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„Bei all ihrer schicken Magerkeit, strahlte sie eine Ha-

ferflocken-Gesundheit aus, eine Seifen- und Zitronen-


Reinlichkeit, und auf ihren Wangen lag eine raue Röte.
Sie hatte einen großen Mund und eine Stupsnase. Eine
Sonnenbrille verbarg ihre Augen. Es war ein Gesicht,
das nicht mehr ganz in der Kindheit zuhause war und
schon einer Frau gehörte.“ So beschreibt Truman Ca-
pote seine unsterbliche Heldin Holly Golightly. Die
fast Neunzehnjährige, die voller Lebenshunger vom
Land in die große Stadt ausgerissen ist, hat nichts au-
ßer ihrer Erscheinung und ihrer Ausstrahlung, die sie
befähigt, mit Männern zu spielen und sich gewisser-
maßen aushalten zu lassen. Manchmal befällt sie, die
im Partytrubel von New York so unschuldig glänzen
kann, aber das „rote Elend“, Katzenjammer und Welt-
schmerz, Angst und Verlorenheit, spürt sie innere
Leere und Einsamkeit. Dann hilft nichts anderes mehr,
als auf die Fifth Avenue zu Tiffany zu fliehen, dem be-
rühmten Juwelier. Der Schimmer der Diamanten be-
ruhigt Holly und gibt ihr die Sicherheit zurück, im
New York zu Beginn der vierziger Jahre zu bestehen.
Ihr Nachbar, ein junger Schriftsteller, beobachtet ihr
krauses Leben, er liebt ihre Schlagfertigkeit, ihre origi-
nelle, von Fremdwörtern gespickte Sprache, ihre Lust
am witzig parlierenden Dialog. Manchmal aber spielt
sie Lieder, „bei denen man sich fragte, wo sie die ge-
lernt hatte … rauzärtliche, umherirrende Melodien mit
Worten, die nach Südstaaten-Nadelwäldern oder der
Prärie schmeckten.“ Eines Tages ist sie weg, übrig
bleibt nur ihr namenloser Kater, auf dessen Suche sich
der Erzähler begibt …
Truman Capote, eigentlich Truman Streckfus Persons,
wurde am 30. September 1924 in New Orleans gebo-
ren. 1934 verließ er den Süden, als die Mutter den Ku-
baner Joseph Capote heiratete und nach New York
zog. Dort stieg er mit Hilfe von Oona O’Neill und
Gloria Vanderbilt in die höhere Gesellschaft ein.
Achtzehnjährig begann er beim New Yorker als Re-
daktionsgehilfe. 1945 hatte er mit Erzählungen in di-
versen Zeitschriften Erfolg. 1946 bekam er den
O. Henry-Preis für „Miriam“, zwei Jahre später mit
„Shut a Final Door“ noch einmal. Der Roman „Ande-
re Stimmen, andere Räume“ wurde zur Sensation, Ca-
pote war 23 Jahre alt. Nach „Die Grasharfe“ wurde er
in eine Reihe mit William Faulkner und Carson Mc-
Cullers gestellt. Capote reiste nun jahrelang durch Eu-
ropa. „Frühstück bei Tiffany“ sicherte den Ruhm. Mit
„Kaltblütig“ schuf er 1966 ein Grundbuch des „New
Journalism“, den sechs Jahre recherchierten Tatsa-
chenroman über den Mord an einer Familie in Kansas.
Danach folgten Drogenexzesse, Nervenzusammen-
brüche, sogar Gefängnisaufenthalte, Capote war aus-
gebrannt. 1975 publizierte er Kapitel des Schlüsselro-
mans „Erhörte Gebete“, in dem er Geheimnisse der
High Society ausplauderte, die deshalb die Beziehun-
gen zu ihm abbrach. Das führte zu Depressionen und
neuen Abstürzen. 1981 erschienen letzte Erzählungen
„Musik für Chamäleons“. Am 25. August 1984, von
Drogen, Halluzinationen und Kliniken zermürbt,
starb Truman Capote in Los Angeles an einer Über-
dosis Tabletten.
Truman Capote

Frühstück bei Tiffany


ROMAN

Aus dem Amerikanischen neu übersetzt


von Heidi Zerning
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie.
Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
http://dnbdnbb.de abrufbar.

Der vorliegenden Ausgabe liegt die Textfassung der im


Kein & Aber Verlag erschienenen Neuübersetzung zugrunde.
Titel der amerikanischen Originalausgabe:
Breakfast at Tiffany’s; Random House, New York
Lizenzausgabe der Süddeutschen Zeitung GmbH, München
für die SüddeutscheZeitung | Bibliothek 2007
Copyright © 1950, 1951, 1956, 1958 and copyright renewed 1978,
1979, 1984 by Truman Capote,
copyright renewed 1986 by Alan U. Schwartz
This translation published by arrangement with Random House,
an imprint of Random House Publishing Group,
a division of Random House, Inc.
Copyright © 2006 by Kein & Aber Verlag Zürich
Titelfoto: Getty Images / Paramount Pictures
Autorenfoto: Getty Images / Ray Fisher
Klappentext: Dr. Harald Eggebrecht
Gestaltung: Eberhart Wolf
Grafik: Dennis Schmidt
Projektleitung: Dirk Rumberg
Produktmanagement: Sabine Sternagel
Satz: vmi, Manfred Zech
Herstellung: Hermann Weixler, Thekla Neseker
Druck und Bindearbeiten: Ebner & Spiegel, Ulm
Printed in Germany
ISBN 978-3-86615-501-5
I ch bin jemand, den es immer wieder zu den Orten hin-
zieht, wo er früher gewohnt hat, zu den Häusern und
ihrer Umgebung. So steht in der Upper Eastside das Haus
aus rotbraunem Sandstein mit meiner allerersten New
Yorker Wohnung während der ersten Kriegsjahre. Sie be-
stand aus nichts weiter als einem Zimmer, vollgestopft mit
Möbeln vom Dachboden, darunter ein Sofa und Polster-
sessel, bezogen mit jenem kratzigen roten Samt, der an
heiße Tage in der Eisenbahn erinnert. Die Wände waren
nur verputzt und hatten die Farbe von Kautabakspucke.
Überall, sogar im Badezimmer, hingen uralte, braunfle-
ckige Kupferstiche von römischen Ruinen. Das einzige
Fenster blickte auf eine Feuertreppe. Trotzdem geriet ich
jedes Mal in Hochstimmung, wenn ich den Wohnungs-
schlüssel in meiner Tasche spürte; bei all ihrer Düsternis
war sie dennoch eine eigene Wohnung, meine erste, und
meine Bücher waren da und Becher mit Bleistiften zum
Anspitzen, alles, was ich brauchte, so fand ich, um der
Schriftsteller zu werden, der ich sein wollte.
Es kam mir zu jener Zeit nie in den Sinn, über Holly
Golightly zu schreiben, und es fiele mir wahrscheinlich
auch jetzt nicht ein, wenn nicht durch ein Gespräch mit
Joe Bell die Erinnerungen an sie wieder lebendig gewor-
den wären.
Holly Golightly war damals eine Mieterin in dem alten
Sandsteinhaus; ihre Wohnung lag direkt unter meiner.
Und Joe Bell, der betrieb gleich um die Ecke in der Le-
xington Avenue eine Bar; was er immer noch tut. Holly

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und ich, wir gingen beide sechs, sieben Mal am Tag dort-
hin, nicht auf einen Drink, jedenfalls nicht immer, son-
dern um zu telefonieren: während des Krieges war es
schwer, einen privaten Telefonanschluss zu ergattern.
Außerdem war Joe Bell so nett, Nachrichten für uns ent-
gegenzunehmen, was in Hollys Fall keine kleine Gefäl-
ligkeit war, denn sie bekam haufenweise welche.
Natürlich ist das alles lange her, und bis vor einer Wo-
che hatte ich Joe Bell seit Jahren nicht mehr gesehen. Hin
und wieder sprachen wir uns, und wenn ich in der Ge-
gend war, schaute ich in seiner Bar vorbei; aber eigentlich
waren wir nie besonders gute Freunde, sondern beide nur
Freunde von Holly Golightly. Joe Bell hat kein einfaches
Naturell, das gibt er selber zu, er sagt, es liegt daran, dass
er Junggeselle ist und zu viel Magensäure hat. Jeder, der
ihn kennt, wird bestätigen, dass es nicht einfach ist, mit
ihm ins Gespräch zu kommen. Und unmöglich, wenn
man nicht seine Steckenpferde teilt, zu denen Holly ge-
hört. Andere sind: Eishockey, Weimaraner Jagdhunde,
Our Gal Sunday (eine Familienserie, die er sich seit fünf-
zehn Jahren anhört) und Gilbert und Sullivan – er be-
hauptet, mit dem einen oder dem anderen verwandt zu
sein, ich weiß nicht mehr, mit welchem von beiden.
Als am vorigen Dienstag spätnachmittags das Telefon
klingelte und ich »Hier ist Joe Bell« hörte, wusste ich
deshalb, dass es sich um Holly drehen musste, auch wenn
er sie nicht erwähnte, sondern nur sagte: »Kannst du
rasch mal hier vorbeischauen? Es ist wichtig«, wobei sich
seine Krächzstimme vor Aufregung überschlug.
Bei strömendem Oktoberregen nahm ich mir ein Taxi,
und während der Fahrt dachte ich sogar, sie könnte dort
sein, ich würde Holly Wiedersehen.

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Aber nur der Wirt war da, sonst niemand. In der Bar
von Joe Bell geht es im Vergleich zu den meisten anderen
Bars in der Lexington Avenue ziemlich ruhig zu. Sie
brüstet sich weder mit Neonlicht noch mit einem Fern-
seher. Zwei alte Spiegel geben das Wetter draußen auf der
Straße wieder; und hinter dem Tresen, in einer Nische,
umringt von Photos aller Eishockeystars, steht immer ei-
ne große Vase mit frischen Blumen, die Joe Bell höchst-
selbst mit hausfraulicher Sorgfalt arrangiert. Was er übri-
gens gerade tat, als ich hereinkam.
»Selbstverständlich«, sagte er und steckte eine Gladiole
tief in die Vase, »selbstverständlich hätte ich dich nicht
hergelotst, wenn ich nicht gerne deine Meinung hören
würde. Aber es ist merkwürdig. Etwas sehr Merkwürdi-
ges ist passiert.«
»Du hast was von Holly gehört?«
Er spielte mit einem Blatt, als sei er unsicher, wie er
darauf antworten sollte. Er ist ein kleiner Mann mit vol-
lem, kräftigem weißem Haar, und sein knochiger, lang
gezogener Kopf würde zu einem hoch gewachsenen
Mann wesentlich besser passen; sein Gesicht scheint im-
mer sonnengebräunt zu sein; jetzt wurde es sogar noch
röter. »Was von ihr gehört, kann ich nicht direkt sagen.
Ich meine, ich weiß nicht. Deshalb will ich ja deine Mei-
nung hören. Komm, ich mach dir einen Cocktail. Was
ganz Neues. Nennt sich Weißer Engel«, sagte er und mix-
te halb Wodka, halb Gin, kein Wermut. Während ich das
Ergebnis trank, stand Joe Bell da, lutschte an einem
Tums-Kaubonbon und überlegte, was er zu erzählen hat-
te. Dann: »Erinnerst du dich an einen gewissen Mr. I. Y.
Yunioshi? Einen Herrn aus Japan.«
»Aus Kalifornien«, sagte ich, mich bestens an Mr. Yu-

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nioshi erinnernd. Er ist Photograph bei einer Illustrier-
ten, und in der Zeit unserer Bekanntschaft bewohnte er
das Atelier im obersten Stock des Sandsteinhauses.
»Bring mich nicht durcheinander. Ich wollte nur wis-
sen, ob du weißt, wen ich meine. So. Und wer anders als
ebenderselbe Mr. I. Y. Yunioshi kommt gestern Abend
hier reingeschneit? Seit über zwei Jahren hab’ ich den
nicht mehr gesehen. Und was meinst du wohl, wo der in
den zwei Jahren war?«
»In Afrika.«
Joe Bell hörte auf, seinen Tums zu zerkauen, seine Au-
gen verengten sich. »Woher weißt du das?«
»Hab’s bei Winchell gelesen.« Was den Tatsachen ent-
sprach.
Er zog die Kasse auf und holte einen gelben Umschlag
heraus. »Hast du das hier auch bei Winchell gelesen?«
In dem Umschlag steckten drei Photos, mehr oder we-
niger die gleichen, obwohl aus verschiedenen Winkeln
aufgenommen: ein hoch gewachsener, graziler Neger in
einem Kalikohemd hielt mit scheuem, aber eitlem Lä-
cheln eine seltsame Holzskulptur ins Bild, einen ge-
schnitzten länglichen Kopf, den Kopf eines Mädchens,
die Haare glatt und kurz geschnitten wie bei einem jun-
gen Mann, die glatten Holzaugen zu groß und schräg in
dem spitz zulaufenden Gesicht, der Mund breit und über-
groß, an einen Clownsmund erinnernd. Auf den ersten
Blick ähnelte er den meisten primitiven Schnitzereien;
aber dann doch nicht, denn er war Holly Golightly zum
Verwechseln ähnlich, zumindest so ähnlich, wie ein
dunkles, regloses Ding ihr sein konnte.
»Na, was hältst du davon?«, sagte Joe Bell, zufrieden
mit meiner Verblüffung.

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»Das sieht aus wie sie.«
»Hör mal, Junge«, und er schlug mit der flachen Hand
auf die Bar, »das ist sie. So sicher wie das Amen in der
Kirche. Der kleine Japs wusste, dass sie’s ist, sobald er sie
gesehen hat.«
»Er hat sie gesehen? In Afrika?«
»Na ja, bloß diese Skulptur. Aber das kommt aufs sel-
be raus. Lies selbst«, sagte er und drehte eins der Photos
um. Auf der Rückseite stand geschrieben: Holzschnitze-
rei, S-Stamm, Tococul, East Anglia, erster Weihnachtsfei-
ertag 1956.
Er sagte: »Also der Japs sagt so«, und erzählte folgende
Geschichte: Am ersten Weihnachtsfeiertag war Mr. Yuni-
oshi mit seiner Kamera durch Tococul gekommen, ein
Dorf irgendwo im Nirgendwo und ohne Belang, nur eine
Ansammlung von Lehmhütten mit Affen dazwischen
und Geiern auf den Dächern. Er hatte schon beschlossen,
weiterzuziehen, als er plötzlich einen Neger vor einer
Hütte hocken und Affen auf einen Spazierstock schnit-
zen sah. Mr. Yunioshi war beeindruckt und wollte weite-
re seiner Arbeiten sehen. Woraufhin er den Mädchenkopf
gezeigt bekam: und das Gefühl hatte, so erzählte Joe Bell,
er sei in einen Traum geraten. Aber als er anbot, ihn zu
kaufen, umschloss der Neger mit der hohlen Hand seine
Geschlechtsteile (offenbar eine zärtliche Geste, vergleich-
bar der Hand auf dem Herz) und sagte nein. Ein Pfund
Salz und zehn Dollar, eine Armbanduhr und zwei Pfund
Salz und zwanzig Dollar, nichts konnte ihn umstimmen.
Mr. Yunioshi war jedoch fest entschlossen, in Erfahrung
zu bringen, wie die Schnitzerei entstanden war. Das kos-
tete ihn sein Salz und seine Uhr, und die Begebenheit
wurde mit Hilfe von Afrikanisch, ein paar Brocken Eng-

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lisch und Zeichensprache geschildert. Aber allem An-
schein nach war im vergangenen Frühjahr eine berittene
Gruppe von drei Weißen aus dem Busch aufgetaucht. Ei-
ne junge Frau und zwei Männer. Die Männer, beide mit
fieberroten Augen und Schüttelfrost, waren gezwungen,
mehrere Wochen lang in einer isolierten Hütte zu liegen,
während die junge Frau, die bald Gefallen an dem Holz-
schnitzer gefunden hatte, dessen Matte teilte.
»Also, das glaub ich nicht«, sagte Joe Bell prüde. »Ich
weiß, sie nahm’s nicht so genau, aber dass sie’s so weit ge-
trieben hat, das glaub ich nicht.«
»Und dann?«
»Dann nichts.« Er zuckte die Achseln. »Irgendwann
ist sie genau so verschwunden, wie sie aufgetaucht ist, auf
einem Pferd davongeritten.«
»Allein oder mit den beiden Männern?«
Joe Bell schloss kurz die Augen. »Mit den beiden
Männern, nehm ich an. Na, und der Japs, der hat sich
landauf, landab nach ihr erkundigt. Aber niemand sonst
hatte sie je gesehen.« Dann war es, als spürte er, wie mei-
ne eigene Enttäuschung sich auf ihn übertrug, und er
wehrte sich dagegen. »Eins musst du zugeben, das ist die
einzige konkrete Nachricht von ihr seit ich weiß nicht,
wie vielen« – er zählte an den Fingern ab: sie langten
nicht – »Jahren. Ich hoffe nur, sie ist reich. Sie muss ja
reich sein. Man muss reich sein, um sich so in Afrika
rumzutreiben.«
»Sie hat Afrika wahrscheinlich nie betreten«, sagte ich
und glaubte es; trotzdem konnte ich sie mir dort vorstel-
len, es sah ihr ähnlich, nach Afrika zu gehen. Und der ge-
schnitzte Kopf: ich betrachtete wieder die Photos.
»Du weißt doch so viel. Wo ist sie?«

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»Tot. Oder im Irrenhaus. Oder verheiratet. Ich glaube,
sie ist verheiratet und ruhiger geworden und vielleicht
genau in dieser Stadt.«
Er überlegte kurz. »Nein«, sagte er und schüttelte den
Kopf. »Ich will dir auch sagen, warum nicht. Wenn sie in
dieser Stadt wäre, hätte ich sie gesehen. Nimm mal einen
Mann, der gern läuft, einen Mann wie mich, einen Mann,
der jetzt seit zehn oder zwölf Jahren durch die Straßen
läuft, und in all den Jahren hält er nach einer Person Aus-
schau, und keine ist je sie, folgert daraus nicht, dass sie
nicht da ist? Ich sehe andauernd Teile von ihr, einen fla-
chen kleinen Hintern, irgendein mageres Mädchen, das
schnell und gerade geht …« Er schwieg, als würde ihm
plötzlich bewusst, wie aufmerksam ich ihn ansah. »Hältst
du mich für plemplem?«
»Ich habe nur nicht gewusst, dass du in sie verliebt
warst. Ich meine, so.«
Sobald ich das gesagt hatte, tat es mir leid; es brachte
ihn in Verlegenheit. Er sammelte die Photos ein und
steckte sie wieder in den Umschlag. Ich sah auf die Uhr.
Ich hatte nichts vor, aber ich fand es besser, zu gehen.
»Warte«, sagte er und ergriff mein Handgelenk. »Si-
cher hab ich sie geliebt. Aber nicht so, dass ich sie anrüh-
ren wollte.« Und ohne zu lächeln, fügte er hinzu: »Nicht,
dass ich an diese Seite der Dinge nicht denke. Sogar in
meinem Alter, und am zehnten Januar werde ich sieben-
undsechzig. Es ist eine merkwürdige Tatsache – aber je
älter ich werde, desto häufiger scheint mir diese Seite der
Dinge durch den Kopf zu gehen. Ich kann mich nicht er-
innern, dass ich als junger Spund so oft daran gedacht ha-
be, nämlich alle zwei Minuten. Je älter man wird, desto
schwerer wird es, Gedanken in die Tat umzusetzen, viel-

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leicht liegt es daran, dass alles im Kopf eingesperrt bleibt
und zur Last wird. Immer wenn ich in der Zeitung davon
lese, dass ein alter Mann sich lächerlich gemacht hat, weiß
ich, es liegt an dieser Last. Aber« – er schenkte sich ein
Schnapsglas voll Whisky ein und leerte es in einem Zug –
»ich werde mich nie lächerlich machen. Und ich schwöre,
mit Holly ist mir so was nie in den Sinn gekommen. Man
kann jemanden lieben, ohne dass es so was ist. Man hält
sich fern wie gegenüber einem Fremden, einem Fremden,
der ein Freund ist.«
Zwei Männer kamen in die Bar, und es schien der rich-
tige Augenblick zu sein, um zu gehen. Joe Bell folgte mir
zur Tür. Er ergriff wieder mein Handgelenk. »Glaubst du
das?«
»Dass du sie nicht anrühren wolltest?«
»Ich meine das mit Afrika.«
In diesem Augenblick konnte ich mich beim besten
Willen nicht an die Geschichte erinnern, sah nur vor mir,
wie sie auf einem Pferd davonritt. »Jedenfalls ist sie fort.«
»Ja«, sagte er und machte die Tür auf. »Einfach fort.«
Draußen hatte der Regen aufgehört, nur noch Nebel
war davon in der Luft, also bog ich um die Ecke und ging
die Straße hinunter, in der das Sandsteinhaus steht. Es ist
eine Straße mit Bäumen, die im Sommer kühle Muster
auf dem Pflaster bilden; aber jetzt waren die Blätter gelb
und fast alle abgefallen, und der Regen hatte sie glitschig
gemacht, man ruschte auf ihnen aus. Das Sandsteinhaus
steht mitten in einer Häuserzeile, gleich neben einer Kir-
che, deren blaue Turmuhr die Stunden schlägt. Es ist seit
meiner Zeit herausgeputzt worden; eine schicke schwarze
Tür hat die alte mit Mattglas ersetzt, und graue, elegante
Fensterläden rahmen die Fenster ein. Niemand von frü-

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her wohnte mehr dort, nur noch Madame Sapphia Spa-
nella, eine Koloratursängerin mit belegter Stimme, die je-
den Nachmittag im Central Park Rollschuh lief. Dass sie
noch da wohnt, weiß ich, weil ich die Stufen hochgegan-
gen bin und mir die Briefkästen angesehen habe. Es war
einer dieser Briefkästen, der mich zum ersten Mal auf
Holly Golightly aufmerksam machte.

Ich wohnte seit ungefähr einer Woche in dem Haus, als


mir auffiel, dass in dem Namensschlitz des Briefkastens,
der zu Wg. 2 gehörte, eine sonderbare Karte steckte. Da-
rauf stand ziemlich Cartier-förmlich gedruckt: Miss Holi-
day Golightly; und darunter, in der Ecke: auf Reisen. Es
quälte mich wie eine Melodie: Miss Holiday Golightly, auf
Reisen.
Eines Nachts, es war schon weit nach zwölf, wurde ich
davon wach, dass Mr. Yunioshi die Treppe hinunterrief.
Da er im obersten Stock wohnte, schallte seine Stimme
von oben bis unten durchs Haus, aufgebracht und streng.
»Miss Golightly! Ich muss protestieren!«
Die antwortende Stimme, die vom Fuß der Treppen
emporstieg, war auf alberne Art jung und machte sich
über sich selbst lustig. »Ach, Herzchen, das tut mir leid.
Ich hab den verflixten Schlüssel verloren.«
»Sie können nicht immer wieder bei mir klingeln. Sie
müssen sich bitte, bitte einen Schlüssel machen lassen.«
»Aber ich verliere sie alle.«
»Ich arbeite, ich muss schlafen«, schrie Mr. Yunioshi.
»Aber immer klingeln Sie bei mir …«
»Ach, bitte nicht böse sein, Sie lieber kleiner Mann: ich
tu’s auch bestimmt nicht wieder. Und wenn Sie mir ver-
sprechen, nicht böse zu sein« – ihre Stimme kam näher,

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sie stieg die Treppe hinauf –, »dann lasse ich Sie vielleicht
die Aufnahmen machen, von denen wir gesprochen ha-
ben.«
Inzwischen war ich vom Bett aufgestanden und hatte
die Tür einen Spalt weit geöffnet. Ich konnte Mr. Yunios-
his Schweigen hören: weil es nämlich von einer hörbaren
Veränderung der Atmung begleitet wurde.
»Wann?«, fragte er.
Das Mädchen lachte. »Irgendwann«, vernuschelte sie
die Antwort.
»Jederzeit«, sagte er und machte seine Tür zu.
Ich ging hinaus in den Flur und beugte mich über das
Treppengeländer, gerade weit genug, um zu sehen, ohne
gesehen zu werden. Sie war immer noch auf der Treppe,
erreichte jetzt den Absatz, und die kunterbunten Farben
ihrer Jungshaare, goldbraune Strähnen, weißblonde und
gelbe Streifen, leuchteten im Licht der Treppenlampe. Es
war ein warmer Abend, beinahe Sommer, und sie trug ein
enges, schlichtes schwarzes Kleid, schwarze Sandaletten
und eine breite Perlenkette, die ihren Hals wie ein Reif
umschloss. Bei all ihrer schicken Magerkeit strahlte sie
eine Haferflocken-Gesundheit aus, eine Seifen- und Zit-
ronen-Reinlichkeit, und auf ihren Wangen lag eine raue
Röte. Sie hatte einen großen Mund und eine Stupsnase.
Eine Sonnenbrille verbarg ihre Augen. Es war ein Ge-
sicht, das nicht mehr ganz in der Kindheit zu Hause war
und schon einer Frau gehörte. Ich schätzte sie auf irgend-
etwas zwischen sechzehn und dreißig; wie sich heraus-
stellte, stand sie zarte zwei Monate vor ihrem neunzehn-
ten Geburtstag.
Sie war nicht allein. Ein Mann folgte ihr hinauf. Die
Art, wie seine plumpe Hand ihre Hüfte umfasste, störte

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mich irgendwie; nicht aus moralischen, sondern aus äs-
thetischen Gründen. Er war klein und breit, das Gesicht
voller Höhensonne und die Haare voller Pomade, ein
Mann in einem Nadelstreifenanzug mit Schulterpolstern
und einer verwelkenden roten Nelke im Knopfloch. Als
ihre Wohnungstür erreicht war, kramte sie auf der Suche
nach dem Schlüssel in ihrer Handtasche und kümmerte
sich gar nicht darum, dass seine dicken Lippen sich an ih-
rem Nacken zu schaffen machten. Endlich jedoch, als sie
den Schlüssel gefunden hatte und ihre Tür aufschloss,
drehte sie sich kameradschaftlich zu ihm um: »Vielen
Dank, Herzchen – das war sehr lieb, mich nach Hause zu
bringen.«
»He, Schatz!«, sagte er, denn sie machte ihm die Tür
vor der Nase zu.
»Ja, Harry?«
»Harry war der andere. Ich bin Sid. Sid Arbuck. Du
magst mich doch.«
»Ich bete Sie an, Mr. Arbuck. Aber jetzt gute Nacht,
Mr. Arbuck.«
Mr. Arbuck schaute ungläubig drein, als die Tür fest
zugemacht wurde. »He, Schatz, lass mich rein, Schatz.
Du magst mich doch, Schatz. Ich bin bei allen beliebt.
Hab ich nicht die Rechnung bezahlt, für fünf Leute, alles
deine Freunde, die ich noch nie gesehen hatte? Gibt mir
das nicht das Recht, von dir gemocht zu werden? Du
magst mich doch, Schatz.«
Er klopfte sanft an die Tür, dann lauter; schließlich
ging er mehrere Schritte zurück, in vornübergebeugter
und drohender Haltung, als wollte er sie einrennen. Doch
stattdessen stürmte er die Treppe hinunter und schlug mit
der Faust gegen die Wand. Gerade als er unten ange-

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kommen war, ging die Tür des Mädchens auf, und sie
streckte den Kopf heraus.
»Ach, Mr. Aarrbuck …«
Er drehte sich um, ein erleichtertes Lächeln ölte sein
Gesicht: Sie hatte nur Spaß gemacht.
»Das nächste Mal, wenn ein Mädchen ein bisschen
Kleingeld für die Damentoilette haben möchte«, rief sie,
überhaupt nicht spaßend, »hören Sie auf meinen Rat,
Herzchen: geben Sie ihr nicht bloß zwanzig Cent!«

