Oralchirurgie 30.08.2012

Diagnostik und Therapie des oralen ­Plattenepithelkarzinoms

Diagnostik und Therapie des oralen ­Plattenepithelkarzinoms

Neben Aspekten der Epidemiologie, Ätiologie, Tumordiagnostik und Klassifikation werden in diesem Artikel verschiedene Optionen der modernen Tumortherapie, bestehend aus Chirurgie, Radiotherapie und Chemotherapie, dargestellt.

Trotz enormer Fortschritte im Bereich der Früherkennung von Plattenepithelkarzinomen der Mundhöhle und deren Vorläuferläsionen ist die Prognose von Patienten mit fortgeschrittenen Tumoren nach wie vor schlecht. Im Gegensatz zu frühen Tumorstadien, die sich durch eine alleinige Resektion erfolgreich behandeln lassen, erfordern fortgeschrittene Tumore ein multimodales therapeutisches Vorgehen.

Epidemiologie und Ätiologie

Mit einem Anteil von 5,6% an allen bösartigen Tumorerkrankungen und mehr als 500.000 Neuerkrankungen pro Jahr weltweit steht das Plattenepithelkarzinom der Mundhöhle an der sechsten Stelle aller Tumorerkrankungen.14,31 Wichtigste auslösende Faktoren für Mundhöhlenkarzinome sind der Konsum von Tabak und Alkohol.72 Das Krebsrisiko steigt mit der Menge und der Dauer des Nikotinkonsums an. Nach 40 Pack-Years erhöht sich das relative Risiko, an einem Mundhöhlenkarzinom zu erkranken, gegenüber Nichtrauchern um das Siebenfache. Tabak enthält eine Vielzahl möglicher Kanzerogene. Die wichtigsten sind jedoch Nitrosamine und aromatische Kohlenwasserstoffe wie 3,4-Benzpyren.29 Die genauen Mechanismen der Pathogenese von Mundhöhlenkarzinomen sind nach wie vor nicht vollständig geklärt. Eine wichtige Rolle scheint die Inaktivierung des Tumorsuppressorgens p53 durch kanzerogene Stoffe zu sein.9 Ein besonders hohes Krebsrisiko durch Rauchen besteht bei Mutationen in einigen Gluthation-S-Transferasetypen. Die Entgiftung von Karzinogenen des Tabakrauchs ist hierbei gestört.15 Kombinierter Konsum von Tabakprodukten und Alkohol führt zu einer besonders starken Erhöhung des Krebsrisikos. Alkohol erhöht die Permeabilität der Mundschleimhaut für Kanzerogene des Tabaks, die so stärker in tiefere Gewebeschichten vordringen können.70 Die kanzerogenen Effekte sind nicht etwa additiv, sondern multiplikativ. Deshalb wurde in Studien durch den kombinierten Konsum von Nikotin und Alkohol ein bis zu 40-fach erhöhtes relatives Risiko gegenüber der nichttrinkenden und nichtrauchenden Bevölkerung ermittelt.8,13 Seit einigen Jahren ist bekannt, dass humane Papillomaviren (HPV), vor allem HPV-16 und HPV-18, eine zunehmende Rolle in der Entstehung von präkanzerösen und kanzerösen Veränderungen der Mundhöhle spielen.3 In einer DNS-Untersuchung von Zellen aus Mundhöhlenkarzinomen wurden in einem Drittel der Proben Bestandteile von HPV-DNS festgestellt. Dabei inakti­vieren die viralen Onkogene von HPV-16 die zellulären Antionkogene, vor allem das p53 Tumorsuppressorgen und aktivieren darüber hinaus zelluläre Kinasen, die die Zellteilung steuern.47 Insgesamt stehen 10% aller Mundhöhlenkarzinome in Zusammenhang mit einer HPV-Infektion.30

