Ständige Gewissensbisse: Wie Wissenschaft als Beruf an uns nagt
Ich habe ein schlechtes Gewissen. Immer. Seit vielen Jahren. Spätestens mit Beginn der Promotion ist es zu meinem ständigen Begleiter geworden. Mal tritt es in den Hintergrund, es flüstert kaum vernehmbar all die Punkte auf der To-do-Liste in mein Ohr, die ich noch nicht erledigt habe, und wenn ich beruflich sehr stark eingebunden bin, kann ich das phasenweise sogar ausblenden. Mal sitzt es mir nachts auf der Brust, es wiegt dabei schwer und plärrt mir ins Ohr, dass ich über den Tag schon wieder nicht genug geschafft habe, dass ich erneut Menschen enttäuscht, mich nicht ausreichend für meine berufliche Zukunft engagiert habe. An Schlaf ist dann erst einmal nicht mehr zu denken. Mein schlechtes Gewissen ist unerbittlich, und seine Botschaft ist klar: Du hast es verbockt. Du bist schuld. Du hast es schon wieder nicht gut genug gemacht, auch wenn Du Dir die Beine ausgerissen hast, um es hinzubekommen. Eines muss allerdings auch mein schlechtes Gewissen einräumen: Zugegebenermaßen wäre das, was da auf der To-do-Liste steht, auch an einem 36-Stunden-Tag nicht hinzukriegen gewesen. Aber diesen Umstand kann man vernachlässigen, findet das schlechte Gewissen, und ich selbst sehe das nicht selten genauso. Die Härte gegen mich, mit der mein schlechtes Gewissen mich Tag um Tag bearbeitet, habe ich mir längst selbst zu Eigen gemacht. Im heutigen Newsletter will ich den Mechanismen dahinter auf die Spur kommen — und einige Überlegungen dazu anstellen, wie sie sich durchbrechen lassen und warum das dringend nötig ist: Nicht nur für mich, nicht nur für die, denen es ebenso geht wie mir, sondern auch für unsere wissenschaftliche Arbeit.
Alles gleichzeitig, und zwar bitte sofort
Eine eindeutige Ursache für das schlechte Gewissen ist schnell ausgemacht, und ich habe in diesem Newsletter schon häufiger darüber geschrieben. Unter dem Stichwort „Anforderungsinflation“ wird auch in den Sozialen Medien immer wieder thematisiert, dass Wissenschaftler_innen eine Vielzahl von Aufgaben bewältigen müssen. Das heißt zum einen, dass viele Typen von Aufgaben zusammenkommen — Forschen, Publizieren, Begutachten, Anträge schreiben, Lehren, Abschlussarbeiten betreuen, Workshops organisieren, administrative Tätigkeiten, Gremienarbeit, Projektorganisation, Wissenschaftskommunikation usw. (die Liste ließe sich noch fortführen). Zum anderen ist auch die Zahl der Aufgaben, die sich in diese Kategorien einordnen lassen, immens groß.
Nun mag man einwenden, dass das kein Alleinstellungsmerkmal der Arbeit in der Wissenschaft ist. Auch in anderen Berufen wird viel von den Beschäftigten verlangt, etwa in Berufen im Management. Allein: In der Wissenschaft geht es nicht um den nächsten Karrieresprung innerhalb eines selbstverständlich unbefristeten Arbeitsverhältnisses, der auf dem Spiel steht, wenn Aufgaben nicht oder nicht schnell oder nicht gut genug bewältigt werden. In der Wissenschaft geht es beruflich andauernd um alles. Ich bemühe gern die Metapher des Jonglierens mit zu vielen Bällen: Das Gros der Wissenschaftler_innen in Deutschland ist befristet beschäftigt. Wenn diesen Leuten — zu denen auch ich zähle — beim Jonglieren die falschen Bälle herunterfallen, kann das durchaus bedeuten, dass wir unseren Beruf nicht weiter ausüben können, dass wir gezwungen werden, uns beruflich umzuorientieren, und das nicht selten mit Anfang/Mitte 40. Aber welches sind die falschen Bälle, die keinesfalls herunterfallen dürfen? Es gehört zu einem intransparent ausgestalteten Wissenschaftssystem, dass man das oft erst hinterher weiß. Also versuchen wir ständig alle Bälle zu fangen oder in der Luft zu halten, und nehmen es uns selbst übel, wenn das nicht gelingt.
