Hermeneutik

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Hermeneutik als geisteswissenschaftliche Methode

Im Gegensatz zur erklärenden Methode der Naturwissenschaften steht die Methode der Geisteswissenschaften, die Hermeneutik. Sie versucht, das Besondere im Einzelereignis herauszustellen, womit sie der Methode der Naturwissenschaften entegegensteht, die eher abstahierend das Allgemeine zu erklären versucht.

Wenn ein Naturwissenschaftler stieht, dass an einem Baum Äpfel auf die Erde fallen, dann versucht er, sich diesen Vorfall mit der Erdanziehungskraft der Erde zu erklären und folgert daraus, dass alle Äpfel, die es gibt, gesetzmäßig auch auf die Erde fallen müssen. Ein Hermeneutiker hingegen betrachtet nur einen einzelnen Text und versucht zu erkennen, welcher Sinn und welche Bedeutung dahinter steckt.

Ziel der Hermeneutik ist es also, die Bedeutung und den Sinn von Äußerungen und Werken des menschlichen Geistes, z.B. von Texten oder Kunstwerken, aus sich und ihrem jeweiligen Zusammenhang "richtig" zu verstehen und auf ihre Bedeutung abzufragen. In der Hermeneutik muss deshalb der Betrachtungsgegenstand Träger eines humanen Sinns sein, während in der Naturwissenschaft der Gegenstand nicht als Träger von Sinn identifiziert wird, sondern in einen Ursache-Wirkungs-Zusammenhang eingebunden wird.

Wie geht man nun bei dieser Methode vor?

Wenn man einen Text liest, dann spielt zunächst die eigene Erfahrung und das bisherige Wissen beim Verstehen des Textes eine wichtige Rolle, da man während des Lesens in seinem Bewusstsein von diesen Erfahrungen beeinflusst wird. Wenn man zum Beispiel einen Text aus früheren Zeiten liest, dann schwingt dabei auch immer ein bisschen die Vorstellung mit, die man heute von dieser Zeit hat. Diesen Hintergrund nennt man das "hermeneutische Vorverständnis". Dies ist der erste Schritt zum Verstehen des Textes. Nun muss man sich intensiv mit diesem Text beschäftigen und dabei den historischen, den sozio-kulturellen und den sprachlichen Zusammenhang miteinbeziehen. Durch diese intensive Auseinandersetzung mit dem Text verschmilzt das eigene Vorverständnis immer mehr mit der eigentlichen Bedeutung des Textes. Bei diesem Vorgang muss man allerdings bereit sein, sich mit seinem Vorverständis auseinander zu setzten und es zu überprüfen. Je nachdem muss man dann falsche Vorstellungen korrigieren. Dadurch kommt es zu einer Vertiefung des eher subjektiven Vorverständnisses, dass immer mehr zu einem eher objektiven sachgemäßen Verständnis wird.

Ein einmaliges Untersuchen des Textes reicht jedoch nicht aus, um seinen Sinn zu erkennen. Viele Wiederholungen sind dazu notwendig. Denn das durch den Prozess erlangte vorläufige sachgemäße Vertändnis bleibt zunächst immer wieder ein erweitertes Vorverständnis, das den Horizont für neue Aspekte öffnet. Mit diesem Vorverständnis geht man nun erneut an den Text heran und gelangt dadurch wieder zu einem noch erweiterten Vorverständnis. Da diese Bewegung einer Spirale gleicht, nennt man diesen Prozess der ständigen Wiederholung "hermeneutischer Zirkel" oder "hermeneutische Spirale". Dieser Vorgang ist vergleichbar mit einem Lied, dass man huntertmal hört und trotzdem jedesmal wieder etwas Neues an ihm entdeckt.

Parallel zum ersten "hermeneutischen Zirkel" gibt es während des Prozesses des Erkennens noch einen zweiten "hermeneutischen Zirkel". Dieser bezieht sich nicht wie der erste Zirkel auf das Verhältnis zwischen Vorverständnis und sachgemäßem Verständnis, sondern auf das Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen eines Textes und dem Text als ganzem. Wenn man den Sinn der einzelnen Teile versteht, dann versteht man dadurch auch den allgemeinen Sinn des ganzen Textes besser. Umgekehrt kann man dann dank des besseren Verstehens des allgemeinen Sinns des ganzen Textes den Sinn der einzelnen Elemente des Textes noch weiter erschließen. Somit ergänzen sich jeweils auch Ganzheit und Teil eines Textes in einem zirkelförmigen Vorgang, dem zweiten hermeneutischen Zirkel.

Durch diese beiden sich ergänzenden Zirkel kommt es immer mehr zu einem tieferen Verstehen und zu einem immer besseren sachgemäßen Verständnis des Textes. Man nähert sich dem "richtigen" Sinn und der "richtigen" Bedeutung des Textes immer mehr an. Aber es wird immer eine Differenz, einen Unterschied zwischen dem Verständnis des Betrachters und dem "richtigen" Sinn des Textes geben, da sich bei der hermeneutischen Methode der Betrachter des Textes durch sein Vorverständnis selbst auch in das sachgemäße Verständnis miteinbringt. Dieses Vorverständnis beruht ja auf eigenen Erfahrungen und ist dadurch sehr individuell. Auch der Autor des Textes hat folglich ein anderes Vorverständnis als der Betrachter. Das, was der Autor mit seinem Text meint, und das, was der Betrachter versteht, ist demnach niemals deckungsgleich, aber der Abstand dazwischen wird durch die hermeneutische Methode mit ihren Zirkelbewegungen immer geringer. Diesen Abstand nennt man auch "hermeneutische Differenz". Aufgrund dieser hermeneutischen Differenz gibt es im eigentlichen Sinn auch nicht das "richtige" sachgemäße Verständnis. Dies ist der Grund, warum zwei verschiedenen Betrachter eines Textes den Text auch nie genau gleich auslegen werden, weil sie ja ein unterschiedliches Vorverständnis haben.

 

Thomas Schmidle, 08.04.03, GK Religion 13

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