Interview

Ehemaliger Erster Generalanwalt Erich Weiß im Justizpalast: Vor 50 Jahren in der Gewalt von Gefängnis-Ausbrechern.
Ehemaliger Erster Generalanwalt Erich Weiß im Justizpalast:
Vor 50 Jahren in der Gewalt von Gefängnis-Ausbrechern.
© Alexander Tuma

„Blutvergießen wurde verhindert“

Der damals junge Richteramtsanwärter Dr. Erich Weiß wurde am 4. November 1971 in der Justizanstalt Stein beim Ausbruch dreier Häftlinge als Geisel genommen und blieb 15 Stunden in deren Gewalt. Später machte er Karriere bei der Staatsanwaltschaft.

Wie hat Sie Ihr Berufsweg 1971 in die Justizanstalt Stein geführt?

Nach dem Abschluss meines Jusstudiums habe ich 1970 als Rechtspraktikant im Sprengel des Oberlandesgerichts Wien zu arbeiten begonnen, damals schon als „Übernahmswerber“, also mit dem Ziel, Richter zu werden. 1971 war ich Richteramtsanwärter und wurde dem damaligen Kreisgericht, heute Landesgericht Krems zugeteilt. Dadurch hatte ich immer wieder in der Justizanstalt Stein zu tun, die ja zu Krems gehört. In der Justizanstalt Stein war ich als Vertreter des Untersuchungsrichters bei Rechtshilfevernehmungen tätig und hatte zugleich die Akteneinsicht durch Strafgefangene zu überwachen. Kurz vor der Geiselnahme habe ich meinen 25. Geburtstag gefeiert.

Sind Ihnen die Geiselnehmer schon vor dem 4. November aufgefallen?

Wirklich herausgestochen sind sie für mich nicht. Es gab wesentlich berüchtigtere Insassen, zum Beispiel Johann Rogatsch, der 1960 eine junge Frau brutal ermordet hatte. Rogatsch wollte immer wieder Akteneinsicht nehmen, um sich die Tatortfotos der Leiche anzusehen. Das haben natürlich auch die Mithäftlinge mitbekommen, die Tat hat ihm gewisse Ehrfurcht eingebracht. An ein Gespräch mit einem der Ausbrecher, Alfred Nejedly, erinnere ich mich aber noch. Er hatte laut einer Aktennotiz bereits seit einem halben Jahr Einsicht in seinen Akt genommen. Als ich ihn auf seine Beweggründe angesprochen habe, hat er geantwortet: „Es sind nicht alle so gescheit wie Sie, Herr Doktor!“

Haben Sie sich bei Ihrer Arbeit in Stein sicher gefühlt?

Als ich in Stein zu arbeiten begonnen habe, habe ich mir schon über manche Situationen Gedanken gemacht. In den so genannten Kultursaal in der Justizanstalt, einen Kinosaal, sind bei einem Termin mit dem Untersuchungsrichter üblicherweise 30 bis 40 Gefangene geführt worden. Zusammen mit nur einer Schriftführerin und ein bis zwei Justizwachebeamten bin ich dann Personen gegenübergesessen, die zum Teil alles andere als harmlos waren. Die Gefangenen konnten sich im Kulturraum frei bewegen und auch in den Spazierhof hinausgehen. Die Justizwachbeamten waren zwar zur Aufsicht da, mussten aber ihre Aufmerksamkeit zwischen dem Saal und dem Hof teilen. Und manchmal war überhaupt nur ein Justizwachebeamter da, wenn der zweite Beamte Gefangene aus den Zellen holen oder sie dorthin zurückbringen musste. Das empfand ich persönlich als nicht besonders sicher. Letztlich haben die Täter genau diesen Schwachpunkt ausgenützt.

Erich Weiß: „Es gab noch keine Erfahrung mit Geiselnahmen in Österreich.“
Erich Weiß: „Es gab noch keine Erfahrung mit Geiselnahmen
in Österreich.“ © Alexander Tuma

Wie hat die Geiselnahme begonnen?

