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Landgewinnung an der Nordseeküste – ein Jahrtausende währender Kampf

Blas landgewinnung 1 - Sieh zu, dass du Land gewinnst!

„Sieh bloß zu, dass du Land gewinnst!“ Diesen durchaus als Drohung zu verstehenden Zuruf verwenden wir meist dann, wenn wir wünschen, dass zwischen einem miss­liebigen Menschen und uns ein möglichst großer Abstand erreicht werden soll. Schnellstens, wenn’s irgend geht, sonst drohen Verwicklungen bis hin zu schlagartigen Körperkontakten: Es ist gesünder, wenn du dich rasch entfernst!

Nimmt man diesen Ausspruch an unserer Nordseeküste wörtlich, bekommt er jedoch eine völlig andere Bedeutung. Ein Blick auf Köge, Polder oder Groden (die unterschiedlichen Bezeichnungen meinen alle das Gleiche) und Deiche verdeutlicht: Hier ist Landgewinnung ein bitterernstes Thema, das die Menschen an der Küste seit gut zweitausend Jahren beschäftigt. Oft genug ist das Leben von vielen Bewohnern schicksalhaft damit verknüpft.

Blas landgewinnung 2 - Sieh zu, dass du Land gewinnst!

Untrennbar verbunden mit der Landgewinnung ist der Deichbau und damit der Küstenschutz, der das dem Meer abgerungene oder besser: von ihm zurück gewonnene Land sichern soll, um den dort siedelnden Menschen eine Existenz zu ermöglichen. Es ist eine Tatsache, dass der Meeresspiegel seit der letzten Eiszeit vor fast 12.000 Jahren weltweit um etwa einhundert Meter angestiegen ist und weiter steigt. Für uns Menschen mag die Vorstellung beängstigend sein, im Laufe der Erdgeschichte ist das jedoch eine ganz normale Sache. Gleichzeitig bedeutet dies, dass die Küste sich in ­dieser Zeit immer wieder stark gewandelt haben muss. Alte Karten der nordfriesischen Region – sehr ungenau und deshalb wissenschaftlich umstritten – belegen aber eines klar: In der Nordsee befindet sich die Küstenlinie des heutigen Schleswig-Holsteins viel weiter west­lich (siehe auch 10. Ausgabe der »Sylt en vogue«). Neuere, wesentlich präzisere Karten unseres nördlichsten Bundeslandes aus den Jahren 1950 bis 1980 zeigen, wie sehr sich auch in diesem relativ kurzen Zeitraum die Küste verändert hat. Aber diesmal ist es nicht nur der „Blanke Hans“, der bei steifem Westnordwest mit Sturmfluten bei Neu- oder Vollmond für diese Veränderung sorgt. Menschen haben mit ihrer Arbeit unermüdlich und zäh ein Stück verloren gegangenes Land zurück erobert. Warum tun sie das? Warum steht „De nich will dieken, de mutt wieken“ als Ansporn und Mahnung über diesem Bemühen? Und wie weit hat dieser alte plattdeutsche Spruch heute an Geltung eingebüßt, in Zeiten von hohen Pegelständen, die zu Besorgnis Anlass geben?

Blas landgewinnung 3 - Sieh zu, dass du Land gewinnst!

Dazu müssen wir ein wenig zurück in die Vergangenheit schauen. Wenn Menschen sich an einem Ort niederlassen, der durch Naturgewalten immer wieder gefährdet ist, dann müssen sie einen triftigen Grund haben. Und der ist leicht auszumachen. Das Land an der Nordseeküste ist sehr fruchtbar, das Marschengebiet verspricht hohe Erträge und auf den fetten Weiden finden die darauf grasenden Tiere reichlich gutes Futter. Nur die Tide mit ihren Hochwassern ist lästig, aber leider unvermeidlich. Deshalb errichten schon die frühen Siedler ihre Häuser auf künstlich aufgeschütteten bis zu fünf Meter hohen Hügeln, den Warften oder Wurten. Später umgeben sie diese in einigem Abstand mit einem niedrigen Ringwall, um damit für den um­wallten Bereich wenigstens die Sommerfluten abzuwehren. So können sie sich und ihre Habe im Gefahrenfalle schützen – meistens jedenfalls. Später verbindet man diese Warften untereinander mit einem erhöhten Weg. Schließlich will man auch bei starkem Hochwasser zum Nachbarn kommen, insbesondere, wenn Hilfe gebraucht wird. Diese Warften schützen aber nicht die außen liegenden Ländereien, die mit ihren Erträgen zum Lebensunterhalt beitragen müssen. Über­flutungen mit Meerwasser versalzen das Land und schränken seine Nutzung stark ein. So entsteht aus der Not heraus der Zwang, auch dieses gegen die Nordsee zu schützen. Deiche müssen gebaut werden. Nach und nach entwickelt sich so ein besserer Schutz des Nutzlandes. Ein erster Schritt zu einer dauerhaften Landgewinnung und -sicherung ist getan.

