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Birgit Vanderbeke: Der Sommer der Wildschweine

VanderbekeBirgit Vanderbeke breitet in ihrem Roman vom „Sommer der Wildschweine“ ein Familien-Wimmelbild vor uns aus, oder – um im Bild eines der Themen des Romans zu bleiben – verknäuelt die Erlebnisse, Interessen und Erfahrungen Leos und Milans sowie ihrer Kinder Johnny und Anouk gehörig, um sie dann im Laufe der Erzählung zu entwirren und zu einem ordentlichen (Woll-)Knäuel aufzuwickeln. So wuseln also die unterschiedlichsten Themen vor den Augen des Lesers herum: die wirtschaftlich immer höchst gefährdete Situation von Einzelunternehmern, die von jeder Wirtschaftskrise betroffen sind, die Hausbesetzerszene im Frankfurter Westend in den 1980er Jah-ren, das strickende soziale Netzwerk ravelry, die Kunst des Bloggens, der Bau von Lautsprecherbo-xen für anspruchsvolle Kunden, Strickdesigns und hochwertige Garne, Keywords im Zeitalter des Contents, Hilfe für ölverschmierte Pinguine, Pervasive Computing, Unwetterkatastrophen im Fern-sehen, Industrial Design, PETA, 3-D-Programmierung, die wirtschaftlichen Interessen einer Ölgesellschaft – und eben Wildschweine.

Über Wildschweine, so berichtet Leo, die Ich-Erzählerin dieses Fadengewirrs, habe sie gerade letztens einen knappen Artikel gelesen, der eigentlich nur Content gewesen sei, ein Text zu einem Bild, für ein paar Cent von einer Content-Agentur gekauft und entsprechend schlecht geschrieben: Wildschweine, so hat sie dort gelesen, seien vor einhundert Jahren fast ausgestorben gewesen, lebten nun aber mehr und mehr in den Großstädten und vermehrten sich exponentiell, sodass sie durchaus zu einer Gefahr für die Menschen werden können. Leo hätte diesen Text fast schon wieder vergessen, wenn sie sich nicht so darüber geärgert hätte, dass der Verfasser wohl immer noch die in der Schule gelernte Vorschrift nicht überwunden habe, nie auf einer Seite zweimal dasselbe Wort zu benutzen. Diese eiserne Regel habe dann in dem Wildschwein-Artikel dazu geführt, dass der Autor die Vermehrung beim zweiten Mal mit „explosiv“ beschrieben habe – was ja nun einmal völliger Blödsinn sei, nämlich komplett unlogisch und gegen alle Regeln der Mathematik.

Nun, in Südfrankreich, in einem kleinen Dorf im Languedoc, erinnert sie sich aber wieder an den Wildschwein-Artikel, weil ihr Ferienhaus, dass das Elternhaus von Jeremiah, einem Kollegen ihres Mannes Milan ist, nämlich von einem hohen Zaun umgeben ist – aus Schutz vor den Wildschwei-nen, die immer häufiger aus den Cevennen in die Täler kommen und alle Gärten und Anbauflächen über Nacht komplett zerstören und dabei die Bauernhoftiere gleich mit. So erklärt es Pierre, der Verwalter der Ferienhäuser. Und er bittet sie, den Zaun doch im Blick zu behalten, es würden in letzter Zeit nämlich häufig die Zäune über Nacht zerschnitten, sodass die Wildschweine leichteres Spiel haben. Und er hat weitere Hinweise und Tipps. So warnt er beispielsweise davor, das Wasser aus dem Wasserhahn zu trinken – es sei zwar in Ordnung, aber man wisse ja nie. Und für den Fall, dass sie seismische Fahrzeuge sehen, dann sollten sie das doch bitte umgehend bei der Kommune melden. Abschließend warnt er vor einem „Wetter“, dass für die nächsten Tage vorhergesagt werde, Leo und Milan sollen sich doch mit Lebensmitteln eindecken, es können hier in der Gegend auch leicht zu Überschwemmungen kommen.

