Am 8. Mai 1945 ging in Europa der Zweite Weltkrieg zu Ende. Schon zuvor wurden fast alle nationalsozialistischen Konzentrationslager befreit. In denen spiele auch Sport eine große Rolle. Die Historikern Veronika Springmann hat über das Thema ein Buch geschrieben.

ZEIT ONLINE: Frau Springmann, ihr Buch trägt den Titel Gunst und Gewalt. Wie passen diese beiden Begriffe zusammen?

Veronika Springmann: Mit dem Titel will ich beide Facetten deutlich machen: Es gab den gewaltförmigen Sport, der zur Demütigung, zur Folter und letztlich zum Mord diente. Und es gab den Sport, den Häftlinge verhältnismäßig selbstbestimmt ausüben konnten, wie den Fußball, der mit einzelnen Privilegien verbunden war. Natürlich fand aber dieser immer innerhalb der Herrschafts- und Machtverhältnisse der Lagerstrukturen statt. Gunst und Gewalt sind also auch zwei Kehrseiten einer Medaille: Sport diente zum Mord, aber auch als Überlebenspraxis.

ZEIT ONLINE: Welche Häftlinge konnten in die Gunst kommen?

Springmann: Die Häftlinge in den Lagern waren ja in verschiedene Kategorien unterteilt und hatten demzufolge unterschiedliche Überlebensbedingungen. Dabei haben die sogenannten Funktionshäftlinge (Gefangene, die als Aufseher oder zu anderen Kontroll-, Ordnungs- und Verwaltungsaufgaben gegenüber Mitgefangenen eingesetzt wurden, Anm. der Redaktion) sehr oft eng mit der SS zusammengearbeitet, wobei wir mit einer Wertung aus heutiger Perspektive sehr vorsichtig sein sollten. Sie genossen bessere Arbeitsbedingungen und Lebensmittelrationen, verfügten über eigene Netzwerkstrukturen im Lager und bekamen zum Teil die Möglichkeit, sich zum Beispiel Fußbälle zu besorgen. Laut einiger Berichte haben die SS-Leute den Fußballspielen auch gerne zugeguckt, es wurde wohl am meisten gespielt. Zumindest gibt es dazu die meisten Quellen.

ZEIT ONLINE: Welche Sportarten spielten noch eine Rolle im Lageralltag?

Springmann: Dazu war das Boxen wichtig. Gerade in der fiktionalisierten Literatur – also zum Beispiel bei Primo Levy und Tadeusz Borowsky – spielt es eine besondere Rolle, anhand dessen herausgearbeitet wird, wie unterschiedlich die Haftbedingungen waren. Denn die Boxer wurden mit größeren Nahrungsrationen besser versorgt. Zudem bietet Boxen ja auch eine körperliche und zugleich narrative Struktur: Es geht um das Schlagen und Geschlagen werden, um Sieg und Niederlage, um Schmerzen und Durchhalten. Mit diesen Topoi konnten überlebende Männer den vielschichtigen Alltag in den Lagern beschreiben. Es kann also sein, dass das Boxen in den späteren Erzählungen eine wichtigere Rolle spielte als im Lageralltag selbst. Letztlich werden wir das wohl nie herausfinden können.

ZEIT ONLINE: Wie sah der Sport als Gewalt aus?

Springmann: Als Praxis der Gewalt war Sport allgegenwärtig im gesamten System der Konzentrationslager von 1933 bis 1945. Eine Grundstruktur, die sich überall wiederholt, ist das Laufen bis zur vollständigen Erschöpfung, zum Zusammenbruch. Es ging oft einher mit Kniebeugen, Froschhüpfen und Liegestützen. Das hatte etwas Ritualisiertes, wurde oft bei der Einlieferung in ein Lager oder morgens beziehungsweise abends gemacht. Auch wird hier deutlich: Die militärischen Übungen, die die Aufseher in ihrer Ausbildung durchlaufen haben, wurden genutzt, um die Häftlinge zu demütigen und an ihre körperlichen Grenzen zu drängen. Die vielen Zeichnungen von Häftlingen über diese Gewalt verdeutlichen, wie prägend sie war.

ZEIT ONLINE: Weshalb bezeichnen Sie diese Gewalt als Sport und nicht als Züchtigung oder Folter?

Springmann: Ich benutze den Begriff der Folter ja auch, aber er ist ein Überbegriff. Sport ist in den beschriebenen Fällen die konkrete Praxis, mit denen Menschen gequält wurden. Zudem haben es die Häftlinge selbst oft so genannt, wenngleich der Begriff in manchen Quellen der männlichen Überlebenden in Anführungszeichen gesetzt ist.

ZEIT ONLINE: Welche Rolle spielte die Behauptung von Männlichkeit im sportlichen Geschehen in den Lagern?

Springmann: Dieser gewaltförmige Sport wurde zuallererst gegen Männer gerichtet. Das hat auch mit der Zeit zu tun: In den Dreißigerjahren war Frauensport generell noch nicht üblich. Für Männer hingegen wurde Sport genutzt, um eine militärische Männlichkeit auszubilden. Den männlichen Häftlingen wiederum wurde durch die Übungen deutlich gemacht, dass sie das erwünschte Männlichkeitsideal nicht erreichen konnten und sollten. Zugleich versicherte es den Tätern ihrer machtvollen Rollen. Militärische Männlichkeit ist die Folie vor der diese Identitäten und Machtverhältnisse erzeugt werden. Darin liegt auch eine Ambivalenz: Denn die Aufseher, also die Täter, kannten die körperlichen Grenzen ja durch den selbst erfahrenen militärischen Drill. Diese machtvolle Männlichkeit ist also immer auch fragil, sie muss ihre Zugehörigkeit immer wieder herstellen und beweisen.