Rezension von Bernd Seestaedt (am 9.6.2005)

Shylocks Film "Der Kaufmann von Venedig"

"SIEHT AUS WIE EIN ÖLGEMÄLDE, ist aber Kino: Ein Pfund Fleisch will sich Shylock (Al Pacino, vorne links) aus Antonios (Jeremy Irons) Brust schneiden. Eine dramatische Szene, arrangiert in der Manier flämischer Meistermaler, aus der Verfilmung des Shakespeare-Dramas. (Foto: Sony, Zitat aus s.u.)"

Vorspiel

Mister Radford brachte im Mai 2005 per Grossaufnahme eine literarisch vielzitierte Theaterfigur Shakespeares in die deutschen Kinos, die des Juden Shylock im "Kaufmann von Venedig". Hat Will Shakespeare mit diesem Shylock das Hassbild des "seine Schuldner aussaugenden Pfandleihers" heraufbeschworen? War er gar "Antisemit"?

Kein Geringerer als Karl Marx hat im "Kapital" den Shylock am Wickel, bei seiner philosophischen Analyse der Geschichte der weltweiten Warenwirtschaft (was Philosophen so beschäftigen kann, dann aber als überzeitlichem, keineswegs rein kapitalistischem Phänomen). Für Marx, den Shakespeare-Kenner per excellance, ist Shakespeare selbst der prominenteste Kritiker dieses überzeitlichen Phenoumenons, das Geschäft mit Ware - Geld - Kredit. Damit wollen wir uns hier nicht weiter aufhalten.

Shylock nun kreiert den unmöglichen Kreditvertrag: 1 Pfd. Fleisch aus seines Schuldners "Brust" (der Film liess offen, ob tatsächlich am Brustbereich einzuschneiden wäre) als Sicherheit. Welche Sicherheit? Nicht die des Pfandes. Pfänder werden beim Pfandleiher hinterlegt. Er gibt sie gegebenenfalls niemehr heraus. Also eher etwas aus der Schar der dem Kreditnehmer zu Gebote stehenden Güter jedweder Art. Als solche fungierten ja die diversen beladenen Handelsschiffe des Kaufmanns, die alle in der rauhen Welt verlustig gehen.

Das sind die wenigen halblauten und besonders wichtigen Szenen des Films, die in allerhand jungfräulichen Liebesgewisper, einem anderen Handlungsstrang (Shakespeare verdrillt immer mindestens 3 gewichtige Stränge), unterzugehen drohen:

"Subtext"?

Jeder Theaterbeflissene weiss, dass Theatertexte, auch die Shakespeares, nur Spielvorlagen sind. Wer da was zu wem sagt, ist nur gelegentlich "spezifiziert", um einmal dieses aus der Mode kommende Wort zu gebrauchen, das im Film einer der Diener so üppig anwendet, um sich zu gerieren. Hat Shakespeare tatsächlich das englische Analogon des Wortes verwendet? Das Philosophie-gesättigte Wort bezeichnet ja eine geistige Operation und gehört damit - der Geist ist international - allen.
Soweit zum gedruckten Bühnentext. Die Kunst der Inszenierung besteht nun darin, ausser dem "Wer sagt was zu wem?" den sogenannten Subtext zu finden. Insider meinen zu wissen, was das heisst, aber es ist ein weites Feld. Als Shylock erstmals in seiner roten Mütze, dem "Judenstern" von damals, auf die Leinwand tritt, hat er gerade ein Stück Fleisch erstanden, der Schätzung nach 1 Pfd. Das ist film-bildlicher Subtext, für das Theater ungeeignet. Aber was sagt er uns mit Blick auf Shylocks anfangs unbedarft daherkommendes Kreditangebot? Man vergesse auch nicht den langen Monolog, den er vor Bassanio und Kaufmann abhält. Wie hatte Shakespeare das angelegt? Welche Spielräume liess er offen? Al Pacino spielt es so, dass die interne Motivation Shylocks offenbleibt. Empfindet der Bespuckte und Erniedrigte an dieser Stelle etwas wie Rache. Ist Rache i.U. psychologisch von anderen Gefühlen des Typs "Satisfaction". Erst später, macht der Film klar, fühlt die Hauptgestalt Rachegelüste im Sinne von Vergeltung.