Bis der Leser Pierre kennengelernt und einen ersten Blick auf Jeremiahs Elternhaus und den Swimmingpool geworfen hat, hat er schon die ganze Familiengeschichte Leos und Milans seit ihrem ersten und seit dem letzten Urlaub damals nach Studienende und vor der Geburt Johnnys geworfen. Er weiß nun, dass Milan und Leo als Selbstständige von allen Krisen der Wirtschaft als erste betrof-fen sind und deshalb immer mehrere Standbeine brauchen: Knickt das eine weg, sind noch die anderen da, um die Heizung für den nächsten Winter und die Miete zahlen zu können, besonders wichtig, seit die Kinder da sind. Denn Wirtschaftskrisen, so Leos Beobachtung, treten immer im Herbst auf, weil im Herbst immer Wahlen in den wichtigen Ländern stattfinden und außerdem diejenigen aus dem Sommerurlaub zurück sind, die solche Wirtschaftskrisen organisieren können,

die Parlamentarier und Premierminister, die Kanzler und Studienräte und wer sonst noch in den Sommerurlaub fährt, um sich anschließend frisch erholt und frohgemut dem Zusammenbruch logis-tisch widmen zu können, bevor im Winter das Heizen dran ist und wir uns fragen, wie wir die nächste Miete zahlen sollen. (S. 9)

Der Leser weiß auch, was Milans verschiedene Standbeine sind, denn nachdem die öffentliche Hand bei der Wirtschaftskrise zur Jahrhundertwende amputiert ist und deshalb nicht mehr zahlt, organisiert er Events für Dennis, der immer kurzfristig wichtige Planänderungen hat, baut Lautspre-cherboxen und betreibt einen eigenen Blog. Und Leo, die lange für eine Frauenzeitung Glossen geschrieben hat, bis die Verlagsleitung erkannte, dass die Redaktion altersmäßig nicht mehr der Zielgruppe entspricht und alle Mitarbeiter „freigesetzt“ hat, textet Inhalte nach Anfrage, egal ob Promi-Texte oder als Technical Editing, und achtet dabei sehr auf die CPC, weil das die neue Wäh-rung beim Erstellen von Content ist. Johnny hingegen hat sich schon als Kind für Wunschwelten und Tierwelten aus 3 D interessiert, ist also in die IT-Branche eingestiegen und programmiert. Anouk hat sich schon als Kind fürs Stricken interessiert, ist mittlerweile eine gefragte Teststrickerin für die Designerinnen, die ihre Modelle auf ravelry vorstellen und verkaufen, und hat die Familie bei der letzten Wirtschaftskrise gemeinsam mit dem Bruder gerettet, indem sie eine einfach hand-habbare Pullover-Software entwickelten, die Leo nun auf ihrer Homepage erfolgreich verkauft.

Das und tausend kleine Einzelheiten mehr also hat der Leser schon erfahren, bevor der „Wetter“ überhaupt losbricht, denn Leo erzählt ihre Geschichte nicht nur sehr amüsant, sondern auch höchst assoziativ, kommt vom Hundertsten ind Tausendste, findet aber immer ihren roten Faden wieder. Ganz selbstkritisch beschreibt sie diese Art des Erzählens so:

Aber das ist eine andere Sache, weil Milan und ich, wenn wir Zeit haben, sehr leicht von einem Thema zum anderen und zu noch einem weiteren Thema kommen, deshalb langweilen wir uns auch nie, nur wissen wir hinterher nicht mehr genau, wie wir dahingekommen sind, aber weil wir uns immer von einem Thema zum anderen durchs Leben erzählen, langweilen wir uns eben nie. Nur ist das Erzählen in der letzten Zeit etwas aus der Mode gekommen, so ähnlich wie das Selbermachen, deshalb machen wir es meistens nur noch, wenn wir allein sind oder mit den Kindern (…). (S. 91)

