Buchbesprechung: Ist das Denkmal oder kann das weg?

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Abriss und Neubau oder doch lieber Erhaltung und Umbau? Keine einfache, aber umso wichtigere Frage. Nicht selten steht die Antwort schon im Vorfeld fest: Das Alte muss weg. Es taugt den heutigen Anforderungen nicht mehr; eine Umnutzung käme zu teuer. Aber ist das wirklich so? Die 2020 erschienene Publikation «Umbaukultur – für eine Architektur des Veränderns» nimmt sich dieser Frage an und zeigt anhand von 25 Projekten exemplarisch, dass gute Architektur trotz – oder eben wegen des Bestandes möglich ist.

«Eigentlich sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, dass Gebäude einen Wert an sich sowie für Städte und Dörfer haben. Sie sind gewachsene Bausteine in ihrem urbanen oder landschaftlichen Kontext und erzählen die Geschichte der jeweiligen Orte. Neben diesen ideellen Werten sind vorhandene Architekturen aber auch eine wertvolle Ressource.»

Lysbüchel-Areal, Basel / «Umbaukultur», Verlag: Kettler

Lysbüchel-Areal, Basel / «Umbaukultur», Verlag: Kettler

Dass wir den Neubau im Normalfall einem Umbau vorziehen, ist eigentlich eine recht junge Erscheinung. Das Nichtwiederverwenden von Bauteilen und Materialien wurde im Zuge der industriellen Herstellung von Komponenten salonfähig. Viele Bauten der Antike sind uns nur erhalten, weil spätere Generationen diese als Ressourcen betrachtet haben. In vielen Fällen sind komplexe Rohbaustrukturen erhalten und abermals umgebaut worden. Dies teils über mehrere hundert Jahre lang. Wurden Gebäude dennoch abgerissen, dann erfolgte dies mit grösster Vorsicht, denn der bereits verarbeitete Stein war wertvoll und bedeutete im Vergleich zum erneuten Zuschneiden und Hauen von Material aus dem Steinbruch einen immensen Zeit- und Kostengewinn.

«Viele Bauten der Antike sind uns nur erhalten, weil spätere Generationen diese als Ressourcen betrachtet haben»

Heute funktioniert die Welt beinahe gegenteilig. Material kostet praktisch nichts mehr. Zwingt nicht gerade eine Pandemie die globalen Lieferketten in die Knie, sind der Fantasie keine Grenzen gesetzt. Der Umbau als unsteter und nicht normierter Vorgang widersetzt sich den effizienten Methoden der Bauindustrie. Er fordert eine hohe Aufmerksamkeit und eine eingehende Beschäftigung, Vorstellungsvermögen und Flexibilität. Unter Zeit- und Kostendruck aber kann diese Leistung oftmals nicht oder nur unzureichend erbracht werden. Ergo entledigt man sich des Bestandes zu Gunsten eines in vielen Aspekten kontrollierbaren Neubaus. Ein Umbau wäre schlicht zu teuer, rechnet sich nicht, birgt zu viele Risiken und zieht unvorhersehbare Kosten nach sich. Leider kommen uns diese Argumente nur zu bekannt vor.

VinziRast-mittendrin, Wien / «Umbaukultur», Verlag: Kettler

VinziRast-mittendrin, Wien / «Umbaukultur», Verlag: Kettler

Abbruch und Neubau sind die Norm, der Umbau meist höchstens eine Alternative. Dabei gäbe es gute Vorreiterprojekte. Etwa die Londoner Tate Modern oder das Berliner Neue Museum. Allerdings sind sie schwer vergleichbar mit normalen Alltagsarchitekturen ohne Anspruch auf die Erhaltung aus denkmalpflegerischen Gründen. Genau hier aber klinkt sich die Publikation ins Geschehen ein. Wichtig ist nicht nur das Erhalten von ideell wertvollen Bauten, sondern generell möglichst viele Gebäude vor dem Abbruch zu bewahren. Dabei geht es in erster Linie darum, zumindest die primären Strukturen – also gebundenes CO2 – in neue Projekte zu integrieren. Würde man sie einfach abtragen und neu bauen, verbrauchte man weitere graue Energie ohne einen wirklichen Mehrwert. Meist aber wird dieser Fakt negiert.

