DAV-Forum

Guidelines für bessere Gesetzgebung vorgestellt

Die Eingriffe des Staates in bürgerliche Freiheitsrechte müssen in ihrer Gesamtwirkung betrachtet werden. So steht es im Koalitionsvertrag und das ist auch das Ergebnis eines Forschungsprojekts zur sog. Überwachungsgesamtrechnung, an dem sich der DAV beteiligt hat und dessen Ergebnisse im Rahmen des DAV-Forums „Sicherheitsgesetzgebung und Überwachungsgesamtrechnung” am 17.11.2023 vorgestellt und mit führenden Rechtspolitiker:innen diskutiert wurden.

Im Rahmen der Projektvorstellung stellten die Verfasser:innen der Studie dar, dass die rechtspolitischen Realitäten vielfach zu legislativem Stückwerk und mangelhaften Gesetzen führten. Bei der Podiumsdiskussion stand das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit im Mittelpunkt und dass hier nicht stets ein Gegensatz zu sehen sei. Das Podium war bei rechtspolitischem Streit in der Sache getragen von einem rechtsstaatlichen Verantwortungsbewusstsein und der Auffassung, dass man sich gemeinsam um die Resilienz des Rechtsstaats kümmern müsse.

Grußwort – Rechtsstaatlichkeit und anwaltliche Berufsausübung

DAV-Vizepräsident von Raumer betonte, dass die anwaltliche Berufsausübung mit den Grundfesten von Demokratie und Rechtsstaat verwoben sei. Den Rechtsstaat hochzuhalten bedeute auch, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Anwaltschaft entsprechend arbeiten könne.

Es gebe jedoch Tendenzen, den Schutz der anwaltlichen Berufsausübung aufzuweichen. Hier nannte er beispielsweise den Jones Day-Beschluss des BVerfG. Gegen diesen ist eine Beschwerde vor dem EGMR anhängig, was angesichts einer Annahme-Quote von unter 3% bereits eine Aussage sei.

Projektvorstellung und Guidelines

Aus DAV-Sicht berichtete zunächst Lea Voigt, Vorsitzende des Ausschusses Gefahrenabwehrrecht, über das Störgefühl, dass den Ausschuss regelmäßig bei der Befassung mit sicherheitsrechtlichen Gesetzentwürfen überkam. „Die Konzentration auf das einzelne Gesetz verstellt den Blick auf das Verhältnis zwischen Freiheit und Sicherheit des Einzelnen”, so Voigt. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zur Vorratsdatenspeicherung 2010 hatte den Fokus erstmals auf die Gesamtheit der Datensammlungen gerichtet. Den Begriff „Überwachungsgesamtrechnung“ prägte indes Alexander Roßnagel.

Die Projektzusammenarbeit mit den Universitäten München und Passau sowie dem Arbeitskreis Strafprozessrecht und Polizeirecht begann sodann im Sommer 2021 – nur wenige Monate, bevor die Ampelkoalition den Begriff der Überwachungsgesamtrechnung in ihren Koalitionsvertrag aufnahm. Doch nicht nur das: Auch eine generelle Evaluation der Sicherheitsgesetze sowie die Schaffung einer Freiheitskommission wurden darin beschlossen.


Mark Zöller, Geschäftsführer des Instituts für Digitalisierung und das Recht der Inneren Sicherheit (IDRIS) an der LMU München, erinnert sich an diese positive Überraschung: „Wir waren erst mal begeistert!” Das Projekt passte daraufhin seine To-Dos an: Zuerst wurde ein Eckpunktepapier für die Errichtung einer Freiheitskommission verfasst. Parallel wurden zwei Modelle für eine Überwachungsgesamtrechnung entwickelt. Hinzu kam die Bestandsaufnahme: Am IDRIS entsteht Schritt für Schritt eine Datenbank, die die Sicherheitsgesetze von Bund und Ländern evaluiert.

