Muss Clemens Tönnies für die Schäden aufkommen, die durch den Corona-Ausbruch in Rheda-Wiedenbrück entstanden sind? Die nordrhein-westfälische Landesregierung unter Armin Laschet (CDU) hat angekündigt, Ansprüche zu prüfen. Auch Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) spricht davon, dass Tönnies hafte. Alexander Lang ist Fachanwalt für Handels-, Wirtschafts- und Medizinrecht bei der Kanzlei Steinbock & Partner in Würzburg. Im Interview schätzt er die juristischen Grundlagen für mögliche Haftungsansprüche ein.

ZEIT ONLINE: Herr Lang, wer haftet für den Corona-Ausbruch unter den Tönnies-Beschäftigten im Schlachthof von Rheda-Wiedenbrück?

Alexander Lang: Aus meiner Sicht ist das Tönnies selbst. Zwar hat man gerade in großen Schlachtbetrieben in der Regel über ein Werkvertragssystem versucht, die Verantwortung für die Mitarbeiter auf andere abzuwälzen ...

ZEIT ONLINE: Werkverträge bedeuten: Die Mitarbeiter arbeiten bei Tönnies oder in einem anderen Schlachthof, sind aber nicht direkt dort angestellt, sondern bei Subunternehmen, die ihre Dienste an die Schlachthöfe verkaufen.

Lang: Genau. Tönnies und andere Schlachthofbetreiber stellen die Örtlichkeiten zur Verfügung, etwa die Zerlegehallen, in denen die Arbeit getan wird. Und ich bin der Meinung: Das Unternehmen, das die Örtlichkeiten betreibt, muss auch dafür sorgen, dass die Beschäftigten vor Corona geschützt werden. Das ist in anderen Betrieben ähnlich: Wer eine Gaststätte oder einen Supermarkt eröffnet, muss dafür sorgen, dass alle Menschen geschützt sind, die sich in seinen Räumen aufhalten.

Wer eine potenzielle Gefahrenquelle schafft, ist verpflichtet, auf den Schutz der Menschen auf seinem Betriebsgelände zu achten.

ZEIT ONLINE: Auch die Kunden?

Lang: Natürlich auch die Kunden.

ZEIT ONLINE: Ist das tatsächlich so einfach? Arbeitsrechtlich sind doch zunächst die Arbeitgeber für den Arbeits- und Gesundheitsschutz ihrer Beschäftigten verantwortlich. Und das sind im Fall von Tönnies eben die Subunternehmer, über die Werkverträge, nicht Tönnies selbst.

Lang: Das kann man so sehen und ich gehe davon aus, dass Tönnies so argumentieren wird. Aber ich halte es nicht für richtig. Tönnies kann seine Verantwortung nicht auf andere abwälzen – wenn das in der Fleischbranche gälte, was würde dann andere Unternehmen daran hindern, es genauso zu machen und dadurch etwa deutsche Arbeitsschutzbestimmungen zu umgehen? Jeder könnte sich dann so aus der Haftung ziehen.

ZEIT ONLINE: Das klingt eher wie eine moralische Haltung als nach einem juristischen Argument. Gibt es eine gesetzliche Grundlage dafür?

Lang: Auch für Juristen ist die Corona-Pandemie zunächst Neuland. Es gibt deshalb keinen Paragrafen, der etwa besagen würde, dass der Betrieb, in dem besonders viele Infektionsfälle auftreten, dafür verantwortlich ist. Aber Gesetze stellen in Deutschland grundsätzlich immer allgemeine Regeln dar, die dann auf den Einzelfall angewendet werden müssen. Darüber, wie genau das passiert, streitet man dann im Zweifel vor Gericht. Ich bin aber schon der Meinung, dass derjenige, der in einer Pandemie eine potenzielle Gefahrenquelle schafft – in diesem Fall eben Tönnies in seinem Schlachthof –, verpflichtet ist, darauf zu achten, dass die Menschen auf seinem Betriebsgelände vor Ansteckung geschützt sind.

Um Schmerzensgeld- oder Schadensersatzansprüche geltend zu machen, müssen drei Voraussetzungen erfüllt werden.

ZEIT ONLINE: Anton Hofreiter, Fraktionschef der Grünen im Bundestag, hat angeregt, dass Firmenchef Clemens Tönnies die durch den Ausbruch verursachten Kosten aus seinem Privatvermögen zahlen solle statt aus dem Firmenvermögen. Gibt es dafür eine juristische Grundlage?

Lang: Wenn ich mich nicht täusche, ist Clemens Tönnies einer von mehreren persönlich haftenden Geschäftsführern seiner Firma. Dann gibt es diese Grundlage durchaus.

ZEIT ONLINE: Womöglich haben die Menschen sich gar nicht im Betrieb angesteckt, sondern in ihren Unterkünften.

Lang: Ja, auch das macht es in diesem Fall so schwer, Schmerzensgeld- oder Schadensersatzansprüche geltend zu machen. Denn dafür müssen drei Voraussetzungen erfüllt werden: Es muss einen gesundheitlichen Schaden geben, also eine Corona-Infektion. Dann braucht man eine Pflichtverletzung aufseiten von Tönnies, also einen Verstoß gegen Vorschriften. Und schließlich muss eine Kausalität belegbar sein. Das heißt, es muss durch diese Pflichtverletzung zu einer Infektion gekommen sein. Das ist eine relativ hohe Hürde. Aber die Gesundheitsämter versuchen ja, die Infektionsketten zurückzuverfolgen. Deren Erkenntnisse kann man nutzen. Und wenn sie keine Kausalität belegen, dann gäbe es noch das juristische Konstrukt des Anscheinsbeweises.

ZEIT ONLINE: Was ist das?