Sie hielt ihr Versprechen gegenüber Mr. Yunioshi; oder


ich nehme an, dass sie nicht mehr bei ihm klingelte, denn
im Laufe der nächsten Tage gewöhnte sie sich an, bei mir
zu klingeln, manchmal um zwei, drei oder vier Uhr mor-
gens: es kümmerte sie nicht im Mindesten, zu welcher
Stunde sie mich aus dem Bett holte, damit ich auf den
Summer drückte, der die Haustür freigab. Da ich nur
wenige Freunde hatte und keine, die so spät vorbeikom-
men würden, wusste ich immer, dass sie es war. Aller-
dings ging ich die ersten paar Male an die Tür, aus der Be-
fürchtung, es könnte eine schlechte Nachricht sein, ein
Telegramm; und stets rief Miss Golightly hinauf: »Tut
mir leid, Herzchen – hab den Schlüssel vergessen.«
Natürlich waren wir uns noch nie begegnet. Und das,
obwohl wir auf der Treppe und auf der Straße direkt an-
einander vorbeigelaufen waren; aber sie schien mich nie
richtig zu sehen. Sie ging nie ohne Sonnenbrille, sie war
immer sehr gepflegt, und ein konsequenter guter Ge-
schmack bestimmte die Schlichtheit ihrer Kleidung, die
Blau- und Grautöne ohne Glanz, die sie selbst so zum
Leuchten brachten. Man hätte sie für ein Photomodell
oder vielleicht für eine junge Schauspielerin halten kön-

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nen, nur dass ihr, nach ihrem Tages- und Nachtablauf zu
urteilen, für keins von beidem genug Zeit blieb.
Hin und wieder lief sie mir außerhalb unseres Viertels
über den Weg. Einmal lud mich ein Verwandter, der zu
Besuch weilte, ins »21« ein, und dort, an einem bevorzug-
ten Tisch, umgeben von vier Herren, keiner davon Mr.
Arbuck, auch wenn alle mit ihm austauschbar waren, saß
Miss Golightly und kämmte sich träge, in aller Öffent-
lichkeit, die Haare; und ihr Gesichtsausdruck, ein unbe-
wusstes Gähnen, versetzte der Erregung, die ich verspür-
te, weil ich in einem so piekfeinen Etablissement dinierte,
einen Dämpfer. An einem anderen Abend mitten im
Sommer trieb mich die Hitze aus meinem Zimmer hinaus
auf die Straßen. Ich ging die Third Avenue hinunter zur
Fifty-first Street, wo sich ein Antiquitätengeschäft befand
mit einem Gegenstand im Fenster, den ich bewunderte:
ein Palast von einem Vogelkäfig, eine Moschee mit Mina-
retten und Bambusgemächern, die sich danach sehnten,
von gesprächigen Papageien bewohnt zu werden. Aber
der Preis betrug dreihundertfünfzig Dollar. Auf dem
Heimweg fiel mir eine Schar von Taxifahrern auf, die sich
vor P. J. Clarke’s Saloon versammelt hatten, offenbar an-
gezogen von einer fröhlichen Gruppe whiskyäugiger aust-
ralischer Offiziere, die Waltzing Matilda schmetterten.
Während sie sangen, wechselten sie sich darin ab, mit ei-
nem Mädchen über das Kopfsteinpflaster unter der
Hochbahn zu wirbeln; und das Mädchen, natürlich Miss
Golightly, schwebte in ihren Armen umher wie ein Sei-
dentuch.
Aber wenn Miss Golightly außer als Türöffner von
meiner Existenz keinerlei Notiz nahm, so wurde ich im
Laufe des Sommers ein Experte für ihre. Durch die Beo-

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bachtung des Mülleimers draußen vor ihrer Tür entdeckte
ich, dass ihre regelmäßige Lektüre aus Boulevardzeitun-
gen, Reiseprospekten und Horoskopzeichnungen be-
stand; dass sie eine esoterische Zigarettenmarke namens
Picayunes rauchte; von Hüttenkäse und Toast Melba leb-
te; und dass ihr vielfarbiges Haar zum Teil selbsterzeugt
war. Aus derselben Quelle ging hervor, dass sie stapelwei-
se Feldpostbriefe erhielt. Die waren immer zu Streifen
zerrissen wie für Lesezeichen. Gelegentlich holte ich mir
im Vorbeigehen ein Lesezeichen heraus. Denk an und
fehlst mir und Regen und schreib bitte und verdammte
und gottverdammte waren die Wörter, die am häufigsten
auf diesen Streifen vorkamen, und einsam und liebe.
Außerdem hatte sie eine Katze und spielte Gitarre. An
Tagen mit starkem Sonnenlicht wusch sie sich die Haare,
saß dann zusammen mit der Katze, einem rot getigerten
Kater, draußen auf der Feuertreppe und schlug mit dem
Daumen die Gitarre, während ihre Haare trockneten.
Immer wenn ich diese Musik hörte, stellte ich mich still
ans Fenster. Sie spielte sehr gut, und manchmal sang sie
auch dazu. Sang mit der heiseren, gebrochenen Stimme
eines heranwachsenden Jungen. Sie kannte alle Musical-
hits, Cole Porter und Kurt Weill; besonders gern mochte
sie die Songs aus Oklahoma, die in jenem Sommer neu
und überall zu hören waren. Aber es gab Augenblicke, da
spielte sie Lieder, bei denen man sich fragte, wo sie die
gelernt hatte, ja, wo sie selbst eigentlich herkam. Rauzärt-
liche, umherirrende Melodien mit Worten, die nach Süd-
staaten-Nadelwäldern oder der Prärie schmeckten. Eines
davon ging: Will nimmer schlafen, Will nimmer sterben,
Will immer nur wandern durch des Himmels grüne Auen;
und dieses schien ihr das Liebste zu sein, denn oft sang

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sie es lange nachdem ihre Haare trocken waren, lange
nachdem die Sonne untergegangen war und in den Fens-
tern elektrisches Licht aufschien.
Aber mit unserer Bekanntschaft ging es nicht voran,
erst im September, an einem Abend, durch den bereits die
ersten kleinen Wellen herbstlicher Kühle rollten. Ich war
im Kino gewesen, nach Hause gekommen und mit einem
Bourbon-Schlaftrunk und dem neuesten Simenon zu Bett
gegangen: so rundum meine Vorstellung von Gemütlich-
keit, dass ich ein Gefühl von Unbehagen nicht verstehen
konnte, welches sich verstärkte, bis ich mein Herz klop-
fen hörte. Es war ein Gefühl, von dem ich gelesen und
über das ich geschrieben hatte, das ich aber noch nie zu-
vor erlebt hatte. Das Gefühl, beobachtet zu werden. Das
Gefühl, jemand ist im Zimmer. Dann: plötzlich wurde ans
Fenster gepocht, etwas geisterhaft Graues war kurz zu se-
hen: ich verschüttete den Whisky. Es dauerte ein Weil-
chen, bis ich mich dazu überwinden konnte, das Fenster
zu öffnen und Miss Golightly zu fragen, was sie wollte.
»Ich habe einen ganz schrecklichen Mann unten«, sagte
sie und stieg von der Feuertreppe ins Zimmer. »Ich meine,
er ist süß, wenn er nicht betrunken ist, aber wenn er erst
mal anfängt, den vino zu schlucken, oh Gott, quel Biest!
Wenn ich eines hasse, dann sind es Männer, die beißen.«
Sie schob einen grauen Flanellmorgenrock von der Schul-
ter, um mir den Beweis dafür zu zeigen, was passiert,
wenn ein Mann beißt. Der Morgenrock war alles, was sie
anhatte. »Tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe. Aber
als das Biest so lästig wurde, bin ich einfach aus dem Fens-
ter geklettert. Ich glaube, er denkt, ich bin im Badezim-
mer, wobei mir völlig schnurz ist, was er denkt, zum Teu-
fel mit ihm, irgendwann wird er müde, irgendwann wird

21
er einschlafen, mein Gott, muss er auch, acht Martinis vor
dem Essen und genug Wein, um einen Elefanten zu wa-
schen. Hören Sie, Sie können mich rauswerfen, wenn Sie
wollen. Reichlich unverschämt von mir, hier so reinzu-
platzen. Aber die Feuertreppe war verdammt eisig. Und
Sie haben so gemütlich ausgesehen. Wie mein Bruder
Fred. Wir haben immer zu viert in einem Bett geschlafen,
und er war der Einzige, bei dem ich mich in einer kalten
Nacht ankuscheln durfte. Übrigens, haben Sie was dage-
gen, wenn ich Sie Fred nenne?« Sie war inzwischen mitten
ins Zimmer gekommen, wo sie stehen blieb und mich mu-
sterte. Ich hatte sie noch nie ohne ihre Sonnenbrille gese-
hen, und jetzt wurde deutlich, dass darin eingeschliffene
Gläser sein mussten, denn ohne sie blinzelten ihre Augen
taxierend wie die eines Juweliers. Es waren große Augen,
ein bisschen blau, ein bisschen grün, gesprenkelt mit win-
zigen braunen Tupfen: vielfarbig wie ihre Haare; und wie
ihre Haare verstrahlten sie ein lebhaftes, warmes Licht.
»Wahrscheinlich halten Sie mich für sehr unverfroren.
Oder très fou. Oder so was.«
»Überhaupt nicht.«
Sie schien enttäuscht zu sein. »Doch, das tun Sie. Das
tun alle. Ich hab nichts dagegen. Es ist nützlich.«
Sie setzte sich in einen der wackeligen roten Samtses-
sel, zog die Beine hoch und schaute sich im Zimmer um,
wobei sie die Augen noch stärker zusammenkniff. »Wie
können Sie das ertragen? Das ist ja ein Gruselkabinett.«
»Ach, man gewöhnt sich an alles«, sagte ich und ärger-
te mich über mich selbst, denn eigentlich war ich stolz
auf die Wohnung.
»Ich nicht. Ich werde mich nie an irgendwas gewöh-
nen. Alle, die’s tun, könnten genauso gut tot sein.« Ihre

22
tadelnden Augen betrachteten wieder das Zimmer. »Was
machen Sie hier den ganzen Tag?«
Ich zeigte zu einem Tisch, auf dem sich Bücher und
Papiere stapelten. »Ich schreibe.«
»Ich dachte, Schriftsteller wären ziemlich alt. Sicher, Sa-
royan ist nicht alt. Ich hab ihn auf einer Party kennenge-
lernt, und er ist eigentlich überhaupt nicht alt. Also wenn
er«, sagte sie nachdenklich, »sich den Schnurrbart kürzer
schneiden würde … übrigens, ist Hemingway alt?«
»In den Vierzigern, würde ich denken.«
»Nicht schlecht. Männer erregen mich erst, wenn sie
über zweiundvierzig sind. Ich kenne eine blöde Ziege, die
mir immer wieder sagt, ich müsste zum Seelenklempner;
sie sagt, ich habe einen Vaterkomplex. Das ist natürlich
merde. Ich habe mir einfach angewöhnt, ältere Männer zu
mögen, und das war das Klügste, was ich je getan habe.
Wie alt ist W. Somerset Maugham?«
»Ich weiß nicht genau. Über sechzig.«
»Nicht schlecht. Ich bin noch nie mit einem Schrift-
steller im Bett gewesen. Nein, Moment: kennen Sie Ben-
ny Shacklett?« Sie runzelte die Stirn, als ich den Kopf
schüttelte. »Komisch. Er hat fürchterlich viel fürs Radio
geschrieben. Aber quel rat. Sagen Sie, sind Sie ein richti-
ger Schriftsteller?«
»Das hängt davon ab, was Sie unter richtig verstehen.«
»Na, Herzchen, kauft irgendjemand das, was Sie
schreiben?«
»Noch nicht.«
»Ich werde Ihnen helfen«, sagte sie. »Doch, das kann
ich. Denken Sie bloß an all die Leute, die ich kenne, die
ihrerseits Leute kennen. Ich werde Ihnen helfen, weil Sie
wie mein Bruder Fred aussehen. Nur kleiner. Ich hab ihn

23
nicht mehr gesehen, seit ich von zu Hause weggegangen
bin, da war ich vierzehn und er schon eins achtundacht-
zig. Meine anderen Brüder sind eher so groß wie Sie, also
kleine Stöpsel. Es war die Erdnussbutter, die Fred so
groß gemacht hat. Alle hielten es für verrückt, wie er sich
mit Erdnussbutter vollgestopft hat; ihn kümmerte nichts
auf der Welt, nur Pferde und Erdnussbutter. Aber er ist
nicht verrückt, nur lieb und verträumt und schwer von
Begriff; er war seit drei Jahren in der achten Klasse, als
ich abgehauen bin. Ich hoffe bloß, die Armee ist großzü-
gig mit ihrer Erdnussbutter. Wobei mir einfällt, ich sterbe
vor Hunger.«
Ich zeigte auf eine Schale mit Äpfeln und fragte sie
gleichzeitig, wie und warum sie so früh von zu Hause
weggegangen war. Sie sah mich verständnislos an und
rieb sich die Nase, als juckte sie: eine Geste, die ich nach
vielen Wiederholungen als ein Zeichen dafür erkannte,
dass ihr etwas zu weit ging. Wie viele Menschen mit einer
ausgeprägten Neigung, freiwillig vertrauliche Informa-
tionen anzubieten, machte sie alles, was einer direkten
Frage, einem Festnageln gleichkam, argwöhnisch. Sie biss
in einen Apfel und sagte: »Erzählen Sie mir etwas, was Sie
geschrieben haben. Die Handlung.«
»Das ist eine der Schwierigkeiten. Was ich schreibe,
lässt sich nicht so ohne weiteres erzählen.«
»Zu unanständig?«
»Vielleicht gebe ich Ihnen mal eine Erzählung zu lesen.«
»Whisky und Äpfel passen zusammen. Gießen Sie mir
welchen ein, Herzchen. Dann können Sie mir eine vorle-
sen.«
Sehr wenige Autoren, besonders nicht die unveröffent-
lichten, können einer Einladung widerstehen, vorzulesen.

24
Ich goss uns beiden einen Whisky ein, ließ mich in einem
Sessel ihr gegenüber nieder und begann, mit etwas zittri-
ger Stimme durch eine Kombination aus Lampenfieber
und Begeisterung: es war eine neue Erzählung, ich hatte
sie am Tag zuvor beendet, und das unvermeidliche Gefühl
der Unzulänglichkeit hatte sich noch nicht einstellen kön-
nen. Sie handelte von zwei Frauen, die sich ein Haus tei-
len, Lehrerinnen, von denen die eine, als die andere sich
verlobt, mit anonymen Briefen einen Skandal auslöst, der
die Heirat verhindert. Während ich las, warf ich hin und
wieder einen verstohlenen Blick auf Holly, und jedes Mal
zog sich mein Herz zusammen. Sie zappelte herum. Sie
zerpflückte die Zigarettenstummel im Aschenbecher, sie
betrachtete ihre Fingernägel, als sehnte sie sich nach einer
Feile; schlimmer noch, als ich endlich ihr Interesse ge-
wonnen zu haben schien, bedeckte ein verräterischer Film
ihre Augen, als überlegte sie, ob sie die Schuhe kaufen
sollte, die sie in einem Schaufenster gesehen hatte.
»Ist das das Ende?«, fragte sie und wachte auf. Sie such-
te nach weiteren Worten. »Also Lesbierinnen selbst mag
ich. Sie machen mir überhaupt keine Angst. Aber Ge-
schichten über Lesbierinnen langweilen mich zu Tode. Ich
kann mich einfach nicht in sie hineinversetzen. Also wirk-
lich, Herzchen«, sagte sie, weil ich völlig ratlos drein-
schaute, »wenn es darin nicht um zwei kesse Väter geht,
worum zum Teufel geht es dann?«
Aber ich hatte keine Lust, den Fehler, die Erzählung
vorgelesen zu haben, durch die weitere Peinlichkeit zu
verschlimmern, sie zu erklären. Dieselbe Eitelkeit, die zu
dieser Bloßstellung geführt hatte, zwang mich jetzt, Holly
als unsensible, hirnlose Angeberin abzutun.
»Übrigens«, sagte sie, »kennen Sie zufällig irgendwel-

25
che netten Lesbierinnen? Ich suche eine Mitbewohnerin.
Lachen Sie nicht. Ich bin schrecklich unordentlich, aber
ich kann mir einfach kein Dienstmädchen leisten, und
Lesbierinnen sind eigentlich wunderbare Hausfrauen, sie
lieben es, die ganze Arbeit zu tun, man braucht sich nie
darum zu kümmern, auszufegen oder den Kühlschrank
abzutauen oder die Wäsche wegzubringen. Ich hatte in
Hollywood eine Mitbewohnerin, die hat in Wildwestfil-
men mitgespielt, und alle nannten sie den Einsamen Rei-
ter; aber eines muss ich ihr lassen, sie war besser als ein
Mann im Haus. Natürlich haben viele Leute gedacht, ich
muss auch ein Stück weit andersrum sein. Und natürlich
bin ich das. Alle sind das: ein Stück weit. Na und? Das hat
noch keinen Mann abgeschreckt, im Gegenteil, es scheint
sie anzuspornen. Nehmen Sie nur den Einsamen Reiter,
die ist zum zweiten Mal verheiratet. Meistens heiraten
Lesbierinnen nur einmal, um des Namens willen. Es
scheint sehr viel Ansehen mit sich zu bringen, hinterher
Mrs. Sowieso zu heißen. Das ist nicht wahr!« Sie starrte
den Wecker auf dem Tisch an. »Es kann nicht halb fünf
sein!«
Das Fenster wurde blau. Eine Sonnenaufgangsbrise
plusterte die Vorhänge.
»Welcher Tag ist heute?«
»Donnerstag.«
»Donnerstag.« Sie stand auf. »Mein Gott«, sagte sie
und setzte sich stöhnend wieder hin. »Das ist ja grauen-
haft.«
Ich war müde genug, um nicht neugierig zu sein. Ich
legte mich aufs Bett und schloss die Augen. Trotzdem
war es unwiderstehlich: »Was ist so grauenhaft am Don-
nerstag?«

26
»Nichts. Nur dass ich nie genau weiß, wann er kommt.
Am Donnerstag muss ich nämlich den Acht-Uhr-
fünfundvierzig erwischen. Die nehmen es sehr genau mit
der Besuchszeit, wenn man also um zehn da ist, bleibt ei-
nem eine Stunde, bevor die armen Männer zum Mittages-
sen müssen. Stellen Sie sich das vor, Mittagessen um elf.
Man kann auch um zwei hin, und das wäre mir viel lieber,
aber er legt Wert darauf, dass ich morgens komme, er sagt,
das richtet ihn für den ganzen Tag auf. Ich muss unbe-
dingt wach bleiben«, sagte sie und kniff sich in die Wan-
gen, bis darauf rote Rosen erblühten, »es bleibt nicht ge-
nug Zeit, um zu schlafen, ich würde aussehen wie
schwindsüchtig, wie eine verfallende Mietskaserne, und
das wäre ganz gemein: man kann einfach nicht mit grü-
nem Gesicht in Sing-Sing erscheinen.«
»Da gebe ich Ihnen Recht.« Meine Wut auf sie wegen
meiner Erzählung ebbte ab; sie fesselte mich wieder.
»Alle Besucher geben sich wirklich Mühe, so gut wie
möglich auszusehen, und das ist so lieb, es ist ganz rüh-
rend, wie die Frauen ihre hübschesten Sachen tragen, ich
meine, auch die alten und die ganz armen, sie geben sich
die größte Mühe, schön auszusehen und auch gut zu rie-
chen, und ich liebe sie dafür. Ich liebe auch die Kinder,
besonders die farbigen. Ich meine die Kinder, die die
Frauen mitbringen. Es müsste traurig sein, Kinder dort
zu sehen, aber das ist es nicht, sie haben Schleifen im
Haar und blank geputzte Schuhe, man könnte meinen, es
gibt gleich Eiscreme, und manchmal ist es auch so im Be-
sucherraum, wie auf einem Fest. Jedenfalls ist es nicht wie
im Film: Sie wissen schon, finsteres Geflüster durch ein
Gitter. Es gibt kein Gitter, nur einen Tresen zwischen uns
und denen, und die Kinder können sich draufstellen, da-

27
mit sie umarmt werden können, und um sich zu küssen,
braucht man sich nur vorzubeugen. Was ich am liebsten
mag, sie freuen sich so, sich zu sehen, sie haben sich so
viel zu erzählen aufgehoben, es kann gar keine Langewei-
le aufkommen. Sie lachen immer wieder und halten sich
bei den Händen. Hinterher ist es anders«, sagte sie. »Ich
sehe sie im Zug. Sie sitzen still da und schauen, wie der
Fluss vorbeizieht.« Sie steckte eine Haarsträhne in den
Mundwinkel und kaute nachdenklich darauf herum. »Ich
halte Sie wach. Schlafen Sie ein.«
»Bitte. Es interessiert mich.«
»Das weiß ich. Deshalb möchte ich, dass Sie einschla-
fen. Denn wenn ich weitermache, werde ich Ihnen von
Sally erzählen. Ich bin nicht sicher, ob das ganz korrekt
wäre.« Sie kaute stumm an ihren Haaren. »Die haben mir
nicht verboten, es jemandem zu erzählen. Nicht aus-
drücklich. Und es ist komisch. Vielleicht können Sie es in
einer Geschichte mit anderen Namen und so weiter un-
terbringen. Hören Sie zu, Fred«, sagte sie und nahm sich
noch einen Apfel, »Sie müssen die Hand aufs Herz legen
und Ihren Ellbogen küssen …«
Vielleicht können Schlangenmenschen ihren Ellbogen
küssen; Holly musste sich mit dem Versuch zufrieden
geben.
»Kann sein«, sagte sie mit dem Mund voll Apfel, »dass
Sie in den Zeitungen von ihm gelesen haben. Er heißt Sal-
ly Tomato, und ich spreche besser Jiddisch als er Eng-
lisch; aber er ist ein lieber alter Mann, schrecklich fromm.
Ohne seine Goldzähne würde er aussehen wie ein
Mönch; er sagt, er betet jeden Abend für mich. Natürlich
war er nie mein Liebhaber; was das angeht, ich habe ihn
erst kennengelernt, als er schon im Gefängnis saß. Aber

28
jetzt bete ich ihn an, schließlich besuche ich ihn seit sie-
ben Monaten jeden Donnerstag, und ich glaube, ich wür-
de sogar hinfahren, wenn ich von ihm kein Geld dafür
kriegte. Der ist faulig«, sagte sie und warf den Rest des
Apfels aus dem Fenster. Ȇbrigens, ich kannte Sally
schon, aber nur vom Sehen. Er ist immer in Joe Bells Bar
gekommen, die um die Ecke: hat nie mit irgendwem ge-
redet, stand einfach da, wie ein Mann, der nur in Hotel-
zimmern lebt. Aber es ist komisch, wenn ich mich zu-
rückerinnere, dann wird mir klar, wie genau er mich beo-
bachtet haben muss, denn gleich nach seiner Verurteilung
(Joe Bell hat mir sein Photo in der Zeitung gezeigt, die
Schwarze Hand, die Mafia. All solch Quatsch: aber er hat
fünf Jahre bekommen) kam das Telegramm von seinem
Rechtsanwalt. Da stand drin, ich sollte mich sofort an ihn
wenden, um etwas zu meinen Gunsten zu erfahren.«
»Haben Sie gedacht, jemand hätte Ihnen eine Million
vermacht?«
Ȇberhaupt nicht. Ich hab damit gerechnet, das Kauf-
haus Bergdorf versucht, meine Schulden einzutreiben.
Aber ich bin das Risiko eingegangen und hab mich mit
diesem Rechtsanwalt verabredet (wenn er überhaupt ei-
ner ist, was ich bezweifle, da er gar kein Büro zu haben
scheint, nur ein Telefon mit Auftragsdienst, und er will
sich immer im Hamburger-Himmel mit einem treffen:
weil er nämlich so dick ist, er kann zehn Hamburger ver-
drücken und zwei Schalen mit eingelegtem Gemüse und
einen ganzen Zitronenbaiserkuchen). Er hat mich gefragt,
wie es mir gefallen würde, einen einsamen alten Mann
aufzuheitern und gleichzeitig hundert Dollar die Woche
einzustecken. Ich hab ihm gesagt, ›Herzchen, Sie haben
die falsche Miss Golightly erwischt, ich bin keine Kran-

29
kenschwester, die nebenbei Nummern schiebt.‹ Ich war
auch nicht von seinem Honorarangebot beeindruckt; mit
einem Gang zur Damentoilette kann man genauso viel
verdienen: jeder Mann mit ein bisschen Geschmack gibt
einem fünfzig fürs Klo, und ich verlange immer noch Ta-
xigeld, das sind noch mal fünfzig. Aber dann hat er mir
gesagt, sein Klient ist Sally Tomato. Er hat gesagt, der lie-
be alte Sally hätte mich schon lange à la distance bewun-
dert, also wäre es doch eine gute Tat, wenn ich ihn jede
Woche einmal besuchen würde. Da konnte ich nicht nein
sagen, es war zu romantisch.«
»Ich weiß nicht. Es hört sich nicht richtig an.«
Sie lächelte. »Sie glauben, ich lüge?«
»Zum einen, es geht nicht, dass irgendwer einen Ge-
fangenen besucht, das lassen die nicht zu.«
»Oh, das tun die auch nicht. Die haben einen Heiden-
aufstand gemacht. Ich bin angeblich seine Nichte.«
»Und das ist so einfach? Für eine Stunde Unterhaltung
gibt er Ihnen hundert Dollar?«
»Er nicht, sein Rechtsanwalt. Mr. O’Shaughnessy
schickt es mir in bar, sobald ich den Wetterbericht hinter-
lasse.«
»Ich glaube, Sie können in große Schwierigkeiten gera-
ten«, sagte ich und knipste eine Lampe aus; sie wurde
nicht mehr gebraucht, denn inzwischen war der Morgen
im Zimmer, und Tauben gurgelten auf der Feuertreppe.
»Wieso?«, fragte sie ernsthaft.
»In den Gesetzesbüchern steht bestimmt was über eine
falsche Identität. Sie sind schließlich nicht seine Nichte.
Und was ist mit diesem Wetterbericht?«
Sie hielt kurz die Hand vor ein Gähnen. »Ach, das ist
nichts. Nur Nachrichten, die ich bei dem Auftragsdienst

30
hinterlasse, damit Mr. O’Shaughnessy sicher sein kann,
dass ich da war. Sally sagt mir, was ich sagen soll, Sachen
wie, ach, ›Auf Kuba ist ein Wirbelsturm‹ und ›Es schneit
in Palermo‹. Keine Sorge, Herzchen«, sagte sie und kam
ans Bett, »ich passe schon seit langer Zeit auf mich selber
auf.« Das Morgenlicht schien sich in ihr zu brechen: als
sie die Bettdecke bis an mein Kinn hochzog, schimmerte
sie wie ein durchsichtiges Kind; dann legte sie sich neben
mich. »Haben Sie was dagegen? Ich möchte mich nur ei-
nen Moment ausruhen. Also sagen wir jetzt kein Wort
mehr. Schlafen Sie.«
Ich tat so, als ob, atmete schwer und regelmäßig. Die
Glocken im Turm der Kirche nebenan schlugen die halbe
Stunde, die volle Stunde. Es war sechs, als sie die Hand
auf meinen Arm legte, eine zarte Berührung, um mich ja
nicht zu wecken. »Armer Fred«, flüsterte sie, und sie
schien zu mir zu sprechen, doch sie tat es nicht. »Wo bist
du, Fred? Es ist so kalt. Der Wind riecht nach Schnee.«
Dann ruhte ihre Wange an meiner Schulter, eine warme,
feuchte Last.
»Warum weinen Sie?«
Sie schrak zurück, setzte sich auf. »Verdammt noch
mal«, sagte sie und ging zum Fenster und der Feuertrep-
pe, »ich hasse Schnüffelnasen.«
Als ich am nächsten Tag, dem Freitag, nach Hause kam,
fand ich vor meiner Wohnungstür einen Luxuspräsent-
korb von Charles & Co. mit ihrer Karte: Miss Holiday
Golightly, auf Reisen: und auf der Rückseite stand, hinge-
kritzelt mit einer kapriziös ungeschickten Kindergarten-
handschrift: Vielen Dank, lieber Fred. Bitte verzeihen Sie
gestern Nacht. Sie waren ein Engel in allem. Mille tendres-
se – Holly. P.S. Ich werde Sie nicht mehr behelligen. Ich

