Stadtteilzeitung Hildesheim West
Nr. 214 · April 2011
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Rätsel um einen alten Grenzstein

„Dahin, wo du ihn hergeholt hast“

(sbr) „Unter den Grenzsteinen an den Äckern waren früher Flaschen eingegraben“, erzählt Bauer Heinrich Heidland. „Die Flasche im Boden zeigte die Stelle an, wo der Stein hingehört. Wenn die Pferde beim Pflügen an einen Grenzstein stießen, blieben sie stehen. Aber seit die Traktoren im Einsatz sind, wird tiefer gepflügt, da bekommt man nicht immer mit, wo ein Grenzstein hingehört.“ Die Mitarbeiter des Katasteramts bestätigen: „Flaschen werden immer noch unter die Grenzsteine gesetzt. Man verwendet heute aber auch Eisenkegel, je nachdem, wo der Stein eingesetzt wird.“

Auf der Suche nach der Stelle, wo ein Jahrzehnte lang versetzter Grenzstein im Bockfeld hingehört, erfuhren Sabine Brand und Edgar Fritsch eine Menge Einzelheiten – nicht nur über das Setzen der Steine, auch über den Ort und seine Geschichte, über die Landschaft und ihre Nutzung vom Rottsberg bis hinunter zur B 1.

Foto: Mechthild Wolf
Johannes Bormann, Mitarbeiter von Steinmetz Prenzler, hat den Stein von der alten Moritzberger Nordgrenze restauriert
Foto: Mechthild Wolf

Am ersten frühlingshaften Samstag Mitte März wurde der Grenzstein schließlich am Waldrand über dem Gallbergstieg neu eingesetzt. Er trägt die Jahreszahl 1868, deshalb wird er zu jenen 1.716 Grenzsteinen(1) gehören, mit denen die Verkoppelung der Moritzberger Ländereien besiegelt wurde. In den 1840er Jahren hatte die Teilung des Weidelandes im Hildesheimer Westen zwischen Gemeinden wie Himmelsthür, Moritzberg und Sorsum begonnen. Vorher hatten sie gemeinsam das Weiderecht an bestimmten Ländereien, vor allem in den Grenzbereichen und auf dem Rottsberg,. Dieses Land war noch keiner Gemeinde zugeteilt und hatte keinen Eigentümer. In der „Gemeinheitsteilung“ erhielten die Gemeinden als Abfindung für die alten Weiderechte ein Stück Land, das bislang nicht vergeben war. Erst seit dieser Zeit gehört jedes Fleckchen Grund und Boden um Moritzberg zu einer Gemeinde und hat auch einen Eigentümer, denn innerhalb der Gemeinden wurde das neue Land durch die „Privatteilung“ an einzelne berechtigte Gemeindemitglieder ausgegeben.

Auf die Teilungen folgte von 1864 bis 1867 die Verkoppelung. Die Gemeinden konnten (oder mussten) ihre Ländereien noch einmal tauschen, wenn sie sehr verstreut lagen und durch den Tausch zu größeren Einheiten zusammengefügt werden konnten oder kürzere Wege möglich waren. Nach der Verkoppelung standen die Grenzen zwischen Himmelsthür, Sorsum, Neuhof, Hildesheim und Moritzberg endgültig fest. Sie wurden „abgesteint“: mit Grenzsteinen markiert.

Kurz nach der Verkoppelung wurde 1875 der erste – nach heutigen Maßstäben – korrekt vermessene Kataster von Hildesheim und Moritzberg herausgegeben. Dadurch wurden die Schnatgänge überflüssig. Mit diesen Grenzbegehungen (Schnad = Grenze) hatte man in früheren Jahrhunderten einmal jährlich kontrolliert, ob die Grenzsteine noch an den überlieferten Stellen standen.

