Fish Island von der größten Sportveranstaltung der Welt.

Fish Island liegt im olympischen Sperrgebiet. Im Sommer kommen Ausweiskontrollen und Metalldetektoren. Jetzt wird in Rekordzeit gentrifiziert: Straßen saniert, Baulücken geschlossen, Mieten erhöht und Wohnhäuser wie das von Titmuss für kommerzielle Projekte geräumt. Westfield, das größte Einkaufszentrum Europas, eröffnete bereits im letzten Herbst nur eine Bahnstation entfernt. Der Eurostar aus Paris hält nun direkt hinter dem Olympiapark. Hauptsponsor Coca Cola bemalte schon im Februar komplette Hauswände mit Werbung. Nur wenige Tage später verdeckte die Knöchel des Läufers, den Coca Cola hatte sprayen lassen, das Wort shame - Schande. Nicht alle in Fish Island freuen sich auf die Spiele. Vor allem wer nur wohnt und mit dem Standort kein Geld verdienen kann, findet genügend Gründe sich aufzuregen .

Denn bisher entzog sich das Viertel den Blicken. Die Abgeschiedenheit war lange der Vorzug von Fish Island. Dort, wo seit Ende des 19. Jahrhunderts die stinkenden Industrien angesiedelt waren, damit der Westwind die Gerüche aus der Stadt hinausträgt: die Müllverbrennungs- und Kläranlagen, Streichholzfabriken und Gerbereien. Hier haben sich Künstler, Galerien und Studenten in der postindustriellen Ödnis eingerichtet. In alten Fabriken und Lagerhallen, zwischen Brachen und Parkplätzen. Laut Galerist Daren Ellis von der See-Gallery hat Hackney Wick "die größte Künstlerdichte der Stadt". Er hofft, dass die Gegend ihre kreative Integrität auch nach den Spielen bewahren kann.

Das Olympiastadion als böse Macht

In Fish Island blieb man unter sich. Obwohl nur dreizehn Kilometer von der Oxford Street entfernt, kamen kaum Touristen. Der Weg ist beschwerlich: eine Stunde U-Bahn, Bus, zu Fuß. Über die Brücke der Stadtautobahn, hinter Zäunen und unter Treppen liegt es, ganz grau und rot und still. Kein Supermarkt. Kein Geldautomat. Nur selten fährt ein Auto vorbei. Erst recht keine Polizei. Doch während der Olympischen Spiele von Ende Juli bis Mitte August werden rund vier Milliarden Fernsehzuschauer es durch die Vogelperspektive der Kameras sehen.

Olympia polarisiert – auch innerhalb der Nachbarschaft. Aussteiger, Künstler und Geschäftsleute arbeiten hier Tür an Tür – und jeder hat seine eigene Geschichte zu den Spielen. So auch Tom Seaton, der bei zehn Grad in Shorts, Flip Flops und weit aufgeknöpftem Hemd in seinem Lokal sitzt, dem Counter Café . "Am liebsten wäre es mir, Olympia würde sich einfach wieder verpissen", sagt er und verschluckt sich an einem Cookie. "Manchmal empfinde ich das Stadion wie eine böse Macht, die sich einschleicht, um alles weiß zu waschen."

Der 31-jährige Neuseeländer hat früher als Manager in einem der Hochhäuser in der Innenstadt gearbeitet. Doch irgendwann fühlte er sich eingesperrt und Fish Island bot die Voraussetzungen für einen Neuanfang. Er kam 2008 – "als gegenüber statt des Olympiaparks nur Gras und Bäume standen". Seitdem hat er zwei alte Fabrikhallen zu Wohnhäusern umgebaut und mit seinem Counter Café die Gemeinschaft in der Gegend geprägt. "Als ich kam, waren die Künstler schon lange da. Aber sie blieben unter der Oberfläche, waren unsichtbar. Sobald das Café eröffnet war, kamen sie aus ihren Löchern gekrochen. Heute kenne ich die meisten mit Vornamen."