31
antwortete: Doch, bitte und ließ diese Nachricht an ihrer
Tür mit dem, was ich mir leisten konnte, einem Sträuß-
chen Straßenhändler-Veilchen. Aber offenbar hatte sie es
ernst gemeint; ich sah und hörte nichts mehr von ihr, und
ich nahm an, dass sie zum Äußersten gegriffen und sich
einen Haustürschlüssel besorgt hatte. Jedenfalls klingelte
sie nicht mehr bei mir. Das fehlte mir regelrecht; und wäh-
rend ein Tag nach dem anderen verstrich, begann ich, ge-
gen sie einen an den Haaren herbeigezogenen Groll zu
hegen, als würde ich von meinem besten Freund vernach-
lässigt. Eine beunruhigende Einsamkeit trat in mein Le-
ben, aber sie weckte keinen Hunger nach Freunden, die
ich schon länger kannte: die kamen mir jetzt vor wie eine
salzlose, zuckerfreie Diät. Spätestens am Mittwoch such-
ten mich Gedanken an Holly, an Sing-Sing und Sally To-
mato, an eine Welt, in der Männer für die Damentoilette
fünfzig Dollar herausrücken, so hartnäckig heim, dass ich
nicht arbeiten konnte. Am Abend hinterließ ich in ihrem
Briefkasten eine Nachricht: Morgen ist Donnerstag. Am
nächsten Morgen belohnte sie mich mit einer zweiten No-
tiz in dieser Laufställchen-Schrift: Vielen Dank, dass Sie
mich daran erinnert haben. Können Sie heute Abend so
um 6 auf einen Drink vorbeischauen?
Ich wartete bis zehn nach sechs, dann zwang ich mich,
noch fünf Minuten zu vertrödeln.
Ein Wesen öffnete die Tür. Er roch nach Zigarren und
nach Knize-Parfüm. Seine Schuhe wurden von hohen
Hacken geziert; ohne diese hinzugefügten Zentimeter
hätte man ihn für einen Gnom halten können. Sein kah-
ler, sommersprossiger Schädel war übergroß: daran saßen
zwei spitz zulaufende, wahrhaft koboldhafte Ohren. Er
hatte Pekinesenaugen, erbarmungslos und leicht hervor-

32
quellend. Haarbüschel sprossen aus seinen Ohren und
seiner Nase; seine Wangen waren grau von Nachmittags-
bartwuchs, und sein Händedruck war fast pelzig.
»Die Kleine ist unter der Dusche«, sagte er und zeigte
mit einer Zigarre zu dem Geräusch von zischendem Was-
ser in einem anderen Zimmer. Das Zimmer, in dem wir
standen (und wir standen, weil es keine Sitzgelegenheiten
gab), wirkte, als sei jemand gerade erst eingezogen; man
erwartete den Geruch von feuchter Farbe. Koffer und
unausgepackte Kisten waren die einzigen Möbel. Die Ki-
sten dienten als Tisch. Auf einer befanden sich die Zuta-
ten für Martinis; auf einer anderen eine Lampe, ein Liber-
ty-Telefon, Hollys roter Kater und eine Vase mit gelben
Rosen. Ein Bücherregal, das die Wand bedeckte, prahlte
mit einem halben Brett voll Literatur. Ich erwärmte mich
sofort für dieses Zimmer, ich mochte das Unstete daran.
Der Mann räusperte sich. »Werden Sie erwartet?«
Mein Nicken genügte ihm nicht. Seine kalten Augen
legten mich auf den Operationstisch, nahmen glatte, er-
kundende Einschnitte vor. »Hier kommen viele her, die
nicht erwartet werden. Kennen Sie die Kleine schon lan-
ge?«
»Nicht sonderlich.«
»Sie kennen sie also noch nicht lange?«
»Ich wohne oben drüber.«
Diese Antwort schien Erklärung genug zu sein, um ihn
zu entwarnen. »Haben Sie denselben Grundriss?«
»Viel kleiner.«
Er schnippte Asche auf den Fußboden. »Die reinste
Bruchbude. Unglaublich. Aber die Kleine weiß nicht zu
leben, sogar wenn sie genug Kies hat.« Seine Sprechweise
hatte einen abgehackten, metallischen Rhythmus, wie ein

33
Fernschreiber. »Na«, sagte er, »was meinen Sie: ist sie’s
oder ist sie’s nicht?«
»Ist sie was?«
»Ein falscher Fünfziger.«
»Das würde ich nicht denken.«
»Sie haben Unrecht. Sie ist ein falscher Fünfziger. Aber
andererseits haben Sie Recht. Sie ist kein falscher Fünfzi-
ger, denn sie ist ein echter falscher Fünfziger. Sie glaubt all
den Quatsch, an den sie glaubt. Man kann’s ihr nicht aus-
reden. Ich hab’s mit Tränen in den Augen versucht. Benny
Polan, der überall geachtete Benny Polan hat’s versucht.
Benny hatte im Sinn, sie zu heiraten, sie war nicht davon
begeistert, also hat Benny Tausende dafür ausgegeben, sie
zu Seelenklempnern zu schicken. Sogar zu dem berühm-
ten, der nur Deutsch spricht, Mann, selbst der hat das
Handtuch geworfen. Man kann sie ihr nicht ausreden,
diese« – er ballte die Faust, als wollte er etwas Ungreifba-
res zermalmen – »Ideen. Versuchen Sie’s mal bei Gelegen-
heit. Bringen Sie sie dazu, Ihnen einiges von dem Zeug zu
erzählen, an das sie glaubt. Verstehen Sie mich recht«, sag-
te er, »ich mag die Kleine, alle mögen sie, aber es gibt viele,
die sie nicht mögen. Ich mag sie. Ich mag die Kleine wirk-
lich. Ich bin sensibel, deshalb. Man muss sensibel sein, um
Sinn für sie zu haben: eine poetische Ader. Aber ich will
Ihnen die Wahrheit sagen. Man kann sich ihretwegen das
Hirn zermartern, und sie serviert einem auf silbernem
Tablett gequirlte Kacke. Also zum Beispiel – wer ist sie so,
wenn man hinschaut? Streng genommen eine, die kurz in
der Zeitung stehen wird, wenn sie am Grunde eines Röhr-
chens Veronal ihr Ende gefunden hat. Ich hab’s öfter pas-
sieren sehen, als Sie Zehen haben: und diese Mädels, die
waren noch nicht mal meschugge. Sie ist meschugge.«

34
»Aber jung. Und noch mit sehr viel Jugend vor sich.«
»Wenn Sie Zukunft meinen, haben Sie wieder Unrecht.
Also vor ein paar Jahren, drüben an der Westküste, da
gab’s eine Zeit, wo’s anders aussah. Sie hatte was am Lau-
fen, die waren an ihr interessiert, sie hätte das große Geld
machen können. Aber wenn man aus so was aussteigt,
dann ist man ein für allemal draußen. Fragen Sie Luise
Rainer. Und die Rainer war ein Star. Sicher, Holly war
kein Star. Sie ist nie über Standphotos hinausgekommen.
Aber das war vor Dr. Wassells Flucht aus Java. Da hätte
sie das richtig große Geld machen können. Ich muss es
wissen, denn ich war derjenige, der sich für sie stark ge-
macht hat.« Er zeigte mit der Zigarre auf sich selbst.
»O. J. Berman.«
Er erwartete, dass ich seinen Namen kannte, und ich tat
ihm den Gefallen, es machte mir nichts aus, nur dass ich
noch nie etwas von O. J. Berman gehört hatte. Wie sich
herausstellte, war er Agent für Hollywoodschauspieler.
»Ich war der Erste, dem sie aufgefallen ist. Draußen in
Santa Anita. Sie treibt sich jeden Tag auf der Pferderenn-
bahn rum. Sie interessiert mich: beruflich. Ich kriege raus,
sie ist die Mieze von einem Jockey, sie lebt mit dem Hänf-
ling zusammen. Ich biege dem Jockey bei: Lass die Finger
von ihr, wenn du dich nicht mit der Sittenpolizei unterhal-
ten willst: das Mädel ist nämlich erst fünfzehn. Aber sie hat
Stil: sie hat Klasse, sie kommt rüber. Sogar wenn sie so
starke Gläser trägt; sogar wenn sie den Mund aufmacht
und man einfach nicht weiß, ob sie vom platten Land
kommt oder aus Oklahoma oder von sonst wo. Ich weiß
es jedenfalls immer noch nicht. Und meine Vermutung ist,
dass keiner je erfahren wird, wo sie herkommt. Sie ist solch
eine gottverdammte Lügnerin, vielleicht weiß sie es selbst

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schon gar nicht mehr. Aber wir haben ein Jahr gebraucht,
um ihr diesen Akzent auszutreiben. Wie wir’s schließlich
geschafft haben, wir haben ihr Französischstunden gege-
ben: nachdem sie Französisch nachahmen konnte, hat’s
nicht mehr lange gedauert, und sie konnte Englisch nach-
ahmen. Wir haben sie auf den Margaret-Sullivan-Typ ge-
trimmt, aber sie hatte auch selbst einige Tricks drauf, die
Leute waren interessiert, wichtige Leute, und um das Maß
vollzumachen, will Benny Polan, ein geachteter Mann, sie
heiraten. Was kann ein Agent sich Besseres wünschen?
Dann peng! Dr. Wassells Flucht aus Java. Haben Sie den
Film gesehen? Cecil B. DeMille. Gary Cooper. Himmel-
arsch. Ich reiße mich in Stücke, alles ist festgezurrt: sie
werden mit ihr Probeaufnahmen für die Rolle von Dr.
Wassells Stationsschwester machen. Eine von seinen Sta-
tionsschwestern jedenfalls. Dann peng! Das Telefon klin-
gelt.« Er nahm einen Telefonhörer aus der Luft und hielt
ihn ans Ohr. »Sie sagt, hier ist Holly, ich sage, Schatz, du
klingst so weit weg, sie sagt, ich bin in New York, ich sage,
was zum Teufel machst du in New York, wo Sonntag ist
und du morgen die Probeaufnahmen hast? Sie sagt, ich bin
in New York, weil ich noch nie in New York war. Ich sa-
ge, setz dich ins nächste Flugzeug und komm zurück, sie
sagt, ich will das nicht. Ich sage, was denkst du dir dabei,
Puppe? Sie sagt, man muss es wollen, um gut zu sein, und
ich will das nicht, ich sage, was zum Teufel willst du dann,
und sie sagt, wenn ich’s herausfinde, wirst du der Erste
sein, der’s erfährt. Verstehen Sie jetzt, was ich meine: ge-
quirlte Kacke auf einem silbernen Tablett.«
Der rote Kater sprang von der Kiste herunter und rieb
sich an seinem Bein. Er schob den Schuh unter den Kater
und schleuderte ihn fort, was abscheulich von ihm war,

36
allerdings schien er den Kater gar nicht zu bemerken,
sondern nur seine eigene Verärgerung.
»Das will sie also?«, sagte er und breitete die Arme aus.
»Irgendwelche Leute, die nicht erwartet werden. Von
Trinkgeldern leben. Sich mit Nieten rumtreiben. Na, viel-
leicht kann sie ja Rusty Trawler heiraten. Soll man ihr da-
für einen Orden verleihen?«
Er wartete und starrte mich finster an.
»Tut mir leid, den kenne ich nicht.«
»Wenn Sie Rusty Trawler nicht kennen, dann wissen
Sie nicht viel von der Kleinen. Schade«, sagte er und
schnalzte in seinem riesigen Kopf mit der Zunge. »Ich
hatte gehofft, vielleicht haben Sie Einfluss. Können mit
der Kleinen Klartext reden, bevor’s zu spät ist.«
»Aber Sie haben doch behauptet, es ist schon zu spät.«
Er blies einen Rauchring, ließ ihn zergehen und lächel-
te; das Lächeln veränderte sein Gesicht, sodass etwas
Sanftes darauf geschah. »Ich könnte den Karren wieder
flottmachen. Wie ich Ihnen schon gesagt habe«, sagte er,
und jetzt klang es ehrlich, »ich mag die Kleine wirklich.«
»Was für Skandalgeschichten erzählst du herum,
O. J.?« Holly platschte ins Zimmer, nur mit einem Hand-
tuch bekleidet, das sie sich mehr oder weniger umgewi-
ckelt hatte, und hinterließ auf dem Boden nasse Fußstap-
fen.
»Nur das Übliche. Dass du meschugge bist.«
»Das weiß Fred schon.«
»Aber du noch nicht.«
»Zünd mir eine Zigarette an, Herzchen«, sagte sie,
rupfte sich die Badekappe vom Kopf und schüttelte ihre
Haare aus. »Dich meine ich nicht, O. J. Du bist ein Fer-
kel. Du sabberst sie immer voll.«

37
Sie hob den Kater hoch und schwang ihn sich auf die
Schulter. Er blieb dort hocken wie ein Vogel, die Pfoten
in ihren Haaren verhakt, als seien sie Strickgarn; und
doch, trotz dieser possierlichen Pose war er ein grimmi-
ger Kater, mit dem Mördergesicht eines Piraten; ein Auge
war klebrig-blind, das andere funkelte voll finsterer Ta-
ten.
»O. J. ist ein Ferkel«, sagte sie zu mir und nahm die
Zigarette, die ich angezündet hatte. »Aber er weiß
schrecklich viele Telefonnummern auswendig. Wie ist die
von David O. Selznick, O. J.?«
»Hör auf.«
»Das ist kein Witz, Herzchen. Ich will, dass du ihn an-
rufst und ihm erzählst, was Fred für ein Genie ist. Er hat
haufenweise absolut großartige Geschichten geschrieben.
Du musst nicht rot werden, Fred: Du hast nicht gesagt,
dass du ein Genie bist, ich hab’s gesagt. Komm schon,
O. J. Was wirst du tun, um Fred reich zu machen?«
»Vielleicht lässt du mich das mit Fred klären.«
»Denk dran«, sagte sie, als sie uns verließ. »Ich bin sei-
ne Agentin. Ach, noch was: wenn ich rufe, komm und
mach mir den Reißverschluss zu. Und wenn einer klopft,
lass ihn rein.«
Es klopfte nicht nur einer, es klopften viele. Innerhalb
der nächsten Viertelstunde machte sich in der Wohnung
ein Herrenabend breit, wobei einige der Herren Uniform
trugen. Ich zählte zwei Marineoffiziere und einen Luft-
waffenoberst; aber sie gerieten bald in die Unterzahl ge-
genüber ergrauenden Ankömmlingen jenseits der Wehr-
pflicht. Bis auf den Mangel an Jugend hatten die Gäste
nichts miteinander gemein, sie schienen Fremde unter
Fremden zu sein; und auf jedem neuen Gesicht, das ein-

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trat, machte sich die Enttäuschung breit, schon andere
dort zu sehen. Es war, als hätte die Gastgeberin ihre Ein-
ladungen auf einem Zickzackkurs durch etliche Bars aus-
geteilt; was wahrscheinlich stimmte. Nach dem anfängli-
chen Stirnrunzeln mischten sie sich jedoch, ohne zu mur-
ren, unter die Menge, besonders O. J. Berman, der sich
gierig auf alle Neuen stürzte, um zu vermeiden, mit mir
über meine Hollywood-Zukunft reden zu müssen. Ich
strandete am Bücherregal; mehr als die Hälfte der Bücher
darin drehten sich um Pferde, der Rest um Baseball. Ich
heuchelte Interesse an dem Riecher für Pferde und wie
man ihn entwickelt, was mir genug Gelegenheit gab,
Hollys Freunde in Augenschein zu nehmen.
Bald fiel mir einer davon besonders auf. Er war ein
über vierzig Jahre altes Kind, das nie seinen Babyspeck
abgelegt hatte, obwohl es einem begabten Schneider fast
gelungen war, seinen fetten, zum Versohlen einladenden
Hintern zu kaschieren. Sein Körper wies nicht die ge-
ringste Andeutung von Knochen auf; sein Gesicht, eine
Null, gefüllt mit hübschen, winzigen Zügen, hatte etwas
Unbenutztes, Jungfräuliches an sich: es war, als sei er ge-
boren worden und habe sich dann ausgedehnt, wobei
seine Haut so faltenlos geblieben war wie ein aufgeblase-
ner Luftballon, während seine Lippen, wenn auch ständig
bereit zu Geschrei und Wutanfällen, zu einem verwöhn-
ten, süßen Schmollmündchen geschürzt waren. Doch es
war nicht seine Erscheinung, durch die er aus dem Rah-
men fiel; konservierte Kleinkinder sind gar nicht so sel-
ten. Es war vielmehr sein Verhalten, denn er benahm sich,
als sei es seine Party: Wie ein rühriger Krake mixte er
Martinis, machte Leute miteinander bekannt und bedien-
te das Grammophon. Gerechterweise muss jedoch er-

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wähnt werden, dass ihm die meisten seiner Tätigkeiten
von der Gastgeberin selbst befohlen wurden: Rusty, wür-
de es dir was ausmachen; Rusty, würdest du bitte. Falls er
sie liebte, so hatte er seine Eifersucht gut im Griff. Ein ei-
fersüchtiger Mann hätte die Beherrschung verlieren kön-
nen, so, wie sie im Zimmer umhersegelte, mit der einen
Hand den Kater haltend, doch die andere frei, um Kra-
watten zu richten oder Schuppen von Schultern zu ent-
fernen; der Luftwaffenoberst trug einen Orden, der auf
Hochglanz poliert wurde.
Der Mann hieß Rutherfurd (»Rusty«) Trawler. Im Jah-
re 1908 hatte er beide Eltern verloren, sein Vater war ei-
nem Anarchisten zum Opfer gefallen und seine Mutter
einem Schock, welches doppelte Unglück Rusty nicht
nur zu einer Waise, sondern auch zu einem Millionär und
einer Berühmtheit gemacht hatte, alles im Alter von fünf
Jahren. Seitdem war er ein Dauerbrenner der Sonntags-
beilagen gewesen, der sich zum Feuersturm ausgewach-
sen hatte, als er, noch im Schuljungenalter, veranlasste,
dass sein Patenonkel-Vormund der Homosexualität an-
geklagt und in Gewahrsam genommen wurde. Danach
sicherten ihm eine Heirat und eine Scheidung in der Bou-
levardpresse einen Platz an der Sonne. Seine erste Frau
hatte sich mitsamt ihrer Abfindung zu einem Rivalen von
Father Divine verfügt. Von der zweiten Frau scheint
nichts überliefert zu sein, aber die dritte war im Staate
New York gegen ihn vor Gericht gezogen, mit einer gan-
zen Mappe voll Anschuldigungen von der Art, die Scha-
denersatzkosten nach sich ziehen. Er selbst hatte sich
dann von der letzten Mrs. Trawler scheiden lassen, wobei
sein Hauptvorwurf darin bestand, sie habe an Bord seiner
Jacht eine Meuterei angezettelt, die mit seiner Aussetzung

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auf den Dry Tortugas endete. Obwohl er seitdem Jungge-
selle geblieben war, hatte er offenbar vor dem Krieg Uni-
ty Mitford einen Heiratsantrag gemacht, zumindest soll
er ihr ein Überseetelegramm geschickt haben mit dem
Angebot, sie zu heiraten, falls Hitler es nicht tat. Das, so
hieß es, war der Grund, warum Winchell ihn immer als
Nazi bezeichnete; das und die Tatsache, dass er Ver-
sammlungen in Yorkville besuchte.
Diese Dinge wurden mir nicht erzählt. Ich las sie in
dem Baseballführer, einem weiteren Band aus Hollys Bü-
cherregal, den sie offenbar als Sammelalbum benutzte.
Zwischen den Seiten steckten Reportagen aus Sonntags-
beilagen, zusammen mit Ausschnitten aus Klatschko-
lumnen. Rusty Trawler und Holly Golightly amüsieren
sich prächtig in der Uraufführung von One Touch of Ve-
nus. Holly näherte sich mir von hinten und erwischte
mich bei folgender Lektüre: Miss Holiday Golightly von
den Bostoner Golightlys macht jeden Tag zu einem Fest-
tag für den 24-karätigen Rusty Trawler.
»Bewunderst du meine Presse, oder bist du bloß ein
Baseballfan?«, fragte sie und rückte ihre Sonnenbrille zu-
recht, während sie mir über die Schulter spähte.
Ich sagte: »Wie lautete diese Woche der Wetterbe-
richt?«
Sie zwinkerte mir zu, aber es war nicht lustig gemeint,
sondern eine Warnung. »Ich bin sehr für Pferde, aber
Baseball kann ich nicht ausstehen«, sagte sie, und im Un-
terton ihrer Stimme teilte sie mir mit, sie wünschte, ich
würde vergessen, dass sie je Sally Tomato erwähnt hatte.
»Ich hasse Baseballreportagen im Radio, aber ich muss sie
mir anhören, das gehört zu meinen Studien. Es gibt so
wenige Dinge, über die Männer reden können. Wenn ein

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Mann Baseball nicht mag, dann muss er Pferde mögen,
und wenn er beides nicht mag, dann bin ich sowieso in
Schwierigkeiten: er mag keine Mädchen. Und wie
kommst du mit O. J. voran?«
»Wir haben uns in gegenseitigem Einvernehmen ge-
trennt.«
»Er ist eine Chance für dich, glaub mir.«
»Ich glaube dir. Aber was habe ich ihm zu bieten, das
er als Chance für sich betrachten würde?«
Sie blieb dabei. »Geh rüber zu ihm und mach ihn glau-
ben, dass er nicht komisch aussieht. Er kann dir wirklich
helfen, Fred.«
»Wie ich höre, wusstest du seine Hilfe nicht sonderlich
zu würdigen.« Sie schien ratlos, bis ich sagte: »Doktor
Wassells Flucht aus Java.«
»Reitet er immer noch darauf herum?«, sagte sie und
warf Berman quer durchs Zimmer einen liebevollen Blick
zu. »Aber er hat nicht ganz Unrecht, ich müsste ein
schlechtes Gewissen haben. Nicht weil sie mir die Rolle
gegeben hätten, oder weil ich gut gewesen wäre: Ich hätte
sie nicht bekommen, und gut gewesen wäre ich auch
nicht. Wenn ich ein schlechtes Gewissen habe, dann
wahrscheinlich, weil ich ihn habe weiterträumen lassen,
wogegen ich überhaupt nicht geträumt habe. Ich habe
bloß auf Zeit gespielt, um an mir ein paar Verbesserungen
vorzunehmen: Ich wusste verdammt genau, ich werde nie
ein Filmstar. Es ist zu schwer, und wenn man intelligent
ist, ist es zu peinlich. Meine Komplexe sind nicht min-
derwertig genug: Filmstar sein und ein dickes, fettes Ego
haben, gehen angeblich Hand in Hand; dabei ist es in
Wirklichkeit unbedingt notwendig, überhaupt kein Ich
zu haben. Ich meine damit nicht, dass ich was dagegen

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hätte, reich und berühmt zu sein. Das liegt durchaus auf
meiner Marschroute, und eines Tages werd ich versuchen,
dahin zu kommen; aber wenn das passiert, hätt ich gern
mein Ego mit dabei. Ich möchte immer noch ich selbst
sein, wenn ich eines schönen Morgens aufwache zu ei-
nem Frühstück bei Tiffany. Du brauchst ein Glas«, sagte
sie mit Blick auf meine leeren Hände. »Rusty! Bringst du
meinem Freund einen Martini?«
Sie hielt immer noch den Kater im Arm. »Armes
Schwein«, sagte sie und kitzelte seinen Kopf, »armes
Schwein ohne einen Namen. Es ist ein bisschen unbe-
quem, dass er keinen Namen hat. Aber ich habe kein
Recht, ihm einen zu geben: Er wird warten müssen, bis er
jemandem gehört. Wir haben eines Tages am Fluss ir-
gendwie miteinander angebandelt, aber wir gehören ein-
ander nicht: er ist unabhängig, und ich bin’s auch. Ich
möchte nichts besitzen, bis ich weiß, ich habe den Ort ge-
funden, wo ich und das ganze Drumherum zusammenge-
hören. Ich bin mir noch nicht sicher, wo das sein wird.
Aber ich weiß, wie das sein muss.« Sie lächelte und ließ
den Kater fallen. »Es muss sein wie bei Tiffany«, sagte sie.
»Nicht, dass ich mir was aus Schmuck mache. Aus Dia-
manten schon. Aber es ist geschmacklos, Diamanten zu
tragen, bevor man vierzig ist; und selbst dann ist es ge-
wagt. Sie sehen erst bei sehr alten Frauen richtig gut aus.
Maria Ouspenskaya. Knochen und Falten, weiße Haare
und Diamanten. Ich kann’s gar nicht erwarten. Aber des-
halb bin ich nicht verrückt nach Tiffany. Weißt du, kennst
du die Tage, wo du das rote Elend hast?«
»Genau wie das graue Elend?«
»Nein«, sagte sie langsam. »Nein, das graue Elend ist,
weil man zu dick wird oder es zu lange regnet. Man ist

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traurig, das ist alles. Aber das fiese rote ist schrecklich.
Man fürchtet sich, und man schwitzt wie ein Schwein,
aber man weiß nicht, wovor man sich fürchtet. Bloß, dass
etwas Schlimmes passieren wird, aber man weiß nicht,
was. Hast du das Gefühl schon mal gehabt?«
»Ziemlich oft. Manche nennen es Angst.«
»Na schön. Angst. Aber was macht man dagegen?«
»Ein Schnaps hilft.«
»Damit hab ich’s probiert. Ich hab’s auch mit Aspirin
probiert. Rusty meint, ich soll Marihuana rauchen, und
das hab ich eine Weile lang getan, aber davon muss ich
nur kichern. Ich hab herausgefunden, das Beste ist, in ein
Taxi steigen und zu Tiffany fahren. Das beruhigt mich so-
fort, da ist es so still, und alles sieht so vornehm aus; dort
kann einem nichts Schlimmes zustoßen, nicht bei diesen
freundlichen Herren in ihren schönen Anzügen und die-
sem wunderbaren Geruch nach Silber und Krokodille-
derbrieftaschen. Wenn ich im richtigen Leben mal einen
Ort finde, wo ich mich so fühle wie bei Tiffany, dann
werde ich Möbel kaufen und dem Kater einen Namen
geben. Ich habe gedacht, vielleicht nach dem Krieg, wenn
Fred und ich …« Sie schob die Sonnenbrille hoch, und
ihre Augen, die verschiedenen Farben darin, die Grautö-
ne und die blauen und grünen Tupfen, hatten eine weit-
blickende Schärfe angenommen. »Ich bin mal nach Mexi-
ko gefahren. Eine wunderbare Gegend, um Pferde zu
züchten. Ich habe ein Stück Land am Meer gesehen. Fred
kann gut mit Pferden umgehen.«
Rusty Trawler kam mit einem Martini; er gab ihn mir,
ohne mich anzusehen. »Ich habe Hunger«, verkündete er,
und seine Stimme, zurückgeblieben wie alles Übrige an
ihm, klang wie das nervtötende Greinen eines kleinen

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Bengels, der Holly Vorwürfe machte. »Es ist halb acht,
und ich habe Hunger. Du weißt, was der Arzt gesagt hat.«
»Ja, Rusty. Ich weiß, was der Arzt gesagt hat.«
»Na, dann mach hier Schluss. Lass uns gehen.«
»Rusty, sei artig.« Sie sprach leise, aber in ihrem Ton-
fall lag eine Gouvernantenandrohung von Strafe, die eine
seltsame Röte der Freude, der Dankbarkeit auf sein Ge-
sicht rief.
»Du liebst mich nicht«, klagte er, als seien sie allein.
»Niemand liebt Ungezogenheit.«
Offensichtlich hatte sie das gesagt, was er hören wollte:
Es schien ihn zu erregen und gleichzeitig zu entspannen.
Trotzdem fuhr er fort, als sei es ein Ritual: »Liebst du
mich?«
Sie tätschelte ihn. »Mach dich wieder an die Arbeit,
Rusty. Und wenn ich so weit bin, gehen wir essen, wohin
du willst.«
»Nach Chinatown?«
»Aber es gibt keine süßsauren Schweinerippchen. Du
weißt, was der Arzt gesagt hat.«
Während er zufrieden watschelnd zu seinen Pflichten
zurückkehrte, konnte ich nicht umhin, sie daran zu erin-
nern, dass sie seine Frage nicht beantwortet hatte. »Liebst
du ihn?«
»Ich hab dir gesagt: Man kann sich dazu bringen, jeden
zu lieben. Außerdem hatte er eine scheußliche Kindheit.«
»Wenn sie so scheußlich war, warum hält er dann da-
ran fest?«
»Schalte mal deinen Kopf ein. Kannst du nicht sehen,
dass Rusty sich in Windeln viel wohler fühlt als in einem
Rock? Das ist die Wahl, die ihm bleibt, und da ist er sehr
empfindlich. Er wollte mich mal mit einem Buttermesser

