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Irving Wohlfarth

Anachronie
Interferenzen zwischen Walter Benjamin und W. G. Sebald
Fr Cornelia
Bibliothe`que ou` les livres se sont fondus les uns dans les autres et ou` les titres se
sont effaces. 1
Das Ausfindigmachen der Wahrheit ist [. . .] das Geschft des von Benjamin als
das Wappentier der Melancholie beschriebenen Hundes, in dem wir, wie auch
Kafka wusste, das Bild des unermdlichen Forschers und Grblers besitzen. 2

Benjamins Werk nimmt einen einzigartigen Platz in Sebalds uvre ein, die Rezeption
wirkt aber gefiltert und gestrt. Dieses doppeldeutige Verhltnis kann am besten an Austerlitz studiert werden. Gemeinsame Motive sind hier die Wiederkehr des Flaneurs, die
Metaphysik der Zeit, geheime Verabredungen mit der unterdrckten Vergangenheit,
ihrer beider Forschung knpft an das Passagenprojekt an. Aber Benjamins Projekt
weicht in Austerlitz einem autobiographischen Imperativ, die revolutionre Ausrichtung
fllt weg, der Flaneur wird wieder entpolitisiert. Gewiss, diese Verschiebungen und Interferenzen zeigen die groe dazwischen liegende Tendenz- und Zeitenwende an. Aber es
fragt sich, ob Sebalds anachronisches Rckzugsgefecht nicht auch anachronistisch, seine
unzeitgeme Melancholie nicht auch allzu zeitgem und heute von Benjamin her nicht
nur zu verfechten, sondern auch anzufechten ist.
Benjamins work looms large in Sebalds oeuvre, yet its reception is muted and disturbed.
This ambiguous relation is best studied in Austerlitz. Many common motifs are in evidence here: the return of the flaneur, a metaphysics of time, secret assignations
with the oppressed past, indeed a kind of Arcades Project. The latter is, however, replaced
midway by an autobiographical quest, its revolutionary thrust falls away, the flaneur is
depoliticised. While these shifts mark the larger historical ones, they also raise the question whether Sebalds anachronic stance isnt also an anachronistic posture, his untimely
melancholy also of the times.

Pierre Mabille, zit. in Walter Benjamin: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann
u. Hermann Schweppenhuser. Bd. V, 1. Frankfurt / M. 197289, S. 490. Knftig unter
der Sigle GS.
2
W. G. Sebald: Campo Santo. Hg. v. Sven Meyer. Mnchen / Wien 2003, S. 112. Knftig
unter der Sigle CS.
DOI 10.1515/iasl.2008.020

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1. Unter Saturn geboren


. . . als htten im Kunstwerk die Mnner einander verehrt wie Brder, einander
dort oft ein Denkmal gesetzt, wo ihre Wege sich kreuzten. 3

Am Ende von Walter Benjamins Prosastck Ich packe meine Bibliothek aus
Eine Rede ber das Sammeln verschwindet der umgezogene Autor, wie recht
und billig, ins Gehuse seiner wiederaufgestellten Bcher.4 Wie der Abgang des
chinesischen Malers, der auf seinem letzten Bild mit einem Lcheln in den Trspalt eines gemalten Huschens verschwindet,5 stellt dieses Bild einen Autor vor,
der im Begriff steht, ins eigene Werk und damit in die ihn enteignende Wahrheit zu verschwinden.6 Hierzu gesellt sich das spielerische Verschwinden einer
anderen seiner Lieblingsfiguren: das bucklicht Mnnlein.7 Benjamin hat eigene
und fremde Schriften immer so zusammenmontiert wie jener verborgene Meister
im Schachspiel seine Zge kombiniert: nmlich im Kampf gegen den Feind.8
Erst nachtrglich wurden seine verstreuten Schriften eingesammelt, womit dann
ersichtlich wurde, dass sie die Bruchstcke eines einzigen Werks, die Momente
einer langfristigen und vielschichtigen Strategie darstellen. Hierzu gehrt das Sammeln und Verwenden oft versteckter Zitate. Benjamins Gesammelte Schriften
werden nun seit ihrer Eingemeindung in die Weltbibliothek ihrerseits berall zitiert. Aber die dabei verfolgte Strategie, sofern es sich um eine solche handelt, ist
meistens die des Kultur- und Wissenschaftsbetriebs und steht somit in krassem
Widerspruch zu seiner eigenen revolutionren Theorie und Praxis des Zitats.9 Im
Folgenden werden wir es bei Sebald mit einer Zitierpraxis zu tun haben, die
beiden Extremen gleichermaen fernsteht: der kommunistischen Revolution und
dem kapitalistischen Markt.

W. G. Sebald: Nach der Natur. Frankfurt / M. 1995, S. 8. Knftig unter der Sigle NN.
GS, IV, I, S. 396.
5
Vgl. GS, IV, I, S. 262263. Das Selbst wird als Verschwindendes gerettet durch Verkleinerung. Dieses Eingehen ins Bild ist nicht Erlsung; aber es ist Trost (GS, III,
S. 382). Das Zitat ist aus Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des sthetischen. Tbingen 1933.
6
Vgl. hierzu die Erkenntniskritische Vorrede zu Ursprung des deutschen Trauerspiels, GS, I, 1, S. 216.
7
Vgl. hierzu Irving Wohlfahrt: Mrchen fr Dialektiker. Walter Benjamin und sein
bucklicht Mnnlein. In: Klaus Doderer (Hg.): Walter Benjamin und die Kinderliteratur. Weinheim 1988, S. 121176.
8
Vgl. zum Schachautomaten, zum Feind und zum buckligen Zwerg, der die
Hand der Puppe und an anderer Stelle die Feder des Schriftstellers heimlich lenkt
GS, I, 2, S. 693, 695 u. GS, IV, I, S. 304; und zum Schachspiel des Lebens samt den
Winkelzgen des Schriftstellers (im Zusammenhang mit Nabokov und Benjamin)
CS, S. 190. Im Folgenden wird Benjamins letzte, ihrerseits hochgradig intertextuelle
Schrift ber den Begriff der Geschichte die Thesen genannt.
9
Vgl. hierzu Manfred Voigt: Zitat. In: Michael Opitz / Erdmut Wizisla (Hg.): Benjamins
Begriffe. Bd. 2. Frankfurt / M. 2000, S. 826850.
4

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Hinter jedem Buch des Komparatisten und poeta doctus Sebald steckt ein umfangreicher Handapparat. Neben den Schriften anderer Wahlverwandter wie Sir
Thomas Browne, Elias Canetti, Franz Kafka oder Vladimir Nabokov10 nehmen
die Benjamins einen zentralen, vielleicht den zentralsten Platz ein.11 Es ist nicht
10

Seine glnzendsten Seiten, schreibt Sebald ber Nabokov, erwecken den Eindruck,
unser weltliches Treiben werde von einer auswrtigen Spezies beobachtet, deren
Emissre gelegentlich eine Gastrolle spielten in dem von den Lebendigen aufgefhrten
Theater. So wie sie uns, erscheinen wir ihnen dann, nach Nabokovs Konjektur, als
flchtige, transparente Wesen von unsicherer Provenienz und Bestimmung (CS,
S. 185). Im Verlauf dieses Traumtexturen betitelten Textes entsteht ein vieldeutiges Assoziationsnetz: Emissar Emigrant Schriftsteller Gespenst Schmetterling(sjger). Von Nabokovs Hauptbeschftigung der Geisterkunde sei seine bekanntere Leidenschaft die Wissenschaft von den Nachtfaltern und Schmetterlingen wahrscheinlich nur ein Seitenzweig gewesen (ebd.). Als einen butterfly
man lsst Sebald Nabokov selber durch Die Ausgewanderten geistern und die Gastrolle bernehmen, die dieser den ber, hinter oder neben uns stehenden Emissren
und Grenzgngern zuschreibt. Vgl. dazu W. G. Sebald: Die Ausgewanderten (knftig
unter der Sigle DA). Frankfurt / M. 2002, S. 26f., 151, 170, 259, 319, 321. Knnte es
sein, dass Benjamins Gastrolle in Sebalds Oeuvre darum so oft verschwiegen wird,
weil sie sich als allzu ubiquitr erweisen wrde? Auch in der Kleinen Anmerkung zu
Nabokov tritt er eher inkognito auf. Um das jenseitige Ufer zu erreichen (heit es
dort), zu dem die Buchstabenbrcke des sich erzhlenden Schriftstellers fhrt und
von dem aus unser Leben wie in einem ordentlichen Satz lesbar wird, bedarf es,
nach Nabokov und nach der messianischen Theorie der Erlsung, nicht einer groen
Veranstaltung, sondern nur eines winzigen geistigen Rucks (S. 190). Dies hat Sebald
vermutlich von Benjamins Kafka-Aufsatz, wonach ein groer Rabbi alias Gershom Scholem gesagt habe, der Messias werde die Welt nur um ein Geringes [. . .]
zurechtstellen (GS, II, 2, S. 432). Es steht hier, wohlgemerkt, nicht, dass dieser Ruck
ein geistiger sei. Vgl. ebenfalls das Kapitel Schmetterlingsjagd in Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (GS, IV, I, S. 244245), die, wie spter Nabokovs Erinnerung, sprich, der dem Emigranten unzugnglich gewordenen Vergangenheit gewidmet ist. Aber Benjamins Geisterbeschwrung ist keine Seance a` la Nabokov; er trumt
nicht, wie dieser und offenbar auch Sebald, von entschwebender Himmelfahrt und
Levitation (CS, S. 191f.). Er sucht den rechten Abstand zur Welt, um von dort aus in
sie effektiver eingreifen zu knnen.
11
Eric Santners anregende Studie On Creaturely Life. Rilke Benjamin Sebald (Chicago
2006), in der Benjamin zu Sebalds Schutzheiligem und gar Totem und Sebald zum
modernen Meister einer Benjaminschen Poetik (S. xix) befrdert werden, erschien
erst nach Abschluss dieser Arbeit. Folgende Vorbehalte gegen seine hier relevanten
Thesen seien kurz angemerkt: 1. Unsere Arbeiten sind sich ber die Dichte und Flle
der Beziehungen zwischen Sebald und Benjamin einig; Santner bergeht jedoch ihre
Verschwiegenheit. 2. Warum die Vorstellung einer Benjaminschen Poetik irrefhrend ist, wird im Folgenden entwickelt. 3. Santner liest Sebald mit Benjamin und
diesem nah- und fernstehenden Denkern (Agamben, Zizek, Lacan) zusammen. Nicht
jedoch im Geiste Benjamins, sprich im Sinne seiner Unterscheidung zwischen Apologie (oder Wrdigung) und Rettung. Sebalds Werk mit Theorie aufzuladen, und
sei sie Benjamins eigene, ergibt weniger eine kritische Konstellation als eine inflationre, innerhalb einer bestimmten literaturtheoretischen Avantgarde politisch korrekte Wrdigung. 4. Die Dreierkonstellation Rilke Benjamin Sebald lsst den
gemeinsamen Vorgnger vermissen, ohne dessen Werk insbesondere Rilkes in Sant-

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immer ersichtlich, ob es sich um bewusste Zitate, verschwiegene oder gar dem


Autor selber verborgene Spuren oder um weitverzweigte, ans Anonyme grenzende Familienhnlichkeiten12 handelt. Wie dem auch sei: es fllt auf, dass Sebald Benjamin nirgends zu einem seiner Gewhrsmnner erklrt. Dass er mit
seinen Quellen oft ein Versteckspiel treibt, wurde inzwischen durch die Sekundrliteratur vielfach dokumentiert. Benjamin hatte fr seinen Teil geheime und
auch gefhrliche Beziehungen gepflegt. Vielleicht gilt das auf andere Weise fr
Sebalds Verhltnis zu ihm; vielleicht wird die Auseinandersetzung aus Einflussangst13 gemieden. Der grte Einfluss drfte indessen der unpersnliche gewesen
sein, dem beide gleichermaen unterworfen waren: der Einfluss Saturns.
Dass Sebalds Benjamin-Lektren vielfltige Spuren in seinem Werk hinterlassen
haben, sei hier zunchst mit einer vorlufigen bersicht belegt.
Unter den vielen Kritikern und Philosophen, die Sebald in seinen zwei Essaysammlungen zur sterreichischen Literatur14 und einer spteren, hauptschlich
Schweizer Autoren gewidmeten15 heranzieht, wird keiner fter zitiert als Benjaners Augen grundlegende, in den meinen epigonale Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge nicht zu denken sind: Baudelaire.
12
Vgl. zu Wittgensteins Begriff der Familienhnlichkeit A, S. 52, 176.
13
Vgl. Harold Bloom: The Anxiety of Influence. A Theory of Poetry. New York 1973
(dt. Einflussangst. Frankfurt / M./Basel 1995).
14
Vgl. die Essays ber Stifter, Schnitzler, Hofmannsthal, Kafka, Bernhard, Ernst Herbeck und Stifter / Handke in: Zur Beschreibung des Unglcks (knftig unter der Sigle
BU). Frankfurt / M. 1994, zuerst Salzburg / Wien 1985 (insbes. S. 28, 40, 51, 65, 77, 82,
105f., 132, 185, 192); und ber Altenberg, Kafka und Joseph Roth in: Unheimliche
Heimat (knftig unter der Sigle UH). Frankfurt / M. 1995, zuerst Salzburg / Wien 1991
(insbes. S. 70, 73, 75, 82, 102, 110f., 113). Auf das Passagen-Werk, das auer in bibliographischen Angaben im Folgenden mit Benjamin die Passagenarbeit genannt wird,
verweist Sebald an folgenden Stellen: BU, 28, 50f.; UH, S. 70. Vgl. ebenfalls die Hinweise auf Benjamins Trauerspielbuch in Konstruktionen der Trauer: Gnter Grass
und Wolfgang Hildesheimer (CS, S. 112, 123) und das ihm entlehnte Zitat aus der
Literatur des Barock (S. 127).
15
Die Aufstze ber Robert Walser, Keller und Hebel in Logis in einem Landhaus
(knftig unter der Sigle LL: Frankfurt / M. 2000, zuerst Mnchen / Wien 1998) knpfen ausdrcklich an Benjamins Essays zu diesen Autoren und an seinen ErzhlerAufsatz an (vgl. insbes. S. 11f., 1722, 114, 120, 131, 146, 148). Wie trb und verlogen
unser Literaturverstndnis wohl geblieben wre, heit es dort ber Sebalds Freiburger Studienzeit ab 1963, htten uns die damals nach und nach erscheinenden Schriften
Benjamins und der Frankfurter Schule, die ja eine jdische Schule zur Erforschung der
brgerlichen Sozial- und Geistesgeschichte gewesen ist, nicht andere Perspektiven erffnet (S. 12). Diese verharmlosende Umschreibung der Kritischen Theorie lsst das
in jener Erforschung immer noch grende politische Ferment unerwhnt. Sebald,
der 1966 nach England und 1969 in die Schweiz bersiedelt ist, um dann 1970 nach
England zurckzukehren (DA, S. 219, 263), scheint von der deutschen Studentenbewegung unberhrt gewesen zu sein. Er grenzt sich auch gerade dort vom Literaturkritiker Benjamin ab, wo dieser die Wunschthese aufstellt, Hebel habe die franzsische Revolution als Eingriff der gttlichen Vernunft in die Menschheitsgeschichte
verstanden (S. 26). Dass diese Paraphrase Benjamins Hebel-Deutung nicht gerecht

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min. Nicht, dass dessen geschichtsphilosophische und literaturkritische Arbeiten


bei Sebald Schule gemacht htten. Er behlt sich vielmehr vor, seine Methode je
nach Bedarf zu wechseln.16 Dieser Eigensinn gilt auch der Wahl seiner Stoffe.
Anstatt die groe reichsdeutsche Literatur zu studieren, befasst er sich vornehmlich mit den kleinen deutschsprachigen Literaturen, insbesondere mit der
des einzigen Nachbarlands der Welt: sterreich.17 Als im Allgu gebrtiger
Nachbar dieses Nachbarn, der ein drittes Land, England, zu seiner Wahlheimat
gemacht hat, schreibt sich dieser Einzelgnger in eine erweiterte Familie der Fremden und Grenzbergnger ein.18 Benjamin hatte ebenfalls die Auseinandersetzung in dem Grenzraum19 gesucht.
Schwindel. Gefhle (1990) eine Reihe von vier teils literarischen, teils autobiographischen Aufstzen kreist um Befindlichkeiten, die keine blo subjektiven
sind. Denn die Gefhle erwidern als motorisches Gebaren einem gegenstndlichen Aufbau der Welt, hie es im Ursprung des deutschen Trauerspiels.20 Darum
wird (vgl. insbes. GS, II, 2, S. 640), ist hier weniger relevant als die Untermauerung
literarhistorischer Divergenzen durch divergierende Geschichtsdeutungen. Sebald
sieht in Hebel einen weiteren Gewhrsmann fr seine berzeugung, dass die Katastrophe der Moderne von der franzsischen Revolution ausgelst wurde. Vgl. ebenfalls
in diesem Zusammenhang seine generalisierende Formel bezglich der russischen Revolution: Terror der Geschichte (CS, S. 184. hnliche Formeln begegnen brigens
auch in Santners Sebald-Studie); seine kritiklose Aufnahme von Jean Dutourds 1996
erschienener, politisch bewusst inkorrekte[r], den Standpunkt eines unreformierten
Royalisten vertretende[r] Schrift ber die ra 17891815: Le Feldmarechal von Bonaparte (Paris 1996: zit. S. 35ff.); den aus Walsers Prosastck Der Abschied extrapolierten Zusammenhang zwischen dem Untergang des Ottomanischen Reichs und
dem armenischen Vlkermord (S. 160), und die Sympathie, die er Chateaubriands
Memoires doutre-tombe entgegenbringt (Die Ringe des Saturn, knftig unter der
Sigle RS; Frankfurt / M. 1997, S. 304f.). Nichts ist hier falsch, aber alles einseitig. Eine
seit der franzsischen Revolution wiederkehrende Gedankenfigur liegt hier zugrunde:
die doktrinre Ablehnung alles Doktrinren. Sebald, der in seinen Arbeiten zu Hebel,
Keller und Mrike vom Scheitern der franzsischen Revolution ausgeht, wirft einen
neo-barocken Blick auf die gesamte Moderne. Benjamin hingegen sieht in der revolutionren Tradition die immer wieder verschtteten Anstze des kollektiven Aktes,
dessen es bedrfte, um das weltgeschichtliche Trauerspiel zu beenden. Dieses Diskontinuum des Gewesenen (GS, I, 3, S. 1236) stellt er der herrschenden Auffassung
von Tradition als einem Kontinuum entgegen, von der auch der Kult der Franzsischen Revolution inzwischen korrumpiert sei.
16
BU, S. 9. Diese Regel gilt auch, aber auf andere Weise, fr Benjamin. Vgl. GS, V, I,
S. 593 (N 10, 1).
17
Zit. BU, S. 10. In Austerlitz beschftigt sich die Erzhlfigur mit einem anderen sekundren Nachbarland: Belgien.
18
Es ist schwer zu sagen, wo das in der sterreichischen Literatur zum Ausdruck
kommende Interesse an Grenzbergngen sich herschreibt [. . .]. In jedem Fall aber
geht es schon beim ersten berschreiten der Grenze um den unwiderruflichen Verlust
der Familiaritt (BU, S. 10).
19
GS, VI, S. 528.
20
GS, I, I, S. 318. Vielleicht klingt diese Stelle bei Sebald nach, wenn er die Motorik der
Trostlosigkeit und die der Erkenntnis identische Exekutive nennt (BU, S. 12).

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fllt ihre Darstellung, so Benjamin weiter, mit der Phnomenologie ihrer Gegenstnde zusammen. Echte Trauer ist ein vom empirischen Subjekt gelstes und
innig an die Flle eines Gegenstands gebundenes Fhlen. Sie zeichnet sich durch
eine unter den Gefhlen sonst nur der Liebe eigene Beharrlichkeit der Intention
aus, die einer Treue zur Dingwelt entstammt. Folglich nimmt sie einen wohlbestimmten Platz in der Hierarchie der Intentionen ein und heit nur deshalb
Gefhl, weil jener Platz nicht der hchste ist.21 Diese Darstellung von Trauer und
Melancholie melancolia, illa heroica hat mit Freuds gleichnamigem Aufsatz
wenig gemein. Sie knpft vielmehr an einen frheren, in der Erkenntniskritischen
Vorrede befindlichen Passus des Trauerspielbuchs an, der dessen Methode folgendermaen umreit: Ausdauernd hebt das Denken stets von neuem an, umstndlich geht es auf die Sache selbst zurck. Das unablssige Atemholen ist die
eigenste Daseinsform der Kontemplation.22 Dieser kontemplativen Methode
wird anschlieend die Aufgabe zugewiesen, das Schwindelgefhl zu bannen, in
das die Barockstimmung den Betrachter strzt.23
Die damit angedeutete Affinitt von Trauer, Liebe, Denken und Kontemplation
gilt ebenfalls fr Sebalds Gefhls- und Gedankenwelt. Dass er und seine Protagonisten oft mit Schwindel auf die Welt reagieren, liegt daran, dass ihr gegenstndlicher Aufbau jederzeit in sich zusammenstrzen knnte.24 Dem Schwindligen erscheint die ewige Unsicherheit und Bewegung der brgerlichen Epoche
(Marx) als ein Maelstrom (Poe), eine Seekrankheit auf festem Lande (Kafka),
und das, was wir den Fortschritt nennen als ein fortschreitender Sturm (Baudelaire, Benjamin).25 Dieser Furie des Verschwindens (Hegel) sucht die Kontemplation standzuhalten. Auf den Schwindel der Moderne antwortet Sebald mit
ausdauernder Trauer um die schwindende Welt und umstndlicher Liebe zur noch
vorhandenen. Mit dem Trauerspielbuch gesprochen: Saturn tritt hier in eine gnstige Konstellation, die Melancholie entwickelt ein eigenes Gegengift.
Darauf deutet ebenfalls der doppeldeutige Titel von Sebalds Elementargedicht, das von seiner Vorlage, Lukrez De rerum natura, wie durch onen entfernt ist: Nach der Natur (1992). Die Natur wird hier getreu, aber quasi postum
nachgezeichnet. Dass sie fast zum Anachronismus geworden ist, schlgt sich in der
Sprache des Gedichts nieder. Sebald lsst seinem altertmelnden Sprachduktus
hier freien Lauf und hlt, wie auf ganz andere Weise der Autor des Zarathustra,
die Moderne auch sprachlich auf Distanz. Sein groes Sinngedicht umkreist die
lautlose, nicht nher identifizierte Katastrophe, die sich ohne ein Aufhebens
vor dem Betrachter vollzieht.26 Was soll das: einer Welt, die in Totenstarre ver21

GS, I, I, S. 318, 333f.


GS, I, I, S. 208.
23
GS, I, I, S. 237.
24
Kafkas Einsicht, dass all unsere Erfindungen im Absturz gemacht werden, ist ja
inzwischen nicht mehr so leicht von der Hand zu weisen (BU, S. 12).
25
GS, 1, 2, S. 697f.
26
NN, S. 77.
22

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sinkt, von Fortschritt reden,27 notiert Benjamin ber Baudelaire. Der Begriff des
Fortschritts, fhrt er fort, ist in der Idee der Katastrophe zu fundieren. Dass es
so weiter geht, ist die Katastrophe.28
Die Verkehrung des brgerlichen Fortschrittsgedankens in sein Gegenteil grndet darin, so Benjamin, dass die Dialektik von Produktionskrften und -verhltnissen, die Marx noch mit guten Grnden als den Motor des Fortschritts ansehen
konnte, so weit eingedmmt und umgeleitet wurde, dass die Fortschritte der
Naturbeherrschung mit immer katastrophaleren Rckschritten der Gesellschaft einhergingen.29 In dieser Fehlentwicklung sieht auch Sebald etwas Systemimmanentes am Werk: Es sind nmlich / nicht ins Gleichmass zu richten / die
Entwicklungsbahnen grosser Systeme, zu diffus ist der Akt / der Gewalt, das eine
immer / der Anfang des andern / und umgekehrt.30 Die Welt ist jedoch, so gesehen, auf derart un(an)greifbare Weise aus den Fugen geraten, dass es, mit Benjamins Termini gesprochen, wohl keinen eindeutig identifizierbaren Feind, keinen
mglichen Griff des Menschengeschlechts nach der Notbremse,31 kurzum
keinen Akt mehr geben kann, der die entstellte Welt zurechtstellen32 knnte.
Das einzige Gegenmittel scheint das traurige Benennen der (ur)geschichtlichen
Katastrophe zu sein.
Sebald steht damit dem frhen, theologisch orientierten Benjamin (oder
Adorno oder Heidegger) nher als dem spteren materialistischen. Zwischen beiden liegt ein Epochenwandel: der Untergang des real existierenden Sozialismus
nach dem Debakel des Faschismus, die unerbittliche Globalisierung der kapitalistischen konomie und das wachsende Bewusstsein einer kologischen Gefhrdung des Planeten. In dieser Lage mag Sebalds hilflos trauerndes Weltgefhl weniger anachronistisch erscheinen als Benjamins historischer Materialismus. Als
nicht nher identifizierte Katastrophe tritt das weltgeschichtliche Trauerspiel
jedoch so schattenhaft in Erscheinung, dass es sich beim Schwindel davor eher um
ein neues mal de sie`cle handelt.
Dennoch fehlt es auch hier, ber den Epochenwandel hinweg, keineswegs an
berschneidungen zwischen den Positionen. Hierzu eine Stichprobe: So wie Benjamin die namenlose Fron von Generationen Geschlagener aus den Monumenten der Kultur herausliest,33 zhlt Sebald die Arbeiterschaft von Manchester,
die innerhalb von drei Generationen zu einem Geschlecht von Zwergen geschrumpft ist, zu den obskuren / Scharen, denen der Fortschritt / der Geschichte
sich verdankt. Und er glaubt zu sehen, wie ihre Seelen die Mllhalden der City
Corporation durchgeistern ein rauchendes / Riesengebirge, das sich, so schien
27

GS, I, 2, S. 682.
GS, I, 2, S. 683.
29
Vgl. GS, I, 2, S. 506508 u. 699.
30
NN, S. 89.
31
GS, I, 3, S. 1232.
32
Vgl. GS, II, 2, S. 432.
33
GS, I, 2, S. 696, 700.
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es mir, / bis hinber ins Jenseits erstreckte.34 Gegen die Folie des lieblichen tschechischen Riesengebirges spielen diese Verse auf den Trmmerhaufen in Benjamins neunter These an, der vor dem entsetzten Blick des Angelus Novus bis
zum Himmel wchst.35 Der ersten These zufolge kann der historische Materialismus die Partie nur dann gewinnen, wenn er die Theologie in seinen Dienst
nimmt;36 und diese wird durch die Figur versinnbildlicht, die Benjamin von Kindesbeinen an vertraut war: das bucklichte Mnnlein des deutschen Volksreims,
hier als buckliger Zwerg vorgestellt. Diese mythisch-christlich-jdische Missgestalt hat sein Gegenstck im zwergwchsigen Tataren, der Sebald seit seiner
Kindheit als Sinnfigur der Katastrophe gilt: die oft mit gewissen Formen / der
Selbstverstmmelung assoziierte Gestalt [. . .] des Adepten, der / einen Schneeberg
ersteigt und lang / dort verweilt, wie es heisst, unter Trnen.37 Hierzu assoziiert
Sebald ber den Maler Grnewald, der die Brde der Trbsal trgt den
heiligen Dionysius, der, das abgeschlagene Haupt unterm Arm, inmitten des
Lebens seinen Tod / Mit sich fhrt.38 Dionysos stellt somit selber den Gekreuzigten dar aber ganz anders als bei Nietzsche39 oder Benjamin40. Es ist, als sei
dem Kreislauf der Gewalt nur so Einhalt zu gebieten, dass sie jemand sich selber
zufgt.41 Kurzum, wo Benjamins und Sebalds Wege sich kreuzen, treffen jdische
34