Gezeiten haben aber nicht nur Nachteile, wie die findigen Friesen sehr schnell spitzkriegten. Jede Flut transportiert eine Menge Schwebstoffe, die im ruhigeren Wasser sinken und das Land allmählich so weit erhöhen, dass es nicht mehr regelmäßig überschwemmt wird. Diese ma­rinen Ablagerungen von salzhaltigen Sedimenten bestehen aus stickstoffreicher, organischer Substanz. Sie bilden die Grundlage für die so genannten Kalkmarschen, die sehr viele Nährstoffreserven enthalten und außerdem viel Wasser speichern können. Wie kann man diesen natürlichen Prozess, der sehr lange dauert und weiteres fruchtbares Land verspricht, unterstützen oder gar beschleunigen? Eine „Wasserbremse“ muss her! Die Lösung sind Lahnungen.

Blas landgewinnung 4 - Sieh zu, dass du Land gewinnst!

Dazu werden vor dem Deich niedrige Doppelreihen aus Pfählen in rechteckige Flächen aufgeteilt. Diese Lahnungsfelder sind eine bewährte, Jahrhunderte alte Methode zur Landgewinnung. Zwischen den Pfählen wird Buschwerk (sogenannte Faschinen) verschnürt. In diesen Feldern kann sich nun der von der Flut herangeführte Schlick ablagern. Dazu werden zwei Meter breite Abwassergräben, die Grüppen, ausgehoben. Diese Grüppen teilen das Lahnungsfeld in etwa zehn Meter breite Beete. Der Aushub erhöht das Land zusätzlich. So kommen Bodenerhöhungen von bis zu zehn Zentimetern pro Jahr zu Stande. Es siedeln sich erste Pflanzen an, die den salzigen Boden vertragen, allen voran der Queller. Er festigt mit seinen Wurzeln den Boden und hält zwischen seinen Stängeln weiteren Schlick fest. Nach einigen Jahren wird vor dem ersten Feld ein zweites errichtet, später ein drittes. Nach etwa zwanzig Jahren sind aus dem Meeresboden Salzwiesen geworden. Irgendwann wird dieses Land kaum noch überspült, nun kann es eingedeicht werden. Ein Koog ist entstanden, andernorts auch als Groden oder Polder bekannt. Das Spiel kann von Neuem beginnen. Erfolgt dann eine weitere Eindeichung, wird der erste Deich zum Schlafdeich, auch Binnendeich genannt. Er bietet als „schlafende“ Verteidigungslinie bei extremem Hochwasser einen zusätzlichen Schutz. In Atlaskarten verdeutlichen die Jahresangaben zur Eindeichung der Köge die lange­ Geschichte der Landgewinnung. Ihre Namen erinnern manchmal an große Literatur: Hauke-Haien-Koog. Wer kennt sie nicht, Theodor Storms schaurig-spannende Novelle „Der Schimmelreiter“?
Auf Sylt werden beispielsweise im Jahr 1950 acht Lahnungen zum Schutz des Deiches vor der Vogelkoje Kampen errichtet, im Jahr 1986 folgen hier sechs Buschlahnungen zur Erneuerung des Lahnungsfeldes. Um dessen Unterhaltung sich der älteste Sylter Heimatverein, die Söl’ring Foriining, kümmert. Und wer mit dem Sylt-Shuttle über den Hindenburgdamm auf die Insel reist, bekommt auf der Nordseite des Dammes dieses Verfahren zur Landgewinnung anschaulich dargeboten.

Das Land ist gewonnen, doch es ist salzig. Wie kriegt man das Salz aus dem Boden, damit neben der Weidewirtschaft auch Ackerbau betrieben werden kann? Die Antwort ist ebenso einfach wie ver­blüffend. Nur drei Dinge sind erforderlich: Regen, viel Geduld und ein Siel. Die Niederschläge waschen das Salz im Laufe der Zeit aus dem Boden heraus. Bei Ebbe wird es durch die Entwässerungsgräben abgeleitet und schließlich durch ein Siel, einem verschließbaren Gewässerdurchlass im Deich, zurück in die Nordsee geleitet. Bei Flut wird das Sieltor durch den Druck des auflaufenden Wassers geschlossen und das salzige Nordseewasser ausgesperrt. Viele Orte an der Nordseeküste tragen ein „-siel“ in ihrem Namen, wie Ostersiel auf Pellworm oder Neuharlingersiel in Ostfriesland.

