Notfalltraining

Intoxikation durch das Lokalanästhetikum

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Monika Daubländer, Peer Kämmerer, Martin Emmel, Gepa Schwidurski-Maib

Bei einer 74-jährigen Patientin ist eine umfangreiche prothetische Rehabilitation geplant. Im Oberkiefer sollen fünf und im Unterkiefer vier Zähne (verteilt in vier Quadranten) präpariert und die Abformungen der Stümpfe durchgeführt werden. Aufgrund der Vorerkrankungen der Patientin (arterielle Hypertonie, koronare Herzerkrankung, Diabetes mellitus) hat der behandelnde Internist nach telefonischer Rücksprache mit dem Zahnarzt zur zahnärztlichen Lokal- anästhesie eine adrenalinfreie Lokalanästhesielösung (Mepivacain drei Prozent ) empfohlen. Weitere präventive Maßnahmen sind seiner Ansicht nach aufgrund des guten Allgemeinzustands der Patientin nicht indiziert. Die Patientin ist 1,60 m groß und wiegt 50 kg. Für die Behandlung im Oberkiefer werden insgesamt – aufgrund der langen Dauer der Behandlung ist eine Nachinjek-tion erforderlich – drei Zylinderampullen (5,1 ml) injiziert. Nach etwa eineinhalb Stunden beginnt die Behandlung im Unterkiefer. Auch hier ist eine Nachinjektion erforderlich, da die Leitungsanästhesie im rechten Unterkiefer nicht sitzt. Dies bedeutet, dass weitere zwei Zylinderampullen (3,4 ml) Mepivacain drei-prozentig injiziert werden.

Die Patientin wird plötzlich unruhig, wirkt etwas desorientiert und klagt über Schwierigkeiten beim Sehen. Außerdem beklagt sie Ohrgeräusche (Klingeln). Der Zahnarzt unterbricht die Behandlung, weist die zahnmedizinische Fachangestellte an, den Notfallkoffer zu holen in der Absicht den Blutdruck und den Blutzucker zu messen.

Nun klagt die Patientin über Schwindel und einen seltsamen Geschmack, den sie sich nicht erklären kann. Die Blutdruckmessung ergibt einen Wert von 180/100 mm Hg, die Herzfrequenz liegt bei 95 Schlägen pro Minute. Die Patientin beginnt zu zittern, ist zunehmend desorientiert und letztendlich nicht mehr ansprechbar. Das Zittern steigert sich zu Muskelkrämpfen. Der Zahnarzt appliziert Sauerstoff über eine Gesichtsmaske und lässt den Notruf absetzen. Er versucht mit der assistierenden ZFA die Patientin auf dem zahnärztlichen Behandlungsstuhl zu halten und entfernt alle Gegenstände, die zu einer Verletzung der Patientin führen könnten. Nach wenigen Minuten sistiert der Krampfanfall, die Patientin hört auf zu atmen und zeigt keine Kreislaufzeichen mehr. Das zahnärztliche Team lagert die Patientin auf dem Fußboden und beginnt mit der cardiopulmonalen Reanimation. Diese wird vom Notarzt und von den Rettungsassistenten fortgesetzt bis wieder eine Spontanaktivität des Herzens einsetzt.

Diagnose

Es liegt eine Lokalanästhetikumintoxikation durch die absolute Überdosierung von Mepivacain vor. Diese beginnt mit einer Prodromalphase, die durch unspezifische klinische Zeichen wie leichtes Zittern der Gesichtsmuskulatur, Unruhe, Tinnitus, Nystagmus sowie einen metallischen Geschmack gekennzeichnet ist. Der Verlauf ist vor allem abhängig von der Gesamtmenge der injizierten Substanz, vom zeitlichen Verlauf der systemischen Spiegel (Anflutung im systemischen Kreislauf) und vom Gesundheitszustand des Organismus. Nur die freien, nicht an Plasmaproteine gebundenen Lokalanästhetikummoleküle, können die Blut-Hirn-Schranke überwinden und cerebrale Symptome auslösen. Im beschriebenen Fall wurde vom behandelnden Zahnarzt die gewichtsbezogene Grenz-menge von Mepivacain drei Prozent von 5 ml (entsprechend der Formel (siehe Abbildung): 3 x 50 : 30 = 5) eindeutig überschritten.

Selbst unter Berücksichtigung der Gesamtbehandlungszeit und der in dieser Zeit anzunehmenden Metabolisierung der Substanz (Plasmahalbwertszeit Mepivacain etwa zwei Stunden) wurde zum Zeitpunkt der Behandlung im Unterkiefer die toxische Dosis erreicht.