Hyperkonkurrenz provoziert zum Dauervergleich
Das deutsche Wissenschaftssystem liebt den Wettbewerb — und zwar besonders Formen davon, die ausgesprochen schlecht sind für die Menschen im System und die Wissenschaft, die sie treiben. Wir konkurrieren dauernd mit anderen, sei es um Stellen, Drittmittel, Preise oder sonst irgendetwas, und weil die Glorifizierung von Überarbeitung in der Wissenschaft immer noch ein Ding ist (Sätze wie „ich habe wieder die halbe Nacht/das ganze Wochenende/in meinem Urlaub am Aufsatz gesessen“ werden nach wie vor gesagt), feuern wir damit unsere schlechten Gewissen noch gegenseitig an. Die anderen arbeiten sicher alle mehr als wir, sie schaffen auch bestimmt viel mehr, schon wieder einen Aufsatz publiziert, einen Antrag durchgekriegt, wie machen die das bloß?
Das Interessante an Vergleichen ist aber, dass wir sie oft so anstellen, dass von vornherein klar ist, dass wir nur verlieren können. Denn in jedem Bereich wird es Leute geben, die besser sind als wir. Vergleiche ich mich aber mit Kollegin A, die sehr viele Drittmittel hat, und fühle mich wie eine Drittmittelversagerin, und dann noch mit dem Kollegen B, der mehrere Aufsätze prominent platziert hat, und fühle mich wie eine Publikationsversagerin, dann übersehe ich offenkundig eine wichtige Sache: Kollegin A hat möglicherweise weniger prominent platzierte Aufsätze als ich, und Kollege B weniger Drittmittel. Wenn ich mich für jeden Aufgabentyp immer nur mit der Person vergleiche, die ein Superstar im Hinblick auf diesen Aufgabentyp ist, kann das für mich nur schlecht ausgehen. Mein schlechtes Gewissen hingegen jubiliert dann, während es nachts gut genährt und bräsig auf meiner Brust sitzt und mir genüsslich Luft und Lebensfreude abschnürt.
Immer ist jemand enttäuscht
Aber es ist nicht nur unser Hang zu (unproduktiven) Vergleichen, der unser schlechtes Gewissen erstarken lässt. Es ist auch der Umstand, dass die vielen Aufgaben eben häufig nicht bloß abstrakte Aufgaben sind, die man erledigt oder eben nicht. Hinter diesen Aufgaben stehen zumeist andere Menschen, und sie richten ihre damit verbundenen Erwartungen an uns. Für mich persönlich ist das der schwierigste Aspekt an der nicht schaffbaren Aufgabeninflation: Ständig andere Menschen enttäuschen zu müssen (seien ihre Erwartungen nun legitim oder nicht). Denn wenn ich Aufgaben priorisiere und andere zurückstelle, ist das regelmäßig ein Automatismus, dem ich mich nicht entziehen kann. Das zeigt sich etwa, wenn Studierende eine schnellere Benotung ihrer Arbeit erbitten, weil sie den Studiengang wechseln oder ins Referendariat wollen. Ziehe ich deren Arbeit vor, bleiben andere studentische Arbeiten auf dem Schreibtisch liegen, und das nicht selten auch dann, wenn sie früher eingereicht wurden. Ich habe also die Wahl zwischen enttäuschten Studierenden, die zu Recht erwarten, dass ich ihre Arbeiten chronologisch korrigiere, und enttäuschen Studierenden, die ein Semester verlieren oder ihren Referendariatsplatz. Und ja, jetzt kann man sagen, die, die sich nicht rechtzeitig um ihre Zeitpläne kümmern, sind selber schuld — aber der Erwartung nach einer schnellen Benotung nicht nachkommen hat hier eben auch teils gravierende Konsequenzen, selbst, wenn die nicht von mir verschuldet sein mögen. In jedem Fall ist klar: Ich kann es nicht allen recht machen. Und das gilt auch für zahlreiche andere Aufgaben — wenn ich etwa Herausgeber_innen vertröste, weil ich statt eines Aufsatzes noch einen Antrag dazwischenschieben muss (Drittmittel sind die harte Währung für W2- und W3-Bewerbungen und ich habe halt keinen Tenure Track) etc. etc.
Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, das dem oben beschriebenen mit den unproduktiven Vergleichen ähnelt: Genauso, wie ich mir beim Vergleichen für jede Aufgabe die Person raussuche, die darin am Besten ist, scheinen viele Menschen davon auszugehen, dass die Aufgabe, die sie betrifft, die wichtigste ist und deshalb auf meiner To-do-Liste ganz oben zu stehen hat. Das geht aber nun mal nicht, denn eine Liste, in der alle Aufgaben auf Platz 1 stehen, ist nicht brauchbar, solange ich nicht überraschend die Fähigkeit entwickle, 100 Dinge gleichzeitig und gleich gut zu tun (was sicherlich nicht passieren wird). Und hier habe ich jetzt noch nicht einmal erwähnt, dass es auch im Privatleben Menschen gibt, die mit guten Gründen Dinge von uns erwarten — was schnell auf der Strecke bleibt, wenn wir uns auf die berufliche Erwartungsflut konzentrieren (von Selbstfürsorge einmal ganz zu schweigen). Statt jetzt wenig aussichtsreichen Phantasien über KI-Unterstützung als ultimativer Rettung nachzuhängen, sollten wir lieber die Ursachen dafür aus dem Weg räumen, dass uns ständig das schlechte Gewissen plagt. Dafür zum Abschluss ein paar Vorschläge.
Gute Lebensqualität, gute Arbeit, gute Personalsituation
Ständig unzufrieden sein, weil das schlechte Gewissen dauerpräsent ist, nicht gut schlafen und permanent das Gefühl haben, sich selbst und andere zu enttäuschen: Das alles macht den Beruf Wissenschaft nicht gerade attraktiv und trägt sicherlich auch nicht dazu bei, dass die dort geleistete Arbeit bestmöglich vonstatten gehen kann. Es wäre der Lebensqualität und damit auch unserer Arbeit zuträglich, wenn wir nicht dauernd mit schlechtem Gewissen herumliefen. Und nein, dafür braucht es keine Resilienz- oder Zeitmanagement-Kurse und da hilft auch kein Yoga (das sage ich nach vielen Jahren intensiver Yogapraxis, die ich nicht missen will, die aber kein Allheilmittel gegen überzogene Anforderungen im Beruf darstellt).
Was es braucht, sind sichere Perspektiven für Wissenschaftler_innen, u.a. durch ein angemessenes neues WissZeitVG. Perspektiven, die dafür sorgen, dass es beim Jonglieren nicht mehr ständig um alles geht. Es braucht realistische Aufgabenprofile für Wissenschaftler_innen, die nicht prinzipiell unschaffbar sind. Es braucht weniger Härte gegen uns und andere, weniger unproduktive Vergleiche und ein gestärktes Bewusstsein darüber, dass sehr viele von uns ständig am Limit sind, ihr Bestes geben und dennoch nicht alle Erwartungen erfüllen — weil es eben schlicht nicht geht. Dafür hilft es, offen zu kommunizieren, wenn und dass es zu viel ist, statt die eigene Überarbeitung vor sich her zu tragen wie eine Trophäe. Denn wenn wir genau hinschauen, kommt uns diese Trophäe doch bekannt vor: Sie sieht ziemlich genau so aus wie unser schlechtes Gewissen, das uns so nachhaltig quält. Und das werden wir uns wohl kaum auf den Schreibtisch stellen wollen — oder?