Klinische Symptomatik und Diagnostik

Plattenepithelkarzinome der Mundhöhle weisen klinisch kein einheitliches Bild auf. Neben einer Leukoplakie oder einer Erythroplakie können sie sowohl als nicht heilendes Ulkus oder auch als exophytisch wachsende Tumormasse imponieren.13 Die Abbildungen 1 und 2 zeigen jeweils ein Plattenepithelkarzinom im Bereich der Zunge und des rechten Mundbodens. 90% der Tumoren in der Mundhöhle werden entdeckt, weil der Patient tumorassoziierte Beschwerden wahrnimmt, die bereits auf ein fortgeschrittenes Tumorstadium hindeuten. Nur einer von zehn Tumoren wird durch eine allgemeine Untersuchung oder eine gezielte Früherkennungsmaßnahme entdeckt.53 Karzinome bis zu 1cm Durchmesser können dabei vollständig asymptomatisch bleiben. Bei größeren Tumoren kommt es häufig zu Schmerzen, Schwellungen oder Ulzerationen. Die Symptomatik hängt dabei sehr stark von der Lokalisation des Tumors ab. Zungenkarzinome fallen in 44% durch Schmerzen, in 35% durch Schwellungen und Ulzerationen und in 15% durch leukoplakische Bezirke auf. Bei Tumorsitz im Bereich des Processus alveolaris finden sich häufig eine nicht passende Prothese oder eine therapierefraktäre Parodontitis als ers­te Symptome. Karzinome mit Sitz im Bereich der Regio retromolaris können bei einer Parese des motorischen Anteils des Nervus mandibularis zu einer Kieferklemme führen. Oropharynxkarzinome zeigen sich in mehr als 50% der Fälle zuerst durch ein Kratzgefühl im Hals. Bei 6% der Patienten mit Mundhöhlenkarzinomen tritt als erstes Symptom eine Schwellung der Halslymphknoten auf, die bereits ein weit fortgeschrittenes Tumorstadium anzeigt.13,59
Mundschleimhautveränderungen werden zunächst klinisch durch Palpation und Inspektion beurteilt. Die frühzeitige Erkennung eines Tumors sowie die unverzügliche Einleitung entsprechender diagnostischer und therapeutischer Schritte sind von entscheidender Bedeutung in der erfolgreichen Behandlung von bösartigen Tumoren der Mundhöhle. Die klinische Beschreibung der Schleimhautveränderungen ist zur Risiko­abschätzung jedoch nur bedingt hilfreich, da sich auch hinter makroskopisch harmlos anmutenden Mundschleimhautveränderungen ein bösartiger Tumor verbergen kann.57,76
Zusätzlich zur klinischen Beurteilung werden heutzutage verschiedene Verfahren eingesetzt, um den Risikograd von Mundschleimhautveränderungen besser abschätzen zu können. Eine dieser Methoden ist das VEL­scope (Vision Enhanced Lesion Scope), bei der man die fluoreszierenden Eigenschaften intra- und extrazellulärer Substanzen wie NADPH, FAD, Kollagen, Keratin und Porphyrine nutzt. Durch Absorption und Streuung durch Zellorganellen und eine geänderte Gewebearchitektur entstehen sichtbare Fluoreszenzveränderungen, die eine schnelle und nichtinvasive Untersuchung der Mundschleimhaut in Hinblick auf eine gestörte Gewebearchitektur ermöglichen. Findet sich eine Fluores­zenzauslöschung, so besteht der Verdacht auf eine Präkanzerose oder ein invasiv wachsendes Karzinom (Abb. 3a und b).71 Ein weiteres etabliertes Verfahren zur Risikoabschätzung bei Mundschleimhautveränderungen ist die Bürstenbiopsie.68 An dem gewonnenen Material wird eine DNA-Bildzytometrie zur Bestimmung der DNA-Aneuploidie als Marker für die neoplastische Transformation durchgeführt.67