Man wird den diversen Shylock-Monologen, es ist sein Stück - fragen. Shakespeares umfangreicher Text lässt sich nirgendwo auf Judenhass festlegen. "Antisemitismus"ist ein Wort am Beginn des 20.Jahrhunderts, das einer Antipathie gegen Juden auch noch rassische Grundlagen unterschieben will. Das auf Will anzuwenden, der in allen Figuren die Individualität, die Leidenschaften sucht, ist purer Unfug!

Geldverleiher

Mit Einleitungstext instruiert der Film über die in der reichen Handelsstadt den Juden vorbehaltene wie aufgezwungene Funktion des Geldverleihers. Das mag als die antike Immerschon-Funktion des Juden in Diaspora angesehen werden. Als traditionelle Geldhändler-Funktion scheint mir eher die Rolle des Geldwechslers in Betracht zu kommen, die in Vielvölkerstaaten, man denke an das biblisch-baylonische Sprachgewirr, eine eminent wichtige ökonomische Funktion innehatten: das Fluide-Machen der Ware-Geld-Geschäfte bei Anwesenheit diverser Währungen. Die heutigen Selbstverständlichkeiten

sind ohne den historischen Einsatz von Juden schwerlich denkbar.

Gleichwohl wurde er zu allen Zeiten von den Angehörigen des Heimatvolkes bespuckt, im Namen des Christentums verhöhnt (was der Film nur in der Eingangszene streift - das ist nicht sein Thema) und hintenrum doch notwendigerweise finanztechnisch in Anspruch genommen, denn die Bank gab es nicht?! Da befrage jeder sein Geschichtswissen dito des Erklärungsmusters für den (kunst-kulturell) offennsichtlichen Reichtum der italienischen Renaissancestädte mittels der Rolle von Banken. Die Bank im heutigen Sinne sass wohl eher hinter den Alpen in "Deutschland" (wenn man wüsste, was das jemals war) in Gestalt der Fugger. Ein anderes Erklärungsmuster wird erstmal nicht verraten.

Als weitere historische Reminiszenz oder bei dieser Gelegenheit schnell aufzulesendes Geschichtswissen sei nachgereicht:
das Wort Ghetto stammt offenbar aus dem Italienischen und wanderte so ins Spanische. Im Englischen heisst das wider Erwarten "geto", sagt jedenfalls die grossaufgemachte "Seite zum Film". Nein, hör ich sagen: "Ghetto", "ghetto" sind ebenfalls verbürgt. Nun fehlt blos noch der Verweis auf die zahlreichen englischen Worte, die mit "gh.." anfangen.

Als Handreichung zur einstweilig zur Geschichtsprüfung (und Wortschatz ist eben auch eines der eminent geschichtlichen Phänomene) sagt uns der Film:
im Renaissance-Venedig des 16.Jahrhundert (Shakespeares) wurde das 1. jüdische Ghetto formiert und von da an nimmt der italienische Begriffs-Bezeichner, womöglich aus einem reinen Namens-Bezeichner entstanden, seinen Lauf. Das Mindeste, was uns der Film geschichtlich mitteilt, ist eine spezielle Frühgestalt des "Ghettos": das nächtliche Wohnghetto. Der Fim streift das Thema, spielt aber damit nicht auffällig. Shylock kommt einmal über dunkle Gassen heim (wo ist Venedig noch heute nachts nicht dunkel). Anders im Fall seiner Verzweifelung ob der Abhandenheit seiner Tochter samt Schatullen von Dukaten (per se aus Gold sagt uns Wikipedia, meiner allgemeinen Beglaubigungsquelle für allerlei Fremdtermini). Al Pacino hat nur eine kurze Szene, um wenigstens einmal das ungeteilte Mitgefühl mit Shylock zu wecken. Auch hier stellt sich die obige Subtext-Frage. Shakespeare liefert die Vorlage. Man kann das so oder anders aus-spielen. Für meinen Bedarf etwas länger. Ich bin Vater und möchte nicht so verlassen werden. Das Vorspiel über den überbehütenden oder etwa wegsperrenden Vater huschte mir auch zu eilig vorbei.

