Wie schulische und juristische Normen eine sinnvolle Beurteilungskultur verunmöglichen

Kürzlich nahm ich an einer Fachdidaktik-Tagung teil, in der es um kompetenzorientierte Beurteilungs- und Prüfungsformen ging. Sowohl von den Erziehungswissenschaften wie auch von den Fachdidaktiken gab es anregende Impulse. Als ich vorstellte, wie ich kompetenzorientiert Zeugnisnoten mache, ohne Prüfungen durchzuführen, gab es eine Reihe von Einwänden. Die hatten alle nichts mit erziehungswissenschaftlichen oder fachdidaktischen Argumenten zu tun. Vielmehr basierten sie auf schulischen Gepflogenheiten oder rechtlichen Vorgaben oder Befürchtungen.

Das Problem, dass Lehrpersonen nicht so prüfen und beurteilen können, wie das wissenschaftliche angebracht ist, ist auf ein Übergewicht an summativer Beurteilung zurückzuführen. Während formative Formen der Evaluation dazu dienen, Lernenden Rückmeldungen zu ihrem Lernprozess zu geben und sie zu fördern, dient die summative Beurteilung zur Qualifikation und Selektion. Juristische Vorgaben und ihre Interpretation durch Schulen dehnen summative Beurteilung nun nach Belieben aus. Unterricht wird durch Prüfungen formatiert, die deshalb abgelegt werden müssen, weil Lehrpersonen sich keine juristischen Probleme einhandeln wollen. »Die Erteilung von Qualifikationen und die Verbesserung des Lernens sind zwei konträre Aufgaben«, hat Stern über den Konflikt zwischen formativem und summativem Beurteilen prägnant geschrieben.

Was bedeutet das konkret? Ich bin aktuell Klassenlehrer einer 9. (bzw. 10.) Klasse im Gymnasium. Die Klasse wurde neu zusammengestellt. Einige Schüler*innen waren schon auf dem Gymnasium, andere nicht. Meine Kolleg*innen führen nun erste Prüfungen durch. Die Schüler*innen lernen unterschiedliche Formen kennen, sie müssen Teile aus Skripten auswendig lernen, Vokabeln beherrschen, Inhalte anwenden. Dann entstehen Aufgabenformate, die sich für eine Prüfung eignen. Punkte werden vergeben, Skalen errichtet. All das hat nichts mehr mit dem Lernen zu tun, es geht hier nicht mehr um erziehungswissenschaftliche Prinzipien oder fachdidaktische Einsichten: Die Lehrpersonen prüfen, weil sie denken, die Schule erwarte das so oder das Gesetz schreibe das so vor. Dann entstehen Prüfungsnoten, diese werden verrechnet und zu Zeugnisnoten. Wenn diese richtig entstehen, hat niemand einen Rekurs zu befürchten.

Die Gymnasien im Kanton Zürich haben keinen Selektionsauftrag. Der Abschluss, die Matur, ist eine Qualifikation für ein Studium. Dafür braucht es summative Beurteilung. In den Jahren zuvor ist sie funktional unsinnig. Die Schulen betreiben teilweise Selektion, ohne dass sie das müssen. Noten schaffen einen Druck und erschweren das Lernen von Jugendlichen.

Mein Gefühl nach der Fachdidaktik-Tagung: Fachpersonen ignorieren dieses Problem. Sie blenden aus, dass die aktuelle Praxis dem widerspricht, was wir über Lernen und Beurteilen wissen. Junge Lehrpersonen sollten lernen, wie Beurteilung funktionieren kann, müssen das aber an den Schulen sofort wieder vergessen, um unsinnige und problematische Prüfungen durchzuführen.

Was wäre mein Vorschlag? Eine absolute Reduktion. Mut, auf Prüfungen zu verzichten. Mut, großzügige Noten im Zeugnis einfach zu setzen und Druck rauszunehmen. Ja, viele Kolleg*innen befürchten dann einen Abfall des Niveaus. Sie wollen Selektion, weil sie so sicherstellen können, nur die Schüler*innen unterrichten zu müssen, die ihren Ansprüchen genügen. Das ist aus meiner Sicht eine falsche Sicht. Das Niveau betrifft nicht die Schüler*innen, die meinen Unterricht besuchen, sondern die Qualität der Lernprozesse, die in meinem Unterricht stattfinden. Der Preis der aktuellen Prüfungskultur ist zu hoch.

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