«Mit unserer Art der Kostenberechnung privatisieren wir die Gewinne und kollektivieren die Verluste»

Ein Neubau ist oft nur günstiger, weil die Umwelt- und Entsorgungskosten nicht miteingerechnet werden. Letzten Endes ist dies auch eine Frage der Politik. Doch dürfte dies, wie die Publikation anmerkt, schwierig sein, denn eine tatsächlich gesamtheitliche Betrachtung hätte vermutlich eine Wertminderung von Neubauten zur Folge und fände erstmal wenig Unterstützung. Eine mögliche Art und Weise, diesem Umstand entgegenzuwirken, wäre eine Rücknahmepflicht der Bauteile für die Hersteller und höhere Deponiegebühren für Baustoffe, die nicht dem Recycling zugeführt werden können. «Mit unserer Art der Kostenberechnung privatisieren wir die Gewinne und kollektivieren die Verluste,» schlussfolgert «Umbaukultur».

Eines der acht Essays / «Umbaukultur», Verlag: Kettler

Eines der acht Essays / «Umbaukultur», Verlag: Kettler

Die acht Essays beschäftigen sich mal praktischer, mal theoretischer mit dem Thema des Umbaus, des Bauens im Bestand und des Bauens mit Bestand. Der Fokus gilt antiken Malereien gleichermassen wie ungeschützten Alltagsbauten aus den Sechzigerjahren. Obschon die Texte bisweilen etwas sehr didaktisch daherkommen und eher wie eine klassische Vorlesung in Architekturtheorie anmuten, bringen sie in ihrer Gesamtheit die vielen Facetten des Themas Umbau auf den Punkt. Die folgenden 25 Projekte in ganz Europa zeigen anschaulich, dass eine entsprechende Beschäftigung mit dem Bestand zu guten Ergebnissen führen kann – nicht nur architektonisch betrachtet, sondern auch hinsichtlich Nachhaltigkeit.

De Flat Kleiburg, Amsterdam / «Umbaukultur», Verlag: Kettler

De Flat Kleiburg, Amsterdam / «Umbaukultur», Verlag: Kettler

Um drei Projekte zu nennen: Die 1890 gegründete und mehrfach ergänzte, schliesslich 1970 stillgelegte Samtweberei in Köln, wurde ab 2014 zu Wohnungen und Büros umgebaut. Aufgrund des niedrigen Budgets beschränkten sich die Eingriffe auf ein Minimum.
Erwähnenswert ist das Projekt zur Erhaltung und des Umbaus von Kleiburg, eines über 400 Meter langen und 11 Stockwerke hohen Baus im Amsterdamer Stadtteil Bijlmermeer. Die Entwickler renovierten die Aussenhaut dieser niederländischen Nachkriegsarchitektur, während es den Bewohnerinnen und Bewohnern offenstand, ihre jeweiligen Wohnungen ebenfalls umzugestalten.
Zu guter Letzt schaut «Umbaukultur» auch in die Schweiz. Der Umbau des Gewerbebaus TP215 auf dem Lysbüchel-Areal in Basel durch das baubüro in situ ist an Pragmatismus kaum zu übertreffen. Architektin Barbara Buser zeigt beispielhaft, dass das Wiederverwenden von einzelnen Bauteilen möglich ist.

«Umbaukultur» beschäftigt sich im ersten Teil eingehend mit verschiedensten Aspekten des Bauens und des Umbauens in unterschiedlichen Epochen und diversen Situationen. Die Publikation bewegt sich auf dem weiten Feld zwischen trockener Architekturtheorie und Baustellenrealität. Sie ruft dazu auf, in sogenannte Gesamtbetrachtungen auch wirklich alle Teilbereiche von bereits verbauter grauer Energie bis zur Entsorgung von Abrissmaterial miteinzubeziehen. Wichtig: Dies gilt nicht nur für die Erhaltung aus historischen Gründen, sondern auch für unscheinbare Alltagsarchitekturen.
Wir sollten uns nicht fragen: «Ist das Denkmal oder kann das weg?», sondern «Was leistet der Bestand bereits?»

Text: Simon Heiniger / Architektur Basel


Christoph Grafe und Tim Rieniets mit Baukultur Nordrhein-Westfalen
Umbaukultur
Für eine Architektur des Veränderns
März 2020
264 Seiten
farbige Abbildungen
Softcover
€ 34.- (inkl. MwSt. + Versandkosten)
ISBN 978-3-86206-804-3
Verlag Kettler, Dortmund, 2020.

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