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erstechen, bloß weil ich ihm gesagt habe, er soll erwach-
sen werden, sich bekennen und mit einem netten, väterli-
chen Lastwagenfahrer einen Hausstand gründen. Bis da-
hin habe ich ihn am Hals; aber das geht schon, er ist
harmlos, er spielt mit Mädchen wie mit Puppen.«
»Gott sei Dank.«
»Wenn das auf die meisten Männer zuträfe, wäre ich
Gott alles andere als dankbar.«
»Ich meine, Gott sei Dank wirst du Mr. Trawler nicht
heiraten.«
Sie hob eine Augenbraue. »Ich tue übrigens nicht so,
als wüsste ich nicht, dass er reich ist. Sogar in Mexiko hat
Land seinen Preis. Und jetzt«, sagte sie, »knöpfen wir uns
O. J. vor.«
Ich zögerte, während ich mir den Kopf nach einem
Aufschub zerbrach. Dann fiel mir ein: »Warum auf Rei-
sen?«
»Auf meiner Karte?«, fragte sie, aus dem Takt ge-
bracht. »Findest du es komisch?«
»Nicht komisch. Nur provozierend.«
Sie zuckte die Achseln. »Schließlich, was weiß ich, wo
ich morgen wohnen werde? Also habe ich ihnen gesagt,
sie sollen auf Reisen hinschreiben. Jedenfalls war es reine
Geldverschwendung, diese Karten zu bestellen. Aber ich
hatte das Gefühl, ich schuldete es ihnen, wenigstens eine
Kleinigkeit zu kaufen. Die sind von Tiffany.« Sie langte
nach meinem Martini, den ich nicht angerührt hatte; sie
leerte das Glas in zwei Schlucken und nahm meine Hand.
»Hör auf, dich zu sträuben. Du wirst dich mit O. J. an-
freunden.«
Ein Ereignis an der Tür kam dazwischen. Es war eine
junge Frau, und sie kam herein wie ein Windstoß, eine

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Sturmböe aus Schals und klimperndem Gold. »H-H-
Holly«, sagte sie und drohte mit einem Finger, während
sie voranschritt, »du elender G-G-Geizdrachen. Hortest
hier all diese b-b-bezaubernden M-M-Männer!«
Sie war weit über einen Meter achtzig groß, größer als
die meisten Männer im Raum. Die drückten die Wirbel-
säule durch und zogen den Bauch ein; es gab einen allge-
meinen Wettbewerb, ihre schwankende Höhe zu errei-
chen.
Holly sagte: »Was machst du denn hier?«, und ihre
Lippen waren straff wie eine gespannte Schnur.
»N-N-Na, nichts, Schatz. Ich war oben und hab mit
Yunioshi gearbeitet. Weihnachtssachen für Harper’s Ba-
ba-zaar. Aber du klingst so böse, Schatz?« Sie verstreute
ringsum ein Lächeln. »Ihr Jungs seid mir doch nicht b-b-
böse, dass ich so in eure P-P-Party reinplatze?«
Rusty Trawler kicherte. Er drückte ihren Arm, als
wollte er ihre Muskeln bewundern, und fragte sie, ob sie
einen Drink gebrauchen konnte.
»Aber sicher«, sagte sie. »Für mich einen Bourbon.«
Holly sagte ihr: »Es ist keiner da.« Worauf der Luft-
waffenoberst sich erbötig machte, rasch eine Flasche zu
holen.
»Ach was, b-b-bloß keine Umstände. Ich trinke auch
Ammoniak. Holly, Schatz«, sagte sie und gab ihr einen
leichten Schubs, »gib dir meinetwegen keine Mühe. Ich
kann mich selbst mit allen bekannt machen.« Sie beugte
sich zu O. J. Berman hinunter, der wie viele kleine Män-
ner in der Gegenwart großer Frauen einen sehnsüchtigen
Schleier in den Augen hatte. »Ich bin Mag W-W-Wild-
wood aus Wildw-w-wood, Arkansas. Da gibt’s v-v-viele
hohe Berge.«

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Man musste es schon einen Tanz nennen, was Berman
an Beinarbeit aufbot, um zu verhindern, dass Rivalen sie
abklatschten. Doch schließlich verlor er sie in einer Quad-
rille an Partner, die ihre gestotterten Witze aufpickten wie
Popcorn, das man Tauben hinwirft. Ihr Erfolg war be-
greiflich. Sie war ein Triumph über die Hässlichkeit, der
oft mehr betört als wahre Schönheit, und wenn nur, weil
er eigentlich paradox ist. In ihrem Fall, im Gegensatz zu
der gewissenhaften Methode des schlichten guten Ge-
schmacks und der wissenschaftlich untermauerten Kör-
perpflege, wurde die Wirkung durch eine Übertreibung
der Mängel erzielt; sie schmückte sich damit durch kühne
Betonung. Absätze, die ihre Körpergröße unterstrichen,
so hoch, dass ihre Fußgelenke wackelten; ein eng anlie-
gendes, flaches Oberteil, das signalisierte, sie konnte nur
mit einer Badehose bekleidet an den Strand gehen, Haare,
die straff zurückgezogen waren und dadurch das Hagere,
das Verhungerte ihres Mannequingesichts betonten. Sogar
das Stottern, bestimmt echt, aber trotzdem ein wenig
übertrieben, war in einen Vorteil verkehrt worden. Dieses
Stottern war überhaupt das Meisterstück; denn es brachte
zuwege, dass ihre Banalitäten irgendwie originell klangen,
und außerdem, ihrer Körpergröße, ihrer Selbstsicherheit
zum Trotz, weckte es in männlichen Zuhörern Beschüt-
zergefühle. Um das zu veranschaulichen: Berman brauch-
te die Hilfe Umstehender, die ihm auf den Rücken klop-
fen mussten, weil sie gesagt hatte: »W-W-Weiß jemand,
wo das K-K-Klo ist?«; dann, den Kreis schließend, bot er
ihr seinen Arm, um sie selbst hinzugeleiten.
»Das«, sagte Holly, »wird nicht nötig sein. Sie ist schon
mal hier gewesen. Sie weiß, wo es ist.« Sie leerte gerade
Aschenbecher, und nachdem Mag Wildwood das Zimmer

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verlassen hatte, leerte sie noch einen und sagte, vielmehr
seufzte: »Es ist wirklich sehr traurig.« Sie schwieg lange
genug, um die Anzahl der fragenden Gesichter zu ermit-
teln; es waren genügend. »Und so geheimnisvoll. Man
sollte meinen, dass es deutlicher zutage tritt. Aber weiß
Gott, sie sieht gesund aus. Und so sauber. Das ist das
Merkwürdigste daran. Würdest du nicht«, fragte sie be-
sorgt, aber niemanden im Besonderen, »würdest du nicht
sagen, sie sieht sauber aus?«
Jemand hustete, mehrere schluckten. Ein Marineoffizier,
der Mag Wildwoods Glas gehalten hatte, stellte es hin.
»Aber schließlich«, sagte Holly, »haben ja so viele die-
ser Mädchen aus den Südstaaten dasselbe Leiden.« Sie
schauderte leicht und ging in die Küche, Eis holen.
Mag Wildwood konnte es nicht verstehen, dieses ab-
rupte Fehlen von Wärme bei ihrer Rückkehr; die Gesprä-
che, die sie begann, verhielten sich wie grünes Holz, sie
qualmten, wollten aber nicht brennen. Noch unverzeihli-
cher, mehrere Herren gingen, ohne sich ihre Telefon-
nummer geben zu lassen. Der Luftwaffenoberst machte
sich aus dem Staub, während sie ihm den Rücken kehrte,
und das brachte das Fass zum Überlaufen: er hatte sie
doch eingeladen, mit ihm essen zu gehen. Plötzlich war sie
blind vor Wut. Und da Gin und Raffinesse sich zueinan-
der verhalten wie Tränen und Wimperntusche, verflüch-
tigten sich ihre Reize umgehend. Sie ließ ihren Zorn an
allen aus. Sie erklärte ihre Gastgeberin zu Hollywood-
Abfall. Sie forderte einen Mann in den Fünfzigern auf,
sich mit ihr zu prügeln. Sie sagte Berman, Hitler habe
vollkommen Recht. Sie erheiterte Rusty Trawler, indem
sie ihn in eine Ecke drängte. »Weißt du, was mit dir pas-
sieren wird?«, sagte sie ohne das geringste Stottern. »Ich

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werde dich in den Zoo bringen und an den Yak verfüt-
tern.« Er schien durchaus dazu bereit zu sein, aber sie ent-
täuschte ihn, indem sie zu Boden glitt, wo sie sitzen blieb
und vor sich hin summte.
»Du bist eine Pest. Steh schon auf«, sagte Holly und
zog sich Handschuhe an. Die Reste der Party warteten an
der Tür, und als die Pest sich nicht rührte, warf Holly mir
einen flehentlichen Blick zu. »Sei ein Engel, bitte, Fred,
ja? Steck sie in ein Taxi. Sie wohnt im Winslow.«
»Nein. Wohn im Barbizon. Regent 4-5700. Verlang
Mag Wildwood.«
»Du bist ein Engel, Fred.«
Sie waren fort. Die Aussicht, die lange Latte in ein Taxi
verfrachten zu müssen, war schlimmer als aller Groll, den
ich empfand. Aber sie löste das Problem selbst. Sie erhob
sich aus eigener Kraft und starrte aus schwindelnder Hö-
he zu mir herunter. Sie sagte: »Gehn wir in den Stork.
Auf eine Nasevoll«, und schlug der Länge nach hin wie
eine gefällte Eiche. Mein erster Gedanke war, einen Arzt
zu holen. Aber eine Untersuchung ergab, dass ihr Puls
kräftig und ihre Atmung regelmäßig war. Sie lag einfach
in tiefem Schlummer. Nachdem ich ihr ein Kissen unter
den Kopf geschoben hatte, ging ich, damit sie ihn in Ruhe
genießen konnte.

Am folgenden Nachmittag stieß ich mit Holly auf der


Treppe zusammen. »Also weißt du!«, sagte sie und eilte
mit einem Päckchen aus der Apotheke an mir vorbei.
»Jetzt ist sie am Rande einer Lungenentzündung. Mit ei-
nem Kopf wie eine Eckkneipe. Und dazu noch das rote
Elend.« Ich schloss daraus, dass Mag Wildwood sich im-
mer noch in ihrer Wohnung befand, aber sie gab mir keine

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Gelegenheit, ihr überraschendes Mitleid zu erkunden. Im
Laufe des Wochenendes wurde das Geheimnis noch uner-
gründlicher. Zuerst landete ein Südamerikaner vor meiner
Tür: fälschlich, denn er erkundigte sich nach Miss Wild-
wood. Es dauerte eine Weile, seinen Irrtum zu korrigie-
ren, denn wir blieben einander lange unverständlich, aber
als wir es schließlich geschafft hatten, war ich entzückt. Er
war mit Sorgfalt konstruiert worden, sein brauner Kopf
und seine Stierkämpferfigur wiesen eine ganz bestimmte
Präzision, eine Vollkommenheit auf, wie ein Apfel, eine
Apfelsine, wie etwas von der Natur genau richtig Erschaf-
fenes. Hinzu kamen als Verzierung ein englischer Anzug,
ein frisches Parfüm und, für einen Südamerikaner noch
untypischer, Schüchternheit. Im zweiten Ereignis des Ta-
ges spielte er auch eine Rolle. Es war gegen Abend, und
ich sah ihn auf meinem Weg hinaus, als ich essen ging. Er
traf in einem Taxi ein; der Fahrer half ihm, zahlreiche Kof-
fer ins Haus zu schleppen. Das gab mir etwas zu kauen:
Sonntag früh waren meine Kiefer erschöpft.
Dann verdunkelte sich das Bild und wurde gleichzeitig
klarer.
Der Sonntag war ein Spätsommertag, die Sonne schien
kräftig, das Fenster stand offen und ich hörte Stimmen
auf der Feuertreppe. Holly und Mag hatten sich dort auf
einer Decke niedergelassen, mit dem Kater zwischen ih-
nen. Ihre frisch gewaschenen Haare hingen glatt herunter.
Beide waren beschäftigt, Holly damit, ihre Zehennägel zu
lackieren, Mag damit, einen Pullover zu stricken. Mag
sprach:
»Wenn du mich fragst, hast du wirklich Sch-Sch-
Schwein. Für Rusty spricht zumindest eins. Er ist Ame-
rikaner.«

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»Na und?«
»Schatz. Wir sind im Krieg.«
»Und wenn der vorbei ist, dann nichts wie weg hier.«
»Das geht mir nicht so. Ich bin st-st-stolz auf mein
Land. Die Männer in meiner Familie waren große Solda-
ten. Direkt im Zentrum von Wildwood steht ein Denk-
mal von Großpapa Wildwood.«
»Fred ist auch Soldat«, sagte Holly. »Aber ich bezweif-
le, dass er je zum Denkmal wird. Möglich wär’s schon. Es
heißt, je dümmer, desto tapferer. Und er ist ziemlich
dumm.«
»Fred ist der Junge von oben? Ich wusste gar nicht,
dass er Soldat ist. Aber dumm sieht er aus.«
»Sehnsüchtig. Nicht dumm. Er möchte schrecklich
gern drin sein und hinausschauen: jeder, der sich die Nase
an einer Glasscheibe plattdrückt, neigt dazu, dumm aus-
zusehen. Jedenfalls ist das ein anderer Fred. Fred ist mein
Bruder.«
»Du nennst dein eigen F-F-Fleisch und B-B-Blut
dumm?«
»Wenn er’s ist, ist er’s.«
»Na, aber es ist schlechter Geschmack, das zu sagen.
Ein Junge, der für dich und mich und uns alle kämpft.«
»Was ist das: eine Werbeveranstaltung für Kriegsanlei-
hen?«
»Ich möchte nur, dass du weißt, wo ich stehe. Ich weiß
einen Witz zu schätzen, aber darunter bin ich ein e-e-
ernsthafter Mensch. Stolz darauf, Amerikanerin zu sein.
Deswegen bedaure ich das mit José.« Sie legte ihr Strick-
zeug hin. »Du findest doch auch, dass er schrecklich gut
aussieht, oder?« Holly sagte »Hmm« und fuhr dem Kater
mit ihrem Lackpinsel durch die Schnurrhaare. »Wenn ich

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mich nur an den Gedanken gewöhnen könnte, einen B-B-
Brasilianer zu heiraten. Und selbst B-B-Brasilianerin zu
werden. Da ist solch ein Abgrund zu überqueren. Sechs-
tausend Meilen, und ich kann die Sprache nicht …«
»Geh zu Berlitz.«
»Warum in aller Welt sollen die P-P-Portugiesisch un-
terrichten? Das spricht doch kein Mensch. Nein, meine
einzige Chance ist, José dazu zu bringen, dass er die Poli-
tik vergisst und Amerikaner wird. Ist doch völlig sinnlos
für einen Mann, so was werden zu wollen: P-P-Präsident
von Brasilien.« Sie seufzte und griff wieder zu ihrem
Strickzeug. »Ich muss wahnsinnig verliebt sein. Du hast
uns doch zusammen gesehen. Meinst du, ich bin wahn-
sinnig verliebt?«
»Beißt er?«
Mag ließ eine Masche fallen. »Beißt er?«
»Dich. Im Bett.«
»Nein. Müsste er?« Dann fügte sie tadelnd hinzu:
»Aber er lacht.«
»Gut. Das ist die richtige Einstellung. Ich mag Männer,
die die komische Seite sehen; die meisten bestehen nur
aus Ächzen und Keuchen.«
Mag zog ihre Klage zurück; sie fasste die Bewertung
als ein Kompliment auch für sich selbst auf. »Ja. Kannst
Recht haben.«
»So. Er beißt nicht. Er lacht. Was sonst noch?«
Mag nahm ihre gefallene Masche auf und fing von vorn
an, eins rechts, zwei links.
»Ich hab gefragt …«
»Hab’s gehört. Und es ist nicht so, dass ich dir’s nicht sa-
gen möchte. Aber es fällt mir schwer, mich daran zu erin-
nern. Ich reite nicht gern auf diesen Dingen herum. Nicht

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so wie du. Sie gehen mir aus dem Kopf wie ein Traum. Ich
bin überzeugt, das ist die n-n-normale Haltung.«
»Es mag normal sein, Herzchen; aber ich bin lieber na-
türlich.« Holly schwieg, um die übrigen Schnurrhaare des
Katers rot zu lackieren. »Pass auf. Wenn du dich nicht er-
innern kannst, versuch, das Licht anzulassen.«
»Bitte versteh mich, Holly. Ich bin ein sehr-sehr-sehr
konventioneller Mensch.«
»Ach, Quatsch. Was ist falsch daran, sich einen Mann,
den man mag, gründlich anzuschauen? Männer sind
schön, jedenfalls viele, José bestimmt, und wenn du ihn
nicht mal anschauen magst, dann, würde ich sagen, kriegt
er einen Teller voll kalter Nudeln.«
»R-R-Red leiser.«
»Du kannst unmöglich in ihn verliebt sein. Beantwor-
tet das deine Frage?«
»Nein. Weil ich kein Teller voll kalter N-N-Nudeln
bin. Ich bin ein warmherziger Mensch. Das liegt in mei-
nem Charakter.«
»Gut. Du hast ein warmes Herz. Aber wenn ich ein
Mann auf dem Weg ins Bett wäre, würde ich lieber eine
Wärmflasche mitnehmen. Die ist greifbarer.«
»José hat sich bisher noch nicht beklagt«, sagte sie
selbstzufrieden und ließ die Stricknadeln im Sonnenlicht
aufblitzen. »Und außerdem bin ich in ihn verliebt. Ist dir
klar, dass ich in weniger als drei Monaten zehn Paar ka-
rierte Socken gestrickt habe? Und das ist der zweite Pul-
lover.« Sie zog den Pullover in die Länge und warf ihn
hin. »Aber was soll’s? Pullover in Brasilien. Ich müsste
T-T-Tropenhelme stricken.«
Holly lehnte sich zurück und gähnte. »Da muss es
auch mal Winter werden.«

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»Es regnet, das weiß ich. Hitze. Regen. U-U-Urwald.«
»Hitze. Urwald. Das könnte mir gefallen.«
»Besser du als ich.«
»Ja«, sagte Holly mit einer Schläfrigkeit, die ganz und
gar nicht schläfrig war. »Besser ich als du.«

Als ich am Montag hinunterging, um die Morgenpost zu


holen, war die Karte an Hollys Briefkasten geändert und
ein Name hinzugefügt worden: Miss Golightly und
Miss Wildwood reisten jetzt zusammen. Das hätte mein
Interesse länger fesseln können, nur dass in meinem ei-
genen Kasten ein Brief lag. Er kam von einer kleinen
Universitätszeitschrift, der ich eine Erzählung geschickt
hatte. Sie gefiel ihnen; und sie hatten, obwohl ich Ver-
ständnis dafür aufbringen musste, dass sie kein Honorar
zahlen konnten, die Absicht, sie zu veröffentlichen.
Veröffentlichen: das bedeutete drucken. Schwindlig vor
Aufregung ist keine bloße Redewendung. Ich musste es
jemandem erzählen: So stürzte ich, immer zwei Stufen
auf einmal, die Treppe hoch und hämmerte an Hollys
Tür.
Ich traute meiner Stimme nicht zu, von der Neuigkeit
zu berichten; sobald sie mit verschlafen blinzelnden Au-
gen an die Tür kam, streckte ich ihr den Brief entgegen. Es
kam mir vor, als hätte sie genug Zeit gehabt, um sechzig
Seiten zu lesen, bis sie ihn schließlich zurückgab. »Ich
würde denen das nicht erlauben, wenn die nichts dafür
bezahlen«, sagte sie gähnend. Vielleicht erklärte mein Ge-
sicht, dass ihr ein Fehler unterlaufen war, dass ich keine
Ratschläge wollte, sondern Glückwünsche: ihr Mund ver-
zog sich von einem Gähnen zu einem Lächeln. »Ah, ich
verstehe. Es ist wunderbar. Na, komm rein«, sagte sie.

55
»Wir kochen eine Kanne Kaffee und feiern. Nein. Ich zieh
mich an und führ dich zum Essen aus.«
Ihr Schlafzimmer stand im Einklang mit ihrem Salon:
Es bot dieselbe Umzugsatmosphäre; Kisten und Koffer,
alles gepackt und aufbruchsbereit, wie die Habseligkeiten
eines Verbrechers, der spürt, dass ihm das Gesetz auf den
Fersen ist. Im Salon gab es keine üblichen Möbel, doch
das Schlafzimmer enthielt immerhin ein Bett, nämlich ein
Doppelbett, und dazu ein recht protziges: helles Holz,
gesteppter Satin.
Sie ließ die Badezimmertür auf und unterhielt sich von
dort aus mit mir; zwischen dem Rauschen und Brausen
ging das meiste von dem, was sie sagte, verloren, aber das
Wesentliche war: vermutlich wusste ich schon, dass Mag
Wildwood eingezogen war, und war das nicht praktisch?
Denn wenn man schon eine Mitbewohnerin braucht und
sie keine Lesbierin ist, dann ist das Zweitbeste eine abso-
lut doofe Nuss, was Mag war, denn dann kann man ihr
die Miete aufhalsen und sie die Wäsche holen schicken.
Es war ohne weiteres zu erkennen, dass Holly ein Wä-
scheproblem hatte; das Zimmer war übersät wie der Um-
kleideraum einer Mädchenturnhalle.
»… Und weißt du, sie ist ein recht erfolgreiches Man-
nequin: Ist das nicht phantastisch? Aber das ist gut so«,
sagte sie, als sie aus dem Badezimmer humpelte und einen
Strumpf am Halter festmachte. »Dann kommt sie mir
wenigstens tagsüber nicht so in die Quere. Und an der
Männerfront sollte es auch keine allzu großen Probleme
geben. Sie ist verlobt. Netter Bursche. Obwohl es einen
winzigen Größenunterschied gibt: ich würde sagen, über
einen Kopf, zu ihren Gunsten. Wo zum Teufel …« Sie lag
auf den Knien und stocherte unter dem Bett. Nachdem

56
sie gefunden hatte, was sie suchte, ein Paar Eidechsen-
schuhe, musste sie nach einer Bluse stöbern, einem Gür-
tel, und es blieb ein Rätsel, wie sie es fertigbrachte, aus
einer solchen Unordnung schließlich so hervorzugehen:
verwöhnt, gelassen und makellos, als sei sie von Kleopat-
ras Leibdienerinnen umsorgt worden. Sie sagte: »Hör
zu«, und legte ihre Hand unter mein Kinn, »ich freu mich
wegen der Geschichte. Wirklich.«

Dieser Montag im Oktober 1943. Ein schöner Tag mit


der Schwungkraft eines Vogels. Zu Beginn tranken wir
Manhattans bei Joe Bell und, als er von meinem Glück
hörte, Champagnercocktails aufs Haus. Danach schlen-
derten wir zur Fifth Avenue, wo eine Parade stattfand.
Die Fahnen im Wind, das Stampfen der Militärkapellen
und der militärischen Füße schienen nichts mit dem
Krieg zu tun zu haben, sondern vielmehr eine mir zu Eh-
ren veranstaltete Feier zu sein.
Wir aßen in dem Restaurant im Central Park zu Mit-
tag. Hinterher, unter Umgehung des Zoos (Holly sagte,
sie könne nicht ertragen, irgendetwas in einem Käfig zu
sehen), rannten wir auf den Wegen lachend und singend
zu dem alten, hölzernen Bootshaus, das inzwischen ver-
schwunden ist. Blätter schwammen auf dem See; am Ufer
fachte ein Parkwächter ein Feuer aus welkem Laub an,
und der Rauch, der aufstieg wie Indianersignale, war die
einzige Trübung in der zitternden Luft. Der April hat mir
nie viel bedeutet, der Herbst scheint die Jahreszeit des
Neubeginns, des Frühlings zu sein; dieses Gefühl hatte
ich, als ich mit Holly auf dem Geländer der Bootshausve-
randa saß. Ich dachte an die Zukunft und sprach von der
Vergangenheit. Denn Holly hatte mich nach meiner

57
Kindheit gefragt. Sie erzählte auch von ihrer eigenen; aber
verschwommen, ohne Namens- oder Ortsangaben, eine
impressionistische Schilderung, wenn auch von ganz an-
derer Art, als man erwartete, denn es war darin nahezu
lustvoll vom Baden und vom Sommer, von Weihnachts-
bäumen, hübschen Vettern und Festen die Rede: kurzum,
glücklich auf eine Weise, wie Holly es nicht war, und nie
und nimmer das Umfeld eines Kindes, das von zu Hause
fortgelaufen war.
Oder, fragte ich, stimmte es etwa nicht, dass sie sich
seit ihrem vierzehnten Lebensjahr allein durchgeschlagen
hatte? Sie rieb sich die Nase. »Doch, das stimmt. Das an-
dere nicht. Aber im Ernst, Herzchen, du hast aus deiner
Kindheit solch eine Tragödie gemacht, dass ich damit
nicht wetteifern wollte.«
Sie sprang vom Geländer herunter. »Jedenfalls erinnert
mich das daran: ich muss Fred Erdnussbutter schicken.«
Den Rest des Nachmittags über pendelten wir hin und
her und schwatzten widerwilligen Lebensmittelhändlern
Dosen mit Erdnussbutter ab, einer kriegsbedingten Man-
gelware; die Dunkelheit brach herein, bevor wir ein hal-
bes Dutzend Dosen zusammenhatten, die letzte aus ei-
nem Feinkostgeschäft in der Third Avenue. Es befand
sich ganz in der Nähe von dem Antiquitätenladen mit
dem palastartigen Vogelkäfig im Schaufenster, also führte
ich sie dorthin, um ihn ihr zu zeigen, und ihr gefiel seine
Eigenart, seine phantasievolle Pracht. »Aber trotzdem, es
ist und bleibt ein Käfig.«
Als wir bei einem Woolworth vorbeikamen, packte sie
meinen Arm: »Komm, wir stehlen was«, sagte sie und
zog mich in das Warenhaus, wo sich sofort Augen auf
uns zu richten schienen, als stünden wir schon unter Ver-

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dacht. »Los, sei kein Feigling.« Sie umstrich einen Laden-
tisch voller Pappmachékürbisse und Halloween-Masken.
Die Verkäuferin war gerade mit einer Gruppe von Non-
nen beschäftigt, die Masken aufprobierten. Holly nahm
eine Maske und setzte sie sich auf; sie wählte eine andere
aus und setzte sie mir auf; dann ergriff sie meine Hand,
und wir gingen hinaus. So einfach war das. Draußen
rannten wir ein ganzes Stück, ich glaube, um es dramati-
scher zu machen; aber auch, weil, wie ich entdeckt hatte,
erfolgreicher Diebstahl in Hochstimmung versetzt. Ich
fragte sie, ob sie schon oft gestohlen hatte. »Früher ja«,
sagte sie. »Ich meine, ich musste einfach. Wenn ich was
haben wollte. Aber hin und wieder tu ich’s immer noch,
um in Übung zu bleiben.«
Wir trugen die Masken, bis wir zu Hause waren.