Deichbau und -erhaltung sind zur Sicherung des so gewonnenen Landes eine unerlässliche Aufgabe. Bis ins 18. Jahrhundert waren allein diejenigen dafür verantwortlich, die Land hinter dem Deich besitzen. Das „Spadelandrecht“, aus dem Mittelalter stammend, weist jedem seinen Teil des Deiches zu und das dazugehörige Vorland (Spadeland). Wer seinen Deich nicht in Ordnung hält, kann mit harten Strafen belegt werden. Wer ihn mutwillig oder in böser Absicht beschädigt, wird nach dem Stedinger Deichrecht von 1424 sogar verbrannt.

Blas landgewinnung 5 - Sieh zu, dass du Land gewinnst!

Der Deichbau ist in früheren Zeiten eine elende Schinderei. Spaten, Kleiforke, Holzbohlen und Karre, zusammen mit der Muskelkraft, das ist es auch schon. Dazu kommen eine Arbeitswoche von sechseinhalb Tagen mit 12 bis 14 Stunden täglich und der Zeitdruck. Deichbau findet nur im Sommer statt. Hier muss von April bis Oktober ordentlich geklotzt werden, damit bis zu den ersten Herbststürmen der Deich geschlossen oder ­instand gesetzt ist. Einhundert Schubkarren voll Kleiboden schaffte vor etwa 500 Jahren ein Mann täglich. Das sind ungefähr fünf Kubikmeter. Für nur einen Meter Deichlänge sind aber im Durchschnitt 80 Kubikmeter erforderlich! Ein Mann brauchte für dieses kurze Stück also 16 Tage! In unserer heutigen Zeit mit Radladern, Planierraupen und Baggern ist kaum nachzuvollziehen, was damals geleistet wurde. Auch ein Blick auf die Deichquerschnitte zeigt die Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte: Beträgt die Deichhöhe um 1600 noch drei Meter und die Breite 19 Meter, so sind es im Jahr 1980 an Höhe 6,10 Metern bei einer Deichbreite von fast 68 Metern. Auch die Deichform ändert sich. Wegen der höher auflaufenden Sturmfluten sind heute Deichhöhen von neun Metern und -breiten von 85 Metern keine Seltenheit – Tendenz steigend. Und immer noch gilt der 250 Jahre alte, berühmte Satz des jeverländischen Deich- und Sielrichters Albert Brahms: „Kein Deich, kein Land, kein ­Leben“.

Heute wird die Landgewinnung manch­mal in Frage gestellt. Auf der einen Seite sollen Köge dem Siedlungsgebiet vorgelagert werden und damit die Küste schützen. Auf der anderen Seite werden wichtige Biotope wie Salzwiesen oder ganze Ökosysteme wie das Wattenmeer zerstört. In Deutschland werden Maßnahmen zur Landgewinnung für landwirtschaftliche Zwecke seit langem nicht mehr durchgeführt. Die letzte große Maß­nahme ist 1987 die Eindeichung des Beltringharder Kooges, der heute mit über 3300 Hektar nach dem Wattenmeer das größte Naturschutzgebiet in Schleswig-Holstein ist. Doch damit ist der Überlebenskampf gegen die See keineswegs zu Ende. Der Wasserspiegel der Nordsee steigt weiter, Sturmfluten laufen höher auf. Stillstand hätte fatale Folgen.

Blas landgewinnung 6 - Sieh zu, dass du Land gewinnst!

Die Übermacht dieser Naturgewalt hat der Lübecker Dichter Gustav Falke treffend in seinem in niederdeutscher Sprache verfassten Gedicht „De Stormfloth“ zum Ausdruck gebracht:

Wat brüllt de Storm ?
De Minsch is’n Worm!
Wat brüllt de See?
’n Dreck is he!

Wird zum Schutz des Landes keine Landgewinnung mehr betrieben, und das darf im Weltnaturerbe Wattenmeer nicht sein, dann gilt mehr denn je die Abwandlung des alten Spruchs: Wer sich nicht um sichere Deiche bemüht, der wird eines Tages weichen müssen – oder es holt ihn der „Blanke Hans“.

Übrigens: Wer auf Sylt zu Gast ist, sollte unbedingt das Erlebniszentrum Naturgewalten am Lister Hafen besuchen. Die dort in einer sehenswerten Ausstellung behandelten Themenbereiche „Kräfte der Nordsee“, „Leben mit Naturgewalten“ und „Klima, Wetter, Klimaforschung“ geben Groß und Klein auf anschauliche und beeindruckende Weise nicht nur zu diesem Thema Auskunft.

Mit einem einfach zu handhabenden Kopfhörersystem kann man sich dort einen ­individuellen Rundgang zusammenstellen und vom Dach des Hauses bietet sich ein einmaliger Rundblick über Dünen und Watt. Und der Lister Koog mit dem ihn abschließenden Mövenbergdeich zeigt, wo hier dem Meer Land abgerungen wurde. (my)

(Fotos: Waleczek) Quelle: 12. Ausgabe der »SYLT en vogue«

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