Den Abschluss des Projekts bildet nun ein gemeinschaftliches Fachbuch, das unter anderem „111 Leitlinien guter Gesetzgebung“ (Best Practice Guidelines) formuliert. Diese erfinden das Rad nicht immer neu, wie Zöller betont, „aber auch Banales und Selbstverständliches wird in der Praxis oft übersehen”. Zöller bemängelte generell die fehlende Zeit bei der Einbeziehung von Sachverständigen - beim BND-Gesetz standen für das Verfassen von Stellungnahmen nur 23,5 Stunden Zeit zur Verfügung. So könne keine Offenheit für Korrekturen bestehen.

Robert Esser, Leiter der Forschungsstelle Human Rights in Criminal Proceedings (HRCP) von der Universität Passau stellte im Anschluss die beiden projektinternen Konzepte der Überwachungsgesamtrechnung vor. Beide formulieren auf unterschiedliche Weise Ansätze zur Gewichtung der Eingriffsintensität einer Maßnahme: etwa je nach Dauer, dem betroffenen Adressatenkreis, den Löschvorschriften oder auch einem Richtervorbehalt.

Auch zur Freiheitskommission teilte Esser die Gedanken des Forschungsprojekts mit den Anwesenden. Das favorisierte Modell versteht das Gremium als eine Art amicus curiae, angedockt ans BMJ oder den Bundestag bzw. die Landtage. Zu klären seien natürlich seine Rolle und seine Beteiligungsrechte, auch das Verhältnis zu anderen Einrichtungen, etwa dem Normenkontrollrat oder den Datenschutzbeauftragten. Wer sitzt drin, ist die nächste Frage. Denkbar sind laut Esser hier Vertreter:innen aus der Wissenschaft und der Anwaltschaft, aber auch pensionierte Ministerialbeamte. Das Prüfprogramm könnten die formulierten 111 Guidelines sein (vgl. ausführlicher zu den Guidelines den Projektbericht von Voigt/Schmidt-Matthäus, der auch im AnwBl. 12/2023, S. 664 ff. erscheint).

Podiumsdiskussion mit führenden Rechtspolitiker:innen

Am Vorabend der Veranstaltung wurde das BND-Gesetz im Bundestag verabschiedet. Insbesondere die Abgeordneten Konstantin von Notz (Bündnis 90/Die Grünen) und Konstantin Kuhle (FDP) zeigten sich zu Beginn der Diskussion sehr erleichtert über dieses Ergebnis. „Gesetzgebung ist immer steinig – umso steiniger, je relevanter das Thema ist“, erläuterte Kuhle. „Aber hier ist es einem selbstbewussten Parlament gelungen, eine Vorlage aus der Exekutive wesentlich zu verbessern.“ Von Notz bezeichnete es als das wichtigste Gesetz seiner 14-jährigen MdB-Laufbahn.

Am Ende steht nun eine Lösung, die sowohl den Sicherheitsinteressen als auch den Bürger- und Freiheitsrechten gerecht wird. Überhaupt standen die Begriffe Sicherheit und Freiheit im Fokus der Diskussion – oft als Gegenpole. Der Rechtsausschussvorsitzenden Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU) stieß genau dies bereits zu Beginn auf: „Man darf Sicherheit und Freiheit nicht als Gegensätze definieren“, kritisierte sie. „Der Staat hat den Job, uns vor bestimmten Dingen zu schützen.“ Der Begriff der Überwachungsgesamtrechnung und das dahinterstehende Narrativ vom Staat, der seine Bürger überwachen wolle, entspreche daher auch nicht ihrer Vorstellung von Staat.

Auf dem Podium diskutierten: Konstantin von Notz, Konstantin Kuhle, Elisabeth Winkelmeier-Becker, Felor Badenberg und Carmen Wegge. Helene Bubrowski moderierte die Diskussion.