Neben der absoluten Überdosierung kann es im Rahmen der zahnärztlichen Behandlung zu einer Intoxikation durch eine relative Überdosierung kommen. Diese tritt dann auf, wenn die Injektion entweder intravasal erfolgt oder wenn eine erhöhte Resorption vorliegt (zum Beispiel eine gesteigerte Durchblutung im Injektionsgebiet). In diesem Fall reichen geringere Dosen Lokalanästhetikum aus, um Intoxikations-erscheinungen hervorzurufen.

Die Differenzialdiagnose zur Erstmanifestation einer Epilepsie ist schwierig zu stellen und sollte, wenn nicht aus anderen Gründen erforderlich, zur stationären Aufnahme und neurologischen Diagnostik führen.

Auch ein Mangel an Plasmaproteinen kann zu einer erhöhten Menge an freiem Lokalanästhetikum und zu Intoxikationserscheinungen führen, ebenso wie eine gestörte Leberfunktion. Letzteres ist vor allem bei Amidlokalanästhetika zu berücksichtigen, die ausschließlich in der Leber metabolisiert werden (Lidocain, Mepivacain, Bupivacain). Bei diesen Patienten sollten Präparate mit einem weiteren Abbauweg wie Articain (Plasma und Gewebe durch Cholinesterase) oder Prilocain (Lunge) gewählt werden. Bei einem Mangel an Plasmaproteinen sind Lokalanästhetika mit einer hohen Plasmaeiweißbindung zu bevorzugen (Articain und Bupivacain › 90 Prozent).

Pathophysiologie

Lokalanästhetika blockieren überall im Körper die schnellen, spannungsabhängigen Natriumkanäle. Dies führt bei Nerven in der Peripherie zu einer Unterbrechung der Reizweiterleitung, was sich klinisch im Fall sensibler Nerven als Anästhesie und im Fall motorischer Nerven als Parese zeigt. Im Fall einer Intoxikation sind Gehirn, Herz und Gefäße die relevanten Zielorgane.

Lokalanästhetika können nach Resorption in den systemischen Kreislauf die Bluthirnschranke überwinden und so den Wirkort Gehirn sehr schnell erreichen. Mit rund 20 Prozent der gesamten Durchblutung des Körpers wird dieses Organ bevorzugt versorgt und erhält folglich auch eine höhere Lokalanästhetikumkonzentration (Coronarien fünf Prozent, Niere 25 Prozent). Die für die neurale Blockade notwendige Konzentration von Lokalanästhetika ist relativ gering. Daher ist die Intoxikation durch diese Medikamente primär durch eine zerebrale Symptomatik gekennzeichnet. Im EEG ist dies durch Krampfpotenziale erkennbar. Erst später kommt es auch zu kardialen und zu vaskulären Symptomen.

Im Gehirn führen Lokalanästhetika primär zu einer Ausschaltung der übergeordneten steuernden Zentren, was sich durch die unspezifischen Symptome der Prodromalphase klinisch diagnostizieren lässt. Nach Lidocaininjektion kann auch initial eine Sedation beobachtet werden. Die anschließende Erregungsphase mit tonischklonischen Krämpfen lässt sich klinisch nicht von einem epileptischen Anfall unterscheiden, daher ist dies auch die wichtigste Differenzialdiagnose. In der Regel dauern die durch das Lokalanästhetikum induzierten Konvulsionen jedoch kürzer an. Durch den Krampfanfall kommt es zu einer Beeinflussung der Pharmakokinetik der Lokalanästhetika, wodurch sich die Gesamtkörperclearance deutlich verlängert. Die kardiovaskulären Befunde (Hypertonie, Tachykardie) lassen zu diesem Zeitpunkt noch keine hemmenden Einflüsse durch das Lokalanästhetikum erkennen, denn es überwiegen die zentralen Effekte.

Letztendlich kommt es zur Depressionsphase, wenn das Atemzentrum ebenfalls funktionell ausgeschaltet wird. Dies wird sowohl durch die lokale Konzentration des Lokalanästhetikums im Hirngewebe als auch des Lokalanästhetikums im Liquor hervorgerufen. Am Herzen wirken die Lokalanästhetika negativ inotrop, chronotrop, dromotrop und bathmotrop, was zusätzlich zu einem Herzkreislaufstillstand führt. Die Vasodilatation führt zu einer relativen Hypovolämie.

Allgemeine Diagnostik

Von entscheidender Bedeutung in der Prodromalphase ist das verbale Monitoring des Patienten. Das Erfragen der pathognomonischen Zeichen wie metallischer Geschmack (Stanniolpapier, Alufolie, Batterie) ist essenziell zur Diagnosestellung. Auch eine intraorale Taubheit außerhalb des Injektionsgebiets (wie auch der gesamten Zunge) deutet auf eine zentrale Wirkung des Lokalanästhetikums und damit eine Überdosierung hin. Die Kreislaufparameter bleiben im Unterschied zu den vasokonstriktorbedingten Nebenwirkungen primär stabil, müssen aber – um eine differenzialdiagnostische Einordnung vornehmen zu können – erhoben werden. Zum Ausschluss einer Hypoglykämie sollte der Blutzuckerspiegel, am besten beim Legen der Venenverweilkanüle, bestimmt werden.