Alle Veränderungen der Mundschleimhaut, die länger als zwei Wochen trotz konservativer Behandlung persistieren, müssen histologisch durch eine Probebiopsie ­abgeklärt werden (Abb. 4).59 Ist die Tumordiagnose ge­sichert, so müssen entsprechende Staginguntersuchungen erfolgen (Tab. 1). Computertomografie (CT) und Magnetresonanztomografie (MRT) dienen in ­erster Linie der Bestimmung der Tumorausdehnung sowie in der Festlegung des Bestrahlungsfeldes zur Planung einer Strahlentherapie.66 Die CT ist vor allem bei der Beurteilung der Knocheninfiltration hilfreich (Abb. 5), während die MRT eine bessere Differenzierung des Weichgewebes, vor allem im zervikalen Lymph­abflussgebiet erlaubt (Abb. 6). Durch die Aufhärtung der Strahlung und von Artefakten, die durch Zähne verursacht werden, ist eine Beurteilung der ­Infiltration von  Weichteilgewebe in der CT manchmal unmöglich.20,75 Die digitale Volumentomografie (DVT) erlaubt ebenfalls die Beurteilung der Knochen­infiltration und erlaubt gleichzeitig eine Übersicht über die Sanierungsbedürftigkeit der Zähne vor einer möglichen Strahlentherapie (Abb. 7).21 In Hinblick auf eine Knocheninfiltration ist die Szintigrafie (Abb. 8a und b) noch sensitiver als die CT. Die Sonografie im B-Scan dient der Suche von Lymphknotenmetastasen am Hals. Sie eignet sich nicht nur prätherapeutisch zur Diagnostik, sondern auch zur posttherapeutischen Verlaufskontrolle der Halsweichteile. Um Fernmetastasen auszuschließen, wird das Staging durch eine Röntgenaufnahme des Thorax oder eine Computertomografie (Abb. 9) und eine Ultraschalluntersuchung oder Computertomografie des Abdomens (Abb. 10) vervollständigt.34,35 Bei 10 bis 15% der Patienten finden sich synchron oder metachron auftretende Zweittumoren. Zur Beurteilung der Ausbreitung des Primär­tumors sollte vor einer Bestrahlung oder einer Tumoroperation eine Panendoskopie erfolgen. In Abbildung 11 ist ein Zweitkarzinom im Bereich des Hypopharynx dargestellt. Dabei sollen im Kopf-Hals-Bereich die ­Nasenhaupthöhle, die Nasen­nebenhöhlen, Larynx, Hypo-, Epi- und Nasopharynx, ­Trachea und der Ösophagus untersucht werden.48

Therapie des oralen Plattenepithelkarzinoms

Neben der anatomischen Tumorausdehnung wird die Auswahl des Therapiekonzepts von weiteren Faktoren wie Alter, Allgemeinzustand des Patienten und Grading abhängig gemacht. Kleine lokalisierte Tumoren der ­Stadien I und II lassen sich in 80 bis 90% der Fälle durch eine lokale Exzision erfolgreich behandeln. Ab dem ­Stadium III (Primärtumoren größer T3 und/oder zervikalem Lymphknotenbefall) ist eine alleinige Resektion des Tumors oder eine alleinige Bestrahlung wenig Erfolg versprechend. Eine multimodale Behandlung, bestehend aus chirurgischer Resektion, Bestrahlung und Chemotherapie, wird nötig, um den Tumor erfolgreich zu behandeln.5,7,24,37 Die Prognose dieser Patienten mit 5-Jahres-Überlebensraten von 45 bis 53% ist nach wie vor schlecht. Der wichtigste Grund hierfür ist loko­regionäres Therapieversagen. Die TNM-Klassifikation und die Stadiengruppierung der 7. Ausgabe der UICC von 2010 für Mundhöhlenkarzinome sind in den Tabellen 2 und 3 dargestellt.7,23

Es kommt nicht nur zu einer lokale Progression des Tumors im Kopf-Hals-Bereich, sondern es entstehen auch in bis zu 38% der Fälle Fernmetastasen, vor allem in der Lunge.58,77 Karzinome, die den Knochen infiltrieren, lassen sich nicht mit letzter Sicherheit rein operativ entfernen. Hinzu kommt, dass eine alleinige Bestrahlung nur in 20% der Fälle zu einer Komplettremission des Tumors führt. Die Ursachen für diese relative Strahlenresistenz sind vielseitig: Während die Radiotherapie die gut durchbluteten peripheren Tumorausläufer, die durch ein operatives Vorgehen nicht erfasst werden, zuverlässig zerstört, ist dies bei den zentralen Tumoranteilen kaum der Fall. Diese Tumoranteile sind oft nekrotisch und entzündlich verändert. Zudem ist die Sauerstoffversorgung meist schlechter als in der Peripherie. So ergänzen sich Operation und Radiotherapie in einer multimodalen Therapie sinnvoll.5,6,37 Obwohl durch die Kombination von chirurgischer Tumorentfernung und Strahlentherapie höhere 5-Jahres-Überlebensraten und eine verbesserte lokoregionäre Kontrolle erreicht wurden, sind diese Fortschritte insgesamt als eher gering zu bewerten.46,63