In meiner Erinnerung habe ich viele Hierhin-und-


dorthin-Tage mit Holly verbracht: und es ist wahr, gele-
gentlich unternahmen wir etwas; aber im Großen und
Ganzen ist die Erinnerung falsch. Denn gegen Ende des
Monats fand ich Arbeit: was gibt es da hinzuzufügen? Je
weniger, desto besser, außer vielleicht, dass sie notwendig
war und von neun bis fünf dauerte. Was unseren Tagesab-
lauf, Hollys und meinen, extrem verschieden machte.
Außer am Donnerstag, ihrem Sing-Sing-Tag, oder
wenn sie in den Park reiten gegangen war, was sie hin und
wieder tat, stand Holly gerade erst auf, wenn ich nach
Hause kam. Manchmal schaute ich kurz vorbei und teilte
ihren Wachmacherkaffee mit ihr, während sie sich für den
Abend zurechtmachte. Sie ging ständig aus, nicht immer
mit Rusty Trawler, aber meistens, und meistens gesellten
sich auch Mag Wildwood und der schöne Brasilianer da-

59
zu, dessen Name José Ybarra-Jaegar lautete: seine Mutter
war Deutsche. Als Quartett klangen sie ein wenig unrein,
was hauptsächlich an Ybarra-Jaegar lag, der in ihrer Ge-
sellschaft so fehl am Platz wirkte wie eine Geige in einer
Jazzkapelle. Er war intelligent, er war ansehnlich, ihm lag
offensichtlich viel an seiner Arbeit, die irgendwie irgend-
was mit wichtigen Regierungsgeschäften zu tun hatte und
ihn an mehreren Tagen in der Woche nach Washington
führte. Wie konnte er dann eine Nacht nach der anderen
im La Rue, im El Morocco überleben, in den Ohren das
Wildwood-G-G-Geschwätz und vor den Augen Rustys
aufgedunsenes Babypopo-Gesicht? Vielleicht, wie die
meisten von uns in einem fremden Land, war er unfähig,
Menschen einzuordnen, sie in den richtigen Rahmen zu
stecken, wie er es zu Hause getan hätte; deshalb mussten
alle Amerikaner so ziemlich im selben Licht beurteilt
werden, und auf dieser Grundlage kamen ihm seine Be-
gleiter wie erträgliche Vertreter des Lokalkolorits und des
Nationalcharakters vor. Das würde vieles erklären; Hollys
Zielstrebigkeit erklärt den Rest.
Spät eines Nachmittags, während ich auf einen Fifth-
Avenue-Bus wartete, sah ich ein Taxi auf der anderen
Straßenseite halten, um ein Mädchen aussteigen zu lassen,
das die Stufen der Stadtbibliothek in der Fortysecond
Street hinaufrannte. Ich erkannte sie erst, als sie schon die
Tür passiert hatte, was verzeihlich war, denn Holly und
Bibliotheken waren nicht leicht miteinander in Verbin-
dung zu bringen. Ich ließ mich von der Neugier zwischen
den Löwen hindurchführen und überlegte auf dem Weg,
ob ich zugeben sollte, dass ich ihr gefolgt war, oder einen
Zufall vortäuschen sollte. Am Ende tat ich weder das eine
noch das andere, sondern versteckte mich ein paar Tische

60
weiter im Lesesaal, wo sie hinter ihrer Sonnenbrille und
einem Wall aus Literatur saß, den sie aufgehäuft hatte. Sie
eilte von einem Buch zum nächsten, verweilte zwischen-
durch auf einer Seite, immer mit gerunzelter Stirn, als sei
die Schrift verkehrt herum. Sie hielt einen Bleistift über
einem Blatt Papier bereit – doch nichts schien ihr Interes-
se zu wecken, trotzdem machte sie hin und wieder, wohl
der Form halber, eifrig Notizen. Während ich sie beo-
bachtete, musste ich an ein Mädchen denken, das ich in
der Schule gekannt hatte, eine Streberin namens Mildred
Grossman. Mildred: mit dem feuchten Haar und der fetti-
gen Brille, den fleckigen Fingern, die Frösche sezierten
und Streikposten Kaffee brachten, mit den stumpfen Au-
gen, die sich den Sternen nur zuwandten, um deren spezi-
fisches Gewicht zu schätzen. Erde und Luft konnten
nicht gegensätzlicher sein als Mildred und Holly, doch in
meinem Kopf wurden sie zu siamesischen Zwillingen.
Der Gedankenfaden, der sie zusammengenäht hatte, lief
so: die durchschnittliche Persönlichkeit formt sich des Öf-
teren um, alle paar Jahre unterzieht sich sogar unser Kör-
per einer Generalüberholung – ob wünschenswert oder
nicht, es ist etwas ganz Natürliches, dass wir uns verän-
dern. So, und hier waren zwei Menschen, die sich nie än-
dern würden. Das hatte Mildred Grossman mit Holly
Golightly gemein. Sie würden sich nie ändern, denn ihr
Charakter war ihnen zu früh gegeben worden; was, wie
plötzlicher Reichtum, zu einem Mangel an Ausgewogen-
heit führt: die eine hatte sich zu einer kopflastigen Realis-
tin verfestigt, die andere zu einer schrägen Romantikerin.
Ich stellte mir beide in einem Restaurant der Zukunft vor,
Mildred, die immer noch die Speisekarte auf die Nähr-
werte hin studierte, und Holly, die immer noch nach al-

61
lem gierte, was darauf stand. Es würde nie anders sein. Sie
würden mit demselben entschlossenen Schritt, der von je-
nen Abgründen zur Linken kaum Notiz nimmt, durchs
Leben gehen und schließlich auch daraus hinaus. Solche
tiefgründigen Betrachtungen ließen mich vergessen, wo
ich war; als ich zu mir kam, erschrak ich, weil ich mich im
Halbdunkel der Bibliothek wiederfand, und war aufs
Neue davon überrascht, Holly dort zu sehen. Es war nach
sieben, sie zog sich die Lippen nach und hübschte ihre Er-
scheinung von dem, was sich ihrer Meinung nach für eine
Bibliothek geziemt, mit Hilfe von einem Schal und Ohr-
ringen zu dem auf, was sie fürs Colony passend fand. Als
sie gegangen war, schlenderte ich zu ihrem Tisch hinüber,
auf dem ihre Bücher verblieben waren; sie entsprachen
meinen Vorstellungen. Mit dem Donnervogel nach Süden.
Brasiliens Brauchtum. Die politischen Bewegungen in La-
teinamerika. Und so weiter.
Am Heiligabend gaben Holly und Mag eine Party.
Holly bat mich, früher zu kommen und den Baum
schmücken zu helfen. Ich weiß immer noch nicht, wie sie
diesen Baum in die Wohnung bugsiert haben. Die obers-
ten Zweige wurden von der Zimmerdecke geknickt, die
unteren reichten von Wand zu Wand; jedenfalls war er
nicht viel anders als der Weihnachtsriese, der auf der Ro-
ckefeller Plaza zu sehen ist. Außerdem hätte man ein Ro-
ckefeller sein müssen, um ihn zu schmücken, denn er sog
Christbaumkugeln und Lametta auf wie schmelzenden
Schnee. Holly schlug vor, rasch zu Woolworth zu laufen
und Luftballons zu stehlen; was sie tat: und die verwan-
delten den Baum in ein ansehnliches Schmuckstück. Wir
stießen auf unser Werk an und Holly sagte: »Schau mal
im Schlafzimmer nach. Da ist ein Geschenk für dich.«

62
Ich hatte auch eins für sie: ein kleines Päckchen in
meiner Tasche, das sich noch kleiner anfühlte, als ich,
mitten auf dem Bett und mit einer roten Schleife drum
herum, den schönen Vogelkäfig sah.
»Aber Holly! Wie entsetzlich!«
»Ich bin völlig deiner Meinung; aber ich dachte, du
willst ihn haben.«
»Das Geld! Dreihundertfünfzig Dollar!«
Sie zuckte die Achseln. »Ein paar zusätzliche Gänge
zur Damentoilette. Du musst mir aber was versprechen.
Versprich mir, dass du nie ein Lebewesen hineintun
wirst.«
Ich wollte sie küssen, aber sie streckte die Hand aus.
»Gib her«, sagte sie und tippte auf die Beule in meiner
Tasche.
»Ich fürchte, es ist nicht viel«, und das war es auch
nicht: ein Sankt-Christophorus-Anhänger. Aber wenigs-
tens war er von Tiffany. Holly war keine Frau, die irgend-
etwas behalten konnte, und bestimmt hat sie diesen An-
hänger inzwischen verloren, in einem Koffer oder einer
Hotelschublade zurückgelassen. Aber der Vogelkäfig ist
immer noch bei mir. Ich habe ihn nach New Orleans ge-
schleppt, nach Nantucket, durch ganz Europa, nach Ma-
rokko und in die Karibik. Doch ich denke selten daran,
dass es Holly war, die ihn mir geschenkt hat, denn zu ei-
nem bestimmten Zeitpunkt entschied ich mich, das zu
vergessen: wir hatten ein schweres Zerwürfnis, und zu
den Dingen, die im Auge unseres Wirbelsturms kreisten,
gehörten der Vogelkäfig und O. J. Berman und meine Er-
zählung, von der ich Holly ein Exemplar gegeben hatte,
als sie in der Universitätszeitschrift erschienen war.
Irgendwann im Februar hatte Holly mit Rusty, Mag

63
und José Ybarra-Jaegar eine Winterreise angetreten. Un-
sere Auseinandersetzung ereignete sich bald nach ihrer
Rückkehr. Sie war braun wie Jod, das Haar von der Son-
ne zu einer geisterhaften Farbe gebleicht, und sie hatte
sich wunderbar amüsiert: »Zuerst waren wir in Key West,
und Rusty hat sich mit ein paar Matrosen angelegt oder
die sich mit ihm, jedenfalls wird er für den Rest seines
Lebens ein Stützkorsett tragen müssen. Die liebe Mag ist
auch im Krankenhaus gelandet. Sonnenbrand. Verbren-
nungen ersten Grades. Ekelhaft: nichts als Blasen und
Zitronenöl. Wir konnten ihren Gestank nicht aushalten.
Also haben José und ich die beiden im Krankenhaus ge-
lassen und sind nach Havanna gefahren. Er sagt, warte,
bis du Rio siehst; aber was mich anbelangt, setze ich mein
Geld schon jetzt auf Havanna. Wir hatten einen unwider-
stehlichen Reiseführer, das meiste an ihm Neger und der
Rest Chinese, und obwohl ich mir weder aus den einen
noch den anderen viel mache, war die Mischung absolut
faszinierend: also haben wir unter dem Tisch gefüßelt,
weil ich ihn gar nicht unübel fand; aber dann ist er eines
Abends mit uns in einen Pornofilm gegangen, und stell
dir vor, da war er, auf der Leinwand. Als wir dann wieder
nach Key West kamen, war Mag natürlich überzeugt,
dass ich die ganze Zeit mit José geschlafen habe. Rusty
auch, aber dem macht das nichts aus, der will nur die
Einzelheiten hören. Die Situation war ziemlich ange-
spannt, bis ich mich mit Mag ausgesprochen habe.«
Wir befanden uns im Wohnzimmer, wo, obwohl es fast
schon März war, der riesige Weihnachtsbaum, inzwischen
braun und geruchlos, seine Luftballons eingeschrumpelt
wie die Euter einer alten Kuh, immer noch den größten
Teil des Raumes einnahm. Ein als Möbelstück erkennba-

64
rer Gegenstand hatte sich in dem Zimmer eingefunden:
ein Feldbett; und Holly, die bemüht war, ihr tropisches
Aussehen zu bewahren, hatte sich unter einer Höhen-
sonne darauf ausgestreckt.
»Und du hast sie überzeugt?«
»Dass ich nicht mit José geschlafen habe? Ja, klar. Ich
hab ihr einfach gesagt – aber weißt du: ich hab mich ange-
strengt, dass es klang wie ein verzweifeltes Geständnis –
ihr einfach gesagt, dass ich andersrum bin.«
»Das kann sie unmöglich geglaubt haben.«
»Und ob sie das geglaubt hat. Was meinst du wohl,
warum sie losgezogen ist und sich dieses Feldbett besorgt
hat? Eins musst du mir lassen: ich bin immer für eine
Überraschung gut. Sei ein Schatz, Herzchen, und reib mir
den Rücken mit Sonnenöl ein.« Während ich ihrer Bitte
nachkam, sagte sie: »O. J. Berman ist in der Stadt, und
hör zu, ich hab ihm deine Geschichte in der Zeitschrift
gegeben. Er war ziemlich beeindruckt. Er meint, viel-
leicht lohnt es sich, dir zu helfen. Aber er sagt, du bist auf
dem Holzweg. Neger und kleine Kinder: wen kümmert
das?«
»Mr. Berman offenbar nicht.«
»Und ich bin ganz seiner Meinung. Ich hab die Ge-
schichte zweimal gelesen. Kleine Gören und Nigger. Zit-
ternde Blätter. Beschreibungen. Das bedeutet einem
nichts.«
Meine Hand, die Öl auf ihrer Haut verteilte, schien ein
Eigenleben zu besitzen: Sie sehnte sich danach, sich zu
heben und mit Wucht auf ihrem Hintern zu landen. »Gib
mir ein Beispiel«, sagte ich leise. »Von etwas, das was be-
deutet. Deiner Meinung nach.«
»Stürmische Höhen«, sagte sie ohne zu zögern.

65
Der Drang in meiner Hand geriet langsam außer Kon-
trolle. »Aber das ist kein Vergleich. Du redest von einem
Geniestreich.«
»Ja, nicht? Meine wilde, süße Cathy. Mein Gott, ich
hab geheult wie ein Schlosshund. Ich hab ihn zehnmal
gesehen.«
»Ach«, sagte ich mit deutlicher Erleichterung, »ach«,
mit ironisch ansteigender Stimme, »den Film.«
Ihre Muskeln verhärteten sich, sie fühlte sich an wie
von der Sonne erwärmter Stein. »Jeder muss sich irgend-
wem überlegen fühlen«, sagte sie. »Aber es ist üblich, ei-
nen kleinen Beweis dafür zu erbringen, bevor man sich
das Recht dazu herausnimmt.«
»Ich vergleiche mich nicht mit dir. Oder mit Berman.
Deshalb kann ich mich nicht überlegen fühlen. Wir wol-
len verschiedene Dinge.«
»Willst du Geld verdienen?«
»So weit geht meine Planung nicht.«
»So hören sich deine Geschichten auch an. Als hättest
du sie geschrieben, ohne das Ende zu kennen. Ich will dir
mal was sagen: du solltest lieber Geld verdienen. Du hast
eine teure Phantasie. Nicht viele Menschen werden dir
Vogelkäfige kaufen.«
»Tut mir leid.«
»Es wird dir leid tun, wenn du mich schlägst. Das
wolltest du doch vorhin tun: ich hab’s an deiner Hand ge-
spürt; und jetzt willst du’s auch.«
Ja, das wollte ich, sehr; meine Hand, mein Herz zitter-
ten, als ich die Ölflasche wieder zuschraubte. »Oh nein,
das würde mir nicht leid tun. Ich bedaure nur, dass du
dein Geld an mich verschwendet hast: Rusty Trawler ist
eine zu schwere Art, es zu verdienen.«

66
Sie setzte sich vom Feldbett auf, ihr Gesicht, ihre nack-
ten Brüste waren in dem Höhensonnenlicht von kaltem
Blau. »Man braucht ungefähr vier Sekunden, um von hier
zur Tür zu gehen. Dir gebe ich zwei.«

Ich marschierte schnurstracks nach oben, holte den Vo-


gelkäfig, brachte ihn hinunter und ließ ihn vor ihrer
Wohnungstür stehen. Das war das. Dachte ich jedenfalls,
bis ich am nächsten Morgen auf dem Weg zur Arbeit den
Käfig auf einer Mülltonne hocken sah, die am Rande des
Bürgersteigs die Müllabfuhr erwartete. Ziemlich kleinlaut
rettete ich ihn und trug ihn in mein Zimmer zurück, eine
Kapitulation, die nichts an meiner Entschlossenheit än-
derte, Holly Golightly gänzlich aus meinem Leben zu
verbannen. Sie war, entschied ich, »eine ungebildete An-
geberin, die ihr Leben vergeudete, eine Blenderin mit
nichts dahinter«: jemand, an den ich nie wieder das Wort
richten würde.
Und ich tat es auch nicht. Jedenfalls eine ganze Weile
lang. Auf der Treppe gingen wir gesenkten Blickes anein-
ander vorbei. Wenn sie zu Joe Bell hereinkam, ging ich
hinaus. Eines Tages ließ Madame Sapphia Spanella, die
Koloratursängerin und Rollschuhenthusiastin, unter den
übrigen Mietern des Sandsteinhauses eine Unterschriften-
liste herumgehen mit der Bitte, sie darin zu unterstützen,
dass Miss Golightly des Hauses verwiesen wurde: sie öff-
ne, so Madame Spanella, der Unmoral Tür und Tor und
sei die Veranstalterin geselliger Zusammenkünfte, die sich
über die ganze Nacht hinzögen und die Sicherheit sowie
die geistige Gesundheit der Nachbarn stark beeinträch-
tigten. Obwohl ich es ablehnte, zu unterschreiben, war
ich im Stillen der Meinung, dass Madame Spanella allen

67
Grund zur Klage hatte. Aber ihre Beschwerde blieb er-
folglos, und als der April auf den Mai zuging, drangen
durch die offenen Fenster der warmen Frühlingsnächte
die Partygeräusche, die lauten Grammophonklänge und
das Martinigelächter aus Wg. 2.
Es war nichts Neues, dass zu Hollys Besuchern auch
verdächtige Subjekte zählten, ganz im Gegenteil; aber ei-
nes Tages, spät in jenem Frühjahr, fiel mir, als ich durchs
Vestibül des Sandsteinhauses ging, ein sehr ausgefallener
Mann auf, der ihren Briefkasten untersuchte. Jemand An-
fang fünfzig mit hartem, wettergegerbtem Gesicht und
grauen, trostlosen Augen. Er trug einen alten, schweißfle-
ckigen grauen Hut, und sein billiger Sommeranzug in hel-
lem Blau hing ihm zu weit um die hageren, schlaksigen
Glieder; seine Schuhe waren braun und nagelneu. Er zeig-
te keinerlei Absicht, bei Holly zu klingeln. Langsam, als
lese er Blindenschrift, fuhr er immer wieder mit dem Fin-
ger über die erhaben geprägten Buchstaben ihres Namens.
Am selben Abend, auf dem Weg zum Essen, sah ich
den Mann wieder. Er stand auf der anderen Straßenseite,
lehnte an einem Baum und starrte zu Hollys Fenstern
hoch. Finstere Vermutungen schossen mir durch den
Kopf. War er von der Kriminalpolizei? Oder ein Mafioso,
auf sie angesetzt wegen ihres Sing-Sing-Freundes Sally
Tomato? Meine zärtlicheren Gefühle für Holly wurden
von der Situation wiederbelebt; es war nur anständig, un-
sere Fehde lange genug zu unterbrechen, um sie zu war-
nen und ihr zu sagen, dass sie überwacht wurde. Als ich
zur Ecke ging und mich nach Osten wandte, zu dem
Hamburger-Himmel Ecke Seventy-ninth und Madison,
spürte ich die Aufmerksamkeit des Mannes auf mir ruhen.
Dann, ohne mich umzudrehen, wusste ich, dass er mir

68
folgte. Denn ich konnte ihn pfeifen hören. Nicht irgend-
ein Lied, sondern die wehmütige Präriemelodie, die Holly
manchmal auf der Gitarre spielte: Will nimmer schlafen,
Will nimmer sterben, Will immer nur wandern durch des
Himmels grüne Auen. Das Pfeifen ging weiter über die
Park Avenue und die Madison hinauf. Einmal, als ich an
einer Ampel auf Grün wartete, beobachtete ich aus dem
Augenwinkel, wie er sich bückte, um einen räudigen Spitz
zu streicheln. »Schönes Tier haben Sie da«, sagte er zu
dem Besitzer in heiserer, ländlicher Sprechweise.
Der Hamburger-Himmel war leer. Trotzdem setzte er
sich an dem langen Tresen direkt neben mich. Er roch
nach Tabak und Schweiß. Er bestellte sich eine Tasse Kaf-
fee, aber als sie kam, rührte er sie nicht an. Stattdessen
kaute er auf einem Zahnstocher herum und musterte
mich in dem Wandspiegel vor uns.
»Entschuldigen Sie«, sagte ich zu seinem Spiegelbild,
»aber was wollen Sie?«
Die Frage brachte ihn nicht in Verlegenheit; er schien
erleichtert zu sein, dass sie endlich gestellt worden war.
»Sohn«, sagte er, »ich brauche einen Freund.«
Er holte eine Brieftasche hervor. Sie war so abgenutzt
wie seine ledrigen Hände und zerfiel schon fast; ebenso
wie das brüchige, rissige, unscharfe Photo, das er mir gab.
Sieben Personen waren auf dem Bild, alle auf der einsa-
ckenden Veranda eines kahlen Holzhauses gruppiert und
alles Kinder, bis auf den Mann selbst, der hatte den Arm
um die Hüfte eines pummeligen, blonden kleinen Mäd-
chens gelegt, das mit der Hand die Augen gegen die Son-
ne abschirmte.
»Das bin ich«, sagte er und zeigte auf sich selbst. »Das
ist sie …«, er tippte auf das pummelige Mädchen. »Und

69
das hier«, fügte er hinzu und zeigte auf eine flachshaarige
Bohnenstange, »das ist ihr Bruder Fred.«
Ich betrachtete wieder »sie«: Ja, doch, jetzt sah ich es,
eine rudimentäre Ähnlichkeit zwischen Holly und dem
blinzelnden, pausbäckigen Kind. Im selben Augenblick
wurde mir klar, wer der Mann sein musste.
»Sie sind Hollys Vater.«
Er zwinkerte, er runzelte die Stirn. »Sie heißt nicht
Holly. Sie war mal Lulamae Barnes. War«, sagte er und
verlagerte den Zahnstocher in seinem Mund, »bis sie mich
geheiratet hat. Ich bin ihr Mann. Doc Golightly. Ich bin
Pferdedoktor, Tierarzt. Hab auch eine kleine Farm. Bei
Tulip in Texas. Sohn, warum lachen Sie?«
Es war kein richtiges Gelächter: es waren die Nerven.
Ich trank ein wenig Wasser und verschluckte mich; er
klopfte mir auf den Rücken. »Das ist nicht zum Lachen,
Sohn. Ich bin ein müder Mann. Seit fünf Jahren such ich
meine Frau. Als ich den Brief von Fred bekam, in dem
stand, wo sie ist, hab ich mir eine Busfahrkarte gekauft.
Lulamae gehört nach Hause zu ihrm Mann und ihm
Kinners.«
»Ihren Kindern?«
»Das sind ihre Kinners«, sagte er und schrie fast. Er
meinte die vier übrigen jungen Gesichter auf dem Bild,
zwei barfüßige Mädchen und zwei Jungs in Overalls. Der
Mann war natürlich geistig verwirrt. »Aber Holly kann
nicht die Mutter dieser Kinder sein. Die sind ja älter als
sie. Und größer.«
»Nun, Sohn«, sagte er mit vernünftiger Stimme, »ich
habe nicht behauptet, dass es ihre leiblichen Kinners sind.
Deren eigne heißgeliebte Mutter, meine heißgeliebte Frau,
Jesus sei ihrer Seele gnädig, die entschlief am 4. Juli, dem

70
Unabhängigkeitstag, 1936. Das Jahr der Dürre. Als ich
Lulamae geheiratet hab, das war im Dezember 1938, da
ging sie auf die vierzehn zu. Vielleicht weiß ein normales
Mädel mit vierzehn noch nicht so recht, was sie will. Aber
bei Lulamae war das anders, die war außergewöhnlich.
Die wusste sehr wohl, was sie tat, als sie versprochen hat,
meine Frau zu sein und die Mutter meiner Kinners. Sie
hat uns allen das Herz gebrochen, als sie einfach so auf
und davon ist.« Er trank einen Schluck von seinem kalten
Kaffee und blickte mich mit forschendem Ernst an. »Nun,
Sohn, zweifeln Sie noch an meinen Worten? Glauben Sie,
es ist so, wie ich sage?«
Ich glaubte ihm. Es war zu unwahrscheinlich, um
nicht den Tatsachen zu entsprechen; außerdem passte es
genau zu O. J. Bermans Beschreibung von der Holly, die
ihm anfangs in Kalifornien begegnet war: »Man weiß ein-
fach nicht, ob sie vom platten Land kommt oder aus Ok-
lahoma oder von sonst wo.« Man konnte Berman keinen
Vorwurf daraus machen, nicht erraten zu haben, dass sie
eine Kindfrau aus Tulip in Texas war.
»Hat uns allen das Herz gebrochen, als sie einfach auf
und davon ist«, wiederholte der Pferdedoktor. »Dabei
hatte sie keinen Grund dazu. Die Hausarbeit, die haben
ihre Töchter getan. Lulamae konnte sich einen schönen
Tag machen: vorm Spiegel posieren und sich die Haare
waschen. Unsre eignen Kühe, unsren eignen Garten,
Hühner, Schweine: Sohn, diese Frau ist richtig dick ge-
worden. Derweil ihr Bruder sich zu einem Riesen ausge-
wachsen hat. Was eine ganze Ecke anders war, als sie zu
uns kamen. Nellie war’s, meine Älteste, Nellie war’s, die
sie ins Haus gebracht hat. Die ist eines Morgens zu mir
gekommen und hat gesagt: ›Papa, ich hab zwei kleine

71
Wilde in die Küche gesperrt. Ich hab sie draußen er-
wischt, wie sie Milch und Puteneier gestohlen haben.‹
Das waren Lulamae und Fred. So was Jämmerliches hat
noch keiner gesehn. Rippen, die überall rausstehen, Beine
wie Streichhölzer und Zähne so wacklig, dass sie nicht
mal Brei kauen können. Was war: ihre Mutter ist an TB
gestorben, der Vater auch – und alle Kinners, eine ganze
Rotte, sind zu verschiednen üblen Leuten gesteckt wor-
den. Lulamae und ihr Bruder, die haben bei üblen,
nichtsnutzigen Leuten hundert Meilen westlich von Tulip
gelebt. Sie hatte gute Gründe, aus diesem Haus wegzu-
laufen. Sie hatte keinen, meins zu verlassen. Das war ihr
Zuhause.« Er stützte die Ellbogen auf den Tresen, drück-
te die Fingerspitzen auf die geschlossenen Augen und
seufzte. »Sie ist aufgegangen wie Hefeteig und hat sich zu
einer richtig hübschen Frau entwickelt. Auch lebhaft.
Gesprächig wie eine Schnatterente. Mit was Klugem zu
sagen zu jedem Thema: besser als das Radio. Als Erstes
jeden Morgen geh ich raus und pflücke Blumen. Ich hab
für sie eine Krähe gezähmt und der beigebracht, ihren
Namen zu sagen. Ich hab ihr das Gitarrespielen gezeigt.
Sie nur anzusehen, hat mir Tränen in die Augen getrie-
ben. An dem Abend, als ich ihr einen Heiratsantrag ge-
macht habe, da hab ich geweint wie ein kleines Kind. Sie
hat gesagt: ›Aber was weinst du denn so, Doc? Ich bin
noch nie verheiratet gewesene Na, ich musste lachen und
hab sie gedrückt und geherzt: noch nie verheiratet gewe-
sen!« Er kicherte und kaute kurz auf seinem Zahnstocher.
»Erzählen Sie mir ja nicht, dass diese Frau nicht glücklich
gewesen ist!«, sagte er herausfordernd. »Wir alle haben
sie abgöttisch geliebt. Sie brauchte nicht den kleinen Fin-
ger krumm zu machen, außer um ein Stück Kuchen zu