Diese Einschätzung teilte auch die einzige Vertreterin der Exekutive, Berlins Justizsenatorin Felor Badenberg (parteilos). Die ehemalige Vizepräsidentin des Bundesamts für Verfassungsschutz teilte das Störgefühl bei Begriffen wie Überwachungsgesamtrechnung und Freiheitskommission. „Ich befürworte den Grundgedanken, der dahintersteht, aber die Begrifflichkeiten finde ich unglücklich“, bemängelte sie. Man müsse immer auch bedenken, welche Wirkung man mit Begrifflichkeiten auslöse. So hätten ihr die Mitarbeiter beim BfV Unverständnis darüber gespiegelt, dass hiernach also sie es seien, die die Freiheit einschränken würden. Sie wünsche sich mehr Vertrauen in Staat und Sicherheitsbehörden. Generell sei das Verhältnis der Bevölkerung zu den Nachrichtendiensten in Deutschland ein ganz anderes als in anderen europäischen Ländern. Von Notz führte dies auf schlechte historische Erfahrungen zurück, sei es durch Gestapo oder Stasi: „Die Skepsis gegenüber staatlichen Behörden ist da, weil Tools missbrauchbar sind.“ Seiner Ansicht nach lohne es daher auch, Normen unter dem Gesichtspunkt anzuschauen, was man damit anfangen könne. Carmen Wegge (SPD) nannte in diesem Kontext das „Thüringen-Projekt“ des Verfassungsblogs, ein Planspiel, was passieren könnte, wenn autoritär-populistische Parteien staatliche Machtmittel in die Hand bekommen. Von Notz kritisierte schließlich auch die „Waagschalen-Logik“ zwischen Freiheit und Sicherheit: „Sie suggeriert ein Plus von Sicherheit durch den Abbau von Freiheit. Aber überall dort, wo Freiheit abgebaut wird – siehe Russland – bedeutet das für die Bürger:innen eine maximale Bedrohung“, mahnte er. Kuhle führte aus, dass sein Vertrauen in die Arbeit der Geheimdienste gestiegen sei, seit er Mitglied im Parlamentarischen Kontrollgremium ist. Auch könne seiner Ansicht nach das Vertrauen der Bevölkerung in die Arbeit der Sicherheitsbehörden durch mehr Transparenz gestärkt werden. Eine Überwachungsgesamtrechnung könne daher ein Mittel sein, mehr Vertrauen zu schaffen und für die Breite der Bevölkerung einen Mechanismus darstellen ähnlich wie das Parlamentarische Kontrollgremium für die Abgeordneten.

Ausblick - Was wird aus dem Koalitionsvertrag?

Die Ampel feiert dieser Tage Bergfest. Grund genug für Moderatorin Helene Bubrowski nachzuhaken, wie es denn um die Umsetzung des Koalitionsvertrags hinsichtlich der Überwachungsgesamtrechnung bestellt ist. Abgeordnete Carmen Wegge räumte ein, dass das Vorhaben etwa ein Jahr hinter dem ursprünglichen Zeitplan zurückliege. Das Projekt sei gemeinsam von BMJ und BMI ausgeschrieben – Ende 2023 erfolge der Zuschlag. Für die Umsetzung habe das Projekt dann ein Jahr Zeit. „Die Koalition hat dann hoffentlich noch Zeit, Konsequenzen zu ziehen.“ Sie setzt viel Hoffnung in das Konzept der Überwachungsgesamtrechnung. „Die Politik hat den Sicherheitsbehörden oft einen Bärendienst erwiesen“ – vieles sei von den Verfassungsgerichten kassiert worden. Dieser Teufelskreis sei zu Recht von der Rechtswissenschaft angeprangert worden.


Mit großer Sorge sahen alle Beteiligten den Rechtsruck in der politischen Landschaft. Laut Wegge sei etwa die Verfassungsrichter-Wahlprozess vor diesem Hintergrund problematisch. Von Notz stellte die rhetorische Frage, was mit den Nachrichtendiensten und Polizeien passiere, wenn die AfD in den Ländern stärkste Kraft wird. „Es lohnt sich, aus den Gräben heraus zu steigen“, mahnte er. Auch Winkelmeier-Becker betonte die große Schnittmenge zwischen Regierung und Opposition und pochte unter großer Zustimmung darauf, das Thema Resilienz des Rechtsstaats gemeinsam anzugehen.

Redaktioneller Hinweis: Einen Live-Mitschnitt der gesamten Veranstaltung finden Sie hier.


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