Diverse Studien haben gezeigt, dass die Einbeziehung der Chemotherapie als dritter Pfeiler in multimodalen Therapiekonzepten zu weiteren Verbesserungen der Prognose bei fortgeschrittenen oralen Plattenepithelkarzinomen führt, weil sie okkulte Mikrometastasen, inoperable Tumorausläufer und unbemerkt bei der OP zurückgelassene Tumorresiduen auslöscht.1,7,12,16 Verabreicht wird die Chemotherapie entweder vor der Radiotherapie als Induktionschemotherapie, während der Bestrahlung als simultane Radiochemotherapie oder nach der Bestrahlung als Erhaltungstherapie.54 In einer Meta-Analyse, die 87 Studien mit 16.485 Patienten umfasste, wurde gezeigt, dass der Einsatz einer systemischen Chemotherapie das unkorrigierte Überleben ­unabhängig vom Zeitpunkt der Applikation nach fünf Jahren um 4,5% verbesserte. Dabei führte eine Induktionschemotherapie nur zu einer nicht signifikanten Verbesserung, wohingegen eine simultane Radiochemotherapie das unkorrigierte Überleben nach fünf Jahren signifikant um 6,5% steigerte.62 Die tumorbiologische Wirkung besteht in einer Verstärkung der Wirkung der Radiatio, in dem das Tumorgewebe für die Strahlenwirkung sensibilisiert wird.5,17 Ein wichtiger Angriffspunkt der Chemotherapeutika ist die Verhinderung der DNA-Reparatur in den Tumorzellen, sodass die Tumorzellen in ihrem Zellzyklus in den strahlensensiblen G2- und M-Phasen verharren. Außerdem soll eine Regeneration, Repopulation und Redistribution der Tumorzellen in den Pausen zwischen den Bestrahlungen verhindert werden. Die Chemotherapeutika vermindern zusätzlich die Strahlenresistenz in hypoxischen Tumorzellen.6,45 Der ionisierende Effekt einer Radiotherapie wird in Gegenwart von molekularem Sauerstoff potenziert. Dabei gilt, dass Hypoxie einer der Hauptgründe für ein schlechtes Ansprechen einer Bestrahlung bei Kopf-Hals-Tumoren darstellt.61 Da die Hämoglobinkonzentration als ein wichtiger Faktor für das Ansprechen auf eine Strahlentherapie gilt, weisen gerade Patienten, die unter einer Anämie leiden, ein schlechteres Ansprechen auf eine Strahlentherapie auf als Patienten mit einer normalen Hämoglobinkonzentration.10