Ich war an dem Nachmittag der Vertreter des Untersuchungsrichters. Auf dem Programm sind Rechtshilfevernehmungen und Termine zur Akteneinsicht gestanden. Eine Schriftführerin hat mich unterstützt. Von den zwei Justizwachebeamten war gerade einer weg. Adolf Schandl, Walter Schubirsch und Alfred Nejedly sind in den Spazierhof hinausgegangen, der zweite Justizwachebeamte ist ihnen gefolgt. Ich habe währenddessen gerade einen Häftling einvernommen, der sehr widerborstig war. Sein Verhalten hat mich damals verwundert, aber ich nehme an, dass er mit eingebunden war und mich ablenken sollte. Plötzlich, gegen 15 Uhr, sind Schandl, Schubirsch und Nejedly zurückgekommen – sie hatten den Justizwachebeamten draußen niedergeschlagen, bewusstlos gewürgt und ihm die Waffe abgenommen. Einer hatte ihn immer noch in einer festen Umklammerung, das Gesicht des Beamten war schon ganz blau. Ich bin aufgesprungen und habe gerufen: „Lasst ihn aus, ihr erwürgt ihn ja!“ Sie haben dann tatsächlich von ihm abgelassen, aber Alfred Nejedly hat mir ein selbst zugespitztes Messer hingehalten, einen typischen „Zellenfeitel“, und gesagt: „Gehen’S weg, Herr Doktor, sonst haben’S den Fisch drin!“ Kurze Zeit später haben die drei auch noch den zweiten Justizwachebamten bei seiner Rückkehr überwältigt. Sie haben die Ausgangstüren und den Zugang in den Hof zugesperrt und verrammelt und begonnen, per Telefon ihre Forderungen zu stellen.

Was ist in Ihnen während der Verhandlungen in der Justizanstalt vorgegangen?

Ich war natürlich sehr beunruhigt. Am Anfang haben die drei Täter gefordert, mit uns Geiseln nach Brasilien ausgeflogen zu werden. Ich habe mir überlegt, wie es wäre, die ganze Zeit in ihrer Gewalt zu sein. Und mir ist ein Vorfall in München drei Monate vorher durch den Kopf gegangen: Da hatte es eine Geiselnahme in einer Bank gegeben und eine Frau ist während der Befreiungsaktion der Polizei erschossen worden. Deshalb habe ich auch versucht, aus dem möglichen Schussfeld zu kommen. Meine Sorge war, dass die Polizei vielleicht aus den Lüftungsschlitzen an der Wand in den Saal und auf die Geiselnehmer schießen würde und ich aus Versehen auch getroffen werden könnte. Ich bin deshalb aufgestanden und habe Akten eingesammelt. Einer der Täter hat sich gewundert, wieso ich dazu noch die Nerven habe, aber ich wollte keine Kugel abbekommen. Später habe ich erfahren, dass die Polizei tatsächlich einen solchen Einsatz geplant hatte, aber letztlich als zu gefährlich eingeschätzt hat.

Hat sich die Stimmung im Saal mit der Zeit verschlechtert?

Die Verhandlungen haben sich ziemlich hingezogen und die Geiselnehmer waren zum Teil sehr aufgeregt. Aber sie haben auf mich auch motiviert gewirkt, sie haben sich offenbar einiges von ihrem Ausbruch versprochen. Im Raum haben sich sonst alle ruhig verhalten, daher ist die Situation nie gekippt und es ist auch zu keiner Meuterei oder ähnlichem gekommen. Niemand von den anderen Mitgefangenen hat versucht, sich anzuschließen. Johann Rogatsch haben die drei zwar angeboten, mit ihnen mitzukommen, aber er hat sich geweigert. Er hat nur einen Hosenriemen zum Fesseln hergegeben.

Wann haben Sie gewusst, dass Sie jedenfalls mit den Geiselnehmern mitkommen müssen?