In den 1990er Jahren begann Hubert Lohmann vom Verein Kultur und Geschichte vom Berge, die alte Tradition der jährlichen Schnatgänge neu zu beleben – aus Spaß an der Tradition, am Wandern und am „Schnattern“. Grenzsteine waren an den Grenzen der Feldmark Moritzberg kaum noch zu entdecken, aber einen fanden die Grenzgänger auf dem Gelände des Familien-Sport-Bundes am Rottsberg. Er trägt das Datum 1832 und geht somit auf eine Forstaufteilung am Rottsberg zurück.

Einen zweiten alten Grenzstein entdeckte Lohmann zufällig im Neubaugebiet Bockfeld-Nord vom Ende der 1970er Jahre. Dort stand der Stein mit der Jahreszahl 1868 in einem Vorgarten. Jahrelang führte der Schnatgang – seit 2009 von „Moritz vom Berge“ organisiert – zu diesem Stein. 2010 wurde der Neu-Moritzberger Edgar Fritsch nach Schnatgang-Manier mit dem Stein bekannt gemacht und so zu seinem „Paten“ auf ein Jahr. Ende 2010 erklärte sich der langjährige Besitzer des Steins bereit, ihn abzugeben. Damit begann die langwierige Suche nach seinem ursprünglichen Standort, denn der Hüter des Steins wusste nur noch grob, aus welchem Bereich er ihn vor über 30 Jahren geholt hatte: vom Rand eines Ackers an einer Straße oberhalb des Gallbergstiegs.

Steinmetz Christian Prenzler nahm den Stein in Obhut, sein Mitarbeiter Johannes Bormann erneuerte die farbliche Fassung der Inschrift: 1868 auf der einen Seite, CK oder GK auf der anderen. Sabine Brand suchte in Archiven, beim Katasteramt, bei der Klosterkammer und in persönlichen Gesprächen mit Nachbarn nach der Bedeutung dieser Angaben und nach der Geschichte der verschiedenen Grenzen im Bockfeld. Mit Edgar Fritsch machte sie sich an die Arbeit vor Ort. Zeitweise ließen die beiden sich vom Katasteramt als provisorische Außendienstmitarbeiter vorschicken: Fritsch mit Spaten, Brand mit Heckenschere. Ihre Suche führte mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einem korrekten neuen Standort für das kleine Denkmal von 1868: Es wurde auf der alten Gemarkungsgrenze zwischen Himmelsthür und Moritzberg – der Moritzberger Nordgrenze – eingesetzt.

Die Schwierigkeit, das kleine Denkmal von 1868 richtig zu platzieren, liegt an der Menge der Grenzsteine, die damals gesetzt wurden – an insgesamt zwölf verschiedenen Punkten auf der Grenzlinie oben auf der Höhe. Es ist aber keiner mehr zu sehen – sie sind zu unterschiedlichen Zeiten verschwunden oder wurden, wenn neu verlegt, unter die Erde gesetzt. Manche fehlten schon bei einer gut dokumentierten Grenzverhandlung von 1949. Damals wurde neu vermessen, weil „Himmers Park“, das Grundstück eines Himmelsthürer Musikers auf der Rottsberghöhe, aufgeteilt und verkauft wurde. 1966 wurde dieses Gelände zur Großbaustelle. Hier entstand – auf Hildesheimer Gebiet – ein neuer Hochbehälter für das Hildesheimer Trinkwasser. Der Aushub der Baustelle wurde in einen alten Himmelsthürer Steinbruch über der Klusburg jenseits der Grenze gefahren. Von der alten Nordgrenze, im Anschluss an den Grenzpunkt, auf dem nun wieder ein Stein steht, wurde über Bauer Heidlands Acker eine neue asphaltierte Straße zur Baustelle gebaut. Schließlich waren hier noch die Tiefbauer am Werk und verlegten neue Wasserleitungen und Kanäle für dem Wasserhochbehälter.