NN, S. 84f.
GS, I, 2, S. 698.
36
GS, I, 2, S. 693.
37
NN, S. 77. Vgl. zur Selbstverstmmelung des Chronisten RS, S. 305. Mit Weinen, so
ein Zitat in Benjamins Trauerspielbuch, streuten wir den Samen in die Brachen / und
giengen traurig aus (zit. GS, I, I, S. 406).
38
NN, S. 7f. Geschlechtslos und doch von berweltlichem Geschlechte (GS, II, 1,
S. 130): Benjamins Formel fr Grnewalds Heilige wre auf Klees Angelus Novus zu
bertragen, in dem er den Engel der Geschichte sieht. Vgl. zu Trauerspiel, Heiligentragdie und Mrtyrerdrama GS, I, 1, S. 291f.
39
Hat man mich verstanden? Dionysos gegen den Gekreuzigten . . .. So endet Nietzsches Ecce Homo.
40
Vgl. hierzu die am Ende des Surrealismus-Aufsatzes ekstatisch beschworene Zerreiprobe (GS, II, 1, S. 309).
41
Von Benjamin sagte 1930 ein Bekannter, er mache den Eindruck eines Menschen, der
gerade von einem Kreuz heruntergestiegen sei und im Begriff stehe, ein neues zu
besteigen (Gershom Scholem: Walter Benjamin die Geschichte einer Freundschaft.
Frankfurt / M. 1975, S. 204). Vgl. den Satz von Sir Thomas Browne, den Sebald einem
seiner Essays voranstellt: And if the burthen of Isaac were sufficient for an holocaust,
a man may carry his owne pyre (CS, S. 101). Alexander und Margarete Mitscherlich
sprachen 1967 von der kleinen Gruppe von Vergangenheitsforschern, denen der
Auftrag stillschweigend erteilt wurde, sich stellvertretend mit der Schuld der Vergangenheit zu beschftigen (Die Unfhigkeit zu trauern. Mnchen / Stuttgart 1967,
S. 129. Vgl. Sebalds Anmerkungen zu dieser Studie in CS, S. 101103). Die Frage, ob
ein Schriftsteller diese Aufgabe stellvertretend fr all die anderen bernehmen kann,
nennt Sebald die Quadratur der Moral (CS, S. 117f.). Htten nicht die meisten
Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Verstrickung im Nationalsozialismus
unter einem massivem Aufgebot an psychischer Energie abgewehrt, dann wren sie
so vermuten die Mitscherlichs einer kollektiven Melancholie verfallen, Sebalds Me35

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und christliche Motive aufeinander. Aber solche Kreuzungen finden schon innerhalb von Benjamins Schriften statt.
In den Ausgewanderten (1992)42 vier lange Erzhlungen, die dem Schicksal
von vier unscheinbaren Emigranten nachspren, die schlielich aus dem Leben
auswandern wird Benjamins Name in einer Liste von zwlf Exilschriftstellern
genannt, die sich das Leben genommen haben oder nahe daran waren, es zu
tun.43 Auf seine Weise knpft Sebald in diesem Buch an die Thematik und Montage-Technik der Briefsammlung Deutsche Menschen an, in der Benjamin Mitte
der dreiiger Jahre aus seinem eigenen Exil heraus der gemeinsamen Not meist
emigrierter deutscher Schriftsteller einer frheren Epoche gedenkt: darunter Hlderlin, Kleist, Bchner und Seume.44 Eingedenken eine unter Benjamins Feder
wiederkehrende, in keinem Wrterbuch auffindbare Vokabel ist das musische
Element beider Schriftsteller.45 Das Motto der Ausgewanderten (Zerstret das
Letzte / die Erinnerung nicht) wandelt Zeilen aus Hlderlins Elegie ab; folgender Satz Benjamins, der auf Brechts Gedicht An die Nachgeborenen anspielt,
htte dort ebenfalls als Motto stehen knnen: Wir beanspruchen von den Nachgeborenen nicht Dank fr unsere Siege, sondern das Eingedenken unserer Niederlagen.46 Schwerer ist es, so eine ergnzende Aufzeichnung aus der Passagenarbeit, das Gedchtnis der Namenlosen zu ehren als das der Berhmten [. . .],
das der Dichter und Denker nicht ausgenommen. Dem Gedchtnis der Namenlosen ist die historische Konstruktion gewidmet.47 Die Fluchtlinien dieser Konstruktion laufen, darauf legt Benjamin das grte Gewicht, in der gegenwrtigen
Lage zusammen. Sptestens an dieser Stelle tritt der grundlegende Unterschied
zwischen Benjamins historisch-politischen Konstruktionen und Sebalds histolancholie seine Unfhigkeit, nicht zu trauern ist vielleicht als stellvertretende Antwort auf dieses kollektive Versumnis zu deuten. Er deutet jedenfalls mehrfach an,
dass seine zwiefache Auswanderung mit dem unertrglichen Geschick zusammenhngt, mit dem die Deutschen alles bereinigt hatten (DA, S. 338).
42
Ausgewanderte sind nicht Auswanderer. Diese altertmliche Wortwahl, die vielleicht auf Goethes Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten (1794) anspielt, verleiht dem In-die-Fremde-gegangen-sein selber einen etwas fremden Akzent. Unentschieden bleibt, ob diese deutschen Menschen ausgewandert sind oder es wurden.
43
[Paul Bereyter] habe gelesen und gelesen Altenberg, Trakl, Wittgenstein, Friedell,
Hasenclever, Toller, Tucholsky, Klaus Mann, Ossietsky, Benjamin, Koestler und
Zweig (DA, S. 86). Vgl. zum Selbstmord als Heroismus des modernen Lebens
Charles Baudelaire: Oeuvres Comple`tes. Hg. v. Yves-Gerard le Dantec. Paris 1968,
S. 950 (knftig unter der Sigle OC); dazu Benjamins Kommentar (GS, I, 2, S. 578
580); und zu Benjamins Selbstmord Nathalie Raoux / Irving Wohlfarth: Zu Walter
Benjamins Tod. Legenden, Ungewissheiten, dialektische Bilder (im Druck).
44
Vgl. insbes. den Kommentar zu Bchners Brief an Gutzkow (GS, IV, I, S. 213).
45
Vgl. zum musischen Element GS, II, 2, S. 453 und zu Eingedenken insbes. GS, I,
2, S. 704; ebenfalls Sebalds Aufsatz Jean Amery und Primo Levi. In: Irene Heidelberger (Hg.): ber Jean Amery. Heidelberg 1990, S. 121.
46
GS, I, 3, S. 1240.
47
Ebd., S. 1241.

Anachronie

193

risch-literarischen Rekonstruktionen zutage. Schematisch formuliert: Whrend


beide die Leidensgeschichte der Besiegten vor dem Siegeszug der Weltgeschichte
gerettet sehen wollen, hat dies aus Benjamins theologisch-politischer Optik zugunsten einer anderen, kommenden Geschichte zu geschehen, die ihrerseits, und
umgekehrt, im Namen jener geknechteten Vorfahren herbeizufhren ist.48 Sind
beide von Freuds klinischer Unterscheidung zwischen (normaler) Trauer und (pathologischer) Melancholie gleich weit entfernt, so besteht fr Benjamin ebenso
wenig Anlass, zwischen dem trauernden Eingedenken vergangener Niederlagen
und dem gerechten Zorn, ja dem rchenden Hass49 gegen fortdauernde Unterdrckung zu whlen. Zwar ist in seinen Augen vergangenes Glck oder Unglck
um keinen Preis zu instrumentalisieren. Aber das Eingedenken will von sich aus
politisiert werden. Es gibt fr Benjamin keine Politik ohne Trauer, aber auch keine
Trauer ohne Politik. Demgegenber erschpft sich Sebalds Politik, sofern man
von einer solchen sprechen kann, weitgehend in Trauer.50
Der Titel von Sebalds englischer Wallfahrt, Die Ringe des Saturn (1992),
nennt den Planeten, unter dessen Einfluss er und Benjamin ihr Leben gestellt
sehen.51 In seinem Trauerspielbuch hatte Benjamin, an die Studien von Giehlow,
48

GS, I, 2, S. 700, 696. Hannah Arendts Aufsatz von 1943 We refugees (wiederabgedruckt in Ron H. Feldman [Hg.]: The Jew as Pariah. New York 1978, S. 5566) stellt
eine weitere politische Gegenposition zu Sebalds Ausgewanderten dar. Bei Sebald
erscheint der Selbstmord jdischer Emigranten der sich vor dem nicht-jdischer
Auswanderer kaum unterscheidet als der letzte Schritt einer langen Auswanderung
aus der Heimat, sich selber und der Welt, bei Arendt hingegen als die letzte Konsequenz eines Assimilationsbestrebens, das auf einer ganz anderen Selbstverleugnung
beruht. Bei ihm sehnen sie sich heraus, bei ihr sehnen sie sich hinein. Dieser Gegensatz
knnte an der Verschiedenheit der jeweils studierten Biographien liegen. Dann bestnde kein Antagonismus, eher Komplementaritt zwischen Sebalds historisch-literarischen Portrts und Arendts politischen Skizzen. Aber muss nicht aus Arendts
Optik ein freischwebender Sammelbegriff wie die Ausgewanderten ebenso fragwrdig erscheinen wie die Wahllosigkeit einer (kaum nur von Bereyter, wohl auch
vom Autor selber zusammengestellten) Namensliste, in der Benjamin neben Stefan
Zweig steht, als wren sie ber alle Antagonismen hinweg im Freitod vereint? Vgl. zu
Zweigs lebenslangem Irrweg Arendts Artikel Portrait of a Period (ebd., S. 112121).
49
GS, I, 2, S. 700.
50
Dies dokumentiert wider Willen Ruth Vogel-Kleins Aufsatz Rckkehr und Gegenzeitigkeit. Totengedenken bei W. G. Sebald. In: Recherches Germaniques, hors serie 2
(2005), S. 99116. In seinem Essay Konstruktionen der Trauer. Gnter Grass und
Wolfgang Hildesheimer (CS, S. 101127) stellt Sebald die mhselig konstruierte, das
eigene sozialdemokratische Engagement kontrapunktierende Trauer des einen der authentischen Melancholie des anderen entgegen. Gerade die Melancholie, schreibt er,
paktiert nicht mit dem Tod. Wie in Kafkas Roman Das Schloss wolle sie vielmehr
erkunden, ob dem Tod durch eine Invasion seines eigenen Territoriums beizukommen ist (S. 125). Nheres ber diese Strategie, die auch fr Sebalds Malerfigur Aurach
gilt, wird hier nicht verraten. Es bleibt bei dem Ideal der Lichtlosigkeit, der Sehnsucht nach einer sukzessiven und graduellen Lsung aus der Soziett der Menschen
(S. 124) und damit bei einer neo-romantischen Nacht. Diese Konstruktion der Trauer
ist kaum eine im Sinne Benjamins.

194

Irving Wohlfarth

Panofsky und Saxl zu Drers Melencolia 1 anknpfend, den alten Symptomkomplex Saturn und Melancholie erneut aufgerollt.52 Aber die astrologische Lehre
von den wechselnden Konstellationen der Planeten war dort nicht nur der Gegenstand, sondern auch in gewisser Weise der Modus der Betrachtung gewesen.
Besteht doch die Aufgabe des Kritikers wie die des historischen Materialisten fr
Benjamin darin, die Konstellation die jeweilige Konfiguration von Einst und
Jetzt zu erfassen.53 So auch im Trauerspielbuch. Ein Stratege im Literaturkampf54 ist dort am Werk, der die missachtete Gattung des barocken Trauerspiels
vor der Hegemonie der klassischen Tragdie und, korrelativ, die anachronistisch
anmutende Sprachfigur der Allegorie vor der klassisch-romantischen Inflation des
Symbols retten will. Damit fllt ein Schlaglicht auf das Bndnis von institutioneller
Herrschaft und herrschenden sthetischen Normen. Die Brisanz dieser Umwertung sthetisch-politischer Werte ist daran zu ermessen, dass Benjamins Arbeit, die
als Habilitationsschrift gedacht war, auf die einmtige Ablehnung ihrer Gutachter
stie. Die ihr zugrundeliegende Konstellation trat ein Jahrzehnt spter voll ins
Licht, als Benjamin in Baudelaire dem Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus, der die literarische Moderne einlutet und die historisch-politische Moderne verdammt eine Drehscheibe zwischen dem deutschen siebzehnten und
dem europischen zwanzigsten Jahrhundert entdeckte.
Die Welt wird enden, so fngt ein sptes, unverffentlichtes Prosastck an, in
dem Baudelaire den universellen Fortschritt mit einem universellen Ruin
gleichsetzt.55
Mehr als ein Jahrhundert spter kehrt diese neo-barocke Weltsicht unter vernderten Vorzeichen wieder. Sebalds Schriften wandeln die zentralen Motive, die
Benjamin zunchst am barocken Trauerspiel und dann bei Baudelaire hervorgehoben hatte Melancholie, Allegorie, Natur-Geschichte, Verfall, Ruine, Totenkopf, Schdelsttte usw. immer wieder ab.56 Nun jedoch fast ohne das rebelli51

Beide Autoren wollen unter Saturn geboren sein und reihen sich in eine ehrwrdige
Dynastie ein (GS, VI, S. 521; NN, S. 76). Vgl. hierzu Rudolf und Margot Wittkower:
Born under Saturn. The Character and Conduct of Artists. A Documented History
from Antiquity to the French Revolution. London 1963.
52
Vgl. zur Lehre von Saturn GS, I, I, S. 326ff., zu Drers Melencolia GS, I, 1,
S. 319ff. und CS, S. 117ff. und zu den Ritualen der Melancholie, auch mit Bezug auf
Benjamin, CS, S. 122124.
53
Vgl. hierzu die Thesen, insbes. Anhang A (GS I, 2, S. 704).
54
GS, IV, I, S. 108.
55
OC, S. 1262ff.
56
Dies weist Santner im dritten Kapitel seiner Studie (Towards a natural history of the
present) am Begriff der Naturgeschichte berzeugend nach. Im deutschen Trauerspiel, so Benjamin, erscheint die Geschichte in allem was sie Unzeitiges, Leidvolles,
Verfehltes von Beginn an hat als facies hippocratica, erstarrte Urlandschaft,
Rtselfrage und Leidensgeschichte und ist nur in den Stationen ihres Verfalls
bedeutend (GS, I, 1, S. 343). So ist auch Sebalds Weltsicht beschaffen. Er beruft sich
dabei vornehmlich auf Sir Thomas Browne. Seine ganze Gelehrsamkeit mit sich fhrend, baut dieser wie Sebald selber labyrinthische, bisweilen ber ein, zwei Seiten

Anachronie

195

sche Pathos eines Baudelaire und weitgehend ohne die theologischen Gewissheiten, die das barocke Zeitalter dem Verfall alles Irdischen und Benjamins Barockbuch der Verdammnis des Allegorikers entgegenhalten: ohne Umschwung und
Auferstehung57 also und wohl auch ohne die Unzerstrbarkeit der menschlichen Seele, an der Sebalds christlicher Gewhrsmann, Sir Thomas Browne, zu
zweifeln scheint.58 Sebald kommt sich vielmehr, wie seine Protagonisten, als der
einzige berlebende vor oder gar als ein nachgeborener Fremder in einer gottverlassenen, postnuklearen Welt.59 Gleichzeitig identifiziert er sich mit dem Autor
der Memoires doutre-tombe, der sich im Hinblick auf den Tag der Erlsung
schon zu Lebzeiten vergrbt und seine Erfahrungen in einem Akt der Selbstverstmmelung auf den eigenen Leib schreibt.60 Dem gesellt sich das wiederkehrende Motiv der aus den Raupen gewonnenen Seide und des hinbergeretteten
Fetzchens derselben, das das fragile Sinnbild einer jetzt eher knstlerischen
Unsterblichkeit darstellt.61 Benjamin fr seinen Teil hing einem ganz anderen
Fetzchen Tuch nach nmlich dem letzten Zipfel der roten Fahne62 und
begriff die Rettung vor der Zerstrung als ihrerseits zerstrend eine Mortifikation der Werke, die deren Bruchstcke als die Bausteine einer menschenwrdigen Zukunft hinberrettet.63
sich hinziehende Satzgebilde, die Prozessionen gleichen in ihrer schieren Aufwendigkeit (RS, S. 30). Auf die Verwandtschaft von Trauer und Ostentation macht Benjamin ebenfalls aufmerksam: Auf der Strae zum Gegenstand nein: auf der Bahn im
Gegenstand selbst schreitet ihre Intention so langsam und feierlich wie die Aufzge der Machthaber voran (GS, I, 1, S. 318). Vgl. die verwandten Motive des
Nachtschattens, der laut Browne gleich einer Schleppe ber die Erde gezogen
wird, und des Trauerkleids aus schwarzer Mantuaseide (RS, S. 97, 350).
57
GS, I, 1, S. 405406.
58
Vgl. RS, S. 3839.
59
Vgl. A, S. 80 und RS, S. 273, 282, Tot zu Lebzeiten und der eigentlich berlebende,
heit es bei Kafka (Tagebcher 19101923. Hg. v. Max Brod. Frankfurt / M. 1967,
S. 392). Vgl. hierzu Anm. 50. Hannah Arendt zitiert diese Formel in ihrem Aufsatz
ber Benjamin (Benjamin. Brecht. Mnchen 1971).
60
RS, S. 305. Sebald stellt Chateaubriands Geschichtsbild in ebenso barocken wie Benjaminschen Zgen als ein auf der Bhne des Welttheaters gegebene[s], nicht enden
wollende[s] Stck dar, das den privilegierten Zuschauer nicht weniger in Mitleidenschaft zieht als die namenlose Menge (RS, S. 304).
61
Und weil der schwerste Stein der Melancholie die Angst ist vor dem aussichtslosen
Ende unserer Natur, sucht Browne unter dem, was der Vernichtung entging, nach den
Spuren der geheimnisvollen Fhigkeit zur Transmigration, die er an den Raupen und
Faltern so oft studiert hat. Das purpurfarbene Fetzchen Seide aus der Urne des Patroklus, von dem er berichtet, was also bedeutet es wohl? (RS, S. 39). Dass auch das
Kunstwerk vor der Vernichtung nicht gefeit ist, sie sogar der allegorischen Zerstcklung gleich (GS, I, I, S. 361ff.) gegen sich wenden mag, wird in den Ausgewanderten am Maler Aurach dargestellt.
62
Walter Benjamin: Gesammelte Briefe. Bd. 4. Hg. v. Christoph Gdde u. Henri Lonitz.
Frankfurt / M. 19952000, S. 25 (knftig unter der Sigle GB).
63
GS, II, 1, S. 365; GS, I, 1, S. 357f. Rettung ist in Benjamins Augen so partiell wie
Apologie total. Dafr zeugen Sebalds beste literarische Aufstze, darunter der kritisch sichtende Essay ber Stifter (BU, S. 1537).

196

Irving Wohlfarth

Der dreiteilige Essay Luftkrieg und Literatur (1999), der eine vom deutschen
Wirtschaftswunder zugeschttete Tiefenschicht der unbewltigten Vergangenheit untersucht das Schweigen der deutschen Nachkriegsliteratur ber die Verwstung der deutschen Stdte in der Endphase des Zweiten Weltkriegs , erinnert
an Benjamins bekannte Stze ber die Stummheit der aus dem Ersten Weltkrieg
nicht reicher, sondern rmer an mitteilbarer Erfahrung zurckkehrenden Soldaten.64 Sebalds sparsam kommentierte Aufzhlung einiger der beiderseits durchgefhrten Vernichtungsorgien erinnert ebenfalls an die Maxime der Passagenarbeit: Ich habe nichts zu sagen. Nur zu zeigen.65 Und die Entsetzensstarre, von
der seine Darstellung durchschauert ist, entspricht der des Engels der Geschichte, der seine Augen vom Anblick des wachsenden Trmmerhaufens der
Weltgeschichte nicht losreien kann.66 Es ist also keine bloe Zutat, wenn Benjamins Beschreibung dieses medusischen Engelsblicks im Anschluss an Alexander
Kluges Blick auf seine zerstrte Heimatstadt am Ende des zweiten Teils dieses
Essays zitiert wird.67 Wusste Sebald, dass die Idee einer Naturgeschichte der
Zerstrung, die er hier dem Naturwissenschaftler Sir Solly Zuckerman entlehnt,
an Grundimpulse der Benjaminschen Geschichtsphilosophie anklingt? Eine Akzentverschiebung ist jedenfalls auch hier zu beobachten. Whrend bei Benjamin
die allegorische Physiognomie der Natur-Geschichte68 nur im messianischen
Licht der Erlsung anders gesagt: durch die Prfung der klassenlosen Gesellschaft gesichtet werden kann,69 lsst sich Sebald auf solche theologisch-politischen Prmissen kaum jemals ein.70
Nirgends in Sebalds Werk sind Benjamins Spuren so deutlich erkennbar wie in
seinem einzigen Roman Austerlitz (2001). Einigen dieser Fhrten wird im folgenden Abschnitt nachgegangen. Wieder herauszuholen, was ein Autor in sein Werk
hineingelegt hat, ist jedoch eine tautologische, aber keine unverfngliche bung.
Die Quellen fliessen nach Herzenslust, schrieb Benjamin zum damaligen Stand
der Baudelaire-Forschung,
und wo sie sich zum Strome der berlieferung vereinigen, da tun sich schn tracierte
Bschungen auf, zwischen denen er, so weit das Auge reicht, voll dahinstrmt. [. . .] Die
kritische Theorie verliert sich an dieses Schauspiel nicht.

64

GS, II, 2, S. 439.


GS, V, I, S. 574. N1a, 8.
66
GS, I, 2, S. 697f.
67
Luftkrieg und Literatur. Frankfurt / M. 2001, S. 73f. Knftig unter der Sigle LL.
68
GS, I, I, S. 353.
69
GS, I, 3, S. 1244f. Benjamin neigt, so schreibt er 1935, zur Annahme, unser Planet
warte auf eine Kultur, die das Blut und Grauen endlich hinter sich gelassen htte (GB,
V, S. 193). Der anschlieende Gedanke, dass das Weltgericht deren Ausbleiben ahnden
wird, ist Sebald nicht fremd.
70
Der jdische Messianismus kommt einzig in der oben erwhnten Kleinen Anmerkung zu Nabokov und im Aufsatz Das Gesetz der Schande Macht, Messianismus
und Exil in Kafkas Schloss (UH, S. 87103) bei Sebald vor.
65

Anachronie

197

Sie fragt vielmehr: wessen Mhlen treibt er? wessen Fracht verflsst er? [. . .] wer
fischt in ihm?.71 Auf diese Frage wird abschlieend zurckzukommen sein.
Sebalds Werk, das eines Literaturprofessors, ist ein gefundenes Fressen fr
Komparatisten. Sein Anspielungsreichtum verlangt nach inner- und intertextueller
Exegese und verlockt zu ausufernder Quellen- und Spurensuche. Aber jedes
Kunstwerk verlangt letztlich nach kritischer Beurteilung. Der Kommentator fragt,
so Benjamin, nach dem Sachgehalt, der Kritiker nach dem Wahrheitsgehalt
eines Werks.72 Die bisherige Sekundrliteratur zu Sebald ist ber das Kommentieren meist kaum hinausgekommen und droht damit auf ein verfrhtes, brchiges
Kanonisieren hinauszulaufen. Benjamin hingegen wollte die Gattung der Literaturkritik ber die Grenzen des akademischen und journalistischen Betriebs hinaus
erneuern.73 Wie in einer Periode, wo sich die alten Grenzen, zum Guten wie
zum Schlechten, aufgeweicht haben ist dieses Anliegen selber zu erneuern? Bedarf es nicht, um Sebalds Oeuvre (und seinen Anleihen bei Benjamin) gerecht zu
werden, eines solchen Versuchs?
Beide haben, jeder auf seine Weise, die Kunst, ohne Anfhrungszeichen zu
zitieren, zur hchsten Hhe entwickel[t].74 Darin war Sebald besonders virtuos,75
auch in Bezug auf Benjamin. Entscheidend ist jedoch aus Benjamins Sicht die
citation a` lordre du jour.76

2. Zweite Wiederkehr des Flaneurs


Die passionierteste Untersuchung telepathischer Phnomene [. . .] wird einen
ber das Lesen (das ein eminent telepathischer Vorgang ist) nicht halb so viel
lehren, wie die profane Erleuchtung des Lesens ber die telepathischen Phnomene. [. . .] Der Lesende, der Denkende, der Wartende, der Flaneur sind ebensowohl Typen des Erleuchteten wie der Opiumesser, der Trumer, der Berauschte. Und sind profanere. 77

Benjamin wird im Gegensatz zu Jean Amery, H. G. Adler, Claude Simon und


Ludwig Wittgenstein, dessen unverwandt forschende[r] Blick und entsetzte[r]
Ausdruck78 von fern an den Engel der Geschichte erinnern in Sebalds Roman
71

GS, I, 3, S. 1163.
GS, I, I, S. 125.
73
Vgl. hierzu GB, III, S. 502.
74
GS, V, I, S. 572.
75
Vgl. insbesondere seinen Essay Dr. K.s Badreise nach Riva. In: W. G. S.: Schwindel.
Gefhle. Frankfurt / M. 1994, S. 157186. Knftig unter der Sigle SG.
76
GS, I, 2, S. 694.
77
GS, II, 1, S. 307f. Die Kritik, die Benjamin hier 1929 an der romantischen Befangenheit der Surrealisten und ihrer undialektischen Einstellung zu okkulten Phnomenen bt, lsst in manchem gegen Sebald mobilisieren.
78
Austerlitz. Frankfurt / M. 2003, S. 11, 62 (knftig unter der Sigle A). Die Augen des
Engels sind aufgerissen (GS, I, 2, S. 697). Manchmal schaut Austerlitz den Erzhler
72

198

Irving Wohlfarth

nie namentlich erwhnt. Dennoch weist Austerlitz zahlreiche Parallelen zu zentralen Motiven seines Denkens auf. So wie Franz Hessel Benjamin einst ins Labyrinth stdtischen Flanierens einfhrte,79 scheint Benjamin hier Austerlitz und
die ihm zugeordnete Erzhlerfigur auf ihren Stadt-, Land- und Geschichtserkundungen wie ein unsichtbarer Zwillingsbruder80 zu begleiten.
Die Wiederkehr des Flaneurs: So betitelt Benjamin seine 1929 geschriebene
Rezension von Franz Hessels Spazieren in Berlin.81 Seit dem frhen neunzehnten Jahrhundert macht die abschweifende, verweilende Gangart des Flaneurs, der
auf dem Asphalt botanisieren geht,82 seine Weigerung vor, mit dem sogenannten
Fortschritt Schritt zu halten.83 Fllt Modernes und Antimodernes in der Provomit weit aufgerissenen, schreckhaften Augen an (S. 147). Vgl. ebenfalls das Motiv der
zu weit offenen Augen (S. 80, 82).
79
Vgl. dazu Berliner Chronik, GS, VI, S. 469f. Die sich anschlieende Reflexion fhrt
auf eine weitere Differenz zwischen Benjamin und Sebald. Eine Photographin war
unter uns. Und mir scheint, wenn ich an Berlin denke, die Seite der Stadt, der wir
damals nachgingen, die einzige, die wirklich der photographischen Aufnahme zugnglich ist. Je nher wir nmlich an ihr heutiges flieendes, funktionales Dasein herantreten, desto mehr schrumpft der Umkreis des Photographierbaren an ihr (ebd.).
Photographien, fhrt Benjamin fort, veralten wie die Bahnhfe, die nicht mehr die
echte Einfahrt in die Stadt gewhren: Der Bahnhof gibt gleichsam die Anweisung
auf ein berraschungsmanver, aber auf ein altes, das nur auf das alte stt, und nicht
anders ist es mit der Photographie [. . .]. Erst dem Film erffnen sich optische Zufahrtsstraen in das Wesen der Stadt [. . .] (ebd.). Dieser Hinweis wird 1935 im Kunstwerk-Aufsatz ausgefhrt: Unsere Kneipen und Grostadtstraen, unsere Bros und
mblierte Zimmer, unsere Bahnhfe und Fabriken schienen uns hoffnungslos einzuschlieen. Da kam der Film und hat diese Kerkerwelt mit dem Dynamit der Zehntelsekunden gesprengt, so dass wir nun zwischen ihren weitverstreuten Trmmern
gelassen abenteuerliche Reisen unternehmen (GS, I, 2, S. 500). Von hier aus gesehen
wren Austerlitz/Sebalds Aufnahmen auf der einst fortgeschrittenen Stufe der Photographiegeschichte stehengeblieben, die Benjamin dem Werk Atgets zuweist. Dieser
habe die menschenleeren Straen von Paris als entauratisierte Beweisstcke im historischen Prozess dargestellt; das mache ihre verborgene politische Bedeutung aus
(S. 485). Gilt das noch fr Sebalds auratisch / nicht-auratisch Schwarzwei-Aufnahmen? Haftet ihnen nicht eher etwas von der schwermutsvolle[n] Schnheit (ebd.)
der frhen Fotografie an?
80
Vgl. zu diesem Motiv A, S. 84 und S. 324.
81
GS, III, S. 194199.
82
GS, I, 2, S. 538
83
Vgl. zum Flaneur den zweiten Teil von Das Paris des Second Empire bei Baudelaire,
Der Flaneur (GS, I, 2, S. 537569), und das Konvolut Der Flaneur im PassagenWerk (GS, V, I, S. 524569), insbes. folgende Notate: 1839 war es elegant, beim
Promenieren eine Schildkrte mit sich zu fhren. Das gibt einen Begriff vom Tempo
des Flanierens in den Passagen (S. 532). Lobsession de Taylor [. . .] est la guerre a` la
flanerie (Georges Friedmann: La crise du progre`s. Paris 1936, zit. S. 547). Vgl. ebenfalls zum Schritt halten mit der Zeit GS, I, 3, S. 1235; und zu Benjamins Erinnerung,
wie seiner Mutter nichts unausstehlicher war als die Peinlichkeit, mit der ich beim
Gang durch die Straen immer wieder um einen halben Schritt hinter ihr blieb, GS,
VI, S. 466.