72
essen. Oder sich die Haare zu kämmen und sich alle diese
Illustrierten kommen zu lassen. Wir müssen für hunnert
Dollars Illustrierte im Haus gehabt haben. Wenn Sie mich
fragen, die sind dran schuld. Die pompösen Photos, die
sie gesehen hat. Die Träume, von denen sie gelesen hat.
Das hat sie dann angestiftet, die Straße runterzulaufen.
Jeden Tag ist sie ein bisschen weiter gegangen: eine Meile,
und nach Hause gekommen. Zwei Meilen, und nach
Hause gekommen. Eines Tages ist sie einfach weiterge-
laufen.« Er legte wieder die Hand über die Augen, sein
Atem ging rauh. »Die Krähe, die ich ihr geschenkt hab,
ist wild geworden und davongeflogen. Den ganzen
Sommer lang hab ich sie gehört. Im Hof. Im Garten. Im
Wald. Den ganzen Sommer lang hat der verdammte Vo-
gel gerufen: Lulamae, Lulamae.«
Er blieb vornübergebeugt und schwieg, als lauschte er
den Lauten jenes lange vergangenen Sommers. Ich brachte
der Kassiererin unsere Rechnungen. Während ich bezahl-
te, kam er zu mir. Wir verließen zusammen das Lokal und
liefen hinüber zur Park Avenue. Es war ein kühler, windi-
ger Abend; elegante Markisen flatterten in der Brise. Das
Schweigen zwischen uns ging weiter, bis ich sagte: »Aber
was ist mit ihrem Bruder? Er ist nicht fortgegangen?«
»Nein, Sir«, sagte er und räusperte sich. »Fred war bei
uns, bis die Armee ihn geholt hat. Ein guter Junge. Gut
mit Pferden. Er konnte sich nicht erklären, was in Lula-
mae gefahren ist. Wieso sie ihren Bruder und ihren Mann
und ihre Kinners verlassen hat. Aber seit Fred bei der
Armee ist, hat er wieder was von ihr gehört. Neulich hat
er mir ihre Adresse geschrieben. Also bin ich hergekom-
men, um sie zu holen. Ich weiß, ihr tut leid, was sie getan
hat. Ich weiß, sie will nach Hause.« Er schien mich zu

73
fragen, ob ich auch so dächte. Ich sagte ihm, meiner Mei-
nung nach werde er Holly oder Lulamae etwas verändert
finden. »Hören Sie, Sohn«, sagte er, als wir die Vortreppe
des Sandsteinhauses erreichten. »Ich hab Ihnen gesagt,
ich brauche einen Freund. Denn ich will sie nicht überra-
schen. Sie nicht erschrecken. Deswegen hab ich mich zu-
rückgehalten. Seien Sie mein Freund: sagen Sie ihr, dass
ich hier bin.«
Die Vorstellung, Mrs. Golightly mit ihrem Ehemann
bekannt zu machen, hatte ihre ergötzlichen Aspekte; und
als ich über mir ihre erleuchteten Fenster sah, hoffte ich,
ihre Freunde würden da sein, denn die Aussicht, zu beo-
bachten, wie der Texaner Mag und Rusty und José die
Hand schüttelte, war noch ergötzlicher. Aber als ich die
stolzen, ernsten Augen von Doc Golightly und seinen
schweißfleckigen Hut sah, schämte ich mich meiner Vor-
freude. Er folgte mir ins Haus und bereitete sich darauf
vor, am Fuß der Treppe zu warten. »Seh ich ordentlich
aus?«, flüsterte er, staubte sich die Ärmel ab und zog sei-
ne Krawatte fest.
Holly war allein. Sie öffnete sofort die Tür; denn sie
wollte gerade ausgehen – weiße Satintanzpumps und Par-
fümwolken kündeten von festlichen Absichten. »Ach, du
Idiot«, sagte sie und schlug spielerisch mit ihrer Handta-
sche nach mir. »Ich hab’s viel zu eilig, um mich jetzt zu
versöhnen. Wir rauchen die Friedenspfeife morgen, ein-
verstanden?«
»Sicher, Lulamae. Wenn du morgen noch hier bist.«
Sie nahm ihre Sonnenbrille ab und blinzelte mich an.
Es war, als seien ihre Augen zerschmetterte Prismen, die
braunen und grauen und grünen Punkte wie Diamanten-
splitter. »Er hat dir das erzählt«, sagte sie mit leiser, zitt-

74
riger Stimme. »Ach, bitte. Wo ist er?« Sie rannte an mir
vorbei in den Flur. »Fred!«, rief sie die Treppe hinunter.
»Fred! Wo bist du, Liebling?«
Ich hörte Doc Golightlys Schritte die Treppe herauf-
kommen. Sein Kopf tauchte über dem Geländer auf, und
Holly wich vor ihm zurück, nicht, als habe sie Angst,
sondern als ziehe sie sich in ein Schneckenhaus der Ent-
täuschung zurück. Dann stand er vor ihr, schüchtern und
mit hängenden Ohren. »Meine Güte, Lulamae«, begann
er und zögerte, denn sie starrte ihn leer an, als könne sie
ihn nicht unterbringen. »Mensch, Kleines«, sagte er, »ge-
ben sie dir hier nichts zu essen? Du bist ja nur Haut und
Knochen. Wie damals, als ich dich zum ersten Mal gesehn
hab. Ganz verstört um die Augen.«
Holly berührte sein Gesicht; ihre Finger erprobten die
Wirklichkeit seines Kinns, seine Bartstoppeln. »Hallo,
Doc«, sagte sie sanft und küsste ihn auf die Wange. »Hal-
lo, Doc«, wiederholte sie glücklich, als er sie in einer rip-
penbrechenden Umarmung von den Füßen hob. Jauchzer
erleichterten Gelächters schüttelten ihn. »Meine Güte,
Lulamae. Das Himmelreich.«
Beide nahmen keine Notiz von mir, als ich mich an ih-
nen vorbeidrückte und zu meinem Zimmer hinaufging.
Auch Madame Sapphia Spanella schienen sie nicht zu
bemerken, die ihre Tür aufriss und schrie: »Ruhe! Eine
Schande. Gehen Sie woanders anschaffen.«

»Scheiden lassen? Natürlich hab ich mich nie von ihm


scheiden lassen. Mein Gott, ich war doch erst vierzehn.
Das kann nicht rechtsgültig gewesen sein.« Holly klopfte
an ein leeres Martiniglas. »Noch zwei, liebster Mr. Bell.«
Joe Bell, in dessen Bar wir saßen, nahm die Bestellung

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widerstrebend auf. »Ihr macht ja ganz schön früh ein
Fass auf«, beschwerte er sich und biss knirschend auf ei-
nen Tums. Es war noch nicht Mittag, laut der schwarzen
Mahagoniuhr hinter der Bar, und er hatte uns schon drei
Runden serviert.
»Aber es ist Sonntag, Mr. Bell. Am Sonntag gehen die
Uhren langsamer. Außerdem bin ich noch gar nicht im
Bett gewesen«, sagte sie zu ihm und vertraute mir an:
»Jedenfalls nicht, um zu schlafen.« Sie wurde rot und
wandte schuldbewusst den Blick ab. Zum ersten Mal, seit
ich sie kannte, schien sie das Bedürfnis zu spüren, sich zu
rechtfertigen: »Na ja, ich musste. Doc liebt mich wirk-
lich, weißt du. Und ich liebe ihn auch. Für dich hat er
vielleicht alt und heruntergekommen ausgesehen. Aber
du weißt nicht, wie liebevoll er ist, welches Vertrauen er
Vögeln und kleinen Kindern und solchen empfindlichen
Geschöpfen geben kann. Und jemandem, der einem je
Selbstvertrauen gegeben hat, dem schuldet man viel. Ich
habe Doc immer in meine Gebete eingeschlossen. Hör
bitte auf, so dreckig zu grinsen!«, forderte sie und drück-
te heftig ihre Zigarette aus. »Ja, ich bete tatsächlich.«
»Ich grinse nicht dreckig. Ich lächle. Du bist eine
höchst erstaunliche Person.«
»Kann schon sein«, sagte sie, und ihr Gesicht, bleich
und ziemlich verquollen im Morgenlicht, hellte sich auf;
sie glättete ihre zerzausten Haare, deren Farben schim-
merten wie eine Haarwaschmittelreklame. »Ich muss übel
aussehen. Aber wer würde das nicht? Wir haben den Rest
der Nacht damit zugebracht, uns auf einem Busbahnhof
herumzudrücken. Doc hat gedacht, ich würde mit ihm
mitfahren. Obwohl ich ihm immer wieder gesagt habe:
Aber, Doc, ich bin keine vierzehn mehr, und ich bin nicht

76
Lulamae. Aber das Schreckliche daran ist (und das ist mir
klar geworden, als wir da herumstanden), ich bin’s. Ich
stehle immer noch Puteneier und renne durch Dornenge-
strüpp. Bloß jetzt nenne ich’s das rote Elend.«
Joe Bell stellte verächtlich die frischen Martinis vor uns
hin.
»Verlieben Sie sich nie in ein wildes Geschöpf, Mr.
Bell«, riet Holly ihm. »Das war Docs Fehler. Er hat
immer wilde Geschöpfe nach Hause geschleppt. Einen
Habicht mit einem verletzten Flügel. Einmal einen aus-
gewachsenen Rotluchs mit einem gebrochenen Bein.
Aber man darf sein Herz nicht an wilde Geschöpfe ver-
lieren: je mehr man es tut, desto stärker werden sie. Bis
sie stark genug sind, in den Wald zu laufen. Oder auf ei-
nen Baum zu fliegen. Dann auf einen höheren Baum.
Dann in den Himmel. So werden Sie enden, Mr. Bell.
Wenn Sie nicht aufpassen und sich in ein wildes Ge-
schöpf verlieben. Am Ende stehen Sie da und schauen in
den Himmel.«
»Sie ist betrunken«, informierte mich Joe Bell.
»Halbwegs«, gestand Holly. »Aber Doc hat gewusst,
was ich meine. Ich habe es ihm ganz sorgfältig erklärt,
und das war etwas, das er verstehen konnte. Wir haben
uns die Hand gegeben und uns in die Arme genommen,
und er hat mir viel Glück gewünscht.« Sie sah auf die
Uhr. »Inzwischen muss er schon in den Blue Mountains
sein.«
»Wovon redet sie eigentlich?«, erkundigte sich Joe Bell
bei mir.
Holly erhob ihren Martini. »Lass uns dem Doc auch
viel Glück wünschen«, sagte sie und stieß ihr Glas an
meines. »Viel Glück: und glaub mir, liebster Doc – es ist

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besser, in den Himmel zu schauen, als dort zu leben. Solch
ein leerer Ort; so trüb. Bloß ein Land, wo der Donner
grollt und Dinge verschwinden.«

TRAWLER HEIRATET VIERTE. Ich war in der U-


Bahn irgendwo in Brooklyn, als ich die Schlagzeile sah.
Die Zeitung mit dieser Balkenüberschrift gehörte einem
anderen Fahrgast. Der einzige Teil des Artikels, den ich
lesen konnte, lautete: Rutherfurd »Rusty« Trawler, der
steinreiche Dandy, dem oft vorgeworfen wird, mit den
Nazis zu sympathisieren, ist gestern nach Greenwich
durchgebrannt, um die schöne … Nicht, dass ich weiter-
lesen mochte. Holly hatte ihn geheiratet: so, so. Ich
wünschte, ich läge unter den Rädern des Zuges. Aber das
hatte ich mir schon gewünscht, bevor ich die Schlagzeile
entdeckte. Aus einem ganzen Kopf voll von Gründen. Ich
hatte Holly seit unserem betrunkenen Sonntag in Joe
Bells Bar eigentlich nicht mehr gesehen. Die dazwischen-
liegenden Wochen hatten mir meinen eigenen Fall von ro-
tem Elend beschert. Zum einen war ich gefeuert worden,
hatte verdientermaßen und wegen eines komischen Ver-
gehens, zu kompliziert, um es hier zu erzählen, meine Ar-
beit verloren. Außerdem zeigte meine Wehrdienstbehörde
ein ungemütliches Interesse an mir, und da ich erst vor
kurzem der Reglementierung einer Kleinstadt entronnen
war, brachte mich der Gedanke, erneut einer Form diszip-
linierten Lebens unterworfen zu sein, zur Verzweiflung.
Eingeengt von meiner möglichen Einberufung einerseits
und meinem Mangel an Berufserfahrung andererseits,
schien es unmöglich, wieder Arbeit zu finden. Das
brachte mich nämlich in eine U-Bahn in Brooklyn; ich
kehrte zurück von einem entmutigenden Bewerbungsge-

78
spräch mit einem Redakteur der inzwischen eingegange-
nen Abendzeitung PM. All das, zusammen mit der Groß-
stadthitze des Sommers, hatte mich in einen Zustand
nervlicher Apathie versetzt. Daher meinte ich es mehr als
nur halb ernst, als ich wünschte, ich läge unter den Rädern
des Zuges. Die Schlagzeile verstärkte meinen Wunsch ins
Dringliche. Wenn Holly diesen »grotesken Embryo« hei-
raten konnte, dann mochten die endlosen Marschkolon-
nen des Unrechts auf dieser Welt ruhig über mich hinweg-
trampeln. Oder, und die Frage liegt nahe, beruhte meine
Empörung ein wenig darauf, dass ich selbst in Holly ver-
liebt war? Ein wenig. Denn ich war in sie verliebt. So, wie
ich früher einmal in die nicht mehr ganz junge farbige
Köchin meiner Mutter verliebt war und in den Briefträger,
der mich auf seine Runden mitnahm, und in eine ganze
Familie namens McKendrick. Auch diese Art von Liebe
erzeugt Eifersucht.
Als ich auf meinem Bahnhof angekommen war, kaufte
ich eine Zeitung; und entdeckte, jenen Satz zu Ende le-
send, wer Rustys Angetraute war: um die schöne, von
vielen Titelseiten her bekannte, aus den Bergen von Ar-
kansas stammende Miss Margaret Thatcher Fitzhue
Wildwood zu ehelichen. Mag! Meine Knie wurden vor
Erleichterung so weich, dass ich mir für den Rest des
Heimweges ein Taxi nahm.
Madame Sapphia Spanella begegnete mir händeringend
mit weit aufgerissenen Augen im Vestibül. »Laufen Sie«,
sagte sie. »Die Polizei holen. Sie ermordet jemanden! Je-
mand ermordet sie!«
Es hörte sich ganz danach an. Als seien in Hollys
Wohnung die Tiger los. Ein Tumult zerbrechenden Gla-
ses, zerreißender Papiere, zu Boden fallender Gegenstän-

79
de und umstürzender Möbel. Aber in all dem Getöse wa-
ren keine streitenden Stimmen zu hören, was mir unna-
türlich vorkam. »Laufen Sie«, kreischte Madame Spanella
und stieß mich. »Sagen Sie der Polizei, Mord und Tot-
schlag.«
Ich lief; aber nur nach oben bis zu Hollys Tür. Ich
hämmerte dagegen und erzielte zumindest ein Ergebnis:
der Lärm legte sich. Hörte völlig auf. Aber meine Bitten,
hineingelassen zu werden, blieben unbeantwortet, und
meine Anstrengungen, die Tür aufzubrechen, führten le-
diglich zu einer geprellten Schulter. Dann hörte ich unten
Madame Spanella einem Neuankömmling befehlen, die
Polizei zu holen. »Halten Sie den Mund«, wurde ihr ge-
sagt, »und gehen Sie mir aus dem Weg.«
Es war José Ybarra-Jaegar. Er sah ganz und gar nicht
wie der elegante brasilianische Diplomat aus; sondern
verschwitzt und angsterfüllt. Er gebot auch mir, aus dem
Weg zu gehen. Und schloss mit seinem Schlüssel die Tür
auf. »Hier herein, Dr. Goldman«, sagte er und winkte ei-
nem Mann, der ihn begleitete.
Da niemand mich daran hinderte, folgte ich ihnen in
die Wohnung, die ein einziges Trümmerfeld war. Endlich
war der Weihnachtsbaum entblößt worden, und zwar
buchstäblich: seine braunen, kahlen Zweige spießten in
einem Durcheinander aus zerrissenen Büchern, zerbro-
chenen Lampen und Grammophonplatten. Sogar der Eis-
schrank war geleert und sein Inhalt durchs Zimmer ge-
schleudert worden: rohe Eier glitten an den Wänden he-
rab, und inmitten der Trümmer schleckte Hollys namen-
loser Kater ruhig an einer Milchpfütze.
Im Schlafzimmer verursachte mir der Geruch zer-
trümmerter Parfümflaschen Brechreiz. Ich trat auf Hol-

80
lys Sonnenbrille, sie lag auf dem Fußboden, die Gläser
schon zersplittert, der Rahmen entzwei.
Vielleicht lag es daran, dass Holly, eine starre Gestalt
auf dem Bett, José so blind anstarrte und den Arzt nicht
zu sehen schien, der ihr den Puls fühlte und säuselte: »Sie
sind eine müde junge Dame. Ganz müde. Sie möchten
sich schlafen legen, nicht wahr? Schlafen.«
Holly rieb sich die Stirn und hinterließ einen Blutfleck
von einer Schnittwunde am Finger. »Schlafen«, sagte sie
und jammerte wie ein erschöpftes, quengeliges Kind. »Er
ist der Einzige, bei dem ich’s je durfte. Mich in kalten
Nächten ankuscheln. Ich hab ein Stück Land in Mexiko
gesehen. Mit Pferden. Am Meer.«
»Mit Pferden am Meer«, sang der Arzt sie in den Schlaf
und wählte aus seiner schwarzen Tasche eine Spritze.
José wandte das Gesicht ab, blass vom Anblick der
Nadel. »Ihre Krankheit ist nur Trauer?«, fragte er, wobei
sein mühsames Englisch der Frage eine unabsichtliche
Ironie verlieh. »Sie trauert nur?«
»Hat doch gar nicht weh getan, nicht wahr?«, erkun-
digte sich der Arzt und tupfte selbstgefällig Hollys Arm
mit einem Stückchen Watte ab.
Sie kam ein wenig zu sich, genug, um den Arzt anzu-
schauen. »Alles tut weh. Wo ist meine Brille?« Aber sie
brauchte sie nicht. Ihre Augen fielen von selber zu.
»Sie trauert nur?«, beharrte José.
»Bitte, Sir«, erwiderte der Arzt kurz angebunden, »las-
sen Sie mich mit der Patientin allein.«
José zog sich ins Wohnzimmer zurück, wo er seine üb-
le Laune an der auf Zehenspitzen herumschnüffelnden
Madame Spanella ausließ. »Fassen Sie mich nicht an! Ich
hole die Polizei«, drohte sie, als er sie mit portugiesischen

81
Flüchen zur Tür hinaus peitschte.
Er zog in Erwägung, auch mich hinauszuwerfen; we-
nigstens entnahm ich das seinem Gesichtsausdruck. Doch
dann lud er mich auf einen Drink ein. Die einzige heile
Flasche, die wir finden konnten, enthielt trockenen Wer-
mut. »Ich habe Sorge«, vertraute er mir an. »Ich habe
Sorge, das kann Skandal auslösen. Sie zertrümmert alles.
Führt sich auf wie wahnsinnig. Ich darf keinen öffentli-
chen Skandal haben. Das ist zu heikel: mein Name, meine
Arbeit.«
Es schien ihn zu erleichtern, dass ich keinen Grund für
einen »Skandal« sah; die eigenen Habseligkeiten zu de-
molieren ist schließlich eine Privatangelegenheit.
»Es ist nur eine Frage der Trauer«, erklärte er fest. »Als
der Kummer kam, erst wirft sie Glas mit Schnaps. Die
Flasche. Die Bücher. Eine Lampe. Dann ich kriege Angst.
Ich eile einen Arzt holen.«
»Aber warum?«, wollte ich wissen. »Warum bekommt
sie wegen Rusty einen Anfall? Ich an ihrer Stelle würde
feiern.«
»Rusty?«
Ich hatte die Zeitung noch bei mir und zeigte ihm die
Schlagzeile.
»Ach, das.« Er grinste ziemlich verächtlich. »Sie tun
uns großen Gefallen, Rusty und Mag. Wir lachen darüber:
wie sie denken, sie brechen uns das Herz, wenn wir die
ganze Zeit wollen, dass sie durchbrennen. Ich versichere
Ihnen: wir haben gerade gelacht, als der Kummer kam.«
Seine Blicke eilten suchend über den Wust auf dem Fuß-
boden; er hob ein zusammengeknülltes gelbes Papier auf.
»Das«, sagte er.
Es war ein Telegramm aus Tulip, Texas: Erhielt Nach-

82
richt Fred in Übersee gefallen stop dein Mann und deine
Kinder beklagen mit dir gemeinsamen Verlust stop Brief
folgt stop in Liebe Doc.

Holly sprach nie wieder von ihrem Bruder: nur noch ein
einziges Mal. Außerdem hörte sie auf, mich Fred zu nen-
nen. Juni, Juli, all die warmen Monate hindurch hielt sie
Winterschlaf wie ein Tier, das nicht gemerkt hatte, dass
der Frühling kam und ging. Ihre Haare wurden dunkler,
sie nahm zu. Sie kleidete sich ziemlich nachlässig: den Le-
bensmittelladen suchte sie im Regenmantel auf, ohne et-
was darunter. José zog in die Wohnung ein, sein Name er-
setzte den von Mag Wildwood auf dem Briefkasten.
Trotzdem war sie ziemlich oft allein, denn José blieb an
drei Tagen der Woche in Washington. Während seiner
Abwesenheit empfing sie niemanden und verließ selten die
Wohnung – außer donnerstags, wenn sie ihre wöchentliche
Fahrt nach Ossining unternahm.
Was nicht heißen soll, dass sie das Interesse am Leben
verloren hatte, im Gegenteil, sie schien zufriedener, im
Ganzen glücklicher zu sein, als ich sie je gesehen hatte.
Eine heftige, plötzliche, un-Holly-hafte Begeisterung fürs
Häusliche führte zu mehreren un-Holly-haften Anschaf-
fungen: auf einer Parke-Bernet-Auktion erwarb sie einen
Jagdgobelin mit einem röhrenden Hirsch sowie, aus dem
Besitz von William Randolph Hearst, zwei unbequeme,
düstere gotische Lehnstühle; sie kaufte die komplette
Reihe der Modern Library, ganze Borde voll klassischer
Schallplatten, unzählige Reproduktionen aus dem Metro-
politan Museum (darunter eine chinesische Skulptur einer
Katze, die ihr eigener Kater hasste und anfauchte und
schließlich zerbrach), einen Waring-Küchenmixer und ei-

83
nen Dampfkochtopf sowie eine Bibliothek von Kochbü-
chern. Sie verbrachte ganze Hausfrauennachmittage da-
mit, in ihrer winzigen Schwitzkasten-Küche herumzu-
manschen: »José sagt, ich koche besser als das Colony.
Wer hätte sich je träumen lassen, dass ich ein so großes
Naturtalent bin? Vor einem Monat hab ich noch nicht mal
Rühreier zustande gebracht.« Was sich übrigens nicht ge-
ändert hatte. Einfache Gerichte, ein Steak, ein ordentlicher
Salat, überforderten sie. Stattdessen labte sie José und
manchmal auch mich mit ausgefallenen Suppen (Cognac-
geschwängerte Schildkrötenbouillon, serviert in Avocado-
Schalen), Rezepten aus Neros Zeiten (gebratener Fasan,
gefüllt mit Feigen und Datteln) und anderen zweifelhaften
Zusammenstellungen (Hühnchen und Safranreis mit
Schokoladensoße: »In Südostasien Tradition, das weiß
man doch«). Die kriegsbedingte Rationierung von Zucker
und Sahne erlegte ihrer Phantasie Beschränkungen auf,
wenn es an die Süßspeisen ging – trotzdem kreierte sie
einmal etwas namens Tabak Tapioka: am besten bleibt es
unbeschrieben.
Ebenso wie ihre Bemühungen, das Portugiesische zu
meistern, ein Martyrium, das für mich genauso nervtö-
tend war wie für sie, denn wann immer ich sie besuchte,
kreisten unaufhörlich Linguaphon-Schallplatten auf dem
Grammophon. Auch sagte sie jetzt selten einen Satz, der
nicht mit »Wenn wir erst verheiratet sind …« oder »Wenn
wir erst in Rio leben …« begann. Doch José hatte nie von
Heirat gesprochen. Das gab sie zu. »Aber schließlich weiß
er, dass ich schwanger bin. Ja, Herzchen, bin ich. Sechs
Wochen überfällig. Ich versteh gar nicht, warum dich das
überrascht. Mich hat’s nicht überrascht. Nicht un peu
bisschen. Ich freue mich. Ich möchte mindestens neun ha-

84
ben. Ich bin sicher, einige davon werden ziemlich dunkel
ausfallen – José hat eine Spur von le nègre, ich nehme an,
du bist schon darauf gekommen? Was mir recht ist: was
kann niedlicher sein als ein Negerbaby mit schönen,
leuchtend grünen Augen? Ich wünschte, bitte lach nicht –
aber ich wünschte, ich wäre für ihn, für José, noch Jung-
frau gewesen. Nicht, dass ich solche Heerscharen ver-
nascht hätte, wie manche Leute behaupten: ich nehme den
Schweinen nicht übel, dass sie das behaupten, schließlich
habe ich mich immer sehr locker gegeben. In Wirklichkeit
aber hab ich neulich Abend mal alle zusammengezählt
und bin nur auf elf Liebhaber gekommen – nicht einge-
rechnet irgendwas, was passiert ist, bevor ich dreizehn
war, denn das zählt einfach nicht. Elf. Macht mich das zu
einer Nutte? Schau dir Mag Wildwood an. Oder Honey
Tucker. Oder Rose Ellen Ward. Die haben sich schon so
oft die Pauken und Trompeten geholt, dass sie eine Kapel-
le bilden können. Natürlich habe ich nichts gegen Nutten.
Bis auf das: einige von ihnen mögen eine ehrliche Zunge
haben, aber alle haben ein unehrliches Herz. Ich meine,
du kannst nicht mit einem Mann vögeln und seine
Schecks einlösen und nicht wenigstens zu glauben versu-
chen, dass du ihn liebst. Ich hab das nie getan. Nicht mal
bei Benny Shacklett und all diesen Ratten. Ich habe mich
irgendwie in Selbsthypnose versetzt, bis ich fand, dass ihr
schieres Rattentum eine gewisse Faszination besaß. Ei-
gentlich, bis auf Doc, wenn du Doc zählen willst, ist José
meine erste Nicht-Ratten-Romanze. Oh, er ist nicht mei-
ne Vorstellung vom absoluten finito. Er schwindelt immer
mal wieder, und ihm ist wichtig, was die Leute denken,
und er steigt ungefähr fünfzig Mal am Tag in die Bade-
wanne: Männer sollten ein bisschen riechen. Er ist zu zim-

85
perlich, zu vorsichtig, um der Mann meiner Träume zu
sein; er dreht mir immer den Rücken zu, wenn er sich
auszieht, und er macht zu viele Geräusche, wenn er isst,
und ich sehe ihn nicht gern rennen, denn er sieht irgend-
wie komisch aus, wenn er rennt. Wenn ich die freie Wahl
unter allen Lebenden hätte, nur mit den Fingern schnip-
pen und sagen müsste, du, komm her, dann würde ich mir
nicht José aussuchen. Nehru, der kommt schon eher hin.
Wendell Willkie. Die Garbo wäre mir jederzeit recht. Wa-
rum nicht? Jeder Mensch sollte einen Mann oder eine
Frau heiraten dürfen oder – hör mal, wenn du ankämst
und sagtest, du willst dich mit einem Rennpferd zusam-
mentun, würde ich deine Gefühle achten. Nein, ich meine
es ernst. Liebe sollte erlaubt sein. Ich bin unbedingt dafür.
Jetzt, wo ich eine ganz gute Vorstellung davon habe, was
das ist. Denn ich liebe José – ich würde aufhören zu rau-
chen, wenn er mich darum bäte. Er ist freundlich, er kann
mich aus dem roten Elend rauslachen, bloß dass ich’s
kaum noch habe, außer manchmal, und auch dann ist es
nicht so grässlich, dass ich Veronal schlucken oder mich
zu Tiffany schleppen muss: ich bringe seinen Anzug in die
Reinigung oder mache gefüllte Champignons und fühle
mich prima. Noch was, ich habe meine Horoskope weg-
geworfen. Ich muss einen Dollar für jeden gottverdamm-
ten Stern in dem gottverdammten Planetarium ausgege-
ben haben. Es ist langweilig, aber Gutes widerfährt einem
nur, wenn man gut ist. Gut? Ehrlich ist eher das, was ich
meine. Nicht ehrlich vor dem Gesetz – ich würde ein
Grab ausrauben, ich würde die Münzen auf den Augen
eines Toten stehlen, wenn ich dächte, das würde zum Ge-
lingen des Tages beitragen –, sondern mir selbst gegen-
über. Sei alles, nur kein Feigling, kein Heuchler, kein