Die am weitesten verbreiteten Chemotherapeutika in der Behandlung von oralen Plattenepithelkarzinomen sind 5-Fluorouracil, Platinderivate wie Cisplatin und Carboplatin, und Mitomycin C.5,59 In den letzten Jahren hat jedoch auch die Substanzklasse der Taxane eine wachsende Bedeutung in der Behandlung solider ­Tumoren erlangt.22 Strahlensensibilisierende Effekte konnten für Paclitaxel sowohl in vitro als auch in vivo nachgewiesen werden.25,36 Eine Meta-Analyse belegte, dass platinhaltige Therapiekonzepte effektiver sind als Therapieregime, bei denen kein Platinderivat enthalten ist.62 Ob jedoch Cisplatin oder Carboplatin eingesetzt werden soll, ist nach wie vor Gegenstand kontroverser Diskussionen, da es bis zum heutigen Tag keine Studie gibt, die einen signifikanten Vorteil für eines der beiden Medikamente zeigen konnte.19,49 Zwei prospektive Studien verglichen die Effekte von Carboplatin und Cisplatin und fanden bezüglich des Überlebens und der lokoregionären Kontrolle Vorteile für Cisplatin, die jedoch bezüglich des Überlebens nicht signifikant waren.19,26 Die erste Studie an 277 Patienten zeigte zwar bei Cisplatingabe eine höhere Ansprechrate des Tumors (32% gegenüber 21%) als bei Carboplatingabe, für das Überleben ließ sich allerdings kein Vorteil unter Cisplatingabe nachweisen, wobei gastrointestinale Nebenwirkungen, Oto- und Nephrotoxizität und hämatologische Toxizität stärker ausgeprägt waren.26 In der zweiten Studie mit 95 Patienten konnte bei Cisplatingabe ein signifikant besseres Ansprechen als bei Carboplatingabe nachgewiesen werden.19 Beide Studien schlossen jedoch Tumoren aus verschiedenen Ursprungsorten der Kopf-Hals-Region und nicht nur aus der Mundhöhle ein.19,26  In den meisten Zentren werden fortgeschrittene Mundhöhlenkarzinome primär operiert, und die Patienten erhalten postoperativ bis vier Wochen nach der Operation eine adjuvante Radiochemotherapie.7,16,24,36,69 In einigen Behandlungszentren wird bei fortgeschrittenen oralen Plattenepithelkarzinomen eine neoadjuvante (präoperative) Radiochemotherapie, gefolgt von einer radikalen Tumoroperation, eingesetzt.23,27,32,39,41,56,73 Da es bis zum heutigen Tage keine prospektiven randomisierten Studie gibt, die beide Therapieansätze miteinander vergleichen, ist die Frage, in welcher Situation welches Konzept eingesetzt werden sollte, weitgehend noch offen. Beide Therapiemodelle haben entsprechende Vor- und Nachteile. Ein wesentlicher Vorteil der präoperativen Bestrahlung ist die bessere lokale Gewebsdurchblutung im Tumorgebiet, was zu einer besseren Oxygenierung des Tumorgewebes und somit zu einer Verbesserung des strahlentherapeutischen Effekts führt. Außerdem wird das Tumorvolumen verkleinert und eine Begleitinfektion des Tumors beseitigt, was sich positiv auf die Operation auswirkt.41,81 Zudem wird durch die präoperative Radiochemotherapie eine Reduktion der Zahl der vitalen Tumorzellen erreicht, was das Risiko von Implantationsmetastasen während der Operation verringert.27,33 Da bei einem Ansprechen des Primärtu­mors eine Verkleinerung („Downstaging“) erreicht wird, lässt sich dadurch eine höhere Rate an R0-Resektionen erreichen.23,41 Andererseits wird durch diese Maßnahme ein operatives Vorgehen verzögert. Intraoperativ kommt es häufiger zu Komplikationen wie Blutungen und intrakraniellen Infektionen, postoperativ ist zudem die Wundheilung verzögert. Um dieses Risiko zu verringern, sollte präoperativ eine Strahlendosis von 45 bis 50 Gray nicht überschritten werden.60 Wird der Tumor primär operativ behandelt, so finden sich intraoperativ signifikant weniger Blutungen und postoperativ weniger Wundheilungsstörungen.79 Durch eine sofortige postoperative Bestrahlung können kleine periphere Tumorausläufer, die durch die Operation nicht erfasst wurden, beseitigt werden. Allerdings wird die Effektivität dadurch geschmälert, dass die Blutversorgung des Tumors durch Bildung von Narbengewebe reduziert wird und Hypoxie und Fibrose zur Strahlenresistenz führen.6

In einer kürzlich publizierten Studie konnten wir zeigen, dass Patienten mit einem zervikalen Lymphknotenbefall im Stadium N2 bei neoadjuvanter Radiochemotherapie und nachfolgender Radikaloperation mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von 46% eine signifikant bessere Prognose aufwiesen als Patienten, die zunächst operiert wurden und eine adjuvante Radiochemotherapie erhielten mit einer 5-Jahres-Überlebensrate von 27%. (Abb. 12). Der wahrscheinlichste Grund hierfür scheint zu sein, dass bei Patienten nach neo­adjuvanter Radiochemotherapie signifikant häufiger eine R0-Resektion möglich ist als nach primärer Operation und adjuvanter Radiochemotherapie (89% versus 56%, p<0,001).41 Das Ansprechen auf die neoadjuvante Radiochemotherapie hat einen starken Einfluss auf die Prognose der Patienten: Bei einer Komplettremission betrug die 5-Jahres-Überlebensrate 100%, während sie bei Patienten ohne Komplettremission nur bei 40% lag.39 An dieser deutlichen Diskrepanz zeigt sich, wie wichtig es ist, die Patienten zu identifizieren, die gut auf eine neoadjuvante Radiochemotherapie ansprechen. Das klinische Staging des Primär­tumors und der zervikalen Lymphknoten weist keinen signifikanten Zusammenhang mit dem Ansprechen auf die neoadjuvante Radiochemotherapie auf (cT-Klassifikation, p=0,467; cN-Klassifikation, p=0,255), ein histopathologisches Staging (pTNM) ist für diese Patienten jedoch nicht verfügbar.40 Dies deutet auf eine wesentliche Schwäche der TNM-Klassifikation der UICC für maligne Tumoren hin: Sie basiert ausschließlich auf der anatomischen Ausdehnung des Primärtumors.38,42 Diverse Studien haben gezeigt, dass die Prognose von Patienten mit oralen Platten­epithelkarzinomen maßgeblich von molekularen Eigenschaften des Tumors und nicht von der anatomischen Ausdehnung beeinflusst wird.11,47,74