Anachronie

199

kation dieser ungleichzeitigen demarche zusammen, so tritt der Flaneur bei seiner
Wiederkehr, und erst recht, wie im Falle Sebalds, bei deren Wiederkehr, als ein
doppelt anachronistischer Wiedergnger auf: als das Gespenst eines Gespensts.84
Ein Gespenst, so beginnt das Kommunistische Manifest, geht um in Europa. Auch dieses Gespenst ist zum eigenen Gespenst, auch der Vorbote zum
Wiedergnger geworden.85 Im Flaneur, der in Europas Grostdten (her)umging,
hatte das Marxsche Gespenst einen wahlverwandten Antipoden. Der eine war der
Vorlufer des wirklichen, revolutionren, der andere der Gegner des falschen,
brgerlichen Fortschritts und als solcher allem von diesem zum Anachronismus
Verdammten zugewandt. Es ist gleich, ob sich der Flaneur altmodisch kleidet, ob
er als Dandy die neueste Mode gegen sich selber wendet oder ob er beides, wie auf
andere Weise die Mode selber, vereint. Weder ein Revolutionr noch dessen Gegenteil, gibt er in konomischer wie in ideologischer Hinsicht eine zweideutige
Figur ab:86 Er hlt sich in der Zirkulationssphre auf, ohne schon, wie er meint, als
eine Ware zu zirkulieren; und er geht gegen den Verkehr an, ohne Barrikaden zu
bauen.87 Dennoch haben seine scheinbar planlosen Streifzge Methode. Es sind
notwendige Umwege zum Ziel, eine abstrakte, ihrerseits gespenstisch wirkende
Welt doch noch am eigenen Leib zu erfahren.88 Damit bietet er eine scheinbar
individualistische Lsung objektiver Widersprche. Er nimmt sich von der gesellschaftlichen Arbeitsteilung aus, die mit der ungeteilten Arbeit auch die ungeteilte
Erfahrung zerstrt, und macht sich so zu einem nicht weniger arbeitsteiligen Spezialisten fr Erfahrung. Die Kantsche Prmisse, dass es Erfahrung gibt, kann
nicht mehr ohne weiteres vorausgesetzt werden.89 Deshalb versucht der Flaneur,
84

Benjamin deutet das sich vervielfachende Gespenst in Baudelaires Les sept vieillards
als den Doppelgnger, durch den der Flaneur an sich selber irre wird: der, der Typen
identifiziert, erfhrt sich selber als einer (Neue Baudelairiana. In: Frankfurter Adorno Bltter 4 [1965], S. 921, insbes. S. 20). Vgl. zu Sebalds mehrfachem Rckgriff auf
einen anderen gespenstischen Wanderer Kafkas Jger Gracchus Santner: On Creaturely Life (Anm. 11), S. 115ff.
85
Vgl. hierzu Jacques Derrida: Marx Gespenster. Frankfurt / M. 1996 (zuerst Paris
1994).
86
Im Flaneur, der auf der Schwelle zgert, begibt sich, so Benjamin, die Intelligenz auf
den Markt: Wie sie meint, um ihn anzusehen und in Wahrheit doch schon, um einen
Kufer zu finden (GS, V, I, S. 54). Der Flaneur mag sich als wiedergeborener Peripatetiker stilisieren; aber auch die Pariser Prostituierten wurden peripateticiennes genannt. Sebalds abseitige, romantisch angehauchte Wandererfiguren hingegen bewegen
sich jenseits solchen niedrigen Verdachts.
87
Vgl. zum vieldeutigen Motiv des Verkehrs A, S. 21, 174, Baudelaires Prosagedicht
Perte dAureole und meinen Aufsatz Ein geradezu unendlicher Verkehr. Zu einem Motiv Franz Kafkas. In: Harald Hillgartner / Thomas Kpper (Hg.): Medien und
sthetik. Festschrift fr Burkhardt Lindner. Bielefeld 2003, S. 119148.
88
Methode ist Umweg (GS, I, 1, S. 208).
89
Gibt es Erfahrung bei Kant, dann schon hier nur sehr begrenzt. In seinem frhen
Aufsatz ber das Programm der kommenden Philosophie setzt Benjamin der mechanischen, auf den Nullpunkt reduzierten Erfahrung, mit der sich Kant zufrieden
gab, einen emphatischen Erfahrungsbegriff entgegen, der seine Inspiration auch bei

200

Irving Wohlfarth

die Bedingungen ihrer Mglichkeit quasi-experimentell zu erzeugen: experience


im doppelten Sinn. Gleichzeitig gilt das scheinbare Gegenteil: Stellt Erfahrung
unter modernen Bedingungen etwas fast Anachronistisches dar, so ist sie nur noch
auf anachronistischem Wege zurckzugewinnen. Es wird, schreibt Benjamin, nicht
mehr erfahren, weil nicht mehr erzhlt, und nicht mehr erzhlt, weil nicht mehr
gewebt und gesponnen wird. Und es wird, so spinnt Sebald diesen Gedanken
seinerseits weiter, nichts mehr er-fahren, wo nichts mehr zu Fu erwandert
wird.90
Als fahrender Geselle aus einem vergangenen Jahrhundert91 stellt er, wie Benjamin, den Versuch an, die (europische) Welt zu erfahren. Hinter beiden steht
Baudelaires kanonische Beschreibung des parfait flaneur als homme du monde.92
Waren die Weltausstellungen des 19. Jahrhunderts Wallfahrtssttten zum Fetisch
Ware,93 so unternimmt Sebald eine englische Wallfahrt in umgekehrter Richtung, deren Stationen Trmmersttten der kapitalistischen Wirtschaft sind. Dem
Pariser Flaneur wurde die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts zur Landschaft
und sogar zur Stube.94 Der Wandersmann des spten 20. Jahrhunderts erfhrt die
Landschaft nicht mehr nur wie seine romantischen Vorfahren als Befreiung von
der Stadt, sondern als deren Verlngerung. Sebald erwandert sich seine Exilheimat
wie ein Detektiv, der den Verbrechen des Kapitalismus auf der Spur ist95 und
bertrgt seine Forschungsmethode, samt Kamera und Rucksack,96 auf den Protagonisten seines Romans.
Naturvlkern, Wahnsinnigen und Kranken sucht (GS, II, 1, S. 159, 162). Vgl.
zum Kursverfall der Erfahrung in der kapitalistischen Moderne GS, II, 2, S. 439f.
90
GS, II, 2, S. 438ff., insbes. S. 446447, zit. in UH, S. 111. Der Typus des Flaneurs, dem
Peter Altenberg angehrt, schreibt Sebald, entstand in einer Zeit, in der es mglich
geworden war, die Welt zu Hause sich zu erwandern (UH, S. 73). Der ursprngliche
Typus des Flaneurs, der die Welt er-fhrt, wird, wie in Perte dAureole, von den
Fahrzeugen bedroht. Vgl. hierzu folgende Stelle: Denn nie sind Erfahrungen grndlicher Lgen gestraft worden als die strategischen durch den Stellungskrieg, die wirtschaftlichen durch die Inflation, die krperlichen durch die Materialschlacht, die sittlichen durch die Machthaber. Eine Generation, die noch mit der Pferdebahn zur
Schule gefahren war [. . .] (GS, II, 2, S. 439. Hervorhebung von mir).
91
RS, S. 208. Vgl. UH, S. 77. Schlielich zieht jeder Fureisende, auch heute noch, ja
gerade heute [. . .], den Verdacht des Ortsansssigen auf sich (RS, S. 209). Vgl. das
Eingangskapitel Der Verdchtige in Franz Hessels Spazieren in Berlin (Neuausgabe:
Ein Flaneur in Berlin. Berlin 1984, S. 711); und zum suspekten Auslandskorrespondenten SG, S. 209.
92
Vgl. Abschnitte III (LArtiste, Homme du Monde, Homme des Foules et Enfant)
und IV (La Modernite) von Le Peintre de la Vie Moderne (OC, S. 11561166,
insbes. S. 11581161).
93
GS, V, I, S. 50.
94
GS, V, I, S. 525.
95
Vgl. zum Flaneur als Detektiv GS, I, 2, S. 543.ff.
96
Vgl. zu Sebalds eigenem Rucksack SG, S. 193. James Chandler sieht in Austerlitz, mit
seinem Rucksack als Markenzeichen einen vagabundierenden Benjamin (About
Loss: W. G. Sebalds Romantic Art of Memory. In: South Atlantic Quarterly 102
[Winter 2003], S. 243). Aber der Rucksack erinnert nicht an Benjamin, sondern, wie
Austerlitz selber notiert, an Wittgenstein (A, S. 63).

Anachronie

201

Erst spt stt dieser darauf, dass der eigentliche Gegenstand seiner europischen Recherchen die eigenen Spuren sind.97 In diesem Sinne stellt Austerlitz eine
neuartige Recherche du temps perdu dar.98 Letztere, schreibt Benjamin,
gibt einen Begriff davon, welcher Anstalten es bedurfte, um der Gegenwart die Figur
des Erzhlers zu restaurieren. [. . .] [Proust] geriet dabei von Anfang an an eine elementare Aufgabe: von der eigenen Kindheit Bericht zu geben. Er erma ihre ganze
Schwierigkeit, indem er es als Sache des Zufalls darstellt, ob sie berhaupt lsbar sei. Im
Zusammenhang dieser Betrachtung prgt er den Begriff der memoire involontaire. Dieser trgt die Spuren der Situation, aus der heraus er gebildet wurde. Er gehrt zum
Inventar der vielfach isolierten Privatperson.99

Bei Austerlitz haben die frhkindliche Amnesie und Selbstentfremdung eine ganz
andere traumatische tiologie als bei Proust oder Freud. Aber er gert, wenn auch
spt, an dieselbe Aufgabe. Den Zufall, dem er ihre Lsung verdankt, fhrt er
selber herbei. So wie es den Kriminellen zum Ort des Verbrechens zurcktreibt,
zieht es Austerlitz dorthin, wo die verstrendsten Erinnerungen ihm auflauern.
Aura und Schockerlebnis, die einander laut Benjamins Theorie tendenziell ausschlieen,100 fallen bei dieser Bergung einer verschtteten Vergangenheit eher zusammen.
Ein weiterer Vergleich mit Prousts Recherche drngt sich auf. Wenn die Rmer
einen Text das Gewebte nannten, schreibt Benjamin, so ist es kaum einer mehr
und dichter als Marcel Prousts. Dieser wollte sein Werk am liebsten zweispaltig
in einem Band und ohne jeden Absatz gedruckt sehen. Hinter dieser atemlosen
Arbeit steckte ein blindes, unsinniges und besessenes Glcksverlangen.101 Sebalds akribische Web- und Erinnerungsarbeit102 scheint hingegen weniger einem
97

Die Verdoppelung des Flaneurs in einen Ich-Erzhler und eine zufllig begegnete
Gestalt, deren Geheimnis seine detektivische Neugierde weckt, geht auf eine Geschichte zurck, die sowohl Baudelaire als auch Benjamin, jeweils in Zusammenhang
mit dem Flaneur, kommentieren: Poes The Man of the Crowd. Dieser Unbekannte
ist der Flaneur [. . .], dem es in seiner eigenen Gesellschaft nicht geheuer ist (GS, I, 2,
S. 550. Hervorhebung von Benjamin), Dies gilt auf andere Weise fr Austerlitz, der
kein Verbrecher ist, sondern ein Flchtling vor dem an ihm begangenen Verbrechen.
Vgl. ferner die politische Abwandlung dieser Motive Benjamins Kommentar zu
Brechts Gedicht Verwisch die Spuren!. Der in die Illegalitt untertauchende Kommunist ist ein Emigrant im eigenen Land (GS, II, 2, S. 556).
98
Vgl. zum Paradoxon von [Jean Amerys] Suche nach der zum eigenen Leidwesen
[. . .] unverlierbaren Zeit (CS, S. 154).
99
GS, I, 2, S. 611.
100
Vgl. GS, I, 2, S. 479.
101
GS, II, 1, S. 311f.
102
Sebald vergleicht die Mhen des Schreibens mit denen des Webens (RS, S. 344). Zwei
Seiten aus einem alten Musterkatalog der Seidenmanufaktur werden in Die Ringe des
Saturn abgebildet, die wie Bltter aus dem einzig wahren, von keinem unserer Textund Bildwerke auch nur annhernd erreichten Buch anmuten (RS, S. 338). Ein hnliches Buch schwebt Benjamin aus einem hnlichen Ungengen am Fllwerk der gegenwrtigen wissenschaftlichen Produktion vor: Das Durchschnittswerk des heutigen Gelehrten will wie ein Katalog gelesen werden. Wann aber wird man soweit sein,

202

Irving Wohlfarth

Glcksverlangen entsprungen zu sein als dem Bedrfnis des Ausgewanderten, sich


seiner eigenen inneren Konsistenz zu vergewissern. Dies gilt besonders fr seinen
Roman, der mehrfach in ein Kontinuum des Erinnerns mndet, deren Bruchlosigkeit wie ein nachtrglicher Versuch wirkt, die Brche durch Webarbeit zu reparieren. Daran zeigt sich, welcher Anstrengungen es bedarf, um die Figur des
Erzhlers fr unsere Gegenwart, das Zeitalter der Emigranten und Flchtlinge,
zurckzugewinnen.
Um die eigene Biographie zu rekonstruieren, muss Austerlitz zu einem grbelnden, grabenden Forscher werden. Die Schwierigkeiten, an die eigene Kindheit
heranzukommen, stehen, wie schon bei Proust, in lehrreichem Kontrast zum epischen, langatmigen und etwas manieriert wirkenden Erzhlstil des Romans selber. Dieser bewusste Anachronismus entspricht Benjamins Feststellung, dass der
Erzhler uns etwas bereits Entferntes und weiter sich Entfernendes ist.103 Wie
Prousts Recherche ist Austerlitz eine Ausnahme, die diese Regel besttigt. Um
dies zu ermglichen, wird die Erzhlfunktion in zwei komplementre Wanderfiguren aufgeteilt. Der sich zurcknehmende Ich-Erzhler, der in den Ausgewanderten vier abgebrochenen, verstummten, verschollenen Existenzen buchstblich
nachgegangen war, kehrt in Austerlitz als der quasi providentielle Vertrauensmann
wieder, der die Geschichte eines wahlverwandten Ausgewanderten in Empfang
nimmt. ber alle raumzeitlichen Intervalle hinweg stehen ihre scheinbar zuflligen
Begegnungen in einem Zusammenhang, der sagt Austerlitz, sagt Sebald einer
geradezu zwingenden inneren Logik gehorcht.104 Dieses unterschwellige Kontinuum ist es, das Sebalds neo-epischer Stil wiederherzustellen und die spekulativen Exkurse seiner Erzhlfiguren darzustellen versuchen. Alle verweisen auf die
rtselhaften Gesetzmigkeiten, die der Chronologie des Fortschritts zuwiderlaufen. Im Folgenden wird dieser weitlufige Motivkomplex, in Analogie und leisem
Widerspruch zu den Begriffen Synchronie und Diachronie, Anachronie
genannt.
Nichts hat Benjamin und Sebald so nachhaltig beschftigt wie die Kehr- und
Innenseite der linearen, mechanischen Zeit. Gerade hier jedoch treten ihre Divergenzen hervor. Schematisch formuliert: Sebald setzt diese andersartige Zeit der
entzauberten Welt entgegen, whrend Benjamin sie fr eine anders entzauberte
Welt gewinnen will.105 Sebald beschwrt ein anderes Kontinuum als das chronologische Zeitma herauf; Benjamin stellt dem Kontinuum der Herrschaft die VorBcher wie Kataloge zu schreiben? (GS, IV, I, S. 105). Eine weitere Analogie knnte
zwischen den geheimnisvollen Ziffern und Zeichen (ebd.) der Seidenkataloge und
den rtselhaften Siglen der Passagenarbeit gezogen werden.
103
GS, II, 2, S. 438
104
A, S. 68. Wenn Sebald die geheimnisvollen Korrespondenzen und Zufallsbegegnungen,
deren sich Nabokov bedient, Versatzstcke aus der Gespensterliteratur nennt, die
dennoch auf Dinge verweisen, von der unsere Schulweisheit nichts wissen will (CS,
S. 187), so schreibt er auch pro domo.
105
Vgl. hierzu insbesondere ber das mimetische Vermgen (GS, II, 1, S. 210213).

Anachronie

203

stellung eines sprengenden Diskontinuums als der Grundlage echter Tradition entgegen.106 Sein Glcksverlangen will die inwendigsten Zeiterfahrungen,
darunter Prousts memoire involontaire, in einen kollektiven Rahmen bersetzt107
und jegliche Esoterik ins Exoterische gewendet108 sehen. Solche Impulse scheint
Sebald kaum zu kennen. Anachronien finden bei ihm in einer twilight zone statt,
die weitab von der politischen Sphre liegt. Messen beide Autoren ihren ungedecktesten Erfahrungen eine Schlsselbedeutung bei das Traum- und Totenreich
hat beim einen so viele verborgene Zugnge wie beim anderen die Unterwelt der
Passagen109 , so scheint Sebald fr aberglubische Anwandlungen weitaus anflliger zu sein. So schwer es manchmal fallen mag, okkulte Erfahrung von Aberglauben und Gespenstisches von Gespensterspuk klar zu unterscheiden,110 dieser
Imperativ steht Benjamin, nicht aber Sebald, immer vor Augen.111
Diese Divergenzen zeigen die grundlegenden Unterschiede zwischen ihren historischen Lagen an. Mit jeder neuen Wiederkehr ist der literarische Flaneur von
der dazwischenliegenden Geschichtssequenz neu und anders gezeichnet. Eines
bleibt sich dabei gleich: sein Organ fr eine Erfahrung, der das Chockerlebnis
zur Norm geworden ist.112 Gehrte schon Baudelaire der den Flaneur Mitte des
neunzehnten Jahrhunderts erstmals zu einem philosophisch-literarischen Modell
erhob und ihm die gespielte Souvernitt des Dandys verlieh zu den traumatophilen Typen,113 so reimt sich Anachronie bei Sebald nur noch auf Aphasie,
Amnesie und Hypermnesie.114 Benjamin hatte die Grostadterfahrung, die sich in
den Fleurs du Mal niederschlgt, vom Ersten Weltkrieg und Freuds Arbeiten zu
106

GS, I, 3, S. 1236.
Vgl. GS, I, 3, S. 1243.
108
Allen philosophischen Entwrfen eignet, der Erkenntniskritischen Einleitung zum
Trauerspielbuch zufolge, eine Esoterik, die abzulegen sie nicht vermgen, die zu
verleugnen ihnen untersagt ist, die zu rhmen sie richten wrde (GS, I, 1, S. 207).
109
Man zeigte im alten Griechenland Stellen, an denen es in die Unterwelt hinabging.
Auch unser waches Dasein ist ein Land, an dem es an verborgenen Stellen in die
Unterwelt hinabgeht, voll unscheinbarer rter, wo die Trume mnden. [. . .] Das
Huserlabyrinth der Stadt gleicht am hellen Tag dem Bewusstsein; die Passagen (das
sind die Galerien, die in ihr vergangenes Dasein fhren) mnden tagsber unbemerkt
in die Straen (GS, V, 2, S. 1046).
110
Benjamin unterscheidet zwischen reinlicher und wohlfeiler Weissagung (GS, IV, I,
S. 142). Einerseits steht er zum jdischen Verbot, der Zukunft nachzuforschen (GS, I,
2, S. 704). Andererseits soll eine Philosophie keine wahre sein , die nicht die Mglichkeit der Weissagung aus dem Kaffeesatz einbeziehen und explizieren kann (zit. in
Scholem: Walter Benjamin [Anm. 40], S. 77, Hervorhebung von Scholem). Vgl. den
sonderbare[n] Kontrast, in dem Austerlitz apokryphe Geschichten zu seiner
sonstigen rigorosen Sachlichkeit stehen (A, S. 45).
111
Vgl. ber das Programm der kommenden Philosophie (GS, II, 1, S. 157171, inbesondere S. 161f.) und Benjamins Auseinandersetzung mit dem Surrealismus (GS, II,
1, S. 295310, insbes. S. 298, 307f.).
112
GS, I, 2, S. 614.
113
GS, I, 2, S. 616, 613f.
114
Vgl. hierzu CS, S. 153.
107

204

Irving Wohlfarth

Kriegs- und Unfallsneurosen her studiert. Zu diesen psychischen Dauerschden


kommen bei Sebald die des Zweiten Weltkriegs und der Konzentrationslager
hinzu.115 Durch deren Traumata wird der rote Faden der Zeit, die abstrakteste
Heimat des Menschen, zerrissen.116 Wer gefoltert wurde, so Amery, bleibt
gefoltert.117 Der Traumatisierte hlt mit seiner Zeit ebenso wenig Schritt wie der
Flaneur.118 Austerlitz, der beides in sich vereint, macht, wie schon Baudelaire, aus
dieser Not eine Tugend. So erhlt der Traumatisierte etwas vom zweischneidigen
Privileg, das einst dem Melancholiker zukam.
Der leise gespenstische Anblick, den Austerlitz dem Erzhler bei ihrer ersten
Begegnung im Antwerpener Bahnhof bietet, stellt ein kleines Kompendium solcher Anachronismen dar. Alterslos und vielaltrig zugleich,119 tritt er als ein damals, im siebenundsechziger Jahr, beinahe jugendlich wirkender Mann mit blondem, seltsam gewelltem Haar, das an die Frisur des deutschen Helden Siegfried
in Langs Nibelungenfilm erinnert, in Erscheinung.120 Er trgt schwere Wanderstiefel, einen Rucksack, der eine alte Kamera enthlt,121 eine Arbeitshose aus verschossenem Kattun und ein mageschneidertes, lngst aus der Mode gekommenes Anzugsjackett122. Le Paysan de Vienne: so nennt Sebald Peter Altenberg123
115

Vgl. zur Schocktherapie im wrtlichen Sinn DA, S. 163ff.


Ebd., S. 154.
117
Zit. CS, S. 156f. Vgl. auch S. 151.
118
Deshalb die zunchst seltsam anmutende Parallele, die Arendt zwischen Benjamins
Engel der Geschichte und dem Flaneur zieht. Wie der Traumatiserte sieht der Engel
nur Vergangenheit. Bei Sebald wird das Verhltnis von Trauma und Anachronie an
Aurach deutlich. Weil er unterm Bann der Vergangenheit steht, gibt es fr ihn weder
eine Vergangenheit noch eine Zukunft. Vor seinem geistigen Auge sind die Deutschen
entsprechend altmodisch und unzusammenhngend gekleidet (DA, S. 270).
119
Vgl. folgenden Satz aus Dr. Henry Selwyn: Seltsamerweise wirkten sowohl Edward
als auch Dr. Selwyn auf den Bildern [. . .] geradezu jugendlich, obwohl sie zum Zeitpunkt der Reise, die [. . .] genau zehn Jahre zurcklag, schon hoch in den Sechzigern
gewesen waren (DA, S. 27f.).
120
A, S. 14. Diese Frisur erinnert entfernt an die versteinerten Haartouren die sogenannten indefrisables , die Benjamin in den Auslagen der Friseurlden auf seinen
Streifzgen durch die Passagen bemerkt. Oft beherbergen diese Binnenrume veraltende Gewerbe, fngt die diesbezgliche Aufzeichnung an, und auch die durchaus
aktuellen bekommen in ihnen etwas Verschollenes (GS, V, 2, S. 1048).
121
Es besteht vielleicht, ber den Buckelkraxen der jdischen Kolporteure (A, S. 248),
eine Assoziationskette zwischen Austerlitz Rucksack und Kamera und Benjamins
bucklicht Mnnlein, das wie ein verborgener Fotograf Negative vom Kind im
Buckel des Vergessens aufbewahrt, bis der Erwachsene sie als Impfstoff gegen das
Heimweh der Emigration entwickelt (GS, IV, I, S. 303f.).
122
A, S. 14. Der Roman schreibt seinerseits eine nicht-chronologische Lektre vor. Um
dem komplexen Gewebe von Motiven, Assoziationen und Korrespondenzen gerecht
zu werden, muss der Leser immerzu hin- und herblttern und Verweise am Seitenrand
hufen; eigentlich msste er einen Zettelkasten anlegen. Sebald pflegt zudem einen
eigenartigen Umgang mit Zeitangaben. Er hllt sie in sprachliche Anachronismen oder
Regionalismen (Im siebenundsechziger Jahr . . ., untertags usw.) ein und unterwandert die Zeitlinie durch unerklrliche Koinzidenzen, Wahlverwandtschaften und
116