Das war von Anfang an ihre Forderung. Die Verhandlungen im Kultursaal haben sich bis circa 21 Uhr hingezogen. Zwischendurch hat es auch so ausgesehen, als ob man mein Auto als Fluchtfahrzeug nehmen würde. Ich hatte ziemliche Sorge, dass es bei einer Verfolgungsjagd beschädigt werden könnte und konnte ihnen die Idee zum Glück ausreden. Der linke Scheinwerfer meines Wagens hat nämlich nicht funktioniert und ich hatte eigentlich vorgehabt, ihn am Abend noch reparieren zu lassen. Das Trio wollte mit dem Fahrzeug auf keinen Fall auffallen, daher haben sie stattdessen einen Kleinbus der Justizanstalt genommen. Neben mir sollte auch die Schriftführerin als Geisel mitkommen. Sie hatte allerdings eine Erkrankung und der Kommandant der Stadtpolizei Krems, Major Herbert Howanietz, hat spontan angeboten, sich gegen die weibliche Geisel austauschen zu lassen.

War es für Sie eine gewisse Beruhigung, dass ein erfahrener Polizist mit Ihnen im Auto sitzt?

Zuerst habe ich vermutet, dass Major Howanietz versuchen könnte, die Geiselnehmer unschädlich zu machen. Das war aber natürlich unrealistisch, denn es waren drei Männer mit zwei Pistolen und einem Messer, die uns ständig im Auge hatten und bedrohten. Das Mitwirken von Major Howanietz war aber sicherlich entscheidend für den weiteren Verlauf. Er hat sich psychologisch gut auf die Täter einstellen können und er hat ihre Sprache gesprochen, nachdem er lange bei der Wiener Polizei war. Mit Ausdrücken wie „die Heh“, „Kieberer“ und „Puffn“ hat er sie erreicht. Das hat auch dazu geführt, dass sie zum Teil auf ihn gehört und seine Vorschläge angenommen haben.
Auf der Fahrt nach Wien war Nejedly am Steuer, ich bin in der zweiten Reihe auf der Seite im Justizwachebus links ohne Ausgangstür gesessen, dann kam Howanietz und dann einer der Geiselnehmer ganz rechts und einer rechts vorne, die jeweils mit Pistolen auf uns gezielt haben. Major Howanietz hat sie sehr bald aufgefordert, dass sie die Waffen sichern sollen, damit sich nicht unbeabsichtigt ein Schuss löst. Das haben sie zum Glück auch gemacht.

Richteramtsanwärter Erich Weiß (ganz rechts) als Geisel der Stein-Ausbrecher; vorne neben dem Taxilenker befindet sich Major Herbert Howanietz, Leiter der Stadtpolizei Krems.
Richteramtsanwärter Erich Weiß (ganz rechts) als Geisel der Stein-
Ausbrecher; vorne neben dem Taxilenker befindet sich Major Herbert
Howanietz, Leiter der Stadtpolizei Krems. © Archiv

Gab es während der Autofahrt gefährliche Momente?

In Wien, im 14. Bezirk, sind wir in einer Kleingartensiedlung in eine Sackgasse geraten und die Polizei hat versucht, uns einzukesseln. Sie haben Autos quer gestellt und Beamte haben sich uns genähert. „Sehen Sie, das sind Ihre Freunde!“ hat einer der Geiselnehmer gerufen. Ich musste mich vom Sitz erheben, damit man mich besser sehen kann, und ich habe eine Pistole an den Kopf gesetzt bekommen. „Herr Doktor, wir haben persönlich nichts gegen Sie, aber wenn jetzt ein Schuss der Polizei fällt, dann gilt der nächste Schuss Ihnen“, hat mir einer der Täter zugezischt. Für mich waren das ganz bange Sekunden, es war der objektiv gefährlichste Moment der Geiselnahme. Meine Erinnerung an diese Phase ist nur mehr verschwommen, aber Major Howanietz dürfte auf seine Wiener Kollegen eingewirkt haben, Ruhe zu bewahren. Schließlich hat die Polizei den Weg freigemacht und wir sind über die Felberstraße hinaus in Richtung Innere Stadt weitergefahren.

Wieso wurde dann zuerst am Westbahnhof Halt gemacht?