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Schwindler in Gefühlsdingen, keine Nutte: Ich hätte lie-
ber Krebs als ein unehrliches Herz. Was nicht fromm ist,
sondern nur praktisch. Krebs kann dich unter die Erde
bringen, aber das andere tut’s mit Sicherheit. Ach, scheiß
drauf, Herzchen – gib mir meine Gitarre, und ich singe
dir einen fado in absolut perfektem Portugiesisch.«
An diese letzten Wochen, die sich vom Ende des Som-
mers bis in den Anfang eines neuen Herbstes erstreckten,
erinnere ich mich nur undeutlich, vielleicht weil unser
Verständnis füreinander inzwischen jene innige Tiefe er-
reicht hatte, wo zwei Menschen öfter schweigend mitein-
ander kommunizieren als mit Worten: eine liebevolle Stille
ersetzt die Spannungen, die nicht völlig zwanglosen Un-
terhaltungen und Unternehmungen, welche die spektaku-
läreren, die – im oberflächlichen Sinne – dramatischeren
Augenblicke einer Freundschaft hervorbringen. Häufig,
wenn er nicht in der Stadt war (ich hatte Antipathien ge-
gen ihn entwickelt und benutzte selten seinen Namen),
verbrachten wir ganze Abende miteinander, an denen wir
weniger als hundert Wörter wechselten; einmal liefen wir
das ganze Stück bis nach Chinatown, aßen gebratene Nu-
deln, kauften ein paar Lampions und stahlen eine Schach-
tel Räucherstäbchen, dann schlenderten wir über die
Brooklyn Bridge, und auf der Brücke, während wir zusa-
hen, wie zum Meer strebende Schiffe zwischen den Steil-
klippen der brennenden Silhouetten hindurchfuhren, sag-
te sie: »Eines schönen Tages, nach vielen Jahren, wird ei-
nes dieser Schiffe mich zurückbringen, mich und meine
neun brasilianischen Rangen. Denn sie müssen das sehen,
diese Lichter, den Fluss – ich liebe New York, obwohl es
mir nicht gehört, so, wie mir etwas gehören muss, ein
Baum oder eine Straße oder ein Haus, irgendetwas jeden-

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falls, das zu mir gehört, weil ich zu ihm gehöre.« Und ich
sagte: »Halt bloß den Mund«, denn ich fühlte mich zu
meinem Ärger ausgeschlossen – ein Schleppkahn im Tro-
ckendock, während sie, die glitzernde Reisende mit siche-
rem Ziel, aus dem Hafen dampfte mit schrillenden Schiffs-
sirenen und Konfetti in der Luft.
Und so treiben die Tage, diese letzten Tage, durch mei-
ne Erinnerung, dunstig, herbstlich, alle einander ähnlich
wie ein Blatt dem anderen: bis zu einem Tag, der keinem
sonst in meinem Leben glich.
Zufällig fiel er auf den 30. September, meinen Ge-
burtstag, eine Tatsache, die keine Auswirkungen auf die
Ereignisse hatte, außer dass ich, in Erwartung der
Glückwünsche meiner Familie in Form einer Postanwei-
sung, der morgendlichen Runde des Briefträgers freudig
entgegensah. Ich ging sogar hinunter und wartete auf ihn.
Wenn ich nicht im Vestibül herumgestanden hätte, dann
hätte Holly mich nicht gebeten, mit ihr reiten zu gehen;
und hätte folglich nicht die Gelegenheit gehabt, mir das
Leben zu retten.
»Los, komm«, sagte sie, als sie mich unten vorfand.
»Wir bewegen zwei Pferde durch den Park.« Sie trug eine
Windjacke, Jeans und Tennisschuhe; sie klatschte sich auf
den Bauch, um zu zeigen, wie flach er war. »Glaub ja
nicht, dass ich die Absicht habe, den Erben zu verlieren.
Aber da ist ein Pferd, meine liebe alte Mabel Minerva –
ich kann nicht fort, ohne mich von Mabel Minerva zu
verabschieden.«
»Verabschieden?«
»Samstag in einer Woche. José hat die Flugscheine ge-
kauft.« Ziemlich in Trance ließ ich mich von ihr die Stra-
ße hinunterführen. »Wir landen kurz in Miami und flie-

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gen von da mit einer anderen Maschine weiter. Über das
Meer. Über die Anden. Taxi!«
Über die Anden. Als wir im Taxi durch den Central
Park fuhren, kam es mir so vor, als flöge auch ich,
schwebte einsam über schneebedeckte, gefährliche Gipfel
hinweg.
»Aber das kannst du nicht machen. Schließlich, was ist
mit. Was wird mit. Du kannst nicht einfach abhauen und
alle verlassen.«
»Ich glaube nicht, dass mich irgendjemand vermissen
wird. Ich habe keine Freunde.«
»Ich werde dich vermissen. Auch Joe Bell. Und, ach –
Millionen. Wie Sally. Der arme Mr. Tomato.«
»Ich habe den alten Sally geliebt«, sagte sie und seufz-
te, »weißt du, dass ich ihn seit einem Monat nicht mehr
besucht habe? Als ich ihm gesagt habe, dass ich weggehe,
war er ein Engel. Er schien sich sogar« – sie runzelte die
Stirn – »zu freuen, dass ich das Land verlasse. Er hat ge-
sagt, es ist das Beste so. Denn früher oder später könnte
es Ärger geben. Wenn sie rauskriegen, dass ich nicht seine
Nichte bin. Der dicke Rechtsanwalt, O’Shaughnessy, also
O’Shaughnessy hat mir fünfhundert Dollar geschickt. In
bar. Ein Hochzeitsgeschenk von Sally.«
Ich wollte unfreundlich sein. »Du kannst auch von mir
ein Geschenk erwarten. Wenn und falls die Hochzeit
stattfindet.«
Sie lachte. »Er wird mich schon heiraten. In der Kir-
che. Und im Kreise seiner Familie. Deshalb warten wir
damit, bis wir in Rio sind.«
»Weiß er, dass du schon verheiratet bist?«
»Was ist denn mit dir los? Versuchst du, den Tag zu
ruinieren? Es ist ein schöner Tag: lass ihn in Ruhe!«

89
»Aber es ist absolut möglich …«
»Es ist nicht möglich. Ich habe dir gesagt, dass es nicht
rechtskräftig war. Es kann nicht rechtskräftig gewesen
sein.« Sie rieb sich die Nase und sah mich von der Seite
an. »Ein Wort davon zu einer Menschenseele, und ich
häng dich an den Zehen auf und mach aus dir Schweine-
futter.«
Der Reitstall – ich glaube, er ist inzwischen von einem
Fernsehstudio verdrängt worden – befand sich in der
West Sixty-sixth Street. Holly suchte mir eine alte,
schwarz-weiße Stute mit hin und her schaukelndem Rü-
cken aus: »Keine Sorge, auf der bist du sicher wie in einer
Wiege.« Was in meinem Fall eine notwendige Garantie
war, denn Pony-Rundritte für zehn Cent auf den Jahr-
märkten meiner Kindheit bildeten meine gesamte Erfah-
rung mit Reittieren. Holly half mir in den Sattel und
schwang sich dann auf ihr eigenes Pferd ein silbriges Tier,
das die Führung übernahm, als wir durch den Verkehr
am Central Park West trotteten und in einen Reitweg
einbogen, gesprenkelt mit Herbstlaub, das in entblättern-
den Windstößen tanzte.
»Siehst du?«, rief sie. »Es ist phantastisch.«
Und plötzlich war es das. Plötzlich, als ich die kunter-
bunten Farben von Hollys Haaren im rotgelben Laub-
licht aufleuchten sah, liebte ich sie genug, um mich und
meine selbstmitleidige Verzweiflung zu vergessen, um
zufrieden zu sein, dass ihr etwas bevorstand, was sie für
ihr Glück hielt. Sehr sanft begannen die Pferde zu traben,
Windwogen fluteten uns entgegen, schlugen uns ins Ge-
sicht, wir tauchten in Teiche aus Sonnenlicht und Schat-
ten, und Lebensfreude, ein Hochgefühl, lebendig zu sein,
durchschoss mich wie ein Schluck flüssiger Stickstoff.

90
Das war die eine Minute; die nächste brachte eine Farce
in finsterer Verkleidung.
Denn mit einem Mal, wie Wilde aus einem Hinterhalt
im Urwald, stürzte eine Bande von Negerjungen aus dem
Gebüsch entlang des Weges. Johlend und fluchend war-
fen sie mit Steinen nach uns und schlugen mit Ruten auf
die Hinterteile der Pferde ein.
Meins, die schwarz-weiße Stute, erhob sich auf die
Hinterhand und wieherte, sie schwankte wie ein Hoch-
seilartist, schoss dann den Weg hinunter und schleuderte
meine Füße aus den Steigbügeln, so dass ich kaum noch
an ihr befestigt war. Ihre Hufe schlugen Funken aus den
Kieselsteinen am Boden. Der Himmel wankte. Bäume,
ein Teich mit Spielzeug-Segelbooten, Statuen sausten
vorbei wie geölte Blitze. Kindermädchen hasteten, um
ihre Schützlinge vor unserem furchterregenden Heran-
preschen zu retten; Männer, sowohl Stadtstreicher als
auch normale, brüllten: »Die Zügel anziehen!« und »Brr,
Alter, brr!« und »Spring ab!« Erst später erinnerte ich
mich an diese Stimmen; im Augenblick selbst nahm ich
nur Holly wahr, die Cowboy-Geräusche, wie sie mir
nachjagte, ohne mich je ganz einzuholen, und mir immer
wieder Ermutigungen zurief. Weiter ging’s: durch den
Park und hinaus auf die Fifth Avenue: in wildem Galopp
durch den Mittagsverkehr, Taxis, Busse, die mit quiet-
schenden Reifen auswichen. Vorbei am Duke-Haus, am
Frick-Museum, vorbei am Pierre und am Plaza. Aber
Holly gewann an Boden; außerdem hatte sich ein beritte-
ner Polizist der Jagd angeschlossen: von beiden Seiten her
nahmen ihre Pferde meine durchgegangene Stute in die
Zange und zwangen sie, dampfend stehenzubleiben. Und
erst jetzt fiel ich endlich von ihrem Rücken. Fiel hinunter

91
und rappelte mich wieder auf und stand da, nicht ganz
sicher, wo ich mich befand. Eine Menschenmenge ver-
sammelte sich. Der Polizist grummelte und schrieb in ein
Notizbuch; gleich darauf war er höchst teilnahmsvoll,
grinste und sagte, er werde dafür sorgen, dass unsere
Pferde zurückgebracht würden.
Holly steckte mich in ein Taxi. »Herzchen. Wie fühlst
du dich?«
»Gut.«
»Aber du hast überhaupt keinen Puls«, sagte sie mit
den Fingern auf meinem Handgelenk.
»Dann muss ich tot sein.«
»Nein, du Schafskopf. Ich meine es ernst. Sieh mich
an.«
Das Problem war, ich konnte sie nicht sehen; denn ich
sah mehrere Hollys, ein Trio verschwitzter Gesichter, so
weiß vor Sorge, dass ich gerührt und zugleich verlegen
war. »Ehrlich. Ich fühle überhaupt nichts. Außer dass ich
mich schäme.«
»Bitte. Bist du sicher? Sag mir die Wahrheit. Du hättest
tot sein können.«
»Bin ich aber nicht. Und vielen Dank. Dass du mir das
Leben gerettet hast. Du bist wunderbar. Einzigartig. Ich
liebe dich.«
»Verdammter Idiot.« Sie küsste mich auf die Wange.
Dann vervierfachte sie sich, und ich fiel in Ohnmacht.

Am selben Abend schmückten Photos von Holly die


Titelseite der Spätausgabe des Journal-American und
die der Morgenausgaben sowohl der Daily News als
auch des Daily Mirror. Die Veröffentlichungen hatten
nichts mit durchgegangenen Pferden zu tun. Sie betra-

92
fen ganz etwas anderes, wie die Schlagzeilen verdeut-
lichten: LEBEDAME IN RAUSCHGIFTSKANDAL
VERHAFTET (Journal-American), VERHAFTUNG
MORPHIUM SCHMUGGELNDER SCHAUSPIE-
LERIN (Daily News), HEROINRING AUSGEHO-
BEN, FILMSCHÖNHEIT IN U-HAFT (Daily Mir-
ror).
Das bemerkenswerteste Photo erschien in der News:
Holly beim Betreten des Polizeireviers, eingeklemmt zwi-
schen zwei Kripobeamten, einer männlich, einer weiblich.
In diesem lasterhaften Zusammenhang sprach sogar ihre
Kleidung (sie trug immer noch ihr Reitkostüm, Windja-
cke und Jeans) für ein abgebrühtes Gangsterliebchen: ein
Eindruck, den die Sonnenbrille, die derangierte Frisur und
eine Picayune-Zigarette, die aus einem mürrischen Mund
hing, nicht milderten. Die Bildunterschrift lautete: Die
zwanzigjährige Holly Golightly, Filmsternchen und
Nachtclubstammgast, ist laut Staatsanwalt die Schlüsselfi-
gur eines internationalen Rauschgiftsyndikats verbunden
mit Unterweltboss Salvatore »Sally« Tomato. Die Beam-
ten Patrick Connor und Sheilah Fezzonetti (l. und r.)
bringen sie auf das Revier in der 67th Street. Siehe Artikel
auf S. 3. Der Artikel, mit einem Photo von einem Mann,
identifiziert als Oliver »Pater« O’Shaughnessy (der sein
Gesicht hinter einem Filzhut verbarg), erstreckte sich über
drei ganze Spalten. Hier, etwas gekürzt, die relevanten
Stellen: Die Mitglieder der Nachtclubschickeria wurden
heute von der Verhaftung der entzückenden Holly Go-
lightly überrascht, dem zwanzigjährigen Hollywoodstern-
chen und oft abgelichteten Juwel des New Yorker Nacht-
lebens. Zur selben Zeit, um 14.00 Uhr, schnappte die Poli-
zei Oliver O’Shaughnessy, 52, wohnhaft im Hotel

93
Seabord, West 49th Street, als er aus einem Hamburger-
Himmel in der Madison Avenue kam. Beiden wird von
Staatsanwalt Frank L. Donovan zur Last gelegt, wichtige
Rollen in einem internationalen Rauschgiftring zu spielen,
geleitet von dem einschlägig bekannten Mafia-Führer Sal-
vatore »Sally« Tomato, welcher derzeit in Sing-Sing eine
fünfjährige Strafe wegen politischer Bestechung absitzt …
O’Shaughnessy, ein seines Amtes enthobener Priester, der
in Verbrecherkreisen wechselnd als »Pater« und »Il Pa-
dre« bekannt ist, hat ein Strafregister auf zuweisen, das bis
ins Jahr 1934 zurückreicht, als er zu zwei Jahren Haft
verurteilt wurde, weil er auf Rhode Island unter dem
Deckmantel einer Nervenklinik namens »Das Kloster« ein
Bordell betrieben hatte. Miss Golightly, die bisher noch
nicht straffällig geworden ist, wurde in ihrer luxuriösen
Wohnung in einem mondänen East-Side-Viertel verhaftet
… Obwohl die Staatsanwaltschaft noch keine Anklage er-
hoben hat, ist aus zuverlässigen Quellen zu erfahren, dass
die blonde und berückend schöne Schauspielerin, noch vor
kurzem die ständige Begleiterin des Multimillionärs Ru-
therfurd Trawler, die »Verbindungsfrau« zwischen dem
eingesperrten Tomato und seiner rechten Hand O’Shaugh-
nessy war … Miss Golightly soll sich als Verwandte von
Tomato ausgegeben und ihn allwöchentlich in Sing-Sing
besucht haben, und bei diesen Gelegenheiten versorgte
Tomato sie mit verschlüsselten Botschaften, die sie dann
O’Shaughnessy übermittelte. Auf diesem Wege war Toma-
to, der angeblich 1874 in Cefalu auf Sizilien das Licht der
Welt erblickt hat, in der Lage, weiterhin einen weltweiten
Rauschgifthandel zu dirigieren mit Außenposten in Mexi-
ko, Kuba, Sizilien, Tanger, Teheran und Dakar. Aber die
Staatsanwaltschaft weigerte sich, nähere Einzelheiten zu

94
all diesen Beschuldigungen anzugeben oder sie auch nur
zu bestätigen … Nach einem heißen Tip hatte sich eine
große Schar von Reportern am Revier in der East 67th
Street eingefunden, um über die Einlieferung des ange-
klagten Pärchens zu berichten. O’Shaughnessy, ein unter-
setzter, rothaariger Mann, verweigerte jeden Kommentar
und trat einem Pressephotographen in die Leiste. Doch
Miss Golightly, eine grazile Augenweide, auch wenn
männlich mit Hose und Lederjacke bekleidet, wirkte rela-
tiv unbesorgt. »Fragen Sie mich ja nicht, worum es hier
geht«, sagte sie den Reportern. »Parceque je ne sais pas,
mes chères. (Denn ich weiß es nicht, meine Lieben.) Ja –
ich habe Sally Tomato besucht. Und zwar einmal jede Wo-
che. Was ist daran falsch? Er glaubt an Gott, genau wie
ich.« … Dann, unter dem Zwischentitel GIBT EIGENE
RAUSCHGIFTSUCHT ZU: Miss Golightly lächelte, als
ein Reporter fragte, ob sie selbst regelmäßig Rauschgift zu
sich nehme. »Ich hab’s mal mit Marihuana probiert. Das
ist nicht halb so zerstörerisch wie Weinbrand. Und billiger.
Leider ziehe ich Weinbrand vor. Nein, Mr. Tomato hat
mir gegenüber nie von Rauschgift gesprochen. Es macht
mich wütend, wie diese gemeinen Leute ihn verfolgen. Er
ist ein sensibler, frommer Mensch. Ein reizender alter
Mann.«
In diesem Bericht findet sich ein besonders grober
Fehler: Sie wurde nicht in ihrer »luxuriösen Wohnung«
verhaftet. Sondern in meinem Badezimmer. Ich ertränkte
meine Reitschmerzen in einer Wanne voll mit kochend
heißem Wasser, versetzt mit Epsomer Bittersalz; Holly,
eine fürsorgliche Krankenschwester, saß auf dem Bade-
wannenrand und wartete darauf, mich mit Sloan’s Heilöl
einzureihen und ins Bett zu bringen. Jemand klopfte an

95
die Wohnungstür. Da die Tür nicht abgeschlossen war,
rief Holly: »Herein!« Und herein kam Madame Sapphia
Spanella, gefolgt von zwei Kripobeamten in Zivil, einer
davon eine Dame mit dicken blonden Zöpfen, die um ih-
ren Kopf gewunden waren.
»Da ist sie: die Gesuchte!«, trompetete Madame Spa-
nella, drang ins Badezimmer ein und richtete einen Fin-
ger erst auf Hollys, dann auf meine Nacktheit. »Sehen
Sie. Was für eine Hure sie ist.« Der männliche Beamte
schien peinlich berührt zu sein: von Madame Spanella
und von der Situation; aber ein grimmiges Vergnügen
straffte die Züge seiner Begleiterin – sie ließ eine Hand
auf Hollys Schulter plumpsen und sagte mit einer über-
raschenden Kleinkinderstimme: »Komm mit, Schwester.
Du machst einen Ausflug.« Worauf Holly ihr frech ent-
gegnete: »Fass mich nicht mit deinen Baumwollpflü-
ckerpfoten an, du krepeliger, krummbeiniger, kesser Va-
ter.« Was die Dame ziemlich erzürnte: sie versetzte Holly
eine kräftige Ohrfeige. So kräftig, dass ihr Kopf sich auf
dem Hals verdrehte und die Flasche mit Heilöl aus ihrer
Hand flog, auf den Fliesenboden, wo sie in tausend
Scherben zerbrach – in die ich, als ich aus der Badewanne
hüpfte, um das Kampfgetümmel zu bereichern, hineintrat
und mir beide große Zehen fast abtrennte. Nackt und ei-
ne Spur blutiger Fußabdrücke hinterlassend, folgte ich
dem Polizeieinsatz bis auf den Treppenflur. »Denk
dran«, gelang es Holly, mich zu instruieren, während die
Beamten sie die Treppe hinunterstießen, »bitte füttere
den Kater.«

Natürlich nahm ich an, dass Madame Spanella dahin-


tersteckte: sie hatte schon mehrmals die Polizei gerufen,

96
um sich über Holly zu beschweren. Ich kam nicht auf die
Idee, dass die Verhaftung fürchterliche Folgen haben
konnte, bis am Abend Joe Bell bei mir erschien und mit
den Zeitungen fuchtelte. Er war zu aufgeregt, um ver-
nünftig zu sprechen; er tigerte im Zimmer umher und
schlug die Fäuste gegeneinander, während ich die Berich-
te las.
Dann sagte er: »Glaubst du, es stimmt? Sie ist in diese
üble Geschichte verwickelt?«
»Ja, schon.«
Er warf einen Tums in seinen Mund und kaute, mich
finster anstarrend, darauf herum, als zermalmte er meine
Knochen. »Junge, das ist mies von dir. Und du willst ihr
Freund sein. Du Dreckskerl!«
»Moment mal. Ich habe nicht gesagt, dass sie wissent-
lich darin verwickelt war. Aber sie hat’s getan. Botschaf-
ten überbracht und dergleichen …«
Er sagte: »Du nimmst das ganz schön gelassen hin,
wie? Verdammt, sie kann zehn Jahre kriegen. Oder
mehr.« Er riss mir die Zeitungen weg. »Du kennst ihre
Freunde. Diese reichen Kerle. Komm runter in die Bar,
wir hängen uns ans Telefon. Unser Mädel wird bessere
Anwälte brauchen, als ich mir leisten kann.«
Ich hatte zu starke Schmerzen und war zu wackelig,
um mich allein anzuziehen; Joe Bell musste mir helfen.
Unten in seiner Bar brachte er mich in der Telefonzelle
unter und stellte mir einen dreifachen Martini und ein
großes Branntweinglas voll Münzen hin. Aber mir fiel
niemand ein, an den ich mich wenden konnte. José war in
Washington, und ich hatte keine Ahnung, wo er dort zu
erreichen war. Rusty Trawler? Nicht diesen Mistkerl!
Nur: welche anderen Freunde von ihr kannte ich? Viel-

97
leicht hatte sie ja Recht, als sie sagte, sie habe eigentlich
keine.
Ich verlangte eine Verbindung mit Crestview 5-6958 in
Beverly Hills, der Nummer, die mir die Fernauskunft für
O. J. Berman gegeben hatte. Die Person, die sich meldete,
sagte, Mr. Berman bekomme gerade eine Massage und
könne nicht gestört werden: versuchen Sie es später. Joe
Bell war in Rage – ich hätte sagen sollen, es gehe um Le-
ben und Tod, raunzte er und bestand darauf, dass ich es
bei Rusty versuchte. Zuerst sprach ich mit Mr. Trawlers
Butler – Mr. und Mrs. Trawler, verkündete er, seien beim
Dinner, könne er eine Nachricht entgegennehmen? Joe
Bell brüllte in den Hörer: »Das ist dringend, Mister. Le-
ben und Tod.« Mit dem Resultat, dass ich mit der frühe-
ren Mag Wildwood sprach – oder ihr vielmehr zuhörte:
»Sind Sie verrückt?«, fragte sie. »Mein Mann und ich, wir
werden jeden verklagen, der versucht, unsere Namen mit
dieser a-a-abscheulichen und ver-verkommenen Person in
Verbindung zu bringen. Ich habe immer gewusst, dass sie
M-M-Morphinistin ist und nicht mehr Moral hat als eine
läufige Hündin. Ins Gefängnis, da gehört sie hin. Und
mein Mann ist absolut meiner Meinung. Wir werden je-
den verklagen, der …« Als ich auflegte, fiel mir der alte
Doc unten in Tulip, Texas, ein; doch nein, Holly würde es
nicht gefallen, wenn ich ihn anrief, sie würde mich dafür
ermorden.
Ich rief wieder in Kalifornien an; die Leitungen waren
besetzt, blieben besetzt, und als schließlich O. J. Berman
am Apparat war, hatte ich so viele Martinis intus, dass er
mir sagen musste, warum ich ihn anrief: »Wegen der
Kleinen, ja? Ich weiß schon. Ich hab schon mit Iggy Fi-
telstein gesprochen. Iggy ist der beste Anwalt in ganz

98
New York. Ich hab gesagt, Iggy, kümmre dich drum,
schick mir die Rechnung, nur halt meinen Namen da
raus. Na ja, ich schulde der Kleinen was. Also genau ge-
nommen schulde ich ihr gar nichts. Sie ist verrückt. Ein
falscher Fünfziger. Aber ein echter falscher Fünfziger,
verstehen Sie? Jedenfalls ist die Kaution nur auf zehn-
tausend festgesetzt. Keine Sorge, Iggy holt sie bis heute
Abend raus – würde mich nicht wundern, wenn sie schon
wieder zu Hause ist.«

Aber das war sie nicht; auch nicht am nächsten Morgen,


als ich hinunterging, um den Kater zu füttern. Da ich
keinen Schlüssel für die Wohnung hatte, benutzte ich die
Feuertreppe und verschaffte mir durch ein Fenster Zu-
tritt. Der Kater war im Schlafzimmer, und er war nicht
allein: ein Mann stand da, über einen Koffer gebeugt. Wir
hielten uns gegenseitig für Einbrecher und wechselten
ungemütliche Blicke, als ich durchs Fenster einstieg. Er
hatte ein hübsches Gesicht, lackierte Haare, und ähnelte
José; außerdem enthielt der Koffer, den er gerade gepackt
hatte, die Garderobe, die José bei Holly aufbewahrte, die
Schuhe und Anzüge, die sie in Ordnung gehalten, ständig
zum Schuster und zur Reinigung getragen hatte. Und ich
sagte, überzeugt, dass es so war: »Hat Mr. Ybarra-Jaegar
Sie geschickt?«
»Ich bin der Cousin«, sagte er mit vorsichtigem Lä-
cheln und gerade noch verständlichem Akzent.
»Wo ist José?«
Er wiederholte die Frage, als übersetzte er sie in eine
andere Sprache. »Ach, wo sie ist! Sie wartet«, sagte er,
und damit war ich offenbar entlassen, und er widmete
sich wieder seinen Kammerdienertätigkeiten.

99
Also der Diplomat hatte vor, sich zu verdünnisieren.
Nun, das wunderte mich nicht, und bedauern tat ich es
noch weniger. Trotzdem, was für eine herzlose Lumperei:
»Dem müsste man das Fell mit einer Reitpeitsche ger-
ben.«
Der Cousin kicherte, ich bin überzeugt, dass er mich
verstand. Er schloss den Koffer und holte einen Brief
hervor: »Mein Cousine, sie bittet mich, das hierzulassen
für sein Kamerad. Sie werden so freundlich sein?«
Auf dem Umschlag stand: Für Miss H. Golightly –
durch Boten.
Ich setzte mich auf Hollys Bett und drückte Hollys
Kater an mich und litt ebenso sehr, wie Holly bald selbst
leiden würde.
»Ja, ich werde so freundlich sein.«

Und das war ich auch, ohne es im Mindesten zu wollen.


Aber ich hatte nicht den Mut, den Brief zu vernichten;
oder die Willenskraft, ihn in der Tasche zu behalten, als
Holly sich sehr zaghaft erkundigte, ob ich zufällig etwas
von José gehört hätte. Es war der Morgen zwei Tage da-
nach; ich saß an ihrem Bett in einem Zimmer, das nach
Jod und Bettpfannen stank, einem Zimmer in einem
Krankenhaus. Dort befand sie sich seit dem Abend ihrer
Verhaftung. »Tja, Herzchen«, hatte sie mich begrüßt, als
ich auf Zehenspitzen an ihr Bett trat, beladen mit einer
Stange Picayune-Zigaretten und einem Wagenrad aus
Herbstveilchen, »ich habe den Erben verloren.« Sie sah
aus wie nicht ganz zwölf Jahre alt: die hellen, vanillegel-
ben Haare zurückgekämmt, die Augen, ausnahmsweise
einmal ohne Sonnenbrille, klar wie Regenwasser – man
mochte nicht glauben, wie krank sie gewesen war.