Anachronie

205

unter Anspielung auf Louis Aragons Le Paysan de Paris, den Roman, der den
ersten Ansto zur Passagenarbeit gegeben hatte.124 Austerlitz ist ein paysan
dEurope. Dieser Anachronist, der keine Uhr trgt125 und in keinen Zug einsteigt,
stellt den einzigen pnktlichen Menschen auf dem ganzen Bahnhof dar. Whrend
die anderen Reisenden im unterweltliche[n] Dmmer126 des Wartesaals so teilnahmslos wie die Nachttiere im verkehrten Miniaturuniversum127 des benachbarten Nocturamas vor sich hin starren, gibt Austerlitz, mit Benjamins HesselPortrt gesprochen, den wachenden Priester des genius loci ab, der ein gyptisches Traumbuch zusammentrgt.128 Warum wachst du? Einer muss wachen,
heit es. Einer muss da sein. So endet Kafkas kurzes Prosastck Nachts, das
Sebald in seinen Roman einmontiert.129
Korrespondenzen (RS, S. 217). Beides gilt fr Austerlitz Alter. Eine berprfung
aller relevanten Angaben ergibt, dass er einerseits um 1900 herum geboren sein muss
und damit, wie sein Name (Austerlitz / Auschwitz) ebenfalls nahelegt, als enfant du
sie`cle zu deuten ist, andererseits 1939 als viereinhalbjhriger Knabe nach England
geschickt wurde. Ist diese kalkulierte Inkongruenz zwischen Allegorie und Biographie
als tiefsinnige Unschrferelation oder vielmehr als das Indiz eines missglckten Versuchs zu deuten, aus einer Romanfigur eine allessagende synthetische Gestalt zu machen? Vgl. zur ersten Hypothese Claudia Ohlschlger: Unschrfe. Schwindel. Gefhle.
W. G. Sebalds intermediale und intertextuelle Gedchtniskunst. In: Recherches Germaniques 2 (2005), S. 1124.
123
Peter Altenberg Le Paysan de Vienne, UH, S. 6586. Altenberg wird hier mit
stndiger Bezugnahme auf das Flaneur-Kapitel von Benjamins Baudelaire-Arbeit als
ein nicht mehr drauen flanierender oder gar reisender Flaneur, sondern als ein Wanderer im Wartesaal des Wiener Cafehauses dargestellt, der das berleben in der
Fremde im Voraus einbt (S. 77f.): Auswanderung ohne Auswanderung. Sein Grundgefhl ist das des Spleens, den Benjamin auch an Baudelaire diagnostizierte, ein Gefhl, das der Katastrophe in Permanenz entspricht (S. 82). Kafkas K und Becketts
Molloy fhren, so Sebald weiter, diese Linie zu Ende (S. 77). Ganz anders Benjamins
wiedergekehrter Flaneur Hessel. Dieser paysan de Berlin stt sich vom Wohnen im
alten Sinn ab, nicht wie Sebalds Altenberg als potentieller Auswanderer, sondern als
Schwellenkundiger an einer geschichtlich-politischen Zeitenwende (GS, III,
S. 196f.), der vielleicht im Begriff steht, aus dem Brgertum auszuwandern.
124
Vgl. GB, V, S. 96f.
125
Tatschlich, sagte Austerlitz, habe ich nie eine Uhr besessen, weder einen Regulator,
noch einen Wecker, noch eine Taschenuhr, und eine Armbanduhr schon gar nicht.
Eine Uhr ist mir immer wie etwas Lachhaftes vorgekommen, wie etwas von Grund
auf Verlogenes [. . .] (A, S. 151f.).
126
A, S. 13. Vgl. zur lueur glauque, en quelque sorte abyssale der Passagen Louis Aragon:
Le Paysan de Paris. Paris 1979, S. 21.
127
A, S. 12.
128
GS, III, S. 196.
129
Franz Kafka: Die Erzhlungen. Frankfurt / M. 1996, S. 357. Davor heit es: Ringsum
schlafen die Menschen. Eine kleine Schauspielerei, eine unschuldige Selbsttuschung,
dass sie in Husern schlafen, in festen Betten, unter festem Dach [. . .], in Wirklichkeit
haben sie sich zusammengefunden wie damals einmal und wie spter in wster Gegend, ein Lager im Freien, [. . .] ein Volk [. . .], hingeworfen wo man frher stand, die
Stirn auf den Arm gedrckt, das Gesicht gegen den Boden hin, ruhig atmend. Diese

206

Irving Wohlfarth

Was die Menschen so chronisch einschlfert, ist Chronos selber, der griechische
Gott der Zeit, alias Saturn, der rmische Gott der Melancholie. Was und nicht
wer: Denn auch wenn die Buffetdame mit dem wasserstoffblonden Haar die allegorische Gttin der vergangenen Zeit130 abgibt, so steht nunmehr an allerhchster Stelle als Statthalterin der neuen Omnipotenz, genau dort, wo im
Pantheon [. . .] das Bildnis des Kaisers zu sehen war, die riesige Bahnhofsuhr, die
die Fahrplne synchronisiert, die Reisenden gleichschaltet und so die ganze Welt
unbestrittenerweise beherrscht.131 Im stahlharten Gehuse der entzauberten
Welt, heit es bei Max Weber, kehren die alten Gtter als unpersnliche Instanzen
wieder;132 dementsprechend stellt seit Baudelaire das gesichtlose Zifferblatt der
chronometrischen Zeit die oberste Gottheit der Moderne dar. Gleichzeitig hat ihre
eiserne Gesetzmigkeit, so Austerlitz, etwas Illusionistisches und Illusionres.133 Bei der Rckkehr von einer Reise wissen wir nie mit Sicherheit, ob wir
wirklich fortgewesen sind. Solche Befunde geben ihm Anlass, in einer Reihe von
lngeren improvisierten Exkursen eine eigentmliche Metaphysik der Geschichte zu entwickeln.134 So wie Festungsbauten, Industrielandschaften und
Grostdte sich, von einer fortwuchernden Krankheit befallen, auf der Erde
Stelle wandelt Austerlitz so ab: [. . .] dann wundert man sich bald darber, dass berall [. . .] die Londoner jeden Alters, anscheinend aufgrund einer vor langer Zeit getroffenen Vereinbarung, in ihren Betten liegen, zugedeckt und, wie sie glauben mssen,
unter sicherem Dach, whrend sie doch in Wahrheit nur niedergestreckt sind, das
Gesicht vor Furcht gegen die Erde gekehrt, wie einst bei der Rast auf dem Weg durch
die Wste (A, S. 186f.. Sebald zitiert eine analoge Reflexion aus Brownes Schrift ber
das Urnen-Begrbnis [RS, S. 97]). Das Wort Lager oder lagern (S. 85, 366, 407f.)
und das Bild einer weien Zeltkolonie (S. 174, 247) geistern durch Austerlitz. Beide
sind im Bild des Lagers des durch die Wste ziehenden jdischen Volkes vereint, auf
das der junge Austerlitz in einer Bibel stt (S. 86f.) und in dem er die Gleise einer
Bahn zu sehen glaubt. Im Laufe des Buchs werden diese Bilder, samt Kafkas Lager
im freien, von Assoziationen mit Konzentrationslagern berlagert (A, S. 281).
Hinzu kommt das unterschwellige Wortspiel Austerlitz / Auschwitz. Diese ganze Assoziationskette zeigt Sebalds inner- und intertextuelle Webtechnik am Werk. Ob die
Todeslager dafr einen geeigneten Gegenstand bieten, ist eine schwierige Frage des
ethisch-sthetischen Takts.
130
A, S. 16.
131
A, S. 21f. Vgl. zu Eisenbau, Eisenbahn und Bahnhof im Passagen-Werk den frhen
Entwurf Der Saturnring oder etwas vom Eisenbau (GS, V, 2, S. 10611063), das
erste Expose (GS, V, 1, S. 45f.), Konvolut F (Eisenkonstruktion, GS, V, I, S. 211
231) und Konvolut U (Saint-Simon, Eisenbahnen, GS, V, 2, S. 708744).
132
Max Weber: Wissenschaft als Beruf. Mnchen 1919, S. 28.
133
A, S. 22. Vgl. zur unheimlichen Erfahrung der ewigen Wiederkehr des Gleichen das
Kapitel Vom Gesicht und Rthsel in dritten Teil von Nietzsches Also sprach Zarathustra; das Mondkapitel in Benjamins Berliner Kindheit um Neunzehnhundert (GS,
IV, I, S. 300302); Sebalds Beschreibung der ihn immer fter durchgeisternden Phantome der Wiederholung (RS, S. 223) und zur geschichtsphilosophischen Deutung der
Phantasmagorie der ewigen Wiederkehr bei Baudelaire, Nietzsche und Blanqui das
zweite Expose des Passagenarbeit (GS, V, I, S. 7577).
134
A, S. 23.

Anachronie

207

ausgebreitet haben,135 habe ein einziges Zeitma seine Herrschaft etabliert und
jede andersartige Zeit, jede Ungleichzeitigkeit, jedes auer der Zeit Sein verdrngt.136
Austerlitz erwandert die Welt nicht nur zu Fu, sondern auch ber seine Bibliothek.137 Die Gedanken, die er beim Reden verfertigt,138 sind nicht nur eigene. Welche Bcher und wie intensiv er und sein Bauchredner Sebald zum Problem der Zeit nachgelesen haben, bleibt deren Geheimnis; die Spuren ihrer Bibliographie sind weitgehend verwischt. So viel steht jedoch fest: das Grundmotiv,
um das ihre intellektuellen Streifzge kreisen die Kolonisierung von Raum und
Zeit , geht ber Georg Lukacs Geschichte und Klassenbewusstsein auf Marx
Kapital zurck. Wie regelmig Austerlitz Gedankengnge sich hier mit Benjamins ausdrcklich auf Marx bezogenen berlegungen kreuzen, knnte durch
etliche Vergleiche mit Stellen aus den Thesen, den dazugehrigen Notizen und
den zwei Exposes Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts belegt werden.
Hier knnen nur einige dieser Leitmotive stichwortartig gebndelt werden.
Die herrschenden Ideen einer Epoche stellen Marx zufolge die der herrschenden Klasse dar. Geltende Vorstellungen von Zeit spiegeln ebenfalls die geltende
Zeitordnung wieder, die bis auf weiteres der Zeit(t)raum139 der kapitalistischen
Ordnung ist. In dem Ma, wie Zeit nur noch als die Ablsung einer punktuellen
Gegenwart durch die nchste gilt, fllt der geradlinige Fortschritt mit der kreisenden Wiederkehr des Gleichen zusammen. Geschichte fllt in Urgeschichte, Moderne in Mythos, homogene und leere Uhrzeit140 in Urzeit zurck. Chronos
frisst nach wie vor seine Kinder; der ghnende Schlund der Langeweile (Baudelaire) und des europischen Nihilismus (Nietzsche) tut sich auf. Die Phantasmagorien von Fortschritt, Geschichte bzw. Kulturgeschichte, und gar Flanerie
135

Vgl. zu den krebsartigen Auswchsen der Festungen A, S. 26, 35f., 59, 405; zur Grostadt als Verkrustung, Exkreszenz und Krankheit S. 405; und zu den Schorfspuren der Industrie S. 293.
136
A, S. 23. In der lngeren Disquisition, die Austerlitz in der Sternkammer von Greenwich hlt, nennt er die Zeit die knstlichste und willkrlichste unserer Erfindungen.
Das menschliche Leben sei in vielerlei Hinsicht von einer unquantifizierbaren Macht
regiert, die das stetig fortschreitende lineare Gleichma nicht kenne, sich vielmehr in
Wirbeln drehe, von Stauungen und Einbrchen bestimmt sei von dem niemand wei,
wohin es sich entwickle (A, S. 149151). Austerlitz sinnt insbesondere dem Zeitraum
nach, in dem Tote und Lebende miteinander verkehren (A, S. 401).
137
Die Renaissance durchforscht den Weltraum, heit es im Trauerspielbuch, das Barock die Bibliotheken (GS, I, 1, S. 319). Das Photo von Austerlitz berflltem Arbeitszimmer (A, S. 51) erinnert an die Gertschaften des ttigen Lebens, die in Drers Melencolia am Boden ungenutzt, als Gegenstand des Grbelns liegen (GS, I, I,
S. 319), und mutet wie eine mise en abyme der diesem Buch zugrundeliegenden Bibliothek an.
138
A, S. 22. Diese Formel klingt selber an den Titel von Kleists Aufsatz ber die allmhliche Verfertigung der Gedanken beim Reden an.
139
GS,V,I,S. 491.
140
GS, I, 2, S. 701.

208

Irving Wohlfarth

sind, so Benjamin in den erwhnten Exposes, Versuche, diesen Abgrund mit Sinn,
Werten und Fakten auszufllen.141 Aber das Aufbegehren gegen die entwertete
Zeit erschpft sich nicht in solchem Flucht- und Suchtverhalten. Jede echte Erfahrung ist, den Thesen zufolge, die einer Gegenwart, die nicht bergang ist,
sondern in der die Zeit einsteht und zum Stillstand gekommen ist.142 Das Spektrum solchen Still- und Widerstands reicht von der weltabgeschiedenen Kontemplation ber das unwillkrliche Eingedenken bis hin zum Generalstreik. Diese
disparaten Zeitmodi bilden alle eine gemeinsame Front gegen die herrschende
Zeit. Dem vermeintlich unumkehrbaren Kontinuum der vermeintlich vollendeten
Tatsachen dem Triumphzug der Sieger143 steht eine intermittierende Tradition der Unterdrckten144 entgegen. Sie setzt sich aus Erfahrungen zusammen,
die in die Ferne der Zeit zurckwirken und jeden Sieg der Herrschenden in Frage
stellen.145
Was die Wissenschaft festgestellt hat, kann das Eingedenken modifizieren. Das Eingedenken kann das Unabgeschlossene (das Glck) zu einem Abgeschlossenen und das
Abgeschlossene (das Leid) zu einem Unabgeschlossenen machen. Das ist Theologie;
aber im Eingedenken machen wir eine Erfahrung, die uns verbietet, die Geschichte
grundstzlich atheologisch zu begreifen, so wenig wir sie in unmittelbar theologischen
Begriffen zu schreiben versuchen drfen.146

Erst aus dieser theologisch-politischen Optik heraus kann die Gegenwart gesichtet werden.147 Deren profane Erleuchtung ergibt sich aus der revolutionren
Chance, die jedem geschichtlichen Augenblick innewohnt. Einsicht in die Gegenwart und die ihr im Medium der unwillkrlichen Erinnerung entsprechende Vergangenheit steht in einem wechselseitigen Bedingungsverhltnis zur
politischen Aktion.148
Viele Motive aus Austerlitz Reden sind hier zu erkennen. Benjamin und Sebald
sind sich darin einig, dass die Strmung der Zeit149 gegen den Strom fliet und
die Vergangenheit kein ein fr allemal abgeschlossenes Kapitel bildet. Beide ma141

Vgl. GS, I, 2, S. 702; GS, V, I, S. 60f., 76.


GS, I, 2, S. 702.
143
GS, I, 2, S. 696. Le fait accompli a une puissance irresistible. Il est le destin meme.
Lesprit en est accable et nose se revolter. [. . .] La raison sans replique, cest que tout
cela se suit et senchane, quil y a filiation constante dans les evenements, que chaque
epoque est le produit de lepoque precedente. [. . .] Mais lengrenage des choses humaines nest point fatal comme celui de lunivers (Auguste Blanqui : Instructions
pour une prise darmes. Leternite par les astres, et autres textes. Hg. v. Miguel Abensour u. Valentin Pelosse. Paris 1972, S. 104f.).
144
GS, I, 3, S. 1236.
145
GS, I, 2, S. 694.
146
GS, V, I, S. 589 (N 8, 1). Die Forderung, dass die Historie Wissenschaft sei wird
ebenfalls im vierten Abschnitt von Nietzsches Vom Nutzen und Nachtheil der Historie fr das Leben zurckgewiesen.
147
GS, I, 3, S. 1244.
148
Vgl. GS, I, 3, S. 1231; I, 2, S. 694.
149
A, S. 367, 406.
142

Anachronie

209

chen Erfahrungen, die die Herrschaft der chronologischen Zeit, und damit Herrschaft berhaupt, unterbrechen: intermittierende Erfahrungen der Gefahr, des
Wahnsinns und des Schwindels,150 Augenblicke des Angeblickt-, Angeweht-,
und Angesprochenwerdens von Orten, Dingen, Stimmen und Bildern, die auf uns
warten, als htten [sie] ein Gedchtnis und erinnerten sich an uns.151 Diese letzte
Erfahrung die regards familiers der correspondances152 fasst Benjamin unter
dem Begriff der Aura zusammen.153
Ihre Welten sind dennoch durch eine ganze, wenn auch kurze Epoche getrennt.
Anachronie ist fr Benjamin ein revolutionres Postulat.154 Der Protagonist der
Thesen der historische Materialist wird als politisierter Flaneur vorgestellt:
als ein Medium kollektiver Innervationen.155 Sein Lebensnerv ist die ersehnte Einheit von Theorie und Praxis, und seine Erfahrung mit der Geschichte kommuniziert mit der des einzig echten Subjekt[s] historischer Erkenntnis: die
kmpfende, unterdrckte Klasse.156 Diese politische Erfahrung von Bewegung(en), Beschleunigung und Intervention bis hin zum Generalstreik ist zugleich
die theologische eines nunc stans: einer (still)stehenden Jetztzeit, in welcher Splitter der messianischen eingesprengt sind.157 In solchen Augenblicken des mystisch-politischen Umschlags von Bewegung in Stillstand und umgekehrt wird das
Kontinuum der Herrschaft momentan aufgesprengt. Das betrifft das Denken wie
das Handeln, sowohl den kollektiven als auch den einsamen Akt unwillkrlichen
Eingedenkens; denn dessen Einsamkeit ist die bis zum Verschwinden reife.158
150

Vgl. zu Gefahr GS, I, 2, S. 695; zu Wahnsinn Theodor W. Adorno / Walter Benjamin: Briefwechsel 19281940. Hg. v. Henri Lonitz. Frankfurt / M. 1994, S. 365; zu
Schwindel Sebalds gleichnamiges Buch.
151
A, S. 266.
152
OC, S. 11.
153
Vgl. hierzu GS, I, 2, S. 479ff. u. 644ff.
154
An der Zeit ist, so Benjamin, ein ungleichzeitiger historischer Materialismus, der gerade die Elemente des zu frhen und des zu spten, des ersten Beginns und des
letzten Verfalls im revolutionren Handeln und im revolutionren Denken einsammelt (GS, V, 2, S. 852. a1,1).
155
Vgl. zum historischem Materialisten als Medium Irving Wohlfahrt: Walter Benjamin: le
medium de lhistoire. In: Etudes Germaniques (1996), Heft 1, S. 151. Santner (On
Creaturely Life [Anm. 11]), beschreibt Benjamin als das Medium eines spectral materialism (S. 52ff.). Benjamin schwebte jedoch eine ganz andere Spektralanalyse
vor: Wie der Physiker ultraviolett im Sonnenspektrum feststellt, so stellt [der historische Materialist] eine messianische Kraft in der Geschichte fest (GS, I, 3, S. 1232).
Man hat ihm ebenfalls einen Gothic Marxism angehngt (Margaret Cohen: Profane
Illumination. Walter Benjamin and the Paris of Surrealist Revolution. Berkeley / Los
Angeles / London 1993, erstes Kapitel). Benjamin hatte, wie kaum ein anderer Marxist,
ein Organ fr gespenstische Erfahrungen. Aber er trieb mit ihnen keinen spiritistischen Spuk, wollte sie vielmehr einer rigorosen, quasi Kantischen Kontrolle unterziehen.
156
GS, I, 2, DS. 700.
157
GS, I, 2, S. 702, 704.
158
GS, II, I, S. 238.

210

Irving Wohlfarth

Sebalds Erfahrung mit der Geschichte ist hingegen die eines nachsinnenden
Einzelgngers, der nicht auf diese Weise zu verschwinden wnscht. Austerlitz, der
sich nie einer Klasse, einem Berufsstand oder einem Bekenntnis zugehrig159
fhlte und seinen Lehrberuf abgelegt hat, stellt den Extremfall dar. Die einzigen
Kollektive, in denen er sich wiedererkennt, sind die der Ertrunkenen oder Verstreuten, das durch die Wste ziehende jdische Volk, die untergehende Menschheit, und die gelegentliche Zweisamkeit. Sonst kommt das Kollektiv in Sebalds
Werk nur noch als Verkehrsstrom und schlafende Masse vor. Zwar verweilt er als
selbsternannter Schreiber nicht zu vergessender Leidensgeschichten auch beim
Los der Arbeiter, die an der Errichtung triumphaler Monumentalbauten zugrundegegangen sind;160 er wei also so gut wie Benjamins historischer Materialist, dass
jedes Dokument der Kultur [. . .] zugleich ein solches der Barbarei ist.161 Aber
die Figur des Emigranten steht hier nicht mehr, wie bei Benjamin, im Zeichen
einer noch so fernen politischen Alternative, die seine Melancholie auffangen und
kanalisieren knnte.
Was in Austerlitz Metaphysik der Geschichte nicht mehr vorkommt, ist die
messianische, sprich: profan erleuchtete Dimension von Benjamins Geschichtsphilosophie. Dieser konnte noch, gerade noch, an ein Geschichtsbewusstsein appellieren, von dem es in Europa seit hundert Jahren nicht mehr die leiseste Spur
zu geben schien. Die Thesen rufen in Erinnerung, dass am Abend des ersten
Kampftags der Juli-Revolution an mehreren Stellen von Paris unabhngig voneinander und gleichzeitig nach den Turmuhren geschossen wurde und halten fest,
dass vor allem der Name Blanqui dessen Erzklang das vorige Jahrhundert
erschttert hatte, bevor er vom sozialdemokratischen Progressismus fast ausgelscht wurde fr eine solche Stillstellung des Geschehens gestanden hatte.162
Davon bleibt bei Sebald nur wenig brig. Trifft sich Austerlitz mit dem Erzhler
im Bistrobar le Havane am Boulevard Auguste Blanqui,163 so trumt dieser
Wachende unter den Schlafenden nicht davon, die groe Antwerpener Bahnhofsuhr stillzulegen164 oder das eigene Mienenspiel im Tausch gegen das Zifferblatt
eines Weckers zu geben, der jede Minute sechzig Sekunden lang anschlgt.165
Sein Widerstand gegen die Zeit hat verwandte, aber keine militanten Formen.
Dennoch htte Benjamin, der in Baudelaires Traum die Schwester von Blanquis
Tat erblickt,166 in Sebald einen Verbndeten sehen knnen.
159

A, S. 185.
A, S. 23.
161
GS, I, 2, S. 698.
162
GS, I, 2, S. 700703.
163
A, S. 363.
164
Auch er erzhlt jedoch vom Besitzer eines bauflligen Landhauses, James Mallord
Ashman, der in ohnmchtiger Wut gegen die Epoche auf das Uhrtrmchen seiner
Remise geschossen habe (A, S. 161). Nahmen die Julikmpfer die Turmuhren der restaurierten alten Ordnung ins Visier, so steht das Uhrtrmchen, auf das dieses Mitglied
des untergehenden Landadels zielt, fr die neue Zeit.
165
GS, II, 1, S. 310.
166
GS, I, 2, S. 604.
160

Anachronie

211

Den Weltlauf zu unterbrechen, schreibt er,


das war der tiefste Wille in Baudelaire. Der Wille Josuas. Nicht so sehr der prophetische: denn er dachte an Umkehr nicht. Aus diesem Willen [. . .] entsprangen auch die
immer erneuten Versuche, die Welt ins Herz zu stoen, oder in Schlaf zu singen.167

Analoge Motive tauchen in Sebalds Werk berall auf. Immer wieder beschwrt er
ein apokalyptisches Aussterben allen irdischen Lebens herauf, als wolle er einem
unheilbar erkrankten Planeten den Gnadensto versetzen.168 Er trumt, dass Vulkane ausbrechen und alles ringsherum berziehen mchten mit schwarzem
Staub;169 bertrgt seinen Kinderwunsch, dass alles zuschneien mge, auf die
Grostadt;170 mchte, befreit von dem ewigen Schreiben- und Lesenmssen, in
einem Korbsessel in einem Garten171 hindmmern; verweilt bei der befreienden
Erinnerung daran, dass er vom Cockpit eines Flugzeugs aus das ganze, anscheinend stillstehende, in Wahrheit aber sich langsam drehende Himmelsgewlbe172
betrachtet hat; und lsst Austerlitz auf eine wahlverwandte Frau treffen, die sich
nur noch den ewigen Frieden wnscht.173 All diese Impulse zeugen von der
Sehnsucht, das Zeitalter einzulullen, zuzudecken, stillzulegen.174
Dieser Impuls findet seinen ausdauerndsten, ausgeprgtesten Ausdruck in Sebalds Stil. Dessen langsames, an einen Trauermarsch175 erinnerndes Tempo, die
altertmlichen Wendungen, die verschlungenen Stze, die musikalische Verdich167

GS, I, 2, S. 667.
Am ausdrcklichsten vielleicht im abschlieenden Traum von Il ritorno in patria,
der mit folgender Sequenz schliet: Stille Gestein das groe Feuer von London
Aschenregen. Darauf folgt das Datum 2013 eine Unglckszahl und Ende (SG,
S. 286f.).
169
A, S. 294. Vgl. Sebalds Kommentar zu Amerys Roman-Essay Lefeu oder der Abbruch:
Das Feuer, exemplarisches Medium der retributiven gttlichen Gewalt, ist zuletzt die
wahre Leidenschaft des Brandstifters, der hier einer revolutionren Phantasie nachhngt, ja, er, Lefeu, ist es gar selbst, und also verzehrt er sich auch, wie dieses (CS,
S. 170). Gttliche und menschliche Gewalt, Weltbrand und Revolution, Vernichtung
und Selbstvernichtung spielen hier ineinander ber. Am Ende von Benjamins Essay
ber Dostojewskis Idiot geht es, analog, um eine katastrophale Selbstvernichtung als
den Vorboten einer russischen Revolution (GS, II, 1, S. 241).
170
A, S. 58f.
171
A, S. 56.
172
A, S. 170. Im Gegensatz zu diesem befreienden Himmelsgewlbe, zum gemalten
Zelthimmel des Wanderzirkus Bastiani (S. 388390) und dem Kuppelsaal der alten
Bibliothe`que Nationale (S. 391) stehen das klaustrophobische Gewlbe und die
Kuppeln der Festungen, Bahnhfe und Untergrundbahn (A., S. 13, 16,18, 40, 189,
197f., 200, 212, 382). Le Pantheon, so ein wahlverwandtes Zitat aus dem PassagenWerk, elevait sa coupole sombre vers la sombre coupole du ciel (GS, V, I, S. 490).
173
A, S. 374.
174
Vgl. Sebalds Verweise auf Borges Tln, Uqbar, Orbis, Tertius: Die labyrinthische
Konstruktion Tlns [. . .] steht im Begriff, die bekannte Welt auszulschen (RS, S. 91).
Die Leugnung der Zeit [. . .] sei der wichtigste Grundsatz der philosophischen Schulen von Tln (S. 185).
175
Vgl. A, S. 356.
168

212

Irving Wohlfarth

tung der Motive, der fast absatzlose Assoziationsfluss das alles dichtet seine
Sprachwelt wie eine Arche, ein Museum clausum oder eine Bibliotheca abscondita176 gegen das Zeitma der Auenwelt fast hermetisch ab. Schliet alle
Kunst durch den Aufbau eines eigenen Zeit-Raums die Weltzeit aus und ein, so
macht sich Sebalds Werk besonders dicht. Die elegische Grundstrmung dieser
Prosa versetzt den Leser in eine leise Trance. Wer mchte sich nicht von ihrer
trostlos-trstenden Klage ihrem Wie scheint doch alles Werdende so krank
(Trakl) mittragen lassen? Aber krankt sie nicht selber an einem Hang zu starren,
undialektischen Entgegensetzungen mit Hegel gesprochen, zur abstrakten Negation?177 Die Versuchung einer romantisch-antikapitalistischen und / oder verfallsgeschichtlichen Verdammung der Moderne, der Uhrzeit und der Technik (mit
der fast einzigen Ausnahme einer Kamera: einer alten Ensign mit ausfahrbarem
Balg178) ist niemals weit. Am liebsten zieht sich Austerlitz, wie sein Autor, in
Randutopien und bei Exzentrikern zurck.179 Es ist fast, als htte dieser Prager
Jude bei seiner Auswanderung ein gut Teil deutscher Wandervogel- und Neuromantik in seinem Rucksack mitgenommen; als wren seine ausschweifenden zivilisationsgeschichtlichen Exkurse vom inwendigen Wunsch beseelt, aus der Zivilisation selber auszuwandern. Die wahrhafte Widerlegung muss, so Hegel, in
die Kraft des Gegners eingehen und sich in den Umkreis seiner Strke stellen.180
176

Vgl. RS, S. 321.