Die drei Ausbrecher wollten unbedingt noch eine Person in ihre Gewalt bringen und meinten, dass es eine weibliche Geisel sein müsste, um den Druck auf die Behörden zu erhöhen. Ich weiß noch, wie einer gemeint hat: „Ohne Frau zaht des net eine!“ Beim Westbahnhof ist den Ausbrechern eine Frau aus Ägypten, die dort als Kolporteurin gearbeitet hat, quasi in die Arme gelaufen. Während wir am Westbahnhof dann zu Fuß von der unteren Etage zu oberer Etage unterwegs waren, kamen von überall Schaulustige. Im Radio war bereits seit Stunden über den Ausbruch aus Stein und die Geiselnahme berichtet worden. Viele Menschen haben die Meldungen mitverfolgt, auch meine Eltern und meine spätere Frau, die sich schreckliche Sorgen gemacht haben. Wir sind trotz der späten Stunde von vielen erkannt worden, natürlich hat man auch die Waffen gesehen. Die Polizei hat versucht, uns einzukreisen und die Ausgänge zu sperren, Major Howanietz hat aber dem leitenden Kriminalbeamten zugerufen: „Zieh‘ deine Beamten zurück! Du siehst doch, dass sie Waffen haben.“ Das ist dann offenbar passiert, denn wir konnten ungehindert bis zum Taxistandplatz weitergehen. Dort haben sich die Täter mit allen Geiseln in ein Taxi gezwängt und der Fahrer wurde auch noch in ihre Gewalt gebracht. Im Taxi sind wir zur Polizeidirektion Wien gefahren, die damals noch am Parkring lag.

Hat es Sie überrascht, dass die Ausbrecher zur Polizei fahren wollten?

Ihr Ziel war es nicht, sich zu ergeben. Sie wollten direkte Verhandlungen mit dem Innenminister und dem Polizeipräsidenten aufnehmen. Am Parkring wurde auch tatsächlich fast eine Stunde lang vor der Polizeidirektion verhandelt, Innenminister Rösch und der Generaldirektor für die öffentliche Sicherheit, Dr. Peterlunger, waren persönlich vor Ort. Uns Geiseln wurden die ganze Zeit die Pistolen angesetzt. Eine Unmenge von Leuten im Umkreis hat alles beobachtet. Reporter haben Fotos gemacht. Im Gartenbaukino neben der Polizeidirektion war gerade der neue Film „Rivalen unter roter Sonne“ mit Charles Bronson und Alain Delon zu Ende gegangen, dadurch waren plötzlich noch mehr Schaulustige in unserer Nähe, auch vis-à-vis beim Stadtpark. Natürlich hätte die Polizei auf das Taxi schießen können, um die Geiselnehmer auszuschalten, aber dann wären wir wahrscheinlich alle tot gewesen.

Wie sind Sie freigekommen?

Zuerst ist die Kolporteurin freigelassen worden. Ausgemacht war, dass beim Leopoldauer Platz auch Major Howanietz, der Taxilenker und ich freigelassen werden und wir die Waffen bekommen. Bis dahin sollte das Fluchtfahrzeug von der Polizei und den Reportern nicht weiterverfolgt werden. Die Ausbrecher haben sich aber nicht daran gehalten, sie wollten nochmals das Fahrzeug wechseln und sind nach einigen Umwegen zu einem Ford Cortina gekommen, der allerdings schlecht funktioniert hat. Auf einem freien Feld ließen sie den Taxilenker und den Cortina-Besitzer im fahr- und funkunfähig gemachten Taxi zurück. Nach weiteren Zwischenstationen sind die drei Geiselnehmer mit Major Howanietz und mir zu einer Kleingartensiedlung in der Nähe der Stadtbahnstation Hütteldorf gefahren. Es war da schon etwa drei Uhr nachts. Die Täter wollten uns dort so lange im Auto festhalten, bis der Stadtbahnverkehr losgeht. Wir haben viel mit einander geredet, es ist alles ruhig verlaufen. Gegen sechs Uhr früh sind die drei Männer aus dem Auto gestiegen und samt ihren Waffen untergetaucht. Major Howanietz und ich wurden in Handschellen aneinander gefesselt zurückgelassen und mussten noch eine bestimmte Zeit lang zuwarten. Die Geiselnehmer hatten gedroht, sonst noch einmal zurückzukommen. Bei einem Blumenstand haben wir schließlich ein Telefon gefunden und konnten die Polizei anrufen, die uns umgehend abgeholt und zum Präsidium gebracht hat.