Therapie

Eine kausale Therapie ist nicht möglich, da es kein Antidot gibt und die Natriumkanalblockade entsprechend der Rezeptorbindung und der Wirkdauer des jeweiligen Lokalanästhetikums anhält. Die symptomatische Therapie besteht in der Kontrolle und Aufrechterhaltung der Vitalfunktionen. Das rechtzeitige (in der Prodromalphase) Legen eines intravenösen Zugangs und die Gabe von Diazepam (5 bis 10 mg) zu Beginn der konvulsiven Phase können die Krampfschwelle des Gehirns anheben und so die Symptome lindern. Auch die Gabe von sechs Litern Sauerstoff per Nasenmaske reduziert das Hypoxierisiko und damit potenzielle Schäden des Gehirns. Sie ist daher sinnvoll und notwendig und sollte so früh wie möglich eingeleitet werden. Während der Erregungsphase gelten die gleichen Empfehlungen wie beim epileptischen Krampfanfall. Der Schutz des Pa-tienten vor Selbst- beziehungsweise Fremdverletzungen steht im Vordergrund. In der Depressionsphase ist die kardiopulmonale Reanimation die Therapie der Wahl.

Kritische Wertung der Notfallsituation

Bereits bei der Behandlungsplanung sollten die wahrscheinlich benötigte Menge an Lokalanästhetikum berechnet und eventuelle Nachinjektionen berücksichtigt werden. Falls sich die Behandlung in mehrere Abschnitte aufteilen lässt, ist dies in jedem Fall anzustreben. Dies wäre im beschriebenen Fall problemlos möglich gewesen. Ist dies aus medizinischer Sicht jedoch nicht möglich, sollten bezüglich der Anästhesietechnik Verfahren präferiert werden, bei denen nur geringe Mengen Lokalanästhetikum benötigt werden. Dies können zum einen lokale Techniken wie die intraligamentäre Injektion, zum anderen aber auch Leitungsanästhesien (zum Beispiel in den N. infraorbitalis) sein. Auch eine fraktionierte Injektionstechnik ist anzustreben. Insbesondere bei Articain wirkt sich dies bei einer Plasmahalbwertszeit von von etwa 20 Minuten risikoreduzierend aus. Das verwendete Mepivacain weist eine geringe Plasma- proteinbindung und eine deutlich längere Plasmahalbwertszeit auf.

Insgesamt gesehen treten Nebenwirkungen durch die Vasokonstriktoren weitaus häufiger auf als durch Lokalanästhetika. Dennoch sollte jeder Zahnarzt die beiden lebensbedrohlichen Komplikationen dieser Medikamente – die Intoxikation und die anaphylaktische Reaktion – erkennen und therapieren können. Da beide unmittelbar lebensbedrohlich sind, sollte mit der Alarmierung des Rettungsdienstes nicht gezögert werden.

Univ.-Prof. Dr. Dr. Monika Daubländer

Poliklinik für Zahnärztliche Chirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)

Augustusplatz 2

55131 Mainz

daublaen@uni-mainz.de

Dr. Dr. Peer Kämmerer

Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie

Universitätsmedizin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz (KöR)

Augustusplatz 2

55131 Mainz

Dr. Martin Emmel

Praxis Dr. Mohr

Thilmanystr. 5

54634 Bitburg

Dr. Gepa Schwidurski-Maib

Hans-Katzer-Str. 4

50858 Köln

INFO

Mögliche Fehler bei der Therapie

• Verwechslung der Symptomatik mit einer allergischen Reaktion, mit vasokonstriktorinduzierten Nebenwirkungen oder mit einem epileptischen Anfall

• Selbstverletzung des Patienten wie bei einem epileptischen Anfall

• Verletzung des Patienten durch zu starkes Festhalten während des Krampfens

INFO

Präventive Maßnahmen

• Berechnung der gewichtsbezogenen Grenzmenge (gefährdet sind insbesondere untergewichtige Personen und Kinder)

• Berücksichtigung der medikamentenbezogenen Maximaldosis (gefährdet sind schwere und übergewichtige Personen)

• Verwendung eines Vasokonstriktors (in erster Linie Adrenalin) wann immer möglich

• Berücksichtigung der Plasmahalbwertszeit des verwendeten Lokalanästhetikums

• Beachtung der Allgemeinanamnese

• Sorgfältige Aspiration vor der Injektion des Lokalanästhetikums

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