Vgl. Benjamins Kritik an den lebensphilosophischen Dualismen bei Klages, Jung und
Dilthey zwischen einer entwerteten, alltglichen und einer hehren, authentischen Erfahrung (Erlebnis) der Natur, der Dichtung, des Mythos usw., insbesondere seine
Beschreibung von Bergsons Erfahrung komplementrer Art als gleichsam spontanes Nachbild zur blendenden der Grostadt und der Groindustrie (GS, I, 2,
S. 608f.). Was die Lebensphilosophen Erlebnis nennen, ist, so Benjamin, blo die reaktive Kehrseite der mageren Alltagserfahrung und trgt deren Male. Darum bertrgt
er den Begriff des Erlebnisses auf die schockhafte Alltagserfahrung und lobt an Baudelaire, dass er solchem Erlebnis das Gewicht einer Erfahrung gibt (GS, I, 2,
S. 610f., 652f.). Auch Sebald scheint in jener neoromantischen Tradition zu stecken,
freilich ohne Lebenspathos.
178
A, S. 15.
179
Vgl. die lange, liebevolle Beschreibung des idyllischen Ferienasyls Andromeda
Lodge (A, S. 121ff.); Dr. Abramskys Darstellung seiner Auslsung aus dem Leben
(Seit 1969 [. . .] lebe ich hier herauen, je nach Witterung entweder im Boots- oder im
Bienenhaus und kmmere mich grundstzlich nicht mehr um das, was vor sich geht in
der sogenannten wirklichen Welt [DA, S. 161]); und den Rckzug des sich als ornamentalen Eremiten bezeichnenden Dr. Selwyn in seinen verwilderten Garten (DA,
S. 11). Der laut- und kampflose Protest dieses Professors, der (wie der alternde Direktor eines Schweizer Familienkonzerns in Alain Tanners Film Charles mort ou vif)
seine brgerliche Lebensform fallen lsst, ist auf seine Weise elementarer als jede
militante Sozialkritik. So etwa auf der Wellenlnge von Adornos Rede ber Lyrik
und Gesellschaft (Noten zur Literatur 1: Frankfurt / M.1958, S. 73104) wre Sebalds romantische Anti-Politik als Politik zu verfechten.
180
Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Smtliche Werke. Bd. 5. Hg. v. Hermann Glockner.
Stuttgart 1928, S. 11.
177

Anachronie

213

Der Gegner wird jedoch bei Sebald als so umfassend empfunden, dass solche
Jiujitsu-Technik nicht mehr greift. Auf der einen Seite stehen die massiven Festungen der Macht, die verwstete Erde, die verwaltete Welt, auf der anderen vorbewusste Eingebungen und quasi-telepathische Ahnungen. Alles Groe, Gewaltige, Geplante die drei Epitheta sind hier deckungsgleich ist Austerlitz suspekt.181 Kein Zufall, dass der Erzhler ihn auf einer seiner ganz und gar planlosen
belgischen Exkursionen kennenlernt.182 Plne werden hier stillschweigend mit
Eisenbahnfahrplnen183 und den Bauplnen184 von monstrs wuchernden
Gebuden gleichgesetzt, zu denen insbesondere der cartesianische Gesamtplan185 der neuen franzsischen Nationalbibliothek und der Gliederungsplan186
des Konzentrationslagers Terezin gehren. Dass das Plan und Chaos vereinende kapitalistische System all diesen Subsystemen zugrundeliegt, ist Austerlitz
durchaus bewusst. Seine Diagnose scheint jedoch irgendwie tiefer zielen zu wollen. Von einer gewissen Grenordnung an, sinniert er, kranken all unsere Projekte aufgrund der allumfassende[n], absolute[n] Perfektion [ihres] Konzepts an
einer chronischen Dysfunktion.187 Vielleicht zhlt dieser Verdacht zu den Grnden, warum der Plan eines mehrbndigen systematisch-deskriptiven Werks188
zur Baugeschichte der Moderne ihm nicht gelingen will. Will Sebald damit suggerieren, dass man groen Systemen nur auf antisystematische Weise beikommen kann etwa im Stile des romantischen Fragments? Marx, Weber und viele
andere haben das Gegenteil bewiesen darunter H. G. Adler, aus dessen Standardwerk zum Konzentrationslager Theresienstadt die Erzhlfigur in Austerlitz
ausfhrlich zitiert. Generell hlt es Sebald jedoch lieber mit Grimms Andacht
zum Kleinen und Unbedeutenden. Benjamin, der solche Aufmerksamkeit, frei
nach Malebranche, als das natrliche Gebet der Seele189 lobt und bt, sucht
zugleich nach Darstellungsformen, die das Groe im Kleinen fokussieren.190

181

Freilich verrieten gerade unsere gewaltigsten Plne nicht selten am deutlichsten den
Grad unserer Verunsicherung (A, S. 25). [. . .] wie ja immer [. . .] unsere besten Plne
im Zuge ihrer Verwirklichung sich verkehrten in ihr genaues Gegenteil (A, S. 46).
Solches Misstrauen gegen Plan und System geht auf die ersten Proteste gegen die
Aufklrung zurck. Herder denunziert den unsinnige[n] Plan, allein nach Vernunftprinzipien zu verfahren (Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der
Menschheit. Stuttgart 1990, S. 14). Benjamin, der von frh an dem System abschwrt,
will, wie nach ihm die Frankfurter Schule, die konservative Kritik an der Aufklrung
fr diese zurckgewinnen.
182
A, S. 44.
183
A, S. 22.
184
Vgl. zum Festungsbau A, S. 28; und zum Brsseler Justizpalast A, 47.
185
A, S. 398.
186
A, S. 345.
187
A, S. 398f.
188
A, S. 178.
189
GS, II,2, S. 432.
190
Vgl. GS, V, I, S. 575. N 2, 6.

214

Irving Wohlfarth

Eine Reihe von weiteren Fragen drngt sich an dieser Stelle auf. Der sich breit
machende kapitalistische Baustil ist (so Austerlitz, so Sebald) berall zu beobachten an den Gerichtshfen, den Justizpalsten und Strafanstalten, den Bahnhofsund Brsengebuden, den Opern- und Irrenhusern, und nicht zuletzt an den
nach rechtwinkligen Rastern angelegten Siedlungen fr die Arbeiterschaft, die
die in den Kpfen philanthropischer Unternehmer entstandene Vision einer idealen Arbeiterstadt in die Praxis der Kasernierung bersetzen.191 Die Beschreibung der gigantischen, flammenwerfenden, naturschndenden Hoch- und
Schmelzfen moderner Industrielandschaften wird ihrerseits so angelegt, dass
sie unterschwellige Assoziationen mit anderen, tdlicheren fen wachruft.192 Aus
diesen Impressionen eine ganze Theorie der Moderne extrapolieren zu wollen,
wre unbillig, zumal es Austerlitz / Sebalds Verdikt ber das Groe, Planvolle
widersprche. Aber schimmern nicht die Umrisse mehrerer Grotheorien durch
Sebalds literarischen Assoziationsketten hindurch? Darunter schwarz umflorte
Variationen auf Webers These von einer fortschreitenden Rationalisierung der
Welt als dem schicksallosen Schicksal des Okzidents? Sebalds verkrzte Urgeschichte der Moderne sieht ungefhr so aus: Ganz wie die krebsartigen, prhistorisch anmutenden Fortifikationsbauten, auf deren Anblick Sebalds Roman immer wieder zurckkommt, zieht der Kapitalismus immer weitere Kreise. Er gebiert (wie in Hannah Arendts Elementen totaler Herrschaft) zuerst den
Kolonialismus, dann den Faschismus und baut die sozialen Einrichtungen, die
seine Funktionsfhigkeit gewhrleisten, in sein System ein.
Mit einem Wort, schreibt Marx, [die Bourgeoisie] schafft sich eine Welt nach
ihrem eigenen Bilde.193 Stehen Sebalds essayistische Streifzge durch die kapitalistische Lebenswelt der Marxschen Tradition, der sie sich letztlich verdanken,
deshalb fern, weil eine Auseinandersetzung mit dieser sich heute zu erledigen
scheint? Ist das eine nchterne Einschtzung der bermacht des Systems oder
konzediert sie ihm zu viel? Wie dem auch sei: Der Naturgeschichte der Zerst191

A, S. 52, 46.
A, S. 45, 77. Aufklrung ist totalitr, schrieben Adorno und Horkheimer in ihrer
Dialektik der Aufklrung (Frankfurt / M. 1969, S. 12). Whrend dessen Untertitel
Philosophische Fragmente Abstand zum System bekundet, hlt der Titel gleichzeitig an der Idee und damit am Plan der Aufklrung fest. Diese Dialektik fllt bei
Sebald weitgehend weg. Zwar mag er unter anderem die Dialektik der Aufklrung im
Sinne haben, wenn er in verschiedenen Zusammenhngen Cartesianismus, Aufklrung, Kapitalismus und Todeslager miteinander kurzschliet. Aber er verkrzt dabei
nochmals deren eigene Tendenz zur verkrzenden geschichtsphilosophischen Synthese. Das System rcht sich hier wie dort an seinem allzu systematischen Kritiker.
Austerlitz Metaphysik der Geschichte steht oft auf Messers Schneide zwischen Tiefund Unsinn. Ebenso zwiespltig sind Heideggers Satz, die Welt der Todeslager sei die
der motoriserten Landwirtschaft, und Claude Lanzmanns Montage von technischen
Lagerbeschreibungen und Bildern von Industrieanlagen in seinem Film Shoah.
193
Karl Marx: Manifest der Kommunistischen Partei. In: K. M.: Die Frhschriften. Hg. v.
Siegfried Landshut. Stuttgart 1953, S. 530.
192

Anachronie

215

rung steht bei Sebald nur noch die Natur selber gegenber. Beide scheinen einander heillos ausgeliefert zu sein.
So scheint seine umfassende Trauer- und Erinnerungsarbeit eines nicht einzuschlieen: das Scheitern aller bisherigen Gegenentwrfe zum Kapitalismus. Sozialismus, Kommunismus und Arbeiterbewegung bis auf einige unbedeutende Details194 fallen wohl darum kaum in sein Blickfeld, weil auch sie aus seiner Sicht mit
dem Makel des groen Plans behaftet sind. Dafr hlt er es mit einer weitverbreiteten Variante der grands recits, deren Ende Lyotard angesagt hat:195 nmlich
der vom (groen) Ende. Sie knnte heien: Der langsame Untergang der Titanic.196 Oder: Schiffbruch mit Zuschauer. Diesen stellt ein berlebender, aus
allen Bezgen losgelster Forscher dar, der sich in eine Nischen- und Wanderexistenz gerettet hat.
Bei allem Misstrauen gegen groe Verwaltungssysteme ist Austerlitz dennoch
vom Eisenbahnsystem fasziniert.197 Dies kann nicht nur an den Schmerzensspuren
liegen, die seine frhe Zugreise ins Exil hinterlassen hat. Austerlitz stellt selber ein
Kursbuch eigener Art dar: ein paradoxes Bau- und Netzwerk von correspondances, die wie Zugverbindungen funktionieren. Die unheimlichen Zuflle, die in der
brokratischen Ordnung der Dinge keinen Platz haben, sind dort eingetragen.
Darin gleicht das Buch wider Willen dem knstlichen Pinienhain198 der verabscheuten neuen Pariser Nationalbibliothek. Die planende Rationalitt, in der Austerlitz / Sebald den Ungeist der Moderne erblickt, kehrt auf der Ebene der Romankonstruktion wieder.199 Als wre nur die sthetische, keine soziale Planung
dazu imstande, in die Kraft des Gegners einzugehen.
Aus den Trmmern grosser Bauten, so schliet Benjamins Trauerspielbuch,
spricht die Idee von ihrem Bauplan eindrucksvoller [. . .] als aus geringen noch so
wohl erhaltenen.200 Der Satz lsst sich Wort fr Wort auf die sptere Passagen194

Austerlitz Vater ist einer der aktivsten Funktionre der tschechoslowakischen sozialdemokratischen Partei gewesen; sein Vater hatte in St. Petersburg bis zum Revolutionsjahr einen Gewrzhandel betrieben (A, S. 225). Neben dem vernichtenden Aufsatz Der Schriftsteller Alfred Andersch (LL, S. 111147) stellt Sebalds bndige Kritik an Grass euphemistischer Darstellung der deutschen Sozialdemokratie (CS, S. 115
117) einen der wenigen historisch-politischen Kommentare in seinem Werk dar.
195
Jean-Francois Lyotard: La condition postmoderne. Paris 1979 (dt. Das postmoderne
Wissen. Wien 2005).
196
Dieser moderne Topos variiert einen alten. Vgl. Hans Blumenberg: Schiffbruch mit
Zuschauer. Frankfurt / M. 1979.
197
A, S. 52f. Vgl. zur tdlich endenden Obsession eines anderen Ausgewanderten, Paul
Bereyter, mit Fahrplnen und Kursbchern DA, S. 90f.
198
A, S. 398.
199
Sebald vermutet, dass Canetti keinen zweiten Roman geschrieben hat, weil der Egozentrismus des an seinem Bau bastelnden Romanciers die Proliferation der Systeme
noch befrdert und das hieratische Ordnungssystem der sthetik dem der herrschenden Mchte korrespondiert (BU, S. 98f.). Es fragt sich, inwieweit hnliches fr
den Roman gilt, an dem Sebald im Unterschied zu Canetti gegen Ende seiner
literarischen Laufbahn gebastelt hat.
200
GS, I, I, S. 409.

216

Irving Wohlfarth

arbeit bertragen, die von der Idee lebt, eine Urgeschichte des XIX. Jahrhunderts201 zu konstruieren. Diese soll als Wecker dazu verhelfen, aus dem neuen
Traumschlaf, der mit dem Kapitalismus ber Europa kam, zu erwachen.202 Zu
den Trmmern dieses abgebrochenen Werks sind inzwischen die Ruinen aller bisherigen sozialistischen und kommunistischen Bauplne hinzugekommen
kurzum, all der Versuche, die politische Idee zu verwirklichen, auf die die Passagenarbeit baute. Wie man sich zur Konkursmasse dieser Groprojekte stellen soll,
daran scheiden sich die Geister. Dass Austerlitz, wie einst auf andere Weise Max
Weber,203 allem Monumentalen das Kleine und Intime (die Feldhtte, die Eremitage, das Huschen des Schleusenwrters, die Kindervilla im Garten204) vorzieht, zeigt, dass auch er keine politische Alternative zumindest keine grere
zum bauflligen, bermchtigen Weltsystem sieht.
Die einzig mgliche Gegenwehr scheint in der Zeugenschaft der Sinne, einschlielich des sechsten, zu liegen. Die Aufmerksamkeit fr unbeachtete Details,205
die Sebald mit Austerlitz teilt, lebt vom Impuls, dem lautlos klagenden Leid der
Natur- und Menschengeschichte Gehr zu verschaffen. Bei Benjamin hat dieser
Impuls eine theologische Untermauerung.206 Das Unvergessliche, schreibt er 1921,
verweist auf einen Bereich, wo der Forderung, die ihm innewohnt, entsprochen
wre, auch wenn alle Menschen es vergessen htten: auf ein Gedenken Gottes.207
Diese Forderung kehrt, skularisiert, neunzehn Jahre spter in der zweiten
201

GS, V, I, S. 579. Austerlitz spricht ebenfalls vom 19. Jahrhundert als jener jetzt weit
zurckliegenden und doch unser Leben bis heute bestimmenden Zeit (A, S. 17).
202
GS, V, I, S. 494.
203
Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihm eigenen [. . .] Entzauberung der Welt,
da gerade die letzten und sublimsten Werte zurckgetreten sind aus der ffentlichkeit [. . .]. Es ist weder zufllig, da unsere hchste Kunst eine intime, und keine
monumentale ist, noch da heute nur innerhalb der kleinsten Gemeinschaftskreise,
von Mensch zu Mensch, im pianissimo, jenes Etwas pulsiert, das dem entspricht, was
frher als prophetisches Pneuma im strmischen Feuer durch die groen Gemeinden
ging und sie zusammenschweite (Wissenschaft als Beruf, S. 36).
204
A, S. 31. Dem entspricht, so Sebald, Canettis Kritik an Macht, System und Gre und
seine mrchenhafte Alternative: ein mit dem Alter Kleinerwerden. Kein Kind mehr
knnte sich wnschen, etwas Groes zu werden. Die Geschichte wrde an Bedeutung
durch ihr Alter verlieren [. . .] (zit. in BU, S. 99f.). Benjamins erste These lsst
hingegen einen Kleingewordenen den Kampf gegen das Weltsystem mitgewinnen.
205
Das von den meisten Betrachtern gewiss bersehene Unglck einer winzigen hingestrzten Dame am rechten Rand eines Gemldes vom wenig bekannten Maler Lucas
von Valckenborch (A, S. 23f.) lsst Austerlitz nicht los; er verweilt ebenfalls bei einem
winzigen Feuerfleck auf einem anderen kleinen, noch unbekannteren Bild (A, S. 177).
206
Alle Natur wrde zu klagen beginnen, heit es 1916 in ber Sprache berhaupt
und ber die Sprache des Menschen, wenn Sprache ihr verliehen wrde (GS, II, 1,
S. 155). Die sprachtheologische Deutung des Sndenfalls als Verstummen der ohnehin
stummen Natur bildet die Urzelle zu Benjamins Auffassung von Allegorie, Trauer und
Trauerspiel. Vgl. Santners Ausfhrungen zum kreatrlichen Leben bei Benjamin
und Sebald (On Creaturely Life [Anm. 11]).
207
GS, IV, I, S. 10.

Anachronie

217

These als der unerlste Anspruch vergangener Generationen auf die Aufmerksamkeit der heutigen wieder.208 Die Erfllung dieser Forderung hat, so Benjamin
weiter, rckwirkende Kraft. Was die feststellende Wissenschaft, einschlielich der
positivistischen Geschichtsschreibung, nicht feststellen kann, das kann das Eingedenken: es hrt den Nachhall der Klage.209
Nirgends stehen Benjamin und Sebald einander so nah wie hier. Was nie geschrieben wurde, lesen:210 dieses Motto, das Benjamin von Hofmannsthal bernimmt, knnte auch Sebalds sein. Das Buch, das Austerlitz vorschwebt, msste
vom ungehrtem aber unvergangenem Leid der Geschichte zeugen; das Unvergessliche der Schmerz ist auch fr ihn die tiefste Schicht gleichsam der
Unterbau der Geschichte.211 Auch fr Sebald ist es nicht mehr die wissenschaftliche Geschichtsschreibung, die dem Anspruch auf Restitution gerecht wird,
sondern die geschichtsschreibende Kunst.212 Eine vielfache Anachronie ist auch
hier im Spiel. Wenn, wie Austerlitz vermutet, vergangene Schmerzensspuren nie
wirklich213 und bis heute nicht vergangen214 sind, dann sind sie, als knstlerisch festgehaltene, erst recht niemals vergangen.215 Auch hier jedoch fllt eine
entscheidende Akzentverschiebung auf eine, die sich auch, wie gezeigt werden
soll, in Sebalds Umgang mit Benjamins Passagenarbeit auswirkt. Die Aufgabe der
Restitution fllt nicht fr Benjamin, wie fr Sebald, dem Kunstwerk zu. Sprachlosigkeit: das ist das groe Leid der Natur, schreibt er in seinem frhem Sprachaufsatz, um dann zwischen Klammern hinzuzufgen: (und um ihrer Erlsung
willen ist Leben und Sprache des Menschen in der Natur, nicht allein, wie man
vermutet, des Dichters).216 In diesem Zusatz steckt ein harter, nicht-romantischer
Kern: die Forderung nach einer Praxis, die sich mit der knstlerischen nicht zufrieden gibt.
208

GS, I, 2, S. 693f.
GS, I, 3, S. 1231.
210
Zit. GS, I, 3, S. 1238; V, I, S. 524.
211
Vgl. den in eine Farbflche endlos eingekratzten Buchstaben A, der die Pein eines
Ausgewanderten, der Unsagbares in Dachau berlebt hat, endlos wiederholt (A, S. 44).
Dieser stumme, lang anhaltende Schrei zieht sich als erster Vokal des Alphabets und
des Namens Austerlitz durch das ganze Buch hindurch.
212
Es gibt viele Formen des Schreibens; einzig aber in der literarischen geht es, ber die
Registrierung der Tatsachen und ber die Wissenschaft hinaus, um einen Versuch der
Restitution (CS, S. 248). Was die Gesellschaft und die Literatur des Nachkriegsdeutschlands (und eine beinahe mit vorstzlicher Blindheit geschlagene Literaturwissenschaft [S. 249]) weitgehend versumt haben, soll dadurch nachgeholt werden.
Bei Benjamin ist Restitution nur von der Theologie her denkbar (vgl. zur restitutio in
integrum GS, II, 1, S. 204). Vielleicht misst Sebald der restitutiven Kraft der Kunst
auch deshalb eine hhere Rolle als Benjamin bei, weil er seine theologischen Prmissen
und Hoffnungen nicht teilen kann. Vgl. zu Benjamins diesbezglichem Briefwechsel
mit Horkheimer GS, V, I, S. 589. N8, 1.
213
A, S. 191.
214
A, S. 177.
215
A, S. 24.
216
GS, II, 1, S. 155 (Hervorhebung von Benjamin).
209

218

Irving Wohlfarth

Wer rettet uns vor der westlichen Zivilisation?, hatte ein verzweifelter junger
Linksweberianer Anfang des Ersten Weltkriegs gefragt217 und sich anschlieend
fr den real werdenden Kommunismus entschieden. Mit dem Zusammenbruch
der sogenannten Kommunismen kehrt die Frage des jungen Lukacs wieder. Das
ist die Stimmungslage, aus der heraus Sebald / Austerlitz Benjamins Passagenprojekt ein halbes Jahrhundert spter wieder aufnehmen. Gleichzeitig legen sie den
Weg vom Trauerspielbuch zur Passagenarbeit in die umgekehrte Richtung zurck.

3. Austerlitz oder die Roman(t)isierung der Passagenarbeit


Zum letzten Mal Psychologie! 218

Dass Karl Rossmann, die Hauptfigur von Kafkas Amerika-Roman, wenig Schaden davontrgt, mit siebzehn Jahren von seinem Vater nach Amerika verbannt
worden zu sein, liegt auch daran, dass er wenig Psychologie in seinem schon bei
der Ankunft verlorenen Koffer mitschleppt. Diese in den Roman verirrte Mrchengestalt erinnert an den Grimmschen Burschen, der auszog, um das Frchten
zu lernen.219 Ganz anders das jdische Flchtlingskind Austerlitz, das mit viereinhalb Jahren von der Mutter nach London auf einen Kindertransport geschickt
wird. Von wallisischen Adoptiveltern, die auf andere Weise verwaist sind, an der
Liverpool Street Station abgeholt und fortan von seiner Herkunft abgeschnitten,
wei er, wie Sebalds andere Ausgewanderte, keine andere Mglichkeit, als aus
sich selber auszuwandern. Auch als er seinen wahren Namen erfhrt, vermeidet er
es, seiner Herkunft nachzugehen. Erst nachdem er unter dem zunehmenden
Druck dieses unbewussten Wissens zusammengebrochen ist, beginnt er, zu sich
zu kommen. Seine unwillkrlichen Erinnerungen bringen ihn auf die Spur eines
Familienromans, der von der Schreckensgeschichte des Jahrhunderts auseinandergerissen wurde.
Von einem abrundenden temps retrouve kann jedoch kaum die Rede sein. Austerlitz Recherche geht weiter, er wandert zuletzt aus dem Roman heraus. Aber er
ist kein heimatlos wandernder Jude mehr, sondern fortan unterwegs zu sich und
den Seinen, Richtung Gurs, das berchtigte franzsische Internierungslager, von
wo aus sein Vater vielleicht zu Fu ber die Pyrenen gegangen und irgendwo
auf der Flucht verschollen ist.220 Der Verschollene nannte Kafka seinen AmerikaRoman. Auch Sebalds Protagonisten wren spurlos vergessen, wre da nicht der
Erzhler, der ihren Spuren nachgeht. Aber der Ausgewanderte trgt diesmal das
217

Georg Lukacs: Vorwort. In: G. L.: Die Theorie des Romans. Neuwied / Berlin 1965,
S. 5.
218
Franz Kafka: Betrachtungen ber Snde, Leid, Hoffnung und den wahren Weg. In: F.
K.: Er. Hg. v. Martin Walser. Frankfurt / M. 1966, Nr. 93, S. 200.
219
Vgl. GS,2, II, S. 416.
220
A, S. 366. Damit wird wohl auf Benjamins verunglckten Fluchtversuch angespielt.

Anachronie

219

Notwendige zu seiner Rettung bei. Unter Aufbietung aller Krfte (und mit etwas
Hilfe vom Erzhler) gelingt es ihm, zu sich selber zurckzufinden. Selbstflucht bis
hin zum Selbstmord ist hingegen das stumme Los aller anderen Sebaldschen Ausgewanderten.
Hie Sinn des Lebens da Moral von der Geschichte: mit diesen Losungen,
so Benjamin, stehen Roman und Erzhlung einander gegenber. Nur der Erzhler, der auf ein ganzes Leben zurckgreifen kann, wei Rat etwas, das
diesseits des Romans und aller psychologische[n] Analyse liegt.221 Bei Sebald
verhlt es sich fast umgekehrt. Sein Roman hlt die quasi psychotherapeutische
Moral bereit, die den vier rat- und trostlosen Erzhlungen, Die Ausgewanderten,
nur indirekt, ex negativo, zu entnehmen war. Nur der, so lautet die implizite
Maxime, entgeht dem Schicksal, an der tickenden Zeitbombe der Emigration zugrundezugehen, der seine Geschichte zu erzhlen wei. Das verhaltene happy end,
das mit deren Befolgung einhergeht, stellt eine Ausnahme dar, die das Los der
anderen Ausgewanderten besttigt.
Dass Benjamins Leben und Denken dieser fiktiven Biographie Pate gestanden
haben, ist an vielen Motiven und Details abzulesen. Zum einen tritt Austerlitz als
vagabundierender Dozent fr Architekturgeschichte am Londoner Courtauld Institute eine Art Nachfolge Benjamins an, der sich in Frankfurt mit seiner (in
Austerlitz selber barocker, allegorisch verwilderter Bibliothek sicherlich befindlichen) Trauerspielarbeit nicht habilitieren konnte. Zum anderen mutet sein Forschungsobjekt die Zivilisationsgeschichte des 19. Jahrhunderts im Brennspiegel
ihrer Baugeschichte wie ein fehlendes Kapitel aus Benjamins Passagenarbeit an.
Bereits in Paris, wo er, wie einst Benjamin, sein Material whrend eines mehrjhrigen Aufenthalts an der Bibliothe`que Nationale in umfangreichen Konvoluten222 einsammelt, trgt sich Austerlitz mit dem Gedanken, aus seinen Studien ein
Buch zu machen, dessen Niederschrift er, wie Benjamin, immer weiter hinausschiebt.223 Als er vorzeitig in den Ruhestand tritt, um seine stets aus dem Stegreif
gemachten, allenfalls in provisorischer Form festgehaltenen Bemerkungen und
Kommentare, die sich zuletzt ausbreiteten in tausende von Seiten,224 endlich zu
Papier zu bringen, verfllt er einer unberwindlichen Schreib- und Denkblockade.
Sptestens an dieser Stelle wird die Abweichung vom niemals genannten Modell unbersehbar. Zunchst auf der biographischen Ebene: Benjamins Passagen221

Vgl. GS, 2, II, S. 455, 464446.


A, S. 179. Das Passagen-Werk besteht aus 26 bzw. 36 alphabetisch geordneten Konvoluten, von denen zunmindest drei sich mit Austerlitz Interessen decken: C (antikisches Paris, Katakomben, demolitions, Untergang von Paris), K (Traumstadt und
Traumhaus [. . .]), L (Traumhaus, Museum, Brunnenhalle) (GS, V, I, S. 133155, 490
523).
223
A, S. 178. Benjamin beschreibt das saturnische Tempo der Passagenarbeit und die
abwartende, dilatorische Weise, mit er an sie herangeht, als Versuch, die Zeit auf
seine Seite zu bringen (GB, V, S. 88, 96f.).
224
A, S. 178.
222

220

Irving Wohlfarth

projekt gehrte zur Trmmer- oder Katastrophensttte seiner Produktion nicht


etwa wegen einer Schreibhemmung (oder der Depressionen, von denen er Scholem mehrfach, aber nicht in diesem Zusammenhang berichtete), sondern vor allem
weil er als freier, zunehmend vogelfreier Schriftsteller und beanspruchter Stipendiat des selber exilierten Instituts fr Sozialforschung niemals ber die Zeit verfgte, es durchzufhren.225
Das getrumteste Objekt Baudelaires und der franzsischen Surrealisten war
die Stadt Paris.226 Vom Traum zum Alptraum war es jedoch schon damals nur ein
Schritt. Nur in einem gebrochenen Sinn war die Hauptstadt die Heimat des
Flaneurs.227 Dessen Blick war, so Benjamin, der des Allegorikers, des Entfremdeten, dessen Lebensform die kommende trostlose des Grossstadtmenschen mit
einem vershnenden Schimmer umspielt.228 Bei Baudelaire sieht der Flaneur die
Stadt durch den Schleier der Menge und die Phantasmagorien des Markts und
der Passagen hindurch.229 Dieser Blick wird durch den eines spteren, noch bedrohteren Flaneurs entzaubert: des 1933 nach Paris, der Heimat des Flaneurs und
der Exilierten, emigrierten, dessen Passagenarbeit zum Erwachen des Traumkollektivs aus seinen Phantasmagorien beitragen sollte.230 Die Lage des deklassierten
Emigranten, die er mit der des im eigenen Lande exilierten Proletariers in Beziehung setzt, gilt ihm als ein Schlssel zur Grostadt.231 Eigene und kollektive
Erfahrungen fallen auf dieser letzten Schwundstufe der flanerie zusammen.
Ein Ineinander individueller und kollektiver Momente zeigen Austerlitz Wanderleben und Forschung ebenfalls auf. Aber es wird vom Autor einerseits wie am
Reibrett entworfen, andererseits zunehmend ins Private zurckgenommen. War
der frhe Glas- und Eisenbau der Passagen, Ausstellungshallen und Bahnhfe die
Keimzelle des Passagenprojekts gewesen, so zieht es Sebalds Nachtwandler fast
ausschlielich zu den Bahnhfen als den Sttten eines ungeshnten Verbrechens,232 dessen welt- und einzelgeschichtliche Aspekte der Roman planvoll synchronisiert. Da ist zunchst der Antwerpener Zentralbahnhof, dessen Fassade und
Eingangshalle Austerlitz als eine dem Weltverkehr und dem belgischen Koloni225

Vgl. hierzu GB, IV, S. 112f.