Sind Sie sofort von der Polizei befragt werden?

Ja, es wurde ein langer Tag. Ich hatte die ganze Nacht davor nicht geschlafen, die Geiselnahme hat fast 15 Stunden gedauert. Polizeipräsident Holaubek hat Major Howanietz und mich in der Polizeidirektion sehr freundlich empfangen. Es hätte sogar Frühstück gegeben, aber ich konnte den ganzen weiteren Tag nichts essen, nur trinken. Wir sind vier Stunden, getrennt voneinander, von der Polizei niederschriftlich einvernommen worden. Die Ausbrecher waren ja nach wie vor auf der Flucht. Auch danach gab es keine Pause, denn zu Mittag wurden wir ins Parlament gebracht. Bundeskanzler Kreisky hat dort gerade die Regierungserklärung für seine zweite Amtszeit abgegeben und das Interesse der Politik und der Medien an der Geiselnahme war groß. Wir sind kurz Justizminister Broda und Innenminister Rösch begegnet und wurden vom ORF interviewt. Am Nachmittag wollte ich zurück nach Krems, um mein Auto nach Wien zu holen. Die Polizei hat mich bis zur Justizanstalt Stein gebracht, wo inzwischen Justizminister Broda eingetroffen war und gerade gebrieft wurde. Er wollte mich sehen und so habe ihm auch noch aus erster Hand von meinen Eindrücken berichtet. Die Heimfahrt nach Wien mit dem eigenen Pkw hat Broda mir unter Hinweis auf meine Übermüdung ausgeredet. Dafür hat er mich gegen 20 Uhr mit seinem Dienstwagen in mein Quartier in der Nähe von Krems bringen lassen.

Wie haben Sie die Zeit der Geiselnahme verarbeitet?

Ich habe lange und tief geschlafen und als ich am Samstag aufgewacht bin, war für mich der gesamte Albtraum vorbei. Ich hatte auch wieder Appetit, nachdem ich den Tag zuvor nichts heruntergebracht habe. Am Sonntag habe ich in Wien schon wieder Fußball gespielt. Fußball war viele Jahre meine große Leidenschaft. Am darauffolgenden Montag war ich zurück bei meiner Arbeit in Krems. Psychologische Betreuung habe ich nie angeboten bekommen, aber auch nicht benötigt. Aufgrund meiner Erlebnisse bin ich aber – veranlasst vom Justizministerium – nie mehr zum Bundesheer einberufen worden. Von meinem Grundwehrdienst wären noch Waffenübungen offen gewesen. Vom Dienstgeber habe ich zwei Wochen Sonderurlaub und eine durchaus großzügige Geldentschädigung für meine beschädigte Kleidung erhalten.
Kurz nach der Geiselnahme bin ich mehrmals erkannt worden, zum Beispiel bei einem Opernbesuch nur wenige Tage später. Mein Bild war ja in der Zeitung abgedruckt worden und die Zuschauer haben getuschelt: „Schau, das war die Geisel.“ Das war nicht sehr angenehm und ich war froh, als die Aufmerksamkeit nach einer gewissen Zeit wieder abgeebbt ist. Insgesamt habe ich versucht, nicht endlos über den Vorfall zu sinnieren, ich war einfach nur froh und dankbar, dass alles gut ausgegangen ist. Vielleicht bin ich im späteren Leben da und dort noch etwas vorsichtiger geworden, aber ich war ohnedies nie ein leichtsinniger Mensch.

Haben Sie jemals jemanden von den Geiseln oder Tätern wiedergesehen?