100
Doch es stimmte: »Verdammt, ich wäre fast abgekratzt.
Kein Quatsch, das fette Weib hat mich fast erwischt. Hat
mir die Hölle heiß gemacht. Wahrscheinlich hab ich dir
noch nie was von dem fetten Weib erzählt. Denn ich hatte
selbst keine Ahnung von der, bis mein Bruder gestorben
ist. Da hab ich mich sofort gefragt, wo ist er hin, was be-
deutet das, Fred ist tot; und da hab ich sie gesehen, sie war
bei mir im Zimmer und wiegte Fred in den Armen, ein
fettes, böses, rotes Weib, hielt Fred auf dem Schoß, saß in
einem Schaukelstuhl und hat schallend gelacht. Dieser
Hohn! Aber das ist alles, was vor uns liegt, mein Freund:
diese comédienne, die nur darauf wartet, sich über uns
scheckig zu lachen. Verstehst du jetzt, warum ich durch-
gedreht bin und alles kaputt geschlagen habe?«
Bis auf den von O. J. Berman angeheuerten Anwalt
war ich der einzige Besucher, der zu ihr durfte. Sie teilte
das Zimmer mit anderen Patienten, einem Trio drillings-
artiger Damen, die mich nicht unfreundlich, aber genau-
estens musterten und in geflüstertem Italienisch Vermu-
tungen anstellten. Holly erklärte das: »Sie glauben, du
bist mein Ruin, Herzchen. Der Kerl, der mich ins Un-
glück gestürzt hat«, und beantwortete meinen Vorschlag,
das richtigzustellen, mit: »Das kann ich nicht. Sie spre-
chen kein Englisch. Außerdem würde mir nicht im
Traum einfallen, ihnen den Spaß zu verderben.« Und
dann fragte sie mich nach José.
Sowie sie den Brief sah, kniff sie die Augen zusammen
und krümmte ihren Mund zu einem schmalen, harten
Lächeln, das ihr Alter ins Unermessliche steigerte.
»Herzchen«, wies sie mich an, »würdest du die Schublade
da aufmachen und mir meine Handtasche geben. Ein
Mädchen liest so etwas nicht ohne Lippenstift.«

101
Unter der Anleitung eines Puderdosenspiegels malte
und puderte sie jede Spur der Zwölfjährigen aus ihrem
Gesicht fort. Sie formte ihre Lippen aus einer Tube und
färbte ihre Wangen aus einer anderen. Sie fuhr mit einem
Stift um ihre Augenränder, tat sich Blau auf die Lider und
besprühte ihren Hals mit 4711; steckte sich Perlen an die
Ohren und setzte ihre Sonnenbrille auf; derart gewapp-
net, und nach einem unzufriedenen Blick auf den man-
gelhaften Zustand ihrer Maniküre, riss sie den Brief auf
und überflog ihn, wobei ihr steinernes kleines Lächeln
noch kleiner und härter wurde. Schließlich bat sie um ei-
ne Picayune. Tat einen Zug: »Schmeckt ekelhaft. Aber
himmlisch«, sagte sie und, mir den Brief zuwerfend:
»Vielleicht kannst du den mal gebrauchen – wenn du je
einen Liebesroman schreibst, in dem ein Schweinehund
vorkommt. Sei nicht so eigensüchtig: lies ihn vor. Ich
würde ihn auch gern hören.«
Er begann: »Mein liebstes kleines Mädchen …«
Sofort unterbach Holly. Sie wollte wissen, was ich von
der Handschrift hielt. Ich hielt nichts davon: eine enge,
sehr gut lesbare, unexzentrische Schrift. »Genau so ist er.
Zugeknöpft und verstopft«, verkündete sie. »Lies wei-
ter.«
»Mein liebstes kleines Mädchen, ich habe Dich geliebt,
da ich wusste, Du warst nicht wie andere. Doch stell Dir
meine Verzweiflung vor, als ich auf so brutale und öffent-
liche Weise Kenntnis erhielt, wie sehr Du Dich von der
Frau unterscheidest, die ein Mann meines Glaubens und
meiner Bestimmung hoffen kann, zu seiner Ehefrau zu
machen. Wahrhaftig, ich beklage die Schande Deiner ge-
genwärtigen Umstände und bringe es nicht über mein
Herz, meine Verdammnis der Verdammnis hinzuzufü-

102
gen, die dich umgibt. Also hoffe ich, Du wirst es nicht
über Dein Herz bringen, mich zu verdammen. Ich muss
meine Familie schützen und meinen Namen, und ich bin
ein Feigling, wenn diese Institutionen ins Spiel kommen.
Vergiss mich, schönes Kind. Ich bin nicht mehr hier. Ich
bin nach Hause gefahren. Aber möge Gott immer mit
Dir und Deinem Kind sein. Möge Gott nicht so sein wie
– José.«
»Na?«
»In gewisser Weise wirkt er ganz ehrlich. Und sogar
rührend.«
»Rührend? Dieses spießige Gewäsch!«
»Aber immerhin sagt er, dass er ein Feigling ist, und du
musst verstehen, von seinem Standpunkt aus …«
Holly wollte jedoch nicht zugeben, dass sie es verstand;
aber ihr Gesicht, trotz der kosmetischen Verkleidung, ge-
stand es ein. »Also gut, er ist kein Schweinehund ohne
Gründe. Kein übergroßer King-Kong-Schweinehund wie
Rusty. Wie Benny Shacklett. Aber, ach, verflixt, verdammt
und zugenäht«, sagte sie und stopfte sich eine Faust in den
Mund wie ein schreiendes Baby. »Ich habe ihn geliebt.
Den Schweinehund.«
Das italienische Trio vermutete eine Krise zwischen
Liebenden, und die Damen, die Schuld an Hollys Schmer-
zenslauten dort suchend, wo sie ihrer Meinung nach hin-
gehörte, bedachten mich mit missbilligenden Zungen-
schnalzern. Ich war geschmeichelt: stolz, dass irgendje-
mand auf den Gedanken kam, Hollys Herz könnte für
mich schlagen. Sie beruhigte sich, als ich ihr noch eine Zi-
garette anbot. Sie schluckte und sagte: »Danke, mein Jun-
ge. Und danke dafür, dass du so ein schlechter Jockey bist.
Hätte ich nicht die Retterin in der Not spielen müssen,

103
würde ich mich immer noch auf den Fraß in einem Heim
für ledige junge Mütter freuen. Körperliche Anstrengung,
die hat’s gebracht. Aber den Polypen hab ich eine Heiden-
angst eingejagt, denn ich hab behauptet, das war alles nur,
weil Mademoiselle kesser Vater mich geschlagen hat. Ja-
wohl, ich kann denen mehrere Klagen anhängen, darunter
eine wegen Freiheitsberaubung.«
Bis dahin hatten wir es vermieden, über den Ernst ih-
rer Lage zu sprechen, und diese scherzhafte Anspielung
darauf erschreckte und rührte mich, denn sie zeigte, wie
gänzlich unfähig sie war, sich der trostlosen Wirklichkeit
zu stellen. »Hör mal, Holly«, sagte ich und dachte: sei
stark, sei reif, sei ein Onkel. »Hör mal, Holly. Wir kön-
nen das nicht als Witz abtun. Wir müssen uns etwas ein-
fallen lassen.«
»Du bist zu jung, um kleinkariert zu sein. Und nicht
groß genug. Außerdem, was geht dich das an?«
»Nichts. Außer dass ich dein Freund bin und mir Sor-
gen mache. Ich will wissen, was du zu tun beabsichtigst.«
Sie rieb sich die Nase und konzentrierte sich auf die
Zimmerdecke. »Heute ist Mittwoch, ja? Also werde ich
wahrscheinlich bis Samstag ruhen, mich mal so richtig
ausschlafen. Am Samstagmorgen werde ich mich hier ve-
rabsentieren und auf die Bank gehen. Dann werde ich in
meiner Wohnung vorbeischauen und ein oder zwei
Nachthemden und mein Mainbocher-Kleid mitnehmen.
Anschließend werde ich mich nach Idlewild begeben. Wo
ich, wie du ganz genau weißt, einen erstklassigen Platz in
einem erstklassigen Flugzeug habe. Und weil du so ein
guter Freund bist, darfst du winken kommen. Bitte hör
auf, den Kopf zu schütteln.«
»Holly. Holly. Das kannst du nicht machen.«

104
»Et pourquoi pas? Ich renne José nicht hinterher, falls
du das denkst. Laut meiner Volkszählung gehört er zu
den Bewohnern von Orkus City. Bloß: warum soll ich
einen erstklassigen Flugschein verfallen lassen? Der schon
bezahlt ist? Außerdem war ich noch nie in Brasilien.«
»Was für Pillen haben sie dir hier verabreicht? Be-
greifst du denn nicht, du stehst unter Anklage. Wenn sie
dich auf der Flucht schnappen, dann buchten sie dich ein
und werfen den Schlüssel weg. Selbst wenn du es ins
Ausland schaffst, wirst du nie mehr nach Hause kommen
können.«
»Na und, Pech gehabt. Außerdem, Zuhause ist da, wo
man sich zu Hause fühlt. Ich suche noch danach.«
»Nein, Holly, das ist idiotisch. Du bist unschuldig. Du
musst es durchstehen.«
Sie sagte: Hurrahurraa«, und blies mir Rauch ins Ge-
sicht. Sie war jedoch beeindruckt; ihre Augen wurden
von traurigen Visionen geweitet, ebenso wie meine: Ei-
senzellen, Stahlkorridore mit langsam zugehenden Türen.
»Ach, scheiß drauf«, sagte sie und drückte heftig ihre Zi-
garette aus. »Ich hab eine ganz gute Chance, nicht ge-
schnappt zu werden. Vorausgesetzt, du hältst la bouche
fermée. Schau mal. Verachte mich nicht, Herzchen.« Sie
legte ihre Hand auf meine und drückte sie mit plötzlicher,
ungeheurer Ehrlichkeit. »Mir bleibt kaum eine Wahl. Ich
hab’s mit dem Anwalt durchgesprochen: Oh, ich hab ihm
nichts von Rio gesagt – der würde mich an die Polente
verpfeifen, um nicht sein Honorar zu verlieren; ganz zu
schweigen von den Pimperlingen, die O. J. Berman als
Kaution gestellt hat. Gesegnet sei O. J.s gutes Herz, aber
ich hab ihm an der Westküste mal geholfen, in einem ein-
zigen Pokerspiel mehr als zehn Riesen zu gewinnen: wir

105
sind quitt. Nein, in Wirklichkeit sieht’s so aus: alles, was
die Polypen von mir wollen, sind ein paar Gratisnum-
mern und meine Dienste als Belastungszeugin gegen Sally
– niemand hat die Absicht, mich anzuklagen, sie haben
nichts gegen mich in der Hand. Ich mag verderbt bis ins
Mark sein, Schwester, aber: ich weigere mich, gegen einen
Freund auszusagen. Auch nicht, wenn sie ihm nachwei-
sen können, dass er die gute Sister Kenny mit Koks ver-
sorgt hat. Mein Maßstab ist, wie mich jemand behandelt,
und der alte Sally, gut, das war nicht ganz astrein mir ge-
genüber, sagen wir, er hat mich ein bisschen benutzt,
trotzdem ist Sally eine ehrliche Haut, und ich würde
mich lieber dem fetten Weib überliefern, als den Geset-
zeshütern zu helfen, ihn festzunageln.« Sie hielt sich den
Puderdosenspiegel vors Gesicht, verteilte den Lippenstift
auf ihrem Mund mit einem gekrümmten kleinen Finger
und sagte: »Um ganz ehrlich zu sein, das ist nicht alles. Es
gibt ein Scheinwerferlicht, das dem Teint eines Mädchens
schlecht bekommt. Selbst wenn die Geschworenen mir
einen Tapferkeitsorden verleihen würden, hätte ich in
dieser Gegend keine Zukunft: überall würden sie mir die
Tür vor der Nase zuknallen, vom La Rue bis zu Perona’s
Bar und dem Grill – du kannst mir glauben, ich wäre un-
gefähr so willkommen wie Mr. Frank E. Campbell, der
Leichenbestatter. Und wenn du bisher von meinen Talen-
ten gelebt hättest, Schätzchen, dann würdest du begrei-
fen, was für einen Bankrott ich beschreibe. Uh-uh, mir
schwebt nicht vor, in einem Schuppen wie dem Roseland
mit dem Gesindel von der West Side Schieber zu tanzen.
Während die feine Madame Trawler möseschwenkend
bei Tiffany ein und aus geht. Das könnte ich nicht ertra-
gen. Dann lieber das fette Weib.«

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Eine Krankenschwester glitt ins Zimmer und tat kund,
dass die Besuchszeit zu Ende war. Holly fing an zu pro-
testieren, doch ihr wurde mit einem Thermometer der
Mund gestopft. Als ich mich verabschiedete, entkorkte
sie sich, um zu sagen: »Tu mir einen Gefallen, Herzchen.
Ruf die Times an oder wen immer und besorg mir eine
Liste der fünfzig reichsten Männer von Brasilien. Ich ma-
che keine Witze. Die fünfzig reichsten: egal, welcher Ras-
se oder Hautfarbe. Und noch was – schau in meiner
Wohnung nach, ob du den Anhänger findest, den du mir
geschenkt hast. Den Heiligen Christophorus. Den werd
ich für die Reise brauchen.«

Der Himmel war am Freitagabend rot, es donnerte, und


am Samstag, dem Abreisetag, schwankte die Stadt unter
peitschendem Platzregen. Haie hätten durch die Luft
schwimmen können, wogegen es unwahrscheinlich
schien, dass ein Flugzeug sie durchdringen konnte.
Aber Holly kümmerte sich gar nicht um meine fröhli-
che Überzeugung, dass ihr Flugzeug nicht abheben wür-
de, und setzte ihre Vorbereitungen fort – wobei sie, das
muss ich sagen, mir die Hauptlast aufbürdete. Denn sie
hatte entschieden, dass es unklug von ihr wäre, das Sand-
steinhaus zu betreten. Und das zu Recht: es stand unter
Beobachtung, ob durch die Polizei oder Reporter oder
andere interessierte Parteien, ließ sich nicht sagen – nur
dass ein Mann, manchmal auch mehrere Männer vor der
Haustür herumlungerten. Also war sie vom Krankenhaus
zur Bank gegangen und dann direkt in die Bar von Joe
Bell. »Sie meint, ihr ist keiner gefolgt«, sagte Joe, als er mit
der Nachricht zu mir kam, dass Holly mich dort so bald
wie möglich erwartete, spätestens in einer halben Stunde,

107
und mitbringen sollte ich: »Ihren Schmuck. Ihre Gitarre.
Zahnbürsten und so Zeug. Und eine Flasche hundert Jah-
re alten Branntwein: sie sagt, du wirst sie ganz unten im
Korb mit der schmutzigen Wäsche finden. Ach ja, und
den Kater. Sie will den Kater haben. Aber verdammt noch
mal«, sagte er, »ich weiß nicht, ob wir ihr überhaupt hel-
fen sollten. Sie sollte vor sich selbst geschützt werden. Mir
ist ganz danach, es der Polizei zu sagen. Vielleicht, wenn
ich zurückgehe und ihr ein paar Cocktails mache, viel-
leicht kriege ich sie so betrunken, dass sie’s abbläst.«
Die Feuertreppe zwischen Hollys Wohnung und mei-
ner hinauf und hinunter stolpernd und schliddernd,
winddurchpustet und selbst außer Puste und pitschnass
bis auf die Knochen (dazu zerkratzt bis auf die Knochen,
denn der Kater hatte die Evakuierung, besonders bei so
unfreundlichem Wetter, nicht günstig aufgenommen),
meisterte ich in kürzester Zeit die Aufgabe, ihre Ausgeh-
utensilien zusammenzutragen. Ich fand sogar ihren
Sankt-Christophorus-Anhänger. Alles stapelte sich auf
dem Fußboden in meinem Zimmer, eine traurige Pyra-
mide aus Büstenhaltern und Tanzschuhen und hübschen
Dingen, die ich in Hollys einzigen Koffer packte. Vieles
blieb übrig, was ich in Papiereinkaufstüten verstauen
musste. Aber ich hatte keine Ahnung, wie ich den Kater
transportieren sollte, bis mir einfiel, ihn in einen Kopfkis-
senbezug zu stopfen.
Egal warum, aber ich bin früher mal von New Orle-
ans zu Fuß bis nach Nancy’s Landing in Mississippi ge-
laufen, etwas knapp unter fünfhundert Meilen. Das war
ein harmloser Witz im Vergleich zu meinem Marsch zur
Bar von Joe Bell. Die Gitarre füllte sich mit Regen, Re-
gen weichte die Papiertüten auf, die Tüten platzten, und

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Parfüm ergoss sich aufs Pflaster, Perlen rollten in den
Rinnstein: Der Wind peitschte, der Kater kratzte und
kreischte – aber das Schlimmste war, ich hatte Schiss,
konnte es an Feigheit mit José aufnehmen: in den stürmi-
schen Straßen schien es zu wimmeln von unsichtbaren
Einsatzkräften, die nur darauf warteten, mich abzufan-
gen und einzusperren, weil ich einer Gesetzesbrecherin
Vorschub leistete.
Die Gesetzesbrecherin sagte: »Du bist spät dran, Jun-
ge. Hast du den Branntwein mitgebracht?«
Und der freigelassene Kater sprang auf ihre Schulter:
sein Schwanz schwang wie ein Taktstock, der ekstatische
Musik dirigiert. Holly schien ebenfalls von einer Melodie
bewegt zu sein, einem lustigen Bon-voyage-Humtata. Sie
entkorkte die Branntweinflasche und sagte: »Die sollte
eigentlich Teil meiner Aussteuertruhe sein. Mit dem Ge-
danken, dass wir uns an jedem Hochzeitstag ein Gläschen
genehmigen würden. Gott sei Dank hab ich nie die Truhe
dafür gekauft. Mr. Bell, Sir, drei Gläser.«
»Sie brauchen nur zwei«, sagte er. »Ich trinke nicht auf
Ihre Dummheiten.«
Je mehr sie ihm um den Bart ging (»Ach, Mr. Bell. Die
Dame entschwindet nicht jeden Tag. Wollen Sie nicht mit
ihr anstoßen?«), desto bärbeißiger wurde er: »Ich will
nichts damit zu tun haben. Wenn Sie zur Hölle fahren
wollen, dann ganz allein. Ohne weitere Hilfe von mir.«
Eine Falschaussage: denn Sekunden, nachdem er sie ge-
macht hatte, hielt eine Limousine mit Chauffeur vor der
Bar, und Holly, die sie als Erste bemerkte, hob die Au-
genbrauen, als erwartete sie, dass der Staatsanwalt höchst-
persönlich ausstieg. Was ich übrigens auch tat. Und als ich
sah, wie Joe Bell rot wurde, dachte ich: mein Gott, er hat

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wirklich die Polizei angerufen. Aber dann verkündete er
mit brennenden Ohren: »Das ist nichts weiter. Bloß einer
von diesen Carey-Cadillacs. Ich hab ihn gemietet. Für die
Fahrt zum Flughafen.«
Er kehrte uns den Rücken zu und machte sich an ei-
nem seiner Blumenarrangements zu schaffen. Holly sag-
te: »Lieber, guter Mr. Bell. Sehen Sie mich an, Sir.«
Er weigerte sich. Er riss die Blumen aus der Vase und
warf sie nach ihr; sie verfehlten ihr Ziel und landeten auf
dem Fußboden. »Adieu«, sagte er; und hastete, als müsse
er sich übergeben, zur Herrentoilette. Wir hörten, wie die
Tür verriegelt wurde.
Der Carey-Chauffeur war ein weltgewandtes Exemp-
lar, er nahm sich mit ausgesuchter Höflichkeit unseres
liederlichen Gepäcks an und verzog keine Miene, als
Holly, während die Limousine durch den nachlassenden
Regen nach Norden zischte, ihre Sachen auszog, das
Reitkostüm, das sie bis jetzt noch nicht hatte wechseln
können, und sich in ein enges schwarzes Kleid schlängel-
te. Wir sagten nichts: jede Unterhaltung hätte nur zu
Streit geführt; und außerdem schien Holly zu geistesab-
wesend für ein Gespräch. Sie summte vor sich hin, nahm
immer wieder einen Schluck aus der Branntweinflasche
und beugte sich ständig vor, um aus den Fenstern zu spä-
hen, ganz als halte sie nach einer Adresse Ausschau – o-
der, entschied ich, als sammle sie letzte Eindrücke von
einem Schauplatz, an den sie sich erinnern wollte. Es war
keins von beidem. Sondern dies: »Halten Sie hier«, be-
fahl sie dem Fahrer, und wir parkten in einer Straße in
Spanish Harlem. Ein wüstes, ein schrilles, ein tristes
Viertel, geschmückt mit Plakaten von Filmstars und Ma-
donnen. Auf dem Bürgersteig wurde Abfall aus Obst-

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schalen und aufgeweichten Zeitungen vom Wind umher-
geschleudert, denn der Wind brauste immer noch, auch
wenn der Regen aufgehört hatte und am Himmel blaue
Flecken auftauchten.
Holly stieg aus dem Auto; sie nahm den Kater mit. Ihn
in den Armen haltend, kraulte sie seinen Kopf und fragte:
»Was meinst du? Das müsste für einen zähen Kerl wie
dich die richtige Gegend sein. Mülltonnen. Ratten in rau-
hen Mengen. Viele andere Katzen-Stadtstreicher, mit de-
nen du dich herumtreiben kannst. Also verschwinde«,
sagte sie und ließ ihn fallen; und als er nicht weglief, son-
dern sein Haudegengesicht hob und sie aus gelblichen Pi-
ratenaugen fragend anblickte, stampfte sie mit dem Fuß
auf: »Ich hab gesagt, hau ab!« Er rieb sich an ihrem Bein.
»Ich hab gesagt, verpiss dich!«, schrie sie, dann sprang sie
ins Auto, knallte die Tür zu und rief dem Fahrer »Los«
zu. »Los. Los.«
Ich konnte es nicht fassen. »Also das ist wirklich ge-
mein von dir.«
Wir waren einen Häuserblock weit gefahren, bis sie
antwortete. »Ich hab’s dir doch gesagt. Wir sind uns ein-
fach eines Tages am Fluss begegnet: das ist alles. Wir sind
alle beide unabhängig. Wir haben uns nie irgendwas ver-
sprochen. Wir haben nie …«, sagte sie, und ihre Stimme
versagte, ein nervöses Zucken, eine kranke Weiße ergrif-
fen ihr Gesicht. Das Auto hielt gerade an einer Ampel.
Plötzlich riss sie die Tür auf und rannte die Straße hinun-
ter; ich rannte ihr hinterher.
Aber der Kater war nicht mehr an der Ecke, wo sie ihn
zurückgelassen hatte. Da war nichts, niemand, nur ein
pinkelnder Betrunkener und zwei Negernonnen, die eine
Reihe artig singender Kinder eskortierten. Andere Kinder

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kamen aus Häusern heraus, und Frauen lehnten sich über
ihre Fensterbretter, um sich anzuschauen, wie Holly
hierhin und dorthin hastete, auf und ab rannte und rief:
»Du. Kater. Wo bist du? Hierher, Kater.« Das trieb sie so
lange, bis ein pickliger Junge mit einer alten Katze am
Schlawittchen auf sie zu trat: »Willst du schönes Kätz-
chen, Miss? Gib mir einen Dollar.«
Die Limousine war uns gefolgt. Jetzt ließ sich Holly
von mir hinführen. An der Tür zögerte sie; sie sah an mir
vorbei, vorbei an dem Jungen, der immer noch seine Kat-
ze anbot (»Fünfzig Cent. Fünfundzwanzig vielleicht?
Fünfundzwanzig, das ist nicht viel«), und sie erschau-
erte, sie musste sich an meinem Arm festhalten. »Oh,
mein Gott. Wir haben doch zueinander gehört. Er hat
mir gehört.«
Dann gab ich ihr ein Versprechen, ich sagte, ich würde
zurückkommen und ihren Kater auftreiben: »Und ich
werde mich auch um ihn kümmern. Ich verspreche es.«
Sie lächelte: diesen neuen, freudlosen Strich von einem
Lächeln. »Aber was ist mit mir?«, sagte sie im Flüsterton
und zitterte wieder. »Ich habe sehr große Angst, mein
Junge. Ja, endlich. Denn vielleicht geht das immer so wei-
ter. Nicht zu wissen, was dir gehört, bis du’s weggewor-
fen hast. Das rote Elend, das ist gar nichts. Das fette
Weib, das ist gar nichts. Aber das: mein Mund ist so tro-
cken, dass ich nicht ausspucken könnte, selbst wenn mein
Leben davon abhinge.« Sie stieg in den Wagen, sank in
den Sitz. »Tut mir leid, Fahrer. Auf geht’s.«

TOMATOS TOMATE VERSCHWUNDEN. Und:


FILMSTERNCHEN VON UNTERWELT BESEI-
TIGT. Nach einiger Zeit berichtete die Presse jedoch:

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MAFIAFLITTCHEN NACH RIO GEFLOHEN.
Offenbar wurden von den amerikanischen Behörden kei-
nerlei Anstrengungen unternommen, um ihre Ausliefe-
rung zu erwirken, und bald verkümmerte das Ganze zu
einer gelegentlichen Erwähnung in den Klatschspalten;
als etwas Berichtenswertes wurde es nur noch einmal
wiederbelebt: am ersten Weihnachtsfeiertag, als Sally To-
mato in Sing-Sing einem Herzanfall erlag. Monate ver-
gingen, ein ganzer Winter, ohne ein Wort von Holly. Der
Besitzer des Sandsteinhauses verkaufte ihre Hinterlassen-
schaften, das Bett mit dem weißen Satin, den Gobelin, ih-
re kostbaren gotischen Lehnstühle; ein neuer Mieter be-
zog die Wohnung, sein Name war Quaintance Smith,
und er empfing ebenso viel Herrenbesuch lautstarker Na-
tur wie Holly – allerdings hatte Madame Spanella in die-
sem Fall nichts dagegen, sondern war regelrecht in den
jungen Mann vernarrt und versorgte ihn immer, wenn er
ein blaues Auge hatte, mit Filet Mignon. Aber im Früh-
ling kam eine Postkarte. Sie war mit Bleistift gekritzelt
und mit einem Lippenstiftkuss unterschrieben: Brasilien
war schauderhaft, Buenos Aires dagegen fabelhaft. Nicht
Tiffany, aber fast. Bin an Hüften verbunden mit la $enor.
Liebe? Glaub ja. Schau mich jedenfalls nach Behausung
um ($enor hat Frau, 7 Gören) und werde Dich Adresse
wissen lassen, sobald ich sie selber weiß. Mille tendresse.
Aber die Adresse, falls es sie je gab, wurde nie geschickt,
was mich traurig machte, denn es gab so vieles, was ich
ihr schreiben wollte: dass ich zwei Erzählungen verkauft
hatte, dass ich gelesen hatte, wo die Trawlers gegenseitig
auf Scheidung klagten, und dass ich aus dem Sandstein-
haus auszog, weil es darin spukte. Aber hauptsächlich
wollte ich ihr von ihrem Kater berichten. Ich hatte mein

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Versprechen gehalten; ich hatte ihn gefunden. Wochen-
lang durchstreifte ich nach der Arbeit die Straßen von
Spanish Harlem, und oft gab es falschen Alarm – ich er-
haschte einen Blick auf ein rot getigertes Fell, doch bei
näherem Hinsehen stellte sich heraus, er war es nicht.
Aber eines Tages, an einem kalten, sonnigen Wintersonn-
tagnachmittag, war er es. Flankiert von Topfpflanzen und
eingerahmt von sauberen Spitzengardinen, saß er am
Fenster eines warm aussehenden Zimmers: ich fragte
mich, wie sein Name lauten mochte, denn ich war sicher,
dass er jetzt einen hatte, sicher, dass er irgendwo ange-
kommen war, wo er hingehörte. Ich hoffe, Holly ist es
auch, und sei es in einer afrikanischen Hütte.

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