GS, V, I, S. 55; II, 1, S. 300.
227
Etre hors de chez soi, et pourtant se sentir partout chez soi (OC, S. 1160): so die
verklrende Selbstbeschreibung des Flaneurs bei Baudelaire. Dazu Benjamin: Dem
Flaneur ist seine Stadt und sei er in ihr geboren, wie Baudelaire nicht mehr Heimat.
Sie stellt fr ihn einen Schauplatz dar (GS, V, I, S. 437. J66 a, 6). Der Dichter, der
seinen Heiligenschein verloren hat, ist aller Selbststilisierung zum Trotz kein Flaneur (GS, I, 2, S. 652).
228
GS, V, I, S. 54.
229
GS, V, I, S. 54, 60.
230
GS, V, I, S. 490492.
231
GS, I, 2, S. 672. Vgl. GS, V, I, S. 437 (J66a, 5). Grostadterfahrung des Heimatlosen: Proletarier, Flaneurs, Emigranten (Walter Benjamin Archiv, Akademie der
Knste, mss. 453).
232
A, S. 413.
226

Anachronie

221

alismus geweihte Kathedrale233 ebenso intensiv studiert wie Benjamin die Passagen als Tempel des Warenkapitals;234 die Liverpool Street Station, unter dessen
Pflaster er vergangenes menschliches Leben aufgeschichtet sieht; der Gare dAusterlitz, neben dem die Galeries dAusterlitz, in denen das beschlagnahmte Hab
und Gut deportierter Juden gelagert wurde, einst standen, bis sie eines Tages unter
der pharaonischen Bibliothe`que de France verschttet wurden; und an erster und
fast letzter Stelle der Prager Bahnhof, wo das Kind von der Mutter auf immer
getrennt wurde. Sein bevorzugter Forschungsgegenstand steht somit fr sein vergessenes Urtrauma. An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie Motive aus Benjamins Werkstatt in diesem Roman verarbeitet werden.235
Als Kultur- und Architekturhistoriker hebt Austerlitz vor allem die Malosigkeit der kapitalistischen Bauweise und die Familienhnlichkeit zwischen ihren
Monumenten (Bahnhfe, Fabrikhallen, Gefngnisse, Justizpalste, Riesenhotels,
Arbeitersiedlungen usw.) hervor. Sein Kamera-Auge hlt ebenfalls deren eingebaute Bauflligkeit fest. Aber dort, wo Benjamins erstes Passagen-Expose mit
Balzac von den Ruinen und mit Marx von den Erschtterungen der brgerlichen Welt sprach, knnen Sebald / Austerlitz ein halbes Jahrhundert spter nur
noch das nicht enden Wollen einer sich durch alle Umwlzungen hindurch erhaltenden Dynamik236 konstatieren, die auf keine Revolution mehr, vielleicht jedoch
auf eine naturgeschichtliche Katastrophe zutreibt. Am nachhaltigsten verweilt
Austerlitz Blick bei den hypertrophischen Auswchsen, der paranoiden Elaboration und dem urgeschichtlichen Anblick der militrischen Festungen, von
denen einige (Breendonk, Terezin), nach den Wechselfllen einer langen Eroberungsgeschichte, jngst als Konzentrationslager gedient haben.237 Diese berdimensionalen Bauwerke sind von Anfang an im Hinblick auf ihr nochmaliges
Dasein als Ruinen238 konzipiert worden eine Formel, die die Schlussstze des
Trauerspielbuchs mit dem des Passagen-Exposes zusammenkoppelt.239 Nur noch
233

A, S. 20.
GS, V, I, S. 86 (A2, 2).
235
Sebald flicht zugleich die Einsichten anderer, spterer Autoren ein. Wittgenstein verdankt er den Begriff der Familienhnlichkeit (A, S. 52, 176); die berlegungen, die er
bei Canetti zum Verhltnis von Macht, Gren- und Verfolgungswahn in Albert
Speers architektonischer Wunschwelt, zu Hitlers Bewunderung fr die Pyramiden und
zum Zuchthaus als Panoptikum findet (BU, S. 9497), haben Spuren in Austerlitz
hinterlassen; die Beschreibung der panoptischen Bahnhofsuhr, die alle Reisenden
berwacht, und der Hinweis auf die Architektur des Strafvollzugs deuten auf eine
Lektre von Michel Foucaults Strafen und berwachen (A, S. 22. 178).
236
Zielscheibe ist hier offenbar ebenso sehr die Industriegesellschaft wie die Warenwirtschaft. Das Traumgesicht der von der Groindustrie sowjetrussischen Typs verseuchten nordbhmischen Stadt Dux (A, S. 292294) bietet einen ebenso apokalyptischen
Anblick wie die kapitalistische Weltstadt Paris, wo sich alles Leben lautlos und langsam zerreibt (A, S. 404409).
237
A, S. 2632.
238
A, S. 32.
239
Im Geiste der Allegorie ist [das deutsche Trauerspiel] als Trmmer, als Bruchstck
konzipiert von Anfang an (GS, I, 1, S. 409).
234

222

Irving Wohlfarth

im Geiste der Trauer nimmt Austerlitz die Aufgabe wahr, die Benjamin dem
materialistischen Historiker zugedacht hatte, die Geschichte gegen den Strich zu
brsten.240
Der Nachweis solcher Konvergenzen und Divergenzen liee sich beliebig fortsetzen. Es ist, als htte sich Austerlitz stillschweigend vorgenommen, an Benjamins Passagenprojekt weiterzuarbeiten. Und zwar, wie es scheint, ganz in dessen
Geiste: nmlich in monadologischer, hier baugeschichtlicher Fokussierung und
im Lichte der dazwischenliegenden Geschichte, so etwa wie es Adorno und Horkheimer whrend und nach der Shoah mit der Dialektik der Aufklrung auf geschichtsphilosophischer Ebene getan hatten.
Es versteht sich von selbst, dass ein derartiges Forschungsprogramm im Rahmen eines Romans nur beschrieben, nicht ausgefhrt werden kann. Dies wrde
erst dann illegitim, wenn das so umrissene Programm hinter sein Modell zurckfiele. Es fragt sich, ob das nicht hier der Fall ist. Dass der Terminus, mit dem
Austerlitz sein Vorhaben umschreibt Zivilisationsgeschichte sich kaum von
jener Kulturgeschichte unterscheidet, gegen die Benjamin sein Projekt mit aller
Schrfe abgrenzt,241 ist ein erstes Indiz. Austerlitz Vorstellungen schwanken zwischen dem Plan eines mehrbndigen systematisch-deskriptiven Werks und einer
Reihe von Versuchen ber Themen wie Hygiene und Assanierung, Architektur
des Strafvollzugs, profane Tempelbauten, Wasserheilkunst, zoologische Grten,
Abreise und Ankunft, Licht und Schatten, Dampf und Gas, und hnliches
mehr,242 darunter Monographien ber den Antwerpener Bahnhof und den Brsseler Justizpalast. Der enzyklopdische Plan erinnert an Maxime Du Camps
sechsbndiges Standardwerk ber Paris,243 die Reihe von Versuchen hingegen an
Dolf Sternbergers assoziative Essayistik zu verwandten Themen.244 Der Gegensatz, den die Passagenarbeit zur bisherigen und berkommenen Geschichtsforschung245 bilden sollte, unter anderem zu diesen beiden Exemplaren derselben,
wird damit abgestumpft.
Besonders an Du Camp scheiden sich die Projekte. So richtungsweisend246
dessen Monumentalwerk fr Austerlitz trotz seiner Abneigung gegen das Monumentale gewesen ist, so wenig konnte es das fr Benjamin sein, der sein Material
240

GS, I, 2, S. 697.
Vgl. GS, V, I, S. 60 und Irving Wohlfahrt: Smashing the Kaleidoscope. Walter Benjamins Critique of Cultural History. In: Michael Steinberg (Hg.): Walter Benjamin and
the Demands of History. Ithaca / London 1996, S. 190205.
242
A, S. 178.
243
Maxime du Camp: Paris, ses organes, ses fonctions et sa vie dans la deuxie`me moitie
du XIXe`me sie`cle. Paris 18691875.
244
Dolf Sternberger: Panorama oder Ansichten des neunzehnten Jahrhunderts. Frankfurt / M. 1974 (erstmals 1938). Vgl. Benjamins vernichtende Rezension dieses Buchs als
faschistoide Verflschung seiner eigenen Gedanken (GS, III, S. 572579); und zu dessen Titel Konvolut Q: Das Panorama (GS, V, II, S. 665665).
245
GB, V, S. S. 143f.
246
A, S. 405.
241

Anachronie

223

nicht inventarisieren, sondern verwenden will.247 Was ihn dennoch an Du


Camps Kompendium interessiert, ist die Stoffflle248 und vor allem der Anlass: die
pltzliche Ahnung, die Du Camp, Hugo (An den Triumphbogen), Leon Daudet (Paris vecu) und Baudelaire gemeinsam war, dass man das Bild der in voller
Haussmannisierung begriffenen Hauptstadt festhalten muss, bevor sie wie ein antikes Reich in den Staub versinkt.249 Austerlitz / Sebald spielen ihrerseits auf diese
berwltigende Vision an. Ihr Hinweis drfte Paul Bourgets beeindruckender
Darstellung der pltzlichen Inspiration entnommen sein, der sich Du Camps ganzes Werk verdankt einer Darstellung, auf die sie vermutlich in Benjamins Paris
des Second Empire bei Baudelaire oder im Passagen-Werk gestoen sind.250
Dort hlt Benjamin Du Camps blitzhafte Eingebung251 samt der antike[n]
Inspiration [seines] modernen verwaltungstechnischen Werkes ber Paris fest.
Diese letzte Formel kehrt bei Sebald in einem scheinbar ganz anderen Zusammenhang wieder, wenn er Austerlitz mit einer H. G. Adlers Standardwerk252
abgeguckten Akribie auf den mit einem wahnwitzigen verwaltungstechnischen
Eifer geregelten Gliederungsplan von Terezin eingehen lsst.253 Die Eigenart
von Sebalds Blick, der von einem zum anderen realen oder theoretischen Grobau
schweift, ist hier deutlich zu erkennen. Der wahnsinnige Gliederungsplan von
Theresienstadt spiegelt sich nicht nur im Diagramm und in der Registraturkammer des Lagers,254 die Austerlitz wahrer Arbeitsplatz255 gewesen wre, oder in
anderen Festungsbauten wieder, sondern angeblich auch in der monstrsen Anlage der neuen Bibliothe`que Nationale de France (BNF), wo es sich im Gegensatz
247

GS, V, I, S. 574. N1a, 8.


Das Passagen-Werk enthlt 26 Exzerpte aus Du Camps Werk.
249
Man findet Herculaneum unter der Asche wieder; aber einige Jahre verschtten die
Sitten einer Gesellschaft besser als aller Staub der Vulkane. Franz Hessel zitiert diese
Stelle aus Barbey dAurevilly (Du dandyme et de Georges Brummell: Paris 1847) als
Motto zu: Spazieren in Berlin. Leipzig 1929.
250
Diese Vision ist laut Austerlitz die eines Mannes, der zuvor die, wie er schrieb, aus
dem Staub der Toten entstandenen Wsten des Orients durchreist hatte (A, S. 406).
Vgl. hierzu das ausfhrliche Bourget-Zitat bei Benjamin (GS, I, 2, S. 589 und V, I,
S. 144, C, 4: Il se prit soudain, lui, le voyageur dOrient, le pe`lerin des muettes
solitudes ou` le sable est fait de la poussie`re des morts, a` songer [. . .]). Das Konvolut C
des Passagen-Werks, in dem das Zitat steht, trgt den Titel: antikisches Paris, Katakomben, demolitions, Untergang von Paris. Schwer vorstellbar, dass Sebald in einem
ihm so naheliegenden Konvolut nicht gestbert haben soll. Dass Du Camps, nicht
aber Benjamins Paris-Buch in Austerlitz genannt wird, drfte zum vorhin genannten
Versteckspiel gehren.
251
So bersetzt Benjamin Bourgets Formel une de ces intuitions fulgurantes. Vgl.
hierzu folgende Aufzeichnung zu seinem eigenen Paris-Buch: In den Gebieten, mit
denen wir es zu tun haben, gibt es Erkenntnis nur blitzhaft. Der Text ist der langnachrollende Donner (GS, V, I, S. 570. N1, 1).
252
H. G. Adler: Theresienstadt 19411945. Tbingen 1955.
253
A, S. 345ff.
254
Siehe die Abbildungen A., S. 336f., 402f.
255
A, S. 401.
248

224

Irving Wohlfarth

zur alten (BN) nicht gut arbeiten lsst.256 Vom 18. Stockwerk des Sdostturms
dieses Mausoleums schaut Austerlitz, wie einst Du Camp vom Pont neuf, auf die
Metropole wie auf eine untergehende Welt hinab.257 Diese Sichtweise hatte ihre
erste kanonische Formulierung in Baudelaires Gedicht Le Cygne gefunden, das
bei einem hnlichen Anlass dem berqueren des in Umbau befindlichen Nouveau Carrousel entstanden war: Paris change! mais rien dans ma melancolie / Na bouge! [. . .] tout pour moi devient allegorie.258
Gerade hier, mitten im Dickicht intertextueller Bezge, machen sich entscheidende Differenzen wieder bemerkbar. Benjamins Blickweise fllt nicht oder
besser: nicht nur mit der allegorischen zusammen, die er ins Zentrum seiner
Baudelaire-Deutung rckt. Diese stellt vielmehr einen seiner bevorzugten Gegenstnde dar. Solche Objektivierung, die es dem Trauerspielbuch erlaubte, dem
Schwindel des barocken Weltgefhls standzuhalten, ermglicht es hier, die Wiederkehr der barocken Allegorie bei Baudelaire zu sichten. Gerade weil Benjamin
die allegorische Sicht des Melancholikers so inwendig teilt, setzt er alles daran,
Abstand zu ihr zu gewinnen. Solche Distanz fehlt weitgehend in Austerlitz, wo
die erzhlte und die Erzhlerfigur eher Spiegelfiguren sind, Doppel- und Wiedergnger, die beide unterm Bann einer allegorischen Weltsicht stehen.
Es besteht jedoch ein evidenter Unterschied zwischen diesen zwei Figuren und
ihren jeweiligen Projekten. Whrend Austerlitz an der Bewltigung der unbersichtlichen Materialien, die sich im Laufe seiner Recherchen angesammelt haben,
scheitert, gelingt es dem Erzhler, oder vielmehr dessen Erzhler dem Autor
Sebald , sein Projekt Austerlitz zu Papier zu bringen. Es fragt sich nur: um
welchen Preis?
Ein kurzer Rckblick auf den verschlungenen, oft unterbrochenen Werdegang
der Passagenarbeit mag den Ansatz einer Antwort enthalten.1928 als essayistischer
Entwurf unter dem Titel Eine dialektische oder dichterische Feerie
konzipiert, nahm sie in den darauf folgenden zwlf Jahren die Ausmae einer
gro angelegten, stndig wachsenden, immer wieder umstrukturierten Urgeschichte des 19. Jahrhunderts an. Dabei drngte sich Benjamin auf, dass die Arbeit eine unerlaubt dichterische Gestaltung nicht mehr zulie.259 Ihre ursprnglich romantische, rhapsodische Form erschien ihm berholt, von einer
anderen hatte er vorlufig keine genauere Vorstellung.260 Spter eingefhrte Begriffe wie literarische Montage261 und Konstruktion262 zeigen an, dass es ihm
256

Vgl. die kontrastierenden Fotografien des Lesesaals der alten und der Auenseite der
neuen Nationalbliothek (A., S. 390f.), sowie die Aufnahme, die ein kleines Grabmonument des Friedhofs Montparnasse dem riesigen Turm Montparnasse Mont Parnasse! entgegenstellt (A., S. 368).
257
A, S. 405409.
258
OC, S. 82.
259
GB, V, S. 143.
260
GB, V, S. 97.
261
GS, V, I, S. 574. N1a, 8.
262
GS, V, I, S. 575. N2, 6.

Anachronie

225

um eine neue Verbindung von wissenschaftlicher und sthetischer Darstellungsweise ging.263 1938 entschied er sich, den Baudelaire-Komplex von der Passagenarbeit zu lsen und ihn zu einem Miniaturmodell des Gesamtprojekts auszuarbeiten. Als 1940 beide Projekte durch seinen erzwungenen Selbstmord and der
franzsisch-spanischen Grenze endgltig abgebrochen wurden, waren die Materialien des Baudelaire-Buchs (bis auf den vollendeten mittleren Teil) noch lange
nicht durchkonstruiert. Nichts jedoch erlaubt den voreiligen, oft gezogenen
Schluss, dass die Strukturierung der Passagenarbeit eine prinzipiell nicht zu lsende Aufgabe darstellte. Im Gegenteil: Die hinterlassenen Schematisierungen und
Regieanweisungen zeigen, dass ein einzigartiges wissenschaftliches Experiment
hier in vollem Gang begriffen war, das in den fertiggeschriebenen Teilen des Baudelaire seine ersten Frchte gezeitigt hatte.
Sebalds Roman hingegen eine durchaus literarische, wenn auch gebrochene,
mit dokumentarischen Zeugnissen durchsetzte Form erzhlt die Geschichte eines gescheiterten wissenschaftlichen Projekts und eines halbwegs zurckgewonnenen Lebens, frei nach dem Motto: Wirf weg, damit du gewinnst. Damit tritt
eine andere weitreichende Divergenz zutage. Die Funktion, die Austerlitz Arbeit
in seinem inneren Haushalt hat, steht der anti-psychologischen Ausrichtung von
Benjamins gesamtem Projekt diametral entgegen. Dieses bewegt sich, mit seinem
Surrealismus-Aufsatz gesprochen, in einem Raum, wo der politische Materialismus und die physische Kreatur den inneren Menschen, die Psyche, das Individuum [. . .] nach dialektischer Gerechtigkeit, so dass kein Glied ihm unzerrissen
bleibt, miteinander teilen.264 Dort, wo Benjamin auf das heilsame Auseinanderreien des sogenannten Individuums setzt so sieht sein Dionysos aus , geht es
Sebald um die heilende Wiederherstellung einer zerrissenen Psyche.265 Die Stadien
ihrer Gesundung ersetzen die des Forschungsprojekts. Es geht nunmehr um eine
private, familire Rettungsaktion.266
Es stellt sich nmlich, wie schon erwhnt, heraus, dass Austerlitz Recherchen
eine Art Deckfunktion haben. Seine wissenschaftliche Forschung bringt ihn auf
263

Das Goethe-Motto des Trauerspielbuchs, wonach die Wissenschaft [. . .] notwendig


als Kunst zu denken ist (GS, I, 1, S. 207), htte auch dem Passagen-Werk voranstehen
knnen.
264
GS, II, 1, S. 309. Vgl. hierzu Irving Wohlfahrt: Dionysischer Materialismus. ber einen
Satz Walter Benjamins. Erscheint in: Ashraf Noor (Hg.): Walter Benjamin und das
Gesetz. Mnchen 2009.
265
Vgl. zur mglichen Funktion, die Benjamins Projekt in seinem Haushalt hatte, Gretel
Karplus spielerische Bemerkung, er schrecke vor dessen Abschluss deshalb zurck,
weil er befrchte, den Bau dann verlassen zu mssen (AB, S. 370). Dies ist vermutlich eine Anspielung auf Kafkas Erzhlung Der Bau. In der Passagenarbeit selber
werden die Motive des Labyrinths und des Zgerns mit dem Verhalten des Flaneurs,
an anderer Stelle mit dem des Melancholikers in Beziehung gesetzt.
266
Nichts loyaler, bemerkt Benjamin zu Proust, als wie er stndig dem Leser gegenwrtig zu halten sucht: die Erlsung ist meine private Veranstaltung (GS, I, 2, S. 643).
Kein solcher Begleitgestus findet sich bei Sebald / Austerlitz.

226

Irving Wohlfarth

die Spur seiner eigentlichen Suche und lenkt ihn gleichzeitig von ihr ab. Der
psychische Aufwand, den diese unbewusste Abwehr ihm abverlangt der eines
Hochseilartisten267 , wirkt sich so lhmend auf ihn aus, dass er schlielich in
einen Schwindel gert, der an die Sprach- und Lebenskrise von Hofmannsthals
Lord Chandos erinnert.268 Die peinliche Unwahrheit [s]einer Konstruktionen
und Formulierungen wird ihm schlielich derart bewusst, dass er seine ganzen
Arbeitspapiere auf dem Komposthaufen am Ende seines Gartens vergrbt.269
Damit endet sein Forschungsprojekt. Es ist deshalb unkonstruierbar gewesen,
weil Dringenderes sich stndig dazwischenschob: das Bedrfnis nach der Rekonstruktion der eigenen Geschichte. Das Konstruktionsproblem hingegen, vor dem
die Erzhlfigur, alias der Autor, steht, ist das des vorliegenden Romans. Der Autor, der in anderen Bchern von eigenen Lebenskrisen und damit verbundenen
Schreibmhen berichtet, hat diese Aufgabe durch den Ausbau der in den langen
Erzhlungen verwendeten Montage-Technik gelst. Zwischen solcher Romantechnik und der literarischen Montage der Passagenarbeit, die sich jede unerlaubt dichterische Gestaltung verbot, liegen Welten. Von Benjamins Projekt und
der dazu erfundenen Technik her stellt sich fast unumgnglich die Frage nach dem
Sinn und Nutzen von dessen Sebaldschen Roman(t)isierung. Zu solcher Romantik
gehrt der Topos eines notwendigen existenziellen und / oder schriftstellerischen
Scheiterns.
Im Unterschied zu Austerlitz Entwrfen haben sich die erhaltenen PassagenNotizen und -Exposes nicht als falsch, unbrauchbar oder verzeichnet erwiesen. Von den Ersten Notizen270 und Frhen Entwrfen271 an ist das Projekt im Keim schon da und zugleich in stndiger Entwicklung begriffen. Was
allerdings bis zuletzt fehlt, dies betont Benjamin wiederholt, ist die Konstruktion. Aber er wei, wie sie aussehen muss. Ihr Flucht- und Angelpunkt hat in der
267

Vgl. A, S. 181. Das Bild der Balancierstange hat hier einen etwas anderen Stellenwert
als bei Victor Klemperer, wo es die Funktion des philologischen Notizbuches bezeichnet, das dieser whrend der Hitlerzeit fhrte (LTI. Ulm 1996, S. 15).
268
Freilich erwies sich bereits bei der ersten Durchsicht meiner [. . .] Papiere, dass es sich
bei ihnen grtenteils um Entwrfe handelte, die mir ganz unbrauchbar, falsch und
verzeichnet erschienen. Was einigermaen standhielt, begann ich neu zuzuschneiden
und anzuordnen [. . .]. Aber je grer die Mhe [. . .], desto klglicher dnkten mich die
Ergebnisse und desto mehr ergriff mich, schon beim bloen ffnen der Konvolute
und Umwenden der [. . .] Bltter, ein Gefhl des Widerwillens und Ekels, sagte Austerlitz. [. . .] Keine Wendung im Satz, die sich nicht als eine jammervolle Krcke erwies,
kein Wort, das nicht ausgehhlt klang und verlogen. [. . .] . Das gesamte Gliederwerk
der Sprache [. . .] war eingehllt in einem undurchdringlichen Nebel (A, S. 178183).
Vgl. zu den wrtlichen Parallelen mit Hofmannsthals Brief des Lord Chandos Santner: On Creaturely Life (Anm. 11), S. 109f. Der philologische Nachweis wirft die
kritische Frage auf, wozu das Ineinanderdichten dieser zwei groen Komplex, Benjamins Passagenarbeit und Chandos Sprachkrise, gut sein soll.
269
A, S. 174184.
270
GS, V, 2, S. 9931038.
271
GS, V, 2, S. 10411063.

Anachronie

227

historischen Gegenwart zu liegen.272 Den kritischen Augenblick, in dem die


disparaten Elemente zu einem dialektischen Bild zusammenschieen sollen, belegen die Thesen mit dem Terminus Jetztzeit und umschreiben sie folgendermaen: Das Denken hlt inne, die angesammelte Bild- und Gedankenmasse verdichtet sich, die Konstellation kristallisiert sich schockhaft zu einer Monade.273 Es handelt sich um eine profane Erleuchtung, die das Subjekt mit dem
Unbewussten des Kollektivs das nicht Jungs kollektives Unbewusste ist
verbindet. Dieses verschwindende Subjekt ist ein traumdeutendes Medium eigener
Art: kein parapsychologisches, sondern eines der historisch-politischen Konstellation. Diese ist es, die der Konstruktion zugrunde liegt. Letztere fehlt aber jede
abgeschlossene Arbeit Benjamins trgt zu ihr bei.
Zwar scheint Austerlitz ebenfalls auf eine gewisse Kristallisation zu warten, die
auch ihm schlielich, auf anderer Ebene, zuteil wird. Sie ist nicht mehr die objektive Eingebung, in der die historische Gegenwart sich begegnet, sondern die sich
zuspitzende Lebenskrise, durch die ein Traumatisierter zu sich kommt.274 Sein
Forschungsprojekt bleibt dabei auf der Strecke. Die Szene, in der der Erzhler ihn
bei der Arbeit findet, bildet einen freilich bewegenden und vielleicht lehrreichen Kontrast zum soeben beschriebenen Kristallisationsprozess. Austerlitz
sitzt vor einem Tisch und legt ltere Fotografien stundenlang aus, dreht sie hnlich wie bei einer Partie Patience um, schiebt sie in eine aus Familienhnlichkeiten sich ergebende Ordnung bereinander und zieht sie nacheinander aus dem
Spiel, bis nichts mehr brig blieb als die graue Flche des Tischs, oder bis er sich,
erschpft von der Denk- und Erinnerungsarbeit, hinlegen [musste] auf der Ottomane.275 Sprt er, wie die Zeit sich in ihm zurckbiegt, so kommt es dennoch zu keinem Jetzt. Er ist ein Wartender, aber kein profan Erleuchteter und
endet auf einer Freudschen Ottomane.
Der Komposthaufen, auf dem seine Papiere landen, erweist sich jedoch als
fruchtbarer Humus. Ein Jahr spter fhrt ihn eine Nachtwanderung mit schlafwandlerischer Sicherheit zur Liverpool Street Station, die nicht nur, wie Benjamins Pariser Passagen, ein unheimlicher Eingang zur Unterwelt,276 sondern
272

GB, VI, S. 185. Eine solche Konstruktion des Materials war, schreibt Benjamin, bisher
vor allem seinem Aufsatz Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, das eine wesentliche Stelle im Passagenkomplex hatte, gelungen. Hinzu
kamen die redigierten Teile der Baudelaire-Arbeit. Das Passagenmaterial hatte einige
vorlufige Kristallisationen erfahren (GB, V, S. 9698), nicht jedoch eine endgltige,
auf andere Weise vorlufige.
273
GS, I, 2, S. 701703.
274
Die Strae fhrt den Flanierenden in eine Vergangenheit, die umso tiefer sein kann als
sie nicht seine eigene, private ist. Dennoch bleibt sie immer Zeit einer Jugend. Warum
aber die seines gelebten Lebens? (GS, V, 2, S. 1052; abgewandelt in GS, V, I, S. 524).
Diese Stze passen weniger gut zu Austerlitz. So weit sein geschichtlicher Tiefblick
reichen mag, dieser kreist schlielich um die Zeit seines (un)gelebten Lebens.
275
A, S. 175176. In Baudelaires erstem Spleen-Gedicht fhren zwei Spielkarten ein
dsteres Zwiegesprch ber ihre verflossenen Liebschaften (OC, S. 69).
276
A, S. 188.