Hier jedenfalls folgt Shylock den laufende Filmeter der teils auf offener Strasse mit barbusigen Dirnen ausgewiesenen Lustarealen der Diaspora-Herren. Ob sich bei Innenaufnahmen Dirnen in Hetären verwandelten, lässt der Film nicht erkennen. Er ist opulent als Bild, pittoresk wie unser obiges Szenenfoto, hat aber bis auf die verheissungsvolle Angangsszene mit den ausser Ghetto auflaufenden Geldverleihern keine darbieterische Ruhe für das historische Detail.

Shylocks Nachtmarsch also ein Unding oder wiedermal gelockerte Spielregeln? Wo jedenfalls waren die damaligen Türsteher, als Shylock eindrang?

Zur Übersetzung

Zum Beispiel um die Feinheiten der noch halblauten Shylock-Mitteilungen nachzulesen: Eine deutsche Übersetzung bietet die "Digitalen Bibliothek". Die englische Audiospur des Filmes läge nah an Shakespeares Text, die Einsortierung der deutschen Fassung ist mir rätselhaft. Man weiss inzwischen, dass die Zahl der verfügbaren Übersetzungen speziell bei ungereimtem "Shakespeare" Legion ist. Selten bemerkte ich jedenfalls eines der auch im Deutschen sonst üppig rüberkommenden Bonmots des Klassikers. Noch eine Beobachtung en passant hier. Nach der verplätscherten Einleitungsphase (oder gefiel mir blos der ganze Handlungsstrang über Graf von Monte Christo alias Dame Portia nicht) stelle ich plötzlich fest, dass meine Spannung raus ist: Vermutung: nicht eine der Figuren taugte mir als Identifikations- und damit Miterlebensfigur.

Endspiel

Um die juristischen Finessen der ausgerechnet (war das Wills Wille?) von Dame Portia vorgetragenen "Rechtsverdrehungen" nachzuvollziehen, wird man ohnehin nachlesen müssen. Eins aber bleibt von der im obigen Foto eingefangenen Szene nach dem grossen Messerwetzen vor Dogen (im Hintergrund links) dito seiner juristischen Verklausulierung hängen:
rechtlich befand man sich auf unsicherem Terrain. Oberstes Gesetz nur: "Schulden sind zu tilgen". Das ist dürftig. Aber nun versuche jeder seine eigene Umdefinition wie etwa "Schuldentilgung, die den Schuldner Schaden an Leib und Leben nehmen lässt, ist auszuschliessen". Oder was ist eigentlich ein hypotheken-fähiges Gut? Hat 1 Pfd. menschlichen Brustfleischs warentechnisch gesprochen Gebrauchswert und erst damit das Recht auf den Titel "Ware"? (Ich unterlasse an dieser Stelle den Verweis auf die zur Zeit von westdeutschen Seminarmarxisten besetzten Einträge in der Wikipedia.)

Als noch eine historische Reminiszenz zum Schmunzeln sei vermerkt, dass schon der Doge sein allwissendes Verfasungsgericht als Rechtsbeistand anrief (für Leute unter 35 - das heist nicht "telefonieren" ;o). Damals genügte im Unikat der hochgelehrte Dr.XYZ, heute hat man irgendeine 5-Personen Bestof-Truppe, Hauptsache ungerader Anzahl. Davor tats wohl der Grosswesir.

Nachspiel

Vorlaufende Filmbesucher verrätselten mir die Schlusszene des Filmes. Dame Portia eilt an ein Dümpelufer ihrer Monte-Christo-Insel. Da agieren je in ihren Känen zwei Männer im Jäger-Hut, mit Pfeil und Bogen auf die wellenschlagenden Fischreichtümer zielend, gelegentlich ziehend. Was geschieht hier? Mit Pfeilen spielen, symbolische Akte vollziehen? Praktikum im brackigen Wasser oder Jäger-Idyll?

Andere meinen es zu wissen: "Al Pacino zeigt uns das mitleidlose Gesicht der Rache. Shylocks Tochter Jessica blickt in der Schlussszene besorgt auf ein Lagunenidyll mit Fischern: In ihrem Blick auf die friedliche Szene mag man die Sorge der Jüdin lesen, die nun mit dem Feindbild Shylock leben muss."


Bernd Seestaedt
Last modified: Tue Sep 27 22:00:13 MEST 2005