In der Karzinogenese und malignen Progression von oralen Plattenepithelkarzinomen scheint Podoplanin, ein kleines transmembranäres Glykoprotein vom Muzintyp, eine Schlüsselrolle zuzukommen.43,51,78,80 Podoplanin wird selektiv auf Lymphgefäßendothelien, nicht jedoch auf Blutgefäßendothelien exprimiert, sodass man es früher häufiger verwendet hat, um die Lymphgefäßdichte zu bestimmen.55 Im Gegensatz zur physiologischen Funktion von Podoplanin, die noch weitgehend unbekannt ist, konnten in malignen Tumoren zwei entscheidende Prozesse der malignen Progression dargestellt werden, die von Podoplanin gesteuert werden. Podoplanin ist über die ERM-Proteine Ezrin, Radixin und Moesin mit dem Aktinzytoskelett der Tumorzellen verbunden und so in der Lage, durch Steuerung des Remodellings des Aktinzytoskelettes die Beweglichkeit der Tumorzellen zu erhöhen. Durch diese Erhöhung der Beweglichkeit der Tumorzellen kommt es zu einer Zunahme der Invasionsfähigkeit der Tumorzellen.18,52,80 Podoplanin beeinflusst die Phosphorylierung der ERM-Proteine und auch die Aktivität von kleinen GTPasen, insbesondere Rho-A, welche die Bildung hochmotiler Zellausstülpungen wie der Filopodien induzieren.50 In Studien konnten wir zeigen, dass eine hohe Podoplaninexpression im Primärtumor signifikant mit dem gehäuften Auftreten von zervikalen Lymphknotenmetastasen assoziiert ist und dass eine hohe Podoplaninexpression zu einer massiven Prognoseverschlechterung der Patienten führt. Abbildung 13 zeigt ein orales Platten­epithelkarzinom mit hoher Podoplaninexpression.39,44 Die 5-Jahres-Überlebensrate fiel von 80% bei Patienten mit Podoplanin-negativen Tumoren auf 15% bei Patienten mit starker Podoplaninexpression im Primärtumor (Abb. 14).39 Zudem zeigte sich, dass Patienten mit einer hohen Podo­planinexpression in der prätherapeutischen Biopsie signifikant schlechter auf eine neoadjuvante Radiochemotherapie ansprachen als Patienten mit Podoplanin-negativen Tumoren oder schwacher Expression im Primärtumor (p=0,013).39 Orale Plattenepithelkarzinome besitzen eine heterogene Struktur und setzen sich aus verschiedenen Zelltypen zusammen. Eine ­dieser Gruppen sind die Krebsstammzellen (englisch: Cancer Stem Cells, CSC), die im Gegensatz zu anderen Zellformationen eine signifikant höhere Regenerationsrate aufweisen.2,28,65 Krebsstammzellen haben im Gegensatz zu anderen Tumorzellen ein höheres Invasionspotenzial und zeigen eine ausgeprägte Resistenz gegenüber Bestrahlung und verschiedenen Chemotherapeutika.64 Die Erkennung und Elimination dieser Zellen könnte in Zukunft eine effektive Möglichkeit in der Malignomtherapie darstellen. Da Podoplanin als Marker für Krebsstammzellen beschrieben worden ist, könnte dies erklären, warum Patienten mit einer hohen Podoplaninexpression in der prätherapeutischen Biopsie signifikant schlechter auf die neoadjuvante Radiochemotherapie ansprechen.4,65

Wie für Mammakarzinome und kolorektale Karzinome wird auch in Zukunft für orale Plattenepithelkarzinome die Berücksichtigung molekularer Faktoren für die Klassifizierung und Therapieentscheidung wesentlich sein. Denn die Aggressivität und der Prozess der Kanzerogenese maligner Tumoren wird weniger durch die anatomische Ausdehnung des Tumors zum Zeitpunkt der Diagnosestellung beeinflusst, sondern mehr durch den Ausprägungsgrad verschiedener molekularer Faktoren, wie beispielsweise die Expression von Podoplanin.11,47

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