Das leichtfüßige Wechseln von Thema zu Thema ist dabei wohl nicht nur eine besondere Marotte beim Erzählen zu sein, sondern auch ein Lebensmotto, das es ihnen ermöglicht, durchs Leben und seine Verwerfungen zu balancieren, aus jeder Situation das Beste zu machen, aus jeder misslichen Lage irgendwie doch wieder auf die Füße zu fallen. Das sind die viel gepriesenen Eigenschaften von Anpassungsfä-higkeit, Flexibilität, vom ständigen Suchen nach einer neuen Chance, um am Markt der Möglichkei-ten immer dabei sein zu können. Bei Leo liest sich das, vor allem aus der Rückschau, so einfach, so spielerisch. Dass sie, gerade in diesem Sommer, auch Ängste und Sorgen hat, dass sie immer wieder das Gefühl hat, der Bogen wackele unter ihren Füßen, sei unsicher, davon ist nur ab und zu, in einem Nebensatz sozusagen, die Rede.

Und offensichtlich hat Leo gerade ganz viel Zeit oder hat den Leser schon als Kind adoptiert, denn sie plaudert und assoziiert sich hier durch ihre Geschichte, dass es eine wahre Wonne ist. Dabei scheint sie bei Kaffee oder Wein mit dem Leser auf einer lauschigen Terrasse zu sitzen, jedenfalls spricht sie den Leser direkt an und nimmt immer mal wieder seine möglichen Reaktionen und Ein-wände vorweg. Und zuhören kann man Leo wirklich gut. Ihre Erzählung kommt daher wie eine gute Kabarettnummer, es gibt unglaubliche Bezüge, Running Gags, falsche Verallgemeinerungen, das gesamte Repertoire unterhaltsamen Erzählens, das so gut zu Anpassungsfähigkeit und Flexibili-tät, so wenig zur Sorge über den schwankenden Boden passt.

Und dann kommt sie endlich zum lange Angekündigten, das angekündigte Unwetter zieht heran, es regnet und stürmt eineinhalb Tage, der Strom bricht für fast eine Woche zusammen, die Verbindung zur Außenwelt, zu Kindern und Kunden, wird gekappt. Als es aufhört zu regnen kommt Pierre kommt vorbei und nimmt Leo und Milan mit zu einer Versammlung der meist älteren Dorfbewoh-ner, die über den Stromausfall reden und die immer wieder zerschnittenen Zäune, die Wildschweine und das aus unerfindlichen Gründen abgebrannte Haus der merkwürdigen Engländerin, die in den Bergen eine Spinnerei hochwertiger und betörend schön gestalteter Garne betrieb. Höchste Zeit also für Leo und Milan, ihre Kenntnisse und Fähigkeiten einzubringen, um den dubiosen Tätigkeiten der Ölgesellschaft in den Bergen Einhalt zu gebieten. Wie gut, dass in Leos Familie nicht nur die wi-derständigen Erfahrungen aus der Frankfurter Hausbesetzerszene, sondern auch noch Kenntnisse im Lautsprecherbau und im Pervasive Computing vorliegen, von den Kenntnissen rund um die guten und tiergerecht entstandenen Garne mal ganz abgesehen…

Und dann, so mitten in ihren Erzählungen und Ausschweifungen, genau dann, wenn der Leser zutiefst neugierig ist, was denn Leos Familie und die Dorfbewohner auf die Beine gestellt haben, ob aus der Spinnerei wieder etwas geworden ist und was aus Anouk und dem gut aussehenden Kana-dier – genau da hört Leo zu erzählen auf und lässt den Leser mit seinen tausend Fragen nachdenk-lich auf der lauschigen Terrasse sitzen.

Birgit Vanderbeke (2014): Der Sommer der Wildschweine, München, Piper Verlag