228

Irving Wohlfarth

auch, wie in der barocken Sicht aufs irdische Trauerspiel, eine Schdelsttte ist,277
die diesmal, wie am Ende des Trauerspielbuchs, einen Umschwung gestattet.
Das blendende deja` vu, das Austerlitz im sogenannten Ladies Waiting Room
erwartet, ist das Traum-, Erweckungs- und Kristallisationserlebnis, durch das er
auf die Archologie der eigenen Existenz stt.278 Auf den dadurch ausgelsten
Zusammenbruch folgt ein langer Goethescher Heilschlaf. Ein kathartischer Wendepunkt ist erreicht worden. Austerlitz Forschungsprojekt wird fortan vom wahren Gegenstand seiner Nachforschungen abgelst. Es war nur ein psychisch notwendiger Umweg zum Ziel. Nicht dass seine Bedeutung rckwirkend entwertet
wrde. Im Gegenteil: Es ist ganz offenbar eine Herzensangelegenheit des Autors,
der selber einer langen Reihe vergleichbarer Projekte nachgeht. Aber das ndert
nichts daran, dass es jetzt abtritt, als htte es seine Schuldigkeit getan.
Wer mchte Sebald verbieten, Benjamins Passagenprojekt eine Nebenrolle innerhalb eines scheinbar verwandten, letztlich sehr verschiedenen sthetischen Projekts zuzuweisen und ihm damit ein kleines Denkmal am Wegrand zu setzen? Es
ist dennoch erlaubt, ber die ungewollten Konsequenzen dieses Verfahrens nachzudenken und eine Verbindung zur bisherigen Rezeptionslage der Passagenarbeit
herzustellen. Es fragt sich, ob Austerlitz nicht ins Fahrwasser der Dauermode
geraten ist, die der Biographie den Vorrang vorm Werk gibt und die Grenzen
zwischen Biographie, Fiktion und Mythos aufweicht.279 Wird nicht damit die auch
277

GS, I, 1, S. 405.
A, S. 191197. Diese Archologie hat ihr Gegenstck bei Freud, Proust und Benjamin.
Im strengsten Sinn episch und rhapsodisch muss daher wirkliche Erinnerung ein Bild
zugleich von dem der sich erinnert geben, wie ein guter archologischer Bericht nicht
nur die Schichten angeben muss, aus denen seine Fundobjekte stammen, sondern jene
andern vor allem, welche vorher zu durchstoen waren (Ausgraben und Erinnern,
GS, IV, 1, S. 400f.). Die Stelle knnte als Motto fr Sebald / Austerlitz Erinnerungsarbeit stehen. Die Passagenarbeit stellt sich die Aufgabe, dieses Modell aufs Kollektiv
zu bertragen, um dessen Gedchtnis nicht nur in seinen individuellen Brechungen
aufzuzeigen.
279
Vgl. zu Benjamins Kritik an der neuen Biographik von Otto Ludwig, Lytton Strachey, Andre Maurois u. a. GS, VI, S. 143f.; zu Friedrich Gundolfs Goethe-Buch GS, I,
1, S. 155ff.; und zu Siegfried Kracauers Gesellschaftsbiographie Jacques Offenbach
und das Paris seiner Zeit (Amsterdam 1937) GB, V, S. 525ff. In seinem 1955 verffentlichten Aufsatz Die biographische Mode erinnert Leo Lwenthal daran, dass
schon Nietzsche von unserer an die biographische Seuche gewhnten Zeit sprach
(Schriften 1. Hg. v. Helmut Dubiel. Frankfurt / M. 1980, S. 231257, hier S. 232).
Austerlitz ist keineswegs der einzige moderne Roman, der das Leben eines vergangenen oder zeitgenssischen Dichters und Denkers verwertet hat. Vgl. zu Benjamin,
auf unterstem Niveau, Jay Parini: Benjamins Crossing (New York 1997). Das anspruchvollste Beispiel einer bedeutungstrchtigen Romanfigur, die sich aus den Biographien moderner Kulturgren zusammensetzt, ist Thomas Manns Doktor Faustus.
Hier werden Faust, Nietzsche, Mahler, Schnberg und andere unter Hinzunahme von
Adornos Philosophie der neuen Musik zu einer paradigmatischen Gestalt synthetisiert, die die tragische Verstrickung eines deutschen Genies im Faschismus zeigen soll.
Mit dieser schiefen Groproblematik von Kunst, Schuld und Tterschaft hat Sebalds
278

Anachronie

229

innerhalb der Benjamin-Forschung verbreitete Legende genhrt, wonach Benjamin aus internen freilich nicht innerpsychischen Grnden das Passagenprojekt
nie htte abschlieen knnen?280
Dass ein Projekt unvollendet blieb, beweist nicht, dass es nicht htte vollendet
werden knnen. Abgeschlossenheit, schreibt Benjamin 1926, liegt nicht in der
Gewalt des bloen Denkens.281 Wenn man dem hier zugrundeliegenden Gedankengang folgt, kann es keinen annhernd endgltigen, nur einen vorlufigen Abschluss geben, solange dieser nicht kollektiv getragen ist.282 Das Scheitern der
Passagenarbeit will innerhalb dieses Horizonts gelesen werden. Benjamins groer
Wurf war eine Wette auf die Revolution; erst deren Gelingen htte sie demnach
voll einlsen knnen.
Aus alledem ergibt sich ein zweideutiges Fazit: Whrend Sebalds Gesamtwerk
Benjamins Passagenprojekt auf seine Weise produktiv fortschreibt, erweist ihm
der Roman, der es psychologisiert, reliterarisiert und implizit am Mythos seines
Scheiterns mitwirkt, einen schlechten Dienst.
Die Bergung der eigenen Vergangenheit unter den Bedingungen des Exils war
Benjamin kein geringeres Anliegen als Sebald / Austerlitz. Dafr stehen Texte wie
Ausgraben und Erinnern und vor allem Berliner Kindheit um Neunzehnhundert ein. Wie eng sie mit der Passagenarbeit zusammenhngen, liegt ebenfalls auf
der Hand. Was jene fr die eigene Vergangenheit leisten, will diese fr die kollektive versuchen.283 Aber und darauf kommt es hier an Benjamin hlt beide
Storichtungen streng auseinander:
Formen, wie die Berliner Kindheit sie mir darbietet, darf gerade [das Passagenbuch]
an keiner einzigen Stelle [. . .] in Anspruch nehmen. [. . .] Die Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts, die im Blick des auf seiner Schwelle spielenden Kindes sich
spiegelt, hat darin ein ganz anderes Gesicht, als in den Zeichen, welche sie auf der Karte
der Geschichte eingraben.284
Roman nichts zu tun. Aber der Mentalittswandel, von dem seine Opfer-Thematik
zeugt, ist ebenso typisch fr unsere Zeit.
280
Vgl. hierzu meine Beitrge: Links liegen gelassen. Zur Aktualisierbarkeit der PassagenArbeit. In: Nikolas Schalz / Peter Rautmann (Hg.): Urgeschichte des 20. Jahrhunderts.
An Walter Benjamins Passagen-Projekt weiterschreiben. Bremen 2006, S. 1954, insbes. S. 38, und: Warum wurde die Passagen-Arbeit bisher kaum gelesen? Konjektur
ber eine Konjunktur. In: Bernd Witte (Hg.): Topographien der Erinnerung. Wrzburg 2008.
281
GS, I, 1, S. 207. Anders gesagt: Erst der erlsten Menschheit fllt ihre Vergangenheit vollauf zu (GS, I, 2, S. 694).
282
Vgl. zur Vorlufigkeit aller bersetzung GS, IV, I, S. 14.
283
Vgl. hierzu Burkhardt Lindner: Das Passagen-Werk, die Berliner Kindheit und die
Archologie des Jngstvergangenen. In: Norbert Bolz (Hg.): Passagen. Walter Benjamins Urgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Mnchen 1984, S. 27f.
284
GB, V, I, S. 144. Ein komplexer Dialog wird hier gefhrt. In einem vorausgegangenen
Brief hatte Adorno dem, wie er meint, subjektivierenden Rekurs des ersten PassagenExposes auf das Bewusstsein und das Unbewusste eines Kollektivsubjekts eine Erneuerung der ursprnglichen, objektiv ausgerichteten Passagen-Konzeption entgegen-

230

Irving Wohlfarth

Auch Berliner Kindheit gehrt somit zu den unerlaubt dichterischen Formen,


von denen die Passagenarbeit sich zu trennen hatte. Die geschichtlichen Fakten so
zu erfahren, als seien sie einem eben erst zugestoen,285 verlangt eine Technik
literarischer Montage, die herkmmliche historiographische Darstellungsmodi
entliterarisiert. Sebald zielt hingegen darauf, die Grenzen zwischen Literatur und
Historiographie durch ein Ineinandermontieren von fiktionalen und dokumentarischen Elementen zu verwischen und der Literatur als dem Andenken derer,
denen das grte Unrecht widerfuhr, letztlich den Vorrang zu geben.286
Billig, heit es in Benjamins Zweiter These, ist der Anspruch derer, denen
Unrecht widerfuhr, nicht abzufertigen.287 Ihr Adressat ist der historische Materialist als materialistischer Historiker. Dieser bleibt zwar Autor was ihn
bei den Fachhistorikern zustzlich disqualifiziert , ist jedoch fortan Produzent.288 Es geht ihm weder darum, literarische Gattungen fortzuschreiben, noch
sie zu verabschieden. Dem entsprechen die sukzessiven Stadien der Passagenarbeit, in deren Verlauf das Expose Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts
einen wichtigen Einschnitt markiert. Um nur ein hier relevantes Indiz zu nennen:
Dessen Untertitel stellen bekannte Eigennamen als die Synonyme einer historischer Topographie dar: Fourier oder die Passagen, Baudelaire oder die Straen
von Paris usw. Bezeichnet Austerlitz Name seinerseits eine Schlacht, einen
Bahnhof, Auschwitz usw., so geht es doch letztlich um eine mit Bedeutungen
aufgeladene, wenn auch dahinter verschwindende Person.
Zu dieser Person gesellt sich die noch diskretere des Erzhlers. In der zweiten
Hlfte der sechziger Jahre, so beginnt der Roman, bin ich, teilweise zu Studienzwecken, teilweise aus mir selber nicht recht erfindlichen Grnden, von England aus wiederholt nach Belgien gefahren [. . .].289 Die Rede von den unerfindlichen Grnden wird im Roman mehrfach variiert.290 Des Rtsels Lsung findet
sich jedoch sehr bald. Nachdem der Erzhler die Auenfassade des Antwerpener
Bahnhofs eingehend studiert hat, tritt er wieder hinein und trifft auf Austerlitz,
der seinerseits dabei ist, die Innenhalle in Augenschein zu nehmen. Der Zufall, der
sie einander in der Salle des pas perdus zufhrt, ist offenbar keiner; fortan treffen
sie sich immer wieder (auf eine mir bis heute unbegreifliche Weise), meistens
ebenfalls ohne verabredet zu sein. So wie Austerlitz mit seinem Vorleben heimlich
verabredet ist, sind sie es, wie Innen und Auen, in sofortigem wortlosem Eingehalten, die er im Mond-Kapitel der Berliner Kindheit vorbildlich ausgefhrt sieht.
Dies lehnt Benjamin nun seinerseits als subjektivierend ab.
285
Vgl. GS, V, 2, S. 1057, h 2.
286
Vgl. Ein Versuch der Restitution, CS, S. 240248, insbes. S. 248.
287
GS, I, 2, S. 694.
288
Vgl. Der Autor als Produzent, GS, II, 2, S. 683701, insbes. 687f.
289
[. . .] manchmal, so schliet der Satz, blo fr ein, zwei Tage, manchmal fr mehrere
Wochen (A, S. 9). Das unbeirrte Irren hat seine eigene unvorhersehbare, anachronische Zeit.
290
Vgl. A, S. 44, 52, 192, 196.

Anachronie

231

verstndnis miteinander. Dieser emigrierte deutsch-tschechische Jude ist der wirkliche, gesuchte, gefundene, ja erfundene oder halluzinierte Studienzweck dieses
emigrierten deutschen Wahlenglnders. Braucht jener ihn, um seine Geschichte
aufbrechen und berliefern zu knnen, so braucht er jenen als Partner, Anspruch,
Stoff und Inhalt, um seine Existenz als dankbar berliefernden Erzhler zu rechtfertigen.291 Ein unaufflliges Wunder eine vita nuova findet hier statt: eine
Erneuerung der deutsch-jdische Symbiose auf den ersten Blick.292 Wo besser
291

Niemand / zeugt/ Fr den Zeugen: Paul Celans Satz in Aschenglorie wird hier
stillschweigend widerrufen.
292
Vgl. GS, I, 2, S. 694. Vgl. Sebalds Beschreibung seines Besuchs bei Michael Hamburger:
Aber warum ich gleich bei meinem ersten Besuch bei Michael den Eindruck gewann,
als lebte ich oder als htte ich einmal gelebt in seinem Haus, und zwar in allem
geradeso wie er, das kann ich mir nicht erklren (RS, S. 217f.). Der Wunsch ist Vater
des Gedankens, in abgelebten Zeiten in einem Judenhaus gelebt zu haben. Vgl. ebenfalls die Wahlverwandtschaft zwischen Max Aurach und dem Erzhler; den Erkennungsschreck, der diesen vor dem Grab eines an seinem Geburtstag gestorbenen
Juden durchfhrt; und die gewiss nie zu ergrndende Rhrung, die er vor einem
anderen Grab versprt (DA, S. 335f.). Zwischen Deutschen und Juden sind, so Benjamin (1924) lange vor der Shoah und Scholem (1965) danach, nur noch geheime
Beziehungen mglich: als edle Komplizitt zwischen Einzelnen (vgl. hierzu Irving
Wohlfahrt: Geheime Beziehungen. Zur deutsch-jdischen Spannung bei Walter Benjamin, In: Studi Germanici 28 [1990], S. 251301). Bei Sebald steht die zerstrte
deutsch-jdische Symbiose auf geheime, ja sehr geheimnisvolle Weise wieder auf. Die
Deja`-vu-Erlebnisse, die ihm dabei zuteil werden, sind, frei nach Freuds Aufsatz
Traum und Telepathie (Gesammelte Werke. Bd. 13. Frankfurt / M 1980, S. 163191),
aus der Parapsychologie in die Psychopathologie des historischen Alltagslebens zurckzuholen. Etwa so: Ein guter Deutscher, Jahrgang 1943, der es nach der Shoah in
seinem Geburtsland nicht aushielt, nach England auswanderte und dort ein zurckgezogenes Professorenleben in der Provinz fhrt, fhlt sich dort, fast bis zur Selbstverwechslung, in einen wahlverwandten deutsch-jdischen Schriftstellerkollegen, Michael Hamburger, ein, dessen Berliner Familie vorm Nazismus fliehen musste. In
Die Unfhigkeit zu trauern behaupten die Mitscherlichs, die Shoah sei nur aufgrund
eines kollektiven Mangels an Einfhlung mglich gewesen. In deren Nachfolge spricht
Sebald von der Unfhigkeit der deutschen Nachkriegsliteratur, einen authentischen
Versuch zur Trauer in der Identifikation mit den wirklichen Opfern [. . .] zu transportieren (CS, S. 106). Dies holt er selber eigenhndig nach. An anderer Stelle hlt er
jedoch fest, dass Jean Amery sich einer durchgngigen Strategie des understatements
bedient, die sowohl Mitleid als auch Selbstmitleid unterbindet und die nach dem
Befund Niederlands bezeichnend ist fr smtliche Schilderungen der Opfer der Verfolgung (CS, S. 155). Damit streift er den aporetischen Charakter von Einfhlung,
Identifikation und Mitleid im Zusammenhang mit der Shoah. Wie soll ein Roman
ohne sie auskommen? Aber haben nicht Nietzsche, Benjamin und andere deren Abgrnde lange vor der Shoah aufgezeigt? Einfhlung gilt Benjamin 1925 als selbstbefangenes Phantasieren (GS, I, 1, S. 234) und 1940 als Bordell (GS, I, 2, S. 702). Auf
die Frage, in wen sich denn der Geschichtsschreiber des Historismus sich eigentlich
einfhlt, antworten seine Thesen: unweigerlich in den Sieger (GS, I, 2, S. 696). Es
fragt sich, ob nicht Sebald, allen Vorkehrungen zum Trotz, der Versuchung erlegen ist,
sich in die moralisch unbesiegbaren Verlierer einzufhlen; aber auch, ob die
Grenze zwischen der von Benjamin verworfenen Einfhlung und dem von ihm hochgehaltenen mimetischen Vermgen immer eindeutig auszumachen ist.

232

Irving Wohlfarth

kann diese Wahlverwandtschaft znden als an einem anonymen dritten (aber, wie
sein Innen und Auen zeigen, keineswegs neutralen) Ort einem belgischen
Bahnhof? Die ingenise Konstruktion dieser Seelen-, Gespenster- und Romangemeinschaft geht restlos auf, aber man merkt die Absicht und ist verstimmt.
Benjamins Akzentsetzung wird auch hier verschoben. Schreibt sein historischer Materialist Geschichte ebenfalls fr seine Person,293 so fllt Autobiographisches im blichen Sinn dabei weg oder wird aufgehoben; die Monaden,
die er konstruiert, sind keine Personen; die geheimen Verabredungen,294 die er
einhalten will, finden zwischen Generationen und Epochen statt. Sebald hingegen
verdichtet ein umfangreiches dokumentarisches Material zur fiktiven Biographie
eines Ausgewanderten, dessen Schicksal fr das Jahrhundert paradigmatisch sein
soll. Darauf antwortet die Passagenarbeit mit folgendem Motto: Les temps sont
plus interessants que les hommes.295 Es entstammt allerdings der Feder eines
groen Romanschreibers: Balzac.
Der Konstruktionsfehler dieses Romans drfte in einer berkonstruiertheit liegen, der einen Mangel an konstruktiver Kraft berdeckt jener Kraft, die Benjamins Hauptwerk ebenfalls suchte. Symptomatisch dafr ist ein epischer Fluss,
der sich aus Flickwerk zusammensetzt; ein nach Plan geschriebenes Opus, dem
der Plan zuwider ist; und ein Pathos undurchdringlichen Dunkels, das wenig
Geheimnis birgt. Benjamins hartes Urteil ber einen anderen Zeitroman mit hnlich synthetischem Anspruch knnte auf diesen bertragen werden: Der Zauberberg fesselt mich durch schlechtweg souverne Mache.296
4. Anachronismus im besseren Sinn
[Die Durchfhrung der Passagenarbeit] wrde einen Anachronismus im besseren Sinn darstellen. Im besseren: weil er hoffentlich weniger eine Vergangenheit
galvanisiert als eine menschenwrdigere Zukunft vorwegnimmt. 297

Gewiss, schreibt Sebald,


halten Autoren wie Grillparzer, Stifter, Hofmannsthal, Kafka und Bernhard den Fortschritt fr ein Verlustgeschft. Es ist aber verkehrt, ihnen daraus eine moralpolitische
Rechnung zu machen. [. . .] Melancholie, das berdenken des sich vollziehenden Unglcks, [. . .] ist eine Form des Widerstands. Wenn sie, starren Blicks, noch einmal
nachrechnet, wie es nur so hat kommen knnen, dann zeigt es sich, dass die Motorik
der Trostlosigkeit und diejenige der Erkenntnis identische Exekutive sind. Die Beschreibung des Unglcks schliet in sich die Mglichkeit zu seiner berwindung ein.298
293

GS, I, 2, S. 702.
Vgl. GS, I, 2, S. 694. Dieses Motiv wird bei Sebald fast spiritistisch abgewandelt. Austerlitz kennt nur noch solche Verabredungen, die quasi jenseits der Zeit stattfinden (A, S. 367).
295
Zit. GS, V, S. 570.
296
GB, III, S. 17.
297
GB, IV, S. 371.
298
BU, S. 12.
294

Anachronie

233

Mit dieser Grundsatzerklrung steht er Benjamin nah und fern. Nah, weil er wie
kaum ein anderer zeitgenssischer Autor Fortschritt und Katastrophe zusammendenkt. Fern, weil Benjamin dem, was wir den Fortschritt nennen,299 einen anderen, mglichen entgegenhlt: die erste revolutionre Manahme.300 Fern vor
allem wegen der dazwischenliegenden Tendenz- und Zeitenwende. Bei Benjamin
geht Baudelaires chiffonnier, dessen Traum vom Umsturz der Weinflasche entstammt, als Lumpensammler im nchternen Morgengrauen des Revolutionstages um.301 Sebald hingegen stellt einen elegischen Lumpensammler dar, der allem,
nur nicht der Revolution, nachtrauert.302 Von der schummrigen Unterwelt der
glasgedeckten Pariser Passagen ging ein zweideutiges Glcksversprechen aus; die
grauschwarze Dmmer- und Unterwelt der Sebaldschen Bahnhfe ist hingegen
von einer Kuppel berwlbt, die an den Wolkendeckel des Baudelaireschen Spleens303 und den ausweglosen Kosmos erinnert, den sich der gescheiterte Revolutionr Blanqui ausmalte.304 Das erregende Panorama des Passagen-Exposes305 hat
sein abgrundtrauriges Gegenstck im verkehrten Miniaturuniversum des Nocturamas, mit dem Austerlitz beginnt und endet.306 Dort, wo das Passagenprojekt
auf ein Erwachen aus dem neunzehnten Jahrhundert307 setzte, variiert Sebald Sir
Thomas Brownes Wort vom Dunkel, das uns umgibt und, fgt er hinzu, nur
wenige Maler und Philosophen zu durchdringen versuchen.308
Benjamin konnte seine historische Lage als eine Konjunktion von Saturn und
der Sonne begreifen, die am Himmel der Geschichte am Aufgehen309 war.
299

GS, I, 2, S. 698.
GS, V, I, S. 593. N 10, 2.
301
GS, 111, S. 225. So Benjamin 1930 ber Siegfried Kracauer und vermutlich, auf diesem
Umweg, ber sich. Vgl. zu den Lumpen GS, V, 1, S. 574. N 1a, 8.
302
Vgl. die beilufigen Hinweise in DA, S. 317, 324.
303
Quand le ciel bas et lourd pe`se comme un couvercle (Spleen IV, OC, S. 70).
304
Vgl. GS, V, I, S. 61, 75f..
305
Die Stadt weitet sich in den Panoramen zur Landschaft aus wie sie es auf subtilere
Weise spter fr den Flanierenden tut (GS, V, I, S. 48).
306
A, S. 1012 und 416.
307
GS, V, I, S. 580. N 4, 3.
308
A, S. 11, 183. Vgl. ebenfalls RS, S. 186, 206 und folgende Stelle: Es ist, als schaute man
zugleich durch ein umgekehrtes Fernrohr und durch ein Mikroskop. Und doch, sagte
Browne, ist jede Erkenntnis umgeben von einem undurchdringlichen Dunkel (RS,
30). Vgl., hierzu nah und fern zugleich, Benjamins Charakterisierung seines Kunstwerk-Aufsatzes als ein Versuch, den Blutnebel der Zeit mit einem Teleskop zu
durchdringen (GB, V, S. 193).
309
GS, I, 2, S. 694f. Vgl. den Hinweis im Trauerspielbuch auf Drers Melencolia I, dessen
magisches Quadrat dazu dient, Saturns schdliche Eingebungen, dank einer gnstigen Konjunktion mit Jupiter, in segensreiche umzuwandeln (GS, I, I, S. 329). Saturn ist, wie Panofsky und Saxls Drer-Studie zeigt, ein Dmon der Gegenstze
(S. 327). Das Trauerspielbuch zeichnet die Umdeutungen nach, die dessen Einfluss seit
dem Mittelalter in der Astrologie und der Humoralpathologie erfahren hat Wendungen, die an die Schwankung des griechischen Melancholie-Begriffs zwischen Genie
und Wahnsinn erinnern.
300

234

Irving Wohlfarth

Diese Konstellation von Melancholie und Revolution hat fast kein Echo mehr in
Sebalds Schriften. Alles, was wir auf traurigen Eisenbahnfahrten (die Eisenbahnen beginnen zu altern), an gottverlassenen Sonntagsnachmittagen in den Proletariervierteln der groen Stdte erfahren, lst der Surrealismus so Benjamin
1929 in revolutionre Erfahrung, wenn nicht Handlung ein, bringt die gewaltigen Krfte der Stimmung zur Explosion, die in diesen Dingen verborgen
sind und stt so als erster auf die revolutionren Energien, die im Veralteten
erscheinen.310 Gottverlassene Szenerien dieser Art kommen berall bei Sebald
vor, bergen aber keine revolutionren Energien mehr. Lsst er die stillgelegten
Fabrikgebude von Manchester auf sich einwirken,311 so bleibt es hier eher bei
einer durchdringenden Melancholie des Verfalls; und die Aufnahmen, die Austerlitz sonntags von den Pariser Vororten macht, entsprechen nur noch der eigenen
verwaisten Verfassung.312 Der moderne Wandersmann, der vor dem Rtselkram
des Antikos Bazar in Terezin verweilt,313 erinnert nicht an den halluzinierenden
Surrealisten vor dem Schaufenster der Passage de lOpera,314 vielmehr an den
Dichter des Cygne vor dem bric-a`-brac confus der haussmanisierten Hauptstadt315 und den grbelnden barocken Allegoriker vor den Bruchstcken eines
vertrockneten Kosmos.316
Mit der Erschtterung der Warenwirtschaft, hatte Benjamins erstes PassagenExpose schwungvoll geschlossen, beginnen wir, die Monumente der Bourgeoisie
als Ruinen zu erkennen noch ehe sie zerfallen sind.317 Von diesem wir ist bei
Sebald keine Rede und die Ruinen der Bourgeoisie bieten ihm kein Versprechen
mehr. Nur die Beschreibung des Unglcks soll standhalten knnen.318 Damit steht
er Adorno nher als Benjamin, der noch aus der von Sebald so genannten Motorik der Trostlosigkeit das unterirdische Rumoren der Revolution heraushrt.319
Aber ist nicht die Tatsache, dass ein weiteres Alter Ego Sebalds, der Maler Max
Aurach, ausgerechnet im ruigen, dem Ruin entgegentreibenden Manchester
dem einstigen Industriejerusalem, der restlos ausgehhlten Wunderstadt des
neunzehnten Jahrhunderts den Ort [s]einer Bestimmung gefunden hat, selber
ein unterirdisches politisches Signal?320 Die Aussicht auf eine berwindung des
310

GS, II, 1, S. 299f.