Leider hat sich nie mehr die Gelegenheit ergeben, mit Major Howanietz oder den anderen Geiseln länger zu sprechen. Wir sind uns noch vereinzelt im Strafverfahren gegen die Ausbrecher begegnet, aber wir haben uns nie mehr persönlich ausgetauscht. Das bedauere ich heute, zumal Major Howanietz leider nicht mehr lebt. Er hat eine wesentliche Rolle in den Stunden der Entführung gespielt! Von den Tätern kann ich mich aus meiner späteren Berufslaufbahn nur noch an Adolf Schandl erinnern, der noch mehrmals mit der Justiz in Konflikt geraten ist. Persönlich hat mich oft gewundert, dass das Trio mit dem Ausbruchsversuch so viel aufs Spiel gesetzt hat. Alle drei haben aber später gemeint, dass die Haftbedingungen in Stein damals für sie unerträglich waren.

Ist es dadurch zu Reformen gekommen?

Man hat aus dem Vorfall sicherlich einiges gelernt. Der Strafvollzug in Stein wurde weniger strikt. Aber natürlich wurde auch etwas gegen die Sicherheitslücken getan: Der Personaleinsatz bei der Justizwache wurde verstärkt, die Massenvorführungen zur Akteneinsicht wurden auf maximal vier Personen in einem Zimmer eingeschränkt und die Justizwachebeamten tragen bei Begleitungen und Bewachungen keine Pistolen mehr. Auch die Polizei hat ihre Taktik bei Geiselnahmen professionalisiert. 1971 gab es noch kein Einsatzkommando Cobra. Den Ausbruchsversuch 1996 in der Justizanstalt Graz-Karlau, an dem wieder Adolf Schandl mit einem palästinensischen Terroristen beteiligt war, hat die Cobra sehr erfolgreich beendet.

Hat Sie die Geiselnahme beruflich geprägt?

Adolf Schandl hat mich kurz vor meiner Freilassung im Auto gefragt, welches genaue Berufsziel ich habe. Seine Meinung war: „Alles können’S werden, nur nicht Staatsanwalt, denn das sind die Bösen.“ Ich bin dann aber, nach einer eher kurzen Zeit als Richter, trotzdem Staatsanwalt geworden – nicht aus Bestemm, sondern weil es sich einfach aus dem Berufsverlauf ergeben hat. Meiner Meinung nach habe ich mir, anders als es Schandl befürchtet hat, in den fast vier Jahrzehnten meiner staatsanwaltlichen Tätigkeit ein durchaus positives Menschenbild bewahrt und immer versucht, offen zu bleiben. Innenminister Rösch, Justizminister Broda und Polizeipräsident Holaubek bin ich dankbar für die damals gewählte, behutsame Vorgangsweise. Es gab noch keine Erfahrung mit Geiselnahmen in Österreich. Man wollte nichts riskieren und hat damit sicherlich ein Blutvergießen verhindert.

Interview: Gregor Wenda

Dr. Erich Weiß
© A. Tuma

Zur Person

Dr. Erich Weiß wurde 1973 in den Richterstand übernommen, wechselte aber bereits 1975 zur Staatsanwaltschaft Korneuburg, wo er unter anderem in den 1980er-Jahren für sämtliche Fälle des „Weinskandals“ im Weinviertel zuständig war. Nach 16 Jahren führte ihn sein Weg zur Oberstaatsanwaltschaft Wien und 1992 weiter zur Generalprokuratur, der staatsanwaltschaftlichen Behörde beim Obersten Gerichtshof. Von 2006 bis 2011 war Erich Weiß Erster Generalanwalt und damit einer der Stellvertreter des Leiters der Generalprokuratur. Er trat am 1. Jänner 2012 in den Ruhestand. Seit Oktober 2012 wurde Weiß wiederholt zum stellvertretenden Rechtsschutzbeauftragten der Justiz bestellt, zuletzt für die laufende Amtsperiode von 2021 bis 2024. Seit Jänner 2015 ist er auch Mitglied der Rechtsschutzkommission gemäß dem BAK-Gesetz.


Öffentliche Sicherheit, Ausgabe 9-10/2021

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