Kein Wunder, dass kein Grenzstein an seinem Platz blieb! Doch bei der Suche gab es Lichtblicke. Fritsch stieß beim ersten Graben in einer Vertiefung auf der angenommenen Grenzlinie auf Glas: Eine Flasche Korn mit älterem Etikett, Firma Berentzen, steckte mit dem Hals nach unten im Boden. 60 Zentimeter östlich davon tauchte dann ein tiefes quadratisches Betonfundament auf, maximal 100 Jahre alt. Man hielt es zunächst für einen Grenzstein oder für das Fundament dazu – Marlit Leester, über 80 Jahre alt, erinnerte sich daran, den Klotz bei ihren Wanderungen mit Opa in der Kindheit gesehen zu haben. Der Termin für die Einsetzung des steinernen Zeugen von 1868 wurde erst einmal verschoben.

Foto: Heidi Leester-Röneke
Die alte Gemarkungsgrenze birgt weitere Messpunkte: Dieses Fundament hat vermutlich zur Markierung eines Höhenpunktes gedient – hier verläuft die 140-Meter-Höhenlinie des Rottsberges
Foto: Heidi Leester-Röneke

Mittlerweile hat sich der Fund geklärt: Er ist das Fundament eines alten Höhenpunktes – hier ist die 140-Meter-Höhenlinie des Hangs markiert. Weiter oben am Rottsberg ist die 150-Meter-Linie durch eben so einen alten Betonklotz mit einer Metallhülse im Zentrum gekennzeichnet. Rund herum hat man ein rot-weißes Gestänge gesetzt. An der alten Nordgrenze über dem Gallbergstieg hingegen war das Fundament etwas gekippt und im Boden versunken – wohl eine Folge des Baustellenverkehrs Ende der 1960er Jahre. Hier wurde wenige Meter entfernt ein neuer Höhenpunkt eingesetzt und durch rot-weißes Gestänge markiert.

Nun bekam auch der Stein von 1868 endlich seinen Platz. Da der Betonklotz kein Konkurrent sein konnte, wurde das kleine Denkmal der Verkoppelung dicht daneben gesetzt auf die Stelle, wo Fritsch und Brand auf die Flasche im Boden gestoßen waren. Mit der Schmalseite steht der Stein auf dem Grenzverlauf. Wer davor steht, blickt auf die Jahreszahl 1868 und – über den Stein hinweg – auf altes Moritzberger Gebiet. Wer dahinter steht, sieht die Zeichen GK oder CK und blickt in Richtung Himmelsthür.

„GK“ bzw. „CK“, die Inschrift, gibt noch Rätsel auf. Weist sie auf die Klosterkammer hin, den Rechtsnachfolger des Moritzstiftes und deshalb Großgrundbesitzer in diesem Bereich? Haben die Buchstaben mit dem alten Flurnamen der angrenzenden Moritzberger Länderei, dem „Klapperkamp“, zu tun? Das Rätsel ist noch nicht wirklich gelöst – die Heimatfreunde, die sich mit diesen kleinen lokalen Denkmälern auskannten, sind meist nicht mehr am Leben.

Zum Abschluss des kleinen Festakts beim Einsetzen des Grenzsteins las Gisela Hahne aus alten Sagen vor – zur Warnung für potentielle Grenzsteinräuber: Wer zu Lebzeiten einen Grenzstein verschoben hat, schleppt sich nachts als Gespenst mit dem Stein ab und sucht verzweifelt nach der Stelle, wo er hingehört. Die Erlösung kommt erst, wenn man dem Täter den richtigen Tipp gibt: „Setz ihn da hin, wo du ihn hergeholt hast.“ Auch wenn man heute durch Versetzen eines Grenzsteins nicht mehr dauerhaft Land gewinnen kann, gilt: Einen Grenzstein neu einzumessen ist teuer. Seine Entfernung ist eine Ordnungswidrigkeit. Die alten Grenzsteine sind zudem Denkmale und stehen deshalb zusätzlich unter Schutz. Sie betonen die Eigenarten der Landschaft. – Nicht nur, dass man sie hüten sollte. Sie sind selbst Hüter der Geschichte – Gedächtnis in Stein.

(1) H. Kloppenburg: Geschichte des Moritzstiftes u. der Gemeinde Moritzberg, maschinenschriftlich, Hildesheim 1933, S. 1152

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