DA, S. 24446, 267.
312
A, S. 376.
313
A, S. 28085.
314
Le Paysan de Paris, S. 2233.
315
OC, S. 82.
316
GS, I, I, S. 352.
317
GS, V, I, S. 59.
318
Nur in einem Fall zeigt Sebald eine Dialektik zwischen Auenseitertum und politischem Widerstand auf. Es war, vermutet er, Roger Casements Homosexualitt, die ihn
befhigte, sich ber die Grenzen von Klasse und Rasse hinweg gegen den britischen
Kolonialismus aufzulehnen (RS, S. 162).
319
Man denke an die vor Wut springenden Glocken in Baudelaires viertem SpleenGedicht, deren Geheul einem lautlosen Trauerzug weicht (OC, S. 71).
320
DA, S. 222, 245, 263, 251.
311

Anachronie

235

Kapitalismus ist verstellt. Knnte das der Grund sein, warum es Sebald und die
Seinen zu den Trmmersttten seines bisherigen Untergangs zieht? Seine Rede
von Ort und Bestimmung knnte von Benjamin stammen. Und sein eigener
Ort kann von einem Benjamin nahestehenden aus fast ebenso gut verfochten
wie angefochten werden.
Ihm aus seiner elegischen Grundstimmung eine moralpolitische Rechnung zu
machen, wre deshalb unbillig. Es hiee fast, den Boten mit der Botschaft verwechseln. Dass dieser Melancholiker ein groes anachronisches Rckzugsgefecht
gegen eine zunehmend synchronisierte Welt geliefert hat; dass seine Aktualitt von
seinem anachronistischen Schreib- und Denkstil kaum zu trennen ist; und dass
dieser durchaus eine Form des Widerstands ist (auch wenn die berwindung
des Unglcks nicht ohne weiteres aus seiner Beschreibung folgt), all dies ist
unleugbar.
Wenn es aber zu den dringlichsten Aufgaben gehrt, nochmals nachzurechnen,
wie es nur so hat kommen knnen,321 dann verwundert es doch, dass Sebald die
groe Frage bergeht, warum es mit dem anderen, kollektiven Widerstand gegen
den Kapitalismus so hat kommen knnen. Als junger Deutscher, der in den sechziger Jahren nach Manchester kam und sich vom Schicksal der Ein- und Auswanderer in Anspruch nehmen lie, ist er der damaligen Lage der englischen
Arbeiterklasse wie einst Friedrich Engels322 auf Schritt und Tritt begegnet.
Warum sind die geschichtlichen Niederlagen des Klassenkampfs und die Notwendigkeit, auch sie zu berdenken, nicht auf seinem Verlustkonto verzeichnet? Wohl
deshalb, weil auch hier eine Arbeitsteilung besteht, die beide Seiten eine politische und eine sthetische Linke um ihre besten Mglichkeiten betrgt.
Den starren Blick der Melancholie im Zeitalter allseitiger Flexibilisierung zu
verfechten, verlangt Mut und ist im besten Sinn unzeitgem. Auch hier jedoch ist
der Vergleich zwischen Benjamin und Sebald instruktiv. Der (er)starre(nde) Blick
des Engels der Geschichte war vom unseren himmelweit entfernt: Wo eine
Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe.323 Wir sind folglich auerstande, zu seiner alle Chronologie berflgelnden Weltsicht zu gelangen. Nicht dass es wnschenswert wre, die einzelnen
Begebenheiten zugunsten des Gesamtbildes aus dem Blick zu lassen. Wohl aber,
dass wir erst recht der Melancholie verfallen, und zwar der schlechten, der Trgheit des Herzens, wenn wir, wie chronologisch befangene Historiker, die Abfolge der Begebenheiten durch die Finger laufen lassen und den Tag nicht ergreifen.324 Die Aufgabe ist vielmehr, aus Benjamins Sicht, den starrenden Engelsblick weder fr sich zu beanspruchen noch ihn zu ignorieren und keine starre
321

Im Vormrz, so Sebalds Keller-Aufsatz, htte alles noch anders kommen knnen, als
es dann tatschlich kam (LL, S. 97).
322
Dessen Name taucht in Aurach auf (DA, S. 287), aber nur innerhalb einer deutschjdischen Namensliste.
323
GS, I, 2, S. 697.
324
GS, I, 2, S. 704, 696.

236

Irving Wohlfarth

Alternative zwischen einer chronologisch-profanen und einer anachronisch-theologischen Einstellung gelten zu lassen,325 sondern mit beidem zugleich und vielem
mehr nach Art des Kameramanns zu operieren, der immer wieder neu ber
Distanz und Beleuchtung zu entscheiden hat.326 Sebald hingegen hngt Sir Thomas
Brownes Versuch nach, das irdische Leben vom Standpunkt eines Auenseiters,
ja [. . .] vom Standpunkt des Schpfers zu betrachten.327 Zwar ergeben sich hieraus beeindruckende Szenen, in denen der Erzhler, einem nachgeborenen Fremden gleich, die menschliche Naturgeschichte aus grtmglicher Ferne betrachtet.328 Aber es fragt sich, ob das Verlustkonto des Fortschritts aus derart erhabener
Perspektive sich sichten, geschweige denn im einzelnen nachrechnen lsst. Droht
nicht vielmehr von dort aus die ganze Menschheitszivilisation329 zu einer einzigen Verfallsgeschichte zu erstarren? Nicht, dass Sebald Realgeschichtliches ausgeblendet htte. Im Gegenteil: Er montiert Materialien detailbesessen in seine
Schriften hinein. Bei seinen Streifzgen durch die Empirie behlt der starre Blick
dennoch das letzte Wort. Gehrt doch zur berlieferten Lehre vom Melancholiker, wie Benjamin notiert,330 dessen Neigung zu weiten Reisen.
In den Thesen ruft Benjamin die Klosterregel in Erinnerung, die den Brdern
Gegenstnde zur Meditation anwies, welche sie der Welt und ihrem Treiben abhold331 machen sollten. Ein entsprechend fremder Blick drfe beim historischen
Materialisten nicht fehlen. Bei Sebald, alias Austerlitz, alias Lemoine (wrtlich
der Mnch)332 wird er hingegen hypostasiert. Wo der historische Materialist,
wie Simmels Fremder, eine Auen- mit einer Innensicht vereint, stehen die
Ausgewanderten, deren Blickwinkel Sebald selber weitgehend teilt, fast nur
noch drauen. Vielleicht klammert sich Sebald so episch an die Welt, um diesen
allzu groen Abstand zu berbrcken und den damit einhergehenden Weltverlust
zu bannen.333
325

Vgl hierzu GS, V, I, S. 589. N8, 1.


Vgl. GS, I, 3, S 1165.
327
RS, S. 29.
328
Vgl. den Spenglerschen Blick vom Turm der neuen Pariser Nationalbibliothek auf die
Stein- und Staubwste der modernen Metropole (A, S. 405), die Vogelperspektive
auf das gesamte Panorama von Manchester (DA, S. 249), den prhistorischen Anblick der ehemaligen militrischen Forschungsanstalt von Orfordness (RS, S. 279283)
usw.
329
RS, S. 203.
330
GS,I,1, S. 326.
331
GS, I, 2, S. 698.
332
Vgl. A, S. 404406. Lemoines Klage ber die im Gleichma mit der Proliferation des
Informationswesens fortschreitenden Auflsung unserer Erinnerungsfhigkeit reicht
bezeichnenderweise bis auf Platons Kritik der Schrift zurck.
333
Mit wenigen Ausnahmen kommen weder sozialpolitische noch erotische Verhltnisse
in Sebalds literarischen Texten vor. Das lsst sich zwar aus dem beschdigten Leben
seiner Ausgewanderten plausibel erklren; aber seine Erzhlerfigur teilt dieselbe
Beschrnkung. Seine Panik beim Anblick eines kopulierenden Paares am Strand ist
ein seltenes, frappierendes Eingestndnis (RS, S. 88). Sebalds Bemerkungen ber Stif326

Anachronie

237

Es liee sich, sehr schematisch, zwischen Anachronismus in einem besseren


und einem schlechteren Sinn unterscheiden. Letzterer hat den Anschluss an die
Gegenwart verloren. Ersterer steht, mit Nietzsche und Benjamin gesprochen, fr
die wahre, unzeitgeme Aktualitt.334 Beide Typen des Anachronismus vermischen sich in Sebalds Schriften.
Zwischen seiner ersten und seiner zweiten Wiederkehr hat sich der Flaneur
entscheidend verndert. Dort, wo er als das Alter Ego des historischen Materialisten fungierte, dessen Kampf fr die unterdrckte Vergangenheit335 der
fr die unterdrckte Gegenwart ist, bestand ein Wechselverhltnis zwischen
Geschichtsschreibung und Politik der kommenden, die der real existierenden
ein Ende bereiten soll. Solche Geistesgegenwart der Sinn fr die Konjunktur bestand aus einer Konjunktion von Chronologie und Anachronie. Der
historische Materialist vereint Schlegels Definition des Historikers als rckwrts gewandter Prophet mit Turgots ebenso paradoxer Definition von Politik
als der Aufgabe, die Gegenwart vorauszusagen: Er kehrt der eigenen Zeit
den Rcken; sein Seherblick [. . .] ist es, welchem die eigene Zeit deutlicher gegenwrtig ist als den Zeitgenossen, die mit ihr Schritt halten.336 Diese Dialektik von Jetzt und Einst, Theorie und Praxis, Chronologie und Anachronie findet
bei Sebald kaum mehr statt. Er stellt eher einen rckwrts gewandten Propheten
dar, dessen Seherblick zwar Dsteres voraussieht, aber kein politisch geschrfter
ist.337
Hat sich die Konstellation in der Zwischenzeit grundlegend gendert oder ist
sie sich im Wesentlichen gleich geblieben? Die Forderung des Tages kann nach wie
vor nur kollektiv erfllt werden wenn berhaupt, denn das Kollektiv, darin sind
sich Benjamin und Sebald relativ einig, liegt weiterhin im Schlaf. Wenn sich bisher
kaum jemand eingefunden hat, um Benjamins Projekt fortzuschreiben, dann auch
deshalb, weil es heute so schwer fllt, der Forderung nachzukommen, dies Heute
fest bei den Hrnern338 zu packen. Aber sie bleibt, frei nach Benjamin, auch dort
ters Zlibat und dessen Portrtierung weiblicher Wesen (BU, S. 28ff.) geben ebenfalls ber seine eigenen Frauenportrts zu denken.
334
Vgl. Ankndigung der Zeitschrift: Angelus Novus (GS, II, 1, insbes. S. 241, 246). Bei
Benjamin ist Anachronie messianisch und geschieht im Nu. Sie verhlt sich zur
Chronologie wie das mimetische Bild zum (semiotischen) Sinnzusammenhang: in
ihn eingreifend, an ihm aufblitzend, von ihm abweichend. Vgl. hierzu die Lehre vom
hnlichen (GS, 2, 1, S. 208f.).
335
GS, I, 2, S. 700.
336
GS, I, 3, 1235; anschlieend S. 1237.
337
Nur ein Mann, in dem das Neue sich, wenn auch still, so sehr deutlich ankndigt,
kann einen so originalen, so frhen Blick auf [das] eben erst Alte tun (GS, III, S. 197).
Bei Sebald tritt an die Stelle der dialektischen Optik (GS, II, 1, S. 307), die Benjamin
Hessel hier zuschreibt, der starre Blick eines Mannes, der wie Baudelaire in seinem
Prosastck Le monde va finir vom Sturm des Fortschritts nichts Neues erwartet
(OC, S. 12621265).
338
GS, III, S. 259.

238

Irving Wohlfarth

bestehen, wo niemand ihr entsprechen kann. Unter den ersten hob er selber das
Inkommensurable339 der Moderne hervor.
Trotz zahlloser Einzelerfolge musste Austerlitz an dieser Inkommensurabilitt
scheitern.340 Das tun zwar alle modernen Romane, aber dieser fllt hinter Kafkas
und Becketts zurck. Benjamins Passagen- und Montage-Arbeit war ein einziger
Versuch, die anachronistische Vorstellung auszurumen, die Geschichte sei etwas,
das sich erzhlen lasse.341 Bei Sebald tritt die Passagenarbeit selber als Erzhlmotiv auf. Aber er kann die groe natur- und weltgeschichtliche Kalamitt, von
der er durchdrungen ist, nur beschwren.
Wer, so wurde eingangs mit Benjamin gefragt, fischt in diesem Strom? Jeder
schwimmt heute, wenn nicht mit, so doch in ihm auch Sebald, der sich von
zurckbiegenden Strmungen342 tragen lsst, auch der Kritiker, der nach Benjamins Vorbild seine Kraftstation343 am Ufer zu errichten meint. Bewusste
Rck-, Rand- und Widerstndigkeit gewhren keine Immunitt: die Rckseite des
Zeitgeists gehrt ihr mehr oder weniger an. Das Unsaubere ist unvermeidlich: es
gibt keinen reinen Widerstand mehr, falls es ihn je gegeben hat. Es kommt nur
noch auf die Ausdauer eines widersprchlichen, gemischten Widerstands an. Dies
betrifft sowohl die innere Beschaffenheit der Werke als auch ihre geschichtliche
Rezeption. Kein Dokument der Kultur, das nicht ein Dokument der Barbarei
und keines, das nicht gegen seine berlieferung zu lesen ist.344
Welcher Konjunktur entspricht es, dass Sebalds Werk seit einem Jahrzehnt
Konjunktur hat, ber den verdienten Nachruhm hinaus? Schwimmt es in der im
selben Jahrzehnt auftretenden Erinnerungskultur mit? Wird es als wohltuende
Revision der deutschen Unfhigkeit zu trauern rezipiert? Surft es auf der diffusen Melancholie, die sich aus den Wehen der Globalisierung, der Verwaisung der
kommunistischen Idee und der Sorge um die kologie des Planeten zusammenmischt?345 Auf der Wehmut darber, dass man aus unserer Welt nicht mehr auswandern kann?
Eine Reihe von weiteren Fragen schliet sich hier an. War nicht die Unschrfe
zwischen Fiktion und Dokument, die an Sebald so oft gerhmt wird, schon beim
Ossian der neunziger Jahre im Spiel nmlich in Benjamin Wilkomirskis zunchst
339

GS, II, 2, S. 443.


Max Aurach spricht unumwunden von seinem Scheitern (DA, S. 238).
341
GS, I, 3, S. 1240. Gleichzeitig sollte hier eine Darstellungsform gefunden werden, die
es erlaubte, gesteigerte Anschaulichkeit mit der marxistischen Methode zu verbinden (GS, V, I, S. 575).
342
Vgl. A, S. 176.
343
GS, II, 1, S. 295.
344
GS, I, 2, S. 696.
345
In seiner Rezension Linke Melancholie (1931) diagnostiziert Benjamin eine Haltung, der keine politische Aktion mehr entspricht, weil sie ganz einfach links vom
Mglichen berhaupt steht. Nie habe man in einer ungemtlichen Lage sichs gemtlicher eingerichtet (GS, III, S. 281). Linke Melancholie hat heute bessere Grnde,
richtet sich jedoch nach wie vor ein.
340

Anachronie

239

gro gefeierten, dann entlarvten und kleinlaut vergessenen Kindheitserinnerungen?346 Gibt Austerlitz eine adquate Antwort auf die schwierige Frage, wo die
Grenze zwischen einer gltigen und einer unzulssigen Verbindung von Fiktion
und Dokument liegt?
Ist es von suspekteren Mischgattungen der Epoche so weit entfernt?347 Wird es
sich eines Tages als ein Teil des nicht nur metaphysischen Dunkels erweisen,
das uns umgibt nmlich der Dunstwolke aus Zeitgeist, Edelkitsch usw., in der
wir stecken? Wurde es fast wider besseres Wissen geschrieben?348 War eine, wie
346

Wilkomirski gab vor, einer Opfergruppe anzugehren, derer man sich erst seit wenigen Jahren angenommen hatte: Es sind Kinder ohne Identitt, ohne Gewissheit
ber ihre Herkunft, die Spuren sorgsam verwischt, unter falschem Namen lebend [. . .].
Sie wuchsen mit einer Pseudoidentitt auf [. . .]. (Bruchstcke. Aus einer Kindheit
193948. Frankfurt / M. 1995, S. 142). Nach den Hilfsorganisationen, Psychologen und
Historikern sind nun ein Flscher, Wilkomirski, und ein schwindelnder Schriftsteller, Sebald, hinzugestoen. Sie fhlen sich ein, fllen Leerstellen aus und fgen neue
gem dem heute gngigen Wirklichkeitseffekt (Barthes) hinzu. Ihre Unterschiede
sind freilich entscheidend. Der eine nutzt die undeutliche Grenze zwischen Dichtung
und Wahrheit, um jene als diese auszugeben, der andere lsst sich bei der Verwischung
der Grenze ertappen, um diese zu thematisieren. Es trifft sich, dass der ehrliche Lgner in diesem Falle der bessere Schriftsteller ist.
347
Vgl. den ebenso gekonnten wie infamen bestseller / docufiction/docusoap von Irvin
Yalom: Und Nietzsche weinte (Mnchen 2005, engl. When Nietzsche Wept. New
York 1993). Die Erzhlkur, die Sebald Austerlitz angedeihen lsst, hat ein gewisses
Gegenstck in der Weinkur, die Yalom, ein Psychiater von Beruf, dem Philosophen
des bermenschen postum verpasst.
348
Anlsslich von Gnter Grass Tagebuch einer Schnecke wirft Sebald selber die Frage
auf, ob die Dominanz der Fiktion ber das, was wirklich geschah, dem Schreiben der
Wahrheit und dem Versuch, sich ein Gedchtnis zu machen, nicht eher abtrglich ist
(CS, S. 115). Das Wort Dominanz suggeriert, dass es auf die Dosierung ankommt.
Wie aber soll es einem Roman mglich sein, das fiktive Element nicht dominieren zu
lassen? Eine Erzhlung in irgendeinem herkmmlichen Sinne, heit es anderer
Stelle, durfte Amerys memoire eines der Modelle von Austerlitz nicht sein: Sie
verzichtet darum auf jede Form von Literarisierung, die so etwas wie Komplizitt
zwischen dem Schreibenden und dem Leser befrdert htte (CS, S. 155). Sebald
kannte sich in der von Adorno ausgelsten Diskussion um die Mglichkeit, Belletristik nach Auschwitz zu schreiben, offenbar gut aus. Es lsst sich nicht mehr erzhlen,
hatte Adorno geschrieben, whrend die Form des Romans Erzhlung verlangt
(Standort des Erzhlers im zeitgenssischen Roman. In: Th. W. A.: Noten zur Literatur 1. Frankfurt / M. 1961, S. 61). Sebald hatte diesen Satz in seiner Dissertation ber
Dblin beherzigt. Und auch dort, wo die Erzhlfigur seines Romans das vergangene
Leid, das an den Mauern der Festung Breendonk klebt, sich vorstellen mchte (A,
S. 37ff.), hlt sie sich streng an das von Adorno geforderte Bilderverbot. Weniger
streng jedoch ans Erzhlverbot, das seit Adorno insbesondere Maurice Blanchot zustzlich verschrft wissen will. Dessen Rigorismus gibt Sebalds Roman in mancher
Hinsicht wider Willen Recht. Als fiktionalisierte Fallstudie ist er nmlich kaum mehr
als eine Illustration der Traumaforschung, die einige Jahre zuvor in die englischsprachige Literaturwissenschaft Einzug hielt. Vgl. hierzu insbes. Cathy Carruth (Hg.):
Trauma. Explorations in Memory. Baltimore 1995. Sebald selber hat sich sowohl auf
Amerys memoire als auch auf die Studie von W. G. Niederland (Folgen der Verfolgung Das berleben-Syndrom. Frankfurt / M. 1980) gesttzt. Vgl. hierzu CS, S. 153f.

240

Irving Wohlfarth

immer gebrochene und geschwrzte vie romancee zu dieser Thematik zulssig?349


Auch wenn der Autor manche Verbote einhielt, die sich aus der Diskussion um
die Darstellbarkeit der Shoah ergeben hatten und genau sprte, an welchen Stellen
auf Fiktionales zu verzichten war?350 Zehrt nicht sein Erzhlwerk vom selben
Alibi wie die vielen Machwerke, die den Vergessenen oder Namenlosen ein
menschliches Gesicht geben wollen? Verrt nicht sein Roman Symptome dieser
Verlegenheit darunter der Name Austerlitz, die halb biographische, halb allegorische Konstruktion seiner Person351 und die Einfhlung, die hier gleichzeitig
ermutigt und verhindert wird?
Sebald ist selber berzeugt, dass die Literatur heute, allein auf sich gestellt, zur
Erfindung der Wahrheit nicht mehr taugt352 und sieht seinerseits Gefahren in der
Verquickung von Fiktion mit dokumentarischem Material.353 Aber sein Horror
vor allen billigen Formen der Fiktionalisierung354 lsst die Frage nach den un349

Vgl. dagegen Imre Kertesz: Der Roman eines Schicksallosen (Berlin 1996, urspr. Budapest 1975), an dem nicht die sakrosankte autobiographische Authentitizt besticht,
sondern eine andere, wenn auch durch eigene Zeugenschaft verbrgte: die Abwesenheit jedes latenten Klischees bezglich der sogenannten Lagererfahrung.
350
Hierzu ein gelungenes, wenn auch narrativ korrektes Beispiel: Wohl wissend um die
engen Grenzen, die einer literarischen Behandlung der Shoah gesetzt sind, beschrnkt
sich Sebald in der Theresienstadt gewidmeten Sequenz seines Romans weitgehend
darauf, aus Adlers Standardwerk zu zitieren. Auch dies freilich auf literarische Weise,
besonders im atemlosen, sich auf fast zehn Seiten erstreckenden Satz, der die Brokratie des Grauens kommentarlos verfremdet (A, S. 339349).
351
Vgl. Sebalds Bemerkung zu Amerys Stellvertreter: Lefeu ist eine allegorische Figur Feuermann, Feiermann, Feyermann. Seine Erfahrenheit geht weit ber das Leben hinaus (CS, S. 169).
352
CS, S. 112.
353
Vgl. seine Kritik an Hermann Ott, dem literarischen alter ego in Grass Tagebuch einer
Schnecke, als einer halb fiktiven, halb dokumentarischen Kunstfigur, die plausibel
machen soll, dass es den besseren Deutschen gegeben hat (CS, S. 114). Mit den
privilegierten Beziehungen, die er zwischen seinen Erzhlfiguren und ihren jdischen
Alter Egos stiftet, setzt sich Sebald einer hnlichen Kritik aus.
354
Zit. in Sigrid Lffler: Wildes Denken. Gesprch mit W. G. Sebald. In: Franz Loquai
(Hg.): W. G. Sebald. Eggingen 1997, S. 135. Sebald fhrt fort: Mein Medium ist die
Prosa, nicht der Roman. Diesem Credo ist Sebald, so Sven Meyer (in seinem Artikel
Im Medium der Prosa. In: Recherches Germaniques [2005], Heft 2, S. 173186), treu
geblieben. Dass die Gattungsbezeichnung Roman nachtrglich von der Titelseite
von Austerlitz entfernt wurde, zeugt eher fr das Gegenteil. Ist doch dieses Prosabuch unbestimmter Art, wie Sebald es nannte (Ich frchte das Melodramatische.
In: Der Spiegel, November 2001), einem Roman bis zum Verwechseln hnlich. Es ist
zudem sehr zweifelhaft, ob Adornos Theorie der literarischen Avantgarde, die, wie
Meyer ausfhrt, Sebalds kritischer Position zugrunde liegt, als Alibi fr Austerlitz
dienen kann; der Kronzeuge jener Theorie war Beckett, hinter dessen Romane Austerlitz von Adornos sthetischer Theorie her eher zurckfllt. Im Interview mit Lffler sagt Sebald weiter: Was die historische Monographie nicht leisten kann, ist, eine
Metapher oder Allegorie eines kollektiven Geschichtsverlaufs zu produzieren. Aber
erst in der Metaphorisierung wird uns Geschichte empathetisch zugnglich (S. 137).
Austerlitz erbringt keinen berzeugenden Beweis, dass eine einfhlsame Metaphorisierung der Shoah erwnscht oder mglich ist.

Anachronie

241

billigen Formen derselben offen.355 Offen bleibt auch, ob Austerlitz nicht allzu
teuer geraten ist. Weniger wre mehr gewesen. In seinen vier langen Erzhlungen hatte Sebald eine sparsamere Mischform ausprobiert, die seiner Abneigung
gegen Grospuriges besser entsprach. Er umkreist dort seine Figuren auf behutsamere Weise und treibt weniger Aufwand mit seiner Bildung.356 Mit Austerlitz ist
er der Versuchung erlegen, eine jener Erzhlungen Aurach zu einem Roman
auszubauen.
Was wird aus Sebalds Werk werden, wenn die gegenwrtige Konjunktur abflaut? Mit dem Verfall der Wirkung, so Benjamin, setzt die Mortifikation der
Werke ein. Diese sei das Werk der Kritik und der Zeit und verhelfe gltigen
Werken dazu, sich als neugeborene Ruinen zu behaupten.357 Solche rettende
Destruktion im Medium der vollendenden Zeit358 widersetzt sich der Zerstrung durch die leere, chronologische, immer im bergang359 begriffene. Das
Mittel dieser chronischen Zerstrung ist der kommerzielle, akademische und
kulturpolitische Betrieb, der einen Autor lanciert und verschleit, um zum
nchsten berzugehen.
Diese Antithetik von rettender und heilloser Zeit ist sicherlich zu dualistisch
gedacht. Wie sie zu dialektisieren ist, wurde vorhin angedeutet. Sie gengt jedoch,
um die Frage zu stellen, inwieweit Sebalds Werk, das vom literarischen Markt, von
der literaturwissenschaftlichen Forschung und durch eigenes Verdienst zu einem
Sofortklassiker befrdert wurde, an der Zeit teilhaben wird, die es gegen Chronos
beschwrt. Es hat resistente Leser verdient, die seine Sorge um die Fragwrdigkeit der Schriftstellerei berhaupt360 teilen.
Benjamin hatte in der frhen Sowjetunion ein Experiment und ein Versprechen
gesehen: eine Literarisierung aller Lebensverhltnisse, deren Verwirklichung
355

Das Gelingen von Claude Lanzmanns Film Shoah und Robert Antelmes LEspe`ce
Humaine, die ihre Autoren Fiktionen des Realen nennen, liegt auch darin, dass Dichtung hier fast restlos in Verdichtung aufgeht.
356
Eines der seltenen kritischen Urteile hierzu fllt ein kurzer Artikel von Thomas Wirtz:
Schwarze Zuckerwatte. Anmerkungen zu W. G. Sebald. In: Merkur 55 (2001), Heft 6,
S. 530534. Austerlitz wird hier als grundstzliche Fehlentscheidung eingeschtzt
und als Totalrekonstruktion von Sebalds frherem Werk unterschieden. Dort habe
Einfhlung die Distanz nur gemindert, hier berspringe sie die Ich-Grenze und
beraube sich der Freiheit der Verfremdung. Nun, so der Schluss, hat der Tod
selber gesprochen und sich als allzu redselig erwiesen. Auch die Melancholie, so muss
der Leser am Ende erfahren, ist lediglich ein Handwerk (S. 534). Der schwerste
Vorwurf, den ich dem Buch mache, so Benjamin zu Ernst Blochs Erbschaft dieser
Zeit, ist da es [. . .] so deplaziert auftritt wie ein groer Herr, der, zur Inspektion
einer vom Erdbeben verwsteten Gegend eingetroffen, zunchst nichts eiligeres zu tun
htte als von seinen Dienern die mitgebrachten [. . .] Perserteppiche [. . .] ausbreiten zu
lassen (GB, V, S. 38).
357
GS, I, I, S. 357f.
358
GS, I, 2, S. 637.
359
GS, I, 2, S. 702.
360
DA, S. 345.

242

Irving Wohlfarth

von der Temperatur des Klassenkampfs abhing, und, korrelativ dazu, einen
Umschmelzungsprozess literarischer Formen.361 Jene Trume sind, so will es die
heutige Doxa, ausgetrumt, die Zeiten vorbei, von Chronos geschluckt. Demgegenber sieht Benjamins rckwrts gewandter Prophet die Zukunft im Vergangenen. Dazu gehrt heute die Verlustrechnung der Kommunismen. Sebald war
vermutlich von der Problematik des Landes, das er zweimal verlie, zu durchdrungen, um sich auch dieser unbewltigten Vergangenheit zu widmen. Aber er
hat wie Benjamin seine literarischen Energien fr Aufgaben verwendet, die nicht
nur literarische sind und, um die Gegenwart schichtweise auszugraben, mit der
Umwandlung literarischer Formen experimentiert. Die Grenzen seines Werks sind
ein Symptom der kollektiven Schwierigkeit, eine Unbersichtlichkeit, die keine
nur neue ist, in den Blick zu bekommen.362 Es ist bitter, dass dieser vielversprechende Versuch, wie einst der Benjamins, vorzeitig unterbrochen wurde.

361
362

GS, II, 2, S. 694.


Vgl. Jrgen Habermas: Die neue Unbersichtlichkeit. Frankfurt / M. 1985.

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